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HANDBUCH
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DER
GESCHICHTE DER MEDIZIN.
BEGRÜNDET VON
De. med. TH. PUSCHMANN,
WEILAND PROFESSOR AX DER ÜXIVERSITÄT IN WIEK.
BEARBEITET VON
Geh. San.-Rat Db. Babtels, Berlin ; Dr. Wolf Becher, Berlin; Dr. Iwan Bloch, Berlin;
Professor Dr. Boruttau, Göttingen; Professor Dr. Chiari, Prag; San.-Rat Dr.
Leopold Ewer, Berlin; Professor Dr. Fasbender, Berlin; Professor Dr. Fossel,
Graz; Professor Dr. Robert Fuchs, Dresden; Dr. Geist- Jacobi, Frankfurt a. Main;
Professor Dr. Helfreich, Würzburg; Professor Dr. Hetmann, Berlin; Hofrat Dr.
Höfler, Tölz ; Professor Dr. Hobstmann, Berlin ; Professor Dr. Husemann (f), Göttingen ;
Professor Dr. Ipsen, Innsbruck; Oberstabsarzt Professor Dr. Köhler, Berlin; Dr. G.
Korn, Berlin ; Professor Dr. Kossmann, Berlin ; Privatdozent Dr. P. Th. Müller. Graz ;
Privatdocent Dr. Neuburger, Wien; Dr. Freiherr Felix v. Oefele, Neuenahr; Dr. Ott,
Berlin: Professor Dr. Pagel, Berlin; Professor Dr. Pausnitz, Graz; Dr. Preuss,
Berlin; Professor Dr. Rille, Leipzig; Dr. M. Sachs, Berlin; Professor Dr. Schaer,
Strassbubg i/E.; Sanitätsrat Dr. Scheube, Greiz; Professor Dr. Schrutz, Prag; Privat-
docent Dr. Ritter von Töply, Wien; Professor Dr. Vieeordt, Tübingen
HERAUSGEGEBEN VON
Dß. MED. MAX NEUBURGEB, xtsd Dr. med. JULIUS PAGEL,
DOCENT an der UNIVERSITÄT IN WIEN
PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT IN BERLIN.
ZWEITER BAND.
JENA.
VERLAG VON GUSTAV FISCHER.
1903.
Alle Rechte vorbehalten.
131
Im vorliegenden IL Bande beginnt nnnmehr ganz nach dem
Plane des Begründers dieses Werks die geschichtliche Darstellung
der neuzeitlichen ^ledizin und zwar geordnet nach den einzelnen
Sondergebieten der Biologie und Pathologie. Ueber die Eeihenfolge
der Kapitel giebt das nachfolgende Inhaltsverzeichnis den erforder-
lichen Aufschi uss. Dass mehrere der Herren Mitarbeiter in kurzen
Rückblicken auch auf die ältere Zeit eingegangen sind, wird sicher
das Verständnis des Zusammenhanges in der Entwicklung erleichtern.
Aus gleichem Grunde dürfen wir hoffen, dass die im ursprünglichen
Entwurf von Pu seh mann nicht vorgesehene, erst nachträglich von
dem ^litherausgeber Neuburger bearbeitete allgemeine Einleitung als
eine willkommene Zugabe erachtet werden wird, deren Notwendigkeit
überdies keiner weitereu Begründung bedarf.
Wien und Berlin, im September 1903.
Neuburger. Pagel.
Inhaltsübersicht.
Seite
Die neuere Zeit.
Einleitung von M. Xeuburger 3
Geschichte der Anatomie von Eobert Ritter von Töply (Wien) 155
Litteratnrübersicht 155
Der Orient 157
Aegrpten zur Pharaonenzeit 159
China 162
Indien 168
Tibet 171
Griechen 172
Araber 192
Mittelalter 195
Nenzeit 214
Einleitnng 214
Die Eeformation der Anatomie 226
Spanien 232
Italien 234
Niederlande 245
Dänemark 258
England 263
Deutschland 269
Frankreich 307
Schweden 315
Bnssland 317
Amerika 319
Japan 321
China 323
Türkei 325
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin bis zum Ende des
neunzehnten Jahrhunderts von Heinrich Boruttau (Göttingen) . . . 327
Litterarische Vorbemerkungen 327
Altertum und Mittelalter 327
Renaissance, 16. und 17. Jahrhundert 330
Das achtzehnte Jahrhundert und seine Wende 348
Das Zeitalter Johannes Müllers 363
Die klassische Periode der modernen Physiologie 381
Die Weiterentwicklung der Physiologie bis zum Ende des 19. Jahr-
hunderts 423
Medizinische Chemie von Georg Korn (Berlin) 457
VI Inhaltsübersicht.
Seite
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen von H. Chiari (Prag) . . 473
Litteratur 474
Einleitung 475
Die pathologische Anatomie bei den alten orientalischen Kultur-
völkern 475
Die pathologische Anatomie bei den Griechen und Römern . . . 476
Die pathologische Anatomie im Mittelalter 479
Die pathologische Anatomie im 16. Jahrhunderte 481
Die pathologische Anatomie im 17. Jahrhunderte 485
Leistungen auf dem Gebiete der pathologischen Anatomie im
17. Jahrhunderte 493
Die pathologische Anatomie im 18. Jahrhunderte 494
Fortschritte der pathologischen Anatomie im 18. Jahrhunderte 509
Die pathologische Anatomie im 19. Jahrhunderte 510
Fortschritte der pathologischen Anatomie in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts 530
Rokitansky und Virchow 531
Allgemeine Kreierung von pathologisch-anatomischen Lehrkanzeln
und pathologisch-anatomischen Instituten in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts 541
Einfluss der pathologischen Anatomie auf die pathologische Chemie
und experimentelle Pathologie 543
Pflege der pathologischen Anatomie seitens der Kliniker und
sonstiger Forscher in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts 545
Epoche der Bakteriologie 546
Uebersicht über die Leistungen auf dem Gebiete der modernen
pathologischen Anatomie 548
Aufgaben eines pathologischen Anatomen in der Gegenwart . . 557
Litteratur der pathologischen Anatomie 558
Geschichte der Pharmal<ologie und Toxikologie in der neueren Zeit von Ed. Scbaer
(Strassburg) 560
Litteraturangaben 560
Das sechzehnte und siebenzehnte Jahrhundert 565
Das achtzehnte Jahrhundert 577
Das neunzehnte Jahrhundert 683
Geschichte der Balneologie und der Grenzgebiete in der Neuzeit von von Oefele
(Bad Neuenahr) 589
Geschichte der Perkussion und Auskultation von Hermann Vierordt (Tübingen) 604
Lungenkrankheiten (ausschliesslich Tuberkulose) von Hermann Vierordt
(Tübingen) 612
Geschichte der Herzkrankheiten von Hermann Vierordt (Tübingen) .... 628
Dte klinisch wichtigen Parasiten von Hermann Vierordt (Tübingen) .... 648
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten von Georg Korn
(Berlin) 666
Neuropathologie von Georg Korn (Berlin) 717
Geschichte der epidemischen Krankheiten von Victor Fossel (Graz) 736
I. Beulenpest 749
II. Fleckfieber 773
III. Rückfallfieber 788
IV. Abdominaltyphus 794
V. Cholera asiatica 802
VI. Ruhr 828
VII. Gelbfieber 835
Vm. Blattern 841
IX. Scharlach, Masern und Röteln 856
X. Diphtherie 865
XI. Influenza und Dengue 878
XII. Epidemische Krankheiten 887
XIII. Epidemische 3Ieningitis 895
Inhaltsübersicht. VII
Seite
Geschichte der Tuberkulose von Ä. Ott (Berlin) 902
Intoxikationskrankheiten von Th. Husemann (Göttingen) 914
Endemische Kolik 914
Ergotismus 916
Pellagra 926
Acrodynie 930
Lathyrismus 930
Milchkrankheit 931
Register 933
Die neuere Zeit.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II.
Einleitung.
Von Max Neuburger (Wien).
Die Medizin der neueren Zeit charakterisiert sich gegenüber der
dogmatisch-kompilatorischen Heilkunde des Mittelalters durch das
Streben nach Vervollkommnung der hippokratischen Kunst auf dem
"Wege denkender Beobachtung und durch die, im Stufengaug der Ent-
wicklung immer deutlicher hervortretende Tendenz, an Stelle der Kunst
allmählich eine festgefügte Wissenschaft zu schaffen, welche die Kluft
zwischen Theorie und Praxis nicht mit spekulativen Hj'pothesen und
empirischen Regeln, sondern mit Naturgesetzen überbrückt.
Im letzten Grunde beruht dieser Entwicklungsgang auf kon-
sequenter Durchführung des Prinzips der freien Forschung, welches
die Heilkunst des Altertums in steter Bewegung erhielt, und dessen
Verlassen im Mittelalter den Niedergang der Medizin herbeiführte.
Die Voraussetzung hiezu bildete demgemäss vor allem die Be-
kämpfung des mittelalterlichen Geistes, der den Sinn für nüchterne
Beobachtung und vorurteilslose Prüfung der Prämissen unter dem
Truggebäude des scholastisch-arabistischen Galenismus völlig begraben
hatte, und die Rückkehr zu den, vom Autoritätsglauben freien Leit-
sätzen des Hippokratismus.
Beide Ziele mussten vorwiegend den Inhalt der ersten Epoche
der neuereu Medizin bestimmen. Sie wurden unter dem Einfluss des
gewaltigen Umwertungsprozesses erreicht, welcher sich am Ausgang
des fünfzehnten Jahrhunderts auf allen Kulturgebieten vollzog und
nach der langen Nacht des Mittelalters durch Wiederbelebung der
Antike und unter der Gunst harmonisch zusammen wii'kender Ereignisse
eine neue Aera des Fortschritts eröffnete.
Obwohl gerade das Interesse und Verständnis für die Zwecke der
Heilkunst schon im Mittelalter Männer wie Petrarca zu Vorkämpfern
freier Denkart machte, obwohl die Geschichte der mittelalterlichen
^ledizin mit Stolz die Namen eines Arnold von Villanova und Roger
Baco in ihren Annalen führt, ja selbst die schreckliche Geissei neuer
Krankheiten, welche in verheerenden Epidemien auftraten, die Un-
zulänglichkeit der geltenden Krankheitssysteme unbarmherzig bloss-
legte, vermochte sich die ärztliche Wissenschaft nicht aus Eigenem,
nicht ohne fremden Anstoss von den Fesseln des Autoritätsglaubens zu
1*
4 Max Neubiirger.
befreien. Nur dem sehenden Auge leuchtet das Licht Trotz wachsen-
der Widersprüche verharrten die Aerzte in den ausgetretenen Bahnen,
bis endlich die kräftigen Hammerschläge der neuen Zeit gebieterisch
auch an die Thore ihrer Wissenschaft pochten und einer freieren Denk-
art den Eintritt erzwangen.
Der Markstein der neueren Heilkunde ist kein anderer als der
Markstein der gesamten neueren Kultur; ihre Umwandlung ist nur
ein Teilprodukt der allgemeinen kulturellen UmAvälzung und dankt
ihren Ursprung nicht einem einzelnen Eeformator, sondern jener mit
immanenter Zweckmässigkeit waltenden Notwendigkeit, die den ganzen
Lauf der Geschichte zu einem Drama mit Exposition, Peripetie und
Katastrophe gestaltet. Das Werden und Wachsen der Medizin der
Neuzeit kann ohne Berücksichtigung der allgemeinen Kulturverhält-
nisse nicht erfasst werden.
Die Geschichte der Heilkunde spiegelt im verkleinerten Bilde die ge-
samte Kulturentwicklung, jede ihrer Hauptphasen empfängt die charakte-
ristische Signatur vom herrschenden Zeitgeiste, auf den sie selbst wieder
zurückwirkt. Das Zeitalter des Perikles weckte die hippokratische Kunst,
die Schule von Alexandria repräsentiert in ihrer Sammelthätigkeit die Glanz-
zeit der Diadochen, das Lehrsystem Galens, welches alle Vorarbeit der
Aerzte zu einer höheren aber starren Einheit tyrannisch verschmolz, bildet
einen Abglanz der Länder verschlingenden Weltmacht Roms. Derselbe
Geist, welcher im Mittelalter die Wissenschaft zum Formalismus durch
Syllogistik erniedrigte, im Reich des Schönen sein Wesen durch Arabesken,
Spitzbogen und Strebepfeiler offenbarte, auf sozialem Gebiet im Feudalismus
seinen Ausdruck fand, schlug auch die Medizin in Fesseln, hier wie dort
ein Hemmschuh für den Individualismus, ein Hindernis zur Entfaltung
wahrer Freiheit des Daseins, Denkens und Schaffens. Künstlerische und
wissenschaftliche, soziale und politische Verhältnisse einer Zeitepoche sind
nur verschiedene Manifestationen desselben Urphänomens, wenn sie auch
nicht immer ganz gleichzeitig oder im gleichen Grade hervortreten, ähnhch
den Einzelstimmen einer Fuge, die nacheinander dasselbe Thema ergreifen,
bis es zum dominierenden Grundgedanken wird.
In der Fuge des kulturellen Lebens ergreift die Medizin den Grundton
nicht am frühesten, sie bedarf einen stimmungsvollen Hintergrund als sicheren
Rückhalt für ihren Schauplatz, und später als auf manchen anderen geistigen
Gefilden spriesst die Saat, welche von überragenden Forschern gestreut
wird, die sich nicht gefügsam in die Kette schliessen lassen, sondern mit
selbstgeformtem Stempel ihre Meinung prägen ; den betrübendsten Ausdruck
findet diese Thatsache in der paradoxen Erscheinung, dass nicht wenige
Aerzte machtvoll in den Gang der allgemeinen Kultur oder doch in die
Entwicklung einzelner Wissenszweige eingegriffen haben, ohne dass es ihnen
gelang, den Fortschritt ihres eigenen, ihres angestammten Faches in ähn-
lichem Masse zu beschleunigen.
Das düstere Gesetz, welches jedes Kulturgebilde, gleich den
organischen Wesen gerade an den Produkten seiner höchsten Lebens-
thätigkeit, an den äussersten Konsequenzen seines Schaffens hinsiechen
lässt, bereitete auch dem Mittelalter den Untergang eben durch solche
kulturelle Erscheinungen, die gewissermassen nur die höchste Steige-
rung seiner charakteristischen Grundfaktoren darstellen. Die höchste
Determination ist es, welche zur Negation führt.
Einleitung. 5
Das Uebermass religiöser Inbrunst erzeugte Mj'stik, die in Dogmen
nur Symbole sali und weckte jene antikirchliclien Bewegungen,
deren Höhepunkte durch die Albigenser und Waldenser, durch Wicliflfj
Huss und Savonarola [bezeichnet werden.
Die Kreuzzüge, welche vom Ideal der respublica christiana ihren
Ausgangspunkt nahmen, die Fehden zwischen Papst- und Kaisertum,
aus universalistischen Tendenzen entsprungen, erregten das ein-
geschlummerte Nation albewusstsein der Völker zu neuem Leben.
Die Beutezüge des Kaubadeis zwangen die Bürger zur festeren
Organisation und Hessen aus hartem Kampf ums Dasein den Stand
hervorgehen und erstarken, der späterhin uicht bloss zum Träger
des Gewerbfleisses, sondern zum Hauptträger der Wissenschaft und
Kunst ausersehen wurde.
Der auf die Spitze getriebene subtile Scholastizismus wurde die
Quelle des äussersten Skeptizismus, der an Glauben und Wissen
verzweifelte und dem erst durch neue Methoden ein Damm entgegen-
gesetzt werden konnte.
Gerade die nie wieder erreichte architektonische Einheitlich-
keit, welche den Stolz der mittelalterlichen Kultur bildete und die
Macht des kirchlichen Universalismus zum Ausdruck brachte, bewirkte
es, dass eine einzige Bresche, wo immer geschlagen, das ganze System
erzittern machte, dass die Auflehnung, die sich anfangs nur zögernd,
dann immer ungestümer, zunächst bloss in einzelnen formalen Fragen
und nur auf kirchlichem, religiös-philosophischem Gebiete erhob, weiter
rollend, bald auch in die Sphäre des sozialen Lebens, in die Sphäre
der Kunst, der Wissenschaft hinübergriff und sich schliesslich lawinen-
artig zu einer Empörung des Individualismus gegen den
Zwang der Autorität auf allen Linien vergrösserte.
In der Wissenschaft machte sich dieses Streben in Form der Ab-
wehr des allein massgebenden Einflusses der Kirche zwar schon vor
Beginn der Neuzeit bei einzelnen überragenden Geistern schüchtern be-
merkbar, bedurfte aber, um aus der Unterströmung an die Oberfläche
und zur Herrschaft zu gelangen, kräftiger äusserer Impulse, die nur
von gewaltig treibenden Ereignissen zu erwarten waren. Der lähmende
Bann des Autoritätsglaubens, welcher die Wissenschaft durch Unter-
bindung der Kritik zur Sterilität verdammte, konnte nur dann seine
unheilvolle Macht einbüssen, wenn es gelaug, den engen Umkreis des
geistigen Gesichtsfeldes zu erweitern, neue Ideale in den Blickpunkt
zu rücken und das argerschütterte Vertrauen an das menschliche
Leistungsvermögen durch Thatsachen von psychologischer Durch-
schlagskraft neu zu erwecken.
In der zweiten Hälfte des fünfzehnten und im Beginne des
sechzehnten Jahrhunderts wui'de dieses Postulat durch eine wunder-
volle Verkettung von bedeutungsvollen Momenten erfüllt, welche Ziel
und Richtung gebend auf die weitere Gestaltung der Gesamtkultur
einwirkten und den Grund zu einer neuen Weltanschauung legten, die
erst im Werden begriffen ist.
Seine charakteristische Signatur empfing dieses herrliche Zeitalter
einerseits durch Neubelebung der Antike, die ästhetisches Verständ-
nis auf dem Zaubermantel der schönen Künste, den Sinn für Geistes-
freiheit auf den Fittichen des eben erfundenen Buchdrucks in die
weitesten Kreise trug, andererseits durch epochale geographische und
astronomische Entdeckungen, welche eine Umwälzung in den
6 Max Neuburger.
traditionellen Vorstellungen katastrophenartig herbeiführten und den
lang abgewandten Blick des menschlichen Genius auf das unermess-
liche, geheimnisvoll waltende Reich der Natur wieder hinlenkten.
Beide Richtungen, Individualismus und Realismus, bilden im
Gegensatz zum doktrinären und metaphysischen Charakter
des Mittelalters integrierende Züge der Neuzeit.
Die Anknüpfung an die Ideen des klassischen Altertums kam
zuerst in Italien zu stände, wo Schritt für Schritt kostbare Ueberreste
von Kulturdenkmälern an die grosse Vergangenheit mahnten.
Schon im 14. Jahrhundert fielen Petrarcas Anregungen auf frucht-
baren Boden und erweckten zunächst den Sinn für echte Latinität, die
in Johann Malpeghino von Ravenna ihren besten Lehrer fand, für
edlere Ausdrucksweise, von der sich die Scholastiker immer weiter ent-
fernt hatten; das w^ahre Verständnis der antiken Denkart konnte sich
aber erst von der Zeit an wieder erschliessen, als man anfing, das
gänzlich darniederliegende Studium der griechischen Originalwerke
mit grösserem Eifer zu betreiben. Dazu gaben die gelehrten Griechen,
Chrysolaras, Georgios von Trapezunt, Theodoros Gaza, Bessarion,
Konstantin Laskaris u. a., den Anstoss, welche gelegentlich der Ver-
suche, die griechische mit der römischen Kirche zu vereinigen und
nach dem Sturze von Byzanz nach Italien kamen, um, ausgerüstet
mit einem Schatz von wertvollen Handschriften, einen Kreis von er-
lesenen Schülern um sich zu scharen. Mit jugendlicher Begeisterung
sammelte man, ohne Mühe und Kosten zu scheuen, Handschriften alter
Klassiker und bald wurde die Philologie von treiflichen italienischen
Bearbeitern bebaut, von Lorenzo Valla, Antonio Beccadelli, Ermolao
Barbaro, Angelo Poliziano, Marsilius Ficinus u. a.
Unter dem Schutz feinsinniger Fürsten, der Mediceer, der Visconti,
der Gonzaga, entwickelte sich in gelehrten Gesellschaften, Platonischen
Akademien ein glühender Kultus des Hellenentums, der nicht allein
bei der Form, beim klassischen Sprachstudium verharrte, sondern tiefer
dringend, den Geist der Antike zu erfassen und an Stelle der asketischen
Ideale der Kirche zu setzen suchte. Lechzend nach lang entbehrter
geistiger Befriedigung, welche in den traurigen politischen und kirch-
lichen Verhältnissen der damaligen Zeit nicht zu finden w^ar, berauschte
man sich an den Beispielen antiker Heldengrösse, an der krystallklaren
Wahrheit der kühnen Denker, an der dogmenfreien Ethik der edlen
Sittenlehrer und schöpfte aus der lebensfreudigen AVeisheit der Alten
glutvollen Schaffensdrang, der sich frohgemut über die abgestorbenen
Lebensformen des Mittelalters hinwegsetzte. Ein neuer Geistesfrüh-
ling hob die ersten Schwingen, es erwachte das Selbstbewusstsein
der Herrennaturen und selbst die Knechte spürten ihre Ketten.
Bei Plato, den die griechischen Lehrmeister besonders verehrten,
fand man jenen erfrischenden Hauch von Geistesfreiheit, den man ver-
geblich in den verknöcherten Uebersetzungen des Aristoteles gesucht
hatte, in den AVerken Piatos lernte man erst den überquellenden
Sprachschatz, die erhabene Stilistik kennen, welche die Meister der
Antike zu unerreichbaren Vorbildern erhob. Hier waren Form und
Inhalt, Kern und Schale einander völlig entsprechend, ganz im Ein-
klang mit den schwärmerischen Vorstellungen, die. man sich vom
klassischen Altertum seit jeher gemacht hatte. Bildete anfangs nur
das ästhetische Empfinden, welches durch die Sprachroheiten der Zunft-
gelehrsamkeit verletzt wurde, die Quelle der Abneigung gegen die
i
Einleitung. 7
Scholastiker, so wurde in dem Masse, als man vom blossen Bewundern
der Form zum Verständnis des Inhalts fortschritt, die Kluft immer
tiefer, die sich zwischen der nüchternen aristotelischen Dialektik und
der warmfühlenden Begeisterung der Platoniker, zwischen Schola-
stikern und Humanisten klaffend aufthat.
Mehr und mehr kam man zum Bewusstsein, dass im Palimpsest
das wahre Symbol der mittelalterlichen Geisteskultur zu erblicken ist,
dass die Schriften des klassischen Altertums, das herrlichste unerschöpf-
liche Bildungsmittel, nur verwischt und üJDersät von den Lettern der
finsteren Mönchszeit, der abstrusen Spitzfindigkeit des Arabismus über-
liefert wurden, dass man erst durch Beseitigung der Schnörkel, welche
den ursprünglichen Text unlesbar machten, zur Urschrift des freien
Geistes gelangen könne. In unbezwingUchem Streben nach universeller
Bildung schöpften die Humanisten aus den Schriften der alten Weisen
ihre polyhistorischen Kenntnisse, dort fanden sie die Grundlagen der
Philosophie und Mathematik, der Jurisprudenz und der Naturwissen-
schaften. Die AVünschelrute der Sprachkenntnis spürte die verborgenen
Erzadern vergessener Wissenschaft auf.
Den tiefsten Einfluss äusserte der humanistische Zeitgeist
auf die Kunst, welche, angeregt durch die antiken Vorbilder, den Sym-
bolismus, die Starrheit und Unpersönlichkeit der mittelalterlichen
Richtung verliess, um sich ungehindert durch bindende Schulregeln der
individuellen Nachbildung der Natur zuzuwenden. In der Tendenz nach
Verweltlichung bereicherten die Künstler den Stoffkreis durch die
hellenische Mj'thologie und formten selbst die Gestalten der jüdisch-
christlichen Legende nicht finster-drohend, überirdisch-gewaltig, sondern
in schöner, herrlicher, verklärter Menschlichkeit. Losgelöst vom früher
obligatorischen Goldgrund \Mirden die menschlichen Gestalten mitten
in die Natur selbst hineingestellt und empfingen durch das persönliche
Gepräge des Malers dramatisches Leben und Bewegung, anstatt bloss
symbolisch in harten umrissen die Verkörperung abstrakter Ideen
darzustellen. Welch gewaltiger Unterschied zwischen den Heiligen-
bildern des Fra Angelico und denen des Rafaell Der ganze Wandel
des Zeitgeistes offenbart sich in der verschiedenen künstlerischen
Auffassung! Den Höhepunkt erreichte die Kunst in Eafael Sanzio,
Michelangelo Buonarotti und Lionardo da Vinci. Alle drei waren
Maler, Bildhauer und Architekten zugleich, in jeder dieser Künste
Unvergängliches schaffend, alle drei waren ..Platoniker". Der Letzt-
genannte repräsentiert in der U^niversalität seines Genies das Wesen
der Renaissance, welche den befruchtenden Blütenstaub freier, auf
Anschauung und Vernunft gegründeter Erkenntnis von Garten zu
Garten trug. Lionardo da Vinci war Künstler und geistvoller Natur-
forscher in einer Person, er förderte theoretische und praktische
Wissenschaften, empfahl bereits die induktive Methode, leistete Bahn-
brechendes in der Mathematik, in der Astronomie, Physik, Ingenieiu'-
kunst, in der Botanik, in der Geologie und überholte an physiologischen
Vorahnungen alle seine Zeitgenossen. Humanismus, Kunst und Natur-
forschung traten in innigste Wechselbeziehung, bald als Ursache
wirkend, bald als Wirkung erscheinend.
Von Italien aus drang der Humanismus bald nach den übrigen
Ländern, wurde in Frankreich durch Tj-phernas und Alexander, in
England durch Linacre und Grocyn vertreten; namentlich aber ge-
wann er in den Niederlanden und in Deutschland, wo schon Aeneas
8 Max Neuburger.
Sylvius, Nicolaus Cusanus, Regiomontanus die Bewegung vorbereitet
hatten und die Kunst durch Dürer, Cranach und Holbein zur Blüte
gelangt war, begeisterte Anhängerschaft. Mittelpunkte derselben
wurden mehrere nach dem Muster der Platonischen Akademien ge-
stiftete gelehrte Vereinigungen, wie z. B. die „Donaugesellschaft".
Besonders hervorragende Bedeutung erlangte die Rheinische Gesell-
schaft, sie zählte in ihrer Liste Namen von berühmten Klang, wie
den gelehrten Abt Trithemius, den Nürnberger Patrizier Willibald
Pirkheimer, den Dichter Conrad Celtes, ferner Rudolf Agricola, Joh.
Reuchlin und Erasmus von Rotterdam, Namen, mit denen die Ge-
schichte des geistigen Aufschwungs untrennbar verbunden ist.
In Deutschlands freien Städten mit ihrem wohlhabenden und
ideal denkenden Bürgerstand fanden die Bestrebungen der Humanisten
sorgsamste Pflege und verständnisvolle, thatkräftige Unterstützung.
Die grösste Förderung verdankten sie der folgenreichsten aller Er-
findungen, der Buchdruckerkunst, welche als Sendbote der Wissen-
schaft immer weiteren Kreisen die Anteilnahme an den geistigen Er-
rungenschaften ermöglichte, die stille Denkarbeit des Forschers aut
den Markt des Lebens hinaustrug, dem entfachten Gedanken mit
Ueberwindung von Raum und Zeit, beflügelte Verbreitung und un-
gemessene Fortdauer sicherte.
Guttenbergs Erfindung eröffnete dem kulturellen Fortschritt mit
einem Male neue breite Bahnen und wurde zur gefährlichen Rivalin
der Kanzel, sie führte den Wissensdurstigen zur Quelle zurück und
lieh den Denkern die wirksamste Waffe im Kampfe gegen Autoritäten,
deren Macht nur im Dunkel der Unwissenheit wurzelte. Wie die
Erfindung der Schusswaffen der Raubherrschaft der Ritterburgen ein
Ende bereitete, so brachte die Druckerpresse die geistige Uebermacht
zu Falle, welche eine einzelne Kaste jahrhundertelang innegehabt hatte.
Im Zusammenhang mit der wachsenden Pflege der Nationalsprachen
und befördert durch das verbesserte Schulwesen, das mehr und mehr
in die Hände der weltlichen Macht überging, ergoss sich die Bildung
auf immer breitere Schichten des Volkes, das im Mittelalter nur als
Sache behandelt worden war.
Den grössten Vorschub aber leistete die schwarze Kunst der
Reformation, welche neben dem Humanismus und weiterdringend
als dieser das Wesentlichste zur Befreiung der Geister vom Joch der
Tradition selbst auf religiösem Gebiete beitrug. Auf den Verkehrs-
wegen der Buchdruckerkunst wurde zum ersten Male die öffentliche
Meinung zum entscheidenden Votum aufgerufen, durch flammende
Flugschriften die Masse aus ihrem Stumpfsinn erweckt und für Denk-
freiheit empfänglich gemacht. Die übersetzte und gedruckte Bibel
erschloss fürderhin jedem einzelnen die Grundlage des Glaubens und
gewährte klaren Einblick in dogmatische Fragen, die der junge
Protestantismus ohne Scheu der Vernunft und Urteilskraft zu unter-
werfen wagte.
In Fragen der Wissenschaft war schon vor dem Siegeszuge der
Reformation die Autorität der Kirche und der Alten durch gewaltige Er-
rungenschaften untergraben worden. Die Entdeckung Amerikas,
ein Ereignis, das bekanntlich durch ganz falsche Voraussetzungen ver-
anlasst wurde und den Traum von der Atlantis zur Wahrheit machte,
entkräftete die herrschende Anschauung, die aus dogmatischen Gründen
die Unmöglichkeit der Existenz von Antipoden a priori statuiert hatte
Einleitang. 9
und zeigte die Unzulänglichkeit des bisherigen Wissens, das über
die neuentdeckte Kulturwelt, über die wunderbare Fauna und Flora
des neuen Erdteils gänzlich im Unklaren liess. Immer stürmischer
erhoben sich Zweifel an der absoluten Zuverlässigkeit der Autoritäten,
und nach langer Stagnation wurde die Wissenschaft wieder gebieterisch
auf den Weg der eigenen Forschung hingedrängt.
Die übeiTasch enden Erfahrungen, die auf den Entdeckungs-
fahrten der Spanier und Portugiesen in überquellender Fülle erworben
wurden, entzündeten die Liebe zur Natur, die im Mittelalter unter der
Herrschaft asketischer Grundsätze wie etwas Böses. Teuflisches ge-
mieden worden war. Die Geographie der Alten erweiterte sich unge-
ahnt, und notgedrungen schwand die beschränkte Annahme, welche
das Mittelmeer als Centrum betrachtete. Die Auffindung eines Seewegs
nach Indien durch Vasco da Gama. dann Magelhaens" Weltumseglung
zerschmetterte vollends die kindischen Vorstellungen, die seit Lactantius
ausschliesslich mit dem kirchlichen Glauben vereinbar schienen und
bewies, wie richtig schon Pj^thagoras. Parmenides. Aristoteles und
Ptolemaios über die Kugelgestalt der Erde gedacht hatten. So folgte
Schlag auf Schlag, in rascher Aufeinanderfolge wurden die traditionellen
Fabeln durch epochale Thatsachen Lügen gestraft. Die grösste Um-
wandlung erfuhr die Astronomie durch die kühnen deutschen Forscher,
Peurbach, Eegiomontanus, Beheimb und Schoner. Auf ihre Vorarbeiten
gründete Kopernikus die heliocen frische Theorie, deren fana-
tische Bekämpfung die wissenschaftliche Autorität der Theologen wohl
am meisten schädigte. Mit Flammenschrift verkündete diese Theone.
dass das Heil der Wissenschaft nur auf den Höhen der freien Forschung
zu finden ist.
Jti d' l).evd-£Qov tivuL rfj yvwur^ zov jui'/j.ovra (fi/.oaofpeir, wer der
Wissenschaft wahrhaft dienen will, muss vor allem freien Geistes sein,
sagte gerade der Ptolemaios, dessen geocentrisches astronomisches
System die Kirche wie eine Glaubenssache verteidigte. Die Folge-
zeit hat es bezeugt, dass die Erhabenheit der Religion keine Einbusse
erleiden muss, wenn sie sich von den Schlacken der Zeit befreit, dass
das religiöse Gefühl auch dann ungeschwächt fortdauern kann, wenn
man der Wissenschaft auf ihrem Gebiete ungehinderte selbständige
Entfaltung gönnt. Der mittelalterliche Dogmatismus aber, der religiöse
und wissenschaftliche Wahrheiten für identisch erklärte, die aus-
schliessliche Suprematie forderte, keine Wissenschaften und Künste,
sondern nur eine christliche Wissenschaft, eine christliche Kunst be-
stehen lassen wollte, hatte vor jeder neuen geistigen Bewegung zu
zittern und, als sich die neu aufkommenden Eichtungen des Humanis-
mus, der künstlerischen Renaissance, der Naturwissenschaft nicht mehr
unterdrücken Hessen, musste er im Widerstreit mit ihnen unterliegen.
Niemals zuvor war der Umkreis der Vorstellungen in solchem
Ausmass und so sprunghaft erweitert worden ! Eine neue Erde offen-
barte sich dem erstaunten Blick, neue Quellen wurden dem Wissen
unerwartet gegraben, nutzbringende Kenntnisse reihten sich eben-
bürtig an die viel bewunderten Geistesthaten der Alten. Noch von
giiisserer Tragweite aber als der empirische Gewinn, der im Zeitalter
der Entdeckungen der AVissenschaft zu teil wurde, war die psycho-
logische Wirkung, welche die neuen Errungenschaften auf die Ge-
müter ausübten. Das Bewusstsein des eigenen Könnens, das im Mittel-
alter nahezu völlig abhanden gekommen war, die Erkenntnis, dass die
10 Max Neuburger.
Kultur der Antike nur eine Entwicklungsphase, keinen endgültigen
Abschluss bedeute, durchflutete das ganze Geistesleben und Hess den
Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart wieder zu. Die
Kritik war geboren, durchsetzte als Ferment den ge-
samten Kulturprozess und entfesselte die Triebkräfte
des P'ort Schritts.
Von der Kritik hervorgerufen, erstanden in der Neuzeit drei
Wissenszweige, die dem Mittelalter nahezu gänzlich fremd bleiben
raussten: die Philologie, die Geschichtswissenschaft, die
Naturforschung. Die erst genannte Wissenschaft bildete die
Grundlage der beiden anderen, sie lieferte ihnen nicht bloss thatsäch-
liches Material, sondern wurde sogar durch ihre Methode der
kritischen Vergleichung als Vorbild massgebend.
Die Philologie nahm ihren Ausgangspunkt von der Sammlung und
Vergleichung der überlieferten Texte und bemühte sich, den Wortlaut
derselben auf Grund linguistischer und sachlicher Erwägungen her-
zustellen. Die gesichteten Quellen bildeten das Material für die Ge-
schichtswissenschaft, welche ihren legendenhaften, allegorischen Cha-
rakter abstreifte und sich durch philosophische Verarbeitung des
Gegebenen über die mittelalterliche Annalenlitteratur erhob; sie be-
richtete nicht mehr bloss über das Gewesene und Gewordene, sondern
suchte das Werden selbst, die Gesetze der Entwicklung zu erfassen.
Nach dem Vorbild und im direkten Anschluss an die Philologie
entwickelte sich auch die Naturwissenschaft, indem sie auf dem Wege
der litterarischen und sachlichen Materialiensammlung, auf dem Wege
der Sichtung, Vergleichung und Eeflexion ihren Zielen zustrebte. An
die Kritik der Schriften knüpfte sich die Kritik der Thatsachen. Es
war kein Zufall, dass gerade die bedeutendsten Naturforscher des
Cinquecento auch treffliche Philologen waren, fanden sie doch in der
Schule der Altertumswissenschaft nicht nur gelehrtes Rüstzeug, sondern
auch die beste Anleitung zur wissenschaftlich exakten Forschung!
Vor allem verrät sich dieser Zusammenhang in den beschreibenden
Naturwissenschaften, welche sich wegen der Neutralität ihres Objekts
am frühesten vom Zwang des Dogmatismus befreien konnten und da-
her im 16. Jahrhundert bereits zu hoher Blüte gelangten. Man be-
gann zunächst mit der kritischen Säuberung der Texte des Aristoteles,
Theophrast, Plinius und Dioskurides, schritt sodann fort, indem man
das überkommene Wissen durch selbständige Erforschung der heimischen
und tropischen Naturprodukte bereicherte, und erklomm endlich eine
empirische Wissenshölie, von der man, die Fülle des Stoffes überschauend,
ordnend eingreifen und eine rationelle Systematik begründen konnte.
Im Sinne dieses Stufengangs sichteten zunächst Ermolao Barbaro, Nicola
Leoniceno , Giov. Manardo , Pierandrea Mattioli u. a. die alten Texte in
kritischer Weise, vermehrten Otto Brunfels, Leonhard Fuchs, Hieronymus
Tragus (Bock), Jac. Theod. Tabernaemontanus die Kenntnisse über die ein-
heimische Flora, während Garcia d'Orta, Christobal Acosta, Oviedo y Valdes,
Nicola Monardes, Leonhard Rauwolf, Prospero Alpini autoptische Beobach-
tungen über die Pflanzenwelt Amerikas und Asiens in ihren Reisebeschrei-
bungen niederlegten. Maranta, Anguillara, Rembert Dodoens, Matth.
Lobelius. Charles de l'Ecluse, Jean Ruelle fassten das botanische Wissen
ihrer Zeit zusammen ; Belon bearbeitete die Naturgeschichte der Vögel ;
Rondelet die Naturgeschichte der Fische ; misse Aldrovandi wirkte bahn-
Einleitung. 11
brechend auf dem Grebiete der vergleichenden Anatomie und Entwicklungs-
geschichte. "Wie Aldrovandi das zoologische Material von
grossen Gesichtspunkten ausgehend, ordnete, so ersannen
Gesner und Cesalpini zuerst für die Botanik, Agricola für
die Mineralogie eine brauchbare Systematik. Conrad Gesner,
der einen Schatz von bewunderungswürdigen botanischen und zoologischen
"Werken hinterliess, ebenso wie A. Cesalpini, der grösste Botaniker seines
Jahrhunderts, stellten als Vorläufer Linnes Systeme auf, in welchen die
Pflanzen nach der Gestalt der Blüten und Früchte klassifiziert wurden,
während Georg Agricola den "S^ersuch machte, die Mineralien mit Rücksicht
auf ihre äusseren Merkmale in verschiedene Gruppen einzuteilen, wodurch
er sich neben Christoph Encelius und Job. Kentmann die höchsten Verdienste
um die wissenschaftliche Begründung der Mineralogie erwarb.
Der mit Kritik gepaarte Sammeleifer, welcher Philologen und
Naturforscher beseelte. Hess rasch die Früchte des Fleisses heranreifen
und zwang auch die Fernerstehenden zur Anerkennung. Der reale
Zug. der sich in den Fortschritten der empirischen Naturerkenntnis
sieghaft geltend machte, die historische Auffassung der Weltbegehen-
heiten (seit Machiavellrs grundlegenden Gedanken) mehr mit Wahr-
heitstreue erfüllte und selbst die Konzeption der Künstler beeinflusste,
erscheint auch als kritisches Korrektiv in den philosophischen
Spekulationen, welche die genialsten Repräsentanten der Re-
naissance ersannen.
Gerade aus der Analyse der Zeitphilosophie ei-fährt man am
besten, welchen Grundelementen eine Epoche ihre charakteristische
Signatur verdankt ; denn zum grossen Teile bedeuten die philosophischen
Spekulationen nichts anderes als Spiegelungen der Welt in den Zeit-
strömungen, im Bewusstsein zeitverständiger Denker. Die philo-
sophischen Systeme repräsentieren gleichsam das Selbstbewusstsein
ihrer Zeit, sie formulieren nur das in prägnanter Schärfe, was un-
bewusst und triebartig in den Geschehnissen ihrer Epoche lebt und
wirkt.
In der Renaissance, wo die Kulturkräfte noch mit jener Unge-
bundenheit, in jener unabgesclüiffenen Gegensätzlichkeit walteten, wie
sie der Status nascendi mit sich bringt, stellt die Zeitphilosophie um-
somehr ein farbenfrisches Abbild des geistigen Ringens dar. als vor-
wiegend solche Männer zusammenfassende Lehrsysteme zimmerten,
welche ihre Gedanken der pochenden Brust des Lebens entnahmen
und sich aus dem Staubgewühl des Kampfes zur Warte überschauender
Reflexion emporschwangen. Die wunderliche Mischung von Wirk-
lichkeitssinn und Mystik, welche der damaligen Geistesrichtung eigen-
tümlich war, das Gemenge von prophetischem Tiefsinn und absurdem
Aberwitz, von hellster Einsicht und finsterstem Aberglauben (Hexen-
wahn), von glühender Begeisterung und absolutem Skeptizismus, welches
chaotisch gärend im Leben und in der Wissenschaft die tollsten Blasen
warf, trat auch in der Philosophie zu Tage und machte sie zum Sammel-
platz kontrastierender Strömungen, denen nur eine Tendenz gemein-
sam innewohnte, das Streben, den sehnsuchtsvollen Drang nach um-
fassender Erkenntnis zu befriedigen.
Aber mitten im Lärm dieser Wallpurgisnacht erhebt sich als
Heroldruf der neuen Zeit die Stimme der realen Forschung,
anfangs scliwacli und übertönt, dann immer lauter und den Raum be-
12 Max Neuburger.
herrschend. Ihre grösste Gegnerin, die Scholastik, war durch den
Humanismus zum Schweigen gebracht worden und seitdem wurde ihr
Wert nicht mehr verkannt, gleichgültig ob der neu erweckten plato-
nischen oder aristotelischen Philosophie die Palme gereicht
wurde, oder ob eine neu ersonnene schwärmerische Naturphilo-
sophie den Sieg davontrug; denn jede dieser Modifikationen des
spekulativen Gedankens wusste die Fortschritte der Naturerkenntnis,
geschickt verkleidet, zu Stützen der Deduktion zu machen und trachtete
dieselben nur als logische Konsequenz ihrer obersten Prinzipien dar-
zustellen. Der Unterschied lag nur in der grösseren oder geringeren
Beimengung von Mystik.
Die neue peri patetische Schule, welche zur völligen Scheidung
der philosophischen Wahrheit und des Kirchenglaubens führte, leitete
schon vermöge des ihr wesentlich innewohnenden Eealismus zur Natur-
forschung und gewann deshalb hauptsächlich die Aerzte zu Anhängern.
Der Wortführer dieser Schule, Pietro Pomponazzi suchte in einer
1520 erschienen Schrift den Wunderglauben einzuschränken und
führte vieles, was man zu seiner Zeit für Hexenkünste ansah, auf
Naturgesetze (freilich meistens astrologische) zurück. Einer der über-
zeugtesten Anhänger und Verteidiger des Aristoteles, Andrea Cesalpihi
(1519 — 1603); der den entschiedensten Pantheismus lehrte, erwarb sich
als Arzt und Naturforscher Verdienste, welche die Geschichte der
Naturwissenschaft rühmend anerkennt. Für ihn waren die Leitsätze
der peripatetischen Schule auch in der realen Forschung Ziel und
Eichtung gebend. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass
nur die wenigsten den realen Kern des Aristotelismus im Geiste der
Naturforschung zu erfassen verstanden, während die meisten Anhänger,
irregeführt durch das Beispiel der Scholastiker, einzig in der erstarrten
spitzfindigen Syllogistik, im dialektischen Formalismus das Wesen der
peripatetischen Richtung erblickten und daher lediglich diese Seite des
Systems, namentlich zur Beweisführung in theologischen Fragen aus-
beuteten. Nur in diesem Sinne und zu diesem Zwecke wurde die
aristotelische Philosophie an katholischen und protestantischen Uni-
versitäten gepflegt, an den letzteren von Luther und Melanchthon
eingeführt. Das gleiche Miss Verständnis, welches den schief auf-
gefassten oder mittelalterlich korrumpierten Aristotelismus mit der
reinen Lehre des Peripatetikers identifizierte, war auch die Ursache,
dass viele hochstehende Geister die letztere gänzlich verwarfen und
mit einer Leidenschaft bekämpften, die einer besseren Sache würdig
gewesen wäre. Li ihrer Abneigung gegen den Kirchenphilosophen
■/.at" k^oyfjV warfen sie sich dem Piatonismus in die Arme und glaubten
in dessen Ideenlehre den Schlüssel zur Erkenntnis aller Einzelheiten
zu finden.
Die platonische Philosophie bildete, wenn auch vielleicht
weniger als der nüchterne naturalistische Aristotelismus zur Führerin
geeignet, kein Hindernis für die reale Naturforschung; wurde doch schon
unter Cosimo von Medici, wahrscheinlich durch Plethons Einfluss, in
Florenz eine physikalische Gesellschaft gebildet.' sind doch einige Be-
gründer der neueren Physik gerade unter den Piatonikern Italiens zu
finden, zählten doch Nicolaus Cusanus und Lionardo da Vinci zu
ihrem erlesenen Kreis.
Leider aber drang unter dem Banner der platonischen Philosophie,
welche die griechischen Gelehrten verbreitet hatten, auch die M3^stik
Einleitung. 13
in die Kultur der Renaissance ein. in Form des Xeuplatonismus und
Neupythagoreismus, welcher in Byzanz eifrig gepflegt worden war.
Die theurgisch-magischen Schwärmereien der Alexandriner und Byzan-
tiner traten wieder an die Oberfläche, die ganze Unsumme von
phantastisch-spekulativem Wunderglauben, von methodischer Thorheit,
welche der Orient über die Beziehungen des Makrokosmus zum
Mikrokosmus in Form der Korrespondenzlehre, der geheimnisvollen
Sympathie und Antipathie aller Dinge seit Jahrtausenden aus-
gesponnen und aufgespeichert hatte, erhob sich von neuem, die
Dämonologie, Emanationslehre, Astrologie, Alchemie, Nekromantie,
Oneiromantie. Chiromantie und andere Afterweisheiten lockten viele
der besten Geister vom Arbeitsfelde der empirischen Forschung in ihre
dämmerigen Labyrinthe und hielten sie im Zaubergarten der Mystik
gefangen.
Die erneute Sprachkenntnis, welche die klassische Weisheit der
Antike, den erhabenen Inhalt der Bibel erschlossen hatte, vermittelte
auch die trübe Wissenschaft des Biotin. Jamblichos und Proklos, des
berüchtigten ,.Hermes Trismegistos", der Kabbala. Der florentiner
Arzt Marsilio Ficino (1433 — 1499), das Haupt der dortigen berühmten
platonischen Akademie, übersetzte eine Reihe solcher allegorisch-kosmo-
sophischer Werke und fand die gelehrigsten Schüler im älteren und
jüngeren Pico von Mirandola. Durch diese wurde der grosse Reuchlin,
welcher sich rühmen durfte, der Kirche die Kenntnis des Hebräischen
wieder geschenkt zu haben, angeregt, den Piatonismus und Pytha-
goreismus mit kabbalistischen Vorstellungen zu verschmelzen. Nach
ihm waren es besonders der abenteuerliche aber geistvolle Arzt Heinrich
(Cornelius Agrippai von Xettesheim (1486 — 1535) und der Lehrer des
Paracelsus, der gelehrte Abt zu Sponheim und Würzburg Joh. Triet-
heim, welche diese Richtung nach Deutschland verpflanzten.
Aber, so sehr die Sehnsucht nach höherer Weisheit durch das
Gaukelspiel der Phantastik im allgemeinen befriedigt wurde, so sehr
die Mystik in Anbetracht der geringen Entwicklung positiver Xatur-
kenntnis Gelegenheit zur Entfaltung der Denkthätigkeit darbot, be-
währte sich auch hier das Gesetz, dass gerade die höchste Ueber-
treibung wieder zu den Wegen der schlichten Vernunft zurückleitet.
Der eifrige Xeuplatoniker Giovanni Pico schrieb zwölf Bücher gegen
die Astrologie und Heinrich von Xettesheim, der eine phantastische
Schrift de occulta philosophia verööentlicht hatte, gelangte später zum
äusserten Skeptizismus, wovon das Buch de incertitudine et vanitate
scientiarum (1530) beredtes Zeugnis liefert.
Eben dieser Skeptizismus begründete gesündere Anschauungen,
denn er forderte, ohne an der Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis
zu verzweifeln, eine frische Umackerung der Wissenschaft durch die
Pflugschar neuer redlicher Forscherarbeit und neuer Methoden. In
diesem Sinne \drkten schon im 16. Jahrhundert einige Philosophen
als Vorläufer Bacons wie Pierre de la Ramee, Luis Vives, Montaigne,
Charron und Sanchez. Die üeberzeugung, dass es nicht genügt und
gänzlich nutzlos ist, nach Art eines Raimund Lull, ohne jede reale
Kenntnis über alle Wissenschaften schwärmend zu spekulieren, er-
starkte zunehmend, und nirgends findet sich ein verlässlicherer Pegel
für das fortschreitende Anschwellen dieser Erkenntnis als in den
naturphilosopliischen Systemen, welche einige kühne italienische
Denker in synkretistischer aber kritischer Verwertung der antiken
14 Max Neuburger.
Ideen und in Anlehnung- an die inzwischen gezeitigten naturwissen-
schaftlichen Errungenschaften aufbauten. Der lang vergessene Ge-
danke des Maximus Confessor, dass Gott seine Offenbarungen in
zwei Büchern, der Welt und der Bibel, niedergeschrieben habe, kam
von neuem zur Geltung und trennte wohlthätig das Reich des codex
scriptus, des Glaubens, vom Reich des codex vivus, der Wissenschaft.
In den sinnlichen Wahrnehmungen, in der Natur allein suchte Ber-
nardino Telesio, der Stifter der Consentinischen Akademie, die Quelle
aller Erkenntnis, sentire est scire lautet der Wahlspruch des Thomas
Campanella! Und wenn Telesio an Stelle mj^stischer Sympathien
wenige unabänderliche Naturgesetze setzt, die Stetigkeit und Ewigkeit
der Materie lehrt, die geistigen Funktionen in letzter Linie stets auf
Wahrnehmungen zurückführt, (selbst die Geometrie bedürfe der Er-
fahrung) eine grosse Zahl von physiologischen Erscheinungen durch
Kontraktion und Expansion (z. B. der Blutgefässe) erklärt, wenn
Campanella Vernunft und Erfahrung, nicht aber Bibelsprüche als
Beweisgründe der Naturforschung gelten lässt und das Interesse der
Schulen mehr auf Mathematik und Naturwissenschaft als auf die
Pflege der Grammatik zu lenken empfiehlt, w^enn Baptista Porta, der
Begründer der neueren Optik, der Erfinder der Camera obscura, trotz
seiner Signaturenlehre eine grosse Zahl von „magischen" Erscheinungen
von natürlichen Ursachen (in seiner Magia naturalis) ableitet und den
Hexenwahn bekämpft, so verrät sich die tief einschneidende Wandlung,
welche die Naturauffassung im Laufe des 16. Jahrhunderts in ihren
Grundprinzipien durchgemacht hat.
Die Morgensonne der neueren Naturwissenschaft, welche nach Los-
reissung vom Fetischismus durch nüchterne Beobachtungen und Er-
fahrungen den Grundstein zu ihrer späteren Grösse legte, warf ihre
ersten Strahlen auf die empiänglichen Geister. Zwar mussten noch
Opfer fallen! Am 17. Februar i600 wurde Giordano Bruno auf dem
Campo di Fiora verbrannt, er starb als Märtyrer für seine wissenschaft-
liche Ueberzeugung, als Blutzeuge der Denkfreiheit; neunzehn Jahre
später traf den Naturalisten Vanini ein ähnliches Schicksal. Der Lauf
der Entwicklung Hess sich aber nicht mehr aufhalten. Die Saat, welche
am Beginne des 16. Jahrhunderts ausgestreut worden war, schoss
mächtig in die Halme, auf manchen Gebieten errangen die refor-
matorischen geistigen Bewegungen ein glänzendes Endziel, auf manchen
bahnten sie nur den VV^eg zu Zielen an, welche erst die kommenden
Jahrhunderte zu erreichen vermochten. Das wichtigste Facit lag aber
darin, dass die Naturforschung sich endlich Sitz und Stimme im Rate
erkämpft hatte, dass sich ihrer befreienden Wirkung fürderhin kein
Mitstreiter im Reiche des Geistes zu entziehen vermochte.
D ie Kult u r geschichte möge es gerechterw^ eise lauter,
als es bisher geschah, anerkennen, dass damals kein
Stand mehr an der geistigen Emanzipation mitgearbeitet
hat als dieAerzte, welche in ihrer grossen Mehrheit der
freiheitlichen Richtung angehörten und auf den ver-
schiedensten Gebieten fruchtbringend wirkten. Eine
überraschende Zahl von Sendboten der neuen Ideen, ja sogar manche
der grossen Pfadfinder gingen aus dem Aerztestande hervor oder ge-
hörten ihm zeitlebens an.
In allen Lagern des Fortschritts waren Aerzte zu finden. Ko-
pernikus studierte in Padua Medizin, Caspar Peucer und Crato von
Einleitung:. 15
Krafftheim wirkten für Luthers Sache, der hochverdiente Pflanzen-
physiologe Cesalpini, der Polyhistor Conrad Gesner, die Mineralogen
Agricola und Schwenckfeld. der Aristoteliker Achillini. der Stifter der
platonischen Akademie Marsilius Ficinus, eine reiche Zahl von treff-
lichen Philologen und Humanisten, der Psj'chologe Juan Huarte, der
Mathematiker und Philosoph Cardano. der Skeptiker Sanchez, der
Chemiker Libavius, die Physiker Gilbert. Fernel. der die erste genauere
Messung eines Grades des Meridians vornahm, und manche andere
hochverdiente Forscher auf den verschiedensten Wissensgebieten waren
Aerzte. Es war ein einfacher Praktiker aus dem Städtchen Palos,
namens Garcia Hernandez, der sich im Gegensatz zur Universität
Salamanca günstig für das Projekt des Columbus aussprach, es waren
Aerzte wie Ficinus. Manardo und Mundella, die gegen die Irrlehre
der Astrologie ankämpften, und als es galt, der traurigsten Verirrung
des Zeitalters entgegenzuwirken, dem Hexenglauben, trat ein edler
menschenfreundlicher Arzt mit Opfermut und unter Lebensgefahr in
die Schranken — Job. Wyer.
Andererseits beschäftigten sich gelehrte Laien, Humanisten und
Philosophen (Campanella. Dudith von Horekowicz) mit Fragen der
medizinischen ^Yisseuschaft. des medizinischen Unterrichts, und manche
unter ihnen, wie Eamus und der „spanische Bacon", Luis Yives. eilten
hierin ihrer Zeit weit voraus. Geeignete Centren für die Wechsel-
beziehung der Gelehrten fanden sich in den wissenschaftlichen Ver-
einigungen und in den Universitäten, welche gerade im 16. Jahrhundert
unter dem Einfluss des zunehmenden Wohlstands (besonders in Spanien),
unter der Aegide des Partikularismus der Fürsten und infolge der
religiösen Spaltung (in Deutschland) ausserordentlich vermehrt wurden.
Die Vielseitigkeit der gelehrten Aerzte, von denen manche längere
oder kürzere Zeit als Professoren der historisch-philologischen oder der
mathemati.sch - naturwissenschaftlichen Fächer thätig waren und der
innige Kontakt der Gelehrten untereinander, welcher durch die Philo-
logie (als Grundwurzel jedweder gelehrten Beschäftigung) vermittelt
wurde, bedingten es notwendigerweise, dass mit ihren Vertretern auch
die medizinische Wissenschaft als solche, an all den grossen Bewegungen
teilnahm, welche die Evolution der übrigen Wissenschaften beförderten.
Neben diesen persönlichen Momenten und neben der Beziehung zu
den Naturwissenschaften, die bei ihrem Anstieg die Mutterwissenschaft
nicht isoliert zurücklassen konnten, waren selbstverständlich in noch
höherem Masse jene materiellen und ideellen Triebkräfte massgebend,
welche den Lauf des gesamten Kulturlebens in eine neue Richtung
gelenkt hatten, sie beeinflussten auch die Medizin und führten in
letzter Linie dahin, die Heilkunde aus einer formellen Geistes-
wissenschaft, was sie im Mittelalter war, in eine reale Natur-
wissenschaft zu verwandeln. Dieser Umwandlungsprozess vollzog
sich langsamer als auf den verwandten Gebieten und reichte, in
weiterem Sinne verstanden, in seinen letzten Ausläufern fast bis in
die neueste Zeit herein; nur durch die unaufhörliche Wettarbeit der
Jahrhunderte konnte die mehr als ein Jahrtausend alte dogmatische
Tradition überwunden, konnte die in stets neuen Formen proteusartig
Aviederkehrende Scholastik gänzlich eliminiert werden. Ein viel-
verheissende Anfang wurde immerhin schon im 16. Jahrhundert ge-
macht, indem wenigstens einzelne Theilgebiete von der freien empirischen
Forschung erobert wurden und selbst die Spekulation statt der
16 Max Neuburger.
Argumente und Belegstellen neu beobachtete Thatsachen in den Bann-
kreis ihres Hypothesenspiels einbezog.
Die Brücke zwischen mittelalterlicher und neuerer Heilwissen-
schaft bildet der Humanismus, welcher auch hier die Blossen der
arabistischen Scholastik aufdeckte und die Aerzte zunächst von den
schlechten lateinischen Uebertragungen arabischer Vorlagen zu den
reinen Quellen der antiken Medizin namentlich zu Hippokrates zurück-
führte. Die Pflege des Griechischen wurde zur Eingangspforte des
Fortschritts. Was das unverfälschte Bibelstudium für die Emanzipation
in der Sphäre des Glaubens, das bedeutete das Studium der Original-
werke der klassischen Aerzte in der Sphäre der medizinischen Forschung
— Loslösung von der traditionellen mittelalterlichen Exegese. Ein
Unterschied zwischen beiden Gebieten besteht aber darin, dass es auf
dem medizinischen Gebiete auf die Dauer nicht genügte, einfach die
Autoritäten zu tauschen, an Stelle der arabisch-scholastischen Autoren
die antiken Meister, Hippokrates und Galen zu setzen, sondern dass
hier, um wirklichen Fortschritt anzubahnen, ein selbständiger Anbau,
ein eigenes reales Forschen im Reich der Natur vonnöten ist. Glück-
licherweise liegt aber eben diese Tendenz gerade im Wesen des Hippo-
kratismus, welcher mehrmals im Laufe der Geschichte der Medizin
nach Epochen der Stagnation oder der spekulativen Verirrung den An-
knüpfungspunkt für eine aufsteigende Weiterentwicklung abgab. Der
echte Hippokratismus erhält sich nicht bloss in dauernder Jugend,
weil seine von Theorien freien Beobachtungen unbefangen aus dem
unversieglichen Born der Natur geschöpft sind und daher unge-
zwungen in jeder, selbst der fortgeschrittensten Phase der medi-
zinischen Entwicklung ihre Gültigkeit besitzen, er erfüllt auch die
Forschung, welche sich seinen Geist zueigen macht mit frischem
Jugendtrieb, weil er keinen wissenschaftlichen Dogmenglauben fordert,
sondern im Gegenteil auf Schritt und Tritt zu weiterer nüchterner
Beobachtung anregt.
Deshalb, und nicht bloss wegen seines nicht hoch genug zu schätzen-
den reichen empirischen Inhalts, war es ein Ereignis von schwerwiegender,
entscheidender Bedeutung, dass der Hippokratismus im 16. Jahrhundert,
wenn auch vorerst noch in galenischer Umhüllung und mehr dem Buch-
staben als dem Geiste nach, die arabischen und scholastischen Autoren
verdrängte, die infolge ihrer abstrakten Richtung wohl an Scharfsinn,
an dialektische Auslegekunst hohe Anforderungen stellten, keineswegs
aber den Sinn für Naturbeobachtung zu wecken suchten.
Freilich vom Standpunkt der Erziehung des Menschengeschlechts be-
trachtet, war die dialektische Schulung als Vorstufe gewiss von Wert, lehrte
sie doch, in Vorstellungen und Begriffen das Gleichartige zu verbinden, das
Fremde zu sondern. In diesem Sinne wurde sie eine Vorschule der
kritischen, wissenschaftlichen Beobachtung, im Gegensatz zur roh
empirischen Wahrnehmung. Der unheilvolle Einfluss, den die scholastische
Methode auf die Medizin ausübte, lag hauptsächlich darin, dass man, unter
ihrer Führung, Mittel und Zweck verwechselnd in der Vorschule verblieb,
statt ins Leben zu treten, unter Voraussetzung der endgültigen Abgegchlossen-
heit des Wissens die Beobachtung gänzlich vernachlässigte, statt des realen
Kausalnexus der Erscheinungen nur den logischen Zusammen-
hang fingierter Begriffe erforschte.
Einleitung. 17
Der Weg vom Arabismus zum Hippokratismus lässt mehrere
Etappen erkennen. Aus dem Umstände, dass die dialektische Methode
durch die lange Herrschaft des arabistischen Galenismus so tief ein-
gewurzelt war. dass die Aerzte nur zögernd den ausschlaggebenden
Wert der nüchternen Beobachtung erfassten, erklärt es sich, dass
der Sieg des Hippokratismus über den Arabismus anfangs mehr philo-
logisch und logisch als durch wirklich naturwissenschaftliche That-
sachenforschung erfochten wurde ; auch musste doch die Scholastik auf
allen Gebieten zuerst mit ihren eigenen Walfen bekämpft werden.
Dem philologischen 0 r i g i n a 1 s t u d i u m der griechischen Medizin, das
sehr häufig die falsche Auslegung von Seiten der scholastischen Aerzte
erkennen liess, folgte daher in der historischen Entwicklung die emsige
Thätigkeit der Conciliatoren und Kritiker, welche die Lehr-
meinungen der hellenischen und arabischen Autoritäten verglichen,
eventuell bei bestehender Gegensätzlichkeit zu versöhnen suchten.
Diese Vergleichungen endeten mit dem Siege der griechischen Medizin.
Entsprechend dem auch in der geistigen Welt herrschenden Gesetz
der Trägheit wurde nunmehr die Autorität des Hippokrates
und Galen anstatt der Araber proklamiert, und nur langsam wuchs
aus dem Buchstabenglauben der Geist hervor, d. h. erleuchtete Aerzte
bemühten sich, dui'ch eigene Beobachtung und selbst erworbene Er-
fahrung, im Sinne des Vaters der Heilkunde, über die Ueberlieferung
hinauszuschreiten, sie wurden wirklich H i p p o k r a t i k e r. Wenn auch
nur diese letzte Etappe dem modernen Gesichtspunkt als das einzig
Wesentliche erscheint, so wäre es doch verfehlt, den früheren ihren
heuristischen Wert abzustreiten, denn ohne die grundlegende philo-
logische Thätigkeit, ohne die Bekämpfung der arabischen Medizin —
Resultate der intensivsten Anstrengung und der lebhaftesten Feder-
kriege — wäre das Endziel, dem die historische Entwicklung zustrebte,
nicht erreicht worden.
Im regen Wetteifer und mit grosser Opferwilligkeit veranstalteten
„philologische" Mediziner verschiedener Nationalität editiones
principes des Hippokrates, Aretaios, Galenos, Alexander von Tralles etc.,
ja oft selbst die einzigen Ausgaben oder Uebersetzungen der medizinisch-
naturwissenschaftlichen Meisterwerke des Altertums und vermittelten
durch kritische Sichtung, Polemik und vergleichende Exegese die
Wiedergeburt der antiken Heilkunst. Weite und rasche Verbreitung
von Land zu Land und damit wirklichen Einfluss gewann diese stille
ideale Forscherarbeit durch den Buchdruck, der Gelegenheit gab, dass
nicht nur Universitäten, sondern auch Private in den Besitz der Werke
gelangen konnten, während vordem die Erwerbung von Handschriften,
deren Herstellung Jahre des angestrengtesten Fleisses und besondere
Kenntnisse voraussetzte, wegen ihrer Seltenheit und Kostbarkeit sogar
den Hochschulen nur schwer möglich war. Welch' relativ grossen
Aufschwung die Litteratur nahm, erhellt daraus, dass schon im Laufe
der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ungefähr 800 medizinische
Schriften im Umlauf waren, während noch hundert Jahre vorher die
weltberühmte Pariser Fakultät im ganzen nicht mehr als 9 Werke besa^s.
Aus dem Kreise der philologischen Medizin ragen ganz besonders
Nicola Leoniceno (1428—1524), Thom. Linacre (1461—1524), Winther
(Günther) von Andernach (1487 — 1574), Johann Comarus (1500 — 1558)
und Anutius Foesius (1528 — 1591) hervor.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 2
18 Max Neuburger,
Leoniceno, Professor zu Ferrara, veranstaltete eine Uebersetzung der
„Aphorismen", Linacre aus Canterhury, Leibarzt Heinrich VIII., übersetzte
den „Schwur", "Winther von Andernach, Professor zu Löwen und Strass-
burg, gab den zweiten Teil des Caelius Aurelianus heraus und übersetzte
viele Schriften des Galen, ferner Oreibasios, Alexandros von Tralles, Paulos
von Aegina; Cornarus (Hagenbut, Hanbut) aus Zwickau veröffentlichte zu-
erst nach fünfzehnjähriger Arbeit auf Grund von Handschriftenvergleichung
eine Ausgabe und Uebersetzung des Hippokrates ; Anutius Foesius, Arzt
in Metz, hinterliess zwei noch jetzt höchst wertvolle Arbeiten : Die Oeconomia
Hippocratis (Kommentar zu sämtlichen Schriften) und eine vollständige
kritische Ausgabe nebst lateinischer Uebersetzung des Hippokrates. Ausser
den Genannten wären noch zahlreiche andere zu erwähnen. Unter den
Deutschen Wilhelm Koch (Copus) aus Basel (1471—1532), Theodor
Zwinger (1533— 1588) aus Bischofzell, Leonhard Fuchs (1501 — 1566), Pro-
fessor zu Ingolstadt und Tübingen, Job. Lange aus Löwenberg (1485 — 1565).
Unter den Italienern: Giov. Batt. de Monte (Montanus [1498 — 1552]),
Professor zu Padua, Geronimo Mercuriale (1530 — 1606), Professor in Padua,
Bologna und Pisa, berühmt durch seine kritischen Abhandlungen über
schwierige Stellen griechischer und römischer Schriftsteller (Variae lectiones),
Marsilius Cagnati (f 1610). Unter den Franzosen: Symphorien Champier
(1472—1539), Jean de Gorris (1505—1577) [Bearbeitung des Nikander,
medizinische Terminologie], Jacques Houllier (1498 — 1562) und sein Schüler
Louis Duret (1527— 1586). Auch der Engländer John Kaye (1506— 1573),
Stifter des Kollegiums der Aerzte in London, und die Spanier Andreas
a Laguna (1499 — 1560), Francisco Valles (f 1572), Cristobal de Vega
(1510 — um 1580) erwarben sich grosse Verdienste um die Edition oder
Kommentierung klassischer Werke. Der Portugiese Luis de Lemos, Pro-
fessor in Salamanca (ca. 1580) stellte bereits Untersuchungen über die
Echtheit der hippokratischen Schriften an.
Die humanistischen Studien der Aerzte brachten, so erfrischend
sie wirkten, naturgemäss zunächst mehr formellen Gewinn als sach-
liche Erweiterung, insofern die Medizin jetzt das Joch der antiken
Autoritäten, des Galen und Hippokrates, ebenso gefügsam auf sich
nahm, wie sie früher die Tyrannei der Araber ertrug. Die Kritik,
welche sich bei diesem Wechsel der Herrschaft gegen den Arabismus
wandte, führte daher den Kampf mit Waffen, die anfangs zum grössten
Teil der Rüstkammer der Philologie und nur in der Minderzahl dem
Bereich unabhängiger Thatsachenbeobachtung entnommen wurden.
Solcher Art waren die Fehdeschriften des Johann Lange und nament-
lich des grimmigsten Gegners der Araber, des Tübinger Professors
Leonhard Fuchs, der sich von seinem leidenschaftlichen Eifer sogar
dahin reissen Hess, den nationalen Standpunkt in der Wissenschaft
geltend zu machen.
Aehnlich aber, wie die Botanik und Zoologie infolge der ozeanischen
Entdeckungen, respektive deren naturwissenschaftlicher Ausbeute vom
humanistischen Studium, von philologischer Kritik zur frischen That-
sachenforschung vordrangen, so wurde auch die Medizin durch äussere
Verhältnisse auf den Weg der Erfahrung geleitet oder geradezu hin-
gedrängt.
Der kräftigste Impuls zur selbständigen medizinischen Forschung
wurde von der Natur selbst gegeben: durch das epidemische Auf-
treten neuer, oder vorher nicht entsprechend gewürdigter Krankheiten.
Einleitung-. 19
Es Hesse sich ohne Schwierigkeit nachweisen, wie die Seuchen auf
den Gang der gesamten Kultur einen sehr tiefgreifenden Einfluss aus-
geübt und namentlich auf das ethische und religiöse Empfinden, auf
das kausale Denken der Menschheit, auf Sitten und Gebräuche der
Völker wiederholt umstimmend eingewirkt haben. Dass die Medizin
von allen Kulturzweigen am meisten betrotfen wurde, ist im Wesen
der Sache begründet, bilden doch die Seuchen den Prüfstein dieser
Wissenschaft.
Am Ausgang des 15. und im 16. Jahrhundert war es namentlich
die massenhafte Ausbreitung der Syphilis, welche die Ohnmacht
der bisherigen Heilkunde und die Hinfälligkeit ihrer theoretischen
Prunkgebäude schonungslos offenbarte. Ja! man geht nicht zu weit,
wenn man behauptet, dass die traurigen Erfahrungen, welche die
Aerzte hiebei erwarben, dass die Ratlosigkeit, von der sie ergriffen
wurden, die ersten und schwerwiegendsten Zweifel an der Zuverlässig-
keit der damaligen Schulmedizin auslösen musste. Hier blieben die
sonst so redseligen Autoritäten stumm, hier versagte der sonst alles
wissende, alles erklärende Galen. Die alten Autoritäten, die nichts
von der tropischen Pflanzen- und Tierwelt wussten, sie schwiegen auch
über die Syphilis.
Ein neues, ein wirklich praktisches Problem warf sich auf, aus
dem Himmel der eingebildeten wissenschaftlichen Vollkommenheit, in
dem man sich bisher befand, wurde man auf die harte Erde grau-
samer Wirklichkeit versetzt, wo es noch so viel zu schaffen und zu
arbeiten gab. Das erste Zeichen des eigenen Denkens bildeten pro-
phylaktische hygienische Massnahmen.
Zwar fehlte es nicht an Versuchen, die neu beobachteten Er-
scheinungen oder deren neu erkannten Zusammenhang mit dem Galen-
scheu Systeme in Uebereinstimmung zu setzen (Fäulnis des Leberbluts),
aber die darauf gebaute „rationelle" ausleerende Behandlungsweise
Hess im Stich, und notgedrungen mussten die Aerzte sich herbeilassen,
zu den von Empirikern mit bestem Erfolge gebrauchten Quecksilber
oder dem aus Amerika eingeführten Guajakholz zu greifen. Noch
schwieriger aber als die Krankheit, war die nicht zu leugnende Wirkungs-
weise dieser Mittel nach den Grundsätzen Galens zu verstehen, trotz-
dem man soweit ging, die Heilwirkung des von Galen so verpönten
„kalten" Gifts, des Quecksilbers, durch die Annahme einer kritischen
Ausleerung der schlechten Säfte auf dem Wege des Speichelflusses
(der bei der damaligen Anwendungsweise meistens zur Beobachtung
kam) zu erklären. Gerade die mannigfaltigen scharfsinnigen Be-
mühungen zur Lösung des Zwiespalts zwischen Theorie und Praxis
verrieten am klarsten, wie sehr man bereits zur Erkenntnis der Wider-
sprüche des Systems gelangt war.
Neben der Lustseuche gaben vornehmlich die Epidemien des
„englischen Schweisses" und des Typhus exanthematicus
(wozu auch die „ungarische" Krankheit zählt), den Impuls zu uner-
müdlicher eigener Forschung, die sich durch verbesserte hygienische
Massnahmen, durch genauere Krankheitschilderungen sowie durch be-
deutende Fortschritte in der Differentialdiagnostik und Aetio-
logie der Seuchen kundgab. In letzterer Hinsicht sind ganz besonders
zwei Errungenschaften von bahnbrechender Bedeutung für die Folge-
zeit geworden : die Auflösung des Begriffs „Pest" in mehrere
scharf gesonderte, früher zusammengeworfene Formen
2*
20 'M&x Neuburger.
(namentlich die Abtrennung des Petechialtyphus) und die B e g r ü n d u n g
der Lehre von der Ansteckung durch Girolamo Fracastoro
(1483 — 1553), Das Aufkommen der Theorie von der Kontagion in-
mitten von allerlei theologischen Deutungen des Ursprungs der Epi-
demien, inmitten eines Wusts von astrologischen Grillen bildet fürwahr
den strahlendsten Lichtpunkt in der praktischen Medizin des 16. Jahr-
hunderts und gab die reichste Gelegenheit, dass sich der Aerztestand
seiner hehren Kulturmission bewusst wurde: der Bekämpfung völker-
psychologischer Wahnideen.
Die epidemiographische Litteratur, namentlich die Pestlitteratur
nahm einen höchst bemerkenswerten Aufschwung, Aerzte aller Länder
wetteiferten miteinander und durften sich mancher ansehnlichen
Leistung auf diesem Gebiete rühmen.
Ausser dem eben erwähnten Girolamo Fracastoro, dem Erfinder
des Krankheitsnamens „Syphilis", der seine grundlegenden Beobach-
tungen in der Schrift de morbis contagiosis niederlegte, hinterliess
eine Reihe von italienischen, deutschen, holländischen und spanischen
Praktikern wertvolle epidemiologische Werke. Spanischen Aerzten
des 16. Jahrhunderts verdankt man insbesondere die ersten sorg-
fältigen naturgetreuen Beschreibungen der Diphtherie (Garotillo).
Das Beobachtungstalent der Aerzte, welches durch die häufigen
Epidemien ungemein grosse Anregung fand, machte sich immermehr
auf dem Gebiete der gesamten inneren Medizin fruchtbringend geltend,
wovon die anschwellende kasuistische Litteratur in Form von „Epistulae
medicinales", „Enarrationes", „Consilia", „Consultationes" zahlreicher
Praktiker Zeugnis giebt. Diese neuartige Darstellungsart anstatt der
früheren „commentaria" verrät schon äusserlich den geänderten Zeit-
geist, der sich nicht mehr damit begnügte, bloss auszulegen, was die
Alten lehrten, sondern nachzuprüfen beziehungsweise zu verbessern
wagte. Anfangs fesselten fast nur ganz ungewöhnliche, seltene Fälle
das Interesse — ein Merkzeichen jeder jugendlichen Forschung —
später aber widmete man auch den alltäglichen Vorkommnissen eine
sorgfältige Untersuchung, da der gesunde praktische Sinn allmählich
erkannte, dass gerade die typischen Erscheinungen vor allem genau
erfasst werden müssen.
Unter den Autoren solcher Sammelschriften, welche die Stelle der späteren
medizinischen Zeitschriften vertraten, ragen namentlich folgende hervor.
Unter den Deutschen: Crato von KrafFtheim (1519 — 1586), Joh. Schenck
von Grafenberg (1530 — 1598), Felix Platter (1536 — 1614), ferner Joh.
Lange, Diomedes Cornarus und ßeinerus Solenander. Unter den Italienern,
welche auch hierin vorangingen, wären zu erwähnen: Antonio Benivieni
(1440?— 1502), Alessandro Benedetti (1460—1525), Giov. Manardo (1462—
1536), Nicolo Massa (-{- 1569), Aloys. Mundella, Francesco Yalleriola, Marcello
Donato (-{- um 1600), Pietro Salio Diverso, Girolamo Donzellini (jf 1588),
Ercole Sassonia (1550—1607), Vettore Trincavella (1496 — 1568), Alessandro
Massaria (1510—1598), Ludovico Settala (1552—1632). Unter den fran-
zösischen Bearbeitern der praktischen Medizin ist nur Guillaume Baillou
[Ballonius (1538 — 1616)] bemerkenswert und durch die Beschreibung des
Croup hochverdient, während die Niederländer mit ßembert Dodoens of
Doodezoon [Dodonaeus (1518 — 1585)], Josse van Lomm (Lommius), Lud-
wig Lemmens [Lemnius (1505 — 1568)], Peter Foreest [Forestus (1522 —
1597)] vmd Joh. Heum [Heurnius (1543 — 1601)] ein starkes Kontingent
Einleitung. 21
stellten. Die spanischen und portugiesischen Autoren dieses Zeitraums zeigen
trotz ihrer grossen Verdienste um die Epidemiologie (Sj-philis, Diphtherie)
und einzelne Spezialzweige [Strikturenbehandlung mit Bougies (Andreas a
Laguna), Nieren-, Blasenkrankheiten und Gicht (Francesco Diaz)], noch stark
scholastische Neigungen, doch verdienen die kasuistischen Werke von Luis
Mercado (1520 — 1606), Amatus Lusitanus und Zacutus Lusitanus warme
Anerkennung. Der Vorzug der selbständigen Beobachtung gegenüber dem
früheren Dogmenglaiiben findet eine grelle Illustration durch die zahlreichen
Handbücher der praktischen Medizin, welche wenigstens einigerraassen ge-
schmackvoller bearbeitet sind als vorher. Verfasser solcher Kompendien
waren unter anderen Clementinus, Altomare. Augenio, Guido Guidi [j 1569),
Settala, Franc. Jacques Dubois (Sylvius), Jean B-iolan d. Aeltere (1538 —
1606j, der Spanier Christ, de Vega und der Niederländer J. Heurne.
Im Geiste des grossen Koers erweiterten die Praktiker nicht bloss
die Kranklieitslehre durch plastische Schilderungen einzelner Affek-
tionen (z. B. der Syphilis, der Pest, des Petechialtyphus, der Kriebel-
krankheit. des Skorbuts, des Keuchhustens), sie pflegten nicht allein
im wissenschaftlichen Sinn die Kasuistik, sondern verfolgten auch die
praktische und künstlerische Seite des Berufs mit ganz besonderer
Vorliebe. Deshalb wurde wieder ganz besonderes Gewicht auf die
Zeichenlehre (Semiotik), Prognostik und Therapie gelegt, wobei sich viel-
fach Anlässe zur Bekämpfung arabistisch-galenischer Dogmen ergaben.
Was zunächst die Semiotik und Prognostik anlangt, um
welche sich neben anderen Autoren besonders der vielerfahrene, weit-
gereiste Prospero Alpini durch ein klassisches vorbildliches Werk ,,de
praesagienda vita et morte aegrotantium", Jodocus Lommius durch
synthetische Zusammenstellung der Krankheitszeichen, Thomas Fyens
(t 1585) durch sorgfältige Beobachtungen verdient machten, so wurde
die arabische Uroskopie. die galenisch-arabische Lehre ^'om Puls und von
den kritischen Tagen zum (gegenständ neuer Untersuchungen gemacht.
Die Uroskopie, mit der gerade die Quacksalber den schreiendsten
Missbrauch triebeu, und welche bei dem damaligen Stand der Kennt-
nisse vorwiegend auf Selbsttäuschung oder Betrügerei basierte, stützte
sich auf das galenische Dogma, dass der Zustand des Leberblutes,
mithin der „natürlichen'' Kräfte aus dem Harn zu erkennen sei.
Das Studium des Hippokrates zeigte aber, dass der Altmeister der
Medizin keineswegs so schweres Gewicht auf die Harnschau legte,
wie es die arabischen und scholastischen Aerzte thaten, geschweige
denn, dass er allein aus diesem Zeichen eine Krankheit zu diagnosti-
zieren wagte. Die Erfahrung ehrlicher Praxis stimmte ebenfalls nicht
mit den spitzfindigen Angaben, die sich von den gesunden Anfängen
des Joannes Aktuarios allzuweit entfernt hatten. Notgedrungen musste
sich daher eine heftige Eeaktion erheben, welche sich gegen einen
Hauptpunkt der arabischen Medizin feindlich wendete. Ihre schärfsten
Vertreter waren Clementinus, Christoph Clauser, der Wiener Univer-
sitätslehrer Franz Emmerich, Bruno Seidel, Adolph Scribonius, Johann
Lange, Kölreuter und Botallo. Zu einem mehr vermittelnden Ergeb-
nis gelangte Peter Foreest. Was der grosse Vertreter der Prä-
renaissance, der Dichter Petrarca schon längst vorher sarkastisch
verspottet hatte, wurde jetzt auch von den Aerzten endlich energisch
bekämpft, ohne dass sie die Jalirhunderte überdauernde Nachwirkung
im Volksglauben auszurotten vermochten.
22 Max Neuburger.
lu immer weiterer Loslösung von tausendjähriger Tradition —
scheuten sich doch italienische Aerzte wie Giov. Manardo und Fortunato
Fedele (1550 — 1630) keineswegs jeden Autoritätsglauben (selbst au
Hippokrates !) im Prinzip zu verwerfen — zog man, kühner geworden,
sogar gegen die subtile Pulslehre Galens und der Araber zu Felde,
die der Pole Jos. Strutliius in seiner Ars. sphygmica vergeblich zu
galvanisieren suchte, nachdem Forscher, wie Ercole Sassonia den her-
kömmlichen Behauptungen widersprochen hatten.
Die Lehre von den kritischen Tagen, welche die Erfahrung
zu stützen schien, wurde zwar keineswegs verworfen, aber nicht mehr
blindlings angenommen; man prüfte nach und fühlte das berechtigte
Bedürfnis, theoretische Grundlagen zu suchen, um sie „rationell" zu
gestalten. Die latromathematik in Form der pythagoreischen Zahlen-
mystik und Astrologie kam diesem Begehren nur allzuwillig entgegen.
Fracastoro, Amatus Lusitanus und viele andere versuchten sich in
höchst gewundenen Erklärungen eines Phänomens, welches übrigens
auch das neunzehnte Jahrhundert nicht gänzlich zu enträtseln ver-
mochte.
Am erbittertsten wurde der Arabismus in der Therapie bekämpft,
wo die Wahrheit in den Erfolgen am durchsichtigsten zu Tage trat.
Der durch sein unglückliches Schicksal bekannte Spanier Miguel
Servede y Eeves (Serveto) aus Villanueva (1509—1553) bestritt den
Wert der Syrupe, welche durch die Araber in Gebrauch gekommen,
als Hauptmittel zur Beförderung der „Kochung" der Säfte allgemein
angewendet wurden und erkühnte sich zu behaupten, dass die Kardinal-
säfte mit Ausnahme des Schleims überhaupt keiner „Kochung" fähig
seien. Ebenso ketzerisch in den Augen der Konservativen, für den
Fortschritt aber eine That bedeutend, war der Protest des Pariser Pro-
fessors Pierre Brissot (1478 — 1522) gegen die arabische Methode
des Aderlasses. Dieselbe bestand nämlich darin, dass bei entzünd-
lichen Krankheiten möglichst weit entfernt von der leidenden Stelle
venäseziert wurde (Revulsion), während Hippokrates den Aderlass
gerade in der Nähe des erkrankten Teils möglichst ausgiebig ausführte
(Derivation). Bedenkt man, dass die Yenäsektion geradezu den Kardinal-
punkt der herrschenden Therapie bildete und daher aus subtil gedachten
Gründen seiner Methodik grösste Aufmerksamkeit geschenkt wurde,
so wird man die Erbitterung begreifen, mit der dieser Aderlassstreit
von beiden Seiten geführt wurde. Trotzdem Brissots Ansicht von den
Gegnern für eine ebenso gefährliche Ketzerei als Luthers Reformwerk
erklärt, ja selbst vor den Richterstuhl Karl Y. gezerrt wurde, endete
der Streit vorerst zu Gunsten des kühnen Neuerers; doch flammte er
später wiederum auf, als einerseits manche Schüler Brissots die Wirk-
samkeit des Aderlasses bei „Pleuritis" überhaupt in Zweifel zogen,
während Leonardo Botallo (geb. 1530) geradezu einen YampjTismus
inaugurierte (bei akuten Krankheiten 4 — 5 mal Aderlässe von 3—4
Pfunden).
Vom Kampf gegen den Arabismus zur Auflehnung gegen Galen war
oft nur ein Schritt ! Die Flutwelle der empirischen Forschung machte
jetzt auch vor dem grossen Griechen nicht mehr Halt ! Reine Fragen
der Praxis wurden schon vom Standpunkt der Erfahrung kritisch ge-
prüft und bei bestehendem Widerspruch auch im Gegensatz zu Galen
gelöst. Eine Zeit, in welcher sogar von einzelnen Forschern, wie
Mattioli, Musa Brassavola und Ercole Sassonia Experimente an Ver-
Einleitung. 23
brechern oder Tieren zum Zwecke der Arzueiprüfuiigeu vorgenommen
wurden, in -welcher eine nicht geringe Zahl von vergessenen oder neuen
Arzneistoifen zur Verwendung kam, konnte in der Therapie nicht beim
Dogma verharren.
Die über Hippokrates und Galen allmählich hinausstrebende Selbst-
beobachtung und Einzelerfahrung, die bedeutsamen Fortschritte in der
wissenschaftlichen Kleinmalerei gingen fast durchwegs von Prak-
tikern aus. an den Universitäten hingegen fuhr man fort, in herge-
brachter Weise mit Ignorierung der Neuerungen die alten Autoren zu
tradieren, zu kommentieren. In hippokratischem Geiste Beobachtungen
anzustellen, war nur den Praktikei'U möglich, den Universitäten fehlte
es an geeignetem Forschungs- und Krankenmaterial; die Klinik, die
Seele der medizinischen Forschung, des medizinischen Unterrichts war
noch nicht geschaiFen, auch verstand man ihren Wert in den mass-
gebenden Kreisen noch nicht zu erfassen. Trotzdem nicht bloss einzelne
Aerzte, wie der schwedische Leibarzt W. Lemnius, sondern auch vor-
aneilende geistvolle Laien, wie Luis Vives und P. Eamus die Not-
wendigkeit klinischer Lehranstalten auseinandersetzten, wurde die Idee
im 16. Jahrhundert nur in Padua (durch Montanus, Bottoni und Oddi)
vielleicht auch in Montpellier vorübergehend verwirklicht. Begi'eif-
licherweise zog der medizinische Konservativismus aus diesem bedauer-
lichen Mangel gi'ossen Nutzen, konnte er sich doch unter Missachtung
des praktischen Korrektivs hinter dem Wall galenischer und arabischer
Theoreme verschanzen.
Der Einfluss solcher äusseren Umstände, die Einwii'kung der
technischen Untemchts- und Forschungsbehelfe auf den Fortgang des
Wissens machte sich schon damals bemerkbar und bildete wohl auch
eine der Ursachen, dass sich gerade die Anatomie bereits im
16. Jahrhundert mächtig entfaltete und in ihrem Entwicklungs-
gange alle anderen Zweige der medizinischen Wissenschaft weit hinter
sich zurückliess; denn schon lange vorher, wenn auch höchst unvoll-
kommen, und schon zu einer Zeit, in der man den praktischen Unterricht
in der Krankenbehandlung noch gänzlich vernachlässigte, waren sich
die Universitäten der Pflicht bewusst, die Studenten durch den Augen-
schein, nicht bloss durch das dozierende Wort über die anatomischen
Verhältnisse zu orientieren. Mag er noch so mangelhaft gewesen sein,
es gab doch hie und da bereits im Mittelalter einen anatomischen
Anschauungsunterricht! In dem Masse, als die religiösen und
sozialen Vorurteile der Laien abnahmen oder nicht mehr hemmend
entgegentraten, in dem ]\[asse. als sich durch entgegenkommendes
Wohlwollen der Behörden das Leichenmaterial für ünterrichtszwecke
mehrte, hing es von der Individualität des Lehrers ab, wie er dasselbe
zum Fortschritt der Wissenschaft ausnützte. Und hierin gingen die
italienischen Professoren, durch Mondinos leuchtendes Beispiel ange-
regt, allen übrigen darin voran, dass sie es nicht verschmähten, selbst
zum Skalpell zu greifen, statt sich lediglich auf den Vortrag galenischer
Kapitel zu beschränken und die Sektion vom Chirurgen oder Barbier
ausführen zu lassen. In Italien erfreute sich deshalb die Anatomie
schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts einer freieren Bearbeitung
als in anderen Ländern, italienische Anatomen begründeten im Laufe
des Cinquecento die ruhmreichste Epoche der Zergliederungskunst
und wurden zu Lehrern für die Aerzte der ganzen Welt.
Neben praktischen chirurgischen Bedürfnissen — war doch
24 Max Neu burger.
die Professur der Chirurgie mit der Anatomie vereint — wirkte noch
ein anderes Moment gerade in Italien begünstigend auf den Aufschwung
der Anatomie: die goldenen Fäden der bildenden Künste spannen
sich zum Sezirtisch, und in das unheimliche Dunkel der Leichenkammer
warf der ideale Schimmer der Kunst, der Sinn für plastische Schönheit
seinen lichten Schein. Künstler erwarben, im Drange nach gesundem
Realismus, sichere Kenntnisse an der Leiche und erstatten ihren Dank,
indem sie ihren Pinsel, ihren Stift in den Dienst der Anatomie stellten.
Lionardo da Vinci unterrichtete sich bei seinem Freunde, dem Ana-
tomen Marc Antonio della Torre (1473 — 1506) über Verlauf und Form
der Muskeln, über die Lage der einzelnen Teile des Körpers. Er
lieferte ihm Zeichnungen zu einem anatomischen Werk, er entwarf
nach eigenen Präparaten eine dreizehn Bände umfassende Sammlung
von anatomischen Zeichnungen. Noch vorhandene Zeichnungen von
Rafael, von Michelangelo, von Rosso de Rossi, ebenso wie die Werke
von Lionardo da Vinci und Albrecht Dürer über die menschlichen
Proportionen beweisen es, dass die ideale Kunst den Felsengrund ihrer
Lebenstreue, ihrer Grösse, in ernsten realen Studien suchte und fand.
Umgekehrt entwickelten auch Anatomen wie Berengar Carpi, Eustacchi
und Volcher Koyter ihr Zeichentalent zum Nutzen ihrer P^achwissen-
schaft. Holzschnitt und Kupferstich vervielfältigten in wünschenswerter
Weise, was die Meisterhand der Künstler entworfen, und belebten den
trockenen Text der anatomischen AVerke mit erläuternden Abbildungen.
Das reizvolle Bündnis zwischen Kunst und Wissenschaft, zugleich
mit dem erstarkenden Humanismus regte das Studium des Men-
schen an, entzündete das Interesse auch ferner stehender Kreise,
welche ihr Wohlwollen durch äussere Förderung der anatomischen
Forschung zu bethätigen suchten; namentlich den kunstsinnigen
Fürsten Italiens gebührt der Dank der Anatomen ebenso wie der
Dank der Künstler.
Auch die Anatomie schloss sich zuerst streng an die Lehren des
Galen, der Araber und Mondinos an, man sah nur das, was in den
vergilbten Folianten stand und begnügte sich mit rohen Beschreibungen
der Körperteile, welche, um den Schein der Wissenschaft zu erwecken,
mit klassischen Citaten und scholastischen Tüfteleien reichlich ver-
brämt wurden. Die Natur des verhältnismässig leicht zu überschauenden
Objekts im Verein mit technischen Fortschritten brachte es aber mit
sich, dass die Forscher (ähnlich Avie in der Zoologie, Botanik und
Mineralogie) weit früher als auf anderen medizinischen Gebieten der
Anschauung den Vorrang vor dem Autoritätsglauben einräumen konnten ;
doch auch hier kam die Emanzipation nicht sprungweise zu stände,
nur waren die üebergangsstadien viel kürzer.
Wiewohl sich die Anatomen in der zweiten Hälfte des 15. Jahr-
hundert bereits vom mittelalterlichen Mondino, der vordem als unfehl-
bare Autorität gegolten, abwandten, so erkühnten sie sich noch nicht,
trotzdem sie bei ihren Untersuchungen hie und da auf die grossen
Mängel der galenischen Anatomie stiessen, soweit zu gehen, ihre Be-
obachtungen dem Ansehen des grossen Pergameners entgegenzusetzen.
Den Galen zu bestätigen, zu ergänzen, nicht aber zu korrigieren, das
schwebte allein als Aufgabe vor, und fand man grobe Widersprüche
mit der eigenen Erfahrung, so verbesserte man stillschweigend, ohne
prinzipiell gegen ihn aufzutreten. Lieber verfochten die Gelehrten
den Satz, dass sich das Menschengeschlecht in seiner anatomischen
I
Einleitung. 25
Beschaffenheit im Laufe der Jahi'himderte verändert habe, als dass
sie zugaben, dass Galen sich geirrt haben könne. Von solchem Geiste
war eine Anzahl von italienischen und französischen Anatomen am
Ende des 15. und im Beginn des 16. Jahrhunderts beseelt. Anatomen,
welche sich um die Entdeckung mancher Einzelheiten hoch ver-
dient machten, wie Achillini, Zerbi, Benedetti, Berengar von Carpi,
Winther von Andernach. Guido Guidi, Jacques Dubois. Höchstens
dem objektiven Ergebnis ihrer Forschung, nicht aber der Idee
nach, wirkten diese Männer als Vorläufer der wissenschaftlichen Ee-
formation, die ja im Prinzip mit der gänzlichen Verwerfung der
galenischen Anatomie, mit einer sj'stematisch durchgefüluten Xeu-
schöpfung anheben musste. Keinem anderen als dem grossen Zer-
gliederer Andreas Vesalius (1514—1565) gebührt das Verdienst,
mit kühnem Freimut, mit scharfer Kritik, die Schranke dui'chbrochen
zu haben, welche auch hier der Autoritätsglaube errichtet hatte.
Aus einer alten deutschen Aerztefamilie stammend, deren ursprüng-
licher Name Wytinck nach dem Herkunftsort Wesel abgeändert worden
war. mit frühreifem Anschauungstaleut und stürmischem Wissensdrang,
mit besonderer technischer Geschicklichkeit begabt, hatte Vesal im her-
kömmlichen oberflächlichen anatomischen Unterricht weder in Mont-
pellier noch in Paris die rechte Befriedigung gefunden. Schon während
seiner Studienzeit den Weg der selbständigen Forschung betretend,
benützte er später in seiner Stellung als Wundarzt im kaiserlichen
Heere, die gegebene Gelegenheit, unbefangen, nur den Sinnen trauend,
zahlreiche Leichenuntersuchungen vorzunehmen; durch diese wurde er
über die Mängel der galenischen Anatomie so sehr aufgeklärt, dass
sich in ihm der Plan zu einer völligen Xeuschöpfung des Gegen-
stands immer mehr festsetzte. Nur mit schwerer Ueberwindung, nur
um die Zeitgenossen nicht in ihrem Dogmatismus zu verletzen, trug
er. mit 23 Jahren als Professor nach Padua berufen, daselbst noch
dreimal die Anatomie nach Galen vor, dann aber verbot es ihm der
Mannesmut. die niederschmetternde Erkenntnis der Allgemeinheit noch
länger vorzuenthalten, dass Galen seine Kenntnisse nicht an Sektionen
von Menschen, sondern an der Zergliederung von Affen und Hunden
erworben hatte. Welcher Mut dazu gehörte, die Autorität Galens
und namentlich auf diesem Gebiete zu bekämpfen, lässt sich leicht
ermessen, wenn man die weitverzweigte Macht lang heri-schender
wissenschaftlicher Suggestionen erwägt, wenn man bedenkt, dass
die Grundlage und damit das ganze Lehrgebäude der Medizin an-
gegriffen wurde. In demselben Jahre, wie des Kopernikus umwälzendes
Werk De revolutionibus orbium coelestium (1543), erschien auch das
nicht minder bahnbrechende Hauptwerk Vesals De corporis humani
fabrica libri Septem, mit ausgezeichneten von Stephan von Kaikar
herrührenden Holzschnitten, worin nicht allein auf Grund zahl-
reicher Zergliederungen mehr als 200 Irrtümer des „unfehlbaren"
Pergameners unwiderleglich nachgewiesen wurden, sondern die ge-
samte Anatomie aufs sorgfältigste nach durchwegs eigenen Forschungen,
zum Teil in Beziehung zur Phj'siologie und Pathologie abgehandelt
ist. Die zweite, verbesserte Auflage erschien im Jahre 1555. Wenige
Werke der medizinischen Litteratur können Vesals Anatomie an die
Seite gestellt werden, sie besitzt nicht bloss einen relativen Wert für
den damaligen Fortschritt, sondern trotz mancher ihr anhaftender
Unvollkommenheiten einen unvergänglich dauernden, absoluten Wert
26 Max Neuburger.
für alle Zeiten! Alle weiteren Leistungen der Anatomen sind nur
Fortsetzungen, Erweiterungen, Verbesserungen.
Vesal bewies durch Tiersektionen, womit er gleichzeitig die ver-
gleichende Anatomie inaugurierte, dass Galen die Resultate der
Tieranatomie (z. B. Wundernetz, allgemeiner Hautmuskel) fälschlich
auf den Menschen übertragen hatte, brachte eine Fülle von aus-
gezeichneten naturwahren Beschreibungen (Becken, Wirbelsäule, Band-
apparate, Herzklappen, Bauchfell, graue Hirnsubstanz etc.), bestritt
alte irrtümliche Begriffe (Parenchym), empfahl systematische Prä-
parationen und wirkte durch Bekämpfung des Vorurteils der Aerzte
gegen die praktisch anatomische Beschäftigung sowie durch Pflege
der anatomischen Abbildung geradezu bahnbrechend für die Verbreitung
anatomischer Kenntnisse.
Die geistige Bewegung, die Vesal im Reiche der ]V[edizin hervor-
rief, zog weite Wellenkreise, niemand konnte in Neutralität verharren ;
wo der Galenismus in seinem Herzen getroffen war, konnten sich nur
zwei Lager schroff gegenüberstehen, die begeisterten Freunde der
Wahrheit und die in greisenhaftem Eigensinn verbohrten Anhänger
der Tradition. Während die ersteren die Thatsachen für sich hatten,
riefen die letzteren, zeternd gegen die ungeheuere Ketzerei Reich und
Kirche um Hilfe an, allen voran der ehemalige Lehrer Vesals, Sylvius,
der in einem Wortspiel den Namen des Reformators in „Vesanus" um-
änderte und von ihm sagte, er verpeste Europa mit seinem Gifthauch.
Ja! die anatomische Forschung als solche wurde durch Aufwühlung
alter Vorurteile wieder in Frage gezogen. Glücklicherweise war das
Gutachten der Universität Salamanca, welches Karl V. einholen Hess,
günstig tür Vesal, die theologische Fakultät erklärte, dass Leichen-
zergliederungen wegen des Nutzens für die Heilkunst zulässig erklärt
werden müssten. Die Macht der Wahrheit erwies sich stärker als
Vorurteile, Neid und Unwissenheit, Vesal aber, der ihr den Weg er-
öffnet hatte, vermochte auf die Dauer den hämischen Intriguen seiner
Feinde nicht zu widerstehen und endete unglücklich.
Die geschichtliche Bedeutung Vesals. der auch als Arzt und
Chirurg Tüchtiges leistete, beruht in erster Linie darauf, dass er dem
blinden Autoritätsglauben auf einem der wichtigsten Gebiete ein Ende
setzte, der Medizin durch die sorgfältigste Bearbeitung der Anatomie
die wertvollste Grundlage gab und die Aufgabe der kommenden
Forschung, die Heilkunst auf den exakten Ergebnissen der Anatomie
und Physiologie zu errichten, wenigstens in den Umrissen andeutete.
Der Endzweck, die theoretische Wissenschaft praktisch zu verwerten,
schAvebte ihm immer deutlich vor Augen, deshalb beschränkte er sich
nicht, wie viele Spätere, bloss auf die anatomische Beschreibung,
sondern er versucht, mittels zahlreicher Vivisektionen die Ver-
richtungen der Organe zu ergründen und unterliess es auch
nicht, bereits manche dem Skalpell zugängliche pathologische Ver-
änderungen ins Auge zu fassen. Es ist besonders hervorzuheben,
dass Vesal demnach nicht bloss als Reformator der Anatomie erscheint,
sondern dass er auch den Wert des Tierexperiments, welches er den
mit der Anatomie vertrauten Aerzten dringend empfiehlt, erfasste und
somit die Physiologie aus dem Dickicht der Spekulation auf den Weg
der empirischen Untersuchung hinüberleitete. Den Glanzpunkt in
dieser Hinsicht bilden seine Versuche über Herzbewegung, über die
Folgen der Gefässunterbindung, über Hirnbewegung, über den Ein-
Einleitung. 27
fluss des Gehirns auf Empfindung- und Bewegung. Wiewohl er sich
trotz ungefährer Kenntnis des kleinen Kreislaufs, trotz seiner Ligatur-
Tersuche zur Klarheit über die Blutbewegung nicht aufzuschwingen
vermochte, so führte ihn doch später der Nachweis, dass die Herz-
scheidewände undurchbohrt sind, zur Frage, wie es möglich sei, dass
das Blut, wenn auch nur in sehr geringer Menge aus dem rechten
Herzen in das linke durch die dichte feste Substanz hindurchdringen
könne? Dadurch streute er die Saat des Zweifels auch auf ein
anderes Gebiet, wo Galen noch unbestritten herrschte, er bereitete
seinen Sturz auch in der Physiologie schon langsam unterminierend vor.
Neben Yesal wirkten als ebenbürtige Nebenbuhler Falloppio und
Eustacchi; diesen Männern verdankte die aufstrebende Wissenschaft
das Meiste, an die Trias ihrer Namen knüpft sich die Glanzzeit der
Anatomie. Im Vollbewusstsein des Kampfes gegen den Galenismus.
Eeformator, im eigentlichen Sinne des Wortes, war nur Vesal, die
beiden anderen vermochten sich der Suggestion des grossen Perga-
meners noch nicht zu entziehen, Falloppio nahm eine pietätvoll ver-
mittelnde Rolle ein und Eustacchi trat sogar trotz seiner imposanten
wissenschaftlichen Neuerwerbungen für Galen mit Leidenschaft ein.
Den Spuren dieser grossen Pfadfinder folgten Schüler und Gleich-
strebende in der Bearbeitung der deskriptiven und vergleichen-
den Anatomie, einzelne Forscher widmeten sich bereits mit spe-
zialistischer Gründlichkeit besonders der Embryologie oder ver-
legten einen Teil ihres Fleisses auf die Zusammenstellung von gröberen
pathologisch-anatomischen Fakten. Die Saat spross üppig
empor ; ^\ie bei der Entdeckung unbekannter Länder war die Forschung
vom Zauber blühender Jugendfrische erfüllt, und gleichsam, wie der
Strom sich weitereilend selbst sein Bett gräbt, wie die Funktion sich
selbst ihre Organe bildet, wuchs mit den Fortschritten auch die
Technik der Untersuchungsmittel, deren anfängliche Un Vollkommen-
heit allerdings noch viele Irrtümer bewirkte. Italienische und deutsche,
spanische, und holländische Anatomen erbauten im 16. Jahrhundert
auf Vesals soliden Fundamenten die Grundmauern der Anatomie und
brachten einzelne Teile des Gebäudes sogar zum vollendeten Abschluss,
die Folgezeit hatte die Arbeit bloss fortzuführen.
Das verhältnismässig geringe menschliche Leichenmaterial z^vang
die Forscher häufig, Sektionen und Vivisektionen von Tieren vorzu-
nehmen, und gerade dieser Umstand wurde zum Hebel des Fortschritts
auf dem Gebiete der vergleichenden Anatomie und Experimental-
physiologie. Man beschritt den Weg des Tierversuchs, um über die
Funktion der Organe ins Reine zu kommen. Eustacchi machte Ver-
suche über die Nierenfunktion (Injektion von Wasser in die Nieren-
arterie, Erkenntnis der fundamentalen Bedeutung des Blutdrucks),
Volcher Koyter berichtete über eigene Experimente am Herzen, über
Hirnbewegung und die motorische Funktion des Gehirns, Realdo
Colombo, der Schüler Vesals, verdrängte die Spekulation in der Lehre
von der Herzbewegung durch seine Beobachtungen am lebenden Tier.
In den Worten Colombos, „dass man aus der Zergliederung eines
Hundes an einem Tage mehr lerne, als wenn man beständig den Puls
fühle oder mehrere Monate hindurch Galens Schriften studiere," spricht
sich der gewaltige Umschwung aus, welcher wenigstens bei den
führenden Geistern allmählich den Sieg über die Tradition davontrug,
^^'ie nach einem vorgefassten Plane und doch nicht beabsichtigt
28 Max Neuburger.
von den Urliebern der Einzelentdeckungen, näherten sich die divergieren-
den Forschungsrichtungen immer mehr dem entscheidenden Kreuzungs-
punkte, welcher die romantische von der realen Physiologie trennt,
welcher den Anfang der wissenschaftlichen Medizin bildet — der Ent-
deckung des Blutkreislaufs. Zwar gelangte keiner der Forscher des
16. Jahrhunderts zu diesem Endziel, selbst der Lungenkreislauf wurde
mehr geahnt als wirklich erfasst, aber die Ansätze zur Entdeckung treten
schon halbverschleiert aus den Nebeln zutage, man spürt das Wehen
eines neuen Geistes. Miguel Serveto, der berühmte Bekämpfer des
Arabismus, lehrte in seinem theologischen Werke Christianismi restitutio
(Viennae Allobrogum 1553), dass das Blut, des rechten Ventrikels nicht
„wie gemeiniglich angenommen wird" durch das Septum übertrete,
sondern auf dem Wege der Lungen, in seiner Farbe verändert, in
das linke Herz gelange, dass die Arteria pulmonalis, wie sich schon
aus ihrem Umfang erschliessen lasse, nicht allein der Ernährung der
Lungen dienen könne. Vesal zeigte, dass es anatomisch nicht be-
greiflich sei, wie das Blut entsprechend dem Dogma Galens, durch
die feste Substanz der Herzscheidewand hindurchtreten könne. Realdo
Colombo erwies durch seine Vivisektionen, dass die Lungen venen Blut
enthalten. Sein Schüler, der geniale Cesalpini, fand nocli mehr Wider-
sprüche in Galens Lehre von der Blutbewegung und machte nament-
lich auf die Unmöglichkeit aufmerksam, dass die Lungenvenen dem
Herzen Luft zuführen und andererseits wieder den „Russ" (die un-
verwendbaren Teile) des linken Ventrikels nach aussen treten lassen.
Die Theorie der „spiritus vitales" haftete aber noch zu fest in den
Köpfen, noch immer hielt man das, was den linken Ventrikel er-
füllt und in die Arterien strömt, für etwas vom Blut verschiedenes,
der letzte Schritt zur völligen Klarheit konnte daher nicht gethan
werden, so greifbar ihre Nähe schon erscheint. Noch weniger war
dies hinsichtlich des grossen Kreislaufs der Fall. Trotzdem man das
Anschwellen der Venen über der Aderlassbinde schon längst nur durch
ausgeklügelte Spitzfindigkeiten mit der galenischen Lehre vereinbaren
kannte, trotzdem von Vesal und anderen die Erscheinungen, welche
nach Unterbindung der Venen und Arterien auftreten, experimentell
studiert wurden, trotzdem Jac. Sylvius, Vesal, Cannani, Amatus Lusi-
tanus, Sarpi und besonders Fabrizio die Venenklappen auffanden, ver-
mochte man zur so naheliegenden Erkenntnis vom centripetalen Lauf
des Venenblutes nicht vorzudringen. Der Grundirrtum von der Be-
reitung des Blutes in der Leber trübte den Blick, und unter diesem
falschen Sehwinkel schienen die Venenklappen nichts anderes zu be-
deuten als Hemmvorrichtungen für das zu rasche Strömen des Blutes.
Die Thatsachen sammelten sich, es fehlte nur noch der unerschrockene
unbefangene Denker, der ihre Hieroglyphenschrift zu enträtseln ver-
stand.
Immerhin hinterliess das 16. Jahrhundert einen Grundstock physio-
logischer Erkenntnisse, welche die grossen Errungenschaften der
Folgezeit vorbereiteten. Dahin gehört unter anderem die Vorstellung
vom Lungen- und fötalen Kreislauf, die Feststellung der funktionellen
Wirkung vieler Muskeln und des Verhältnisses der Sehnen und Nerven
zu diesen, die Widerlegung der Lehre von dem Auseinanderweichen
der Symphyse bei der Geburt, der Nachweis der Hirnbewegung u. s. w.
Die organische Verbindung zwischen der praktischen ]\Iedizin
und der Anatomie und Physiologie herzustellen, dieses über den Hippo-
Einleitung. 29
kratismus hiuausdringende Ziel wurde allerdings erst in den kommen-
den Jahrhunderten mit Bewusstsein angestrebt, doch lassen sich ein-
zelne Berührungspunkte auch schon in dieser Epoche auffinden. So
glaubte, um nur ein Beispiel anzuführen, Vesal die Regeln für den
Aderlass bei der „Pleuritis" vom anatomischen Verhalten der Venen
ableiten zu können.
Unzweifelhaft erwuchs der Chirurgie aus dem Fortschritt der
anatomischen Kenntnisse grosser Gewinn, ihr unverkennbarer Auf-
schwung im Vergleich zu den mittelalterlichen Zuständen ist zum Teil
auf den Einfluss der Anatomie zurückzuführen.
Wurde auch der Wundarzt allzeit schon durch die leichtere üeber-
sichtlichkeit des Objekts, durch den rascher erkennbaren Zusammen-
hang zwischen Ursache und Wirkung, von Spekulation und Autoritäts-
glauben mehr bewahrt als der interne „Bucharzt", liegt auch die
nüchterne Beobachtung schon an und für sich im Wesen der Chirurgie,
so verhinderte doch jahrhundertelang der Umstand ihr Emporblühen,
dass sie nicht in den Händen von wissenschaftlich (anatomisch) denken-
den Künstlern, sondern in den Händen roher, ungebildeter Handwerker
oder Quacksalber, die an der Schablone hafteten, lag.
Eine soziale Frage bestimmte als wichtigstes Moment vor allem
anderen die Entwicklung der Wundarzneikunst. Solange sich gebildete
Aerzte — ein atavistischer Eest aus der Mönchsmedizin mit ihrem
„ecclesia abhorret a sanguine" — von der praktischen Beschäftigung
mit der Chirurgie fernhielten, solange den Wundärzten nur eine ver-
achtete, niedrige Stellung eingeräumt wurde, die sie engherzig den
Barbieren gleichstellte, von der Erwerbung wissenschaftlicher Kennt-
nisse gänzlich ausschloss und in die Grenzen kurzsichtiger, über den
konkreten Fall nicht hinausdringender Empirie festbannte, war an ein
erspriessliches Vorwärtskommen nicht zu denken. Glücklicherweise
nagte die Zeit auch an diesen hemmenden Vorurteilen, der gesunde
Sinn des Volkes für wahrhaft nützliche Leistungen, die Verdienste,
welche sich Chirurgen in Zeiten der Gefahr, im Kriege, während der
Pestepidemien, in der Behandlung der Syphilis etc. erwarben, gaben
dem Stande einen immer stärkeren Eückhalt und ermutigten ihn zu
einer straifen Organisation, die dem reaktionären Widerstände der
hochmütigen „Buchärzte" wirksam begegnete. Nirgends loderte dieser
Klassenkampf heftiger empor als in Frankreich, wo die Pariser Fakultät
so sehr das Interesse des Standes über das Interesse der Wissenschaft
stellte, dass sie sogar die quacksalberischen Barbiere in ihren Schutz
nahm nnd mit offiziellen Rechten ausstattete, nur um die ehrlich
strebenden Wundärzte zu schädigen. Dem zähen Ringen der fran-
zösischen Chirurgen um die bürgerliche und wissenschaftliche Stellung
konnten aber auf die Dauer noch so sorgsam eingefädelte Intriguen
nicht standhalten, der Sieg wurde endgültig von der Chirurgenkorpo-
ration, dem College de St. Come, erfochten. In Deutschland währten
die ungünstigen Verhältnisse viel länger, während sich in Italien
den (Chirurgen schon frühe eine ehrenvolle Laufbahn erschloss; dort
öffneten ihnen die Universitäten ihre Pforten, dort wurden akade-
mische Lehrstühle für die Chirurgie in Verbindung mit Anatomie
gestiftet und beide Wissenszweige in regen, befruchtenden Wechsel-
verkehr gesetzt.
Auf die Verschiedenheit in der sozialen Stellung lässt sich die
Ei'scheinung zurückführen, dass die italienischen, französischen und
30 Max Neubiirger.
spanischen Chirurgen des 16. Jahrhunderts ihre deutschen und eng-
lischen Kollegen mit spärlichen Ausnahmen hinter sich zurückliessen ;
aus dem Kinfluss der Anatomie, von der übrigens die Wundärzte in
ihrer Wirksamkeit als Prosektoren nicht geringen praktischen
Nutzen zu ziehen wussten, erklären sich die Fortschritte in der
Therapie, in der Technik, in der besseren Indikationsstellung; die
letzte Triebfeder des Umschwungs ist aber ebenso, wie bei der Natur-
wissenschaft, wo die p]ntdeckung Amerikas, wie bei der inneren
Medizin, wo das Auftreten der Seuchen auslösend wirkte, in einem
ganz äusserlichen Umstand zu suchen, nämlich in der Einführung
der Schusswaffen und ihrer allgemeinen Verwendung bei den
stehenden Heeren seit der Mitte des 16. Jahrhunderts.
Die Verletzungen, welche durch diese erzeugt wurden und ihre
Rückwirkung auf das Allgemeinbefinden waren etwas ganz Neues,
worüber sich die gelehrten Wundärzte in den Schriften der Alten
keinen Eat holen konnten, worüber nur eigene Erfahrung Aufschluss
gab. Verbesserung der Verbandmethode, rationelle Blutstillung und
Erweiterung der Indikation zur Vornahme der Amputation zeugen
von dem erwachenden Selbstdenken. In analoger Weise, wie auf
den anderen Gebieten vollzog sich auch hier der Prozess der Los-
lösung vom hergebrachten Autoritätsglauben. Zum selbständigen
Handeln gezwungen, gelangte man nach und nach zur Erkenntnis, dass
die mittelalterlichen Autoritäten, namentlich Abul Kasim und Guy de
Chauliac nur als Führer, nicht aber als unumschränkte Herrscher im
Eeich des chirurgischen Könnens betrachtet werden dürfen. Neben
der, durch die Not erfinderisch gemachten Empirie blieb aber auch
das Originalstudium der antiken Meister nicht ganz ohne Einfluss, in-
dem es eine Menge von vergessenen Operationsmethoden aufdeckte oder
zur Erfindung derselben anregte.
Grosse Verdienste um die Chirurgie erwarben sich seit Giovanni Vigo
die Italiener, von denen manche, wie Mariano Santo, Alfonso Ferri, Berengar
von Carpi, Benedetti, Bartolommeo Maggi (Schusswunden), Leonardo Batallo
(Amputation), Caspare Tagliacozzi und sein Schüler Giambattista Cortesi
(plastische Chirurgie) geradezu bahnbrechend wirkten ; ruhmvolle Vertreter
der deutschen Chirurgie waren Hieronymus Brunschwig, Hans von Gers-
dorff und namentlich der treffliche Freund des Paracelsus, Felix Würtz ;
unvergessen bleiben in einzelnen Spezialfragen auch die Spanier Francisco
Arceo und Daga Chacon ; als Reformator auf dem Gesamtgebiete erscheint
aber kein anderer als der Begründer der französischen Chirurgie, Ambroise
Pare, hinter dem selbst der Erfinder des „Apparatus altus" und der Sectio
lateralis, Pierre Franco, an geschichtlicher Bedeutung zurücksteht.
Was Vesal für die Anatomie bedeutete, dieselbe Rolle spielt in
der Geschichte der Chirurgie der Wundarzt von Laval, der premier
Chirurgien Karl IX., Ambroise Pare (1517—1590). Wie Vesal,
adelte auch er zuerst das Fach, dem er sich mit feuriger Begeisterung
gewidmet, durch seine wissenschaftlichen Grossthaten, wie der unsterb-
liche Reformator der Anatomie, erkannte er im VoUbewusstsein seiner
reformatorischen Thätigkeit, dass nur durch den Geist der Freiheit und
Selbständigkeit, nicht durch sklavische Anhänglichkeit an die Lehren
der Vorgänger der Wissenschaft gedient wird, wie die ruhmumflossene
Gestalt des grossen Deutschbelgiers, steht auch Ambroise Pare am
Eingang einer neuen Epoche, die er durch umfassende, unaufhörlich
Einleitung. 31
fortwirkende EiTiuig-enschaften für alle Zeiten mit dem Glanz wahr-
hafter Grösse erfüllte!
Der geniale Zögling nugelehrter Barbiere, welchen schon sein
Wahlspruch ,. Je le pansay et Dien le guarist" zum Vorbild aller tief-
blickenden Aerzte erhebt, hat so viele Fragen der Chirurgie angeregt
und aufgehellt, dass man nur schwer seinen Verdiensten gerecht
werden kann. Unter anderem vereinfachte er mit besonnener Kritik
die schwerfällige Salben- und Pflasterbehandlung der Wunden, er
stellte die Indikation zur Trepanation auf rationelle Grundsätze, rief
manche vergessene Methoden, wie die Tracheotomie, die Hasenscharten-
und Wolfsrachenoperationen wieder verbessert ins Leben, brachte die
Thorakocentese von neuem in Erinnerung, empfahl die Verwendung
von Bruchbändern, stellte den Missbrauch der Kastration bei der
Herniotomie ab. konstruierte eine Unzahl von Instrumenten u. s. w.
Von grösster Bedeutung aber wurde es, dass er die Gefässligatur
anstatt der damals gebräuchlichen blutstillenden Glüheisenapplikation
einführte, die A m p u t a t i o n verbesserte, die Irrlehre, dass die Schuss-
wunden vergiftet seien oder Verbrennung bewirken, bekämpfte, die
Gefahr der Verblutung durch komprimierende Einschnürung
der Glieder beseitigte, die Technik der Bruchoperationen wissen-
schaftlichen Grundsätzen unterwarf.
Pare schuf eine Schule und wurde massgebend auch für die
Chirurgen ausserhalb Frankreichs; neben Pierre Franco und
Jacques Guillemeau förderte er ausserdem das verw^andte Gebiet
der Geburtshilfe, indem er richtigere Anschauungen anbahnte, der
W e n d u n g einen dauernden Platz unter den geburtshilflichen Enchei-
resen sicherte und vor gar zu hastiger Anwendung des Kaiser-
schnitts, der damals bereits auch an lebenden Kreissenden gemacht
wurde, w^arnte.
Der Aufschwung, den die Chirurgie nahm, erweckte den Sinn für
die spezialis tische Pflege der früher gröblich vernachlässigten
Augenheilkunde, die zuerst durch den deutschen „Schnitt -W^und-
arzt" Georg Bartisch einigermassen mit der Anatomie in Zusammen-
hang gebracht wurde, und im Anschluss an die Geburtshilfe wandten
die Aerzte auch der Kinderheilkunde ein regeres Interesse zu.
Viel weniger als die Chirurgie, verdankte die innere Medizin
der Anatomie; von einem organischen Zusammenhang derselben mit
der internen Pathologie kann in diesem Zeitalter noch nicht die Rede
sein. Um so anerkennenswerter ist es, dass einzelne w^eitblickende
Aerzte dem Eindringen des anatomischenGedankens w^enigstens
insofern Vorschub leisteten, als sie den Nutzen pathologisch-anatomischer
Untersuchungen im allgemeinen betonten und an sonst unklaren Fällen
auch erwiesen. In Gefolgschaft des Benivieni deuteten namentlich
die grossen Anatomen Vesal, Eustacchi, Colombo, Volcher Koyter, aber
auch manche hippokratische Praktiker, wie Schenck von Grafenberg,
auf diesen Weg hin, doch erstreckte sich ihre wissenschaftliche Neu-
gierde nur vereinzelt auf typische Fälle, zumeist beschäftigte man
sich mit ganz auffallenden Raritäten, namentlich Missbildungen, Ge-
schwülsten etc. und nur selten führten diese Bestrebungen zur Auf-
deckung des Kausalnexus zwischen Symptom und Leichenbefund.
Ganz ausnahmsweise w^urde der systembildende Wert des ana-
tomischen Gedankens für die Klassifikation d e r K r a n k h e i t e n ,
die Bedeutung der Anatomie für die Lokaldiagnose erfasst am
32 Max Neuburger.
schärfsten von dem Pariser Professor Jean Fernel (1485 — 1558) und
dem Basler Anatomen Felix Platter (1536—1614).
Fernel, dem die Widersprüche des galenischen Systems mit der
Erfahrung nicht entgingen, suchte durch neue, der Anatomie und
Physiologie entnommene Bausteine die Lücken auszufüllen, das er-
schütterte Gebäude der alten Heilkunde in neuem Glänze wieder-
herzustellen. In einer, für sein Zeitalter besonders anerkennenswerten
Weise würdigte er pathologisch-anatomische Thatsachen
und beschäftigte sich sogar mit dem Gedanken, die verschiedenen
Fieberformen in bestimmten Organen zu lokalisieren. Am be-
merkenswertesten ist es, dass er zwischen Krankheitsursache und
Krankheit eine schärfere Trennung herbeiführte und die erstere in
die Säfte, die letztere aber in die festen Teile (Solidarpathologie) ver-
legte, während die Krankheitssymptome aus funktionellen Alterationen
erklärt wurden. Zu solchen pathologischen Anschauungen musste er
kommen, weil er die physiologischen Funktionen aus dem Bau der
Elementarteile (Fasern) ableitete. Im Geiste der Anatomie teilte er
die Krankheiten in solche der Organe (organici), in solche der Ge-
webe (similares) und solche aus Lösung des Zusammenhangs. Weiter
ging noch Platter, der die Nosologie nach anatomisch-phj'sio-
logi sehen Prinzipien neu bearbeitete und drei Hauptgruppen
der Krankheiten unterschied: Störungen der Funktionen (der Sinne,
der Bewegungen); Störungen der Empfindungen (Schmerzen, Fieber);
Fehler (der Form, Lage, Struktur) der Organe, der Se- und Ex-
kretion.
Wiewohl solche nosologische Systeme die althergebrachten regio-
nären Beschreibungen a capite ad calcem vorerst nicht zu verdrängen in
der Lage waren, so darf man ihrem sporadischen Aufkommen doch einen
nicht zu unterschätzenden symptomischen Wert beimessen. Die formelle
Abweichung vom Hergebrachten barg den gesunden Kern der Opposition
gegen den erstarrten Dogmatismus in der Pathologie, sie bildete das erste
Anzeichen einer neuen Ideengruppierung. Man griff zum Teile auf das
antagonistische System, die vergessene und verketzerte Solidarpatho-
logie zurück, welcher gerade die anatomischen Neuerwerbungen eine festere
Basis zu geben versprachen. Entbrannte auch der Kampf zwischen diesen
beiden Hauptrichtungen erst in den kommenden Epochen, das erste Vor-
postengefecht fand schon im 16. Jahrhundert statt und hebt mit dem
Momente an, wo anatomis ch -physiologische Prinzipien, wenn
auch leise, zur Geltung gelangen. Diese waren es, welche Fernel und
Platter zur Aufnahme von solidarpathologischen, lokalistischen
Grundsätzen in ihr System drängten.
Eine ähnliche Tendenz wie Fernel, nur in schärferer Opposition
gegen Galen, verfolgten Giov. Arge uteri o (1513 — 1572) und Lau-
rent. Joubert (1529 — 1583). Beide bekämpften auf Grund neuer
und freierer physiologischer Anschauungen fundamentale Axiome
der Krasenlehre.
Argenterio, welcher die Medizin für eine Erfahrungswissenschaft er-
klärte und demgemäss die analytische Methode empfahl, bestritt einerseits
die Lehre von den Elementarqualitäten, indem er die Abhängigkeit der
„zweiten Qualitäten" (sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften) von den ersten
leugnete und suchte andererseits die Verrichtungen des Körpers nicht, wie
Einleitung. 33
Galen, aus der "Wirkung verschiedener organischer Grundkräfte (,. Spiritus "),
sondern von der eingepflanzten "Wärme abzuleiten. Krankheit ist ihm keine
Kachexie, sondern eine -Ametria- in der Zusammensetzung der Teile.
Joubei-t, der berühmte Kanzler der Universität Montpellier und Leib-
arzt der Katharina von Medicis, reduzierte die Zahl der organischen Grund-
kräfte sehr bedeutend, identifizierte die „ernährende" Kraft mit der „bilden-
den" und zog die Fieberlehre Galens (Säfteverderbnis), namentlich die
Päulnistheorie in Zweifel mit der strikt vertretenen ilotivierung, dass im
lebenden Körper nichts faulen könne. Als seine höchste Leistung erscheint
aber im Lichte der Gegenwart der Ausspruch, dass die Heilung nicht
durch die "Willkür des Zufalls, sondern nach unabänderlich waltenden
Naturgesetzen streng gesetzmässig erfolge, denen die Xaturheilkraft wie
jede andere unterworfen sei. Es ist dies die zum erstenmale klar formulierte
Erkenntnis der organischen Physik, welche die fundamentale Voraussetzung
der wissenschaftlichen Medizin bildet.
In der Bekämpfung des galenischen Systems der Pathologie fanden
diese Forscher Bnndesgenossen, welche nicht so sehr in den realen
Kenntnissen ihrer Zeit, sondern in den naturphilosophischen Lehren
des Xeuplatonismus die Hilfsmittel zu der als notwendig erkannten
Eeform der Heilkunde erblickten. Kann den Bestrebungen dieser
Art auch nur ein blendender und kurzdauernder, keineswegs aber ein
nachhaltiger geschichtsbildender "Wert zuerkannt werden, so finden
sich doch bei diesen Autoren so manche, später bestätigte geniale
Vorahnungen, welche gerade durch das Miss Verhältnis, in dem sie zu
den realen Kenntnissen des Zeitalters stehen, berechtigtes Erstaunen
hervorrufen.
Der geistvolle, wenn auch höchst pervers veranlagte Arzt, Mathe-
matiker und Physiker Geronimo Cardano (1501—1576) aus Mailand,
von dem Haller bezeichnend sagte, „sapieutior nemo ubi sapit, dementior
nullus ubi errat", ist der Hauptrepräsentant dieser Gruppe. Cardano,
der sich auf Grund neupythagoreischer und neuplatonischer Spekulation
und umfassender Kenntnisse zu einer tiefblickenden, aber vielfach ver-
worrenen und mystisch-abergläubischen Xaturanschauung emporschwang,
vertrat in seinen medizinischen Werken häufig Meinungen, welche zu
den Theorien des Galenismus im Gegensatz stehen; erwähnenswert
davon ist besonders die AViderlegung der Lehre von der Entstehung
der Katarrhe im Gehirn und die Bestreitung der Allgemeingültigkeit
des therapeutischen Grundsatzes : „Contraria contrariis". Trotz seines
oft naiven Radikalismus verzweifelte er aber keineswegs an der Mög-
lichkeit, den Galenismus, zu verbessern oder auszubauen; von einer
gänzlichen Verwerfung der Autorität des Pergameners, von einer
wirklichen reformatorischen oder gar revolutionären gegen das System
als solches gerichteten Tendenz ist in seinen Schriften nichts zu spüren.
Ohne sichtbaren Einfluss auf das weitere Schicksal des Galenismus,
ohne Anhänger finden zu können, verklangen seine Ideen spurlos im
rauschenden Getöse der Zeit. In mystischer Dämmerung verfehlten
sie den Kernpunkt, auf den es ankam. Zu einem direkten Frontangriif
auf den Mittelpunkt der Schlachtlinie der galenistischen Dogmatiker
mangelte es Cardano an instinktivem Klarblick, an Charakterfestig-
keit, an naturwüchsiger ürsprünglichkeit. Diesen Angriff unternahm
mit zielbewusster Sicherheit ein echter Sohn des Volkes, dessen
innersten Wesenszug solche Eigenschaften bildeten: Theophrast
Handbach der Oeschicht« der Medizin. Bd. II. 3
34 Max Neubiirger.
von Hohenlieim, genannt Paracelsns (1493—1541). In seinem
bewegten Leben spiegelt sich das Ringen zweier Zeitepochen wieder,
der scholastischen und naturforschenden.
Theophrast von Hohenheim wurde am 10. November 1493 in der Nähe
des "Wallfahrtsortes Einsiedeln (Kanton Schwyz) als Sohn des Klosterarztes
"Wilhelm Bombast von Hohenheim geboren. Seine erste, nach eigenem Gre-
ständnis sehr rauhe Erziehung erhielt er in den ärmlichsten Verhältnissen von
seinem "V^ater, der 1 503 nach "S^illach übersiedelte und ihn schon frühzeitig in
der lateinischen Sprache und in der Medizin unterrichtete. Von grösstera
Einfluss auf seine spätere Entwicklung war es, dass er in seinen Lehr- und
Wanderjahren nicht allein die üblichen Studien an verschiedenen Univer-
sitäten betrieb, sondern durch den berühmten Trithemius und andere geistes-
verwandte Forscher mit der Alchemie und neuplatonischen Naturphilosophie
vertraut gemacht wurde. Praktische naturwissenschaftliche, chemische und
metallurgische Erfahrungen wusste er sich besonders in den Hüttenwerken
und Laboratorien des Grafen Fugger zu erwerben, ausserdem verschmähte
er es nicht, auf seinen weiten Reisen, die ihn (zum Teil als "Wundarzt in
verschiedenen Heeren) durch die meisten Länder Europas führten, im ver-
trauten Umgang mit den verschiedenen Kreisen des Volkes seine natur-
historischen und medizinischen Kenntnisse bedeutend zu erweitem. „Nicht
allein bei den Doctoren, sondern auch bei den Scherern, Badern, gelehrten
Aerztten, "Weibern, Schwarzkünstlern, so sich des pflegen, bei den Alchi-
misten, bey den Klöstern, bei Edlen und Unedlen, bei den Gescheidten und
Einfeltigen." Dieser ungewöhnliche Bildungsgang, der sich auf reine Er-
fahrung stützte^ erweiterte natürlich seinen Blick in ungeahnter "Weise, ent-
fremdete ihn aber dem engbegrenzten, abstrakten Vorstellungskreise der
zünftigen Mediziner. Sein "Wahlspruch : „Nemo alterius sit, qui suus
esse potest" kennzeichnet seine Geistesfreiheit. Nach zehnjähriger Ab-
wesenheit in die Heimat wieder zurückgekehrt, wurde Paracelsus (1526) auf
Empfehlung des Oekolampadius Stadtarzt in Basel und durfte als solcher
auch Vorlesungen an der dortigen Universität halten. Abweichend gegen
alles Herkommen wählte er das Deutsche zur Vortragssprache und eröffnete
unter grossem Zulauf seine Vorträge mit den schärfsten Angriffen gegen
Galen und Avicenna, deren Schriften er öffentlich verbrannte, um ein, in
jenen Tagen beliebtes Zeichen davon zu geben, dass er mit denselben tabula
rasa gemacht habe. Weder sein sehr gesteigertes Selbstgefühl, noch die
Freimütigkeit, mit der er seine wissenschaftlichen Ueberzeugungen vertrat,
noch der Eifer, mit welchem er als Stadtarzt dem schmutzigen Kartell-
verhältnisse zwischen Apothekern und Aerzten zu Leibe rückte, konnte ihm
bei den Kollegen Sympathie erwecken. Verschiedene äussere Anlässe, be-
sonders eine Honorarklage, brachten Paracelsus endlich sogar mit dem
Magistrat in einen so heftigen Konflikt, dass er schon nach zweijähriger
Wirksamkeit, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, aus Basel bei
Nacht und Nebel entweichen musste. Von Basel flüchtete er zunächst nach
Esslingen, wo er eine Zeitlang blieb, sodann begann eine unstete, ruhelose
Wanderfahrt mit Entbehrungen und Kümmernissen, in deren Verlaufe er
nach Colmar, St. Gallen, Appenzell, Sterzing und Meran, nach Pfäffers,
Augsburg, Linz, Mährisch-Kromau, Wien, Villach, endlich nach Salzburg
gelangte, „allezeit schreibend, diktierend und Kranke behandelnd") von einer
Schar von Schülern begleitet, von Anhängern ebenso übermässig bewundert,
wie von Feinden wegen seiner angeblichen üblen Charaktereigenschaften ver-
unglimpft und verfolgt. Am 24. September 1541 starb Theophrast von
Einleitung. 35
Hobenheim iu Salzburg, wo noch jetzt sein Grabmal gezeigt wird. Die
Grabscbrift kündet die hohe Verehrung, welche er im Volke genoss.
Wie manclie andere, wahrhaft gi'ossen, markanten Persönlich-
keiten hat die Geschichte auch den Sohn des Schweizerlands, den
originellsten Arzt des 16. Jahrhunderts, auf einen drehbaren Sockel
ofestellt, bald zum Lichte, bald mehr nach der Schattenseite hin, und
jeder der widersprechenden Beschauer bleibt einseitig im Rechte;
herrscht heute auch keine Meinungsverschiedenheit mehr darüber, dass
der sagenumflossene Paracelsus mit seherischem Tief- und Fernblick
Ideen erfasste, zu denen die Zeit den Kommentar geschrieben hat,
deren Richtigkeit erst die Gegenwart bestätigte, so bleibt doch bei
aller Anerkennung auf Teilgebieten (väe in der praktischen Medizin,
Chirurgie, Syphilidologie) seine soziologische Bedeutung für den Ab-
lauf der wissenschaftlichen Entwicklung der Medizin noch immer
diskutabel, weil er die Hilfsmittel seiner Zeit, namentlich die Anatomie,
verkannte, weil er wohl für sich, von den Zinnen seiner überragenden
Burg das ferne Endziel der Geistesbahn erschaute, der Weg dahin
aber zumeist von solchen Forschern geebnet wurde, die unabhängig,
ja selbst im schroffsten Gegensatz zu seinen Leitsätzen, von ganz
anderen Standpunkten das Werk in Angriff nahmen.
Uns scheint sich der Zwiespalt dadurch zu lösen, dass wir in
Paracelsus in erster Linie die erhabenste Verkörperung jener
rätselvollen, intuitiv antizipierenden Vernunft des
Volkes erblicken, welche aus dem unergründlichen Borne einer mehr
empfundenen, als bewusst erkannten Erfahrung schöpfend, den
dialektisch entwickelten Verstand der Schulgel elirsamkeit nicht gar
zu selten beschämt. Wie die Weisheit des Volkes, trifft auch Para-
celsus mit seinen markigen Kernworten den Nagel sehr häufig auf
den Kopf, ohne die Begründung scharf formulieren zu können und
erst viel später gelingt es der nachhinkenden Wissenschaft, die Zwischen-
glieder der Gedankenkette ausfindig zu machen; wie die Volksseele,
verbindet auch Paracelsus lichtvolle, taufrische, wurzelechte Anschau-
lichkeit mit dem Hang zu nächtiger Mystik und teilt deshalb ihr
Schicksal, bald wegen prophetischen Tiefsinns bewundert, bald wegen
verv,'orrener Abgeschmacktheit verhöhnt zu werden. Paracelsus dachte
und sprach im Geiste des Volkes, er wurde auch volkstümlich wie
kein anderer Arzt. Den schönsten Ausdruck hat diese Thatsache
darin gefunden, dass ihn kein Geringerer als Shakespeare den grössten
Arzt seit Galen nennt. Mit dem Volke, zu dem er durch Erziehung
und Lebenslauf in innigste Berührung trat, ist ihm die derbe Sprache,
der Hass gegen blosse Bücherweisheit, die Verehrung der Xatur in
ihren Geheimnissen, der Symbolglaube geraeinsam, als echter Spross
des deutschen Stammes, der einen Tauler, einen Böhme zeugte, fühlt
er den Drang, in die Tiefen des eigenen Selbst zu tauchen und findet
ein Gegengewicht in jener urwüchsigen Derbheit, die er nach aussen
zur Schau trug. Als echter Sohn des deutschen Volkes nimmt er an
allem teil, was das deutsche Herz bewegt, fühlt er so warm für Luthers
Sache, ohne neuen Formelzwang für den Glauben seiner Kindheit
einzutauschen, gewährt er als Erster in einer Zeit, wo sich Gelehrte
ihres deutschen Namens schämten, dem deutschen Wort Eingang in
die Wissenschaft und verkündet ohne Leisetreterei in Lauten seiner
Muttersprache, was er für recht und wahr befunden.
36 Max Neuburger.
Auf diese Grundanlagen wirkte sein Milieu im höchsten Grade
entwicklungsf ordernd. Der Hang zur Opposition gegen die medizinische
Scholastik wurde durch den Zeitgeist erweckt und bestärkt — Para-
celsus schürte nur zur Weissglut, was schon andere bedächtig ange-
facht hatten. Der Sinn für Empirie fand reiche Befriedigung in
seinen Lehr- und Wanderjahren, in welchen ihm, unabhängig vom
Schulwissen und statt abstrakter Bücherweisheit, unbefangene, sinnig
vergleichende Naturbeobachtung eingeflösst und im direkten Umgang
mit dem Volke eine nicht zu unterschätzende Menge von natur-
historischen (Pflanzenkunde), chemischen, metallurgischen und medi-
zinischen Thatsachen (z. B. Beobachtung von Bergwerks- und Hütten-
arbeiterkrankheiten, Quecksilberbehandlung) vermittelt wurde; der
mystische Zug, der sich in seinem Zeitalter mit grösstem Klarsinn oft
in einem genialen Kopfe vereinigt findet, im Dämonen- und Hexen-
glauben der Gelehrten und Ungelehrten am traurigsten in den Hexen-
prozessen zutage tritt, gelangte bei ihm zu einem anscheinend ratio-
nellen Abschluss durch die Neuplatonik, in deren symbolistische Ge-
heimnisse Paracelsus durch seine alchemistischen Lehrer eingeführt
wurde. War es doch gerade die Alchemie, welche schon im Mittel-
alter dem geknechteten Wissendrange das einzige Feld für ein freieres
Kräftespiel darbot, Empirie, ja sogar Experimentalforschung mit
grübelnder Wundersucht, mit düsterster Mystik zu einem untrennbaren
Ganzen verknüpfte!
Paracelsus dankte aber nicht bloss vieles seinem Milieu, er war
nicht bloss ein gelehriger Schüler, sondern wuchs mit genialer Ur-
kraft weit hinaus über seine Lehrer, über sein Zeitalter, er leitete
zielbewusst Spekulation und Erfahrung dem grossen Endzweck zu,
die Naturkräfte dem menschlichen Wohle dienstbar
zu machen. Darum versuchte er die Alchemie in eine Wissenschaft
umzuwandeln, welche, statt in fruchtloser Suche nach dem „Stein der
Weisen" ihre Kräfte zu vergeuden, ihre Aufgabe darin erblicken sollte,
nützliche Heilstoife rein darzustellen, darum ist ihm die windige Dia-
lektik der scholastisch-arabistischen Medizin mit ihren abstrakten Pro-
blemen in der Seele zuwider, darum erblickt er in der philosophischen
Naturbetrachtung nur das Mittel zur Erforschung des menschlichen
Organismus, zur Erforschung der heilsamen Stoffe und Kräfte, darum
geht ihm die Medizin im Heilzweck auf Dieser ausschliesslichen
Tendenz entspricht es auch, dass Hohenheim der Anatomie seines
Zeitalters kein Interesse abgewinnen kann, weil ihm der Zusammen-
hang derselben mit dem Heilen nicht klar wird.
Unter dem Banner des Utilitarismus leistete Paracelsus der
praktischen Heilkunst so viele Dienste, dass in dieser Hinsicht
seine überragende geschichtliche Bedeutung nicht bezweifelt werden
kann! Indem Paracelsus die Chemie auf eine höhere Stufe brachte
und damit der Heilkunst einen neuen Hilfszweig nutzbar machte, den
Werth der Diätetik erfasste, den Gebrauch einer grossen Zahl von
mineralischen Stoffen (Eisen, Blei, Kupfer, Spiessglanz, Queck-
silber) und andererseits deren nachteilige Wirkungen kennen lehrte,
die wissenschaftliche Untersuchung der Mineralwässer (Be-
stimmung des Eisengehalts durch Galläpfeltinktur) anbahnte, indem
er die Pharmazie mit seinen Anhängern Oswald Groll und Yalerius
Cord US durch Darstellung der Tinkturen und Spirituosen Ex-
trakte wesentlich verbesserte, der polypragmatischen Rezeptbeschrei-
EinleitTing. S7
bung nach arabischem Muster entg-egenarbeitete, hat er sich wahrhaft
grundlegende Verdienste für alle Zeiten erworben.
Ebenso rühmenswert ist es auch, dass Paracelsus, erfüllt von
hehrer Menschenliebe, die höchste Auffassung vom ärztlichen Berufe
mit flammenden Worten vertrat, den Scholastizismus in der Medizin
schärfer als jeder andere bekämpfte, die Erfahrung besonders in
der Therapie zum einzigen Prüfstein erhob und im Streben nach all-
seitiger, umfassender Thätigkeit dieVereinigungder Chirurgie,
die er durch Vereinfachung der Wundbehandlung rationeller gestaltete,
mit der Medizin ebenso weitblickend, wie energisch befürwortete.
Das geschichtsphilosophische Problem gipfelt nur in der Frage,
ob Theophrast von Hohenheim als Reformator im Werdegang der
Medizin dieselbe Rolle spielt, wie Ambroise Pare in der Entwicklung
der Chirurgie, wie Vesal in der Geschichte der Anatomie ? In dieser
Beziehung ist von etwaigen genialen Antizipationen, welche nur für
die individuelle geistige Höhe Zeugnis liefern, abzusehen*) und aus-
schliesslich darauf das Augenmerk zu lenken, ob Paracelsus durch
direkte Einwirkung auf Zeitgenossen und nächste Epigonen eine
Reformation der Medizin in dem Sinne anbahnte, welchen wir als
Tendenz der neuzeitlichen Entwicklung betrachten, mit anderen
Worten, ob er durch Lehre und Schriften Bausteine zur Begründung
einer wissenschaftlichen Heilkunst geliefert hat. Unserer Anschauung
nach wirkte Hohenheim reformatorisch, jedoch nicht toto coelo, sondern
nur durch einzelne Seiten seiner reichen Schaifensthätigkeit, ein grosser
Teil seiner Ideen kam erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts unter
anderer Flagge zur Geltung, nachdem die Entwicklung der Wissen-
schaft ihre Realisierung mit ungeahnten Hilfsmitteln ermöglicht hatte.
Nirgends spiegelt sich diese Thatsache unzweideutiger als in der Be-
urteilung, die Paracelsus im Laufe der Zeit zuteil wurde ; der Tiefsinn,
welcher seine an Geistesperlen so überreichen Schriften durchzieht,
wurde erst im Lichte der modernen Wissenschaft in seiner Gänze
oifenbar !
Paracelsus' Lehre ist aus zwei Hauptelementen zusammengesetzt,
aus einem empirischen und einem spekulativen (naturphilosophischen),
sie geht von zwei Betrachtungsweisen aus, die zur höheren Einheit
verschmolzen werden, der chemischen und der spiritualistischen. Beide
kommen in seiner Grundanschauung vom Leben, in der Auffassung
der Krankheit, in der Therapie zur Geltung. Beide sind die Frucht
der Alchemie, welche durch ihre analytischen Methoden der Extraktion,
Destillation, Sublimation, Präzipitation etc. notwendig zu dem C-fe-
danken leiten musste, dass in der rohen Substanz etwas Feineres ver-
borgen sein müsse, das den Träger der Kraft und somit den letzten
Grund der Wirksamkeit auch der rohen Substanz bilde. Dynamismus
und Chemismus, beide wurzeln in letzter Linie in der Alchemie, die
darum so freudig den Bund mit dem Panpsychismus der Neupiaton ik
eingehen konnte.
Solche Anschauungen waren schon seit dem Wiedererwachen der
Wissenschaften von Einzelnen vertreten, Paracelsus aber entwickelte
*) Um ein schlagendes Beispiel anzuführen, zeigt ein genaueres Studium der
Werke Swedenborgs, dass dieser geniale Forscher viele Thatsachen der Gehirn-
physiologie und Gehirnanatoraie vorausahnte, die im 19. Jahrhundert bestätigt
wurden; niemand wird ihn aber deshalb einen „Reformator" dieser Fachwissen-
schaften nennen.
38 . Max Nenbnrger.
sie zum Höhepunkt und entnahm ihrem Ideenkreise die Waffen zum
Kampf gegen den Pergaraener, den er kräftiger, zielbewusster und
wirkungsvoller als jeder seiner Vorgänger bekämpfen musste, weil
seine Grundanschauungen einen unüberbrückbaren Gegensatz bildeten.
Als sinnigem Naturbeobachter ei-schien ihm jedes Naturwesen aus
einem bestimmten Keim durch Entwicklung hervorgegangen, im Werden
und Wachsen, wie in jeder Zustandsveränderung erblickte er das
Walten einer treibenden inneren Kraft, den Inbegriff des Lebens, als
Chemiker blieb es ihm nicht verborgen, dass die angeblichen Elemente
der Alten nicht das letzte, feinste Substrat dieser Kraft darstellen
können. Die antike Anschauung dagegen erklärte die Entstehung der
Naturwesen durch zuiällige Vermischung der Elemente, die individuelle
Verschiedenheit der Naturkörper sollte nur auf den „Qualitäten" be-
ruhen, der Begriff des immanenten Lebens war ihr gänzlich fremd.
Dieser Gegensatz der Anschauungen reizte Paracelsus zur Oppo-
sition, umsomehr als die vielen Misserfolge, welche die Schulmedizin in
der Praxis erzielte, schon vorher in seinem Geiste den Zweifel wach-
gerufen hatten, ob die zugrundeliegende Theorie d. h. die Qualitäten-
lehre richtig sei. Das Ergebnis seines Nachdenkens war die Ver-
werfung derselben. Daher seine leidenschaftliche Heftigkeit gegen
Aristoteles und Galen, gegen Avicenna und Rhazes, daher seine
dringende Forderung, den Autoritätsglauben abzuwerfen und statt
dessen die Natur selbst in ihren Aeusserungen in den geheimnisvollen
Wechselwirkungen zu studieren, daher seine Mahnung, sich nicht an
der äusseren Erscheinung der Dinge genügen zu lassen, sondern nach
dem innersten Wesen der Dinge, nach ihrem Leben die Forschung zu
richten. Während Vorgänger und Zeitgenossen nur einzelne Schäden
und Auswüchse des Aristotelismus und Galenismus bekämpften, sucht
er viel weitergehend die Wurzel dieser Systeme auszurotten, weil sie
sich nach seiner Meinung unfähig erweisen, das Leben in seinem
inneren Wesen, in seinen Beziehungen zur Welt, in seinen krankhaften
Veränderungen kennen zu lernen.
Paracelsus ist der Erste, welcher das Leben an sich zum Gegen-
stand seines Nachsinnens macht, der Erste, der im Entstehen, Werden
und Wachsen, im Stoffwechsel, das Charakteristikum des Organismus
erfasst, der Erste, der in der Erkenntnis, dass der Mensch alle ein-
zelnen Formen des äusseren Naturlebens harmonisch in sich vereinigt,
das Postulat erhebt, die Medizin sei auf umfassender Naturkenntnis
aufzubauen. Sein Bruch mit der Vergangenheit ist ein vollkommener,
das Ziel, welches der Medizin auf den neuesten Stufen der Entwick-
lung voranleuchtet, die physiologische, die biologische Be-
gründung der Heilkunst, ist auch das seinige. Aber die Wege, welche
die fortschreitende Entwicklung als die richtigen erkannt hat, sind
ihm fremd! Im Fluge der neuplatonischen Spekulation mit ihrer
Korrespondenzlehre, auf den Fittichen blendender Analogieschlüsse,
deren Prämissen nur auf einseitiger Erfahrung ruhen, glaubt er im
Spiegelbild des Makrokosmus wie in einem Gleichnis den menschlichen
Organismus, den „Mikrokosmus" zu erschauen (Vergleich der Krank-
heiten mit kosmischen Erscheinungen, z. B. Schlagfluss mit dem Blitz,
AVassersucht mit Ueberschwemmungen, Atrophie mit der Austrock-
nung etc.) und bezeichnenderweise übersieht er, dass die Anatomie
den ersten Schritt zur Erkenntnis des Lebens darstellt, ohne den
die anderen nicht erfolgen können.
Einleitung. 39
In den Händen eines Genies, wie Paracelsus konnte auch die
ni3'stische Auffassung exakter Beobachtungen in Form der „Philosophie",
der ,. Astronomie'', der „Alchimie", welche er zu Grundpfeilern der
Naturbetrachtung und ärztlichen Wissenschaft erhebt, zu geistvollen
Antizipationen führen, ihm war es gegönnt, die Wichtigkeit des Lebens-
begriffes zu erkennen, die funktionelle Harmonie der Organe zu erfassen,
die Tita propria der Teile (bei der Assimilation und Wärmebildiing)
klar zu formulieren und in so vielen anderen Fragen durch Gedanken-
flug das zu erreichen, was der Wissenschaft erst im Schweisse der
Arbeit möglich wurde; zu Bausteinen konnten die gigantischen Ge-
dankenblöcke seiner Physiologie aber erst nach Jahrhunderten gehauen
werden, in die Grundmauern seiner Zeit fügten sie sich nicht ein, sie
blieben vorerst als erratisches Gestein fern vom Strome der Entwick-
lung unverwendet liegen. Keiner seiner Schüler vermochte ihm zu
folgen. Es erforderte die technische Kleinarbeit vieler Generationen,
um den Weg zur Höhe zu bahnen, auf welche er sich durch besondere
Eigenart des Geistes und im Fluge emporgeschwungen.
Immerhin bleibt es sein Verdienst, dass die Idee des Lebens von
der Medizin im weiteren Verlauf festgehalten wurde. Paracelsus be-
trachtet das Leben als eine über der Materie stehende Kraft, durch
deren Einfluss alle Xaturwesen aus dem Keime entstehen. i)a aber
die Wirksamkeit dieser Kraft, des ,.Archeus" an gewisse Substanzen
gebunden ist, die als Grundelemente jeden Körper zusammensetzen,
aus denen sich die Organe aufbauen, aus deren Abnutzung und Er-
neuerung der Lebensprozess besteht, so eröffnete er der chemischen
Forschung in der Medizin eine Pforte. Bezeichnete er auch Salz,
Schwefel und Merkur als diese drei Grundelemente, so verstand er
darunter doch nur Symbole. Was im Holze brennt, das durch Feuer
Zerstörbare ist Schwefel; was raucht, was durch Feuer unverändert
sich verflüchtigt, ist Merkur; was durch Feuer nicht zerstört, in der
Asche bleibt, ist Salz. Alle organischen Prozesse beruhen auf chemischen
Vorgängen, der Archeus, der Alchemist des Leibes scheidet aus den
Xahrungsstoffen das Brauchbare vom Unbrauchbaren, die Essenz vom
Gifte, bewirkt in jedem Teile des Körpers durch Anziehung des
Brauchbaren. Abstossen des Unbrauchbaren, Zeugung, Wachstum,
organische Veränderung. Aufgabe der Erfahrung sei es, alle diese
Vorgänge zu enträtseln.
Hier konnte die wissenschaftliche Forschung seines Zeitalters, wenn
auch unvollkommen, einsetzen, da Paracelsus selbst den Weg der Er-
fahrung erschloss. Verkannte er die Anatomie, so verwies er dafür
die Medizin auf eine andere Hilfswissenschaft: die Chemie.
Wie in der Physiologie, so wurde auch in der Pathologie nur ein
Niederschlag chemischer Ideen zum Aufbau der Wissenschaft unmittel-
bar verwendet. Der dynamistische Grundgedanke des Paracelsus, dass
Krankheit im Wesen eine Abänderung der organischen Idee, des
Archeus, modern ausgedrückt, ein Leben unter veränderten physio-
logischen Bedingungen, darstelle, welches erst sekundär zur Veränderung
der Kardinalsäfte führt, die Vorstellung, dass Krankheit einen para-
sitischen Lebensprozess mit selbständigem Entwickluiigsverlauf be-
deutet, weshalb die Erblichkeit zu berücksichtigen sei, konnte erst
in einer Zeit zur Geltung kommen, in der entsprechende exakte Vor-
bedingungen die Geister empfäuglicli gemacht hatten. Den Zeitgenossen
und Nachfolgern des Paracelsus war bloss der chemische Unterbau
40 MaxNeuburg-er.
dieser Lehre zugänglich, der bei Paracelsus gerne verhüllt wird, aber
in der Einteilung der Krankheiten nach den zugrundeliegenden
chemischen Grundstoffen (Schwefel, Quecksilber, Salz) und namentlich
in der Darstellung der sogenannten tartarischen Krankheiten zum
Vorschein kommt. Unter diesem versteht er solche Affektionen, wo
(z. B. bei der Gicht und Stein krankheit) infolge fehlerhafter Thätig-
keit des Archeus die vital-chemischen Prozesse abnorm verlaufen, so
dass die sonst nach aussen entleerten Stoffe nicht entfernt, sondern
als Niederschläge an verschiedenen Stellen angehäuft werden. Er-
blickt Paracelsus in den veränderten Säften, getreu seinen Grund-
vorstellungen, auch hier nur das Sekundäre, so fügte sich die chemische
Aetiologie doch so sehr in den Rahmen der von ihm so bekämpften
Humoralpathologie, dass der Fortbestand derselben, wenn auch in ver-
wandelter Gestalt, gerade durch die Konsequenzen seiner Lehre ge-
sichert wurde. Thatsächlich blieb der Galenismus, im Wesen unver-
ändert, nur formell durch das Eindringen des Chemismus umgestaltet
noch 200 Jahre die dominierende Lehre in der Pathologie, so dass von
einer erfolgreichen Reformthätigkeit des Paracelsus auf diesem Ge-
biete kaum gesprochen werden kann.
Besonders leuchtend tritt das Genie Hohenheims in der Lehre
von der Genese der Krankheiten (Aetiologie) hervor. Vor allem ist
zu erwähnen, dass er die astrologischen Spekulationen zu beschränken
suchte und dem Dämonen- und Hexenglauben in der Pathologie ent-
gegentrat. Prophetisch meint er, ehe die Welt untergeht, müssen
noch viele Künste, die man sonst der Wirkung des Teufels zuschrieb,
offenbar werden und man würde alsdann einsehen, dass die meisten
dieser Wirkungen von natürlichen Kräften abhängen. Die Blätter
der Kulturgeschichte bezeugen leider, wie langsam solche Ideen durch-
zudringen vermögen! Es ist bezeichnend, dass der wütendste Gegner
des Paracelsus, Thomas Liebler (Erastus) auch als fanatischer Ver-
teidiger der Hexenprozesse traurige Berühmtheit erlangt hat.
Paracelsus erkannte bereits, dass die Symptome eines Krankheits-
prozesses sich mit dem Wesen desselben nicht decken, dass sehr
häufig anscheinend gleiche Krankheitsbilder einen ganz verschiedenen
Ursprung, ein verschiedenes Wesen haben und dementsprechend auch
behandelt werden müssen. Er unterscheidet fünf Hauptarten von
Krankheitseinflüssen (Entia): 1. das „Ens astrorum" (die kosmischen
Agentien), 2. das Ens veneni (die Krankheitsgifte, welche entweder
aus schädlichen Residuen des Verdauungsprozesses (Autointoxikation)
oder aus kontagiösen Stoffen bestehen, ausserdem Gifte im engeren
Sinne), 3. Ens naturale (Anlage zur Krankheit durch UnvoUkommen-
heiten der Organisation), 4. Ens spirituale (Schädlichkeiten aus der
geistigen Sphäre, z. B. verkehrte Vorstellungen), 5. Ens deale (gött-
liche Fügung). Es ist wohl zweifellos, dass Hohenheim besonders
durch seine chemische Beschäftigung zu einer so scharfsinnigen
genetischen Analyse der Krankheiten gelangte, deren Wert erkannte
aber das galenistische Zeitalter nicht im mindesten. Ebensowenig wurde
der Gedanke gewürdigt, zu dem das Wanderleben und Beobachtungs-
talent des Paracelsus Anlass gab, dass nämlich die Krankheiten
geographische Verschiedenheiten darbieten — auch hier war er seiner
Zeit allzuweit vorangeeilt.
Der Schwerpunkt der Reformthätigkeit des Paracelsus liegt in der
Therapie, deren Erfolg bei ihm sogar zum diagnostischen Hilfsmittel
Einleitnng. 41
benutzt wurde, indem er die Krankheiten nach dem Heilmittel be-
nannte.
Aber geradeso. ■v\ie in der Physiologie und Pathologie ging auch
hier nicht die ganze Saat, welche der Meister streute, auf. Die im
hippokratischen Geiste klar formulierte Ueberzeuguug von dem Walten
der Xaturheilkräfte, die er besonders in den chirurgischen Krank-
heiten betonte, drang nicht in weite Kreise, gebot der üblichen Poly-
pragmasie kaum Einhalt. Der zweite fundamentale Gedanke, die
Therapie nicht gegen die Symptome, sondern gegen die Krankheits-
ursache (kausale Therapie) zu richten, durch „Arcana"' (gleich-
gültig ob contraria oder similia) gegen das Wesen der Krankheiten
anzukämpfen, konnte bei dem mangelhaften Einblick in die Aetiologie,
in den Krankheitsprozess. in die Pharmakodynamik, bei dem Mangel
wirklicher Speziflka (mit Ausnahme des Quecksilber) überhaupt noch
nicht erfüllt werden.
Immerhin wurde der Gedanke wenigstens theoretisch festgehalten,
bei Paracelsus war er die logische Folge seines Grundsatzes, dass das
Wesen der Krankheiten nicht in den Säfteabnormitäten bestehe, sondern
in einer Alteration des Archeus. Die Heilmittel sollten daher ent-
weder die schlummernde Naturheilkraft (Archeus) anregen oder den
,.Samen" der Krankheit austilgen, ein Ideal, das vielleicht erst die
Gegenwart durch die antitoxische Therapie teilweise eiTeichthat. Welche
Methoden gab aber Paracelsus an. um solche spezifische Mittel
zu finden? Einerseits die Empirie (welche aber neben dem Zufalls-
geschenk des Quecksilbei^ tausend Nieten bescherte) und andererseits
die Spekulation in Form der Signaturenlehre.
Infolge der kosmischen Wechselbeziehung aller Xaturkörper sollten
nämlich schon gewisse äussere Eigenschaften, wie Gestalt, Farbe etc. die
jeweilige spezifische Wirkung erraten lassen, beispielsweise deute der gelbe
Saft des Chelidonium auf seine Wii-kung gegen Icterus, die Gestalt der
Orchisknollen auf spezifische Beziehung zu den Hodenkrankheiten, die
Stacheln der Disteln seien das beste Mittel gegen Stechen, die durchbohrten
Blätter des Johanniskrauts dienen zur Heilung von Stichwunden u. s. w.
Welches sonderbare Konglomerat von abenteuerlichen Mitteln als „Spezifika"
in den Pharmakopoen figurierte, bedarf keiner weiteren Andeutung !
Das Doppelgepräge von Spekulation und Empiiie, von Chemismus
und Spiritualismus, welches den Paracelsismus charakterisiert, kenn-
zeichnet auch seine Pharmakodynamik. Für den Aufbau der Wissen-
schaft war die chemische Seite von grösstem Wert, insofern man dahin
kam. die wesentlichen Bestandteile in Tinkturen, Essenzen zu extra-
hieren — ein hochbedeutsamer Fortschritt gegen früher — , der
spiritualistische Grundgedanke des Systems aber, dass die Heilstoffe
nicht substantiell, sondern vermöge einer immanenten spiritualistisch
aufzufassenden Kraft (Quintessenz, Arcanum) auf den ebenfalls geistigen
Archeus einwirken, wurde zum Ausgangspunkt aller späteren mystischen
Schwärmereien.
Ueberblickt man .die gewaltige Geistesarbeit des grossen Para-
celsus. so ergiebt sich, dass er seine ärztlichen Zeitgenossen an Ideen
um Jahrhunderte überragt, dass seine Grundgedanken, der spirituellen,
symbolistischen Hülle entkleidet, von der modernen Wissenschaft zum
grossen Teile bestätigt wurden, erst in ihrem Lichte den vollen Wert
gewinnen. Andererseits aber darf, ohne seiner individuellen Leistung
42 Max Neuburger.
Abbruch thun zu wollen, füglich behauptet werden, dass er wohl das
kräftigste Ferment im Kampfe beibrachte, aber nur durch Heran-
ziehung der Chemie zur Theorie und Praxis für den systematischen
Aufbau der medizinischen Wissenschaft fruchtbringend wirkte, während
gerade die Kernideen seiner Lehre, auf die er selbst am meisten
Gewicht legte, so lange latent bleiben mussten, bis die Wissenschaft
unabhängig von seinen Einflüssen, auf ganz anderen Wegen, als er vor-
zeichnete, zu ähnlichen Resultaten gelangt war. Diese von Paracelsus
verkannten, ja sogar verachteten Wege dankt sie nicht ihm, sondern
Vesal und allen denen, die diesem Reformator in unermüdlicher,
schrittweise vordringender Forscherarbeit nachstrebten. Natura non
facit saltum! Darum kann von einer direkten Fortsetzung der
Leistungen des Paracelsus nur auf beschränktem Gebiet die Rede sein,
Ausnahmen bilden unter seiner zahlreichen Anhängerschaft schon solche
Männer, welche den Kern seiner Lehre rein erfassten, wie z. B. Caspar
Peucer (1525 — 1602) und namentlich der Däne Peter Severin (1540 —
1602), der den Gedanken des Ens veneni im Sinne der Pathologia
animata ausbaute; gerade der Wittenberger Aerztekreis, wo Theo-
phrast die treuesten Anhänger fand, vermengte seine Lehre frühzeitig
mit mystischen Elementen. Abgesehen von groben Betrügern, wie
Leonhard Thurneysser zum Thurn (1530 — 1595), Georg von und zum
Wald, oder schwärmerischen Selbstbetrügern, wie Leonardo Fioravanti,
suchten die meisten das Wesen des Paracelsismus in den neuen
chemischen Mittel („spagirische Medizin"), und manche versuchten die
galenische Theorie damit in Einklang zu setzen. Zu den getreuesten
Anhängern zählten Adam von Bodenstein, Bartholomaeus Carrichter,
Theodor und Jacob Zwinger, Conrad Gesner, Oswald Croll (1560 — 1609)
und Martin Ruland, welch beide letzteren sich um die Begründung
der Pharmazie hohe Verdienste erwarben. Die heftigsten Gegner
waren Thomas Erastus (1527 — 1583), Bernhard Dessenius, Herman
Conring, Hendrik Smet (1537 - 1614). Manche Gegner des Systems
anerkannten aber den Wert der chemischen Arzneien, wie Winther von
Andernach, Michael Döring, der grosse Chemiker Andreas Libavius
(1540 — 1616). In Frankreich, wo Jacques Gohory, Roch de la Riviere,
Claude Dariot, Claude Aubery, Israel Harvet, Joseph du Chesne
(Quercetanus) u. a. die Lehre von den Arcanen verbreitet hatten,
rafften sich die Galenisten zur heftigsten Opposition auf, unter der
Führerschaft Jean Riolans (d. Aelteren), welcher sogar ein Verbot der
Benutzung chemischer Mittel vorübergehend durchsetzte. In Paris,
der Hochburg des Galenismus erkannte man ganz richtig, welche Ge-
fahr der „alten Medizin" durch die „spagirische" Medizin erwuchs und
führte den sogenannten Antimon-Streit, der weit ins 17. Jahrhundert
hineinreichte, mit den vergifteten Waffen eines greisenhaften Eigen-
sinns. Man scheute sich sogar nicht, Anhänger des Paracelsismus,
wie z. B. Turquet de Mayerne aus der Fakultät auszustossen und zu
ächten. Das Ende war vorauszusehen. Dieselbe Fakultät, die den
Liebling Richelieus, den Arzt Theophraste Renaudot aus Montpellier,
wegen seiner Propaganda für die chemischen Arzneien in unwürdigster
Weise bekämpfte, musste 1666 den freien Gebrauch der Antimon-
Präparate dekretieren !
Der beste Beweis, dass der Hochgedanke des Paracelsus, nämlich
die Vorstellung des Lebens als einer von innen herauswirkenden,
schaffenden und sich stetig entwickelnden Kraft, weder zu seiner Zeit
Einleitung. 43
noch hundert Jahre später festen Fuss zu fassen vermochte, liegt in
der Thatsache, dass gerade sein geistvollster Interpret, der Niederländer
Joh. Baptista van Helm ont (1578— 1644), der die Wurzel des Lebens
ergründen wollte, mit demselben glühenden Eifer in der Theorie gegen
den Materialismus, in der Praxis gegen die ausleerende Methode der
Galenisten zu Felde ziehen musste und trotz grösserer Gelehrsamkeit,
trotz gründlicher Berücksichtigung der inzwischen fortgeschrittenen
Hilfswissenschaften (besonders der Chemie und pathologischen Ana-
tomie) keine Anhängerschaft gewann, keinen Einfluss auf die Ent-
wicklung der Medizin auszuüben vermochte.
Helmont, der die Chemie mit einer Fülle von Thatsachen bereicherte
(Entdeckung der Kohlensäure, Einführung des Begriffs „Gase"), bekämpfte
entschieden die Annahme, dass Mischungsanomalien das "Wesen der Krank-
heiten ausmachen, er tadelte es als eine Inkonsequenz, dass Paracelsus durch
Aufstellung der ..tartarischen'- Krankheiten dem Galenismus ein Zugeständnis
gemacht hatte und führte die gesamte Physiologie, wie auch die Pathologie auf
das Lebensprinzip, den Archeus zurück. Alles in der Natur entsteht aus
zahllosen Fermenten, Samen, d. h. bloss dynamischen Wesen, die sich aus
einei- allgemeinen Urflüssigkeit ihren Leib selbst bilden. Nicht aus einem
feindlichen Kampfe der Elemente, sondern aus dem harmonischen Zusammen-
wirken der von Gott geschaffenen Fermente, geht das Leben hervor. Auch
im menschlichen Organismus hat jeder einzelne Teil sein dynamisches
Prinzip, den „Archeus insitus", allein diese ..archei insiti" sind einem
höheren Prinzip „Archeus influus"' (mit dem Sitz im Duumvirate des Magens
und der Milz) untergeordnet, welches gegenüber der Seele das Ernährungs-
leben repräsentiert. Die Krankheitsprozesse, welche sich nach Helmont vom
physiologischen Leben nicht im Wesen, sondern durch die
Bedingungen unterscheiden, beruhen auf einer Idea morbosa,
welche die Krankheitsursache dem obersten Archeus (z. B. beim Fieber, bei
allgemeinen Krankheiten) oder dem „Archeus insitus" eines einzelnen Teiles
(örtliche Krankheiten) einpflanzt, wodurch in grösserem oder geringerem
umfange die funktionelle Harmonie der vitalen Bewegungen gestört, be-
ziehungsweise aufgehoben wird. (Man könnte in diesen Gedanken Vor-
ahnungen der modernen Krankheitsauffassung erblicken !)
Von Interesse ist es, dass Helmont die Erblichkeit mancher Ki-ank-
heiten z. B. der Gicht (wenn die Idea morbosa angeboren ist) erkannte,
gewisse intermittierende Affektionen (z. B. Epilepsie, Asthma) auf ein in
Intervallen wirkendes Gift zurückführte, und, im Gegensatz zu Jahrtausende
altem Schlendrian die Katarrhe aus lokalen Absonderungen erklärte. Krank-
heitsursachen und materielle Veränderungen, welche er aufs sorgsamste
studierte (Harnuntersuchungen, Obduktionsbefunde), unterschied Helmont
ebenso wie die Symptome streng von der Krankheit als solcher, obschon
er zugesteht, dass Krankheitsprodukte (ßetenta = pathologische Residua des
Stoffwechsels) durch Affektion der „Archei insiti** sekundär zu Gelegenhoits-
ursachen werden können. Am schärfsten tritt dies in seiner Auffassung der
Gicht und der Lithiasis hervor. Abnorme Säurebildung im Blutserum mit
konsekutiver Ablagerung in den Gelenken, respektive krankhafte Thätigkeit
der Nieren bilden zwar die Haupterscheinungen dieser Affektionen, ihre
letzte Ursache liegt aber in ererbter oder erworbener krankhafter Stimmung
des Archeus, in der veränderten organischen Idee, dem „sigillum podagrac".
Wie Paracelsus, betont auch Helmont die teleologische Bedeutung der
Naturheilkraft, die namentlich im Fieber zur Geltung kommt, wo der Archeus
44 Max Neuburger.
eine Reihe von Bewegungen (Zittern, Frost) hervorruft, um sich der reizenden
Einflüsse (z. B. fremdartiger Beimischungen im Latex sanguinis d. h. Blut-
serum) zu entledigen. Demgemäss legt er in der Therapie das grösste
Gewicht auf diätetisches Verhalten, Erhaltung der Kräfte (Einschränkung
der herkömmlichen Aderlässe, Purganzen, Vesicantien, Empfehlung des
Weins bei Fieberkranken etc.). Die Wirkung der Arzneimittel erklärte
Helmont rein dynamisch durch ihre Aktion auf die „Idea morbosa" des
Archeus, wobei die Grösse der Arzneigabe als ganz irrelevant betrachtet
wird (Hahnemann). Die Erfahrung gilt ihm als l^Iittel zur Auffindung der
,,Arcana", unter denen die metallischen (Arsenik, Spiessglanz, Quecksilber),
die Tinkturen und die Mineralwässer den höchsten Wert haben.
Das Wachstum der geistigen Energie war noch nicht weit genug
vorgeschritten, dass die Wissenschaft von so hoch komplizierten Ideen
Nutzen ziehen konnte, ausserdem war der Begriff des Lebens, wie ihn
Paracelsus und Helmont aufstellten, viel zu sehr von der Materie ge-
trennt und erklärte keineswegs den Unterschied, der zwischen Orga-
nischem und Anorganischem besteht. Die Lehre von den Krankheiten,
die Ansichten über die Krankheitsheilung, die darauf gebaut waren,
öffneten schon durch die symbolistische Form ihrer Darstellung dem
Mystizismus Thür und Thor, ja sie gaben den unklaren Köpfen die
schönste Gelegenheit, ihre abergläubischen Vorstellungen mit einem
scheinbar wissenschaftlichen Mäntelchen zu behängen. Namentlich
in Deutschland bemäclitigte sich eine in den Wirren der Zeit auf-
tauchende schwärmerische Sekte, die „Rosenkreuzer" der para-
celsischen Lehre und vermengte ihre mystische Theosophie mit der
spagirischen Medizin. Diese merkwürdige Sekte, welche am Ende des
16. Jahrhunderts aufkam und in den ersten Dezennien des 17. Jahr-
hunderts teils in der schweren Bedrängnis des dreissigjährigen Krieges,
teils in den religiösen Bewegungen der protestantischen Kirche den
geeigneten Wirkungskreis vorfand, hielt sich nur an die alchemistisch-
kabbalistisch-theosophischen Elemente des Paracelsismus und widmete
sich neben anderen Zielen vornehmlich der mystischen Kranken-
behandlung; dafür sollten ihre Adepten den ,.Stein der W'eisen" als
Lohn erhalten. Ebenso wie ihre Tendenz den Zielen des Reformators
von Einsiedeln gerade entgegengesetzt war, so stützten sie ihre Lehren
auf eine Schrift, deren Autor gerade die Bekämpfung des Mystizismus
beabsichtigt hatte. Diese Schrift war die „Chymische Hochzeit
Christians Rosenkreuz", welche ein wackerer Geistlicher zu Calw in
Württemberg, Valentin Andreas, in der Absicht, die Thorheiten der
Alchemisten und Theosophen zu verspotten, veröffentlicht hatte. Das
mystische Gewand, in w^elches das satirische Werk gekleidet war,
verlockte die Schwarmgeister, den Inhalt als einen thatsächlichen
aufzufassen, und so trat gerade der entgegengesetzte Erfolg ein.
Neben vielen Laien zählte der Orden auch Aerzte, wie Oswald Croll.
Julius Sperber, Henning Scheunemann, Heinrich Kunrath, Joh. Gramann
u. a. zu seinen Anhängern. Verwandten Bestrebungen huldigte auch
das mystische „CoUegium Rosianum" in Frankreich und sogar nach
England wurde die mystische Bewegung besonders durch Robert Fludd
(de Fluctibus), Kenelm Digby und Maxwell verbreitet, um in der
Praxis in die Albernheiten medizinischer Thaumaturgie (Magnetische
Medizin; Sympathiepulver; Handauflegen etc.) auszuarten. In Deutsch-
land gebührt dem „Paracelsisten" Rudolf Goclenius (1572 — 1621), Pro-
Einleitung. 45
fessor in Marburg, das zweifelhafte Verdienst, die Lehre seines Meisters
durch seine „Waifensalbe" und andere Talismane in den Augen der
Verständigen diskreditiert zu haben.
Die Wissenschaft wurde glücklicherweise davor bewahrt, in den
Abgrund des Mystizismus zu stürzen, denn ein Ereignis von grösster
Tragweite, das aus dem Boden des nüchternen Denkens und realen
Forschens hervorging, die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William
Harvey (1578 — 1658), überstrahlte in seiner einfachen Wahrheit die
erdichtete Wunderwelt phantastischer Schwärmer, und bald gab es
für die verspäteten neuplatonischen Träumer höchstens ein Schatten-
plätzchen, wo sie ihren occultistischen Neigungen sich hingeben konnten.
Nicht das Leben, aber eine Seite des Lebens wurde der Erkennt-
nis zugeführt und im Anschluss hieran, lernte man — gerade darin
bestand ein methodologischer Fortschritt — sich in der Problemstellung
zu beschränken, statt in tollmütigem Gedankenflug den letzten Dingen
nachzujagen, griff man zu naheliegenden Fragen, für welche die vor-
handenen Forschungsmittel auszureichen schienen, statt das Problem
des Lebens mit dem Schwertschlag einer luftigen Spekulation zu durch-
hauen, begann man einzelne Seiten des gesunden und kranken Lebens
einer sorgsamen Prüfung zu unterziehen.
Die Erfahrung gewann als Forschungsmittel immer mehr
Freunde. Mit ihrem Bleigewicht wurde die leichtbeschwingte Phan-
tasie an allzukühnem Flug gehemmt, und schwankten auch fürderhin
die Pendelschläge vorschneller Hypothesen nur allzusehr um die feste
Achse des nüchternen Urteils, mit einem Ende haftete die Spekulation
doch stets am Pfeiler der Erfahrung. Aber nicht nur jene Art der
Erfahrung, deren grobmaschigem Netz zumeist das feine Wesen der
Dinge entwischt, nicht bloss die denkende Betrachtung komplexer Er-
.scheinungen, in denen allein das Seherauge des Genies den Kern er-
späht, wurde für die Forschung massgebend, sondern eine eigene, be-
stimmte Form der Empirie, welche das gleichsam präparierte Einzel-
phänomen unter festgestellten Bedingungen zum Gegenstand kritischer
Beobachtung macht : das Experiment. Die zählende, die messende,
die wägende Methode fand Eingang in die wissenschaftliche Medizin
des 17. Jahrhunderts und erlangte nach den ersten vielverheissenden
Erfolgen solchen Einfluss, dass man geradezu in ihr die Signatur
dieser hochbedeutsamen Entwicklungsphase erblicken darf. Ihre Vor-
züge, wie auch ihre Mängel leiten sich aus der Experimental-
methode, beziehungsweise aus der Ueberschätzung derselben deut-
lich ab.
Schon im Altertum wurden planmässig Tierversuche angestellt,
die mittelalterlichen Alchemisten waren beständig mit Experimenten
beschäftigt, Vesal und seine Eivalen hatten nicht selten Vivisektionen
vorgenommen, um einzelne physiologische Fragen zu entscheiden; von
einer ausgedehnten, sj^stematischen Anwendung des Experiments kann
aber erst im 17. Jahrhundert die Eede sein, au dessen Schwelle der
Wert der Methode durch eine Errungenschaft von fundamentalster
Bedeutung erwiesen wurde. Dies geschah durch die Entdeckung
des Blutkreislaufs.
Bildete auch, wie für jeden grossen Entdecker und Erfinder eine
Hypothese den Ausgangspunkt, so stellte William Harvey die Beweis-
kette für seine Annahme, doch einzig allein durch eine Reihe plan-
46 Max Neubiirger.
massig erdachter Versuche her. Durch seine unvergängliche Leistung
erfüllte er nicht bloss die Physiologie mit einem Wissensinhalt der
alles üeberkommene in Schatten stellte, alle weiteren Fortschritte er-
möglichte, sondern er zeigte auch die Richtung, in welcher die Ziele
der Forschung am sichersten zu erreichen sind. Harveys Meisterwerk,
die Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus
(Francof. 1628) brach einem neuen Begriff der Wissenschaft-
lichkeit Bahn, sie führte eine neue Denkmethodik in die
Medizin ein, welche ebensoweit von scholastischer Dialektik wie von
platonischer Begriffsdichtung entfernt war, sie demonstrierte den
heuristischen Wert der induktiv erworbenen Hypothese, die aus-
schlaggebende Beweiskraft des Experiments, auf deren glücklicher
Vereinigung alle grossen naturwissenschaftlichen Errungenschaften
basieren.
Hatte man in der Renaissance den Weg von Galen und den
Arabern, vom Autoritätsglauben zur Natur gefunden, war im 16. Jahr-
hundert an Stelle abstrakter Sophistik eine ideale Naturanschauung
getreten, so kennzeichnete sich die Medizin des 17. Jahrhunderts
durch die kritisch experimentelle Methode, die zwar vor Irrtümern in
der Naturerkenntnis nicht schützt, aber ihrem Wesen nach das Kor-
rektiv ihrer Mängel schon in sich trägt; fesselte unter der Herrschaft
des Piatonismus die Fülle der Erscheinungen den Blick des Be-
obachters, so wui'de nunmehr der denkende Forscher vom Wunsche
erfasst, die Bedingungen festzustellen, unter denen die Erscheinungen
zum Dasein gelangen. Nicht allein die neu erstandene Physiologie,
sondern auch die Krankheitslehre versuchte bereits die blosse Be-
schreibung der Thatsachen zu einer kausalen Natur erklär ung zu er-
heben, den künstlerischen Standpunkt in einen wissenschaftlichen
(auf Gesetze begründeten) umzuwandeln.
Auch im 17. Jahrhundert erscheint die wissenschaftliche Medizin
nur als Exponent der allgemeinen Zeitrichtung, welche jetzt im Sinne
der immanenten Teleologie der Geschichte, dem Realismus auf
allen geistigen Gebieten zu einer vorübergehenden Herrschaft
verhalf, nachdem der Idealismus in Form des Humanismus, im Kleide
der Platonik, die Triebkräfte aus tausendjähriger Erstarrung zu neuem
Leben erweckt hatte. Das Zeitalter der Mathematik und Physik, das
Jahrhundert des Kepler, Galilei und Newton, die Epoche der Erfahrnngs-
philosophie eines Bacon, Hobbes und Locke war angebrochen. Auf das
Reale wandte man den Sinn, das Reale beherrschte die Form : den über-
schäumenden Geist des Giordano Bruno goss ein Spinoza in die strengen
Formen der Mathematik, die Lyrik trat in den Hintergrund gegen-
über der dramatischen Muse Shakespeares und Calderons, die Realistik
des Rubens, des Rembrandt, der beiden Breughel, die Naturalistik des
Guido Reni, Salvator Rosa, des Velasquez und Murillo verlieh der
Malerei ihren spezifischen Charakter, in der Geschichtsschreibung be-
gründete der Schöpfer der Völkerrechtswissenschaft, Hugo Grotius, eine
neue, dem Realen zugewandte Auffassung, und selbst die weltumspannen-
den Systeme eines Cartesius und Spinoza verwerteten gewissenhaft Er-
fahrungsergebnisse, bauten sich auf mathematischen Grundprinzipien
auf. —
Auf dem Wege eines analytisch - synthetischen Verfahrens , dessen
Hauptvertreter Galilei wurde, nahmen die mathematischen und exakten
Einleitung. 47
Naturwissenschaften, insbesondere die Astronomie, Mechanik, die Optik und
selbst die Chemie einen beispiellosen Aufschwung, der wiederum auf die ge-
samte Weltanschauung und auf die übrigen Wissenszweige bestimmend und
befruchtend einwirkte. Es genügt der Hinweis, welche gewaltige Umwälzung
in den Greistern die Auffindung der Bewegungsgesetze der Himmelskörper,
die Zurückführung derselben auf die allgemeine Gravitation, die endgültige
Verdrängung des geozentrischen Standpunktes, die Erkenntnis der Allge-
meingültigkeit der mechanischen Gesetze hervorrief, welchen Ausblick die Be-
gründung der analytischen Mechanik, die Erfindung der Infinitesimalrechnung
(Newton, Leibnitz, ßernouilli), die Entdeckung der elektrischen Phänomene,
der Licht- und Schallgesetze eröfi'nete, welche ungeahnte Bereicherung die
Forschungsmittel durch Erfindung des Fernrohres, Mikroskops, Mikrometers,
Thermometers, Barometers, Hygrometers, Manometers, der Luftpumpe etc. er-
fahren ! Manche praktisch enorm wichtige Zweige der Physik, wie Hydrostatik,
Hydrodynamik, Ballistik wurden geschaffen, die Lehre von der Wärme und
der praktischen Verwendung der Dampfkraft begründet, die Gesetze des
freien Falls und der Pendelbewegung festgestellt, man studierte die Er-
scheinungen der Kapillarität, die optischen Phänomene der Reflexion,
Brechung, Diffraktion, Dispersion, Polarisation des Lichts, man machte Be-
obachtungen über die spezifische Wärme. Der Name eines Kepler und
Tycho, Galilei und Toricelli, Fermat und Pascal, Boyle und Hook, Guericke,
Papin, Huyghens und Newton repräsentiert eine Summe von genialen
Leistungen, w^elche für immer fortwirken ! Die Chemie wurde durch eine
Fülle nützlicher Entdeckungen erweitert und aus den Banden der Spekulation
befreit. Van Helmont gab den ersten Anstoss zur pneumatischen Chemie,
Glauber machte sich um die Analyse hochverdient, Robert Boyle begründete
durch Einführung physikalischer Grundsätze die Verwandtschaftslehre,
Kunkel zeigte die L^möglichkeit der Annahme eines allgemeinen Lösungs-
mittels, lehrte die Darstellung des Phosphors, Job. Joach. Becher ersann
die Verbrennungslehre.
Auch die beschreibenden Naturwissenschaften machten bedeutende Fort-
schritte. Durch die Verwendung von Lupe und Mikroskop wurde die
Schöpfung neuer Wissenszweige ermöglicht, z. B. der Histologie, Phyto-
tomie. Malpighis Beobachtungen über die Struktur der Pflanzen, Hooks
Entdeckung der Pflanzenzellen, Leeuwenhoeks Entdeckung der Infusions-
tierchen, Redis Widerlegung der Lehre von der Generatio aequivoca u. s. w.
waren Leistungen, welche sehr bald auch in der theoretischen Medizin Um-
wandlung der Anschauungen nach sich zogen.
Nicht durch Selbstschau, durch das Mondeslicht der grübelnden
Vernunft, sondern in der Sonne der realen Forschung, durch Be-
obachtung und Experiment wurde für die Wohlfahrt des menschlichen
Geschlechts, für die Erkenntnis, in wenigen Dezennien geleistet, was
die jahrhundertelang gepflegte philosophische Abstraktion nicht ein-
mal zu ahnen vermochte. Statt der mj'stischen ,.qualitates occultae*'
lernte man Kräfte kennen, die im ganzen Weltall unabänderlich wirken,
nach unverrückbaren Gesetzen, und alle Erscheinungen, so viel man
ihrer neu beobachtete, sie alle liefen hinaus auf Bewegung, auf Kraft
und Stoff, auf Zahl und Mass. Man lernte nach dem Beispiel Galileis,
absehen von teleologischen Spekulationen, die mathematische
und phänomenologische Betrachtungsweise verdrängte die
supranaturalistische. Die Naturwissenschaften, die noch im
16. Jahrhundert von wenigen in ihrer wahren Bedeutung
48 Max Neuburger.
erkannt, meist nur dialektisch bearbeitet wurden,
rückten in den Brennpunkt des Interesses und liehen
auch ferner liegenden Gebieten das Gepräge der Rea-
listik.
Einen der wichtigsten Hebel des Fortschritts, durch den die Verbreitung
der naturwissenschaftlichen Ergebnisse vermittelt wurde, bildete der Umstand,
dass die Wissenschaft immer mehr in das Zeichen des Verkehres zu treten
begann. Während im 16. Jahrhundert der gelehrte Briefwechsel für den
geistigen Austausch hinreichte, erwuchs jetzt in dem Masse, als die Wissen-
schaft am Realen, an der Anschauung haftete, das Bedürfnis nach persön-
lichem Gedankenaustausch, nach gelehrten Gesellschaften. Hier fanden die
Forscher Anregung und Kontrolle ihrer Arbeiten, hier sah man die Forschung
gleichsam in der Werkstatt erstehen und konnte Meinungsverschiedenheiten
beilegen, bevor sie im Buchstil zu folgenschweren Irrtümern erstarrten.
Wie in der Epoche des Humanismus, ging wieder von Italien der Impuls
aus: dort wurde übrigens schon im Jahre 1560 eine Academia secretorum
naturae zu Neapel errichtet. Nach ihrem Muster wurden u. a. gegründet : Im
Jahre 1613 die Accademia de' Lincei (weil die Mitglieder sich häufig des
Mikroskops bedienten und den Luchs im Siegel führten), die Fratelli giurati,
später seit 1657 die hochberühmte Accademia del cimento (Akademie der
Experimente, welche von den Schülern Galileis ins Leben gerufen wurde).
Das Beispiel der Italiener wirkte bald auch auf die Gelehrten anderer Länder
anregend, und nicht lange dauerte es, dass der Staat die Gelegenheit ergriff,
seinen fördernden Einfiuss auf die Entwicklung der Wissenschaften dadurch
zu dokumentieren, dass er die anfänglich geheim entstandenen Privatgesell-
schaften unter seinen Schutz nahm und zu Nationalinstituten erhob. So
entwickelte sich aus dem Londoner unsichtbaren oder philosophischen
Kollegium die Royal society (1662), aus einer zu Schweinfurt 1652 ge-
bildeten Gesellschaft von Aerzten die Academia Caesareo-Leopoldina (1672),
und ebenso entstand die berühmte Academie des sciences zu Paris (1666).
Diese und manche andere Akademien beeinflussten neben den neuerdings ver-
mehrten Universitäten den Fortgang des Wissens. Sie sorgten für die Ver-
breitung der neuen Ergebnisse durch Herausgabe von Abhandlungen, unter
denen die Ephemeriden der Leopoldinischen Akademie, die Philosophical
transactions der Londoner, die Memoires de Tacademie der Pariser Akademie
am wertvollsten sind, weil in ihnen geradezu eine Fundgrube der exakten
naturwissenschaftlichen Forschungen vorliegt. Eine Ergänzung zu den aka-
demischen Abhandlungen Inldeten mehrere gelehrte Zeitschriften, z. B. das
Journal des scavans, die Acta Eruditorum.
Den getreuesten Ausdruck findet der Zeitgeist in den philo-
sophischen Strömungen, welche im 17. Jahrhundert an die Oberfläche
traten. Die Platonik mit ihren mystischen Entartungen machte einem
neu entwickelten Aristotelismus Platz; die pantheistische Naturphilo-
sophie des Giordano Bruno wurde durch die, von Aerzten (Daniel
Sennert), später von Pierre Gassend erneuerte Atomistik oder durch
eine sensualistische Erfahrungsphilosophie abgelöst; die grossen dogma-
tischen Systeme gehörten, abgesehen von der Theosophie eines Böhme
und Pascal, eines Malebranche mehr oder weniger in die Kategorie
des Realismus, beziehungsweise Monismus (Spinoza).
Befreit von den Fesseln der Scholastik und ausgehend von der
Skepsis, die im 17. Jahrhundert in Bayle ihren scharfsinnigsten Ver-
treter hatte, bemühten sich universalistisch veranlagte mit der Natur-
Einleitung:. 4 9
forschung in reger Beziehung stehende Denker, entweder eine neue
vorurteilsfreie Weltanschauung ins Leben zu rufen oder wenigstens
die wissenschaftliche Methodologie nach den Grundsätzen des „Sen-
sualismus", umzugestalten.
Beide Eichtungen, die systembildende, wie die methodologische, erstere
besonders durch Descartes, letztere durch die englischen Erfahrungsphilo-
sophen repräsentiert, wurden für die Evolution der Naturwissenschaften, für
für die Fortentwicklung der Medizin von grossem Einfluss ; denn wenn auch
die grossen Entdecker Plan und Eichtschnur für ihr Wirken in sich trugen,
die grosse Masse der wissenschaftlichen Arbeiter bedurfte führender theo-
retischer Ideen, welche ihnen nur die Philosophie in geschlossener Form zu
bieten vermochte. Wie immer bestand die Aufgabe der Philosophie darin,
das erlösende tonangebende Wort zu finden, die Quellen und Grenzen der
Erkenntnis festzustellen, aus den Sandkörnern der Erfahrungsergebnisse das
Universum zu ei'bauen, aus dem vorhandenen Wissensmaterial die letzten,
obersten Sätze zu abstrahieren.
Die massgebenden Philosophen des 17. Jahrhunderts kannten die
Erfordernisse der realen Fächer, sie standen denselben in einem Grade
nahe, der den Dilettantismus weit überstieg; neben dem Laboratorium
oder gar in den Arbeitsstätten der Naturwissenschaften selbst, auf dem
Markte des Lebens, nicht im einsamen Studierzimmer, wurde der philo-
sophische Gedanke geboren : Descartes war einer der hervorragendsten
Mathematiker und Naturforscher seiner Zeit, „der so viele Experimente
gemacht hat, als Zeilen in seinen Werken stehen", Spinoza beschäftigte
sich praktisch mit naturwissenschaftlichen Fragen, Bacon verfügte,
wenn auch nicht über gründliche, so doch über eine encyklopädische
Naturkenntnis, John Locke war Arzt. Aus der Anschauung, im höheren
Sinne des Wortes, aus der Anschauung, die im Tagesleben das Ewige
erschaut, gingen ihre scharfsinnigen Schlüsse hervor, aus der eigenen
oder der annektirten Erfahrung schöpften sie Probleme, darum ent-
hielten sogar ihre im Fluge erhaschten Antizipationen so viel Wahres
von unvergänglicher Dauer. So sehr diese Männer über ihrer Zeit
standen, so wenig standen sie ausserhalb ihrer Zeit, sie erspähten
den tieferen Sinn des Zeitgeschehens, sie sahen voraus, wohin der neue
Kurs steuerte.
Nichts ist verfehlter, als wenn man in oberflächlicher Geschichts-
konstruktion den Philosophen Francis Bacon von Verulam (1560 — 1626),
dem neben Descartes die höchste Bedeutung für die werdende Natur-
wissenschaft zukommt, zum Schöpfer der naturwissenschaftlichen Me-
thode macht und von seinem „Novum Organum" die glänzenden Ent-
deckungen des 17. Jahrhunderts herleitet. Seine Leistung bestand
darin, die „Instauratio magna*', welche durch einzelne erleuchtete
Forscher teils schon herbeigeführt, teils angebahnt wurde, der grossen
Masse in ihrem Werte, in ihrer Bedeutung für die Zukunft ver-
ständlich zu machen, den Umschwung, der sich auf den Höhen schon
bemerklich machte, zu signalisieren. Bacon war gleichsam „der Zeiger
auf dem Ziflferblatt der Uhr", welche anzeigt, wie weit die Zeit vor-
geschritten ist.
Bacon ist weder Urheber der induktiven Methode, deren sich der ge-
sunde Menschenverstand auf den verschiedensten Gebieten, namentlich
im praktischen Leben zu allen Zeiten bediente, noch hat er die in-
duktive Methode zuerst in die wissenschaftliche Forschung eingeführt,
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. IL 4
50 Max Neuburger.
denn vor dem Erscheinen seines Hauptwerkes kamen Galilei und
Kepler, Gilbert und Harvey teilweise durch Induktion zu iliren
fundamentalen Entdeckungen: .Galilei hatte 31 Jahre vor der Ver-
öifentlichung vonBacons „Novum Organum scientiarura" mit dem grössten
Erfolge die experimentelle und induktive Methode gepflegt, Harvey
hatte auf Grund von jahrelang fortgesetzten Versuchen an höheren
und niederen Tieren, im Anschluss an zahlreiche Beobachtungen an
Kranken und an Leichen (also auf induktivem Wege) bereits 1616
(vier Jahre vor dem Erscheinen des Novum Organum) die w^esentlichen
Lehrsätze über den Blutkreislauf aufgestellt.
Andererseits darf nicht übersehen werden, dass zwar die bahn-
brechenden Forscher die induktive Methode pflegten, dass aber die
grosse Mehrzahl der wissenschaftlichen Arbeiter noch immer dem
scholastischen Autoritätsglauben anhing oder zum Spielball einer blinden
Empirie wurde. Es war daher eine befreiende That von grösster Be-
deutung, dass Bacon mit grosser Treffsicherheit die grossen Schäden
nachwies, welche der Autoritätsglaube und die dialektische Sophistik
anstiftete und mit unerreichter Gründlichkeit die denk-methodischen
Fehler biossiegte, die gemeiniglich durch vorschnelle Antizipationen,
durch das Hineintragen vorgefasster Meinungen, durch oberflächliche
kritiklose „Erfahrung" begangen werden.
Bacon war der Zeitgenosse grosser Entdeckungen und Erfindungen,
er sah aber auch, wie viel Geisteskraft in nutzloser Dialektik noch immer
vergeudet wurde, es entging ihm nicht, dass oft mehr der Zufall als
bewusste Absicht die Wissenschaft mit realen Resultaten bereichert
hatte, darum wollte er sie auf den Weg der planmässigen Erfindung hin-
weisen. Als Mittel hiezu galt ihm ausschliesslich eine höhere Art der
Erfahrung, die induktiveMethode,d. h. die stufenweise Ableitung
der Gesetze von dem einzelnen Geschehen.
Die Basis soll eine kritische, durch Beobachtung und Experiment
erworbene Erfahrung bilden ; durch Vergleichung mögUchst vieler ähnlicher
Einzelfälle, führt die kritische Verwertung sowohl der positiven als der
negativen „Instanzen" allmählich dazu, die wesentlichen Bedingungen für
das Zustandekommen einer Erscheinung von den bloss zufälligen zu scheiden ;
im weiteren kritischen Vordringen kann man endlich aus den erkannten
Bedingungen das zugrundeliegende Gesetz ermitteln. Zur Abkürzung des
allzu langwierigen Verfahrens dienen besonders prägnante Fälle von ent-
scheidender Bedeutung, oder vorsichtig angewendete Analogieschlüsse. Durch
die letzte Konzession wich Bacon von seinem starren Prinzip des stufen-
weise Fortschreitens leise ab, konnte es ihm doch nicht entgehen, dass
gerade bei den grossen Entdeckungen und Erfindungen die Phantasie des
Forschers wie eine auslösende Kraft wirkt, dass die formalen induktiven
Gedankenprozesse erst durch sie eine bestimmte Richtung empfangen.
Jedem Experiment muss ein Gedanke vorausgehen. Nur durch die Ver-
knüpfung des synthetischen mit dem analytischen Verfahren, nur durch die
Vereinigung der Deduktion und Induktion, durch Zuhilfenahme der Hypo-
these, wurde Kepler Entdecker der Gesetze von der Bewegung der Gestirne,
wurde Harvey der Entdecker des Blutkreislaufs ; mit Bacons Methode allein
wären diese umwälzenden Leistungen kaum zustande gekommen. Der trefi"-
liche Schüler Bacons, Thomas BEobbes (1588 — 1679), machte auf diese
Lücke schon aufmerksam. Ebenso wie Bllcon mehr den wissenschaftlichen
Arbeitern als den führenden Geistern Dienste leistete, so leitet seine Methode,
Einleitung. 51
in ihrer vollen Strenge angewandt, eher zur Lösung untergeordneter Probleme
als zu grossen Entdeckungen, sie bildet nur ein Beweismittel, die leitenden
Ideen aber entspringen einzig allein dem genialen Kopfe, „wo ein Tritt
tausend Fäden regt". Wäre Bacon im Eechte mit seiner einseitigen Be-
vorzugung der Induktion, um wie viel schneller hätte sich dann der wissen-
schaftliche Fortschritt vollziehen müssen, als es thatsächlich geschehen ist,
um wie viel geringer wäre dann die Bedeutung der Geisteshelden in der
Geschichte der "Wissenschaft einzuschätzen! Statt dessen finden wir auch
hinsichtlich der einseitig induktiven l^Iethode die Worte Goethes treffend:
..das preisen die Schüler allerorten, sind aber keine Weber geworden."
Die Hypothese, wenn sie sich auf solidem Postament erhebt, besitzt
einen, wenn auch wieder verblassenden, heuristischen Wert, der sich
auch für die Entwicklung der exakten Wissenschaften als unersetzlich
erweist.
Wie sehr es im Zuge der Zeit lag-, die Regeln der Naturerkenntnis
festzustellen, Beobachtung, Versuch und rationelle Ver-
wertung des Gefundenen, ratio et experimentatio als einzige
Quellen des Fortschritts gegenüber der Dialektik zu statuieren, geht
daraus hervor, dass neben Bacon auch andere erleuchtete Zeitgenossen
dasselbe Ziel verfolgten. Der ,.Bacon der Deutschen", Joachim Jung
(1587—1657), gründete 1622 zu Eostock die zetetische Sozietät, welche
sich zur Aufgabe setzte, die Wissenschaft von der Sophistik zu
reinigen, durch ratio und experientia zu fordern; der Portugiese
Francesco Sanchez (1562 — 1623) war dem englischen Philosophen auf
gleichem Wege sogar vorangegangen. Keiner aber behandelte den
Stoif mit solcher Breite und Tiefe, wie der Zeitgenosse Harveys,
Francis Bacon.
Für die Naturforscher war es besonders bedeutsam, dass Bacon,
ein Mann von scholastischer Schulung, die schon spontan eingedrungene
neue Eichtung gleichsam ex cathedra kanonisierte, indem er erklärte,
dass alle Wissenschaften nur soweit diesen Namen verdienen, als
Naturlehre in sie eingedrungen ist, dass die ..Descriptio" naturae
sich allmählich zur „Interpretatio'' naturae entwickeln müsse, dass
die reale Forschung von allen metaphysischen Erklärungsver-
suchen, von teleologischen Spielereien zu abstrahieren, bloss den
Thatsachen und deren wirkenden Ursachen ihr Augenmerk
zuzuwenden habe.
Auch der Medizin stellte Bacon das Prognostikum. dass sie eine an-
gewandte Naturwissenschaft werden würde, und es ist bezeichnend für seinen
Scharfsinn, dass er nicht allein die Mängel der zeitgenössischen Heilwissen-
schaft zergliederte, sondern ein Programm aufstellte, dem später nur wenig
hinzuzufügen war. Drei Aufgaben habe die Medizin: das Leben zu ver-
längern, die Gesundheit zu erhalten, die Krankheiten zu heilen. Um die
Forschung zu heben, sei die Erfüllung folgender Desiderien vonnöten :
Klinische Kasuistik, Anatomie, pathologische Anatomie, Tierexperimente ;
Beseitigung der Voraussetzung der TJnheilbarkeit der Krankheiten, grössere
Rücksichtnahme auf die Linderung der Schmerzen (auch Euthanasie), ge-
nauere Erforschung der für spezielle Krankheiten erforderlichen Therapie
(kausale Therapie, Spezifika), genauere Formulierung des Kurverfahrens.
Interessant ist es ausserdem, dass Bacon auch den Wert der Chemie als
Hilfswissenschaft erkannte und von ihr unter anderem die Herstellung künst-
licher Mineralwässer erwartet.
4*
52 Max Neuburger.
Noch viel innigere Beziehungen zur Naturwissenschaft und Medizin
hatte der „Vater der neueren Philosophie", Rene Descartes (1596—1650),
welcher selbst Mathematiker und Naturforscher war und sich sogar mit
Anatomie und Physiologie intensiv beschäftigte. Ein Philosoph, der
den Satz aufstellte: „wenn die Menschen irgend weiser zu machen sind,
so könne dies nur durch die Medizin geschehen," erwarb sich schon
a priori das Anrecht, vor dem Forum der Aerzte Beifall zu finden. Und
in der That, weit mehr als Bacon und seine Nachfolger, von denen der
viel später entsprechend gewürdigte John Locke (1632 — 1704) den wissen-
schaftlichen Empirismus begründete, wirkte Descartes auf seine Zeit.
Die Charakteristika seines Systems: der Ausgang von der Skepsis, die
scharf ausgesprochene Scheidung der Metaphysik von der Physik, die
mechanistische Erklärung aller Erscheinungen der Körperwelt auf
Grundlage der Korpuskularphilosophie stimmten vollkommen mit den
Tendenzen überein, welche die Naturwissenschaft seit Galilei verfolgte.
Die Lehre des Cartesius, dass der Körper nichts anderes als eine von
mechanischen Gesetzen beherrschte Maschine ist, der Kardinalsatz, dass
die Bewegung der festen, die molekulare Bewegung der flüssigen Ge-
bilde die Grundlage der körperlichen Verrichtungen bildet, die Forde-
rung, dass die Physiologie auf Grundlage der Mathematik und Mechanik
aufgebaut werden müsse, all dies erschien einem Zeitalter, welches
den Blutkreislauf im Lichte der Hydraulik erblickte, unwiderlegbar und
einleuchtend. Willig vertraute man sich einem Führer an, der die Medizin
unter Hinweis auf die staunenswerten Resultate der Astronomie und
Physik mit der frohen Zuversicht eriüllte, es werde wie beim Blutkreislauf
gelingen, alle physiologischen, ja sogar alle pathologischen Erscheinungen
von Grundgesetzen der Physik und der Chemie abzuleiten. Und wie
Descartes selbst das Beispiel gab, die Ernährung, die Verdauung als
rein physikalische Vorgänge aufzufassen, die Sekretion von der Lage,
Grösse, von den Poren der (als Siebe gedachten) Gefässe abhängig
zu machen, die Sinnesempflndungen aus Nervenschwingungen zu er-
klären, im Fieber nur Störungen der physikalisch- chemischen Ver-
hältnisse zu erklicken, so folgte ihm bald ein ganzer Tross von
Forschern, welche das Leben mit Mechanismus und Chemismus vor-
eilig identifizierten und jede Nuance der Qualität auf Aenderungen in
der Quantität zurückführten.
Wie im sechzehnten Jahrhunderte unter der Herrschaft der Neu-
platoniker der Vergleich der Lebenserscheinungen mit kosmischen
Phänomenen die Geister bewegte, so wurden im siebzehnten Jahrhundert
diejenigen Analogien Ziel und Richtung gebend, welche man
zwischen den Lebensprozessen und dem Mechanismus
der Maschinen oder den Vorgängen in der Retorte des
Chemikers aufzuspüren lernte. Den besten Anhaltspunkt fand diese
Ideenentwicklung in der Lehre vom Blutkreislauf, beziehungsweise in der
Denkmethodik, mit welcher die Entdeckung von Harvey begründet wurde.
Harvey wurde nicht bloss einer der grössten Förderer der Natur-
wissenschaft, sondern auch des naturwissenschaftlichen
Denkens. Durch die ganz neuartige Beweisführung, welche der
wissenschaftlichen Welt in seiner unvergänglichen Schrift „Exercitatio
anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus" vorgelegt wurde,
legte er den Grund zu der so bedeutungsvollen mechanischen
Auffassung physiologischer Vorgänge zur nüchternen Beobachtung,
zur exakten Experimentalforschung.
Einleitung. 53
Im Geiste Galileis, analytisch - syntlietiscli, zerlegt der Meister
den komplizierten Erscheinungskomplex in seine Elemente, um ihn in
seiner Gänze daraus T\ieder aufzubauen, er verfolgt einen organischen
Hergang wie einen physikalischen in all seinen Bedingungen und
in der Succession des einzelnen Geschehens.
Harvey bereicherte nicht bloss die Medizin mit einer Errungen-
schaft, welche den Markstein einer neuen Epoche bildet, welche die
Wurzel jedes weiteren Fortschritts darstellt, er begründete durch seine
Forschungsmethode geradezu eine neue Wissenschaft: die Physik
des lebenden Individuums, die erklärende Physiologie,
er entdeckte nicht allein die Gesetze des Blutkreislaufs, sondern schrieb
auch den Geist dieser Gesetze, ein Kepler und Newton der Physio-
logie in einer Person.
Harvey eliminierte den teleologischen Gedanken und gab im Sinne
Bacons („vere scire est per causas scire") den ersten Anstoss, die
Arbeitsleistung und die bewegenden Kräfte der Organe nach der
physikalischen Methode, auf dem Wege des Experiments zu ergründen ;
er wurde der Schöpfer der Experimentalphysiologie und leitete
die gesamte medizinische Wissenschaft auf das Geleise exakter
Forschung nach dem Vorbild der Physik. Harvey's gigantisches Eeform-
werk lag so sehr im Zuge der Zeit, dass sogar seine Gegner ge-
zwungen waren, zu seiner Methode zu greifen.
War auch die Art und Weise, wie experimentiert wurde, nach
heutigen Begriffen unvollkommen, mangelte es auch an Kriterien, die
vor voreiligen Schlüssen bewahrten, musste auch ein nicht unbeträcht-
licher Teil der vermeintlich exakten Ergebnisse sehr bald aufgegeben
werden, das Massgebendste für die Beurteilung dieser Epoche bleibt
es immerdar, dass das Grundprinzip der exakten Forschung fest-
gehalten wurde, und dass man es nicht an Versuchen fehlen Hess,
die Physiologie zu einer Naturwissenschaft zu erheben.
Eine phj'siologische Entdeckung drängte die andere, nachdem ein-
mal die Bahn eröffnet worden war ; in rascher Aufeinanderfolge stürzten
die Grundpfeiler der fiktiven scholastischen Physiologie. Die Galenische
vis pulsificans der Arterien wurde schon durch Harvey zu Falle gebracht,
bald kamen die übrigen „qualitates occultae*', diese asyla ignorantiae
an die Reihe, um den „mechanischen Prinzipien" des Drucks, des
Widerstands, der Masse und des Gewichts Platz zu machen.
Der Entdeckung des Blutkreislaufs schlössen sich Versuche an
über die Bewegung und Menge des Bluts, über Herzarbeit und Ge-
fässwiderstand u. s. w. Der geniale Alfonso Borelli (1608 — 1679), ein
Mitglied der von Galilei gestifteten Accademia del cimento, wurde
Urheber einer ganzen Untersuchungsreihe, die von der Analogie des
Kreislaufs mit einem hydraulischen AVerke ihren Ausgang nahm, und
die Blutbewegung auf die Gesetze der Statik und Mechanik zurück-
führte. Mit seinen Schülern bearbeitete er die physikalischen Verhält-
nisse der Blutbewegung und berechnete, allerdings viel zu hoch, die
Herzarbeit. Manche seiner Fehler berichtigte Bellini, welcher zeigte,
dass die Schnelligkeit der Blutbewegung sich in den feineren Gefässen
vermindere und William Cole, der nachwies, dass der Widerstand mit
der Entfernung vom Herzen abnehme, weil die Summe der Gefässquer-
schnitte peripherwärts immer mehr anwächst. Allen Moulin versuchte
die Menge des im Körper enthaltenen Blutes experimentell zu be-
stimmen, Leeuwenhoek berechnete die Geschwindigkeit. Beyer und
54 Max Neuburger.
Härder, Lower und Steno machten Experimente mit dem Herzen ab-
gestorbener Tiere, Versuche über die Folgen der Gefässligatur u. s. w.
Der rheinische Arzt Reisel konstruierte das erste Kreislaufmodell !
Es sind dies nur einige Beispiele, welche andeuten sollen, in welcher
Eichtung sich die Forschung bewegte.
Eine Ergänzung fand das Tierexperiraent durch die Anatomie
und die mikroskopische Forschung, welche die Wunderwelt des
Kleinen erschloss.
Das Mikroskop, dessen Erfindung den niederländischen Optikern Hans
und Zacharias Janssen (um 1608) oder dem Cornelius Drebbel (um 1621)
zugeschrieben wird, wurde sehr bald zu wissenschaftlichen Zwecken, zuerst
zu pflanzenanatomischen und zootomischen Arbeiten verwendet. Die erste
derartige Arbeit (Anatomie der Honigbiene) lieferte Francisco SteUuti im
Jahre 1625. Besondere Verdienste um diese Forschungsrichtung erwarben
sich Marcello Malpighi und Robert Hook (Pflanzenzellen), Leeuwenhoek (der
das Mikroskop wesentlich voUkommnete, die Infusionstierchen (1675) ent-
deckte, zuerst Bakterien sah) und Swammerdam (Verfasser der „Bijbel der
natuur").
Dem Zusammenwirken der anatomischen, mikro-
skopischen und experimentellen Forschung, im Verein mit
den zunehmenden technischen Verbesserungen der Untersuchungsmittel,
dankte das 17. Jahrhundert eine durch Zahl und fortdauernde Trag-
weite imponierende Fülle von Entdeckungen, welche die Vorstellungen
über Bau und Leistungen des Organismus in kurzer Zeit und in er-
staunlicher Weise erweiterten. Jahrtausende alter Schutt wurde hin-
weggeräumt, die Atmosphäre vom Moder der Vergangenheit gesäubert.
Vor allem wurde manche Lücke ausgefüllt, die Harvey in der
Lehre vom Blutkreislauf zurückgelassen hatte. Die Entdeckung der
Chylusgefässe (Gaspare Aselli 1622), des Ductus thoracicus (Jean
Pecquet 1647), des L3inphsystems (Olaus Rudbeck 1651, Thomas
Bartholin 1652) beseitigte die galenische Irrlehre von der blutbildenden
Funktion der Leber. Die mikroskopische Beobachtung des kapillaren
ßlutlaufs (1661) und die Entdeckung der Blutkörperchen (1665) durch
Malpighi erbrachte den letzten Beweis für die, nach langen Kämpfen
anerkannte Lehre Harveys. Der alte Begriff des „Parenchyms" wurde
durch die mikroskopische Beobachtung der kapillaren Zirkulation und
durch die Ergebnisse der Gefässinjektionen, welche Stephan Biancaard,
Domenico del Marchettis, namentlich aber Friedrich Ruysch mit un-
übertroffener Geschicklichkeit vornahmen, für immer aus der Wissen-
schaft entfernt. Dass das Herz ein Muskel sei, zeigte Nicolaus Steno,
wie es seine Lage verändere, wie es innerviert wird (Vagus), lehrte
Richard Lower, dass die Blutversorgung der Lunge durch die Ai'teriae
und Venae bronchiales besorgt werde, bewies Ruysch.
Die Anatomen ergänzten die Leistungen ihrer Vorgänger aus dem
16. Jahrhundert einerseits durch manche wichtige makroskopische
Entdeckung, andererseits pflegten sie mit P^ifer die mikroskopische
Untersuchung der Strukturverhältnisse, oder studierten die fötale Ent-
wicklung. Wie tief man eindrang, beweisen die Untersuchungen
über die Struktur des Knochensystems, der Muskeln (Querstreifung),
der Drüsen, der Sinnesorgane, Forschungsgebiete, worin sich Malpighi,
Leeuwenhoek und Ruysch am meisten auszeichneten. Eine der be-
deutendsten anatomischen Leistungen, der auch ein grosser praktischer
Einleitung. 55
Wert und reformatorische Bedeutung zukommt, war der Nachweis
des Wittenberger Professors Conrad Victor Schneider, dass
der Schleim nicht im Gehirn entsteht, sondern von
Schleimhäuten sezerniert wird; damit wurde der uralten
Lehre von den Katarrhen und den unzähligen Rezepten zu caput-
purgiis endlich der Boden entzogen.
Grosse Fortschritte hatte die Physiologie der Muskelbewegung,
der Atmung, Zeugung und Sinnesthätigkeit aufzuweisen.
Die Lehre von der Muskelbewegung wurde auf Grund der
Statik und Mechanik (Kräfteparallelogramm, Hebelgesetze) besonders
von Borelli und Steno, von Willis, Baglivi u. a. bearbeitet. Man unter-
suchte den Einfluss des Gehirns, der Nerven, der Blutzufuhr (Unter-
bindung der Aorta abdominalis) auf die Muskelthätigkeit.
Interessant ist es, dass sich in der Zeit des krassesten „Mechanismus"
gerade auf diesem Gebiete, wo doch die physikalischen Gesetze am leichtesten
erwiesen wurden, der „Yitalismus" schon schüchtern bemerkbar machte.
Da nämlich (durch Caspar Bartholin, Eedi, de Marchettis) gezeigt wurde,
dass die Muskeln eine autonome Bewegungsfähigkeit (unabhängig von den
Nerven) besitzen, so schrieb ihnen Willis bereits eine immanente, im Bau
begründete ,,Copula elastica" zu. Noch weiter ging Glisson, welcher der
gesamten (organischen) Materie eine immanente ,,Irrit abilit ät", d. h.
Reaktionsfähigkeit auf Beize zuerkannte , deren Träger das gewebliche
Grundelement, die „Fibra" sein sollte.
Der mechanische Teil der Physiologie der Respiration
wurde nach den gangbaren Vorstellungen von Borelli und seinen
Schülern mit Erfolg bearbeitet. Um so grösserer Zwiespalt herrschte
in der Frage nach der Ursache der Blutveränderung in den Lungen.
Ein Teil zog vage mechanische Hj'pothesen (Rarefikation des Blutes)
heran, ein anderer half sich mit ebenso mangelhaften chemischen Er-
klärungen. Die Wahrheit ahnte nur Mayow, welcher die Farben-
veränderung von der Aufnahme „salpetriger" Bestandteile aus der
Luft erklärte.
Für die Lehre von der Zeugung und Entwicklung wirkte
Harvey durch seine Schrift Exercitationes de generationibus animalium
(1651) bahnbrechend. Dieselbe stützte sich auf Beobachtungen in
allen Tierklassen. Ihr wichtigstes Ergebnis liegt in dem Satze:
„Omne animal ex ovo". Der alten Annahme der „Generatio aequivoca"
traten namentlich Francesco Redi (,.omne vivum ex ovo") und
Swammerdam entgegen. Nach Kenntnisnahme vom Bau der Ovarien
iReigiiier de Graaf) und Entdeckung der „Samentierchen" (Job. Harn
(1677) entspann sich der Streit der „Ovisten" und der ,.Animalculisten*',
d. h. zweier Parteien, von denen die eine ausschliesslich im Ei, die
andere in die Spermatozoen die eigentlichen Keime der Frucht ver-
legten — ein Streit, der später durch Antonio Vallisneri beendet
wurde. Der fötale Kreislauf wurde von Du Verney und Needham
sorgfältig studiert.
Die Sinnesorgane wurden genauer anatomisch untersucht und
in ihrer Physiologie konnten physikalische Prinzipien in besonderem
Masse zur Geltung kommen. Namentlich war dies in der phj'sio-
logischen Optik der Fall, welche besonders durch Kepler, Descartes,
^lariotte und Newton gefördert wurde.
Die Anatomie und Physiologie des Nervensystems (Willis,
56 Max Neuburger.
Vieussens, Wepfer, Pacchioni, Baglivi) befand sich in den Anfängen
und stand noch stark unter der Herrschaft der Spekulation, doch kam
auch das Experiment auf diesem Gebiete schon früh zur Herrschaft.
Das einzig unerfreuliche Kapitel in der Geschichte der Physio-
logie des 17. Jahrhunderts bildet die Lehre von der Verdauung, Er-
nährung und Sekretion. Hier reichte die mechanisch-physikalische
Methode nicht mehr aus, und das Uebel wurde noch dadurch ge-
waltig verschlimmert, dass man den Mangel genauerer chemischer
Kenntnisse durch allerlei ganz vage, chemische oder mechanische Hypo-
thesen auszufüllen versuchte.
Entweder erklärte man die Verdauung durch eine Art von Verreibung
(trituratio), wodurch die Speisen bis aufs feinste verteilt in die Blutmasse
gelangen, oder man nahm zum Begriff der ,,fermentatio" Zuflucht, unter
welchem man aber nicht die gewöhnliche Gärung, sondern die innere
(molekulare) Bewegung der Materie verstand, die im Magen und Darrakanal
durch die Einwirkung bestimmter chemischer Agentien eingeleitet und unter-
stützt werde. Der Speichel, der pankreatische Saft, hauptsächlich aber die
Galle, sollten im Speisebrei eine „Effervescenz" erregen.
Der Hauptgrund für diesen Uebereifer ist in der nahen Beziehung
zu suchen, in welcher dieses Gebiet zur praktischen Medizin steht.
Je nach der vorwaltenden chemischen oder mechanischen Auffassung,
die von der Verdauungsphysiologie auch auf die Pathologie und Therapie
übertragen wurde, unterscheidet man zwei Hauptrichtungen in der
Medizin des 17. Jahrhunderts: latrochemie und latrophysik. Beide
schöpfen ihre Berechtigung aus dem Streben, der Medizin eine wissen-
schaftliche Grundlage zu verleihen, beide wurzeln in letzter Linie
im Cartesianismus.
Der Hauptvertreter der Chemiatrie, die namentlich in den Nieder-
landen und Deutschland Verbreitung fand, war der Leydener Professor
Franz de le Boe Sylvius (1614—1672), ein Mann von europäischem
Euf, der durch seine persönlichen Eigenschaften und sein Lehrtalent
am meisten dazu beitrug, dem System treue Anhängerschaft zu erwerben.
Da es sich hier nicht um eine Geschichte der Personen, sondern der
Ideen handelt, ist völlig davon abzusehen, welche Verdienste sich
Sylvius um die Gehirnanatomie, um die Ph3^siologie, pathologische
Anatomie (Tuberkulose) oder um die Ausbildung des klinischen Unter-
richts erwarb. Losgelöst von seiner Person ist das System, beziehungs-
weise die Bedeutung zu beurteilen, die ihm für den Ablauf der
medizinischen Entwicklung zukommt.
In dieser Hinsicht wäre zunächst hervorzuheben, dass die Chemiatrie
mit den Lehren des Paracelsus und Helmont nicht wesentlich, sondern
nur äusserlich insofern zusammenhängt, als jeder dieser Forscher aus
der Chemie seiner Zeit schöpfte und diese Wissenschaft in den Dienst
der Medizin zog, in allen übrigen Beziehungen sind sie durch eine
Welt von Anschauungen getrennt. Während Paracelsus und Helmont
den Begriff des Lebens zum Mittelpunkt ihrer Lehren erheben, ja
geradezu als spiritualistische Vitalisten zu bezeichnen sind, ist Sylvius
vom Scheitel bis zur Sohle „Mechanist'', der von materiell gedachten
„Lebensgeistern" nur aus konventionellen Gründen spricht; während
Paracelsus und Helmont als radikalste Antagonisten des Galen er-
scheinen, erweist sich das System des Sylvius als eine durch die
Kenntnisse seines Zeitalters modifizierte Humoralpathologie, die sogar
Einleitung. 57
im „calidum innatum" Eückhalt sücht; dementsprechend ist bei SyMns
nichts von jener biologischen, genetischen Auffassung des Krankheits-
prozesses, von jener Betonung der natürlichen Eeaktion der Xaturheil-
kraft zu finden, wie sie einen Hippokrates, einen Paracelsus, einen
Helmont charakterisiert. Syhdus, so sehr er gegen die Polypragmasie
seiner Epoche wettert, verschmäht es nicht, die kompliziertesten
Mischungen der schärfsten Arzneien anzuwenden.
Der Grund, weshalb das chemiatrische System den lautesten Bei-
fall fand, ist darin zu suchen, dass es im cartesianischen Geiste der
Zeit wurzelte ; die Bedeutung, welche es als Uebergangserscheinung füi-
den Fortschritt der Medizin besitzt, liegt vornehmlich darin, dass es die
Ergebnisse der empirischen, der exakten Forschung in seinen Kreis zog,
und den ersten Vereuch in der Neuzeit darstellt, ausschliesslich auf
Anatomie. Physiologie und klinischer Erfahrung ein geschlossenes Lehr-
gebäude zu errichten. In dieser Tendenz sind seine Vorzüge und auch
seine viel grösseren Mängel zu suchen. Es war einer der genialsten
und nützlichsten Irrtümer, der weder zu tadeln noch zu beschönigen,
sondern einfach als notwendig zu erklären ist, es war ein Kraftmass
für die junge, nur zu leicht überschäumende Wissenschaft, das ihr
zeigte, wie viel mehr noch zu leisten ist, als geleistet worden war. —
Die Hauptquelle für die pathologisch-therapeutischen Anschauungen
des SyMus bildet sein erst posthum erschienenes Werk: Praxeos
medicae idea nova.
Sylvius wusste wohl, dass die physiologischen Kenntnisse seiner
Zeit nicht hinreichen, um ein lückenloses System der Pathologie auf-
zubauen, glaubte aber, die Lücken durch alte und neue Hypothesen aus-
füllen zu dürfen, darum verwertete er einerseits anatomische Kenntnisse,
die Lehre vom Blutkreislauf und die schon sichergestellten Thatsachen
der Chemie ( saiu-e. alkalische Salze), andererseits die alten Fiktionen vom
..Calor innatus", von den „Spiritus" (Lebensgeistern) und den neuge-
iDildeten. ganz vagen Begriff der ,.Fermentation". Diese „Fermentation"
erfolge sowohl im Magendarmtrakt, wenn die Nahrung mit den ver-
schiedenen Drüsensekreten des Magendarmtrakts und einem hypo-
thetischen Milzsekret zusammentrifft (wobei die Eeaktion des Speichels
und Pankreassekrets als sauer angenommen wird), als auch ganz be-
sonders im Blute, welchem Galle und Lymphe (das Produkt aus den,
im Gehirn bereiteten Lebensgeistern und den sauer reagierenden Lymph-
drüsensäften) beigemischt werde. Durch die mit „Effervescenz" ver-
bundenen Fermentationen entstehen saure und alkalische Stoffe, welche
im Zustand der Gesundheit richtig gemengt sind und daher nicht ein-
seitig hervortreten. Uebermässige Beimengung eines der vielen Drüsen-
sekrete oder die Entartung dei^selben, sei es durch Hyperacidität, sei es
durch Hjrperalkaünität verursacht Krankheit. Die ins Blut dringenden
schädlichen Stoffe nennt Sylvius Schärfen (acrimonia acida et lixiviosa).
Besonders sei es die Galle, welche durch Uebermass oder abnoime
Eeaktion die meisten Krankheiten erzeuge. Abgesehen von Miss-
bildungen oder mechanischen Störungen zerfallen die Krankheiten in
zwei Gruppen, in solche aus saurer und solche aus alkalischer
Schärfe, wobei aber zahlreiche Unterarten untei-schieden werden,
je nachdem das eine oder andere Drüsensekret verändert ist. Die
fieberhaften Affektionen, als deren wesentlichstes Sj^mptom Sylvius
nicht die Temperatui-steigerung, sondern die vermehrte Pulsfrequenz
betrachtet, beruhen auf saurer Entartung, mit Ausnahme der bösartigen.
58 Max Neuburger.
Das System des Sylvius stellt demnach nichts anderes als eine
Modifikation des Galenismus dar, es ist vorwiegend humoralpathologisch
und erinnert in seiner Betrachtungsweise (Mischungsanomalie der
Säfte) vollkommen an die Qualitätenlehre, nur dass den vorgerückten
chemischen Begriffen durch entsprechende Spekulation Rechnung ge-
tragen ist. Bei der klinischen Beurteilung der Krankheiten war die
abnorme Beschaffenheit massgebend, welche die Körperbestandteile in-
folge falscher chemischer Umsetzung darbieten, wobei die Abweichungen
in solche unterschieden wurden, die bloss durch die Sinne oder nur
durch kombinierte Sinnes- und Denkthätigkeit erfassbar sind. (Bei-
spielsweise deute die dunkle Farbe des Blutes auf Uebermass von
Säure, die helle auf Uebermass von Galle.)
Die Therapie des Sylvius, soweit sie sich von theoretischen Indi-
kationen leiten Hess, wurzelt ganz wie die galenische auf dem Grund-
prinzip: Contraria contrariis. Demgemäss kommen zur Verbesserung
oder Beseitigung der abnormen chemischen Qualität „Alterantia"
(säuerliche Mittel, flüchtige Alkalien) in Betracht, welche den hypo-
thetischen sauren oder alkalischen Schärfen direkt entgegen wirken
sollen. Die Klassifikation der Mittel hinsichtlich der Reaktion wurde
übrigens recht willkürlich vorgenommen. Neben der streng kausalen
Indikation suchte Sylvius aber auch darauf zu wirken, dass die Kräfte
des Kranken erhalten, die Symptome gelindert, die Krankheits-
produkte entfernt w^erden. Diesem Zw^ecke diente die roborierende
und die ausleerende Methode (Brech - Abführ - S c h w^ i t z m i 1 1 e 1) ,
während der Aderlass sehr eingeschränkt wurde.
Die Einfachheit der pathologischen Prinzipien und therapeutischen
Grundsätze und zugleich der täuschende Nimbus von Wissenschaftlichkeit
verschaffte dem System viele Anhänger, in den Niederlanden schon deshalb,
weil manche Sylvianer (Cornelis Bontekoe, Theodor Craanen, Stephan
Blankaart) den von holländischen Kaufleuten importierten Thee und Kaffee
als eine Panacee gegen alle zu sauren und zu dicken Säfte oder als ..blut-
reinigendes" Mittel in enormen Dosen empfahlen. In Deutschland
bildeten die protestantischen Universitäten Wittenberg und Jena umso bereit-
williger das Hauptlager der Chemiatrie, als die Aerzte durch den Para-
celsismus für die therapeutische Seite des Systems günstig voreingenommen
waren. Besonders in Wittenberg hatte einer der gelehrtesten Aerzte, Daniel
Sennert (1572 — 1637), durch seine vermittelnden Bestrebungen zwischen
Galenismus und Paracelsismus vorgearbeitet. Hauptvertreter der Chemiatrie
unter den Deutschen waren Michael Ettmüller (1644 — 1683), Georg Wolf-
gang Wedel (1645—1721), Günther Christoph Schellhammer (1649—1712),
Job. Jacob Waldschmidt (1644—1687) und Joh. Dolaeus (1638—1707).
In Frankreich, wo von Seite der Pariser Fakultät die heftigste Opposition
gegen jede „impertinente nouveaute du siecle" (wie sich Gui Patin, der
Hauptvorkämpfer des ,,saigner" und ,,senner" ausdrückte), ins Werk gesetzt
wurde, wandte sich bloss Vieussens (der zu den ersten gehörte, welche chemische
Blutuntersuchungen anstellten) dem Systeme zu, ebenso zeigt sich nur bei
wenigen italienischen Aerzten (Otto Tachen, Luc' Antonio Portio, Michel
Angelo Andriolli, teilweise auch Bernardino Ramazzini) der chemiatrische
Einfluss.
Der bedeutendste Vertreter der Chemiatrie wurde nach Sylvius
der berühmte englische Gehirnanatom und Ph3'siolog Thomas Willis
(1622 — 1675), der sich auch um die Pathologie der Nen^enkrankheiten
Einleittmg. 59
(Hysterie) besondere Verdienste erworben hat. Willis vei-stand es, para-
celsiscb-helmontische Grundsätze, wie auch mechanische Prinzipien mit
dem Chemismus kunstvoll zu verknüpfen. Gärung und Aufbrausen der
Säfte spielt die Hauptrolle, von Säuren und Alkalien ist jedoch kaum
die Eede, vielmehr von drei Grundsubstanzen, dem Salz, dem Schwefel
und dem (durch eine Art Destillation gebildeten) „Spiritus". Seine
Pathologie und Therapie stimmt in vielen Punkten mit den Ansichten
des Sylvius zusammen. Wie dieser ist Willis Humoralpatholog (Xei-ven-
krankheiten = „Dvskrasien") nur mit dem Unterschied, dass er auch
mechanischen Vorstellungen (Stockungen der Säfte) mehr Platz ein-
räumt und die letzte Quelle aller normalen und pathologischen Lebens-
prozesse in die halb spiritualistisch, halb materialistisch gedachte
„tierische Seele" verlegt.
Man kann sich nicht darüber wundern, dass die chemiatrische
Richtung infolge ihrer anscheinenden „Wissenschaftlichkeit" mehr als
ein Jahrhundert lang die Medizin theoretisch und praktisch durch-
setzte, und bis heute in der Volksmedizin, dieser Sammlung aller mög-
Kchen Ueberreste von obsoleten Lehren, die Spuren der Schärfen-
lehre hinterlassen hat. Um so rühmenswerter ist es, dass. abgesehen
von den fiuchtlosen Fehden der konservativen Galenisten, eine
kleine Zahl trefflicher Forscher ihre Unabhängigkeit gegenüber
dieser neuen Form des theoretischen Dogmatismus und der praktischen
Schablone wahrte. Wir finden unter ihnen bemerkenswerterweise
den ausgezeichneten Chemiker Robert Boyle. den Historiker der
Medizin John Freind (1675 — 1728), die um die Physiologie des 17. Jahr-
hunderts so hoch verdienten deutscheu Aerzte Job. Conrad Brunner
(1653—1727) und Johann Bohn (1640—1718), den berühmten Polyhistor
und Doktor aller vier Fakultäten Hermann Conring (1606 — 1681).
Diese Männer wendeten sich, gerade auf Grundlage ihrer aus-
gezeichneten chemischen Kenntnisse, gegen die voreüige Anwendung
der Chemie auf die Pathologie und bestritten auf experimentellem
Wege manche Hauptsätze des Sylvius. Beispielsweise zeigte Bohn,
dass der pankreatische Saft nicht sauer ist, dass die Galle mit Säuren
nicht aufbrause und leugnete die Existenz des ..Xervensaftes", da ein
solcher weder nach Unterbindung noch nach Dui'chschneidung der
Nerven nachgewiesen werden kann.
Im Gegensatz zu den Chemiatern suchte eine andere Gruppe von
Aerzten in der Physik die theoretische Grundlage der Medizin. Aber
auch diese Aerzte, die latrophysiker, kamen nicht ganz ohne
chemische Hj'pothesen aus.
Den Ausgangspunkt nahm die Schule der latrophysiker oder
latromechaniker von der Entdeckung des Blutkreislaufs, das
Vorbild fand sie in den glänzenden Leistungen der Ph3'siker, den
besten theoretischen Rückhalt boten die Leitsätze des Cartesianismus.
Harvey selbst gab das ei-ste Beispiel der mechanischen Betrachtung
eines vitalen Voigangs und bewies aus rein mechanischen Gründen
die Richtigkeit seiner Entdeckung; die Stellung der Venenklappen,
die Stauungserscheinungen nach der Gefässligatur, bildeten die Haupt-
argumente seiner Beweisführung. Im Gegensatze zu Galen lehrte er.
dass die Arterien sich passiv, wie Schläuche ausdehnen. Immer klarer
schien es den Forschern, dass im Kreislauf nur ein spezielles
mechanisches Problem vorliege, das Problem der Flüssigkeits-
bewegung in einem Röhrensystem, worüber die Physiker, namentlich
60 Max Neuburger.
Toricelli („Theorien der Aiisflussgeschwindigkeit") volles Licht ver-
breitet hatten.
Was lag näher, als konsequent die Gesetze der Mechanik, der-
Hydrostatik, der Hydrodynamik, der Kapillarität etc. unter Berück-
sichtigung der besonderen anatomischen Verhältnisse anfangs auf die
Blutbewegung, dann weitergehend auf alle übrigen physiologischen
Fragen anzuwenden ? Durch Rechnung und Experiment gelang es den
latrophysikern thatsächlich, einzelne mechanische Seiten des Organismus
fast restlos zu enträtseln, Avie die Muskelbewegung, den Mechanismus
der Atmung, die physiologische Optik, und trotz dürftiger Mittel mit
staunenswerter Subtilität die Experimentaltechnik auszubilden. Wer
wollte es den kühnen Pionieren exakter Forschung, welche so manches
Kapitel der Physiologie in so bewunderungswürdiger Weise erschöpften,
verargen, dass sie, die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit verkennend,
auch dort „mit Hebeln und mit Schrauben" Geheimnisse der Natur
zu enthüllen suchten, wo die Zeit noch unüberwindliche Hindernisse
setzte ? Die Errungenschaften eines Kepler, eines Galilei, eines Newton,
welche die weltbewegenden Gesetze feststellten, versetzten den natur-
wissenschaltlichen Geist in Freudentaumel. Von ungemessenen Hoff-
nungen angespornt, noch nicht ernüchtert durch Misserfolge, wähnte
man das Lebensproblem in greifbare Nähe gerückt und glaubte da-
nach langen zu können, wie das Kind nach Mond und Sternen langt!
Gerade dieses Bild erinnert an die eigentümliche Thatsache, dass der
Mensch die Gesetze des Planetenumlaufs früher erkannte als die Grundzüge
seiner Organisation, als die Bewegung seines Herzens und Blutes. Das
Fernste war seinem Verständnis näher gerückt als das Nächste. Es liegt
freilich in der relativen Einfachheit der Objekte, dass die Astronomie bereits
eine festgegründete Wissenschaft war zu einer Zeit, wo die Biologie nicht
einmal in den Kinderschuhen stak, aber eben gerade deshalb fehlte die
Erkenntnis, dass die biologischen Probleme unvergleichlich kompliziertere
Gleichungen darstellen. Musste nicht der noch unerfahrene Porschergeist
zum Schlüsse kommen, dass die biologischen Probleme ebenso leicht wie
die mechanischen durch ßechnung, durch Deduktion aus mechanischen
Prinzipien erschlossen werden können ?
Die psychologische Eechtfertigung ist aber keineswegs identisch
mit der Beurteilung von Leistungen im Hinblick auf die Entwicklung
des Ganzen, und in dieser Hinsicht kann nicht verschwiegen werden,
dass die latrophysiker zwar zweifellos die exakte Richtung in der
Physiologie begründeten und eine Reihe wertvollster Leistungen hinter-
liessen, andererseits aber in zu einseitiger Verfolgung eines einzigen
Prinzips auch viele Irrwege einschlugen. Fassten Paracelsus und
Helmont den Begriff des Lebens zu weit, so verfielen sie in das ent-
gegengesetzte Extrem. In anerkennenswertem aber zumal damals
noch nicht realisierbarem Bestreben, die Heilkunst auf wissenschaft-
liche Basis zu stellen, machten sie dasjenige, was erst zu beweisen
war, den Satz, dass sich das Leben in ein Spiel des Mechanismus
auflöse, in vorschneller Generalisation zum Axiom und pressten die
Thatsachen mit Hilfe der allzu gefügigen mathematischen Methode in
das Prokustesbett der Hypothese. Wie Cartesius, der in seinem Traktat
über den Menschen die Lebensgeister durch „Rarefaktion" des Blutes
entstehen Hess, die Muskelbewegung durch Einströmen der dampf-
förmigen Spiritus erklärte, die Absonderung und Ernährung auf die
Einleitung. 61
verscilieden gross angenommenen Poren der Gefasse zurückführte,
übersahen auch sie das ..Vitale und Chemische dieser Funktionen" ;
verführt von der Annahme, dass die Mathematik an sich ein absolut
zuverlässiges Erkenntnismittel bedeute (wähi'end sie doch nur aus
richtigen empirischen Prämissen richtige Kesultate berechnet), widmeten
manche Forscher ihre Ki'äfte den subtilsten Berechnungen imaginärer
Grössen, versuchten sich, namentlich die späteren latrophysiker, in
Lösungen von Problemen, welche bloss ihre mathematische Phantasie
ausgeheckt hatte. In neuer Form hob der Dogmatismus, die
Scholastik ihr Haupt, an Stelle der Dialektik war nun-
mehr die Mathematik getreten, welche nicht selten auf
anscheinend exaktem Wege zu den grössten Verirrungen
führte!
Füi* die Weiterentwicklung hatte die Epoche der latrophysik
mit all ihren Irrtümern eine ausserordentliche Bedeutung,
weil sich die Forschung ihrer Leistungsfähigkeit, aber auch ihrer
Schranken klarer bewusst wurde; im Leben folgt die Lehre
von der Erkenntnis den Erkenntnissen; das umgekehrte
Verhältnis konstruiert nur die Philosophie.
Glücklicherweise betraf das L^nheil mehr die Theorie als die
Praxis, denn es muss zum Ruhme der latrophysiker gesagt werden,
dass gerade die Grössten unter ihnen darin weise Selbstbeschränkung
verrieten, dass sie im Gegensatz zu den latrochemikern kein zusammen-
fassendes System der Pathologie aufbauten und in der Therapie
sogar, ganz losgelöst von ihren Theorien, eklektischer Empirie huldigten.
Besonders nachwirkend in der Folgezeit waren die Theoreme, welche
sie in der Lehre von der Entzündung, vom Fieber, von den Krämpfen
aufstellten.
Als Vorläufer der iatromechanischen Schule wird Santorio Santoro
(1561 — 1636). Professor zu Padua und Venedig, betrachtet, der in
seiner ..Ai^ de statica medicina" (1614) die Resultate von 30jährigen
Untersuchungen veröffentlichte, die er in den verschiedensten physio-
logischen und pathologischen Zuständen an sich selbst mit Wage,
Thermometer. Hygrometer und Pulsmesser („Pulsilogium") vorgenommen
hatte. Das Hauptergebnis derselben formulierte er in der Behauptung,
dass die ,.Perspiratio insensibilis", d. h. die unmerkliche Ausdünstung,
den wichtigsten Massstab der Gesundheit und Krankheit bilde. Wie-
wohl seine Berechnungen schon deswegen gänzlich fehlerhaft sind,
da die Exhalation der Lungen von der der Haut nicht getrennt wurde,
so bilden die Versuche doch den Ausgangspunkt aller weiteren Stoff-
wechseluntersuchuugen.
Eigentlich inauguriert wurde die latrophysik von BoreUi, welcher
Fieber, Schmerz und Krampf in letzter Linie von Störungen in der
Bewegung des Xervensaftes, von Verstopfung der Einmündung der
Nerven in die Hautdrüsen etc. ableitete. Sein Schüler Lorenzo Bellini
(1643-1704) stellte (auf Grund der Entdeckung der Blutkörperchen)
die an Erasistratus erinnernde Lehre auf, dass eine Stockung des
Blutes in dem Kapillarsystem infolge vermehrter Reibung, die Spätere
sogar in Zahlen ausdrücken wollten, die Hauptui'sache der verschiedensten
fieberhaften und entzündlichen Krankheiten bilde.
Den Höhepunkt erreichte die italienische latrophj^sik in dem be-
rühmten Schüler Malpighis, Giorgio Baglivi (1669—1707). Er ging
in der mechanischen Deutung der Lebensvorgänge noch weiter als
62 Max Neuburger.
seine Vorgänger und trieb die mechanische Allegorie auf die Spitze,
er zerlegte die grosse Körpermaschine in lauter kleine Maschinen,
er verglich die Zähne mit Scheren, den Magen mit Flaschen, die
Gefässe mit Röhren, das Herz mit dem Stempel einer Wasserkunst,
die Eingeweide und Drüsen mit Sieben, den Thorax mit einem Blase-
balg u. s. w. Die Absonderung erklärte er aus den verschiedensten
Durchmessern der absondernden Gefässe, die chemischen Prozesse
aus der Figur der kleinsten Teile, die letzte Ursache der Motilität
verlegte er in die Dura mater, welche nach den Beschreibungen des
Pacchioni einen aus drei Muskeln und vier Sehnen bestehenden Be-
w'egungsapparat darstellen sollte. Das pathologische System des
Baglivi beruhte auf einer Erneuerung des antiken Methodismus, denn
im wesentlichen liess er alle Kraukheitsphänomene aus Ver-
mehrung oder Verminderung des Tonus der festen Teile
hervorgehen. Gerade dieser konsequente Denker war es aber, der den
Gegensatz zwischen der wissenschaftlichen Forschung und den prak-
tischen Erfordernissen klar erkannte und in weiser Vorsicht das Wohl
der Kranken von den Tagesströmungen der Theorie nicht abhängig
machen wollte. Als Arzt dringt er in erster Linie auf sorgsame Be-
obachtung am Krankenbette, als Praktiker findet er nicht in der Physik,
sondern in hippokratischer Empirie die Richtschnur für sein Vorgehen ;
beim Eintritt ins Krankenzimmer ignoriert er die Schlüsse einer unreifen
Laboratoriumslogik. In ähnlicher Weise sprach sich auch Giuseppe
Donzellini für die Trennung von Theorie und Praxis aus. Leider
aber setzte diese gesunde Anschauung einen provisorischen Verzicht vor-
aus, dem sich der rastlose Kausaltrieb der wenigsten zu unterwerfen
verstand, vielmehr begannen manche der späteren latrophysiker sogar
die Krankenbehandlung in die mathematisch-physikalische Richtung
zu drängen, indem sie allerlei Apparate (sogar pneumatische Kammern
und Centrifugalmaschine) vorübergehend zur Anwendung brachten.
Neben Italien war besonders England eine Hauptpflegestätte der
latromechanik, wo James Keill (1673—1719) sogar nach den Gesetzen
der höheren Mathematik eine Anzahl physiologischer Fragen (^lut-
bewegung, Herzarbeit) zu lösen versuchte und Archibald Pitcairn
(1652 — 1713) die gesamte praktische Medizin, selbst die Therapie durch
mechanische Grundprinzipien begründen wollte. Unter dem Einfluss
Newtons erstreckten sich derartige Bestrebungen weit ins 18. Jahr-
hundert. In Frankreich, wo Pierre Chirac (1650—1732) und Hecquet
(1661 — 1737) die praktische Anwendung mechanischer Grundsätze
eifrig verfochten, während Denys Dodart (1634 — 1707) und Claude
Perrault (1613 — 1688) nur die Physiologie in diesem Sinne bearbeiteten,
fand das System erst viel später eine geringe Anhängerschaft. Dasselbe
war auch in Deutschland der Fall.
Wie schwankend die Basis noch war, geht am besten daraus
hervor, dass sich die Anhänger der verschiedenen wissenschaftlichen
Richtungen derselben Heilmittel bedienten, ihre Wirkung aber schein-
bar exakt je nach dem eingenommenen Standpunkt „rationell" er-
klärten. Wie sehr das 17. Jahrhundert darin späteren Epochen glich,
bedarf keiner Hindeutung, nur sei erwähnt, dass schon damals, neben
der physikalischen und chemischen sich auch die biologische Richtung
in den ersten Anfängen geltend machte, insofern eine kleine Zahl von
Forschern die Infektionskrankheiten von kleinen Lebewesen ent-
stehen liess und direkt gegen diese ihre therapeutischen Massnahmen
Einleitung. 63
richtete. Ausgehend von den mikroskopischen Entdeckungen Leeuwen-
hoeks (Infusorien, Hefepilze. Bakterien i, von den Befunden des genialen
Jesuiten Athanasius Kircher, begründeten die Leipziger Professoren
August Hauptmann (1607 — 1674), Christian Joh. Lange (1655—1701)
und Aug. Quirinus Eivinus (1652 — 1723) die „Pathologia animata",
wonach die meisten Affektionen (sogar Gicht, Epilepsie, Magengeschwür)
auf „Yermes"' oder Milben zurückgeführt und demgemäss eine anti-
toxische Therapie empfohlen wurde.
In der Therapie machten sich die exakten Bestrebungen schon
dadurch geltend, dass mancher der abenteuerlichen Arzneistoffe, wie
z. B. das Einhorn, der Bezoar wenigstens teilweise in den Hintergrund
gedrängt wurde, und dass man durch chemische Analyse (z. B. der
Mineralquellen) die Indikation für die Anwendung der Arzneimittel
genauer festzustellen begann. Den schönsten Ausdruck aber fanden
sie in der Erfindung von zwei Methoden, welche wegen mangelhafter
Technik zwar damals rasch aufgegeben werden mussten, in neuester
Zeit aber wieder aufgenommen wurden. Es waren dies die Infusion
von Arzneimitteln, welche z. B. die deutschen Aerzte Joh. Daniel Major
und Sigismund Elsholtz vorzunehmen wagten, und die, im Anschluss
an die Entdeckung des Blutkreislaufs ersonnene Transfusion.
Am Menschen wurde die Transfusion nach experimenteller Vorprüfung
zuerst von dem Pariser Professor und späteren Leibchirurgen Ludwig XIV.
Jean Baptiste Denis (^ 1704) im Jahre 1667, ausgeführt, sehr bald darauf
von den Engländern Edmund King und Richard Lower, von den Italienern
Giov. Riva und Paolo Manfredi, zuletzt von den deutschen Aerzten Balthasar
Kaufmann und Purmann.
Weit grössere Bereicherung als den wissenschaftlichen An-
strengungen dankte der Heilschatz, welcher leider noch immer mit
unzähligen mj'stischen Mitteln (auch menschlichen und tierischen Aus-
wurfstoffen) überfüllt war, dem gesteigerten Verkehr mit tropischen
Ländern und der Empirie; die Ipecacuanhawurzel, der Kirschlorbeer,
die Radix Colombo, Digitalis, Baldrian, der beim Volke seit alter Zeit
in Ansehen stehende und von den Paracelsisten empfohlene Arsenik
(gegen Wechselfieber, Krebs etc.) und manche andere nützliche Medi-
kamente fanden Aufnahme und zunehmende Verbreitung.
Von grösster praktischer und bis in die neueste Zeit fortwirkender
theoretischer Bedeutung wurde aber die Einführung der Chinarinde,
welche zuerst Juan del Vego, der Arzt des Vizekönigs von Peru, im
Jahre 1640 nach Europa brachte. Wie eine Ironie der Geschichte
nimmt es sich aus, dass dieses Mittel gerade zur Zeit der „ratio-
nellen" therapeutischen Bestrebungen auftauchte! Die überraschenden
Erfolge, welche die Aerzte mit der Chinarinde beim Wechselfieber
erzielten, waren eine Thatsache, an der sich nicht rütteln liess. Die
Erklärung ihrer Wirkungsweise bildete aber für die Schulsysteme
eine Schranke, welche nur scheinbar mit allerlei Kunstgriffen über-
wunden werden konnte. Kein anderes Ereignis hat in so
hohem Grade dazu beigetragen, die Mängel des Gale-
nismus, aber auch der Chemiatrie und latromechanik
zu enthüllen, wie die Einführung der Chinarinde, und
ohne Widerspruch fürchten zu müssen, darf behauptet
werden, dass ihre anscheinend rätselhafte Wirkung
wiederholt im Laufe der Geschichte zu einer skeptischen
64 Max Neuburger.
Beurteilung oder gar Verwerfung des gerade herrschen-
den Dogmatismus Anlass gab!
Die Galenisten waren am übelsten daran, denn nicht allein, dass
durch das neue „Arcanum" die „ausleerenden und auflösenden" Mittel,
welche man bisher oft monatelang gegen Wechselfleber verwendete,
überflüssig wurden, ihr ganzes System erlitt durch die Chinarinde den
schwersten Stoss, da sie das Fieber ohne irgend eine Ausleerung der
hypostasierten „verderbten Säfte" beseitigte. War beim Quecksilber
noch ein Ausweg geblieben, insofern die profuse Speichelabsonderung
im Sinne einer kritischen Ausleerung entarteter Stoffe gedeutet werden
konnte, hier fehlte auch diese letzte Ausflucht gänzlich. Mit Recht
verglich schon Eamazzini (1633 — 1714) den durch die China in der
Medizin herbeigeführten Umschwung mit demjenigen, welchen in der
Kriegskunst das Schiesspulver bewirkte. Es ist daher psychologisch
völlig begreiflich, dass die Konservativen das neue Mittel so viel als
möglich anfeindeten, bald die Nutzlosigkeit, bald die Schädlichkeit
hervorhoben und die anfangs irrationelle Anwendung weidlich zu
ihrem Vorteil ausnützten. Den wackeren Verteidigern Onorato Fabri,
Sebast. Baldi, Eamazzini, Francesco Albertini, Sydenham, Morton,
Conrad Peyer und Paul Gottlieb Werlhof, allen voran aber Francesco
Torti, war der rasche Sieg der guten Sache zu danken. Die latro-
chemiker und latrophysiker machten es sich freilich leicht, indem sie
dem neuen Mittel die Kraft andichteten, die Gärung des Blutes, den
gefässverstopfenden Schleim zu tilgen, oder aber davon phantasierten,
dass die Chinarinde das zu dicke oder zu dünne Blut beseitige, den
Tonus der Fasern stärke u. s. w. Aber gerade der Widerspruch
zwischen den vielerlei „rationellen" Erklärungen musste den geraden
Sinn jedes nüchternen Denkers abschrecken, musste ihm Misstrauen
gegen die Systeme einflössen, umsomehr als sich immer mehr be-
gründete Zweifel über ihre Zuverlässigkeit schon infolge der traurigen
Erfahrungen erhoben, die man im Verlauf der grauenvollen Epidemien
des 17. Jahrhunderts zu machen Gelegenheit hatte.
So wurde denn durch die Saat der Skepsis der Boden vorbereitet,
den einer der grössten Aerzte aller Zeiten mit der Pflugschar seines
Geistes neu umackern sollte. Wir sprechen von Thomas Syden-
ham (1624 — 1689), dem englischen Hippokrates.
Das grosse Ziel der Theoretiker, die Medizin in eine Naturwissen-
schaft umzuwandeln, war wohl mit unvollkommenen Mitteln unter
grossen Anstrengungen angestrebt worden, das praktische Ergebnis
bestand aber vorerst nur darin, dass man immer mehr von der unbe-
fangenen Krankenbeobachtung, von der naturgemässen, den indivi-
duellen Bedingungen angepassten Therapie abgewichen war. Durch
die Brille eines phantastischen chemisch-physikalischen Doktrinarismus
sah man nur aprioristisch konstruierte Schemen, keineswegs aber die
natürlichen Krankheitsbilder, wie sie das Leben in kaleidoskopartiger
Mannigfaltigkeit emporwirbelt, und alles, was nicht ins Schubfach der
Hypothesen passte, blieb einfach unberücksichtigt.
Im Hinblick auf die Gesamtentwicklung war es daher nur vor-
teilhaft, wenn die Medizin, unbeschadet der weiteren selbständigen
Entwicklung der Hilfsfächer, neuerdings an die Grundwahrheiten des
Hippokratismus, an eine der Natur abgelauschte Empirie anknüpfte
und einstweilen die wissenschaftliche Begründung den praktischen
Zwecken der Heilkunst hintanstellte. Aber schon war der Eationalis-
Einleitung. 65
mus der Zeit über den naiven, künstlerischen Sinn des Hellenentums
zu weit hinausgeschritten, und ebenso wenig, als die Künstler und
Philosophen, ti'otz aller gewollten Anlehnung, jetzt noch wie die
Griechen fühlen, sehen, denken konnten, war es den Aerzten möglich,
im Hippokratismus ganz aufzugehen, von all dem ganz abzusehen,
was die Kulturarbeit der letzten Jahrhunderte zutage gefördert hatte.
Es genügte daher nicht, den Urtext des grossen Koers immer weiteren
Ivi'eisen zugänglich zu machen, zu übersetzen oder zeitgemäss zu
kommentieren — worin sich namentlich Antonides van der Linden
und Rene Chartier (durch Hippokratesausgaben), Thomas Burnet und
Thomas Reinesius (durch Auszüge), Prospero Martiano (Kommentare)
auszeichneten — , sondern ein von hippokratischen Prinzipien durch-
setzter, aber mit den wissenschaftlichen Anschauungen des Jahrhunderts
wohl vertrauter, überlegen denkender Arzt musste die Führerstimme
erheben, musste in der Sprache des Zeitalters den falschen Bestrebungen
Einhalt gebieten, dui'ch sein lebendiges Beispiel den Weg der Er-
fahrung erschliessen. Dieser Arzt war Sydenham, der Freund des
Philosophen und ^Ikfediziners John Locke, der die sinnliche Wahi'-
nehmung und die dadurch angeregte Reflexion für die einzigen Quellen
der Erkenntnis erklärte. Dasselbe Land, das der Medizin den Be-
gründer der exakten Methode (Harvey) geschenkt hatte, gebar auch
den neuen Herold der streng sachlichen Empirie, welcher es sich zur
Aufgabe setzte, Bacons Lehre endlich auf die Heilkunst zu übertragen.
Wie Bacon verzichtet der englische Hippokrates auf ein ab-
gerundetes System, wie der Philosoph der Induktion hätte auch er
sagen können: „Es gehört notwendig zu meiner Denkweise, dass sie
den Abschluss nicht sucht und nicht will. Genug, dass ich die not-
wendigen Ziele bezeichne, den richtigen Weg angebe, selbst einen
Teil dieses Weges zurücklege. Das Uebrige überlasse ich den kommen-
den Generationen und Jahrhunderten." Und doch hat gerade dieser
grosse Arzt mehr als ein Jahrhundert (bis herab zur Wiener Schule)
die Medizin beeinflusst, und noch heute nennt man ihn unter den
Meistern klinischer Beobachtungskunst, während die blendenden Systeme
seines Zeitalters vergessen am Grunde des Zeitmeers ruhen.
Sicherlich wurzelt auch Sydenham in seiner Zeit, mit der er manches
damals für ein Axiom gehaltenes dogmatisches Vorurteil teilt, aber bei
ihm deckt der Arzt den Theoretiker, nicht umgekehrt; ebenso gewiss ist
es, dass er den kommenden Wert der Hilfsfacher, namentlich der patho-
logischen Anatomie weit weniger erfasste, als der geniale Laie Bacon
oder Harvey; ja, es muss sogar zugestanden werden, dass seine Lehren
theoretisch zur Aufstellung mancher willkürlicher Ontologien, praktisch
zu therapeutischen Ausschreitungen (übertriebene Anwendung der
Veuäsektion) Anlass gab, aber trotzdem, im Rahmen seines Jahr-
hunderts betrachtet, überwiegen die Lichtseiten, und sicherlich darf
man es seinem glücklichen Eingreifen am meisten zuschreiben, dass
die englische Medizin seither die Wege der gesunden Empirie niemals
mehr verlassen hat.
Die Grundanschauungen Sydenhams nehmen von Hippokrates. den
er zwar in höchstem Grade, aber nicht in blindem Autoritätsglauben
verehrt, ihren Ausgangspunkt und erinnern in mancher Hinsicht an
die Auffassungen des Paracelsus, denen sie freilich an Gedankenhöhe
nicht gleichkommen. Wie Hohenheira betrachtet er die Krankheit als
einen sich gesetzmässig verlaufenden Entwicklungs-
Handbnch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 5
66 Max Nenburger.
prozess mit eigener Naturgeschichte, als eine parasitische niedere
Lebensform; wie Hohenheim leuchtet ihm das Utilitätsprinzip , das
Heilen als Hauptzweck aller Forschung voran, wobei er aber mehr
nach gründlicher Indikationsstellung als nach Arcanen strebt; wie
Hippokrates findet er den Kompass seiner ärztlichen Thätigkeit im
Walten der Physis, der Naturheilkraft, ohne aber zu verkennen, dass
ihre mangelhafte Reaktion energisches ärztliches Einschreiten erfordert.
In jedem der berührten Punkte treten also Unterschiede hervor, welche
von seiner geistigen Selbständigkeit, vom Einfluss der Zeitanschauungen
Zeugnis geben.
Im Sinne des Philosophen der Induktion bildet bei Sydenham die
unbefangene, objektive Untersuchung des Kranken, die kritische
Beobachtung der wesentlichen Symptome, die Krankheits-
beschreibung die Grundlage aller Weiteren Schlüsse, alles thera-
peutischen Handelns. Glänzende Muster bilden die meisterhaften
Krankheitsbilder, welche er von der Hysterie und Chorea, von der
Gicht, Pleuritis, katarrhalischen Pneumonie, vom Rheumatismus, Ery-
sipel und Croup entworfen hat. Aus der Charakteristik der Krankheit
sind die accidentellen, d. h. durch individuelle Umstände (Alter, Kon-
stitution etc.) oder durch Arzneien erzeugten Symptome auszuscheiden.
Nicht aus einzelnen, sondern aus einer grossen Reihe von Erfahrungen
lassen sich auf diese Weise, frei von Phantasie und Hypothese, die
Grundformen, die Krankheitstypen (Spezies) fixieren, so ^xie es von
den Botanikern in betreff der Pflanzen geschehe.
,,Primo expedit, ut morbi omnes ad definitas ac certas species revocentur,
eadem prorsus diligentia ac äyiQißela qua id factum videmus a botanicis
ßcriptoribus in suis phytologiis.*'
Sydenham forderte eine scharfe Klassifikation der Krankheiten,
und zwar nicht bloss auf Grund einer sorgfältigen Symptomatologie
in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien, sondern auch unter Be-
rücksichtigung der äusseren Entstehungsbedingungen („causae con-
junctae"), der Aetiologie; denn es entging seinem Scharfblick nicht,
dass die bisherige Pathologie einerseits ohne sichere Anhaltspunkte
Krankheitstypen ganz willkürlich aufstellte, andererseits aber, dem
Wesen nach gänzlich verschiedene Affektionen, nur weil sie in den
Symptomen untereinander übereinstimmten, zusammenwarf. Durch
die besondere Hervorhebung der Aetiologie als eines entscheidenden
Faktors und durch die genetische Betrachtung der Krankheiten in
ihrem Entstehen, Wachsen und Vergehen (nach Analogie der Lebe-
wesen), wobei die Symptome teils von den Krankheitsursachen, teils
von den Heilbestrebungen des Organismus abgeleitet werden, hat
Sydenham dem Begriff des Krankheitsprozesses, ähnlich wie
Paracelsus, eine bestimmtere Fassung verliehen.
Aber so bedeutungsvoll dieser Gedanke war, in seiner Durchführung
zeigt sich die ganze Eückständigkeit der Zeit; da Sydenham über das Rüst-
zeug der pathologischen Anatomie nicht verfügte, ja sogar das spärliche
pathologisch-anatomische Wissen seiner Zeit unberücksichtigt liess, weist
auch seine Krankheitsklassifikation vielerlei Willkürlichkeiten auf, und was
noch schlimmer ist, er muss auf der Suche nach dem Wesen der Krank-
heitsprozesse ganz hypothetische Grundstörungen, z. B. Entzündung des
Blutes, Verschleimung des Blutes, Ataxie der Lebensgeister etc. annehmen.
Die wenigen Hypothesen, welche Sydenham übrigens anwendet, wenn es
Einleitung. 67
sich um die letzten Ursachen des Krankheitsprozesses handelt, erscheinen
ihm im Gesichtskreis des Zeitalters begreiflicherweise nicht als Spekulationen,
sondern als Axiome oder aus der Erfahrung hervorgegangene Folgerungen,
sie stehen subjektiv nicht im Widerspruch mit seinen hippokratischen
Tendenzen, denn immer zeigt erst die weitere Entwicklung,
wie viel von dem, was ein Zeitalter als ausgemachte Wahr-
heit annahm, nur Hypothese war. So waren auch für Sydenham
die Humores, ihr Aufbrausen, ihre Kochung und Gärung zum Teil That-
sachen, die sich von selbst verstanden.
Die Haupteinteilung der Krankheiten beruht bei Sydenham auf
dem Wesen derselben, auf der Art, mit welcher die Naturheilkraft
auf die Krankheitsreize reagiert, und auf den ätiologischen Faktoren.
Demgemäss unterscheidet er zunächst materielle und dynamische
Krankheiten, wobei die ersteren auf Anomalie der Säfte, letztere auf
Veränderungen oder Bewegungsstörung des „Spiritus" zurückgeführt
werden. Ferner zerfallen die Krankheiten in akute oder chronische,
je nachdem die Selbsthilfe der Natur gegen die schädlichen
Einwirkungen der Aussenwelt schnell und energisch erfolgt (akute
Aifektionen) oder aber nur ungenügend von statten geht, sei es dass
die Lebensthätigkeit zu schwach ist, sei es dass die Krankheitsstoffe,
welche vorzugsweise von selbstverschuldeten diätetischen Einflüssen
herrühren, zur sofortigen Ausscheidung ungeeignet sind (chronische
Affektionen). Sehr wichtig ist die Einteilung in sporadische oder
interkurrierende und epidemische Krankheiten, von denen die ersteren
durch Erhitzung, Erkältung etc. entstehen, auch von den Jahreszeiten
und Witterungseinflüssen abhängig sind, während die letzteren durch
verborgene Schädlichkeiten der Atmosphäre, Miasmen, die dem Innern
des Erdkörpers entstammen, hervorgerufen werden. Diesen dunklen,
kosmiscli-tellurischen Einflüssen ist auch der Genius epidemicus,
die Constitutio epidemica s. stationaria zuzuschreiben, vermöge dessen
alle in der betreffenden Zeit vorkommenden (auch interkurrenten)
Affektionen einen mehr oder weniger gleichartigen (z. B. pestartigen,
skorbutischen, ruhr-wechselfieberartigen) Charakter annehmen, auf
einer gewissen Grund- oder Urform, einem stehenden Fieber, beruhen.
Innerhalb des Genius epidemicus bilden sich verschiedene Formen, je
nach dem Grade der Entwicklung aus; so könnten während der Constitutio
variolosa eine febris variolosa sine eruptione, zur Zeit der Constitutio
dysenterica, eine febris dysenterica sine dysenteria vorkommen etc. Der
Grund, weshalb trotz Wesensgleichheit so mannigfaltige Formen unter der
Herrschaft eines bestimmten Genius epidemicus in Erscheinung treten^ ist
in der Individualität zu suchen, da die Natur bald dieses oder jenes Organ
zur Ausstossung der eingedrungenen Schädlichkeit wählt. Gleichzeitig auf-
tretende epidemische Krankheiten gelten als identisch, ausser dass sich eine
neue Krankheitskonstitution entwickelt.
Mit weitem Blick, auf Grund seiner langjährigen scharfsinnigen
Beobachtungen regte Sydenham durch die Ausbildung der schon im
Altertum begründeten Katastaseologie die interessantesten Probleme
der Seuchenlehre an. Er warf die Frage auf, ob die Seuchen Gesetzen
unterliegen, die den Rhythmus ihrer Wiederkehr, den Tj-pus ihres
Verlaufs, die Intensität ihres Auftretens regeln; er machte auf ihre
geographischen Verschiedenheiten aufmerksam und war geneigt, nicht
5*
68 Max Neuburger.
nur den einzelnen Krankheitsfall, sondern die Seuchen als solche, in
ihrem Entstehen, Wachsen und Vergehen, in ihrer Vorliebe für gewisse
Orte und Jahreszeiten mit Organismen zu vergleichen. Manche seiner
Vorahnungen hat die spätere Erfahrung bestätigt, manche seiner
Probleme harren noch der Lösung. Die Lehre vom „Genius epidemi-
cus" insbesondere hat im Lichte der Bakteriologie einen gewissen
Grad von Wahrscheinlichkeit erlangt, allerdings abzüglich ihrer starken
Uebertreibung. Zur Zeit Sydenhams und auch später musste sie dagegen
wegen mangelnder diagnostischer Hifsmittel zu vielerlei Missgriffen
führen.
Nach seinen therapeutischen Grundsätzen gehört Sydenham prin-
zipiell zu den teleologischen Physiatrikern, insofern er dem Wirken
der Naturheilkraft einen ausserordentlich grossen Spielraum beimisst
und ausser dem Fieber viele Krankheitserscheinungen (sogar die Gicht-
anfälle) als Heilbestrebung der Physis auffasst. Dennoch räumt er
auch dem Arzte ein weites Feld für seine Thätigkeit ein, da es die
Heilvorgänge, welche bald zu stürmisch, bald zu schwach verlaufen,
zu regeln gilt. Von einer rein exspektativen Behandlung, wie
sie sein Zeitgenosse Gideon Harvey befürwortete, ist durchaus nicht
die Rede. Abgesehen von einem hygienisch- diätetischen Verfahren,
machte er entsprechi^nd der Annahme, dass „Entzündung des Blutes"
die Grundursache der meisten Krankheiten bilde, vom Aderlass
einen höchst übertriebenen Gebrauch, nebstdem kamen Opium, das
auch Paracelsus befürwortete, Brech- und Abführmittel, Eoborantia,
(namentlich China und Eisen) zur Anwendung, während er die Diapho-
retica und Reizmittel der Chemiatriker aus theoretischen und praktischen
Erwägungen verwarf. Die angeblichen Specifica seiner Zeitgenossen
verwarf er wegen ihres Unwertes, hingegen hoffte er von der Zukunft,
dass es mit fortschreitender Erkenntnis des Krankheitswesens gelingen
werde, „Arcana" zu finden, welche ebenso, wie die Chinarinde, die
letzten Krankheitsursachen direkt bekämpfen und daher die oft un-
sicheren Heilbestrebungen der Natur entbehrlich machen.
Sydenham stand übrigens mit seiner empirischen Denkungsart
nicht gänzlich isoliert, denn fern von der Heerstrasse der Systematiker,
pflegte eine nicht geringe Zahl von Praktikern die klinische Beob-
achtung, und manche von ihnen entwickelten sogar eine reiche
Sammelthätigkeit in der pathologischen Anatomie, welche der
englische Hippokrates allzusehr unterschätzt hat.
Als Verfasser von ,,Observationes'', „Consilia", ,,Consultatione8" sind
Nicolas Le Pols (geb. 1627), Georg Hieronymus Welsch (1624 — 1677),
Jean Jacques Manget (1652 — 1742), Charles Barbeirac (1629 — 1699),
Martin Lister (gest. 1711), Humphry Eidley und Ido Wolf (1615—1693)
hervorzuheben. Die pathologisch- anatomischen Korrelate zu den klinischen
Beobachtungen berücksichtigten insbesondere J. R. Saltzmann (1595 — 1656),
J. C. Brunner, C. Peyer, J. J. Härder, Charles Le Pois [Piso] (1563 —
1636), Nicol. Tulp (1593—1678), Cornelis Stalpart van der Wiel (1620—
1687?), Daniel Horst (1620—1685), Job. Nicol. Pechlin (1646—1704),
Caspar Barthohnus d. Enkel (1655—1738).
Alles, was das 16. und 17. Jahrhundert an pathologisch-anatomischen
Mitteilungen gesammelt hatte, veröffentlichte im Verein mit eigenen
wertvollen Beobachtungen Theophile Bonet (1620—1689) in seinem
bekannten „Sepulchretum", welches später den Vorzug genoss, einem
Einleitung. 69
Morgagni zur Grundlage zu dienen. Der Bedeutung dieses Forschungs-
zweiges wurden die Italiener am frühesten gerecht, namentlich waren
es am Ausgang des Jahrhunderts Antonio Maria Valsalva (1666 —
1723) und Giov. Maria Lancisi (1654 — 1720), welche die wissenschaft-
liche Bedeutung der pathologischen Anatomie in ihr volles Licht
rückten. Giov. Guil. Eiva (1627 — 1677) in Eom gründete sogar eine
eigene Gesellschaft und errichtete ein Museum für pathologische
Anatomie.
Immer mehr machte sich auch das, für die Fortentwicklung der
Wissenschaft erspriessliche. Prinzip der Arbeitsteilung geltend,
insofern viele Beobachter ihr Hauptinteresse auf ganz bestimmte
Krankheitsgruppen konzentrierten. Gerade diesen Forschern dankte
die praktische Medizin ausserordentliche Vertiefung in die Details,
So bearbeitete Francesco Bartoletti (1588 — 1630) die Erkrankung der
Atmungs- und Zirkulationsorgane (als Ursache der Dyspnoe), Ch. Bennet
(1617 — 1655) und Eichard Morton (gest. 1698) die Lehre von der Schwind-
sucht, Arnold de Boot (1606 — 1653) und Francis Glisson die schon früher
von Barth. Eeusner geschilderte Ehachitis, Wolfgang Hoefer (j 1681) be-
schrieb zuerst den Kretinismus, Willis und der durch seine toxikologischen
Tierversuche hochverdiente Job. Jac. Wepfer (1620 — 1695) veröflFentlichte
ausgezeichnete anatomisch gestützte Beobachtungen über Gehirnkrankheiten
(hämorrhagische Natur der Apoplexie), Vieussens, später Lancisi, schrieb
über Herzkrankheiten, Bernardino Eamazzini über Gewerbekrankheiten,
Cockburn über Seekrankheiten ; die Kenntnisse über den Bandwurm er-
weiterte Spieghel, über den Medinawurm Welsch, die wahrscheinlich den
Arabern schon bekannte Krätzmilbe wiesen Joseph J. Scaliger und Giovanni
Cosimo Bonomo mikroskopisch nach.
Besonder er P flege erfreutesich auch die Epidemiologie
und die geographische Pathologie. Unter den zahlreichen Epidemio-
graphen sind Diemerbroek (1609 — 1704) durch sein klassisches Werk über
die Pest, Sydenham durch seine Beschreibung der Blattern und des Schar-
lachs, welch letzteren schon vorher die deutschen Aerzte M. Döring, Sennert
und Welsch geschildert hatten, hervorzuheben, ferner Tob. Coberus (Morbus
„hungaricus"). Die Tropenmedizin bereicherten vor allen die Niederländer,
J. Bont (y 1631) und G. le Pois, von denen ersterer die Krankheiten
Indiens, letzterer diejenigen Brasiliens eingehend darstellte, während E.
Kämpfer (1651 — 1716) wertvolle medizinische Erfahrungen mitteilte, die er
auf seinen Reisen durch Persien, Armenien, Ostindien, China und Japan
erworben hatte.
Die Chirurgie blieb im 17. Jahrhundert weit hinter der
Medizin zurück, der Hauptgrund lag darin, weil die wissenschaftlich
strebenden Aerzte fast gänzlich von den theoretischen Fächern und
der pathologischen Systematik absorbiert wurden. Noch immer lag
der Fortschritt zumeist in der Hand der Empiiiker, von denen z. B.
der fahrende Stein- und Bruchschneider Jacques Beaulieu (1651 — 1714)
eine neue Methode des Steinschnitts, die Sectio lateralis, angab.
Italienische Chirurgen (Antonio Ciucci, Marc Aurelio Severino (j 1656),
Cesare Magati (f um 1650) vereinfachten die Mund- und Geschwürs-
behandlung, der Engländer Richard Wiseman forderte die primäre
Amputation bei Schussverletzungen der Gelenke, der Oxforder Chirurg
Lowdham wendete 1679 zum erstenmal den Lappenschnitt an,
um dessen Einführung sich auch der Niederländer Adrian Verduyn
70 Max Neuburger.
und die Schweizer Johann van Muralt und Pierre Sabourin verdient
machten, die Lehre von den Frakturen und Luxationen bearbeitete
Laurent Verduc (f 1695), in der Therapie der Hernien begründete
Blegny durch Erfindung der elastischen Bruchbänder einen bedeutenden
Fortschritt. Die Rolle Pares spielte in diesem Jahrhundert, aller-
dings mit sehr bedeutenden Einschränkungen, ein deutscher Wundarzt,
Wilhelm Fabry (1560—1634) aus Hilden bei Köln (Fabriz von
Hilden), welcher sich durch die Vervollkommnung der Amputation, durch
Verbesserung und Bereicherung des Instrumentariums, ganz besonders
aber durch den Vorschlag verdient machte, die Umschnürungsbinde
der Extremität vor der Amputation mit einem festen Holzstück oder
metallenen Gürtel zu versehen. Diese Prozedur war die Vorläuferin
des zuerst von Morel angewandten Tourniquets (1674). Neben Fabriz
von Hilden erlangten auch die beiden deutschen Wundärzte Johannes
Scultetus (f 1645) und Matthias Gottfried Purmann Ruf und Ansehen.
In Frankreich, wo Mery am Pariser Hotel Dien einen regelmässigen
Unterricht in Anatomie und Chirurgie einführte, und die Wundärzte
in den zahlreichen Kriegen Ludwigs XIV. reiche Gelegenheit zur Er-
werbung von Erfahrungen hatten, erreichte die Chirurgie eine gewisse
Blüte. Von dort nahm auch das Streben seinen Ausgangspunkt, einen
engeren Anschluss an die Pathologie herzustellen. Vorarbeiten
hierzu waren die Studien über Callusbildung, Knochenregeneration etc.,
wie sie Verduc (f 1695), du Verney und der Niederländer Anton van der
Heyde betrieben. In breitem Ausmass wurde diese erspriessliche
Richtung aber erst im 18. Jahrhundert durch französische und eng-
lische Chirurgen ausgebahnt.
Weit früher als in der Chirurgie machte sich der Einfluss der
Hilfsfächer in der Geburtshilfe geltend, in welcher die Ver-
wertung der anatomisch - physiologischen Kenntnisse (Anatomie des
Beckens, Physiologie der Schwangerschaft und Geburt) einen er-
staunlichen Umschwung herbeiführte und das Fach ins Niveau der
Wissenschaftlichkeit erhob. Allerdings vollzog sich diese Wendung
zum Bessern zunächst nur in Frankreich und Holland, wo eigens
errichtete Geburtsanstalten den Aerzten und Hebammen Ge-
legenheit zur Ausbildung gaben; die erste solche Anstalt, an der
gleicherweise der Humanität wie den Unterrichtszwecken gedient wurde,
entstand in Paris am Hotel Dieu. Sind aber auch Louise Bourgeois
und deren Nachfolgerin Marguerite de la Marche in jener Zeit als
ausgezeichnete Repräsentantinnen der Geburtshilfe zu nennen, die
auffallenden Fortschritte in der wissenschaftlichen Entwicklung
datieren unzweifelhaft erst von dem kulturgeschichtlich merkwürdigen
Zeitpunkt, wo das Vorurteil gegen männliche Geburtshilfe
durch erlauchte Vorbilder bedenklich erschüttert wurde. Dies geschali,
als Jules Clement (1649 — 1729) von Louis XIV. aufgefordert wurde,
der Dauphine bei der Geburt des ersten Enkels des Königs bei-
zustehen. Später leistete er der La Valliere und Montespan, sowie
der Gemahlin Philipps IV. von Spanien dieselben Dienste. Drei Namen
leuchten unter den französischen Geburtshelfern besonders hervor,
FranQois Mauriceau (1637—1709), Paul Portal (f 1703) und Guillaume
Mouquest de la Motte (1655— 1737). Ihrer Wirksamkeit ist es zu danken,
dass die geburtshilfliche Diagnostik (Touchierkunst), eine tiefere
Grundlage erhielt, dass ein (auf anatomisch-physiologischen Kenntnissen
basierendes) exspektatives Verfahren die frühere planlose und rohe
Einleitung. 71
instrumentelle Hilfe verdrängte, dass die Lehre von der Wendiinginit
ihren Indikationen, die Lehre Tom engen Becken begründet
wurde. Aehnliche Verdienste erwarben sich einige Holländer, H. van Roon-
huysen, C. van Solingen, J. van Hoorn, allen voran aber der Begi'ünder
der Orthopädie, Hendrik van Deventer fl651 — 1724), welcher in einer
ganzen Eeihe von geburtshülflichen Schriften das normal verengte und
das platte Becken, sowie den Einfluss des engen Beckens auf den Ge-
burtsverlauf treffend schilderte. Den mächtigsten xA.ufschwung nahm
die Geburtshilfe aber erst im 18. Jahrhundert, nachdem der Engländer
Jean Palf}^ (1650 — 1730) die Zange zum Gemeingut aller Aerzte
gemacht hatte.
Zu einer gewissen Emanzipation von der Chirurgie unter Be-
nutzung anatomisch-physiologischer Ergebnisse, namentlich der diop-
trischen Untersuchungen seit Kepler, gelangte auch die Augenheil-
kunde. Wichtiger als einzelne geringe Verbesserungen im operativen
Verfahren (Fabriz van Hilden, Purmann, C. van Solingen) wurde die
Entdeckung des wahren Sitzes der Cataracta durch die
Pariser Wundärzte R. Lasnier und Fr. Quarre. Vorher galt der
Star als eine zwischen Iris und Kapselwand ergossene Flüssigkeit,
die vom Gehirn abstammen sollte. Die Urheber der neuen Lehre und
ihre ersten Anhänger Mauriceau, Schellhammer, besonders aber Werner
Rolfink, haben den anatomischen Gedanken in die Okulistik getragen.
Allgemeine Anerkennung und praktische Anwendung fand die bedeut-
same Errungenschaft aber erst im Laufe des 18. Jahrhunderts, wo
eine neue, wissenschaftliche Periode anhebt.
Unter dem Einflüsse der exakten Forschung wurde auch die
Ohrenheilkunde einer besseren Bearbeitung zugeführt, indem
Valsalva die anatomischen, Guichard du Verney (1648 — 1730) die
klinischen Ergebnisse sorgsam sammelte und eine solide Basis für die
Zukunft schuf.
Aus dem Zusammenwirken erweiterter chirurgischer und vertiefter
anatomischer Kenntnisse ging endlich ein neuer Zweig der Medizin
hervor, welcher die sozialen Leistungen der ärztlichen Wissenschaft
noch erheblich erweiterte : die gerichtliche Medizin. Auf Grund
gesetzlicher Verfügungen (Bamberger peinliche Gerichtsordnung, pein-
liche Hals- und Gerichtsordnung Karl V.) wurden Aerzte schon seit
geraumer Zeit zugezogen, die erste gerichtliche Leichenöffnung machte
Pare (1562), aber erst an der Wende des 16. Jahrhunderts und im
Verlaufe des 17. Jahrhunderts ging man daran, die spezifischen Eigen-
tümlichkeiten, welche die Thätigkeit des Gerichtsarztes kennzeichnen,
die besonderen Probleme, welche der Medizin sonst fremd sind, kritisch
und zusammenfassend festzustellen. Wie auf so vielen Gebieten gingen
auch hier die Italiener (Fortunato Fedele), voran und namentlich Paolo
Zacchia (1584—1659) veröffentlichte in seiner Quaestiones medico-
legales ein grundlegendes Werk. In Deutschland beginnt die wissen-
schaftliche Bearbeitung nach einigen Vorläufern (B. Saevus, J. N.
Pfeizer, G. Welsch und besonders P. Ammann) mit dem trefflichen
Leipziger Professor und Gerichtsarzt J. Bohn (1640 — 1718), der die
wichtigsten Fragen forensischer Praxis mit jener Ueberlegenheit und
Kritik behandelt, welche auch seine übrigen Leistungen kennzeichnet.
Aus dieser Zeit stammt eine der wichtigsten forensischen Beweismittel,
die Lungenschwimmprobe, welche von Swammerdam (1669) entdeckt
und (nach Empfehlung durch den ungarischen Arzt C. Eayger) zuerst
72 ti&x Neuburger.
von dem Stadtphysikus zu Zeitz, J. Schreyer (1682), angewendet
wurde.
Die selbständige Bearbeitung der Psychiatrie, Hygiene und
Pädiatrie begann erst im folgenden Jahrhundert unter dem Einfluss
der Humanitätsbestrebungen, unter der wachsenden Fürsorge des
Staates.
Immer mehr rundet sich jeder der einzelnen Hilfs- und Spezial-
zweige zu einem festen, abgeschlossenen Ganzen mit eigener Entwick-
Inng, welche an Tiefe und Breite gewinnt, je mehr der Strom der
Zeit der Gegenwart zurauscht. Auf dem Wege der Differenzierung und
mittels der späteren assoziativen Verknüpfung der Sonderdisziplinen
bildete sich nach den allgemeinen Gesetzen des Wachstums allmählich
eine organisch gegliederte, organisch zusammenhängende wissenschaft-
liche Heilkunde aus, ähnlich wie ein Lebewesen aus den Keimblättern,
durch Zerklüftung des Protoplasmas und durch Arbeitsteilung der
Zellen heranwächst. Die fernere Entfaltung der einzelnen Teilwissen-
schaften und Hilfsiächer wird an anderer Stelle zum Gegenstand um-
fassender Darstellung gemacht werden und soll uns hier nicht weiter
beschäftigen. Es genügt in der vorbereitenden Rundschau, auf die
erste Entstehung, auf die Inkunabeln, hingewiesen zu haben, von jetzt
an wollen wir unsere Aufmerksamkeit nur auf die allgemeinen Ideen,
Probleme und Thatsachen richten, welche den Gesamtablauf der medi-
zinischen Wissenschaft bestimmten.
Von grösster Wichtigkeit ist besonders jener bedeutsame ge-
schichtliche Prozess, welcher das Streben zum Ausdruck bringt, das
gesammelte empirische Material in einer befriedigenden Gesamtauf-
fassung zu einem grossen Ganzen zu vereinigen und zugleich die Kluft
zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken: Der Prozess der
Einheitsbestrebung in derMedizin. Dieser Prozess zer-
fällt in zwei Phasen, in die Epoche der deduktiven
Systeme und in die Epoche der methodisch fortschreiten-
den induktiven Forschung.
Geistige Oekonomie bedingt es, dass alle Wissenszweige dahin zielen,
oberste Leitsätze zu gewinnen, welche die Empirie beherrschen, geniale
Intuition entbehrlich machen, den Schlüssel zum Verständnis jedes Einzel-
falles in die Hände spielen. Solche oberste Prinzipien müssen aus
den Goldbarren des Thatsachenerwerbs gemünzt sein! Der
Umfang des hierzu nötigen Thatsachenmaterials hängt von der besonderen
Natur ab, welches eben den Gegenstand des Wissenszweigs bildet. Je kom-
plizierter die Verhältnisse liegen, desto weiter rückt das Ziel in die Ferne,
desto verhängnisvoller wird die Ueberschätzung der Prämissen, die Vor-
eiligkeit in der Schlussfolgerung. Davon liefern die Annalen der Medizin
beredtes Zeugnis.
Die deduktive Art der Einheitsbestrebung durch
Systeme begann im 18. Jahrhundert mit grösster Inten-
sität hervorzutreten. Seitdem sich die Medizin den Banden des
blinden Autoritätsglaubens entwunden hatte und eigene Wege ein-
schlug, seitdem der Galenismus im langsamen Abbröcklungsprozess
hinsiechend, nur mehr ein Scheindasein fristete, erwachte die Sehn-
sucht nach -Ersatz der entstandenen Lücke, nach einem neuen theo-
retischen Rückhalt, der den empirischen Wissensinhalt belebt und
durchgeistigt. Das 16. und 17. Jahrhundert hatte eine erstaunliche
Einleittmg. 73
Fülle neuer und verschiedenartiger Thatsachen beschert, durch die
latrophysiker und Chemiater wurden viele davon im Lichte der Mechanik
und Chemie verständlicher; im 18. Jahrhundert glaubte ein grosser
Theil der Forscher, es sei schon genug gesammelt worden, es sei die
Zeit des Ordnens herangebrochen und je mehr die Thatsachen, je mehr
die Assoziationen anwuchsen, desto öfter wurden die Versuche erneuert,
geschlossene Systeme zu errichten, die für sämtliche physiologische und
pathologische Phänomene eine umfassende und befriedigende Erklärung,
für die Praxis eine sichere Anleitung zu geben versprachen.
Wurde auch das Erfahrungsmaterial sogar beträchtlich erweitert,
so herrschte während des grössten Teiles des 18. Jahrhunderts und,
soweit die deutsche Medizin in Betracht kommt, auch in den damit
zusammenhängenden ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts die System-
bildung in einem Masse vor, dass man nicht übertreibt, wenn man
diese Zeit geradezu die Epoche der Systeme nennt, so, wie man
das 17. Jahrhundert nach der vorwaltenden Forschungsart als die
Epoche des Experiments bezeichnet.
Diese Strömung in der Medizin ist. wie immer, auf die allge-
meine Zeitströmung zurückzuführen, welche sich in dieser Epoche durch
die Vorherrschaft der Verstandeskiütur gegenüber der Sinnesthätigkeit,
der Eeflexion gegenüber der Wahrnehmung kennzeichnet. Am präg-
nantesten offenbart sich der Charakter der Zeit einerseits in der
Sterilität der Kunst und ihrer Ausartung zum Eokokostil, der den
Rahmen, das Ornament, zum Organismus, zum Wesen erhebt, anderer-
seits in der hohen Blüte der Philosophie, die, als Königin der Wissen-
schaften, der Naturforschung den noch frischen Ruhmeskranz entriss.
Der Nährboden, welchen die nationale Sinnesart bildet, Hess frei-
lich die Unterschiede in der Empfänglichkeit recht deutlich her\^r-
treten. Darum wurde das Volk der Denker im 18. Jahrhundert eine
Zeitlang tonangebend in der Medizin, darum lebte die reflektierende
abstrakte Systenibildnerei in der deutschen Medizin noch viele Dezennien
beharrlich fort, nachdem die Franzosen, anschliessend an ihre politische
Umwälzung, den Standpunkt der spekulativen Forschung schon lange
wieder verlassen hatten, darum konnten bei den Engländern sogar die
einheimischen Systeraatiker nur geringe Anhängerschaft finden.
Die Systeme beruhten auf vorschnell verallgemeinernden Ana-
logieschlüssen, welche ihren Ankerplatz in einzelnen, gewöhnlich ein-
seitig erfassten Fakten hatten. Ausgehend von einer aprioristischen
Anschauung, hantierte man mit denselben, wie der Mathematiker mit
seinen Axiomen, wie der Metaphysiker mit seinen abstrakten Prin-
zipien, d. h. man leitete deduktiv von den einmal statuierten Prä-
missen die Einzelerscheinungen des physiologischen und pathologischen
Lebens ab. In die Grundidee wurde mit mehr oder weniger willkür-
licher Deutung, unter dem Scheine logischer Begriffsfolge, im Gewände
mathematischer Schlussart, all dasjenige hineinpasst, was durch Be-
obachtung schon erkannt worden war, und vorwärts prophezeiend,
sprach man dann auf Grund der mangelhaften Prämissen den logischen
Konsequenzen des Systems schon a priori konkrete Realität zu. Die
Unterschätzung der hochkomplizierten Gleichungen des Lebens, die
verhängnisvolle Identifizierung von Sein und Wirklichkeit, die Ver-
wechslung des begrifflichen Zusammenhangs mit dem realen Kausal-
nexus, führte wie in der Philosophie, so auch in der Medizin zu den
schwersten Irrtümern; auf spärlichen und oft schief gedeuteten That-
k
74 Max Neuburger.
Sachen aufgebaut, glich jedes der Systeme, die in rascher Aufeinander-
folge kamen und verschwanden, ja oft nur ein ephemeres Dasein hatten,
nicht dem Kreise, welcher die Natur einschliesst, sondern der Tangente,
welche nur an einem Punkte den Kreis berührt.
Die Epoche der Systeme unterschied sich aber von der Epoche
der Scholastik, mit der ihr manches gemeinsam ist, dadurch, dass sie
bei dem freien Spiel der geistigen Kräfte den einzelnen Geistes-
schöpfungen keine dogmatisch gestützte Dauer gewährte, dass sie
über unvergleichlich grösseren empirischen Reichtum vertügte und dass
die frische ungehemmte Kritik, der pulsierende Einschlag des prak-
tischen Lebens, die Erstarrung im verdorrenden Autoritätsglauben
verhinderte.
Im Geiste des philosophischen Zeitalters, welches nicht die natur-
getreue Beobachtung als solche, sondern die theoretische Einreihung
unter allgemeine oberste Erkenntnissätze für das Wesentliche, für das
Wissenschaftliche hielt, prävalierten zwar die Doktrinen in gefähr-
licher Weise über der stillen, anspruchslosen Forscherarbeit, die hie
und da wie ein Blümchen zwischen Geröll und Geschiebe aufkeimte,
aber andererseits brachten sie auch Leben und Bewegung in die
Wissenschaft, da sich bei Aufstellung oder Bekämpfung der Hypothesen,
Gelegenheit zur Vergleichung, Prüfung und Erforschung der wahren
Thatsachen ergab.
Abgesehen von den vorübergehenden, freilich beklagenswerten
therapeutischen Konsequenzen wurden die Schäden der einseitig deduk-
tiven Eichtung sogar durch manche Vorteile kompensiert, welche der
Folgezeit zugute gekommen sind. Dahin gehört: die subtile Formung
der wissenschaftlichen Begriffe, die nach schweren Opfern erkaufte
Erkenntnis von den Grenzen der Meditation gegenüber der Erfahrung
und die heuristische Bedeutung mancher Hypothesen.
Uebrigens erhielt die vorgreifende Systematik auch ein Gegen-
gewicht in einer anderen Art von Einheitsbestrebung, welche darauf
ausging, die praktische, künstlerische Thätigkeit des Arztes mit den
fortschreitenden wissenschaftlichen Forschungen in ein reges, gegen-
seitig befruchtendes und ausgleichendes Wechselverhältnis zu setzen,
hippokratische Krankenbeobachtung mit den Laboratoriumsergebnissen
ohne Zwang zu vereinigen. Diese zweite Art der Einheits-
bestrebung hatte ihren Sitz in der Klinik, welche neben
der Giftpflanze der Spekulation wenigstens an einzelnen Bildungs-
centren schon damals zu einer bewunderungswerten Blüte gebracht
wurde und den massgebenden Prüfstein für die Theorie abgab.
Anknüpfend an die italienischen Vorbilder, an Oddi und Bottoni,
erhielt die Klinik zuerst in Holland durch Otto van Heurne ihr
Burgerrecht und bildete daselbst neben dem anatomischen Theater und
botanischen Garten die Pflegestätte des medizinischen Unterrichts, der
medizinischen Forschung. Zu universaler Bedeutung wurde die Ley-
dener Klinik im Beginne des 18. Jahrhunderts durch Hermann
Boerhaave erhoben. Es ist kein Zufall, dass man in Leyden ebenso
wie an den später errichteten Kliniken — Rom (Hospital San Spirito),
Edinburg, Wien, wohin die holländische Schule verpflanzt wurde —
mehr dem Geiste der voraussetzungslosen Forschung, als der vor-
greifenden Systemsucht huldigte oder wenigstens ein grösseres em-
pirisches Material zum Stützpunkt der Doktrinen wählte.
Wir fürchten nicht den Einwurf, dass gerade der Stern am Horizont
Einleitung. 75
der holländischen Klinik, Boerhaave, auch m der Trias berühmter
Systematiker der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, neben Stahl und
Friedrich Hoffmann erscheint; denn das „Sj'stem" Boerhaayes, wenn
wir mit diesem Namen sein Lehrgebäude bezeichnen wollen, entbehrt
des wichtigsten Charakteristikums aprioristischer Gedankenkonstruk-
tionen — der Einheitlichkeit; es lässt sich nicht, wie andere Systeme
auf einen neuen oder erneuten Grundgedanken zurückführen.
Hervorgewachsen aus der Schule der latromechanik, namentlich
Pitcairns, der die Anwendung der Philosophie und Chemiatrie auf die
Medizin schärfstens bekämpfte, beeinflusst vom Geiste Sj'denharas,
welcher die Rückkehr zum Hippokratismus als Ideal hinstellte, suchte
Hermann Boerhaave (1668—1738) beiden Tendenzen, der künst-
lerischen Thätigkeit des Arztes und der wissenschaftlichen Begründung,
dadurch gerecht zu werden, dass er opportunistisch die anscheinend
reellen Thatsachen der Physiologie soweit verwertete, als sie seiner
klinischen Beobachtung nicht widersprachen oder sich mit derselben
vereinbaren Hessen. Immer dem Kliniker den Torrang lassend, immer
die Erfahrung am Ki^ankenbette an die Spitze stellend, wählte er an
der Hand der Geschichte aus den medizinischen Theorien der Alten,
ebenso wie aus der Anatomie, Physiologie und Physik seiner Zeit all
dasjenige aus, was er mit dem alten Hippokratismus zu verknüpfen
vermochte. Frei von dem Prinzipienzwang der latromechanik. welche
in ihrer späteren Entwicklung die Praxis der Theorie unterwarf, ab-
gewaudt von den Ausartungen der Chemiatrie, deren Holüheit er als
guter Chemiker nur zu gut erkannte, fasste er den Plan, eine Medizin
zu treiben, welche frei von jeder Sekte, nur in der Erfahrung ihren
Rückhalt hat, sei es, dass diese Erfahrung am Krankenbett, sei es,
dass sie durch wissenschaftliche Forschung erworben wurde.
Boerhaave, der selbst eifrig mikroskopische Anatomie betrieb,
Lupe und Thermometer in die Klinik einführte, die L^ntersuchung des
Blutes, der Exkrete und Sekrete empfahl, schritt dadurch, dass er
z-^dschen dem Hippoki-atismus und den inzwischen entwickelten exakten
Hilfswissenschaften keinen absoluten Gegensatz erblickte, ja sogar
bemüht war, die Kluft zwischen beiden mit Vorsicht zu schliessen,
über Sydenham weit hinaus; er verhält sich nur zu dem „englischen
Hippokrates'', wie ein Systematiker, thatsächlich nähert sich er aber
demjenigen Standpunkt, welchen die besten Kliniker der Gegenwart
einnehmen. Dass Boerhaave die Eierschalen seines Zeitalters an sich
trug, eine Unzahl von dogmatischen Lehrsätzen, sowohl der ,.exakten"
Hilfswissenschaften als auch der hippokratischen Pathologie für be-
"\\iesene Thatsachen annahm, darf nicht geleugnet werden. Dass der
„communis Europae praeceptor" von manchen seiner Zeitgenossen an
Beobachtungsgeist erreicht, an Kritik, an Originalität und Tiefsinn,
an logischer Stringenz, ja sogar an realer Forscherthätigkeit über-
troffen wurde, kann vollkommen zugestanden werden; unvergäng-
lich bleibt doch Boerhaaves Verdienst, in systematischer
Weise, aber ohne eigentliche Systembildung, den prak-
tischen Wert der Anatomie und Physiologie beleuchtet
und die Aufgaben der Klinik, als Sammelstätte und
Einigungspunkt aller medizinischen Beobachtung und
Forschung für alle Zeiten vorgezeichnet zu haben!
Das höchste Lob, das man seinem „System" spenden kann, be-
steht in dem Tadel, dass es nicht einheitlich ist. In der That findet
76 Max Neuburger.
man in seinem Lehrgebäude, wie es in den „Institutiones medicae" und
den „Aphorismi de cognoscendis et curandis morbis" niedergelegt ist,
die verschiedenartigsten Elemente zusammengefasst, eher mosaikartig
aneinandergereiht, als organisch verbunden.
Die ganze Entwicklung der medizinischen Theorie spiegelt sich
in dem liehrgebäude Boerhaaves wieder. Wie die Methodiker, sucht
er eine lange Reihe von Krankheiten aus der erhöhten Spannung oder
aus der Erschlaffung zu erklären, nur mit dem Unterschied, dass er
dem fortgeschrittenen Standpunkt seiner Zeit Rechnung tragend, den
Sitz dieser Zustandsveränderungen in die „Faser", den Elementar-
bestandteil des Organismus verlegt; wie Erasistratus, bezeichnet er
den error loci, die Stockung und vermehrte Reibung als Entzündungs-
ursache, präzisiert diese Erscheinungen aber genauer als Gefäss-
verstopfung, dadurch verursacht, dass das Lumen der letzten arteriellen
Verzweigungen infolge abnormer Reize verengert und für die roten
Blutkörperchen unpassierbar wird; wie die Humoralpathologen und
latrochemiker kennt er neben Anämie und Plethora auch die Kako-
chymie als Erkrankungsform der Säfte, unterscheidet sogar sieben
Arten von „Schärfen", führt dieselben aber auf mechanische Momente
zurück; das Fieber gilt ihm einerseits, im Sinne der Teleologie, als
natürliche Heilbestrebung, andererseits sucht er sich das Zustande-
kommen der fieberhaften Reaktion naturwissenschaftlich durch die
Annahme zu erklären, dass die erhöhte Pulsfrequenz durch den im.
Kapillarsj^stem vermehrten Widerstand, die gesteigerte Temperatur
durch die Reibung an den Gefässwänden hervorgerufen wird. Diese
zwiefache Zusammensetzung aus traditionellen und neuen Elementen
lässt die Absicht Boerhaaves erkennen, die Krankheitslehre sowohl
auf ärztliche Erfahrung als auch auf die theoretischen Lehren der
Phj^siologie zu gründen.
Freilich, so rationell der Standpunkt war, die exakte Forschung
in den Dienst der Klinik zu ziehen, so sehr das System prinzipiell fort-
bildungsfähig war, weil es jedem kommenden Fortschritt der Natur-
wissenschaft geöffnet blieb, die theoretische Begründung konnte nicht
anders als einseitig und unvollkommen ausfallen; denn aus der zeit-
genössischen Physiologie vermochte Boerhaave höchstens ganz unzu-
reichende mechanische Prinzipien zu entnehmen.
Unter der Voraussetzung, dass jedwede organische Erscheinung auf
Bewegungsvorgänge fester und flüssiger Körper, jede physiologische Thätig-
keit auf bestimmte Formverhältnisse der Grundbestandteile zurückzuführen
ist, definiert Boerhaave die Krankheit als Funktionsstörung, be-
dingt durch Formveränderung der Elementarteile und Anomalien der Be-
wegung. In der speziellen Klassifikation teilt er die Krankheiten in solche
der festen und solche der flüssigen Teile ein. Da die herrschende Lehi'e
die Organe aus Fasern und aus den daraus gebildeten Gefässen (Rujsch)
aufgebaut sein Hess , so leitet er die Afi'ektionen der Festteile von der
Schwäche, Schlafi'heit oder Starre der Fasern, beziehungsweise aus der Ob-
struktion der Gefässe ab; die Säfteanomalien lässt er dadurch entstehen,
dass die Atome, welche die Flüssigkeiten zusammensetzen, in ihrer Gestalt
von der Norm abweichen. Auch in der Begründung seiner therapeutischen
Massnahmen, bei welchen ihm noch mehr als Sydenham der echte hippo-
kratische Geist vorschwebt („simplex sigillum veri''), sucht Boerhaave
mechanische Vorstellungen mit der Tradition und Empirie zu verketten ;
Einleitung. 77
deshalb legt er auf die Leibesübungen, auf Emollientia, Solventia, Laxantia
grossen "Wert, weil die Säfte verdünnt, die Stockungen gelöst, die Spannung
beseitigt, die ,. Infarkte" des Darmes verhindert werden sollen.
In der Beurteilung Boerhaaves darf aber nicht vergessen werden,
dass er keineswegs wie andere auf das Sj^stem als solches, sondern
vielmehr auf die Beobachtung und Beschreibung der Krankheitsbilder
den Schwerpunkt verlegte und gerade in dieser Richtung seinen un-
vergleichlichen Einfluss als Lehrer und Forscher, als Kliniker und
Schriftsteller, auf ein Jahrhundert ausgeübt hat. Mochte sich auch
die Mehrzahl seiner Schüler mit seinen Aussprüchen und Lehrmeinungen
für immer zufrieden geben, den wahren Sinn, den Geist seines Wirkens
erfassten doch nur diejenigen, welche nicht bloss an seinen Lippen
hingen und begeistert von seiner Persönlichkeit seine vergänglichen
Lehrsätze in alle Welt hinaustrugen, sondern durch selbständige Arbeit
die Ideen, die er anregte, weiter bildeten und über ihn hin ausschritten,
sei es auf dem Wege der physiologischen Forschung, wie Haller. sei
es auf dem Wege der Klinik, wie van Swieten, de Haen und
Pringle oder in der allgemeinen Pathologie, wie Gaub. In weiser
Selbstbeschränkung verzichtete Boerhaave, auf die metaphysischen und
ersten physischen Ursachen spekulativ einzugehen, wohl wissend, dass man
nicht ungestraft die Grenzen der Erkenntnis missachtet. Beobachtung
und Schlussfolgerung aus der sinnlichen Erkenntnis erklärte er für die
einzig verlässlichen Wege, zugleich auch als die einzig notwendigen
tür die Zwecke des Arztes ! Darum haftete sein System an den leicht
überschaulichen mechanischen Beziehungen, darum baut er die gesamte
Lehre vom normalen und kranken Leben auf dem Begritf der Be-
wegung auf und begnügt sich nur ganz im allgemeinen zu betonen,
dass hinter den materiellen Erscheinungen eine höhere treibende Kraft,
das hippokratische „Enormon", die Phj^sis stehe, welche aber keinen
Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung bilden könne.
Dieser Verzicht ist es, der Boerhaave von den eigentlichen Syste-
matikern des 18. Jahrhunderts trennt, denn diese strebten gerade
dahin, die letzte Triebfeder des Lebens zu erkennen. Was als
letztes Ziel erstrebenswert erscheint, wurde zum Ausgangspunkt der
Spekulation gemacht. Den Antrieb bildete die immer stärker zur
Geltung kommende Ueberzeugung, dass das Leben und daher auch die
Krankheit durch die bekannten physikalischen und chemischen Gesetze
nicht in seiner Gänze zu erfassen sei, dass das harmonische Zusammen-
wirken der einzelnen Teile und namentlich die zweckmässige Reaktion
gegen äussere Schädlichkeiten einen wesentlichen Unterschied der
organischen gegenüber der toten Natur in sich schliessen müsse. Wenn
aber Sydenham in dieser Ueberzeugung jede Theoriebildung verwarf,
Boerhaave sich mit der Aufhellung der mechanischen Seite der Lebens-
vorgänge begnügte, so schien anderen noch ein dritter Weg oifen zu
stehen, welcher dem Kausalitätstrieb grössere Befriedigung verhiess:
der Weg der Spekulation über die Dynamik des Lebens. Diesen Weg
betraten als Führer Georg Ernst Stahl (1660 — 1734) und Fried-
rich Hoff mann (1660—1742).
Stahl ist nur der medizinische Repräsentant jener Kulturbewegung,
welche als Ausfluss des deutschen Gemütes und Geistes, als Reaktion
gegen den leeren Formalismus in Kirche und Wissenschaft an der
Neige des 17. und im Beginne des 18. Jahrhunderts entstand. Wie
78 Max Neuburger.
Leibniz den kartesianischen Materialismus bekämpfte und die Ideen-
lehre Piatons, die Naturphilosophie Brunos mit den neuen Erkennt-
nissen zu vermählen suchte, wie der berühmte Bekämpfer des Hexen-
wahns, Thomasius, dem Naturrecht an Stelle der Spitzfindigkeiten
des römischen Rechts in die Jurisprudenz Eingang zu verschaffen
trachtete, wie Francke und Spener trotz Verfolgung nicht davon
abliessen, der erstarrten Orthodoxie eine tiefempfindende, gemüts-
warme Frömmigkeit entgegenzusetzen, die freilich später in cholerisch
grüblerischen Pietismus ausartete, — so verkörpert auch Stahl
die Reaktion des deutschen Idealismus gegen die neue Art der medi-
zinischen Scholastik, welche aus der Chemiatrie und latromechanik
entsprungen war und mit seichten Begriffen das Leben zu erschöpfen
glaubte. Aehnlich aber, wie die ganze Bewegung zwar an das Re-
formationszeitalter anknüpfte, ohne aber dessen Sinnesfrische und
blutwarme Innerlichkeit zu besitzen, so darf auch Stahl zwar als
Epigone eines Paracelsus, eines Helmont betrachtet werden, aber als
ein Epigone, der von des Gedankens Blässe angekränkelt ist, bei dem
die trockene Abstraktion des Verstandes über die Anschauung weit
überwiegt.
Durch angeborene finstere Sinnesart und streng religiöse Er-
ziehung für den Pietismus empfänglich, nahm Stahl schon während
seiner Studienzeit au dem Materialismus der herrschenden Lehre An-
stoss. Durch praktische Erfahrungen über die Unzulänglichkeit der
medizinischen Theorie aufgeklärt, brachte er später, als er nach Halle, .
mitten in den pietistischen Kreis der neu gegründeten Universität als
Professor berufen wurde, den mannigfachen, von der Fachwissenschaft
recht abwärts liegenden Einflüssen gTösste Sympathie entgegen und
eröff"nete den Kampf gegen die Schulwissenschaft in zahlreichen
Dissertationen, besonders aber in seiner Hauptschrift Theoria medica
Vera (1708), welche in jenem Stil geschrieben ist, den man als voll-
endete Mischung von zerknirschter Demut und ungezügelter Anmassung
bezeichnen kann. Das Urteil aller Andersdenkenden verachtend, findet
er in seinem Bewusstsein völlige Befriedigung und glaubt mit seiner
„untrüglich wahren" Lehre, dank einer höheren Intuition, die Kluft
zwischen Theorie und Praxis endgültig beseitigt zu haben.
Stahls Doktrin ist der Animismus, d. h. nach seinem System
stammt jede physiologische wie pathologische Erscheinung im letzten
Grunde aus der Seele, durch derenThätigkeit der an sich tote Körper
zu einem Organismus erhoben wird.
Es darf nicht geleugnet werden, dass die Quellen dieser An-
schauung in einer tiefsinnigen Naturbetrachtung liegen, dass bei jedem
ernsten Denker an der Hand gut beobachteter Thatsachen berechtigte
Zweifel an der Zuverlässigkeit der damaligen grob materiellen Phj^sio-
logie aufsteigen mussten, nur sind die Schlüsse, zu denen Stahl im
ungestümen Drang nach abschliessender Gesamtauffassung gelangte,
ebenso weit von der Wahrheit entfernt als diejenigen seiner Gegner,
die sich im Notfall die problematischen „Lebensgeister" als asyluni
ignorantiae reserviert hatten. Als Arzt beobachtete Stahl die wunder-
bare Autonomie und Selbstregulation des Organismus, namentlich die
Fieberkrisen und kritischen Ausscheidungen im Geiste der Teleologie,
als hervorragender Chemiker, der er war, drängte sich ihm die Frage
auf, weshalb der so leicht zersetzbare Körper sich trotz der steten
schädlichen Einflüsse seine Integrität bewahre und nicht der Fäulnis
Einleitung. 79
anheimfalle, die post mortem trotz anscheinend gleicher Stofflagerung
so rasch eintritt. Andererseits entging es seinem Blick auch nicht,
dass psychische Einflüsse so häufig tiefgreifende körperliche Verände-
rungen, oft in unverhältnismässig kurzer Zeit, sei es im Sinne der
Erregung, sei es im Sinne der Behebung von krankhaften Zuständen
hervorrufen.
Für all diese zum Teil noch heute bestehenden Rätsel schien ihm
die widerspruchslose Lösung im Animismus zu liegen, der, abgesehen
von älteren Forschern, im 17. Jahrhundert durch Helmont, Willis und
Perrault, allerdings in mehr gemässigter Auffassung vertreten
worden war.
Der „Archeus" Helmonts ist ein Mittelding zwischen Seele und Leib,
die anima vegetativa der Alten, die „anima brntorum" des Wilbs ist ein
Teil der Seele, oder eine vergängliche untergeordnete Seele. In Stahls
Auffassung, die übrigens nicht konsequent festgehalten wird, ist die „Anima"
die unsterbliche Seele, welche bei der Leitung der körperlichen Verrich-
tungen mit Vernunft (ratiocinio) oder instinktmässig und zweckentsprechend
(ratione) handelt; an einigen Stellen ist der Begriff „anima" identisch mit
dem antiken Begriff (fiGig — ein Unterschied, der vom Standpunkte des
Systems sehr bedeutend ist. Stahl war zu dieser Inkonsequenz gezwungen,
weü er sonst die Thatsache der unbewusst vor sich gehenden, automatischen
und ßeflexvorgänge nicht hätte erklären können.
Die Seele ist der Grund aller, zu einem einheitlichen Ganzen vereinten
Lebensthätigkeiten. Nicht allein, dass sie Empfindung und Bewegung vermittelt,
die Seele baut sich den Körper schon im Mutterleibe auf, ernährt die ein-
zelnen Teile, ersetzt das Verlorene, leitet die Absonderungen, veranlasst die
Aufnahme des Neuen, die Ausscheidung des Verbrauchten ; der Leib ist nur
eine passive Maschine, ein Werkzeug zur Bethätigung der seelischen Kraft.
Direkt kann die Seele nur auf ein Immaterielles wirken, das ist auf die
organische Bewegung, welche sich namentlich im Kreislauf und im „Tonus"
der Fasern kundgiebt.
Im einzelnen kann Stahl freilich die iatrophysischen und che-
miatrischen Erklärungsweisen nicht enthehren, wenn er den Mechanis-
mus der Lebenserscheinungen zu beleuchten sucht, er sieht sich ins-
besondere genötigt, dem „Tonus" der Fasern (d. h. ihrer Fähigkeit sich
zusammenzuziehen und auszudehnen) und dem Kreislauf fundamentale
Bedeutung zuzuschreiben, aber ebenso, wie Leibniz in dem kausalen
Mechanismus nur die Erscheinungsform eines innerlichst lebensvollen
und zw^eckmässig organischen Weltprozesses erblickt, so betont auch
Stahl, dass die chemischen und mechanischen Erklärungsweisen nur
theoretisch konstruiert, nur im allgemeinen Sinne zu gebrauchen sind,
weil dem Mechanismus und Chemismus an sich im Organismus keine
Wesenheit zukommt. Während aber Leibniz trotz seiner idealistischen
Auffassung die Erforschung des kausalen Mechanismus, und gerade
in der ^Medizin die exakte naturwissenschaftliche Forschung vom
Standpunkt der praktischen Vernunft für dringend notw^endig hält,
geht Stahl soweit, die Anwendung der feineren Anatomie, der Physik
und Chemie in der Biologie sogar für schädlich zu erklären und sich
in der Medizin mit ganz oberflächlichen anatomisch-physiologischen
Begriffen zu begnügen.
Beruht die Gesundheit auf dem ungestörten Ablauf der von der
Seele in Gang gesetzten vitalen Bewegungen, auf dem von der Seele
k
80 Max Neu burger,
regulierten normalen Spannungszustand der Fasern, so ist in der Auf-
fassung Stahls die Krankheit eine Störung der Lebensvorgänge, welche
im letzten Grunde durch die Seele hervorgerufen werden. Hier kommt
der starre Systematiker natürlich mit der Teleologie ins Gedränge
und er kann sich, ganz wie Helmont, vor dem Widerspruch scheinbar
nur durch die Annahme retten, dass die Seele spontan oder bei ihren
Heilbestrebungen zwar nach Zwecken, aber nicht immer zweckmässig
und rationell handelt. So können durch die falschwirkende Seele
selbst Krankheiten entstehen, so gerät sie bei intensiven Angriifen
in Unentschlossenheit, Furcht und verworrenes Schwanken, was sich
beispielsweise durch Konvulsionen manifestiere. In der Regel freilich
tritt die Anima mit Ueberlegung auf, indem sie die Schädlichkeiten
und ihre Folgen durch Beeinflussung des Kreislaufs (Entzündung,
Fieber, Blutflüsse) oder des „Tonus" der Fasern (Krämpfe) ausscheidet
oder abwehrt.
In der speziellen Pathologie verwirft Stahl die erdichteten Schärfen
und Mischungsanomalien, führt vielmehr die meisten AfFektionen auf Ver-
änderung des Tonus der Elementarteile zurück; sogar die „Plethora", welche
in seiner Krankheitslehre die Hauptrolle spielt, ist eine Wirkung der Ge-
fässatonie. Die Seele bedient sich zur Beseij;igung der Plethora der Blut-
flüsse. Im Kindesalter herrscht die Blutüberfüllung im Kopfe vor, daher tritt
in dieser Lebensepoche namentlich Nasenbluten auf, im Jünglingsalter ver-
ursacht die Plethora der Brust Bluthusten, im späteren Alter wirft sie
sich auf den Unterleib (Vena portae, porta malorum), erzeugt hiedurch die
verschiedensten chronischen Krankheiten und reguliert sich durch Hämor-
rhoidalblutungen („güldene Ader"), welche ein Analogen zur Menstruation
darstellen.
Hinsichtlich der Therapie befolgte Stahl im Prinzip den Hippo-
kratismus, aber ohne darunter jenes exspektative Verfahren zu ver-
stehen, das sich im Abwarten der Naturheilbestrebungen erschöpft.
Vielmehr empfahl er zur Beseitigung der Plethora kräftige Aderlässe,
eröff"nende und balsamische „Pillen", zur Behebung der Atonie, Eisen-
präparate, ätherische Oele und bittere Essenzen. Dass er die An-
wendung der Chinarinde, des Opiums und der „Alterantia" bekämpfte,
war nur eine notwendige Konsequenz des Systems. Die Geheim-
niittel, welche Stahl anzuwenden liebte, entsprachen vielleicht der
Absicht, suggestiv zu wirken. Diese Vermutung ist bei einem Arzte
nicht von der Hand zu weisen, der nach Felix Platter zum ersten-
male wieder für die psychische Behandlung der Geistes-
kranken mit Wärme eintrat und in das früher allzusehr ver-
nachlässigte Wechselverhältnis der Seele zum Körper einen erstaun-
lich tiefen Blick gethan hat. An seine Gedanken und Vorschläge
auf diesem Gebiete konnte eine viel spätere Zeit wieder anknüpfen.
Forscht man nach der Bedeutung, welche Stahls Sj^stem für den
Fortschritt der Medizin gehabt hat, so ergiebt sich trotz der grell
hervortretenden Mängel ein beträchtlicher Niederschlag von an-
regenden Ideen, die insbesondere der theoretischen Forschung in der
Folgezeit zugute gekommen sind; freilich mussten diese Ideen erst
eine gründliche Läuterung durchmachen, bevor sie von der Wissen-
schaft als Bausteine benutzt werden konnten, und deshalb waren es
nicht die nächsten Schüler Stahls, sondern eigene Wege wandelnde
Selbstdenker, welche die Lehre fortbildeten. ^j
Einleitung. 81
So wenig, wie Stahl selbst, fanden seine nächsten Anhänger, welche
die Medizin ins Fahrwasser des Mystizismus zu lenken suchten, Anklang.
Zu ihnen zählten Joh. Samuel Carl, Georg Daniel Coschwitz, Joh. Daniel
Gohl, Georg Philipp Xenter und Joh. Juncker (1679 — 1759); letzterem
gebührt das Verdienst, zuerst in Halle poliklinische Uebungen ein-
geführt und dadurch den Grund zur späteren Klinik gelegt zu haben.
Weit grössere Bedeutung erlangten jene Aerzte, welche, aus verschiedenen
Lagern stammend, einzelne Prinzipien des Stahlianismus selbständig ver-
arbeiteten. Manche der späteren latrophysiker, wie Abraham Kaau-
Boerhaave, Francois Boissier de Lacroix [de Sau vages] (1706 — 1767),
der die Schule von Montpellier mit den Ideen eines geläuterten Animismus
vertraut machte, retteten den wertvollen und fortbildungstähigen Ted. der
Stahlschen Lehre. Besonders hervorzuheben ist es, dass der Animismus
Anlass gegeben hat, die unbewusst aber zweckmässig verlaufenden Aktionen
der „Seele" eingehender zu analysieren. Dies geschah durch Robert
"Whytt (1714 — 1766), welcher die Beflexerscheinungen experimentell studierte
und Joh. Aug. TJnzer (1727 — 1799), der dieselben daraus erklärte, dass
Nervenreize durch die Ganglien aufgehalten und abgeleitet „reflektiert"
werden.
Der weiteren EntwickTüng vorgreifend, bescheiden wir uns nur
darauf hinzudeuten, dass Stahl, im Gegensatz zur Mehrzahl seiner
Zeitgenossen, die Idee des Lebens aus dem Schutt eines groben
Materialismus wieder ans Licht zog, die wesentliche Eigentüm-
lichkeit des Organischen gegenüber dem Anorganischen
darlegte und hiedurch dem Begriife der Vitalität vorarbeitete. Stahl
hat mit besonderem Nachdruck die Einheit des Organismus auf
Grund harmonisch zusammenwirkender Lebenserscheinungen betont,
hat auf die Autokratie der Lebewesen (inmitten einer Welt von
eindringenden Schädlichkeiten), auf das Wirken der Naturheil-
kraft in Krankheitszuständen hingewiesen und ist zu denjenigen zu
zählen, welche die oberflächliche Humoralpathologie mit Entschieden-
heit bekämpften, auf die festen Teile die Aufmerksamkeit der Patho-
logen hinlenkten.
Diesen Vorzügen steht aber der grosse Fehler entgegen, dass
Stahl den Begriff des Lebens zu enge fasste (im Gegensatz zu Para-
celsus), fast nur auf den beseelten Menschen beschränkte und zudem
zu sehr abstrahierte; denn bei ihm liegt das „primum movens" nicht
in der organischen Materie, sondern steht wie ein Dens ex machina
hinter und ausserhalb derselben, ihm bedeutete die Struktur, die
Mischung nichts, die ..Seele" alles.
Die Reaktion gegen die leichtfertige Uebertragung
grob mechanischer Anschauungen auf Physiologie und
Pathologie war nötig und konnte nur durch eine mass-
lose Uebertreibung eingeleitet werden, solange nicht
einmal die Anfänge biologischer Forschung vorlagen.
Es bleibt das grosse Verdienst Stahls, dahin gewirkt zu haben, dass
der Begriff des Organischen, des Lebens nicht mehr aus Physiologie
und Pathologie schwand, dass die biologische Forschung zum Mittel-
punkt der Theorie und Praxis gemacht wurde.
Je schärfer der Gegensatz zwischen spiritualistischer und mecha-
nistischer Auffassung des Lebens hervortrat, desto mehr wuchs das
Bedürfnis nach einer versöhnenden Anschauung, welche beiden gerecht
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 6
82 Max Neu burger.
wird. Es kann deshalb nicht wunder nehmen, dass Stahl, der per-
sönlich abstiess, dessen Lehren in wenig ansprechender Form vorge-
tragen wurden, sehr rasch durch einen anderen Systematiker überholt
wurde, der mit zeitgemässem seichten Rationalismus und in geschmack-
voller Darstellung auch über die grössten Schwierigkeiten anscheinend
spielend hinwegzugleiten verstand. Es war dies der Hallenser Kollege
und Nebenbuhler Stahls, Friedrich Hoff mann (1660 — 1742), ein welt-
kluger, geistvoller Praktiker, ein fruchtbarer Schriftsteller, ein trefi-
liclier Lehrer und Spezialforscher, der alle Vorzüge besass, welche
den Beifall der Menge im Fluge erobern.
Unter dem Einfluss der Philosophie des berühmten Polyhistors
Leibniz ersann Hoffmann ein System, welches in Form der damals so
beliebten mathematischen Deduktion die verschiedensten physiologischen
und pathologischen Phänomene aus wenigen Grundprinzipien ai3leitete
und in geschickter Verknüpfung iatromechanische mit dynamistischen
Ideen vereinigte. Dieses System ist in der Medicina rationalis syste-
matica niedergelegt. Im Sinne der latromechanik besteht nach Hoff-
mann das Leben in Bewegung, welche sich vornehmlich im Blutkreis-
lauf äussert und durch den Wechsel von Spannung und Ei'schlaffung
der „Fasern" den Körper vor Fäulnis schützt. Die Fähigkeit der
Fasern, sich zusammenzuziehen und wieder zu erschlaffen, der „'J'onus"
unterscheidet den Organismus von der toten Natur, in der nur die
Gesetze der Kohärenz und des Widerstands walten. Mechanische und
Strukturverhältnisse bedingen die Mannigfaltigkeit der physiologischen
Prozesse. Wiewohl aber Hoffmann den „Tonus", im Nachklang zu
Glissonschen Ideen, als ursprüngliche inhärente Eigenschaft der
tierischen Substanz postuliert, so begnügt er sich nicht, dieses Grund-
phänomen einfach als nicht weiter zu erklärende Thatsache hinzu-
stellen, sondern forscht nach einer letzten äusseren Ursache, welche
auch die sonst unverständliche Zweckmässigkeit, sowie das harmonische
Zusammenwirken im Organismus bedingen soll. Diese letzte Ursache
findet er schliesslich im weltdurchdringenden „Aether", der aus der
Luft eingeatmet im Blut zirkuliert, im Gehirn zum „Nervenfluidum"
umgewandelt wird und sich auf den Bahnen des Nervensystems ver-
möge der aktiven Motilität der Hirn-Rückenmarkshäute fortbewegt.
Der „Aether" ist mechanischen Gesetzen höherer Ordnung, die noch
unerforscht seien, unterworfen, aus Teilchen zu sammengesetzt, welchen
die Idee ihres Zweckes und daher selbsteigener Bewegungstrieb zu-
kommt. Diese Vorstellung hatte für diejenigen Zeitgenossen nichts
Absonderliches, welche mit der Monadenlehre vertraut waren.
Leibniz lehrte, dass die materielle Welt nicht aus seelenlosen Atomen,
sondern aus metaphysischen Punkten, bewegenden Kräften, Substanzen,
„Monaden" zusammengesetzt sei, welche je nach dem Grade ihrer Voll-
kommenheit ein verschieden hoch entwickeltes Bewusstsein besitzen und
zu einander in geistigen Beziehungen stehen. Da sich diese geistige Relation
in unserer Anschauung als räumliche Ordnung spiegelt, die prästabilierte
„Harmonie" als Kausalnexus erscheint, der Entwicklungsreihe der Monaden
das Gesetz der Stetigkeit und Erhaltung der Kraft entspricht, so darf die
körperliche Welt nach mechanischen Gesetzen erklärt werden. Gestützt auf
Leibniz, der für die Erfordernisse der Medizin bewunderungswürdiges Ver-
ständnis zeigte, glaubte Hoffmann mittelst der Monadenlehre dem Dilemma
zwischen Animismus und Materialismus glücklich entgangen zu sein, und
EinleittiDg'. 83
mit ihm glaubten dies viele Aerzte, von denen nur der gelehrte Joh. Heinr.
Schulze und die Hallenser Professoren Andreas Elias Büchner. Adam Nietzky,
Joh. Peter Eberhard, Ernst Anton Nicolai, ferner Browne Langrish, David
Hartley. Malcolm Flemyng genannt sein sollen.
Die Pathologie Hoffmanns zeigt unverkennbar eine grosse Ver-
wandtschaft mit der Lehre der ]\Iethodiker, nur dass die beiden Grund-
phänomene aller Krankheiten, die Spannung und Erschlaffung auf
Abänderungen des ..Tonus", auf „Spasmus" und „Atonie" der
Fasern, in letzter Linie auf Anhäufungen, Stockungen u. s. w. des
Nervenfluidums zurückgeführt werden. Die äusseren ätiologischen
Faktoren, welche er sehr eingehend berücksichtigt (Miasmen, Kon-
tagien. giftige Gase, meteorologische Einflüsse, leider auch noch
diabolische Einwirkungen), finden im ..Aether" ihren ersten Angriffs-
punkt.
Mit den Begriffen Spasmus und Atonie liess sich in erster Linie über
die Nerven- und Muskelaffektionen eine orientierende Lebersicht gewinnen,
indem die Symptome von Krampf und Schmerz aus der Steigerung, Lähmung
und Anästhesie aus der Abnahme des „Tonus" erklärt wurden. Weiterhin
versuchte Hoffmann auch die meisten anderen Krankheiten von Spasmus
und Atonie herzuleiten. Spasmus universalis erzeugt Fieber, wenn er Herz
imd Gefässe befällt, Konvulsionen und Epilepsie, wenn die Nerven und
Membranen befallen werden. Spasmus particularis verursacht regellosen
Blutlauf und besonders Kongestionen, die sekundär zu Blutungen, Ent-
zündungen, Exsudaten, Geschwülsten führen. Atonie der Gefässe bildet die
Grundursache der Blutstockungen, namentlich der Plethora abdominalis und
kann allmählich verschiedene Säfteanomalien, Verhärtungen, Skirrhositäten
der Eingeweide hervorrufen. — Gemäss solchen Prinzipien konnte Hoffmann
mit wenigen (10 — 17) Arzneikörpern auskommen, ein Vorzug, dessen er
sich mit Recht rühmt. Wein, ätherische Gele, Kampfer, Gewürz, China,
Eisenpräparate, Liquor anodynus, Elixir viscerale, Salpeter entsprachen den
Indikationen ; Aderlass imd Schwitzmittel wurden in ihrer Anwendung wesent-
lich beschränkt. Da das System auch das Fieber als einen Krampfzustand
der kleinsten Gefässe (die Ursache soll im Rückenmark liegen) auffasst, so
muss die teleologische Deutung erhebUch zurücktreten, und thatsächlich be-
trachtet Hoffmann die heilsame Wirkung des Fiebers nur als
accidentelle Eigenschaft, ein Standpunkt, der dem modernen sehr
nahe liegt. Bedeutsam war es auch, dass er die Fiebererscheinungen, ebenso
wie viele andere Krankheitssj-mptome durch „Consensus", durch sym-
pathische Reizung z. B. von selten des Darms hervorgehen liess ; hiedurch
wirkte er anregend, einerseits auf die physiologische Forschung über die
Ursachen der „Sympathie", andererseits auf die Entwicklung der Lokal-
pathologie. Zum Teil dürften Hoffmann gerade die Beobachtungen über
die sympathischen Phänomene (welche bald darauf H. J. Rega in Löwen
zusammenstellte) veranlasst haben, den Nerven eine Hauptrolle im Getriebe
des Organismus zuzusprechen, von den Nerven viele Krankheiten abhängig
zu machen, wodurch seine Lehre nicht bloss zum Ausgangspunkt der
SoHdarpathologie, sondern auch der sogenannten Nervenpathologie
wurde, welche späterhin eine Zeitlang die Herrschaft behauptete.
Die Ideen Boerhaaves, Stahls und Hoffmanns bildeten im Verlauf
des 18. Jahrhunderts die Leitsterne der medizinischen Forschung,
ihren leuchtenden Spuren folgten die mannigfachen Systeme, welche
6*
84 Max Neuburger.
sich in der Folge nur allzureichlich aus dem Born der Spekulation
ergossen. Im raschen Flusse der Entwicklung verloren sich freilich
die ursprünglichen charakteristischen Gegensätze, die höchstens von
einzelnen Schulen festgehalten wurden, während der gemeinsame
Grundzug immer deutlicher zur Entfaltung kam. Dieser Grundzug
offenbart sich in der Abgrenzung des Organischen gegenüber der
toten Natur, in der vitalistischen Auffassung der Lebensvorgänge, in
der Theorie, dass nicht die flüssigen, sondern die festen Elementar-
teile, die „Fasern" Träger der physiologischen und pathologischen
Erscheinungen sind. Vitalismus und Solida rpathologie be-
zeichnen das Ende der Bahn. In der theoretischen A'orstellung ge-
langen sie dominierend an die Oberfläche, wenngleich in der Praxis
die Krasenlehre ihr Dasein noch lange fortfristet, ja sogar einzelne
glänzende klinische Vertreter aufweist.
Dasa die Humoralpathologen zumeist aus der Schule Boerhaaves stammten,
kann nicht verwundern, wenn man berücksichtigt, dass in seinem System
die vitalistischen und solidaristischen Ideen mehr angedeutet als ausgeführt
wurden, dass der Vitalismus bei Boerhaave mehr durch Abwehr der Chemiatrie,
durch Betonung der hippokratischen Teleologie als durch einzelne positive
Hinweise („Schwäche" der Faser als Krankheitsursache) ihren Ausdruck
fand ; immerhin entwickelten auch diese spärlichen Elemente schon manche
seiner nächsten Schüler, wie Kaau Boerhaave, Gorter und Gaub zum Vita-
lismus. Im Systeme Stahls kam der Vitalismus und die Solidartheorie zur
Geltung, aber ohne feste Konturen, über die sicheren Grenzen des Realen
in die nebelhaften Fernen des Animismus hinauswachsend. Hoffraann drang
dagegen durch die Lehre vom „Tonus", des „Spasmus und der Atonie" zu
grösserer Klarheit vor, obzwar er einerseits dem Mechanismus, andererseits
dem Spiritualismus (Aetherhypothese) noch Zugeständnisse machte.
War aber auch endlich das Lebensproblem in den Mittelpunkt
der Forschung gerückt, begannen auch die solidaristischen Anschau-
ungen immer mehr festen Fuss zu fassen, es fehlte doch noch an
i'ealen Grundlagen für die biologische Erforschung der normalen und
krankhaften Zustände ; denn bisher war noch kein einziges Phänomen
exakt erkannt worden, das nur dem Organischen, dem Lebendigen zu-
kommt, und über den Bau der Elementarteile, den Sitz des Lebens
herrschte eine Unkenntnis, die nur dürftig mit dem Mantel der
Spekulation verhüllt wurde.
Die phänomenologische Betrachtung und Analyse der Lebensvorgänge,
ohne gewaltsames Hineintragen, sei es mechanischer, sei es dynamischer
Prinzipien, die Untersuchung der Struktur, der Eigenschaften der Gewebe:
Biologie, Histologie und pathologische Anatomie, das waren die Postulate,
welche logischerweise der weitere Fortschritt der Wissenschaft erheischte.
Thatsächlich wurden diese Postulate nur nebenbei von einzelnen ins Auge
gefasst, die breite Heeresstrasse folgte den lockenden Irrlichtem der Dyna-
mik, des Mystizismus, der mechanistischen Fetische, und noch mehr als ein
Jahrhundert musste verfliessen, bis die vorurteilsfreie, unbefangene phäno-
menologische Betrachtungsweise zur verdienten Anerkennung gelangte.
Der Erste, der zielbewusst den Weg der biologischen
Forschung beschritt, d. h. ohne dynamistische oder
mechanistische Anwandlungen Lebensphänomene als
solche studierte und dieselben in ihrer funktionellen
Einleitung. 85
Abhängigkeit von bestimmten Striikturverhältnissen
erkannte, war der Meister der Physiologie Albrecht
H a 1 1 e r (1702—1777), der Schüler des BoerhaaVe und Albinus. Hallei-s
Leistungen in den Spezialzweigen der Medizin, namentlich in der Ana-
tomie und Physiologie finden an anderer Stelle ihre gebührende
Würdigung, dort mag auch ein besonderer Nachdruck darauf gelegt
werden, dass er die experimentelle Forschung, welche später alle
Zweige durchdrang, in unvergleichlicher Weise gefördert hat, hier
haben wir nur seine Verdienste um die Fortbildung der Medizin im
Ganzen in Betracht zu ziehen, und als deren gi'össtes erkennen wir
die Schöpfung der biolologischen Forschung durch den
erfahrungsgeraässen Nachweis der Irritabilität und
Sensibilität, als zweier, an bestimmte Gewebsarten,
Muskeln und Nerven, gebundener Lebensphänomene.
Der gewaltige Fortschritt, der in dieser Leistung liegt, wird am besten
aus dem Abstand ermessen, der Haller von denjenigen Forschern trennt, die
ihm in dieser Frage am nächsten stehen. Dies waren Glisson, Baglivi und
Hoffmann, Forscher, welche durch ihre Ideen den grossen Schüler Boer-
haaves beeinflusst haben. Mit weitem Blicke hatte Glisson die Bedeutung
des „Reizes" erfasst, durch Unterscheidung der „natürlichen", „sensitiven"
und „animalen" Irritabilität, die aufsteigende Entwicklung von den niedersten
bis zu den höchsten Abstufungen der llaterie zu erklären versucht, die
„fibra" (ein erdachtes Elementargebilde des Organismus), zum Träger der
Kontraktilität und Expansibilität bestimmt. Baglivi und Boerhaave hatten
von erhöhter oder verminderter Spannung, Hoffmann von erhöhtem oder
vermindertem „Tonus" der „Faser" zahb*eiche Phänomene des Lebens her-
geleitet, aber bei tieferem Eindringen in ihre Systeme zeigt es sich bald,
dass sie nicht bloss den Terminus „Faser" in sehr vagem Sinne gebrauchen,
sondern, was besonders zu betonen ist, den „Tonus" von der Elastizität,
also von einer allgemeinen physikalischen Kraft nicht zu trennen wissen.
Haller hingegen wies durch sinnliche Erfahrung die Irri-
tabilität als eine von der bloss mechanischen Elastizität
verschiedene, dem Muskelgewebe eigentümliche und im-
manente Grundeigenschaft nach — eine Thatsache, die von
Melanchthon und Peucer vorgeahut, durch die Beobachtungen der Be-
wegungsfähigkeit isolierter Muskeln (ßedi, de Marchettis u. a.) vorbereitet
worden war. Noch umwälzender und daher mehr die Opposition heraus-
fordernd wirkte der experimentell erbrachte Beweis, dass nur die mit Nerven
versehenen Gebilde sensibel sind, dass also die Sensibilität ausschliesslich
ans Nervengewebe gebunden ist.
Hallers Arbeiten bedeuten den ersten Schritt auf der Bahn der
biologischen Erkenntnis, den Ausgangspunkt für die sj'stematische
experimentelle Bearbeitung der Physiologie und der Gewebelehre.
Obzwar aber die Geschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
eine Reihe von glänzenden Namen anführt, deren Träger mit Scharf-
sinn und Eifer die verschiedensten Teilgebiete der Phj'siologie mittels
Beobachtung und Experiment durchforschten, die Struktur und den
Aufbau von Geweben (z. B. des Zellgewebes der Knochen, Morpho-
logie des Blutes) in bewunderungswürdiger Weise studierten, obzwar
sogar einzelne von ihnen neue Wissenszweige begründeten oder schon
gepflegte auf eine neue reale Basis stellten, so kamen alle diese
Leistungen erst viel später zur Geltung und wurden zur Zeit ihres
86 Max Neuburger.
Entstehens von der Spekulation teils missbraucht, teils beiseite ge-
schoben.
Die Lehre von der Irritabilität und Sensibilität wurde alsbald
ebenso, wie früher die Prinzipien der Philosophie, Physik und Chemie
zum Aufbau von mannigfachen Systemen ausgenützt, welche den Grund-
gedanken kühn generalisierten und mit den Ideen Stahls oder Hoff-
manns kunstvoll verquickten. Anhänger wie Gegner der Irritabilitäts-
lehre sündigten in gleicher Weise, indem sie, abweichend von der bloss
phänomenologischen Betrachtungsweise, den Dualismus zu überwinden
und das Leben in seiner Einheit zu erfassen bemüht waren. An
Stelle der zwei Lebenserscheinungen trat ein einziges Lebensprinzip
dynamischer Natur, sei es, dass die Irritabilität oder Sensibilität als
herrschende Grundkraft hypostasiert, sei es, dass beide als blosse
Manifestationen einer fingierten „Kraft" untergeordnet wurden.
Schon nach Hallers ersten Mitteilungen dehnten J. Fr. "Winter und
seine Schüler den Begriff der Reizbarkeit auf jede Faser des tierischen
Körpers aus und erhoben die Irritabilität zur Grundursache aller Lebens-
phänomene, andere schlössen sich dieser Ansicht im wesentlichen an, be-
zeichneten sie aber als blosse Aeusserung eines dynamischen Prinzips, wie
z. B. Job. de Gorter. Der Begriff Irritabilität büsste bei diesen Versuchen
seinen ursprünglichen Sinn bald ein, indem die Autoren ganz willkürlich
darunter nicht allein die Kontraktilität der Muskeln, sondern die Reaktion
auf Reize, „Incitabilität" verstanden. Wie weit man abwich . zeigt das Bei-
spiel des Pathologen Gaub, der die Irritabilität gar als krankhafte Steigerung
der organischen Grundkraft erklärte, vermöge welcher sie auf geringe Reize
mit übermässigen Bewegungen antwortet.
Die fortschreitende empirische Forschung beeinflusste freilich die
spekulative Richtung in hohem Masse. Zunächst deckte die Physiologie
die hohe Bedeutung auf, welche die Nerventhätigkeit für die Muskelaktion
besitzt, infolgedessen postulierten manche die Seele (Unzer), oder ein
empfindendes Prinzip (ÄVhytt), oder den „Nervengeist" (E. Platner), oder
die „Nervenkraft" (Cullen) als letzte organische Triebkraft. Bei dieser An-
näherung an Stahl oder Hoffmann wurde de facto die Muskelirritabilität
der Nervensensibilität untergeordnet. Weiterhin lehrte die Forschung, dass
nicht nur die Muskeln und Nerven, sondern alle Bestandteile des lebenden
Organismus sich gegen äussere Einwirkungen in einer Weise verhalten, welche
durch die Gesetze der toten Natur nicht in ihrer Gänze zu erklären ist ;
dieser Thatsache gab man dadurch Ausdruck, dass man von einer spezifischen
Sensibilität und Irritabilität z. B. der Drüsen, Gefässe, Knochen etc. sprach
und dieselben als charakteristische Vitalphänomene einer höheren Grundkraft,
dem Lebensprinzip, der Lebenskraft, unterwarf. Auf diese Gedankengänge
sind die meisten Systeme psychologisch zurückzuführen.
Im historischen Entwicklungsgange reihten sich an Boerhaave,
Stahl und Hoffmann eine grosse Zahl von medizinischen Theoretikern,
deren Systeme die alten Ideen mit der Irritabilitätslehre in ver-
schiedenartiger Auffassung verwoben. Eingeleitet wurde diese geistige
Bewegung durch einen Schüler Boerhaaves, Hieronymus David Gaub
(1704—1780), welcher einem weitgehenden Eklektizismus huldigte,
durch Theophile de Borden (1722—1776), der den Animismus Stahls
auf Grund neuer Erkenntnisse in den Vitalismus umwandelte und
William Cullen (1712—1790), dessen System im wesentlichen das
solidistische Lehrgebäude Hoffmanns zur „Nervenpathologie" einengte.
I
Einleitung. 87
Gaiib. dessen Institutiones pathologiae mediciiialis (1758) lange
Zeit eine massofebende Eolle als Lehrbuch der Pathologie spielten,
verfolgte lediglich die Absicht, das System Boerhaaves durch Auf-
nahme neuer Elemente aus den herrschenden Doktrinen zu verjüngen
und mit der Irritabilitätslehre zu verknüpfen. Sein Eklektizismus,
der humorale, mechanistische und dynamistische Grundsätze (Lebens-
kraft) vereinigte, wurde zur Quelle für die Späteren, konnte aber
naturgemäss keine Führerrolle beanspruchen. Immerhin trug sein sehr
verbreitetes Buch, in dem in verdienstvollster Weise die Krankheits-
ätiologie und Disposition Berücksichtigung finden, und das zum ersten
Male wieder rationelle Ansichten über Infektionskrankheiten ver-
breitete, manches dazu bei, dass die deutsche Medizin sowohl die latro-
mechanik als den Animismus überwand und jener Lehre zusteuert,
welche beide versöhnte — dem Yitalismus. Diese neue Anschauungs-
weise, welche in ihrer Negation eine berechtigte Eeaktion gegen die
latrophysik darstellt, statuierte zwar ein höheres Leitprinzip, welches
die Herrschaft physikalisch-chemischer Gesetze im Organismus be-
schränkt oder modifiziert, betrachtete aber dieses oberste Prinzip nicht
als identisch mit der Psyche, sondern als eine Kraft höherer Ordnung.
Greifbare Formen daukte der Vitalismus zuerst der Schule von
Montpellier, vor allem ihren ruhmvollen Sprössling. Theophile de
B 0 r (1 e u. Beseelt von hippokratischem Geiste, der gerade an dieser ehr-
würdigen Stelle besondere Schätzung genoss, beeinflusst vom Stahlianis-
mus. der durch Sauvages Eingang gefunden hatte, vertiaut mit den
umwälzenden Lehren Hallers. war Borden den Weg der eigenen
P'orschung und selbständigen Beobachtung gegangen, und dieser Weg
führte ihn zu einem Ziele, das von den herrschenden Doktrinen weit
abseits lag. Während Haller nur an Muskeln und Nerven vitale,
d. h. physikalisch-chemisch nicht erklärbare Vorgänge beobachtete,
fand Borden, im Gegensatz zu allen Zeitgenossen, dass auch die auf
Filtration zurückgeführte Drüsenabsonderung weder durch die mecha-
nischen Verhältnisse noch vermittelst chemischer Prinzipien verständ-
lich werde und daher ihren Grund in Gesetzen höherer Ordnung haben
müsste (Sur les glandes 1752). Um diese Thatsache auszudrücken,
schrieb er der Drüsensubstanz als solcher ein spezifisches Vermögen
zu. Stolfe aus dem Blute heranzuziehen und zu verarbeiten und stellte
ihre Thätigkeiten mit der Muskelkontraktilität und Nervensensibilität
in Analogie. Weitergehend glaubte Borden schliessen zu dürfen, dass
jedem Teil des Körpers ein eigenes Leben, mit den Grundphänomenen
der Empfindung und aktiven Bewegung zukomme (vita propria) und
dass jedes Gebilde, obschon in sehr verschiedenem Grade Sensibilität
und Motilität besitze, deren besondere Art die Verschiedenheit der
Funktion bestimme. Die Quelle der Sensibilität bilde das Nerven-
system, das auch die Sekretion reguliere, namentlich der Plexus solaris
und das Gehirn, das in so viele Bezirke geteilt sei, als der Körper
Organe besitze (Lokalisation!). Die letzte Ursache aller Lebens-
vorgänge sei die „Natur", welche die Einheit im Organismus begründe
und ihm eine gewisse "\Mderstandsfahigkeit gegen die Aussenwelt
verleihe. Ueber das Wesen dieses obersten Prinzips verlor sich Borden
in keinerlei fruchtlose Abstraktionen, sondern begnügte sich mit der
Analyse der physiologischen Funktionen und pathologischen Phänomene.
Die gleiclie Methode — Analyse der Einzelfälle — beobachtete er
auch in der Pathologie, wodurch er zur exakten positiven Richtung,
88 Max Neubnrger.
welche zuerst in die französische Medizin Eingang fand, den An-
stoss gab.
Die Veränderungen des Blutes, Kachexien, hielt Borden nicht für che-
mische, sondern für vitale, hervorgerufen durch gehinderte Ausscheidung oder
Resorption der Sekretionsstoffe (Vorahnung der Theorie der inneren Sekretion!).
Seine theoretischen Anschauungen Hessen sich ganz ungezwungen mit dem
Hippokratismus vereinigen und hinderten ihn nicht, mit unbefangenem Blick
einzelne vorzügliche Krankheitsbilder (Bleivergiftung) zu entwerfen. Sie
verschuldeten höchstens seine phantastische Pulslehre, nach welcher der
Affektion jedes einzelnen Körperteils eine besondere Pulsart entsprechen
sollte (Pulsus nasalis, pectoralis, renalis, intestinalis etc.).
Der Verzicht auf subtile Spekulation, die analytische Methode der
Untersuchung und die stete Beziehung zur praktischen Medizin, welche
Bordeus System kennzeichnen, bildeten die massgebenden Prinzipien
auch für die späteren französischen Vitalisten — ein Vorzug, der zum
grossen Teile den Einflüssen der Philosophie C o n d i 1 1 a c 's zu danken
ist, welche ausschliesslich auf Sinneserfahrung verwies und das ana-
lytische Verfahren (Zerlegung der Wahrnehmungen in Elemente) mit
darauffolgender Synthese als wissenschaftliche Methode empfalil. Auf
die Heilkunde hat diese Grundsätze zuerst der Schüler Bordeus, Paul
Joseph Barthez (1734 — 1806) angewendet, indem er auf dem Wege
der Analyse zu den „Elementen" der normalen und krankhaften Vor-
gänge vorzudringen und das Gleichartige durch „Synthese"' zu binden
bestrebt war.
Auch Barthez betrachtet als letzten Grund aller Lebensvorgänge ein
von der Seele gänzlich verschiedenes Lebensprinzip, dem keine eigene Existenz
zukommt, sondern das nur den Ausdruck der vitalen Fähigkeiten bildet.
(Nouveaux elemens de la science de l'homme 1778). Diese äussern sich
nicht bloss in Motilität und Sensibilität, sondern auch in der „force de
Situation fixe", d, h. in dem allen Körperteilen (auch dem Blute) zukommen-
den Vermögen, die Gestalt, Lage, Ausdehnung u. s. w. zu bewahren, be-
ziehungsweise Veränderungen auszugleichen. In der Pathologie spielen
dementsprechend die Abnormitäten der Sensibilität, der Motilität, der Force
de Situation fixe, die Schwäche des Nervensystems und die „Sympathien"
eine wichtige Rolle. Dass ein Forscher, der eine eigene Restitutionskraft
hypostasierte, in der Krankheitsauffassung der Naturheilkraft Rechnung
tragen musste, ist selbstverständlich ; deshalb unterschied Barthez drei
therapeutische Methoden, von denen die erste die Regelung der Naturheil-
kraft bezweckte, während die beiden anderen der Behandlung der Krank-
heitselemente dienen sollten. Borden und Barthez hatten eine Reihe von
Nachfolgern, welche in praktischer Hinsicht durch Zerlegung der ICrank-
heitsbilder in ihre Grunderscheinungen manch Erspriessliches leisteten und
sich hiedurch immer mehr dem Lokalisationsprinzip näherten. Die
vitalistische Theorie konnte aber nicht weiter geführt werden, es sei denn,
dass man zu animistischen Spekulationen (Grimaud) sachte zurückgriff oder
aber das Lebensprinzip in eine Anzahl von organischen Kräften auflöste,
wie dies Ch. Louis Dumas (1765 — 1813) that, der die Einheit des Organis-
mus fallen Hess und neben der Sensibilität eine motorische, eine assimilierende
und eine Kraft des vitalen Widerstands statuierte.
Parallel zum Vitalismus entwickelte sich inzwischen auf Grund-
lage der Irritabilitätslehre eine zweite Richtung, die sich zu ihm
}.
Einleitung. 89
ganz ebenso verhält, wie die Lehre Hoffmanns zum Animismus, d. h.
im Inhalt stimmen beide Richtungen fast überein, und nur das Grund-
prinzip ist bei der einen mehr abstrakt, bei der anderen mehr
materiell gedacht. Diese zweite Richtung, welche in Edinburg durch
William Cullen begründet wurde, war die sogenannte Nervenpatho-
logie, derzufolge jede organische Erscheinung von der ..Nervenkraft"
und ihren Abnormitäten herstammt. Unbefriedigt von der latro-
mechanik (Nicolaas und Bryan Robinson), von Boerhaave und Stahl,
welche in England um die Mitte des 18. Jahrhunderts viele An-
hänger zählten, fand Cullen in Hoffmanns Sj'stem und in Hallers
Irritabilitätslehre manche Anhaltspunkte, die mit seinen praktischen
Erfahrungen im Einklang zu stehen schienen. Aus diesen Elementen
baute er in scharfsinniger Weise, mit eiserner Konsequenz, aber auch
mit grösster Einseitigkeit seine eigene Theorie, die als Frucht vierzig-
jähriger Erfahrung in seinen First lines of the practice of physick
(1777) niedergelegt ist und sehr bald auch ausserhalb Englands
Verbreitung fand. Die Thatsache, dass seit Willis das vStudium
der Nerven und ihrer Affektionen in England besonders gepflegt
wurde, mag viel zur Entstehung der „Nervenpathologie"' beigetragen
haben. Nach Cullen erhält die animale Kraft oder Energie des Nerven-
systems den normalen „Tonus" der festen Teile und bedingt die an
sie gebundenen Bewegungserscheinungen. Ist die Nervenkraft durch
Reize gesteigert oder herabgesetzt und demgemäss der Tonus geändert,
so entsteht Krankheit, die also in „Spasmus" oder „Atonie" besteht.
Bemerkenswerterweise vertritt Cullen mit besonderem Nachdruck
die Ansicht, dass der Spasmus nicht immer durch ein Uebermass der
Nervenkraft, sondern sogar sehr häufig (z. B. in Krämpfen) durch
Schwäche des Nervensystems, welche auch als Reiz wirkt, hervor-
gerufen wird. Namentlich das Fieber beruht auf einer durch äussere
Schädlichkeiten erzeugten, verminderten Energie des Gehirns.
Cullen gehört zu den wenigen Autoren der alten Litteratur, welche
bemüht sind, den Krankheitsprozess zu analysieren und davon eine
plastische Darstellung zu liefern. Als Beispiel möge das Fieber dienen,
dessen einzelne Symptome in ihrer Succession folgendermassen erklärt werden.
Infolge der durch Schädlichkeiten (Kälte, Miasmen, Kontagien etc.) erzeugten
„Schwäche" des Gehirns entsteht Spasmus der peripheren Gefässe, dem der
rieberfrost entspricht. Durch die Fortleitung des Krampfes auf Schlagadern
und Herz, durch das Zurücktreten des Blutes nach den Organen wird das
Hitzestadium und die vermehrte Pulsfrequenz veranlasst, welche andauern,
bis der Spasmus an der Peripherie überwunden ist. Nach der Stärke der
Reaktion im Gefässsystem unterscheidet Cullen Fieber mit schwacher (Typhus),
mit starker (Synocha), mit gemischter Reaktion (Synochus).
Nach dem angegebenen Prinzip werden (mit Ausnahme der
Skropheln und des Skorbuts) nicht nur die Neurosen, sondern sämt-
liche Affektionen (auch die Gicht!) in letzter Linie von Anomalien
des Nervensystems hergeleitet und ebenso auch die \\'irkung der
Medikamente erklärt. In berechtigtem Gegensatz zur üblichen aus-
leerenden Methode empfahl Cullen neben diätetischen Massnahmen
tonisierende (Wein, China, Kampfer u. a.) und krampfstillende Mittel
(z. B. Opium).
Abgesehen von englischen Anhängern (Gregory, Macbride. Mus-
grave), welche manche neue Auffassungen hineintrugen, wurde Cullens
90 Max Neuburger.
Lehre von de la Roche in Paris, Vacca Berlinghieri in Pisa, nament-
lich aber von deutscher) Aerzten, zum 'l'eil infolge der Beziehungen
der Göttinger Schule zur englisclien Medizin vertreten. Hoft'manns
System und der besonders durch Unzer konkreter gestaltete Stahlia-
nismus hatte in Deutschland den Boden für die Nervenpathologie
geradezu vorbereitet, Hallers Irritabilitätslehre gab ihr die wissen-
schaftliche F'olie.
Unter den deutschen Vertretern ragen A. Thaer (1752 — 1828), Chr.
Fr. Eisner (1749— 1820) und Job. Ulrich Gottl. Schäfer (1753— 1826) her-
vor, welche auf veränderte Reizbarkeit oder Sensibilität alle krankhaften
Phänomene zurückführten. Ein Kompendium der nervosistischen Solidar-
pathologie verfasste Kurt Sprengel (1766 — 1833).
Anfangs im Zusammenhang mit der Nervenpathologie, später
selbständig, entwickelte sich aus dem Animismus der deutsche Vitalis-
mus. Während aber die französischen Vitalisten im Lebensprinzip
nur den Ausdruck unbekannter Erscheinungen erblickten und ohne
hohle Abstraktionen über die letzte Ursache die reale Forschung
durch die analytische Methode erweiterten, folgte eine grosse Zahl der
deutschen Aerzte ihrem angestammten Spekulationstrieb und er-
schöpfte sich in scholastischen Grübeleien über Wirkung und Wesen
der metaphysischen „Lebenskraft", die zumeist als selbständige,
virtuelle Potenz betrachtet wurde.
Der erste deutsche Arzt, welcher d6n Terminus gebi'auchte, war
Fr. C. Medicus (1736—1808), der in seiner Schrift „über die Lebens-
kraft" (1774) den Satz aufstellte, dass zwischen der vernünftigen
Seele und der organischen Materie noch ein drittes Prinzi]) vorhanden
sein müsse, welches mittels des Nervensystems die unwillkürlich und
unbewusst verlaufenden Lebensvorgänge reguliere. Damit war das
Losungswort für Dezennien und für alle diejenigen gegeben, welche
dankbar jedem Schlagwort huldigen, das weiteres Denken und mühe-
volle Einzeluntersuchung scheinbar überflüssig macht.
Andererseits zeigt es sich gerade in dieser Epoche deutlich, dass
geniale Köpfe die Forschung durch fruchtbare Ergebnisse zu fördern
vermögen, unter welchem Gesichtswinkel immer die Dinge betrachtet
werden mögen. So war es der Begründer der Anthropologie, Joh. Fried-
rich Blumenbach (1752 — 1840), der trotz oder vielleicht gerade wegen
seiner vitalistischen Grundvorstellungen den einseitigen Auffassungen,
welche mit den Begritfen der Irritabilität und Sensibilität das ganze
Spiel des Lebens umfassen zu können glaubten, wirksam entgegentrat
und von neuem die Aufmerksamkeit auf die Phänomene der Ernährung,
der stolflichen Umsetzung, des Wachstums und der Reaktion lenkte.
Darin liegt ein grosses Verdienst ! Während aber Blumenbach erst am
Schlüsse seiner sorgsamen exakten Untersuchungen eine Grenze fand,
über die seine mechanischen Vorstellungen nicht hinauszudringen ver-
mochten und in weiser Erkenntnis die unbekannten Glieder der
Gleichung als planmässig schatfenden „Bildungstrieb" („nisus forma-
tivus") bezeichnete, wurde dieser neue Terminus für die Masse der
Nachbeter zum Fetisch, dem sie durch windige Dialektik und gaukle-
rische Spitzfindigkeit dienen konnten, ohne das Feld der ehrlichen
wissenschaftlichen Arbeit betreten zu müssen.
Der fascinierenden Anziehungskraft der Spekulation, welche jeden
mit magischen Banden umschlingt, der nur um Haaresbreite ihren
Einleitung. 91
Irrgarten betreten hat, vermochte auf die Dauer selbst ein so er-
leuchteter und für praktische Forschung- prädestinierter Geist nicht
zu widerstehen, wie es Joh. Christian Reil (1759—1813) war, der in
seinen frühen Perioden hinsichtlich der ..Lebenskraft-' einen Stand-
punkt einnahm, der von vielen hervorragenden Männern der Gegen-
wart geteilt wird.
In seiner berühmten Abhandlung über die Lebenskraft (1796),
die immer klassisch bleiben wird, spricht Eeil den denkwürdigen Satz
aus, „dass der Grund aller Erscheinungen, die nicht Vorstellungen sind,
oder nicht mit Vorstellungen als Ursache oder Wirkung in Verbindung
stehen, in der tierischen Materie, in der ursprünglichen Verschiedenheit
ihrer Grundstoife und in der Mischung und Form derselben beruhen".
Mischung und Form sind die Grundursachen aller materiellen Er-
scheinungen, „Kraft" ist nur der subjektive Ausdruck für das Ver-
hältnis der Erscheinungen zu den Eigenschaften der Materie, durch
welche sie erzeugt werden. In solcher Auffassung verliert auch die
,.Lebenskraft" alles Mystische, sie bezeichnet keine virtuelle Potenz,
der die physikalisch-chemischen Kräfte untergeordnet sind, sondern
(wie die physikalischen Kräfte) nur einen Begriff, einen provisorischen
Ausdruck für das Verhältnis, in welchem die noch wenig ergründeten,
materiellen Eigenschaften der lebenden Teile zu den von ihnen aus-
gehenden Lebenserscheinungen stehen. Der Organismus stellt eine
Republik dar, in welcher alle Teile zur Erhaltung des Ganzen nach
bestimmten Gesetzen zusammenwirken, jedes Organ, jedes Gewebe be-
sitzt aber seine eigene Existenz (vita propria) seine eigenen Lebens-
erscheinungen, seine eigene Erregbarkeit und Krankheitsanlage.
Diese ausgezeichneten Grundsätze, welche den französischen Vita-
lismus sowohl an Tiefe, wie an Nüchternheit noch übertrelfen. weil sie
es unentschieden liessen, ob das Lebensprinzip Ursache der Form und
Mischung oder ob das Leben nur das Produkt der Form und Mischung
ist, hätten den Ausgangspunkt für erneutes Forschen mittels der
Naturwissenschaften bilden können. Aber auch Eeil, der mit Genialität
alle Zweige der theoretischen und praktischen Heilkunde beherrschte,
sich durch seine bahnbrechenden Arbeiten über Gehirnanatomie, durch
seine Verdienste um die Psychiatrie einen unvergänglichen Namen er-
worben hat, folgte in späteren Jahren dem philosophischen Zuge der
Zeit, und derselbe Forscher, der, nach Berlin berufen, sofort einen
Anatomen und Kliniker in den Dienst der Klinik stellte, verlor sich
allmählich ins Gestrüpp der aprioristischen Abstraktion. Die Folgen
waren umso schlimmer, als sich die Kärrner selbstgefällig auf die
Autorität einer Persönlichkeit wie Reil berufen konnten.
Durch Gautier, Brandis u. a. Autoren, namentlich aber unter dem
Einfluss des berühmten Praktikers Hufeland gelangte der Vitalismus zu
einer dezennienlang fast unbestrittenen Herrschaft, da das System der
theoretischen Spekulation einen festen ßuhepunkt gewährte und sich in der
Praxis gerade mit den hippokratischen Prinzipien aufs beste vereinigen
Hess. Chr. W. Hufeland (1762—1836) wollte mit der ..Lebenskraft'' mü-
der Thatsache der Einheit des Leßens Ausdruck geben und verstand darunter
nur das allgebraische x, in der Formel der organischen Erscheinungen, nicht
aber ein nach eigenen Gesetzen thätiges, dynamisches, dämonisches Prinzip.
Die Nachfolger scheuten sich aber nicht davon abzuweichen und erklärten
jedwede Thätigkeit, die nach dem damaligen Standpunkt der Naturwissen-
92 Max Neu burger.
Schaft dunkel bleiben musste, durch die Lebenskraft oder durch eine be-
sondere Modifikation der physikalisch-chemischen Gesetze — ein Schluss,
dessen Wert mit jedem Fortschritt der exakten Wissenschaften wandelbar
ist und thatsächlich erst beim Vorhandensein der vollen Erkenntnis der
anorganischen Natur absolute Beweiskraft besitzt.
Die konsequente Ideenentwicklung, welche sich in den Lehr-
systemen des 18. Jahrhunderts kundgiebt und den Vordergrund des
historischen Schauplatzes in seiner ganzen Breite einnimmt, erweckt
fast den Anschein, als ob sich die gesamte ärztliche Forscherwelt
dieser Epoche wie ein einziges philosophierendes Individuum verhält,
in dessen Kopfe sich ein Gedanke nach dem anderen in rascher Ent-
faltung drängt.
Im Wesen lag aber all diesen theoretischen Abstraktionen nicht
so sehr die Sucht, durch schillernde Spekulation zu prunken, als das
wissenschaftlich gerechtfertigte Streben zu Grunde, die handwerks-
mässige Empirie zu überwinden und rationelle Leitsätze für die
praktische Berufsthätigkeit zu gewinnen. Die Not des Lebens,
die ungestümen Anforderungen des Tages, welche ohne
Rücksicht auf die erlangte Wissenshöhe vom Arzte
jederzeit ein ganzes Können erheischen und ihndadurch
in eine bedrängte Lage versetzen, die kein anderer
Naturforscher erfährt, drücken der ganzen wissen-
schaftlichen Bewegung den Stempel der Hast und Ueber-
eilung auf.
Zu allen Zeiten weiss sich nur die Minderzahl die nötige Ruhe
zu bewahren, welche zum langsamen Aufbau nötig ist! Eine solche,
rüstig strebende Minderzahl, welche zwischen theoretischen Stürmern
und banausisch am Althergebrachten hängenden Praktikern die
richtige Mitte hielt, mit Kelle und Schwert, abwehrend und bauend
für den Fortschritt thätig war, mangelte aber auch dieser Epoche nicht
gänzlich und ihrer stillen, vom Tosen der Zeitströmung übertönten
Arbeit, ihren reellen, aufs einzelne gerichteten Anstrengungen dankt
die moderne Wissenschaft weit mehr, als sie ahnt. Die Geschichte
als ti'eue, unbestechliche Hüterin der Wahrheit, hat die Aufgabe,
gerade diesen Männern gerecht zu werden, denen nur zum geringen
Teile neben der inneren Befriedigung auch der zeitgenössische Ruhm
vergönnt war, und deren grosse Leistungen unverdienterweise zu-
meist das Schicksal tragen, ebenso wie die einstige, vom Beifall um-
rauschte Systematik vergessen worden zu sein.
Unbeeinflusst vom Wandel der Theorien schritt nicht nur die
Chirurgie und Geburtshilfe (namentlich in Frankreich und England)
mächtig vorwärts, auch die innere Medizin wurde durch eine Fülle
von ausgezeichneten Beobachtungen der Praktiker erstaunlich er-
weitert und mit Hilfe der entwickelten Hilfszweige auf w-esentlich
bessere Grundlagen gestellt. Getragen vom Bewusstsein der Standes-
würde, als „Hausarzt" durch mannigfache Umstände auf denjenigen
Platz der Gesellschaft gerückt, den früher der Geistliche einnahm,
durch materielle Sorgen um des Lebens Nöten kaum bedrückt, konnten
sich die Praktiker in jenem goldenen Zeitalter mit innerer Weihe
so ganz ihrem edlen Berufe hingeben und durften freudig, der vollen
Befriedigung gewärtig, ihre Fähigkeiten in den ausschliesslichen Dienst
der Wissenschaft stellen. Gerade die geringe Entwicklung der dia-
Einleitung. 93
gnostischen und therapeutisclien Technik beförderte die Auslese der
Tüchtigen und schärfte das Auge, die tastende Hand für die scheinbar
unbedeutenden Symptome, lenkte die Aufmerksamkeit auf jedes un-
scheinbare Zeichen im Krankheitsverlaufe und liess denjenigen, der
die Kunst des Schauens verstand, in gereifter Erfahrung jenen sicheren
„Takt" erwerben, der über die schwierigsten Hindernisse hinweghalf,
der kundig der Voraussage den drohenden Gefahren entgegentrat. Und
mochte das Schiff lein der Heilkunst durch ungestümen Wogenprall
der Hj^pothesen bald emporgerissen, bald abwärts getrieben werden,
die Praktiker steuerten mit sicherem Griffe unbeirrt weiter, nur ge-
leitet von jenem Kompass, der unverrückbar hinwies auf die Sorgen
des Krankenbetts, auf das Wohl der leidenden Menschen !
"Was der Unterricht versäumte, der nur in Leyden, in Halle, in
Göttingen und Wien zur Blüte gebracht wurde, musste der junge Arzt im
vertrauten Umgang mit gereiften Kollegen nachholen, die es nicht fehlen
Hessen, durch deontologische und methodologische Schriften über den ärzt-
lichen Beruf (Hoffmann, Zimmermann) die ersten Schritte des jungen Adepten
zu leiten und ihm über unausbleibbare Enttäuschungen hinwegzuhelfen. Die
medizinische Journalistik, welche an Stelle des schleppenden gelehrten Brief-
wechsels und der wenig zugänglichen Akademieschriften neue Erfahrungen
mit Windeseile über die Lande hinwegtrug, diente den Zwecken der prak-
tischen Wissenschaft; in populärer Form (Tissot, Unzer), auch der „Auf-
klärung" des Volkes, das wie immer den Lockungen der Afterärzte und
Kurpfuscher nur allzuwillig Gehör schenkte.
üeber die Schwierigkeiten der Erkenntnis pathologischer Verhält-
nisse mit unbefangener Naivetät hinwegziehend, schilderten die besten
Praktiker ungekünstelt die Krankheitsbilder frei nach der Anschauung,
ohne sich vom Systemzwang oder einseitigen nosologischen Klassi-
fikationen, wie sie zur Ordnung und wissenschaftlichen Formung des
empirischen Materials von Sauvages, Cullen, Ploucquet, Sagar u. a.
unternommen wurden, allzusehr beschränken zu lassen. Vornehmlich
war England und Deutschland reich an solchen Aerzten, welche in
ihren Aufzeichnungen manches Wertvolle hinterlassen haben.
Die namhaftesten unter den grossen Praktikern sind die Engländer:
Georg Cheyne (1671 — 1743, Richard Mead (1673—1754), John Huxham
(1694—1768), John Pringle (1707—1782), Clifton Wintringham (1710—
1794), John Fothergill (1712—1780), William Heberden (1710—1801),
James Gi-egory (1758 — 1821); die Italiener: Borsieri de Kanifeld (1725—
1785) und Michael Sarcone ; die Schweizer: Joh. Georg Zimmermann
(1728 — 1795) und Simon Andre Tissot (1728—1797); die Deutschen:
Paul Gottlieb AVerlhof (1699—1767), Balthasar Ludwig Tralles (1708 —
1797), Rudolf Augustin Vogel (1724—1774), Benjamin Lentin (1736—
1804), Philipp Gabriel Hensler (1733— 1805), Joh. Ernst AVichmann (1740—
1802), Marcus Herz (1747—1803), Franz Xaver Mezler (1756—1812),
Christian Gottfried Seile (1748—1800), Chr. W. Hufeland; der Däne:
Friedr. Ludw. Bang (1747 — 1820) und der Schwede: Nils Rosen von Rosen-
stein (1706—1773).
An den hohen Schulen herrschte im allgemeinen noch der Geist
der wissenschaftlichen Dogmatik vor, wegen mangelhafter Unterrichts-
und Forschungsbehelfe vermochten sie die ärztliche Ausbildung und
Forschung nicht in dem Grade zu fördern, wie man es ihrer grossen
94 Max Neubiirger.
Zahl nach erwarten sollte. Ausnahmen bildeten in Deutschland nur
die medizinische Fakultät Göttingen, die ihren Glanz dem Genius
Hallers, sowie den Einflüssen der englischen Medizin dankte und die
Wiener Schule, welche der grosse Schüler Boerhaaves, Gerhard
van Swieten (1700 — 1772), durch seine rastlose, umgestaltende Reform-
thätigkeit vom Druck des Obsciirantismus befreite und zur ersten
Pflegestätte der ärztlichen Kunst erhob. Die Wiener Klinik,
welche nach dem Vorbilde der Leydener eingerichtet
w^urde, war die Klinik xar"* e^oxt]v, sie bewahrte nunmehr als
köstliches Kleinod das Palladium klinischer Meisterschaft. In den
Boden der altehrwürdigen Kulturstätte überpflanzt, trieb der Baum
der holländischen Klinik bald mächtige, unausrottbare Wurzeln, dazu
angelegt, den Wechsel der Anschauungen überdauern zu können.
Van Swieten begnügte sich in seiner anspruchslosen Weise da-
mit, die Lehren und Einrichtungen seines Meisters zu übermitteln,
und wie er die ganze Summe seiner ärztlichen Erfahrung trotz neuen
reichhaltigen Inhalts pietätsvoll bloss in Form von „Commentaria" zu
den Aphorismen seines Meisters veröffentlichte, auf eigenen Ruhm be-
scheiden Verzicht leistend, so hielt er encj^klopädische Vorlesungen für
die Aerzte aus seiner Umgebung nur in der Absicht, um aus ihnen
Lehrer im Geiste Boerhaaves heranzuziehen. Wie er als Schriftsteller
die Erläuterung der „Institutiones" dem höheren Talente Hallers über-
liess, so berief er als ersten Kliniker seinen einstigen Mitschüler,
Anton de Haen (1704 — 1776), an die eben geschatfene Unterrichts-
stätte, beseelt von selbstlosem Eifer, jeden zu fördern, von dem er-
spriessliche Leistungen für das Gemeinwohl zu erwarten waren. Und
in der That ! Anton de Haen, ein Forscher voll Energie und Scharf-
sinn, ein Gelehrter, der sich eigene Ueberzeugungen zu bilden gewohnt
war, ein Lehrer, der über die zündende Gewalt des Wortes verfügte,
wusste seinen Platz an verantwortlicher Stelle, die Erwartungen noch
übertreifend, auszufüllen.
Freilich mangelt es nicht an Sonnenflecken und wahrlich, man hat
nicht unterlassen, in der Schilderung de Haens das Hauptgewicht auf seinen
masslosen Eigendünkel, seinen Neuerungshass, seine Unduldsamkeit gegen
Andersdenkende, namentlich aber auf seine kulturfeindliche Verteidigung des
Hexenglaubens zu legen. Glücklicherweise spielen aber in der Geschichte
des menschlichen Geistes die persönlichen Eigenschaften der Personen nur
eine höchst untergeordnete Rolle, nur ihre Ideen, soweit sie von Tragweite
waren, fallen ins Beobachtungsfeld, Und bildet es auch eine kulturgeschicht-
liche Merkwürdigkeit, dass ein geistvoller Kliniker mitten in der Zeit der
Aufklärung einem finsteren "Wahnglauben das Wort sprach — Analoga
finden sich übrigens auch heute — , so kommt dieser Verirrung glücklicher-
weise deshalb keine Bedeutung zu, weil der bessere Teil der Menschheit
davon nicht mehr berührt werden konnte. Mit dem endgültigen Siege des
Guten und Wahren kommt nur mehr dasjenige in Betracht, was das Einzel-
individuum Gemeinnütziges — das einzig Positive — geleistet hat.
Anton de Haen wurde das Vorbild jenes nüchternen, nur an
realen Thatsachen haftenden Skeptizismus, welcher die Wiener Schule
in den verschiedenen Zeitläufen fortan vorteilhaft kennzeichnete. Seine
mannigfachen Verdienste, seine Vorzüge und Mängel lassen sich sämt-
lich darauf zurückführen, dass er die Suprematie der klinischen
Erfahrung verteidigte, die klinische Krankenbeobachtung als höchste.
Einleitung. 95
ja einzige autokratische Instanz für alle medizinischen Fragen ansah,
und im Geiste Sydenhams der physiologischen Forschung höchstens
eine beratende, aber keine entscheidende Bedeutung beimass. Xicht
der Pbj'siologe, sondern der Kliniker sollte nach seiner Meinung das
letzte Wort haben und im Falle des Widerspruchs zwischen beiden
sollte der erstere vor der „Erfahrung" des letzteren verstummen.
Daraus erklärt sich der scheinbare Widerspruch, dass Anton de
Haen zwar mit Hyperkritik vielen angeblich exakten Experimental-
ergebnissen seines Zeitalters entgegentrat, aber doch im Interesse
klinischer Zwecke (z. B. über die Gerinnung des Blutes, Eiterbildung,
Harnveränderungen, über Erstickungs- und Ertrinkungstod etc.) sehr
eifrig experimentierte, dass er die Fahne des Hippokratismus und
leider auch der Humoralpathologie mit zähem Konservatismus gegen
die „Neuerer" als „asystematicus" verteidigte, und doch durch Ein-
führung der exakten thermometrischen Messungen, durch
Aufstellung neuer Krankheitsbilder, durch häufige und sorgfältige
Leichenuntersuchungen, durch Anwendung neuer therapeutischer Me-
thoden (Elektrotherapie) die Grenzen des Ueberkommenen verliess. Als
Kliniker, der mit offenen Augen zu beobachten gewöhnt w-ar und
gerade in der unbefangenen Beobachtung das Wesen des Hippo-
kratismus erkannte, galt ihm ein solcher Neuerwerb nur als wurzel-
echter Sprössling der hippokratischen Muttererde. Die stete Sorge,
mit der Tradition nicht zu brechen, hinderte ihn freilich, viele seiner
weitblickenden Bemerkungen und überraschenden Beobachtungen, wie
sie sich in seiner Ratio medendi vorfinden, in einer fruchtbringenden
Weise für Praxis und Theorie auszunützen und verleitete ihn, neben
dem kühlenden Verfahren allzuhäufig den Aderlass zu gebrauchen.
Der Nachfolger de Haens, Maximilian Stoll (1742—1788), einer
der berühmtesten und beliebtesten Lehrer seiner Zeit, ein Kliniker, zu
dem Schüler von Nah und Fern in Scharen strömten und dessen patho-
logische Grundanschauungen dezennienlang den „hippokratischen"
Aerzten als Dogma galten, brachte die ältere Wiener Schule auf den
Gipfelpunkt des Ruhmes. Harmonisch veranlagt, liebenswürdig ent-
gegenkommend, ein Freund der guten Formen, steht er schon äusser-
lich in einem gewissen Kontrast zu dem düsteren Haen. Dieser äussere
Kontrast, der sogar in der anheimelnden Diktion seiner Werke her-
vortritt, ist nur das Spiegelbild des inneren Gegensatzes, der z"ttischen
beiden Männern obwaltet, denn wiewohl beide strenge hippokra tisch
denken, so vertreten sie doch verschiedene Seiten des Hippokratismus,
Haen als ungestümer, nie zum Abschluss gelangender ^^'ahrheits-
sucher. Stoll als humoraler Dogmatiker, dem in olympischer Ruhe stets
das Ganze im einzelnen vorschwebt.
Wenn er auch mit Sorgfalt und Liebe ebenso wie sein Vorgänger
die Kasuistik pflegte, mit vollendeter Meisterschaft Krankheitsbilder
(z. ß. Lungentuberkulose, Bleikolik etc.) entwirft und die pathologische
Anatomie keineswegs unterschäzt, so war doch sein Sinn vorwiegend
den Epidemien, der Erforschung der Krankheitsätiologie zugewandt.
Mehr den Allgemeinzustand als das lokale Symptom ins Auge lässend,
legte er beispielsweise auf die exakte Puls- und Temperaturmessung
weit weniger Gewicht als de Haen und machte die Behandlung ähnlich
wie Sydenham, vom „Genius epidemicus", dem Inbegrifl" der sorgfältig
studierten meteorologischen Verhältnisse abhängig. Dieser Betrach-
tungsweise dankte die Einseitigkeit ihren Ursprung, mit der er lange
96 Max Neuburger.
Zeit fast sämtliche Fieber und entzündliche Krankheiten auf einen
„gastrisch-biliösen" Grundcharakter zurückführte. Wiewohl
Stoll später selbst von dieser Ansicht und von der daraufgebauten
antigastrischen Therapie (Brechmittel) Abstand nahm, so hatte doch
seine Autorität schon zu tief auf das Denken der Aerzte eingewirkt
und bis in die Mitte des 19. Jahl-hunderts setzte sich bei vielen die
Tradition fort, jede Kur mit einem Brechmittel zu beginnen.
In neuester Zeit ist die, auch den Laien sehr einleuchtende gastrische
Grundlage vieler Affektionen (auch Neuralgien, Psychosen) in beschränktem
Masse wieder als etwas Neues zu Ehren gekommen. Vor Stoll hatten schon
Tissot, Grant, Finke auf diese Aetiologie aufmerksam gemacht, nach Stoll
trat eine grosse Zahl von Acrzten auf, welche auf Grund sehr vager Zeichen
(belegte Zunge, Aufstossen, Ekelgefühl etc.) viele, besonders epidemische
Krankheiten durch die gastrisch- biliöse Theorie erklärten. Das Höchste
leistete darin der hessische Leibarzt Johann Kämpf (1726 — 1787), welcher
die meisten chronischen Krankheiten von „Unterleibs-Infarkten" ableitete
und gegen dieselben mit „Visceral-Klystieren" zu Felde zog.
Der Anwendung von Brechmitteln hatte übrigens schon vorher ein
Schüler van Swieten grossen Vorschub geleistet, nämlich Anton Störck
(1731 — 1803), ein Forscher, der sich durch die seit Wepfer und Wilhs
kaum gepflegte experimentelle Prüfung der Arzneimittel
(Schierling, Bilsenkraut, Colchicum, Akonit) ausserordentliche Verdienste er-
worben hat ; mangelte es ihm auch an hinreichender Kritik, so hat er doch
die richtige Methode gewählt und damit die Pharmakodynamik inauguriert.
Von den späteren Klinikern der Wiener Schule sind ganz be-
sonders der vielseitige Job. Peter Frank (1745 — 1821), welcher zwar
vorwiegend den Spuren des Hippokrates und Sydenham folgte, aber
sich neuen Richtungen doch weit mehr als seine Vorgänger zugänglich
erwies, auch mehr und mehr auf die soziale als auf die individuelle
Medizin das Hauptgewicht legte, sowie Job. Valentin Hildenbrand
(1763 — 1818) der Verfasser eines noch heute lesenswerten Werkes
„über den ansteckenden Typhus" hervorzuheben.
Die Saat, welche van Swieten ausgestreut hatte, fiel in "Wien auf guten
Boden. Eine Reihe von ausgezeichneten Praktikern, welche hier wirkten
oder ihre Ausbildung erlangten und von denen manche glänzende Leistungen
aufweisen konnten, begründeten den medizinischen Ruf der alten Kaiser-
stadt: Job. Georg Hasenöhrl, ein guter epidemiologischer Schriftsteller,
Josef Eyerel, der Stolls nachgelassene Schriften herausgab, A. Plenciz,
d er Verf e cht er des Contagium animatum, Pascal Jos. Ferro
(Wasserheilkunde, Sauerstofftherapie), Adam Chenot, einer der besten
Pestschriftsteller, Jos. Lautter (Intermittens), J. B. M. Sagar (Typhus,
nosologischer Klassifikationsversuch), Stefan Weszpremi (Geburtshilfe, In-
okulationsversuche mit Pesteiter), Wenzel Trnka von Krzowicz (Monographien
über verschiedene Leiden), Jacob v. Plenk (Hautkrankheiten u. a.).
Der hervorstechendste Grundzug der älteren Wiener Schule liegt
darin, dass sie inmitten einer spekulativ angelegten Zeit die nüchterne,
klinische Thatsachenforschung auf den Schild hob und für
die praktische ärztliche Thätigkeit nur jenen theoretischen Rückhalt
benutzte, der durch den Hippokratismus, in seiner üblichen Auffassung
gegeben war, also die — Humoralpathologie. Durch Stoll stei-
gerte sich dieselbe zu einer Ausartung in den — Gastricismus.
Einleitung. 97
Als Bannerträgerin der Humoralpathologie, welche Boerhaave, wie er-
wähnt, zu Gunsten der latrophysik wesentlich modifiziert hatte, trat die
Wiener Schule in scharfen Gegensatz zu den solidaristischen Systemen des
18. Jahrhunderts. Unabhängig von ihr wurde die Humoralpathologie nur
von Christian Ludwig Hoffmann (1721 — 1807) vertreten, welcher ihre
chemiatrische Fassung mit solidaristischen Elementen zu einem neuen Systeme
verschmolz. Nach seiner Anschauung besteht die allgemeinste Ursache des
Erkrankens in Fäulnis, Säuerung, Entartung u. s. w. der Säfte. Nament-
lich ist das Blut der beständige Quell fauliger, scharfer Stoffe, wenn ihre
Ausscheidung durch die dazu bestimmten Organe nicht von statten geht.
Die sauren Schärfen oder die faulige Materie wirken aber nicht chemisch,
sondern als krankhafte Reize auf die festen Teile, namentlich auf das Nerven-
system. Die Therapie hat Säuren oder Alkalien oder (gegen die vermeint-
liche Fäumis) „antiseptisch e^ Substanzen anzuwenden, zu welchen
Hoffmann die sonst als Reizmittel bezeichneten Stoffe, z. B. Chinarinde,
Kampfer etc. rechnet.
Trotz der schönen Anfänge Anton de Haens schritt die Wiener
Schule über den antiken Hippokratismus kaum hinaus, sie schwang-
sich weder zur Lokaldiagnostik empor, noch suchte sie die
tieferen. Relationen zwischen Leichenbefund und in
vivo beobachteten Symptomen auf.
Diese beiden Grundlagen der modernen Heilkunst dankt die
Aerzteschaft dem Anatomen Giovanni Battista Morgagni und
dem sehlichten Praktiker, der aus der Wiener Schule stammte, Joseph
Leopold A u e n b r u g g e r.
Das Jahr 1761 gehört zu den bedeutungsvollsten in der Geschichte
der Medizin, in diesem Jahre erschienen zwei Schriften, die sich dem
Werte nach Vesals und Harveys Meisterwerken anreihen: Mor-
gagnis Schrift „über den Sitz und die Ursachen der
Krankheiten" und A u e n b r u g g e r s ,,I n v e n t u m n o v u m ex per-
cussione thoracis humani ut signo abstrusos interni pectoris morbos
detegendi". Durch das erstgenannte Buch, die Lebensarbeit eines
79jährigen Greises, wurde die pathologische Anatomie wissen-
schaftlich begründet und in innigen Zusammenhang mit der prak-
tischen ^Medizin gebracht, durch Auenbruggers Schrift, die Schöpfung
eines 39 jährigen Mannes, die physikalische Diagnostik
inauguriert. Es sind die beiden grössten Leistungen, welche die medi-
zinische Wissenschaft des 18. Jahrhunderts zu verzeichnen hat, im
Vergleich mit ihnen erbleichen alle übrigen! Wie so oft, so zeigt es
sich auch hier, auf welch schwachen (Gründen das Urteil der Zeit-
genossen ruht, denn nur wenige folgten den grossen Pfadfindern auf
dem neuen Wege, und kein einziger erkannte, dass dieser Weg allein
aus dem Dickicht, aus dem Gestrüpp hinausführte auf die freie Strasse
der realen Erkenntnis.
Morgagni (1682—1771), der Zeitgenosse hervorragender italienischer
Anatomen, war der Schüler Valsalvas und Albertinis, war der Freund
Lancisis. Morgagni stand somit in naher Verbindung mit Forschern,
welche die pathologische Anatomie auf einzelnen Gebieten schon
wesentlich gefördert hatten, auch fehlte es ihm nicht an Vorbildern in
der pathologisch-anatomischen Litteratur (besonders das umfangreiche
Sammelwerk von Bonet). Worin er seine sämtlichen Vorgänger über-
ragte, das war nicht allein der unvergleichliche Eifer, mit dem er die
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 7
98 Max Neuburger.
g-esamte Patholog'ie bearbeitete, die unübertreifliche Genauigkeit, mit
der er auch scheinbar alltägliche Veränderungen beschrieb, die scharfe
Kritik, mit der er die Grenzen des physiologischen und pathologischen
Verhaltens festzustellen bemüht war, das Neue und Bahnbrechende
liegt vielmehr in der planmässig verwirklichten Absicht, die Ergeb-
nisse der Leichenöffnung mit den während des Lebens beobachteten
Erscheinungen so innig als möglich zu verknüpfen, um ein voll-
ständiges Bild der krankhaften Vorgänge, der Grundlagen und der
Entwicklung des Krankheitsprozesses zu gewinnen. Morgagni war
der erste, welcher die beiden bisher getrennt nebeneinander einher-
laufenden Richtungen der klinischen Beobachtung und pathologischen
Anatomie zu einem Ganzen vereinigte, indem er einerseits die Obduk-
tionsbefunde durchgeistigte, andererseits in die Pathologie den ana-
tomischen Gedanken einführte.
Zur vollen praktischen Nutzbarmachung fehlte aber eine Methode,
welche gestattet, in vivo die pathologisch-anatomischen Veränderungen
wahrzunehmen. Durch Auenbrugger (1722 — 1809) wurde der erste
und bedeutsamste Schritt gethan, diesem Erfordernis zu entsprechen.
Schon im Jahre 1754 fand er, dass die verschiedenartigen Schall-
phänomeue, welche beim Beklopfen des Brustkorbs entstehen, einen
Massstab für die Beurtheilung des Zustandes der Respirationswerk-
zeuge abgeben, und als er nach siebenjähriger unablässiger Beobachtung
der ärztlichen Welt sein Meisterwerk vorlegte, konnte er darin schon
die meisten Ergebnisse vorführen, welche noch heute als Grundlagen
der Lehre von der Perkussion gelten. Auenbruggers Verdienst ist
um so höher anzuschlagen, als er die Idee und Durchführung der Idee
nur sich selbst verdankte. Selten hat eine Schrift mit solchem Rechte
den Titel „Inventum novum" getragen wie diese.
Auf 95 Seiten bietet Auenbrugger eine lapidar abgefasste Dar-
stellung der Perkussionsmethode, der normalen und abnormen Schall-
phänomene, bespricht Krankheiten, bei denen Schallveränderungen vor-
kommen, (wobei er übrigens auch auf Pektoralfremitus und respiratorische
Verschieblichkeit Rücksicht nimmt) und zieht vorsichtige prognostische
Schlüsse aus den erhaltenen Resultaten. Besonders hervorzuheben ist
es, dass er die Ergebnisse der Perkussion mit pathologisch-anatomischen
Aufschlüssen zusammenstellte und zur Begründung seiner Methode
sogar das Experiment zur Hilfe nahm (Injektion von Flüssigkeit in
die Brusthöhle eines Kadavers und Nachweis, dass die Dämpfung der
Flüssigkeitssäule entspricht). Ungleich anderen Erfindern war Auen-
brugger weit davon entfernt, gegen die hergebrachte Medizin aggressiv
aufzutreten, und mit einer fast allzu großen Bescheidenheit räumte er
seiner Methode, welche dazu bestimmt war umwälzend zu wirken,
nur die erste Stelle nach der Untersuchung des Pulses und der
Atmung ein.
Trotzdem in Auenbruggers Arbeit jede Zeile zur Nachprüfung törmlich
anreizt, trotzdem der schlichte Gelehrte wegen seiner diagnostischen Fähig-
keiten und glänzenden therapeutischen Resultate (Thorakocentesen) sehr bald
einen wohl begründeten Ruf erlangte, blieb seine Methode fast ein halbes
Jahrhundert unbeachtet oder fand wenigstens keinen Eingang in die Praxis.
Die Schuld daran tragen die Kliniker dieser Zeit, unter deren Augen die
Perkussionsmethode entstanden war, allen voran de Haen, der sie einfach
totschweigt, R. A. Vogel in Göttingen und Baidinger in Jena, welche nur
Eiiileitting. 99
herabsetzende "VTorte für die ErfinduBg hatten, späterhin auch der sonst so
weitblickende und unbefangen prüfende Joh. Peter Frank, welcher durch
seine kühle Reserve, mit der er die Perkussion „für eine nicht zu ver-
achtende Methode" erklärte, weder sein Verständnis dokumentierte, noch für
andere irgendwie anregend wirkte. Diesen Autoritäten folgte begreiflicher-
weise die grosse Masse der Aerzte, ohne eigenes Urteil, ganz blindlings
und gefiel sich in vornehmer ^Missachtung oder witzig sein sollender Ver-
spottung ; die Stimme Hallers und Ludwigs in Leipzig, welche allein die
hohe Bedeutung erkannten und öffentlich betonten, verhallte wirkungslos.
Eine eigene Stelle unter den massgebenden Klinikern nimmt StoU ein,
der durch seinen persönlichen Einfluss und seine ausgebreitete Lehrthätig-
keit wohl am meisten dazu berufen gewesen wäre, der neuen Untersuchungs-
methode Eingang zu verschaffen. Obzwar er mit seiner gewöhnlichen Liebens-
würdigkeit Auenbruggers wissenschaftliche Unternehmungen ganz ausser-
ordentlich förderte und die Perkussion an der Klinik auch selbst häufig
anwendete, sich sogar lobend über den Nutzen (bei der Empyemdiagnose)
aussprach, so hinderte ihn doch sein „Hippokratismus" den vollen Wert der
Sache zu erfassen, und nebstdem hielt ihn wohl seine Konzilianz davon ab,
wie es nötig gewesen wäre, agitatorisch aufzutreten.
Die verschiedenen Rezensionen, welche über Auenbrugger erschienen,
bilden interessante Dokumente zur Zeitgeschichte, sie wirken heute teils
komisch, teils betrübend. Das Sonderbarste aber leistete der Franzose
Roziere de la Chassagne, der sich 1770 der gewiss nicht leichten Arbeit
unterzog, das >Inventum novum" zu übersetzen, aber zugleich in einer An-
merkung versicherte, dass es ihm nie einfallen werde, irgend einen Versuch
mit einer so schnurrigen Methode zu machen !
Die unvergänglichen Leistungen Morgagnis und Auenbruggers
kamen in der Medizin des 18. Jahrhunderts zu keiner oder nur sehr
geringfügigen Geltung. Hingegen gelang es einem englischen Patho-
logen, der sich den beiden Meistern ebenbürtig anreiht, wenigstens die
Chirurgie im Sinne der rationellen Forschung zu beeinflussen, nämlich
John Hunter (1728 — 1793), dessen hohe Verdienste um die de-
skriptive und vergleichende Anatomie, um Physiologie und Pathologie
erst viel später verstanden und übrigens noch heute nicht genügend ge-
würdigt sind. Dieser grosse Arzt war zwar in erster Linie bemüht,
die bisher nur empirisch bearbeitete Chirurgie mit der Physiologie
in ein wechselseitig befruchtendes Verhältnis zu setzen, griif aber
thatsächlich darüber hinaus und bearbeitete zum erstenmal voraus-
setzungslos, ausschliesslich nach streng naturwissenschaftlicher Methode,
zum großen Theile auf dem Wege des Tierversuchs Kardinal-
fragen der allgemeinen Pathologie, die Lehre von der Entzündung,
Thrombosenbildung, der "Wundheilung, der Regeneration, der Eiter-
bildung etc. und gehörte zu den ersten, welche dem Blute, das zu
seiner Zeit als tote Flüssigkeit betrachtet wurde, ebenso wie den Fest-
teilen vitale Eigenschaften zuschrieb. John Hunter, dessen berühmtes
AVerk ..vom Blute, der Entzündung und den Schusswunden" (1794)
das Ergebnis vierzigjähriger Studien darstellte, nimmt nicht nur in der
Geschiclite der Anatomie (in allen ihren Zweigen), in der Geschichte
der Physiologie, der Chirurgie, der Syphilis einen hervorragenden
Platz ein, er ist der Gründer der experimentellen Pathologie
und zeichnete dieser neuen Wissenschaft schon die V^'ege vor, die im
19. Jahrhundert Virchow und 'J'raube eingeschlagen haben.
100 Max Neuburger.
Waren aber Morg-agui, Auenbrugger und John Hunter ihrer Zeit
soweit vorangeeilt, dass erst eine spätere Aera an ihre glänzenden
Leistungen anzuknüpfen vermochte, so wurde doch der Schatz emi)i-
rischer Kenntnisse auf den verschiedensten Gebieten so mannigfaltig
vergrössert, dass von einem Stillstand der praktischen Forschung
keine Eede sein kann.
Die Litteratur der praktischen Medizin des 18. Jahrhunderts ist
eine sehr reiche und enthält manche neue Gesichtspunkte. Abgesehen
von zusammenfassenden Werken über pathologische Anatomie (Valsalva,
Lieutaud, Portal, Sandifort), von Handbüchern der speziellen Patholo-
gie (J. B. Borsieri, Peter Frank), von Lehrbüchern der Semiotik und
Diagnostik (J. Testa, Grüner, S. G. Vogel, Wichmann) wurden eine
Eeihe von Krankheitsformen monographisch bearbeitet, darunter solche,
welche vorher überhaupt noch nicht eingehender berücksichtigt worden
waren, z. B. Eückenmarksaff ektionen (Chr. Gottl. Ludwig,
Peter Frank), Herz- und Gefässkrankheiten (Lancisi, Albertini,
Morgagni, Senac), Affektionen des Oesophagus, des Pan-
kreas, der Leber (Friedr. Hoffmann), der Nieren (Morgagni.
Olivier, Trota), des Bauchfells (Joh. Gottl. Walter \ der Knochen
(Jean Louis Petit, Louis), ferner Chlorose (Fr. Hoffmann), Dia-
betes (J. Eollo), Bleikolik (de Haen, Stoll, Tronchin), Neu-
ralgien (Amtrin, Fothergill, Cotugno), Alkoholvergiftung
(Jaenisch) u. a.
Wesentlich verfeinert wurde die Abgrenzung der Krankheitstypen in
der Neuropathologie (Meningitis, Abtrennung der Eklampsie, der Chorea
von verwandten Affektionen, Symptomatik der Hysterie, Epilepsie, Hydro-
cephalus, in der Lehre von den Respirationskrankheiten (Asthma, Croup,
Pseudocroup, Glottisödem, Phthisis, anatomische Differenzierung der Pneu-
monie von der Pleuritis), in der Dermatologie (Klassifikation, Wichmanns
Entdeckung der Krätzmilbe) und in der Lehre von den venerischen Krank-
heiten (Abtrennung der Gonorrhoe von der Syphilis), während über die
Magen - Darmkrankheiten noch sehr unvollkommene Vorstellungen ver-
breitet waren. Sehr intensiv beschäftigten sich die Aerzte mit der Skro-
phulose, Rhachitis, der Gicht, den Hämorrhoiden, welch letztere in den
Systemen eine so grosse Rolle spielten, und lebhaftes Literesse nahmen auch
die infektiösen Krankheiten in Anspruch. Bezüglich der letzteren wären
als Hauptfortschritte zu erwähnen, dass die ätiologischen Forschungen über
Malaria bei einzelnen Autoren (Lancisi, Senac) zu sehr richtigen Vermutungen
führten, dass durch Roederer und Wagler die erste klinisch-anatomische Be-
schreibung des Abdominaltyphus gegeben wurde, und dass man endlich
lernte, den Scharlach von den Masern abzugrenzen. Bemerkenswert ist
ferner der Versuch des Wiener Arztes A. Plenciz, die epidemischen Krank-
heiten auf Miki'oorganismen (seminia animata) zurückzuführen.
Nebst der Empirie dankte die Medizin der aufblühenden Chemie
und pharmazeutischen Technik eine überraschende Menge neuer
Arzneimittel und Arzneiformen, von denen nicht wenige allerdings
später wieder als unbrauchbar verworfen werden mussten. Be-
merkenswert ist besonders der Zuwachs an mineralischen und nai'ko-
tischen Stoffen und gewissen Präparaten, die noch heute durch ihren
Namen auf die Entstehungszeit hinweisen. Ebenso hoch, wenn nicht
höher, ist die Thatsache einzuschätzen, dass die Aerzte des 18. Jahr-
hunderts anfingen, den diätetisch-phj^sikalischen Heilmitteln grössere
Einleitung. 101
Aufmerksamkeit zuzuweudeD. Der Gebrauch der Heilquellen,
welche nach der Anregung Friedrich Hofihianns zuerst gi'ündlicher
untersucht und von denen so manche damals neu entdeckt wurden,
kam in Aufnahme, die Verwendung des kalten Wassers zu Heil-
zwecken fand Eingang oder richtiger, die Wiedereinführung der
Hydrotherapie (welche bekanntlich dem Altertum durchaus nicht
fremd warj erfolgte durch die energische und ehrlich begeisterte
Thätigkeit besonders englischer und deutscher Aerzte. Die Namen
eines Edward Bajnard, welcher bei hitzigen, eines John Floyer
1649 — 1734\ welcher bei chronischen Affektionen hydriatische Proze-
duren mit Erfolg anwendete, der schlesischen Brüder Hahn (Joh.
JSigismund Hahn in Schweidnitz und Joh. Gottfried Hahn in Breslau),
deren Vater Sigmund Hahn (1662 — 1742) schon Schriften über Hydro-
therapie veröffentlicht hatte, endlich der Xame eines James Currie
1756 — 1805). dessen berühmtes Werk den Ausgangspunkt der leb-
haften Verhandlungen über hydriatische Typhustherapie bildet, mögen
gerade im Hinblick auf ungerechtfertigte Prioritätsansprüche von
ärztefeindlicher Seite der Vergessenheit entrückt bleiben. — Auch die
Elektrotherapie stammt in ihren ersten Anfängen aus der Mitte
des 18. Jahrhunderts und verlangte sogar trotz der grössten UnvoU-
kommenheit der technischen Hilfsmittel ausgedehnte Verbreitung, nach-
dem Aerzte, wie Chr. G. Kratzenstein (1723 — 1795) und geistvolle
Laien (Physiker) durch therapeutische Erfolge und interessante Be-
obachtungen das Interesse nachzuweisen verstanden hatten.
Im Anschluss- an die innere Medizin nahm auch die Kinder-
heilkunde einen gewissen Aufschwung, der sich einerseits durch
Gründung von Kinderheilanstalten (^zuerst in London 1769 George
Armstrong) und Wien 1787 (Jos. Joh. Mastalier und Leop. Ant. Gölis),
andererseits durch wissenschaftliche Bearbeitung kundgab, seitdem
AValter Harris, Stahl, Friedrich Hoffmann. Rosen von Eosenstein, hierzu
das Beispiel gegeben hatten. In der pädiatrischen Litteratur prävalieren
anfangs deutsche und englische Autoren.
Eine der segensreichsten Schöpfungen des 18. Jahrhunderts, welche
den Humanitätsideen des Zeitalters entsprang, war die Irrenpflege und
die wissenschaftliche Begründung der Psychiatrie. In Deutschland
nahmen diese Bestrebungen von Halle ihren Ausgangspunkt, wo Stahl
als erster eine Klassifikation der Geisteskrankheiten im Sinne des
Animismus vornahm und der Theologe Francke mit Feuereifer für die
Verbesserung des Loses der ärmsten der Armen in die Schranken
trat. Diese Bestrebungen setzten einige Schüler Stahls (Gohl, ünzer)
fort und führten namentlich Reil, der Hallesche Philosoph Joh. Chr.
Hoifbauer und der Leipziger Professor Joh. Chr. August Heinroth zu
einem befriedigenden Ende. Die erste öffentliche Irrrenheilanstalt
wurde in London (1751) gegründet. Hier und in zahlreichen von
Aerzten und Landgeistlichen ins Leben gerufenen Privatanstalten
fand sich vielfache Gelegenheit zu psychiatrischen Beobachtungen,
welche schon Cullen und seine Schüler wissenschaftlich bear-
beiteten. Weit länger als in England herrschten die traurigsten Zu-
stände betreffs der Irrenpflege in Frankreich. Erst im Zeitalter der
Schreckensherrschaft ertrotzte der edle Arzt und Menschenfreund
Philippe Pinel unter persönlicher Gefahr vom Konvente die Erlaub-
nis, die Wahnsinnigen aus Kerker und Ketten — das waren die da-
maligen Heilmittel — zu befreien, um sie der Heilkunde zu über-
102 Max Neu burger.
weisen. Sein würdiger Nachfolger war Jean Etienne Dominique
Esquirol (1772 — 1840), der sein ganzes Leben aussschliesslich dem
Studium der Seelenstörungen widmete und schliesslich die Errichtung
einer psychiatrischen Klinik in Paris durchsetzte. In Italien in-
augurierte Vincenzo Chiarugi (1759 — 1822) das Fach mit einem vor-
trefflichen Werke, das unter anderem bereits 62 Sektionsbefunde von
Geisteskrankheiten enthält.
Die Chirurgie gewann ausserordentlich viel durch die ana-
tomische und phj^siologische Bildung der Wundärzte, deren Meister
sich endlich zu der ihnen zukommenden sozialen Stufe empor-
schwangen. Der Fortschritt zeigte sich nicht nur in der Vereinfachung
der Wundbehandlung, in der Verbesserung der bisherigen Technik,'
und in der Erfindung neuer Operationsarten, sondern namentlich darin
dass sich die Anfänge der „konservativen Chirurgie" in der Sorge für
die Verminderung des Blutverlustes bei den Operationen, in der Be-
schränkung der Amputation, in der Erkenntnis des schädlichen Ein-
flusses der Luft auf die Wunden verraten. Die Geburtshilfe ent-
wickelte sich seit der allgemeinen Verbreitung der Zange immer mehr
und dankte dem Studium des natürlichen Geburtsverlaufs eine bessere
Indikationsstellung. Durch Gründung eigener geburtshilflicher An-
stalten wurde nicht nur der Humanität entsprochen, sondern auch der
Unterricht auf eine bessere Basis gestellt. Die Augenheilkunde
trennte sich völlig von der Chirurgie und bereicherte ilire Technik
durch neue Operationsmethoden (Katarakt-Extraktion, Eröffnung des
Thränensacks, Katheterisierung des Thränenkanals, Iridentomie, Iri-
dektomie, Iridodialyse). Auch die Ohrenheilkunde (Anbohrung
des Warzenfortsatzes, Durchbohrung des Trommelfells, Katherisierung
der Eustacchischen Röhre) und die Zahnheilkunde (erste wissen-
schaftliche Bearbeitung in Frankreich durch Pierre Fauchard (f 1762),
in England durch John Hunter) machten bedeutende Fortschritte und
wurden den Händen der Empiriker entzogen.
Die höhere Wertschätzung, der sich die medizinische Wissenschaft
von Seite des Staates erfreute, äusserte sich ganz besonders in den
Fortschritten der gerichtlichen Medizin. In überwiegender Zahl
waren es deutsche Aerzte, welche mit vorsichtiger Benutzung ana-
tomisch-physiologischer Ergebnisse eine grosse Zahl von forensischen
Fragen, zum Teil experimentell untersuchten und das geordnete 3Iaterial
zu einer eigenen Disziplin ausbauten. Zahlreiche Abhandlungen be-
handeln die Fragen des Kindesmordes (Lungenprobe, Harnblasenprobe),
die Lehre von der Tödlichkeit der Wunden, die Diagnostik des ein-
getretenen Todes und die verschiedenen Todesarten durch Ersticken,
Erhängen, Ertränken, Vergiftung) und stützten ihre Schlüsse auch
auf experimentelle Untersuchungen.
Im Eahmen der gerichtlichen Medizin wurden auch viele Dinge er-
örtert, welche heute dem Begriff der öffentlichen Gesundheitspflege
untergeordnet sind.
Schon frühzeitig hatten namentlich Volksseuchen den Anlass ge-
geben, von Fall zu Fall prophylaktische Massnahmen zu treffen, ins-
besondere handelte es sich hierbei um Prophj^laxe gegen die Pest.
In dem Grade als der Staat es als notwendige Aufgabe erkannte, für
die Erhaltung seines „kostbarsten Materials" Vorsorge zu treffen, als
das Medizinal wesen staatliche Organisation erfuhr, befleissigte man sich
Einleitung. 103
durch sanitätspolizeiliche Verordnungen den bestehenden Missverhält-
nissen zu steuern. Dahin g-ehören behördliche Massregeln zur Ver-
hütung der Einschleppung von Epidemien (Quarantäne), Beaufsichtigung
des Marktverkehrs (veranlasst durch Mutterkornvergiftungen), Vor-
schriften über Beerdigungswesen u. s. w. Im 18. Jahrhundert diskutierte
man bereits sehr lebhaft über prophylaktische Massnahmen gegen Pest
und Blattern, über obligate Leichenschau, über Vorkehrungen zur
Rettung Scheintoter und Verunglückter, und namentlich englische
Aerzte regten Verbesserungen des Hospital- und Gefängniswesens, der
.^chiifs- und Lagerhygiene an. Unterstützt von den Bestrebungen der
Philanthropen, die der privaten und öffentlichen Hygiene zugewandt
waren, gelang es thatsächlich, eine Verbesserung der Verhältnisse oder
eine Behebung mancher Missstände durchzusetzen, aber es fehlte an
einer geordneten Zusammenfassung der zerstreuten Ideen und Ge-
danken, an einer kritischen Sichtung des reichen Materials, an einer
einheitlichen Begründung der gesamten öffentlichen Gesundheitspflege.
Einer der genialsten Männer des Jahrhunderts, wählte es sich end-
lich zur Lebensaufgabe, diesem dringenden Bedürfnis der Zeit zu
entsprechen, und was allen Früheren versagt blieb, gelang ihm nach
dezennienlanger Arbeit, das tote Material zu beleben, aus einem
Trümmerhaufen eine neue Wissenschaft aufzubauen: die Hygiene.
Ihr Schöpfer ist kein anderer als der berühmte Kliniker Joh. Peter
Frank, dessen achtbändiges ..System einer vollständigen medizinischen
Policey' (1779 — 1819) sich mit allen Vorgängen des Lebens, von der
Zeugung bis zur Beerdigung befasst und, abgesehen von manchen
Schlacken der Zeit, noch heute eine unversiegliche Quelle des Wissens
darstellt. Als wichtiges Hilfsmittel entwickelte sich gleichzeitig die
medizinische Statistik, zu welcher um die Mitte des 18. Jahr-
hunderts Peter Suessmilch (1707—1767) den Grund gelegt hatte, ferner
die medizinische Geographie und das Militär-Sanitäts-
w e s e n.
Das Jahrhundert schied nicht, ohne eine der folge wichtigsten Be-
reicherungen auf dem Gebiete der Krankheitsproplij^laxe : die Kuh-
pockenimpfung. Was so lange rastlos, aber vergeblich angestrebt
worden war, ein Schutzmittel zu finden gegen die verheerendste
Volkskrankheit, gegen die Blattern, das dankt die Menschheit einem
ihrer grössten Wohlthäter aller Zeiten, E d w a r d J e n n e r (1749—1823).
Wer der Seuchengeschichte nachgeht und die Zustände der Gegen-
wart, in der die Blattern zu den seltenen Krankheiten gehören, mit der
Zeit vor Einführung der Kuhpockenimpfung vergleicht, wo ungefähr
der zwölfte Teil der Menschen an den Pocken hinstarb, wer sich aus
der Geschichte ins Gedächtnis ruft, welche abenteuerlichen und ge-
fährlichen Versuche angestellt wurden, um selbst auf Kosten ander-
weitiger Gefahren, die Blattern abzuwehren, der wird den Tag glück-
lich preisen, an dem Jenner nach zwanzigjähriger Prüfung die Schutz-
impfung zum Gemeingut der Menschheit gemacht hat. Durch ihn
vollbrachte die Aerzteschaft eine Kulturthat höchsten Ranges!
Wenn es sich auch herausgestellt hat, dass die Schutzkraft der Kuh-
pocken schon lange vorher in einzelnen Viehzucht treibenden Distrikten be-
kannt war, ja dass einzelne Personen vor Jenner die Vaccinatiou sogar hie
und da ausgeführt haben, das unvergängliche Verdienst kann ihm nicht abge-
sprochen werden, dass er zuerst die Bedeutung der Impfung voll erkannt und
I
104 Max Neuburger.
experimentell dargcthan, dass er allein durch That und Wort die Methode
in die Wissenschaft eingeführt hat.
Vor der Vaccination hatte mp,n die „ V ariolation", d. h. die künst-
liche Inokulation echter Menschenblattern betrieben — eine Methode, die
durch Lady Wortley Montague (1721) eingeführt wurde und namentlich
infolge der Verbesserungen englischer Aerzte (D. Sutton und Thom. Dims-
dale) grosse Verbreitung fand. Aber obwohl die Variolation eher Schutz-
kraft verlieh, als gewisse chemische Kompositionen, die von Aerzten seit
Boorhaaves Anregungen ersonnen wurden, wiewohl sie mit weniger Um-
ständen verbunden war als die Unterbringung in Kontumazhäusern, so be-
deutete doch gerade ihr gegenüber die Vaccination geradezu eine Erlösung^
Der Geburtstag- der Schutzpockenimpfung- ist der 14. Mai 1796,
an welcliem Tage Jenner den achtjährigen Knaben James Phipps mit
der Vaccine einer Kuhmagd, Sarah Nelmes, mit dem Erfolg impfte,
dass die im gleichen und in den folgenden Jahren vorgenommenen
Inokulationen von echten Menschenblattern ohne Folgen verliefen.
Dem ersten glücklichen Versuche folgten viele andere, über welche
die Schrift „An inquiry into the causes and etfects of the Variolae
vaccinae" (London 1798) den ersten Bericht enthält. Jenner hatte
das Glück, seine Methode noch lange vor seinem Tode allgemein ein-
geführt zu sehen. Am frühesten auf dem Kontinente wurden Impfungen
in Wien (Pascal Ferro und de Carro) und Hannover (G. F. Ballhorn
und Chr. Friedr. Stromeyer) vorgenommen, von dort empfingen zahl-
reiche Städte die erste Lymphe und damit ein Stück Kultur.
Die Masse positiver Kenntnisse, welche im Laufe des Jahrhunderts
aufgestapelt wurde, überrascht durch ihre Fülle und Vielseitigkeit.
Ihrer wissenschaftlichen Wertung stand aber noch immer der Um-
stand entgegen, dass sich die volle Erkenntnis von der Suprematie
der rationellen Empirie noch immer nicht durchgerungen hatte. Statt
die Hypothesen nur als Hilfslinien zu betrachten, galten gerade die
realen Fortschritte, soweit sie verwendbar als Beiwerk, und nicht die
nackte W^ahrheit , .sondern das Idol der Phantasie , der gleissnerisch
schillernde Gedanke usurpierte den Herrschersitz. Zerstreut in hetero-
genen Gesichtskreisen, nicht aus einer Muttererde, mehr dem Zufall
als zielstrebender Absicht entsprechend, wuchsen im einzelnen die
Thatsachen heran, bald von diesem, bald von jenem System, in Formen
der Willkür gegossen. Und darum war es noch immer möglich, dass
ein kühner Stürmer die Masse bethören und selbst viele Denker mit
sich fortreissen durfte, wiewohl er keine Fakten, nur Steine statt
Brot reichte, darum konnten der Wissenschaft noch immer mystische
Schwarmgeister als Feinde erstehen, die dank der nie versiegenden
Macht des Aberglaubens ihre Fundamente erbeben machten und
chaotische Verwirrung stifteten. Freilich der Bildungstrieb der Ge-
schichte nützte auch solchen Bestrebungen als Gärstoffe für die
kommende Gestaltung.
Eigener Gesetze entbehrend, welche unverrückbar die Bahn vor-
zeichneten, nicht achtend ihrer eigenen Vergangenheit, folgte die
Medizin den mannigfachen Regungen der Volksseele, die stürmisch
in Thaten umsetzte, was keimhaft im Reformationszeitalter schon an-
gedeutet schien und nur durch knechtenden Druck an stetig fort-
schreitender Entfaltung gehindert wurde. Dieser unsägliche Druck
hat es verschuldet, dass vergossenes Blut und rauchende Trümmer die
Einleitung. 105
Gebnrtsstätte der Freiheit bezeichnen, mochten auch späterhin die
herrlichsten Saaten aus dem Boden entspriessen . den die Lava der
Eevolution gedüngt. Wie in der Heilkunde des Cinquecento, traten
auch am Schlüsse des 18. Jahrhunderts Strömungen zutage, welche
teils von der Skepsis, teils vom Mystizismus Triebkraft empfingen und
nur in der Verdammung der herrschenden Lehre übereinstimmten.
Den mächtigsten Eindruck, das grösste Aufsehen rief vor allem
dasjenige System hervor, welches der kühne Schotte John Brown
(1785 — 1788), der Schüler Cullens, den geltenden wissenschaftlichen
Lehren gegenüber stellte. Sein Buch, die ,.Elementa medicinae"
(1780 1, wirkte geradezu wie ein revolutionäres Manifest, es schien
auf die einfachste und einleuchtendste Weise alle strittigen Fragen mit
einem Schlag zu lösen, die klaffende Kluft zwischen Theorie und
Praxis zu schliessen. es versprach, die Natur zu meistern, ohne der
wissenschaftlichen Taglöhnerarbeit zu bedürfen
Mit derselben Verachtung der Tradition, wie Asklepiades, mit
dei^elben Unterschätzung der Hilfszweige wie Paracelsus, baute Brown
die ganze Medizin auf dem Satze auf: Leben ist ein durch
Eeize erzwungener, nur durch Reize erhaltener Zu-
stand. Als Reize gelten nicht nur äussere Potenzen (Wärme,
Nahrungsmittel. Luft etc.), sondern auch innere Körpervorgänge (Ge-
hirnkraft, Muskelzusammenziehung, Affekte etc.). Die Lebensphäno-
mene (Empfindung, Bewegung, psychische Thätigkeit) beruhen lediglich
auf der Eigenschaft der organischen Körper, durch Reize erregt zu
werden, auf ihrer Erregbarkeit, welche ihren Sitz in Nerven und
Muskeln hat. Das Produkt aus Reizen und Erregbarkeit ist Er-
regung. Ihr mittlerer Grad, beruhend auf proportionierten Reizen
proportionierter Erregbarkeit, bedeutet Gesundheit.
Krankheiten dagegen entstehen durch das Missverhältnis der
Faktoren, sie sind durch zu starke oder zu schwache Erregungen zu
erklären. Starke Reize rufen eine Erhöhung der Erregung hervor,
einen sthenischen Zustand; allzu schwache Reize erzeugen zu ge-
ringe Erregungen, d. h. direkte Asthenie; endlich kann ein
Mangel an Erregung auch dadurch sekundär hervorgebracht werden,
dass die Erregbarkeit durch zu lang dauernde oder plötzlich über-
mässige einwirkende Reize erschöpft wird — indirekte Asthenie.
Zu den abnorm stark erregenden Reizen rechnet Brown z. B. hohe
Temperatur, gewisse Gifte, Kontagien, viel Blut, ferner psychische
Affekte, zu den schwachen dagegen niedrige Temperatur. Blutungen,
entleerende Mittel etc. Die Krankheiten zerfallen in örtliche und
allgemeine. Die letzteren gehen aus einer Anlage (Opportunität) her-
vor und befallen von Anfang an den ganzen Organismus, die ersteren
haben ihren Sitz in einem einzelnen Teil und gehen bisweilen in eine
allgemeine Affektion über oder sie stellen Wirkungen allgemeiner
Krankheiten dar. Beim Heilverfahren hat man zu ermitteln, ob es
sich um eine örtliche oder allgemeine, um Sthenie, direkte oder indirekte
Asthenie handelt, und in welchem Grade diese Zustände vorhanden
sind. Die Beurteilung stützt sich auf die Beschaffenheit des Pulses,
der Temperatur und der Allgemeinei-scheinungen. Im allgemeinen
überwiegen die asthenischen Zustände, zu denen auch Krämpfe und
die nieisten Fieber gehören. Ebenso, wie die Krankheiten sich nur
quantitativ durch den Grad des Erregungszustandes untei-scheiden,
so ist auch bei den Heilmitteln nicht auf ihre spezifischen Eigentum-
106 Max Neuburger.
lichkeit, auf ihre Qualität, sondern lediglich auf den Grad Rücksicht
zu nehmen, in welcliem sie reizend oder beruhigend wirken. Bezüg-
lich ihrer Anwendung gilt der Satz contraria contrariis, bei sthenischer
Beschaffenheit gilt es die Erregung zu vermindern (z. B. durch Blut-
entleerungen, Laxantia, Brechmittel, strenge Diät, Kälte), bei asthe-
nischen Krankheiten die Erregung zu vermehren (z. B. durch Wein,
Kampfer, Moschus, Aether, Ammoniak etc.) ; handelt es sich um in-
direkte Schwäche, so beginnt man mit den höchsten Reizmitteln,
handelt es sich um direkte Asthenie, so fängt man mit dem geringsten
Grad des Reizes an, um allmählich anzusteigen.
Anschliessend sei noch hervorzuheben, dass Brown die Krämpfe
als Schwächezustände auffasst und demgemäss die Wirkung des
Opiums als stimulierende erklärt („mehercule opium non sedat!").
Das Brownsche System gehört in die Kategorie des Methodismus,
es erinnert hinsichtlich der praktischen Grundsätze an Asklepiades
und Thessalos, hinsichtlich der theoretischen Krankheitsauffassung
an die Tonuslehre (Hoffmann, CuUen: „Atonie" und „Spasmus")
und ist im wesentlichen eine Generalisation des Begriffs der Irri-
tabilität, Trotzdem bildet das System insofern ein Novum, da es zum
erstenmal auf rein phänomenologischer Betrachtung (Erreg-
barkeit ist keine Substanz!) basiert und mit uralten Grundprinzipien
der alten Medizin (Teleologie, Naturheilkraft, spezifische Wirkung der
Heilmittel) vollkommen bricht, namentlich die Humoralpathologie mit
ihrer ausleerenden Methode gänzlich abweist. Anzuerkennen ist es,
dass Brown, wenn auch zu einseitig auf die Bedeutung äusserer
Reize für die Entstehung der Krankheiten, auf die, allerdings schief
aufgefasste Anlage aufmerksam machte, die Unzahl von fetischistischen
Begriffen der Humoral- und Solidarpathologen mit einem Schlage be-
seitigte und die übliche schwächende, ausleerende Methode (Aderlass,
Brech-Purpgiermittel) wesentlich beschränkte. Leider aber stehen
diesen Vorzügen, welche den Augiasstall der medizinischen Theorie
gewaltsam säuberten, ungeheure Nachteile entgegen: die völlige Ver-
kennung der Qualität der Erscheinungen, der vitalen Reaktion auf die
Reize, der Spontaneität des Lebens und der damit zusammenhängenden
natürlichen Heilvorgänge; der nosologische Schematismus, welcher
weder die individuellen Eigentümlichkeiten des Kranken, noch der
Krankheiten, oder gar den Krankheitsverlauf berücksichtigte ; die hohle
Abstraktion, welche weder der physiologischen Grundlage, noch der
pathologisch-anatomischen Erforschung des Krankheitssitzes Rechnung
trug, vielmehr durch den allgemeinen Begriff „Erregung*' jede Einzel-
untersuchung lahmlegte, und sich praktisch als massloser, mit Reiz-
mitteln exacerbierender Schlendrian manifestierte. Die Aufnahme,
welche dasBrownsche System in den einzelnen Ländern
fand, resp. der Widerstand, der ihm entgegentrat, bildet
den besten Massstab für das Niveau, welches die positive
realistische Forschung inzwischen erlangt hat. In Eng-
land fand die neue Lehre nur geringe Verbreitung, die nüchtern be-
obachtende Denkart der britischen Nation blieb völlig kühl, den
wenigen Anhängern (Robert Jones und Samuel Lynch, welch letzterer
sogar eine Krankheitsskala konstruierte) gesellten sich amerikanische
Aerzte unter Führung von Benjamin Rush (1745 — 1813) hinzu. Die
französische Medizin war bereits viel zu sehr erstarkt, um den Lock-
rufen noch zu folgen, nur einzelne Ideen Browns erschienen späterhin
Einleitung. 107
bei Broussais im Kleide der pathologischen Anatomie. Nach Italien
wurde die Lehre des genialen Schotten durch Pietro Moscati, Giacomo
Locatelli, Givo Batt. Monteggia. Yaleriano Luigi Brera, besonders aber
durch Giovanni Rasori (1762—1837) verbreitet. Der letztgenannte
gestaltete aber später die Erregungstheorie wesentlich um. indem er
sie vereinfachte und mehr praktisch zuschnitt. Erfahrungen am
Krankenbette (bei Typhus und therapeutische Versuche mit Brech-
weinstein) hatten ihn zu der Anschauung geführt, dass nicht, wie
Brown lehrte, die asthenischen, sondern gerade umgekehrt die sthe-
nischen Krankheiten überwiegen, ferner dass es ausser den reizenden
und reizvermindernden Faktoren noch solche geben müsse, welche die
Erregung direkt herabstimmen — Contrastimulantia directa. Er
änderte demgemäss die ganze Terminologie und führte für den Zu-
stand der Sthenie die Bezeichnung „Diathesis de stimulo", für die
Asthenie die Bezeichnung „Diathesis de contrastimulo" ein. In der-
selben Weise zerfallen auch die Heilmittel in stimulierende und
contrastimulierende.
Nicht nur, dass in dem kontrastimnlistischen System der Begriff in-
direkte Asthenie völlig wegfiel oder vielmehr in der Reiz-Diathese aufging,
Rasori wich auch darin von Brown ab, dass er die spezifische Beziehung der
Mittel zu den einzelnen Organen (also nicht mehr bloss den Grad der
Reizwirkung) wieder berücksichtigte, dass er im Hinblick auf die Spezifität
der Krankheiten auch nach den Ursachen fahndete und endlich, dass er mit
Rücksicht auf den Wechsel der Reiz- und Schwächezustände innerhalb des
Krankheitsbildes energisch gegen die Behauptung protestierte, man könne
aus einzelnen Symptomen sofort erkennen, ob die Diathese des Reizes oder
des Gegenreizes zugrunde liege. Hier zeigt sich deutlich, wohin die
aprioristische Spekulation schliesslich führen muss — zur herumtastenden,
groben Empirie ! Aus der Wirkung eines stimulierenden oder kontra-
stimulierenden ilittels muss Rasori erst schliessen, um welchen Zustand es
sich handelt. Um aus diesem Zirkel ex juvantibus herauszukommen, rät er
sich am besten eines Probe- Aderlasses zu bedienen, der ja in allen sthenischen
Krankheiten nützlich sei, aus dem Erfolg sei die Diagnose zu stellen.
Die Therapie, welche der Urheber dieses Systems und sein bedeutendster
Apostel Giacomo Tommasini einschlug, war höchst radikal. Brechweinstein,
Digitalis, Jalappe etc. wurde in sehr grossen Gaben gereicht, bei Ent-
zündungen waren sehr reichliche Venäsektionen, bis zu zehn in wenigen
Tagen, die Regel. Das einzige Verdienst Rasoris lag darin, dass er darauf
drang, niemals mehr als ein ilittel zu verordnen.
Den Haupttummelplatz der Brownianer bildete Deutschland, hier
gewann das System im letzten Dezennium des 18. Jahrhunderts zahl-
reiche Anhänger, hier fasste es tiefere Wurzeln als in der ganzen
Welt. Seine Einführung dankte es einem wissenschaftlichen Skandal.
Im Jahre 1790 hatte ein Göttinger Arzt. Christoph Girtanner (1760—
»1800), in einem französischen Journal die Grundsätze Browns, ohne
dessen Namen zu nennen, also als seine eigenen veröffentlicht — ein
Betrug, der später durch Melchior Adam Weikard (1742 — 1803) auf-
gedeckt wurde. Weickard übersetzte sodann die Elementa, ver-
öffentlichte in rascher Folge eine Reihe von Verteidigungsschriften
des Systems und verstand es, die wissenschaftlichen Kreise mit einer
an Fanatismus grenzenden Leidenschaft für dasselbe zu interessieren.
Besonders förderlich für die neue Richtung war es. dass bald Männer
k
108 Max Neuburger.
von klangvollem Namen, wie Peter Frank und sein Sohn Joseph
Frank (1771 — 1842). ferner die Bambergfer Kliniker Adalbert Friedrich
Markus (1755-1816) und Johann Andreas Röschlaub (1768—1835),
wenio-stens vorübergehend in den Jubel der Begeisterung einstimmten
und leider auch praktische Konsequenzen zogen. Bald ergoss sich
eine wahre Flut von brownianischen Schriften.
Vergebens waren die Warnungen und Widerlegungen so verdienter
Männer, wie Christoph Heinrich Pfalf (1773—1852), Joh. Stieglitz
(1767 — 1840), Alexander von Humboldt, Hufeland und Ph. K. Hartmann, .
welche in Rezensionen und Sonderschriften, bald von theoretischen,
bald von praktischen Gesichtspunkten die Irrtümer bekämpften, ohne
den Verdiensten und der Genialität Browns ihre Anerkennung vorzu-
enthalten. Die Angriffe hatten sich übrigens bald nicht so sehr gegen
das Originalsj^stem, als gegen die sogenannte „Erregungstheorie"
zu wenden, welche ein deutscher Professor, der früher genannte Andreas
Röschlaub, mit gewohnter Gründlichkeit aus Brownschen Elementen
snd philosophischen Begriffen zusammengestoppelt hatte.
Es ist anzuerkennen, dass Röschlaub die Einseitigkeit der Brown-
uchen Auffassung von der Erregbarkeit glücklich beseitigte, indem er
darunter nicht bloss die passive Empfänglichkeit für äussere Reize,
sondern auch die charakteristische vitale Gegenwirkung verstanden
wissen wollte und zudem das Leben in letzter Linie von der Organisa-
tion abhängig erklärte. Den wichtigsten Schritt that er aber nicht,
die Forschung auf das Studium der vitalen Erscheinungen, auf die
Untersuchung der Struktur auszudehnen, und daher reichen auch
seine „Untersuchungen über Pathogenie" (1798), über die scholastische,
vom Leben abgekehrte Sophistik nicht hinaus, sie waren nichts
anderes als eine starre Deduktion aus dreissig willkürlich statuierten
Leitsätzen.
Später suchte Röschlaub allerdings den Anschluss an die neuen
Entdeckungen der Naturwissenschaft, indem er die Erregbarkeit auf
die Vorgänge der Oxydation und Desoxydation zurückführte. Er folgte
darin nur der herrschenden Zeitrichtung, velche ihre hohle Abstraktion
ohne jede Beweisführung mit den Thatsachen der Physik wie mit
einer Etikette überklebte.
Der gewaltige Umschwung, welchen die Natur-
wissenschaft im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts
durch die Entdeckung des Sauerstoffs (Priestley, Lavoisier,
Scheele), durch die Neugestaltung der Chemie und durch
Entdeckung des Galvanismus erfuhr, beeinflusstezwar
die Physiologie in günstigem Sinne, gab aber in der
praktischen Medizin zunächst nur den Anlass zu halt-
losen Theorien, welche sich von den alten iatrochemischen und
iatrophysischen Spekulationen nicht durch inneren Wert, sondern
bloss durch die annektierten Vorstellungen unterschieden. Die
chemischen Theorien nahmen von anerkennenswerten therapeu-
tischen Versuchen mit dem Sauerstoff, welche schon von Priestley
angeregt wurden, ihren Ursprung. Während aber Thomas Beddoes
(1754—1808), Louis Jurine (1751—1819), Louis Odier, Pascal Joseph
Ferro die „pneumatische" Medizin eifrigst pflegten und höchstens
durch übertriebene Anwendung des Sauerstoffs die Grenzen über-
schritten, Hessen sich sehr bald andere Aerzte, namentlich Schüler
des berühmten Chemikers A. F. Fourcroj^, wie John Rollo, Jean Bapt.
Einleitung. 109
Tlieod. Baumes u. a. durch ihre Phantasie hinreissen, alle Krankheiten
vom Mangel oder Ueberfluss des Sauerstoffs oder Stickstoffs etc. ab-
zuleiten, jedwede Arzneiwirkung aus der Oxydation oder Desoxyda-
tion etc. zu erklären. Unter den Deutschen war der Berliner Professor
Gottfr. Christ. Reich der Hauptvertreter der chemiatrischen Spekula-
tion; in seiner Schrift ..vom Fieber und dessen Behandlung überhaupt"
(1800) identifizierte er kurzwegs das Fieber mit einer Vermehrung
des Stickstoffs und Verminderung des Sauerstoffs im Organismus. Auf
die gleiche Stufe mit den chemischen sind die damaligen galva-
nischen Theorien zu stellen, nach welchen der gesamte Lebens-
prozess nichts anderes, als ein Analogon zum Galvanismus darstellen
sollte; der Entdecker des Galvanismus, der selbst Arzt war, Aloisio
Galvani (1737—1798), eröffnete leider selbst die Hypothesenbildung
dieser Art, welche trotz geistvoller Antizipationen (Humboldt) nur zu
bald in ein Spiel von Worten ausartete.
Wenn schon die exakten Forschungsergebnisse der Physik und
Chemie die stets empfängliche Systemsucht reizten, um wie viel mehr
musste sich die Phantasie erst an Dingen entzünden, welchen der
Nimbus des Magischen den Reiz des Wunders verlieh. Dies waren
jene merkwürdigen Phänomene des Geisteslebens, welche wir heute dem
Begriff der Hj'pnose und Suggestion subsumieren. Der Fortschritt
einer erstarkenden Wissenschaft zeigt sich nicht zum mindesten darin,
dass sie einerseits Erscheinungen, die mit den gegebenen Hilfsmitteln
nicht zu erklären sind, deren Existenz aber durch sichere Beobachtung
erhärtet wird, nicht einfach wegleugnet, andererseits aber sich davon
fern hält, aus dem Unbekannten generalisierende Schlussfolgerungen
zu ziehen. Diese beiden Grundsätze wurden gerade zu der Zeit am
wenigsten beachtet, als der Wiener Arzt Friedrich Anton Mesmer
(1734—1815) mit seiner angeblichen Entdeckung des „tierischen
Magnetismus" hervortrat (1775). Diese Entdeckung wurde von den
einen apodiktisch in Abi-ede gestellt, von den anderen zu einer
schwärmerischen Xaturauffassung verwertet, die sich den Erforder-
nissen wahrer Wissenschaft diametral entgegenstellt.
Es ist hier nicht der Ort, die Frage zu berühren, inwieweit sich
Mesmers Erfahrungen mit der Wahrheit decken, inwieweit Mesmer Wahr-
heitsfinder, Betrüger oder Phantast war; sicher ist es, dass einem Teile
seiner Beobachtungen im Sinne des ..Hypnotismus" die Möglichkeit nicht
abgesprochen werden darf. Vieles trägt den Stempel der Unwahrscheinlich-
keit an sich, umsomehr als auch bewährte Forscher einer viel weiter vor-
gerückten Zeit vor Täuschungen auf diesem Gebiete nicht bewahrt ge-
blieben sind.
Schon der Anlage nach, dem Mj^stizismus zugethan, wie sich dies in
der Inauguraldissertation „über den Einfluss der Planeten auf den mensch-
lichen Körper" verrät, hatte Mesmer den Mut, von den Wegen der Schule
auf eigene Verantwortung abzuweichen und sich auch mit Dingen zu be-
fassen, welche das volle Tageslicht der Wissenschaft scheuen, trotzdem aber
seit den ältesten Zeiten immer wieder auftauchen. Dahin gehörte die thera-
peutische Verwertung des Magneten, wie sie namentlich von Paracelsus und
seinen Anhängern, aber auch im 17. und 18. Jahrhundert von einzelnen
Aerzten gerühmt wurde. Die Erfolge, welche Mesmer mit natürlichen und
künstlichen Magneten bei verschiedenen Krankheiten erzielte, ermunterten
ihn zur häufigen Anwendung, Hessen ihn aber sehr bald erkennen, dass die-
110 Max Neuburger.
selben Heilwirkungen auch durch blosses Berühren, Streichen des Kranken,
ja durch den blossen Willen des Magnetiseurs zu erzielen seien. Daraus
zog er die Folgerung, dass der Magnet gar nicht die Quelle, sondern bloss
der Leiter einer vom Arzte selbst ausgehenden Kraft sei. Diese Kraft,
welche Mesmer im ganzen Weltall voraussetzte und an ein unendlich feines
überall verteiltes Fluidum gebunden dachte, sollte die Wechselbeziehung
zwischen allen Teilen des Makrokosmus herstellen und daher auch auf die
Eigenschaften des lebenden Körpers modifizierend wirken können. Wegen
ihrer, mit der Attraktionskraft des Magnets vergleichbaren Aeusserungen«
nannte Mesmer diese Kraft den tierischen „Magnetismus" und behauptete,
dass die Arzneiwirkung sowie jede Krankheitsheilung nur durch diese
Potenz zu erkhären sei. Je nach der inviduellen Befähigung sei die
magnetische Kraft bei den einzelnen Personen in verschiedenem Grade an-
gehäuft und könne direkt oder durch geeignete Gegenstände (Magnete,
magnetisierte Baquets etc.) auf Ka-anke zu Heilzwecken übertragen werden.
Der Mesmeiismus stiess anfangs in Deutschland auf grossen
Widerstand, weder die massgebenden Augenzeugen in Wien (Störck,
Barth, Ingenhouss) noch die zum Schiedsspruch angerufenen Akademien
sprachen sich für die Glaubwürdigkeit der magnetischen Kuren aus.
Mesmer begab sich daher nach Paris, und dort erst gelang es ihm
trotz der ungünstigen Berichte zweier wissenschaftlicher Kommissionen,
nicht bloss in der Laienwelt durch Wunderkuren begreifliches Auf-
sehen zu erregen, sondern auch die ersten überzeugten Anhänger
unter den Aerzten (Charles d'Eslon) zu finden. Wiewohl aber die
ursprüngliche Lehre vom tierischen Magnetismus durch Mesmer und
seine Schüler fortgebildet und umgestaltet wurde (Graf und Marquis
Puysegur, Somnambulismus, Clair-voyance), so legten die französischen
Anhänger doch hauptsächlich auf die Ausbildung der praktischen
Heilmanipulationen das HauptgeAvicht und wiewohl die Denkart weiter
Kreise, ebenso wie in anderen Ländern durch das Auftreten mystischer
Schwärmer und genialer Betrüger (Cagliostro) vergiftet wurde, so lässt
sich doch von einer theoretischen Beeinflussung der französischen
Medizin im Sinne des Mystizismus auch nicht die leiseste Andeutung
merken.
Ganz anders in Deutschland! Dort fand der Mesmerismus 1787
durch den berühmten Physiognomiker Lavater Eingang und wurde zuerst
von den Bremer Aerzten (H. W. M. Olbers, Georg Bicker und Arnold
Wienholt) eifrigst gepflegt, leider aber allzusehr auf die mj^stische
Seite gezogen. Diese mystische Ausschmückung, welche die Phänomene
des „tierischen Magnetismus" mit den „älteren Wunderkuren" des
Exorcisten Joseph Gassner, des Nekromanten Schröpfer u. a. kurz mit
der „magischen" Medizin in eine Linie setzte, bewirkte zwar ein
mächtiges Anschwellen der Anhängerschaft in ärztlichen und Laien-
kreisen, führte aber notwendig zu abstrusen Ausschweifungen der
ungezügelten Phantasie und verlockte eine Reihe glänzender Talente
auf die abschüssige Bahn des Okkultismus, von dem zur positiven
Wissenschaft kein Weg mehr zurückführt.
In der Dämmerung, in der Nebelatmosphäre des Mesmerismus
stiegen die Sterne des Aberglaubens aus dem Dunkel von neuem
empor, und was der Volksglaube, was raffinierter Betrug an Ammen-
märchen einst ersonnen und erdichtet, schien nunmehr nicht bloss in
die Sphäre der Wahrscheinlichkeit gerückt, sondern sogar sichergestellt.
Einleitung. 111
Auch diejenigen Forscher, welche sich vom Mystizismus möglichst
fern zu halten suchten und sich um wissenschaftliche Erklärungs-
versuche bemühten, wie z. B. E. Gmelin (1753 — 1809), Joh. Lor. Böck-
mann, Joh. Heineken, Ludolph Christ. Treviranus, Aug. Ed. Kessler u. a.
mussten sich in philosophische Spekulationen verlieren, welche natur-
wissenschaftliche Begriife willkürlich verallgemeinerten und zu einem
Spiel mit Worten herabsetzten. Grössere Besonnenheit zeigten nur
die von Hufeland beeinflussten Schriften der Berliner Professoren, Carl
Chr. Wolfart und Carl Alex. Kluge.
Alle diese, dem Aufbau positiver Wissenschaft wenig förderlichen
Elemente, die revolutionären Einflüsse des BrowTiianismus , die
mystische Schwärmerei des Mesmerismus und namentlich die im An-
blick der blühenden Naturwissenschaft neu erstarkte Sehnsucht nach
einer Durchgeistigung der Xatur sammelten sich endlich in der
Naturphilosophie. Mit ihrer Schöpfung schliesst das 18. Jahr-
hundert und zur selben Zeit, da in Frankreich unter völliger Abkehr
von der Spekulation die Grundsteine der realen Heil wissen Schaft gelegt
wurden, da Bichats Genius eine neue Aera eröffnete, umschwebten die
,.Ideen zu einer Philosophie der Natur" die Medizin der Deutschen!
Die naturphilosophische Schule, diese höchste Steigerung
der medizinischen Spekulation und aprioristischen Einheitsbestrebung
entstand im Beginne des 19. Jahrhunderts in Deutschland und ge-
langte nur in Ländern deutscher Zunge zur Herrschaft. So paradox
es auf den ersten Anblick erscheint, so unüberbrückbar der Gegensatz
ist. der zwischen ihr und der, zu gleicher Zeit in Frankreich auf-
blühenden positiven Foi^chung obwaltet, beide Eichtungen. die natur-
philosophische Spekulation der Deutschen und der reale Empirismus
der Franzosen, bedeuten die Erlösung aus den starren Banden des
abstrakten Vitalismus und beide verfolgen trotz ihrer Divergenz, jede
auf besondere Weise, die eine deduktiv-genetisch, die andere induktiv-
analytisch dasselbe Ziel: die wissenschaftliche Begründung
der Medizin. Nicht das Ziel ist es, das sie trennt, sondern die
Methode, und niemals zuvor wurde mit solchen Waffen, mit dem Auf-
gebot so zahlreicher, so bedeutender Kräfte, der uralte Streit aus-
getragen, welcher zwischen Plato und Aristoteles entbrannt ist und
auch auf dem Gebiete der Medizin bald latent schlummernd, bald
grell aufflackernd, bald mit dem Siege des Idealismus, bald mit dem
Triumphe des Realismus endend, den Rhythmus der Geschichtsentwick-
lung unterhält.
Die Ursachen, weshalb an der Neige des 18. Jahrhunderts, an der
Schwelle des 19. nicht einzelne Vertreter dieser oder jener Nationalität,
sondern die deutsche und französische Medizin in corpore einander gegen-
überstehen, liegen tief im Schoss der nationalen Eigenart, der nationalen
Entwicklung, der Zeitgeschichte begründet, und wie immer an einschneiden-
den Wendepunkten, bildet die Geschichte der Heilkunst nur den Ausfluss
des allgemeinen kulturellen Milieus.
Der charakteristische Wesenszug der Romanen, welcher an Formen
und sinnfälligen Erscheinungen haftet, gelangte gerade bei den Franzosen
dank politischer Schicksale zur reichsten Entwicklung, und dieselbe Prägnanz,
welche ihre Sprache trotz geringerem Wortschatz mit kristallheller Klarheit
erfüllt, ihre Kunst auf Kosten der Tiefe den Fesseln der Normen unter-
warf, derselbe Realismus, welcher im gesamten Kulturleben, nirgends aber
112 Max Neuburger.
mehr als in der sensualistisch-materialistischen Philosophie (Condillac, Hel-
vetius, Voltaire, Encyklopädisten, La Mettrie, Cabanis) zutage tritt und das
gelehrte Interesse schon frühzeitig von der Spekulation zu den exakten
Wissenschaften hinleitete, selbst in der Politik den rasch gefassten Gedanken
noch rascher in positive Thaten umsetzt, manifestiert sich auch in der
Medizin, welche im Zeitalter der Revolution selbständig wurde und nicht
aus purem Zufall gerade unter Napoleon unvergleichlich emporzublühen
begann. In dieser glanzvollen Aera, in der sich entsprechend der politischen -
Entwicklung das Interesse umsomehr dem Positiven zuwendete, als Napoleon
schon äusserlich die reale Forschung begünstigte, die ideologische Richtung
dagegen unterdrückte, entnahm die französische Medizin den exakten Wissen-
schaften ihre Methoden, ihre Grundlagen und baute auf diesen vorsichtig
weiter.
Ein geradezu entgegengesetzter Verlauf lässt sich in der deutschen
Naturforschung und Medizin verfolgen. Die schönen Ansätze des deutschen
Volksgeistes, der mit der ganzen Urgewalt seines Tiefsinns, seines seelischen
Empfindens nach dem Wetterleuchten der religiösen Mystik im Reformations-
zeitalter seine Fesseln sprengte und auch in der Heilkunst des genialen
Paracelsus wehte, wurden unter der rohen Wucht des dreissigjährigen
Krieges für lange hinaus zu Boden getreten. Die politische Zerfahrenheit
und Zerrüttung, der despotische Druck und die pedantische Kleinlichkeit,
der Mangel an Selbstbewusstsein gegenüber fremdländischen Eingriffen —
alle diese traurigen Momente beeinträchtigten die nationale Entwicklung,
zersplitterten die besten Kräfte des Volkes und erzeugten einen tiefen Ver-
fall der Kultur, den selbst die gigantische Grösse eines Leibniz nicht auf-
zuhalten vermochte. Ein seichter religiöser Rationalismus, ein flacher ästhe-
tischer Eklektizismus, der in den Farben des Auslands schillerte, verriet
allein den matten Pulsschlag des geistigen Lebens. Dieselben Merkmale
lassen sich auch in der Naturforschung nachweisen* Erst in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts stellten sich die ersten Anzeichen der Ge-
sundung ein. In reger Fühlung mit dem frischen Sinn des Volkes erwachte
unter den Besten ein warmes Nationalgefühl, das zunächst nur im Reich des
Idealen in Litteratur und Kunst seinen Ausdruck finden konnte. Er-
starkt an kräftigem Selbstbewusstsein, aus eigenen Schachten schöpfend,
konnte jetzt der deutsche Genius seine Macht entfalten, und bald in wenigen
Dezennien erreichte die Litteratur eine Höhe, welche sie jeder anderen zum
mindesten ebenbürtig machte. Klopstocks edle Begeisterung, Wielands
anmutende Grazie, Lessings kritische Meisterschaft und urkräftiger National-
sinn, Herders reicher, in die Tiefen der Volksseele dringender Geist,
Winckelmanns Erweckung des klassischen Altertums künden das nahende
Dioskurenpaar - — Schiller und Goethe. Aus dem Sonnenstrahle ihrer Muse
empfing das nationale Gefühl neue Kräfte und Trost für die tiefen
Demütigungen, welche das deutsche Volk auf die härteste Probe der Ge-
duld und Entsagung stellen sollten. Die Naturforschung, welche vorher
am härtesten unter der Ungunst der Verhältnisse gelitten hatte, vermochte
den ruhmvollen Aufschwung der Litteratur nicht zu begleiten, und gerade
jene gewaltig stürmenden Triebkräfte, welche im Reich der künstlerischen
Phantasie Grosses zeugten, führten wohl zu idealen Projekten und zu kühnen
Anläufen, niemals aber zu ruhiger, genügsamer ausharrender Beobachtung.
Das abstrakte Parteiengezänke, welches den Phasen der philosophischen
Spekulation folgte, verstummte auch nicht vor der warnenden Stimme des
grossen Begriffs-Zerschmetterers, Immanuel Kant. Mochte der Weise von
Königsberg auch für alle Zeiten die unübersteiglichen Grenzen des Denkens
Einleitung. 113
und damit die Subjektivität der Anschauung festgestellt haben, mochte er
auch die metaphysische Spekulation der Autoritäten zerstört, die Natur-
wissenschaften auf den einzig möglichen Weg der Erfahrung unter steter
Kritik der Erkenntnisquellen gewiesen haben, die zur Meditation hin-
neigenden Geister dieser romantischen Zeit Hessen sich davon nicht ab-
schrecken, gerade die idealistischen Keime, welche in Kants Philosophie
liegen, einseitig hervorzuziehen und die Sehnsucht nach aprioristischer Er-
kenntnis in gewagten Versuchen zu stillen. So wurde denn Kants Lehre
der Ausgangspunkt erhöhter Spekulation, nicht nur in der Philosophie
(Fichte, Schelling, Hegel), sondern leider auch in der Natiu-wissenschaft und
Medizin,
Der Höhepunkt der spekulativen Richtung, welcher nur wenige deutsche
Naturforscher, wie Alexander v. Humboldt, ferne standen, fällt gerade in
die Epoche des politischen Sturms, der Vorbereitung zu den Befreiungs-
kriegen, welche Zeit ohnedies eine ruhige naturwissenschaftliche Sammel-
thätigkeit bei den Deutschen nicht aufkommen Hess, ihnen aber andererseits
die glänzendsten Leistungen eines Volta, eines Dalton. Berzelius, Humphry
Davy, Gay-Lussac u. a. vor Augen stellte. Statt die Wege dieser Männer
einzuschlagen, mit ihren Methoden Einzelprobleme zu bearbeiten, wie es die
französischen Forscher thaten, betrachteten die deutschen Denker die er-
zielten Resultate als genügend, um aus ihnen kraft der Selbstherrlichkeit
des Geistes welterklärende Systeme schmieden zu können. Noch mehr als
die Naturforschung, bildete die deutsche Medizin den in der Volksanlage
vorhandenen, durch die geschichtsbildenden Einflüsse noch vertieften, speku-
lativen Zug aus und trat damit als letztes Glied einer langen Entwicklungs-
reihe der ebenfalls scharf ausgeprägten realistischen Medizin der Franzosen
gegenüber.
Erfahrung- und Spekulation schienen einen ewigen Bund ge-
schlossen zu liaben, als Friedr. Wilh. Joseph Schelling über Kant und
Fichte hinausstrebend sein System der Naturphilosophie (1799) be-
kannt machte und mitten in der gärenden Bewegung der damaligen
Naturforsclmng die zerstreuten Ergebnisse der Empirie nicht bloss zu
einer geschlossenen Einheit harmonisch verband, sondern dialektisch
aus einer aprioristisclien Grundidee wie etwas Selbstverständliches
hervorgehen Hess.
Während Kant die Subjektivität unserer Anschauung bewies,
während Fichte die Natur aus dem „Ich" konstruierte, eint sich in
Schellings Sj^stem Geist und Materie, Subjekt und Objekt zu einem
grossen Ganzen, dessen Gestalten und Bewegungen von einem Leben,
einem Urgesetz. durchflutet sind. Das Unendliche, das Absolute,
entsprechend Spinozas Gottheit, die Identität des Realen und
Idealen, ist der Urgrund alles Seins, das sich in Geist und Natur
offenbart und die einzelnen Erscheinungen in stufenweiser Entwick-
lung durch Differenzierung, durch das Ueberwiegen des einen oder
anderen Pols, erzeugt. Die Identität als seiend gedacht, ist absolute
Vernunft, als werdend ist sie Natur. „Die Naturgetze müssen
sich auch unmittelbar im Bewusstsein als Gesetze des
Bewusstseins, und umgekehrt diese letzteren auch in
der objektiven Natur als Naturgesetze nachweisen
lassen." Hiernach ist eine Konstruktion der Natur aus Vernunft-
ideen gegeben.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 8
114 Max Neuburger.
Den drei Dimensionen der Materie entsprechen die drei Grundkräfte,
Magnetismus, Elektrizität und chemischer Prozess, welche sich im Organis-
mus als Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion darstellen. Das Organische
unterscheidet sich vom Anorganischen nur durch die Potenzierung der
Grundkräfte, ein Leben durchweht das gesamte All in stufenweiser Steigerung.
Das Pflanzenreich besitzt nur die Reproduktionskraft, bei den Würmern be-
steht der Streit zwischen Reproduktion und Irritabilität, die Insekten habön
Irritabilität, bei Amphibien und Fischen überwiegt die Irritabilität, die
Vögel nähern sich bereits der Sensibilität, während die Säugetiere durch
die Sensibilität charakterisiert sind. Im menschlichen Organismus entspricht
der Nerventhätigkeit (Kopfhöhle) die Sensibilität, den Muskeln und dem
Herzen (Brusthöhle) die Irritabilität, den vegetativen Funktionen (Bauch-
höhle) die Reproduktionskraft. Alles höher entwickelte Leben ent-
hält notwendig alle niederen Bildungsstufen in sich,
Scliellings Philosophie ist nicht nur durch ein geistig^es Band mit
der Paracelsischen Kosmosophie verknüpft, an welche sie unter anderem
durch den Gedanken der Einheit des Naturlebens, durch die
Annahme innigster Wechselbeziehungen zwischen Organismus und
Aussenwelt, durch die bis ins einzelne durchgeführte Vergleichung
des Makrokosmus mit dem Mikrokosmus gemahnt, sie wurde in ihrer
Verbreitung auch durch äussere Verhältnisse begünstigt, die an das
Reformationszeitalter erinnern. Gewaltige Umwälzungen waren im
gesamten Kulturleben vor sich gegangen, die überraschenden That-
sachen der Naturforschung wirkten umgestaltend auf Welt- und Lebens-
auffassung, das Wehen einer neuen Zeit Hess seinen Atem spüren und
entfachte die Flamme der Begeisterung für Recht und Freiheit, die
deutsche Kunst war zu neuem Leben erwacht, die blühende Dicht-
kunst, als schönster Ausdruck des Empfindens der Volksseele, weckte
den Sinn für alles Wahre, Schöne, Edle, neigte aber in der roman-
tischen Schule dem Phantastischen oder Mittelalterlichen zu, —
wie sollte der deutsche Idealismus nicht für eine Lehre erglühen, die
seinem innersten Wesen entsprang und zudem noch eine vollendete
Theorie der Natur, eine Auflösung der ganzen Natur in Intelligenz,
eine Vergeistigung aller Naturgesetze versprach? Freilich
waltet ein grosser Unterschied zwischen Schelling und Paracelsus, in-
sofern der Naturphilosoph des Reformationszeitalters zwar eine un-
endliche Menge von Gott erschaffener Lebensideen annahm, aber
deren Erforschung nur durch Beobachtung und Erfahrung für mög-
lich hielt, während der Schöpfer der „Identitätslehre" sich vermass,
die ganze Welt mit allen ihren Erscheinungen a priori zu konstruieren,
die Spekulation als höchste, ja einzig sichere Erkenntnisquelle hinzu-
stellen; aber musste es in einer Epoche, welche unter der Fülle un-
geahnter Erkenntnis die geistige Sammlung verlor, welche im Jubel
der Begeisterung auf allen Gebieten nach ungemessenen Zielen strebte,
nicht verlockend erscheinen, den Versuch zu machen, ob man nicht
besser fortkomme, wenn man der wissenschaftlichen Konstruktion die
empirische Forschung opfere?
Begeistert folgten Naturforscher und Aerzte den Sirenenklängen,
nur zu lange standen sie treu zur Fahne Schellings, der durch Auf-
stellung der Polaritäts Wirkung als eines allgemeinen Naturgesetzes, ,
durch Vorahnung der Identität der elektrischen und magnetischen
Kraft, durch geistvolle Antizipation der Entwicklung der Organismen
Einleitung. 115
wahrhaft prophetische Blicke in die Natur gethan zu haben schien —
hatte doch auch Goethe die „Ahnungen" am höchsten bewertet! In
der kunstvoll ersonnenen Schulsprache war Wahrheit und Dichtung
innig durchmengt, die täuschende Unterordnung bekannter Fakten
unter spekulative Axiome liess erwarten, dass man durch kühne
Vergleiche, durch Analogisierung und Parallelisierung über die Er-
fahrung hinaus ins Unbekannte dringen könne.
In flammenden Worten zeigt die Geschichte dieser
Epoche, dass die Synthese allein, selbst wenn sie Wahr-
heit in sich schliesst, niemals zu sicheren Ergebnissen
auf dem Gebiete der Naturwissenschaften führen kann,
dass die Hypothesen und Geistesblitze universaler
schöpferischer Denker nur dann wahren Fortschritt be-
gründen können, wenn sie auf induktivem Wege auf
ihren Wert untersucht und an der Hand der Erfahrung,
an einermöglichst grossen Zahl von konkreten Einzel-
fällen zur vollen Evidenz erwiesen werden. Wenn man
sich die Mühe nimmt, durch die gekünstelte und von willkürlichem
Wortgebrauch verunstaltete Schulsprache der Naturphilosophen auf
den Grund ihrer Ideen zu dringen, so findet man bei manchen unter
ihnen Vorahnungen und Antizipationen, welche im Hinblick auf die
damalige Niveauhöhe positiver Erkenntnisse überraschen und that-
sächlich im Laufe eines Jahrhunderts rastloser Detailarbeit in den
anerkannten Besitzstand der Wissenschaft übergegangen sind. Aber
nur die Früchte des SchAveisses, nicht die Seifenblasen einer noch
genialen Phantasie, bedeuten wissenschaftliches Gut, nur durch die
empirische Forschung konnten die Ideen nutzbar werden und wenn
auch die Geschichte mit dem Finger darauf hinweist, dass manche
Errungenschaft der exakten Forschung durch spekulative naturphilo-
sophische Köpfe inspiriert oder doch angedeutet worden sind, die
späteren Generationen stehen auf eigenem, mit der Pflugschar ihrer
Arbeit durchfurchtem Boden, sie haben den Zusammenhang mit jener
Zeit für immer verloren und bewerten ihre Leistung als beklagens-
werte fortschrittshemmende Verirrung. Die Wahrheit muss eben
durch den Destillierkolben der Erfahrung hindurch,
um Wissenschaft werden zu können.
Gerade aber, weil heute die Gefahr eines Rückfalls in aprioristische
Spekulation kaum droht, und das vernichtende Verdammungsurteil vor
dem wissenschaftlichen Forum jeden wahren Forscher vor rein speku-
lativen Anwandlungen bewahrt, ist es Pflicht des Historikers daran
zu erinnern, dass zwar die Kärrner der Natui'philosophie durch ihr
inhaltsleeres philosophisch geschwängertes Phrasengeküngel den Fort-
gang der Wissenschaft hemmten, dass auch die führenden Geister
durch ihre grundfalsche Methode ein warnendes Beispiel für alle
Zeiten gaben , dass aber Männer wie Schelling, Lorenz
Oken, J. Döllinger und namentlich Carl Friedrich Kiel-
m e y e r hinsichtlich ihrer Ideen zu den Grössten gezählt werden
müssen und wenigstens das Verdienst für sich in Anspruch nehmen
dürfen, durch Auffassung der Natur als eines geschlossenen Ganzen, durch
Vergleichung der Lebensvorgänge mit chemisch-physikalischen Pro-
zessen die Physiologie befruchtet und den Entwicklungs-
gedanken in die Naturforschung verpflanzt zu haben. Konnte
dieser herrliche Gedanke, der späterhin wie aus einem Füllhorn die
8*
116 Max Neuburger.
fruchtbringendsten Keime streute, auch erst viel später in seiner
Gänze klarg-estellt und nocli viel später praktisch ausgenützt werden,
es waren doch die deutschep Naturphilosophen die Ersten, welche
diesen Schacht mit ihren Hammerschlägen erschlossen, die zuerst den
Silberblick des verborgenen Schatzes zu erspähen wussten. Der Sinn
des Wortes „Natur", d. h. des „Werdenden", der Zusammenhang allfer
Erscheinungen trat ihnen mitten in einer Zeit, die sich nur mit der
Analyse des Gegebenen befasste, klar vor Augen, und die allerdings
sehr geringe Zahl der Forscher, welche nicht in linguistischen Turn-
übungen und scholastischen Begriffszergliederungen das Wesen der
Naturphilosophie erblickte, wurde mächtig angeregt, die Differenzierung
des Absoluten, den vorausgesetzten genetischen Prozess auf ver-
schiedenen Gebieten empirisch zu untersuchen. Vergleichende
Anatomie, Physiologie und Embryologie waren die Gebiete,
wo sich solche Bestrebungen besonders geltend machen konnten, und
wie sehr hiedurch den Theorien von Lamarck und von Geoffroy
St. Hilaire, dem Darwinismus vorgearbeitet wurde, bedarf keiner be-
sonderen Darlegung.
Kielmeyer (1765 — 1844), ursprünglicli Professor an der Karlsschule
zu Stuttgart, und sein Schüler, der Schöpfer der vergleichenden Anatomie,
Cuvier, illustrieren durch ihr geistiges Verhältnis am deutlichsten, wo die
Fäden der heutigen Naturforschung gerade in ihrer imposantesten Manifestation
anknüpfen ; denn Cuvier, der die metaphysique idealiste der Deutschen ver-
lachte, dessen Leistungen stets als exakte betrachtet werden müssen, war
ehrlich genug zuzugeben, dass er die leitenden Gedanken niemand anderem
als dem Naturphilosophen Kielmeyer zu verdanken habe, und thatsäch-
lich bezeugt dessen Schrift, dass er weniger durch empirische Mittel, als
durch reines Denken zu der grossen Grundwahrheit des biogenetischen
Gesetzes vorgedrungen war, indem er darauf hinwies, wie jedes einzelne
Individuum in seiner Entwicklung dieselbe Stufenreihe durchlaufe, welche
in der Tierwelt als Abspiegelungen eines gemeinsamen Bildungstypus hervor-
treten, wie der Embryo die organischen Formen der Tierwelt wiederhole —
eine Idee, die zuerst von Anaximander ausgesprochen wurde. Ebenso frucht-
bringend wie Kielmeyer wirkte der aus Schellings Schule hervorgegangene
Physiologe Döllinger (1770 — 1841), der anerkanntermassen zu den Be-
gründern der neueren Entwicklungsgeschichte, zu den bedeutendsten
Förderern der mikroskopischen Forschung zählt. Und wer vermag nach
unparteiischer Prüfung dem Hauptvertreter der Naturphilosophie, dem Vor-
kämpfer des deutschen Hochgedankens, dem Begründer der jährlichen Ver-
sammlungen deutscher Natui'forscher und Aerzte, Lorenz Oken (1779 —
1851), seine Anerkennung versagen, wenn er die All-Einheit der Natur,
das Gesetz der Entwicklung nachzuweisen sucht, wenn er in Vorahnung der
Zellentheorie den Organismus aus Bläschen, wenn er wie Goethe den Schädel
aus einer Vereinigung höher entwickelter Wirbel, den Darm aus dem Nabel-
bläschen hervorgehen lässt? Sein Genius, der ihn zur Bearbeitung der
Entwicklungsgeschichte führte, drang hinaus über die mystische Schulsprache
und offenbarte sich in Leistungen, deren innerer Wert, losgelöst von den
Schlacken der Zeit, Bewunderung im vollsten Masse verdient. Dasselbe
gilt für andere Naturphilosophen, soweit die Physiologie in Betracht kommt, *
z. B. für Kieser, J. Dömling, die beiden Treviranus, Burdach, Gruithuisen,
L. Beinhold, Georg Prochaska, J. H. F. Autenrieth, Carus, Huschke u. a.
Einleitung. 117
Leider verstauden es aber nur wenige NaturpMlosophen mit der
Spekulation empirische Forschung zu verknüpfen, die meisten glaubten,
ohne durch Gedankenreichtum Ersatz zu bieten, die wissenschaftliche
Taglöhnerarbeit gänzlich entbehren zu können und zersplitterten ihre
schwachen Kräfte in hohlen Abstraktionen, die weder Philosophie
noch Naturwissenschaft waren, oder missbrauchten beifallslüstern den
Reichtum der gefügigen deutschen Sprache zur Ausbildung einer
ebenso inhaltsleeren vde hochtönenden Terminologie, welche die Blossen
des Wissens mit dem Flitter unverständlicher Phrasen bedecken sollte.
Sie vergifteten nicht nur das Denken, sie machten sogar den Nutzen
wieder illusorisch, der durch E i n f ü h r u n g der d e u t s c h e n Sp r a c h e
in die wissenschaftlichen Diskussionen gebracht worden
war; denn der Mode huldigend, gefiel man sich in nichtssagenden
Wendungen und Stichwörtern, welche die ganze damalige Litteratur
geradezu ungeniessbar machen. In einer Geschichte der Wissenschaft
können diese Produkte keinen Platz beanspruchen, ihre Urheber
werden am besten der Vergessenheit anheimgegeben. Am schlimmsten
waren die Folgen für die Medizin, wo naturgemäss die denkende Be-
obachtung mit der am Schreibtisch ersonnenen Hypothese gänzlich un-
vereinbar ist. Vergeblich waren die Warnungen eines Ph. K. Hartmann,
eines so kritisch und historisch geschulten Denkers, wie A. Fr. Hecker
(1763 — 1811). die geistige vSeuche verbreitete sich von Jena aus über
ganz Deutschland und namentlich München, Bamberg, Würzburg und
Bonn wurden zu Centralstätten, in denen akademische Lehrer das
Gift der lernbegierigen Jugend einflössten. L^ngezügelte Phantasie
als Forschungsmethode, eine von inhaltsleer enPhrasen
wimmelnde Terminologie als Verständigungs mittel, das
waren die Gaben, welche die Naturphilosophie der Medizin brachte,
und neben diesen furchtbaren Nachteilen verschwand wenigstens für
die Dii minores die Grundidee, die Heilwissenschaft in den Rang einer
Naturwissenschaft zu erheben. Diese Grundidee wurde durch die von
Schelling und Marcus herausgegebenen ,.Jahrbücher der Medizin als
Wissenschaft" (1806 — 1808) propagiert, in Wirklichkeit bestand ihre
Realisierung aber in einer rein konstruktiven Pathologie, die an die
Systeme Browns, Röschlaubs. Mesmers anknüpfte und mit den Be-
griffen Erregbarkeit. Sensibilität. Irritabilität. Polarität etc. ihr nutz-
loses Fangballspiel trieb. Deshalb kam man auch mit der entschieden
ausgesprochenen Opposition gegen den Vitalismus nicht zum er-
wünschten Ziele und nicht eine einzige Thatsache von Wert gewann
die Pathologie unter der Herrschaft der Naturphilosophie. Zu den
Hauptvertretern der Naturphilosophie auf dem Gebiete der praktischen
Medizin zählen J. P. V. Troxler (1780—1860). Dietrich Georg Kieser
(1779—1862), Markus, Reil, Carl Himly, die Wiener Aerzte Adam
Schmidt und Malfatti.
Zwei Grundvorstellungen waren es namentlich, welche den patho-
logischen Systemen der Naturphilosophie eigenartige Färbung ver-
liehen: die Lehre von den Polaritäten und der Entwick-
lungsgedanke.
Der dualistische Gegensatz der Kräfte, welcher mit Leichtigkeit
nicht nur in den magnetischen, elektrischen und chemischen, sondern
auch in den Lebensphänomenen leicht aufzuspüren war, wurde geradezu
als Quelle aller Naturerscheinungen erklärt, und sei es, dass man das
Vitale lediglich als Potenzierung des Galvanismus betrachtete (Brandis,
118 Max Neuburger.
Oken, Procliaska) oder aber zu den physikalischen Imponderabilien
nur in Analogie setzte (Autenrieth, Treviranus), das Vorwalten eines
„Pols" schien die mannigfachsten und kompliziertesten, physiologischen
und pathologischen Vorgänge restlos zu erklären. Je weniger positiv.e
Kenntnisse und Erfahrungen am Krankenbette hinderlich im Wege
standen, desto leichter berauschte man sich an den Gleichnissen, die dem
Galvanismus entnommen waren, und spielend lösten sich die schwierigsten
Probleme in der Phantasie, wenn man die Polaritätswirkung der
Körperteile und Organe untereinander, die polaren Beziehungen
zwischen Materie und Erregbarkeit, zwischen Expansion und Kon-
traktion, zwischen Sensibilität und Irritabilität, Arteriellität und
Venosität etc. zum Wesen der Sache machte. Gesundheit war in
solcher Aufassung nichts anderes als das richtige Verhältnis sämtlicher
Organe untereinander und in ihrer Beziehung zur Aussen weit. Krank-
heit das Abweichen vom Normalen durch Vorwiegen des positiven oder
negativen Pols (D. G. Kieser) oder das Heraustreten eines Organs,
einer Sphäre des Lebens (z. B. Irritabilität) aus dem normalen Fluss
der Erscheinungen oder das Missverhältnis der organischen Thätig-
keit zu ihrem organischen Gebilde (Troxler). Die Sympathie der
Organe beruht auf Polaritätswirkung, Metastasen kommen dadurch
zustande, dass die Fortpflanzung der primären polaren Veränderung
durch alle dazwischen liegenden Körperteile in ein anderes Organ vor
sich geht. Glücklicherweise konnte die Therapie, trotzdem theoretisch
auch dahin die Polaritätslehre hineingetragen wurde (positive, negative ;
ideale, reale Arzneimittel, Steffens), nicht wesentlich beeinflusst werden,
sie folgte ihren alten ausgetretenen Bahnen. Berüchtigt wurde nur
F. A. Marcus, der die Irritabilität für den wichtigsten Angriffspunkt
der Behandlung erklärte und demgemäss einem masslosen Vampyrismus
huldigte.
Im Lichte der Polaritätslehre schien auch der tierische Magnetis-
mus und der Somnambulismus verständlicher zu werden. So suchten
Gmelin, Wilbrand, Kieser, Nasse den Mesmerismus physiologisch zu er-
klären, sei es, dass sie ihn als „animalisierte Elektrizität", als „Wieder-
holung niederer Naturkräfte auf höherer Stufe", als schlagendstes
Beispiel „organischer Polaritäten", als Polarität des Sonnengeflechts,
des „tellurischen" Ganglienlebens gegenüber dem „solaren" Gehirn-
leben auffassten. Nur zu rasch versagten aber diese Erklärungs-
versuche, und je mehr man sich in die „Nachtseite der Natur" ver-
senkte, desto eher gelangte man auf die abschüssige Bahn des Mysti-
zismus, die von der Wissenschaft in den Abgrund des düstersten
Aberglaubens führte. Aehnlich, wie Schelling selbst am Schlüsse
seiner Laufbahn im Mystizismus endete, so zweigte sich von der rein
naturphilosophischen Schule endlich eine Sekte ab, welche die Medizin
durch die Etappen der Mystik, des Symbolismus auf das Gebiet der
Magie, Thaumaturgie und Theurgie zu leiten bestrebt war. Dahin
lief allmählich die Richtung, welche der Verfasser der Seherin von
Prevorst, der Dichterarzt Justinus Kerner (1786 — 1862), sein Freund
Eschenmayer, ferner die Münchener Professoren Gotth. H. Schubert
und Franz X. Baader und besonders Joseph Ennemoser, verführt durch
die Sphinx des Somnambulismus eröffnet hatten. Von ihrer Schwär-
merei, welche im Somnambulismus das „Hereinragen der Geisterwelt"
erblickte und den längst begrabenen Spuk des Gespenster- und
Dämonenglaubens zu neuem Leben erweckte, war nur ein Schritt zur
Einleitung. 119
pietistischen „christlich-g-ermanischen" Schule, die Görres,
Windischmann, Heinroth, Leupoldt, Joh. Nepomuk von Ringseis (1785—
1880) zu ihren Häuptern zählte, eine spezifisch „christliche" Heilkunde
aufbaute, die Krankheiten (namentlich die psychischen) aus der Sünde
herleitete und demgemäss zu jener magisch-theurgischen Therapie
zurückkehrte, welche einst die Rosenkreuzer als Ausläufer des Para-
celsismus betrieben hatten. Getragen vom mystisch-romantisch-reak-
tionären Geist, der damals in Deutschland herrschte, fand diese Schule
zwar einige Dezennien hindurch begeisterte Anhängerschaft, vermochte
aber dem siegreichen Vordringen der Naturwissenschaft auf die Dauer
nicht zu widerstehen und stürzte zugleich mit der politischen Reaktion
in den vierziger Jahren hoffentlich für immer (?) zusammen.
Auch der zweite Fundamentalgedanke Schellings, die E n t w i c k -
1 u n g s i d e e , fand in der naturphilosophischen Pathologie Verwertung,
leider aber in grotesker Verzerrung. Es handelte sich hiebei zum
geringsten Teile um die Auffassung des normalen oder krankhaften
Lebens als beständigen Werdeprozess — eine Auffassung, die gegen-
über der Brownschen Theorie nur von dem Polen Andreas Sniadecki
und dem Dresdner Praktiker Fr. Ludw. Kreyssig in geistvollster
Weise vertreten wurde, — sondern um den Vergleich der
Krankheiten mit niederen Entwicklungsstufen des
Lebens. Im Hinblick auf die eigentümlich modifizierten soma-
tischen und psychischen Vorgänge während des „magnetischen,,
Schlafs, im Anschluss an die Betrachtung der, bisweilen an tierische
Gestaltungen erinnernden Missbildungen, gelangte man zur Vorstellung,
dass jedwedes Kranksein gewisse Aehnlichkeiten mit unvollkommenen
Lebensformen darstelle. Nichts schien verlockender als diese ver-
meintliche Aehnlichkeit zur Identität zu erheben, d. h. kurzwegs, zu
postulieren : das Pathologische entsteht dann, wenn ein oder mehrere
oder alle Teile des Menschen nicht die normale Höhe erreichen, sondern
auf niederer Stufe verharren,, oder wenn schon normal entwickelte
Teile wieder auf eine unvollkommene Organisationsstufe herabsinken. Es
lässt sich nicht leugnen, dass dieser Gedanke, natürlich mit der grossen
Beschränkung auf den menschlichen Typus und auf enge Grenzen, in
der modernen Medizin wiedergekehrt ist (z. B. in der Erklärung der
Neubildungen, in der Auffassung der Entzündung als regressive Meta-
morphose in den Embryonalzustand), in einer Epoche aber, in welcher
man die Phantasie frei und fessellos, ohne Kritik und Untersuchung
walten liess, konnte er nur zu den extremsten Ausschreitungen Anlass
geben. Diese Konsequenz musste umso eher eintreten, als gleichzeitig
gerade durch die einseitige Berücksichtigung und romantische Be-
trachtung der parasitischen Neubildungen, der kontagiösen Atfektionen
und der „Wurmkrankheiten" die onto logische Krankheitsauffassung
sichere Grundlagen gewonnen zu haben schien und ausserdem noch
die Lehre von der Generatio aequivoca das Entstehen von niederen
Organismen (Infusorien, Milben, Würmer) im menschlichen Körper
wahrscheinlich machte. Aus der Verknüpfung dieser Prämissen, aus
der Verwechslung von Krankheitserregern mit dem Krankheitswesen
ging der Schluss hervor, dass die Krankheit nicht nur einen tiefer
stehenden Lebensprozess darstellt, sondern ein eigenes, selbständiges
Leben niederer Kategorie repräsentiert, welches gegenüber dem er-
griffenen Körper als Parasit wirkt, dass das erkrankte Organ nicht
bloss einen degenerierten Körperbestandteil, sondern als parasitäre
120 Max Neuburger.
„After Organisation" mit eigenen Bildungs- und Entwicklungs-
gesetzen existiert. Der grobe denkmethodische Fehler, welcher
Krankheitsursache mit Krankheit verwechselt, den eventuellen para-
sitären Krankheitserreger und seinen krankmachenden parasitären
Lebensprozess mit dem erkrankten Organ zusammenwirft, wurde gänz-
lich übersehen und gab zur Schöpfung der „Parasitentheorie" Anlass,
unter deren Banner die sogenannte „naturhistorische Schule"
aus der naturphilosophischen hervorging, eine Schule, die sich diesen
Namen deshalb beilegen konnte, weil sie die als selbständige In-
dividualitäten aufgefassten Krankheiten systematisch klassifizierte,
wie es schon weit früher Sauvages nach dem Projekte Sydenhams
durchgeführt hatte.
Den Namen empfing die naturhistorische Schule von dem Jenenser
Professor K. W. Stark (1787 — 1845), welcher sich die Krankheit als selb-
ständigen, wenn auch nicht immer auf räumliche Weise geschiedenen para-
sitischen Lebensprozess, als Organismus im Organismus vorstellte. Sie ist
nichts Negatives, d. h. Beraubung der Gesundheit, sondern etwas Positives,
eine in sich geschlossene Individualität von niederem Biidungstypus, ge-
schaffen nach dem Vorbilde einer auch sonst in der Natur vorkommenden
Organisation, Nur konsequent schliesst Stark, dass die Krankheiten selbst
wieder erkranken können, so z. B., wenn zum Tuberkel das Geschwür, zu
einer Allgemeinerkrankung Blutung hinzukommt u. s. w. Noch prägnanter
vertraten F. Jahn (1804—1859) und E. Volz (1806—1882) den onto-
logischen und parasitären Gedanken. Ihre Ansichten werfen auch ein
grelles Streiflicht auf die psychologischen Ursachen dieser Verirrung. Da
nämlich mit dem Eintritt des Todes eine „üppige Entbindung niederer
Lebensformen" (Infusorien) eintrete, so müsste in der Krankheit, die ja eine
Vorstufe des Todes sei, schon eine Bildung solcher niederer Lebensformen,
eine „Infusoriengärung" vorbereitet sein, die nur noch in Latenz verharre.
Beweis dessen finde man in Geschwüren und Hautkrankheiten Würmer,
Krätzmilben etc. oder verwandte Gebilde, wie Tuberkel, Balggeschwülste,
Hydatiden u. s. w. Die Krankheiten seien also niedere, den Pilzen, In-
fusorien, den Pflanzensamen oder Tiereiern entsprechende Organismen, deren
Individualität sich bemerkenswerterweise durch periodisches Auftreten (Keuch-
husten, Malaria, Epilepsie u. s. w.), durch das begrenzte Vorkommen in
bestimmten Ländern, durch nachweisbare Wanderung (Epidemien) durch die
Wirksamkeit spezifischer Mittel und durch ihren Parasitismus gegenüber
dem Wirte kundgeben. Ganz besonders spreche für den individuellen onto-
logischen Charakter der historisch zu verfolgende Verlauf seuchenhafter
Krankheiten, welche entstehen, wachsen und zu grundegehen (verschwinden).
Man sieht, dass Jahn einen an sich richtigen Gedanken verfolgte, der Sydenham
und andere zur Aufstellung des Begriffs „Genius epidemicus" veranlasst
hatte. Zu den grössten Paradoxien gelangte ein anderer Vertreter der natur-
historischen Schule. K. R. V. Hofi'raann (1797 — 1877), der die Identifizierung
der Krankheiten mit selbständigen organischen Bildungen nicht wie die übrigen
bloss andeutete, sondern mit kühner Phantasie tbatsächlich durchführte. In
moderner Terminologie würde er die Krankheit als Einbruch der Phylogenie
in die Ontologie bezeichnet haben, da er in den verschiedenen Affektionen
nur ein Zurücksinken auf niedere Lebensstufen, „ein Wiedererwachen des
längst Begrabenen" erblickt. So bedeuten die Skrofeln ein Zurücksinken
auf die Stufe der Insektenlarven (Tertium comparationis : Schwammigkeit,
Armut an Pigment, Aufgedunsensein, Vorkommen an feuchten Orten), die
i
Eiuleitung. 121
Rhacbitis gleicht durch die Weichheit des Knochensystems wirbellosen
Tieren, die Krebsgebikle sind wirkliche Polypen, Rotlauf und Scharlach
werden dem Häutungsprozess der Tiere an die Seite gestellt, Gichtknoten
sind verkümmerte Bewegungsglieder, Hämorrhoiden verkümmerte Eingeweide-
glieder.
Gerade in Verfolgung- der Parasitentheorie war die naturhistorische
Schule schon in ihrer ursprünglichen Bedeutung gezwungen, eine Ver-
bindung der Medizin mit den beschreibenden Naturwissenschaften an-
zubahnen nnd nach deren Muster nicht allein die Nosologie syste-
matisch zu bearbeiten (Krankheitsklassifikationen), sondern auch die
Diagnostik (Ludw. Aug. Siebert, C. H. Fuchs, Hautkrankheiten)
wesentlich zu verfeinern. Bei diesem Bestreben trat die Parasiten-
theorie in dem Masse in den Hintergrund, als naturwissenschaftliche
Thatsachen und Erfahrungen am Krankenbette herangezogen wurde.
Ein Teil der Anhänger, wie z. B. G. Eisenmann (1795—1867), C. H.
Fuchs (1803-1855), K. Canstatt (1807—1850) u. a. legte sogar das
Hauptgewicht auf die Systematik, die sie. wenn auch unvollkommen
und phantastisch, doch mit möglichster Benützung klinischer, ana-
tomischer und chemischer Untersuchungsergebnisse (z. B. Prüfung der
chemischen Eeaktion der Krankheitsprodukte) nach dem Vorbilde des
natürlichen Pflanzensystems auszubilden versuchten. Von diesem Be-
streben bis zum Abwerfen des ganzen spekulativen Ballastes, bis zum
Aufgehen in unbefangener, klinisch-naturwissenschaftlicher Forschung
war nur ein Schritt. Diesen Schritt, der die Medizin endlich aus dem
spekulativen Hohlweg herausführte, that einer der grössten Aerzte
des 19. Jahrhunderts, der Schüler des Naturphilosophen v. Walther —
Joh. Lucas Schön lein (1793 — 1864), der gemeiniglich als Haupt
der naturhistorischen Schule betrachtet wird. Der individuelle Bildungs-
gang dieses Meisters spiegelt die drei Etappen der naturhistorischen
Schule aufs genaueste wieder, und wie sich in jeder, seiner drei
Wirkungsepochen, in Würzburg, Zürich und Berlin, Schüler ablösten,
die seine jeweilig vertretene Hauptrichtung, die parasitäre, die noso-
logisch-klassifikatorische, die diagnostisch-naturwissenschaftliche be-
sonders vertraten, so verwandelte sich auch allmählich der Sinn, den
man mit der Bezeichnung „naturhistorische" Schule verband. Aus
der Naturphilosophie und Spekulation hervorgehend, in Empirie und
physikalisch-chemischer Diagnostik endend, stellte sie das Verbindungs-
glied zwischen der „romantischen" und der „exakten" Medizin dar,
eine Uebergangsphase, die den bewussten Zusammenhang mit der
Vergangenheit nicht zum mindesten durch Pflege der Geschichte (der
Medizin und der Krankheiten) offenbart.
Der eigenartige Werdegang, welchen die deutsche Medizin auf
dem Boden der Naturphilosophie verfolgte, entsprach dem deutschen
Idealismus und bildet in letzter Linie eine Illustration einzelner Ideen
des Paracelsus, nur dass nicht mehr ein Denker, eine Schule der
Träger derselben war. Die Idee der Natureinheit, die Vorstellung
von der Wechselbeziehung des Makrokosmus zum Mikrokosmus, die
genetische Forschung — all dies wurzelt im Paracelsismus ; wie die
naturhistorische Schule, so hatte Jahrhunderte früher der Reformator
von Einsiedeln die Krankheit als Parasiten bezeichnet, (in den „tar-
tarischen" Krankheiten) eine „natürliche" Krankheitsgruppe auf-
gestellt; wie die späteren Mesmeristen und Vertreter der christlich-
122 Max Neuburger.
germanischen Richtung hatte auch er dem Magnet, der Mystik und
Theurgie einen weiten Spielraum eingeräumt. Paracelsus redi-
vivus auf allen Linien! Mehr in dem Umstand, dass in Deutsch-'
land zur Zeit Schellings ähnliche psychologische Triebkräfte, wie im
Reformationszeitalter wirksam waren, als in dem aufstrebenden historisch-
medizinischen Studium, das die Schriften Hohenheims ausnützte, dürfte
der Grund dieser sonst rätselhaften und höchst interessanten Palingenesie
der Gedanken zu suchen.
Aber nicht allein in der Theorie, sondern auch in der Therapie
kehrten paracelsische Maximen wieder, ohne dass hiebei an direkte
Entlehnung zu denken wäre, und wie im 16. Jahrhundert die „spagi-
rische" Medizin, so tauchte in den ersten Dezennien des 19. Jahr-
hunderts eine Sekte auf, welche an die Lehre des Reformators von
Einsiedeln in mancher Hinsicht erinnert — die Schule Hahnemanns.
Die Vorstellung von der dynamischen Wirkung der Arzneien, das
Prinzip der kleinen Dosen, das Dogma Similia similibus,
die Lehre von der spezifischen Wirkung und spezifischen
Beziehung der Arzneisubstanzen zu bestimmten Organen — all
diese Grundelemente der „Homöopathie" finden sich auch bei Para-
celsus mindestens angedeutet, und beide Reformatoren stimmen voll-
kommen, sowohl in der Verwerfung der alten Medizin mit ihren bloss
palliativen Mitteln, in der masslosen Geringschätzung der Anatomie
(respektive der Hilfswissenschaften überhaupt) als auch in dem
Kardinalsatze überein, dass die Therapie ausschliesslich den Gegen-
stand der ärztlichen Forschung bilden solle. Eine trennende Schranke
zwischen Paracelsus und Hahnemann liegt freilich mehr dem Wort-
laute als dem Wesen nach darin, dass ersterer die „Arcana" gegen
die Krankheitsursache selbst gerichtet dachte, während letzterer,
infolge seines historischen Zusammenhangs mit dem Brownismus und
Vitalismus, die Krankheitsursache an sich für unerforschlich erklärt
und nur den ,. Symptomenkomplex" ins Auge fasst.
Soweit nicht Charlatanerie und Mystizismus in Betracht kommen,
welche die ursprünglich reinen Tendenzen trübten, muss dem System
Samuel Chr. Fr. Hahnemanns (1755 — 1843) vom Standpunkt seiner
Zeit mancher Vorzug zugesprochen werden. Dahin gehört die Be-
kämpfung der Hypothesenpathologie und der dogmatischen Therapie,
die Verwerfung der Krankheitsontologie, die Empfehlung einer mit
diätetischen Vorschriften vereinigten individualisierenden und milden
Behandlung (gegenüber den Aderlässen, Brech- und Abführkuren) und
last not least die Anregung zu experimentellen Untersuchungen über
die Arzneiwirkung im gesunden Menschen.
Dieser Kern der Homöopathie schälte sich aber erst allmählich aus
einem Wüste von Thorheit und Uebertreibung heraus und hauptsäch-
lich durch die Reformthätigkeit solcher Schüler Hahnemanns, welche
von den mystischen Verirrungen und Willkürlichkeiten ihres Meisters
abstrahierten und den Anschluss an die anatomisch - physiologischen
Grundsätze der inzwischen weit fortgeschrittenen „Allöopathie" suchten.
Hahnemann hat den Entwicklungsgang der Medizin direkt hauptsäch-
lich dadurch günstig beeinflusst, dass er die Zersetzung der morschen
Grundlagen und Hypothesen in den ersten Dezennien beförderte; sein
positiver Anteil am Aufbau der wissenschaftlichen Medizin ist da-
gegen — so sehr sich manche seiner Vorahnungen, wie z. B. das iso-
therapeutische Prinzip, in letzterer Zeit zum Teil bestätigt haben —
Einleitung. 123
gering zu schätzen, weil sein Beweisverfahi-en zu weit von gewissen-
hafter Kritik, von naturwissenschaftlicher Logik und gründlicher
Forschung entfernt war, um verwendet werden zu können. Die
paracelsischen Ideen konnten auch im Gewände der Homöopathie noch
nicht aus ihrer Latenz erwachen: im klaren ausgegorenen Weiu der
Wissenschaft blieb von Hahnemanns System als solchem, wie von
einem Ferment, nicht eine Spur zurück.
Nach Hahnemann, dessen Grundansichten, abgesehen von kleineren
Arbeiten seit dem Jahre 1796, im Organon der rationellen Heilkunde (1810)
veröffentlicht sind, beruht das Wesen der Krankheiten in einer Verstimmung
der Lebenskraft, die bloss durch den krankhaften ^Symptomenkomplex"
der Forschung zugänglich wird. Die völlige Behebung desselben kann mit
Ausnahme der lebensgefährlichen Zufälle, Vergiftungen etc. nur durch solche
Arzneikörper Zustandekommen, welche bei Gesunden möglichst ähnliche
Erscheinungen hervorrufen. Die Heilung erfolgt dadurch, dass
die Krankh eitssy mptome durch die entsprechenden Arznei -
Symptome überstimmt und ausgelöscht werden, worauf die
Lebenskraft gegen die noch allein übrige „Arzneikrank-
heit" mit erhöhter Energie ankämpft. Hahnemann will, angeregt
durch eine Stelle in Cullens Schriften, auf dem Weg des Versuchs zu diesem
Kardinalsatz gekommen sein. Er beobachtete nämlich in Selbstversuchen
mit China Erscheinungen, die den Symptomen des Wechselfiebers sehr ähn-
lich waren und glaubte daraus schliessen zu dürfen, dass die Wirksamkeit
des Malariamittels und auch anderer Medikamente darauf beruhe, dass sie
den betreffenden Krankheiten ähnliche Symptome hervorzurufen vermögen.
Zahlreiche weitere Experimente und Beobachtungen bestärkten ihn in dieser
TJeberzeugung, die zuerst im Jahre 1797 (in Hufelands Journal) bekannt
gemacht wurde. „Wenn Hahnemann**, sagt v. Behring, »nichts weiter ver-
brochen hätte als seinen therapeutischen Grundsatz, dann brauchte es um
seine R«putation gar nicht so schlecht zu stehen. Er hätte damit sogar
die Mission Pasteurs im Beginne des Jahrhunderts übernehmen können."
Das Prinzip, nur einfache Arzneien anzuwenden, welches zu einer
Zeit, da die Therapie an verworrenster Polypragmasie laborierte, aufgestellt
wurde, verdient ebenfalls voUe Anerkennung; die weitere Entwicklung der
Lehre schweifte aber bald allzuweit von Logik und Kritik ab, um noch
mit der nüchternen gewissenhaften Forschung in Kontakt bleiben zu können
und verdarb das begonnene Reformwerk. Wenn schon Hahnemanns und
seiner Schüler pharmakologische Versuche durch die Qualität und Zahl der
beobachteten Symptome Bedenken erregten (bei der Sepia 1260, bei Lyco-
podium 1608, bei Phosphor 2000), so musste es die ganze Lehre in Misskredit
bringen, als ein zweiter Lehrsatz in dem Sinne formuliert wurde, dass die
Kräfte der Arzneien durch Verdünnung (Verreibung mit Milchzucker oder
Lösung in Weingeist) bis ins Decillionfache und durch „ Potenz ierung^ mittels
der -Schüttelschläge*' entsprechend gesteigert würden. Auf die Verdünnungen,
wodurch die Wirkung bis zur „Begeistung" gesteigert wird, verfiel Hahne-
mann erst, nachdem die antänglich in grossen Dosen gereichten ^Similia"
allzu oft Verschlimmerungen bewirkt hatten. Gerade aber dieser ver-
hängnisvolle Schritt, der den Reformator von Meissen ins Gestrüpp der
Mystik führte und der ernsten Forschung immer mehr entfremdete, wurde
massgebend für die Zahl seiner Anhängerschaft, die sich zum grossen Teil
aus der wundersüchtigen und unklar denkenden Laien weit rekrutierte, welche
zum Schaden des ärztlichen Standes mit allen Mitteln der Demagogik zum
124 Max Neuburger.
Schiedsspruch aufgerufen wurde. Andererseits nützte diese ungeheuerliche
Verirrung wenigstens im negativen Sinne dadurch, dass sie mehr als alle*
frühere Skepsis die wertvolle Erkenntnis verbreitete, dass Krankheiten auch
ohne die gewaltsamen Eingrifie, wie sie damals üblich waren, in Heilung
enden können. Die erwiesene Unwirksamkeit der homöopathischen Dosen
au sich, im Verein mit den ebenso sicher beobachteten günstigen Erfolgen
dieses Heilverfahrens bedeutete geradezu ein experimentum crucis und zeigte,
wo die Forschung zunächst einzusetzen habe: im Studium der natür-
lichen Heilungs Vorgänge. So begegneten sich der krasseste Mysti-
zismus und die radikalste Skepsis, welche sich im weiteren Verlaufe im
Lager der pathologisch-anatomischen Forscher erhob, in ihren äussersten
Konsequenzen und führten zur exspektativen Behandlung. Nicht wenige
der exakten Theoretiker gesellten sich in praxi sogar offenkundig den
Anhängern Hahnemanns zu , weil sie in der Ueberzeugung von der
Nutzlosigkeit aller damaligen therapeutischen Encheiresen von allen nach
ihrer Ansicht wirkungslosen Methoden noch am liebsten diejenige ver-
wendeten, welche wenigstens — nicht schädlich war. Der suggestive
Faktor, welcher in den Minimaldosen lag, wurde noch nicht in seiner Be-
deutung erkannt.
Die beste Kritik der Homöopathie liegt in ihrer eigenen Ge-
schichte, in den gewaltigen Umwandlungen, welche sie von der Zeit
ihres Entstehens bis heute durch immer grössere Abweichung von
den Lehrsätzen Hahnemanns, erleiden musste.
Hahnemann selbst blieb sich nicht treu! Er, der ursprüng-
lich den Krankheitsbegriff rein dynamisch fasste und gänzlich in
Symptome auflöste, die Berücksichtigung des Krankheitswesens ver-
warf, lehrte später, dass in der Behandlung der epidemischen, kon-
tagiösen und namentlich chronischen Krankheiten auf die Grund-
ursachen Rücksicht zu nehmen ist, dass sie, auch schon in einem
Stadium, wo die charakteristischen Symptome noch gar nicht deutlich
hervorgetreten sind, einer Therapie bedürfen und zwar einer solchen,
die ihrer zugrundeliegenden ,.Grundkrankheit" entspricht (die chro-
nischen Krankheiten, 1828 — 1830). Wie wenig naturwissenschaftlich
der Stifter der Homöopathie vorzugehen verstand, zeigt sich gerade
in der Verfolgung dieses an sich so richtigen Gedankens, denn statt
demselben in ehrlicher Forschung im einzelnen gewissenhaft nach-
zugehen, zog er es vor, das Dogma von drei Grundkrankheiten, der
„Psora, Syphilis und Sykosis" zu statuieren und mit Willkür neun
Zehntel aller chronischen Affektionen auf das „Psora-Siechtum, jene
älteste, verderblichste und dennoch am meisten verkannte chronisch-
miasmatische Krankheit" zurückzuführen (die Spuren dieser Krätz-
ätiologie haben sich leider noch heute in der Volksmedizin erhalten).
Zeigte sich der Urheber des Systems schon so wenig konsequent, so
darf es nicht wunder nehmen, dass die Anhänger und zwar bereits zu
Lebzeiten Hahnemanns zahlreiche Ummodelungen aller Art vornahmen.
Schon Moritz Müller, der mit Wilh. Gross und Ed. Stapf 1818 ein
„Archiv für die homöopathische Heilkunst" gründete, schränkte den
Dogmatismus sehr beträchtlich ein, L. Schrön und Friedr. Gross er-
klärten die Homöopathie nicht für die allein seligmachende, sondern
nur für eine besondere Methode, welche die allopathische nicht ent-
behrlich mache, empfahlen grössere Dosen und verwarfen die Potenzier-
theorie, G. C. Rau, Trinks, L. Grieselich, J. H. Kopp, Fleischmann,
Einleitung. 125
V. Grauvogel, Altschul. Kafka, B. Hirscliel u. a bemühten sich, mit
den allgemeinen Fortschritten der Medizin Schritt zu halten, schaiften
die starken Verdünnungen ab, berücksichtigten die Xaturheilkraft und
forderten neben der Beobachtung des Symptomenkomplexes die Stellung
der Krankheitsdiagnose nach den Eegeln der exakten Wissenschaft.
So fiel allmählich Zweig auf Zweig! Von den Dogmen Hahnemanns
blieb in der neuen Schule, welche sogar ganz im Gegensatz zur ur-
sprünglichen Lehre die Lokalbehandlung pflegte, höchstens der Glaube
an die Spezifität gehörig kleiner Dosen und das Schibboleth, Similia
similibus, übrig.
Neben dieser rationellen Hauptrichtung entwickelte sich, in
merkwürdiger Vorahnung der Serumtherapie und Organtherapie, aus
dem Halmemannismus durch radikale Ausgestaltung des Aehnlichkeits-
prinzips die ebenfalls schon bei Paracelsus angedeutete Isopathie.
nach deren Grundsatz ..aequalia aequalibus" z. B. Krätze durch inner-
liche Darreichung von potenziertem Krätzstoff (Psorin), die Blattern
durch Variolin, Bandwurm durch Taeniin, Caries der Zähne durch
Odontonekrosin, Schwindsucht durch Phtisin (Auswurf von Brust-
krankheiten), Milzbrand durch Milzbrandgift u. s. v>\ oder Leber-,
Lungen-, Hirnkrankheiten durch Hepatin, Pulmonin, Hirnsubstanz
kuriert werden sollten. Hermann Gross, der Leipziger Tierarzt Lux,
C. Hering in ISew^ York u. a. waren es, die diese heute wieder auf-
genommene Idee bis ins einzelne ausführten, ohne allerdings bei den
Zeitgenossen viel Anklang zu finden.
Die weitere Entwicklung der Homöopathie, welche sich gerade
infolge der vehementen Angriffe von Seite der Schulmedizin von Deutsch-
land aus besonders nach Oesterreich-Ungarn. Frankreich, England
und Amerika verbreitete und nicht wenige Pflegestätten an Hoch-
schulen und Spitälern fand, fallt nicht mehr in den Kahmen unserer
Darstellung, ebenso versagen wdr es uns, die schwändelhaften Aus-
wüchse späterer Zeit zu kennzeichnen, welche, wie z. B. die Elektro-
homöopathie, eher einen Platz in der Geschichte des Wahns, als in
der Geschichte der Wissenschaft einnehmen. Wir heben nur die That-
sache hervor, dass ..wohl nicht leicht eine Doktrin der Charlatanerie,
der Selbsttäuschung und dem Betrüge so sehr Thür und Thor geöffnet
hat, als eben die Homöopathie".
Mit noch grösserer Schärfe der Konturen als in Hahnemanns
System, ja mit greifbarer Deutlichkeit des Zusammenhangs, gelangten
Paracelsische Fundamentalgedanken in einer anderen Schule zur
Wiedererweckung, welche zwar für den Lauf der medizinischen Ent-
wicklung nur episodische Bedeutung besitzt, aber als letzter Spross
des Bündnisses zwischen Empirie und phantastischer Spekulation das
historische Interesse gefangen nimmt. Es war dies die Schule Joh. Gott-
fried Rademachers (1772— 1850), eines ausgezeichneten rheinischen
Praktikers, der die Loslösung der deutschen Medizin von der falschen
Rationalität des Brownianismus und der Naturphilosophie für nötig
erkannte, aber die Reform in ganz eigener Art, ohne Rücksicht auf
die Methoden der Naturwissenschaft zu vollziehen versuchte. Mag der
,,Alte von Goch" ganz selbständig zu seinen formell und inhaltlich
archaistisch anmutenden Lehrsätzen gekommen sein, das Eine kann
nicht geleugnet werden, dass in seiner „verstandesrechten Er-
fahr ungshei 11 ehre" (1843) die Paracelsische Doktrin von den
spezifischen Arkanen, die Paracelsische Krankheitsdiagnose und Krank-
126 Max Neubur{>er.
lieitsbeiiennung' nach den wirksamen Heilmitteln im Verein mit Syden-
liams Theorie des genius epidemicus den Hauptinhalt bilden.
Wie Paracelsus und Hahnemann baut auch Rademacher die ganze
Medizin auf die Arzneilehre und erklärt die Therapie^ nicht die Erkenntnis
der pathologischen Vorgänge, für das ausschliessliche Ziel des ärztlichen
Denkens, woraus sich folgerichtig gänzliche Verwerfung aller eigentlich
wissenschaftlichen Bestrebungen in der Pathologie und Diagnostik ergiebt.
Unterscheidet sich Rademacher von Paracelsus durch die Verkennung der
Naturheilkraft, so erinnert er an Hohenheim wieder dadurch, dass er nicht
am Symptomenkomplex haften bleibt, sondern auf Grund der Arzneiwirkung
Krankheiten als solche diagnostiziert.
Die Einteilung derselben macht an das inzwischen aufkommende
Lokalisationsbestreben ein bemerkenswertes Zugeständnis, insofern vor allem
zweierlei Grundformen, TJniversalkrankheiten und Organkrankheiten (Lungen-,
Leber-, Milz-, Pankreaskrankheiten etc.) postuliert werden. Der Einteilungs-
grund entstammt aber nur der therapeutischen Erfahrung. Einerseits gäbe
es nämlich zahlreiche Mittel, welche eine spezifische Beziehung zu be-
stimmten Organen zeigen — ihnen entsprechen ebenso zahlreiche „Organ-
krankheiten", andererseits existieren drei schon den „alten Geheimärzten"
bekannte Substanzen (nämlich Eisen, Kuj)fer und Salpeter), welche nicht
alle, aber doch sehr viele Krankheiten heilen, demnach auf etwas Allge-
meines (nicht das Blut!), auf den Gesamtorganismus wirken müssten —
ihnen entsprechen drei Universalkrankheiten, Sowohl die Univeral- als die
Organkrankheiten können auch konsensuell, durch Mitleidenschaft hervor-
gerufen sein, in welchem Falle sie natürlich nur durch Behebung der Ur-
erkrankung schwinden.
Die einzelne Aifektion erkennt der ,. Erfahrungsarzt" nicht durch
anatomisch-physikalisch-chemische Diagnostik, sondern bloss ex juvan-
tibus, aus dem therapeutischen Erfolg, und dementsprechend benennt
er die Krankheit nach dem wirksamen Heilmittel. Beispielsweise
giebt es in der Leber eine Terpentin-, eine Quassia-, eine Schellkraut-,
eine Frauendistel-, eine Brechnusskrankheit, je nachdem die eine oder
andere Arznei nutzt. Im Laufe der Erfahrung werde der Arzt, der
anfangs auf blosses Herumprobieren angewiesen ist, hinreichend listig,
um den Krankheitssitz zu erraten, ausserdem kommt ihm noch die
Thatsache zugute, dass eine herrschende Krankheit sich gewöhnlich
längere Zeit gleichbleibt, also einen „morbus stationarius" darstellt.
Sobald aber dieser morbus stationarius, die herrschende Grundkrank-
heit, ihr Wesen ändere, so verrate sich dies durch die Unwirksamkeit
der bisher erfolgreichen Mittel. Beispielsweise wird dann ein Mittel,
das sich längere Zeit als Lebermittel bewährt hat, fehlschlagen und
es gilt dann, durch erneutes Probieren ein wirksames ausfindig zu
machen.
So langt Rademacher, der vom äussersten Skeptizismus ausge-
gangen ist, ähnlich wie Rasori bei einer rohen Empirie an, welche
vergeblich dem circulus vitiosus des Herumprobierens, dem blind-
gläubigen post hoc propter hoc zu entrinnen trachtet. Ohne die
kritische Instanz der Naturheilkraft zu beachten, ohne sich um irgend
welche Prüfung der Arzneien, wie sie besonders Hahnemann anregte,
zu bekümmern, ohne andere Grundlagen für die Diagnostik als den
individuellen Takt zu besitzen, benahm er selbst die Möglichkeit einer
wissenschaftlichen Begründung und setzte theoretisch an Stelle des
Eiiileitung. 127
spekulativen Eationalisnius einen Mystizismus, der bezüglich des Arznei-
glaubens und der Doktrin von den drei Universalkrankheiten nicht
geringe Anforderungen an die Leichtgläubigkeit stellt.
Darum konnten die unzweifelhaft wahren Kernideen, die in Rade-
machers Lehre liegen, nicht weiter entwickelt werden, wenn auch
rühmend anzuerkennen ist. dass manche derselben in der Wissenschaft
seiner Zeit und noch mehr in unseren Tagen eine glänzende Recht-
fertigung gefunden haben. Dahin gehört die Unterscheidung von
Organkrankheiten und Allgemeinerkrankungen — der
anatomische Gedanke ; die Organtherapie mit der richtigen Vor-
aussetzung der spezifischen Beziehung zwischen Arznei-
stoffen und Organen — ein Grundprinzip, das in der Lokal-
therapie der ..exakten" Medizin und ihrer Pharmakodynamik mit
gewissen Modifikationen später vollkommen zur Anerkennung gelangt
ist; endlich die Idee einer ..ätiologischen Therapie" (ein Aus-
druck, den die Rademacherschule gebrauchte), im Hinblick darauf,
dass symptomatisch identische Krankheitsformen im Wesen, je nach
der Grundkrankheit, verschieden sein können und daher einer ver-
schiedenen Behandlung bedürfen.
Im gleichen Augenblicke aber, wo wir von der Zinne der gegen-
wärtigen Wissenshöhe den Scharfblick des ..Alten von Goch" be-
wundernd anerkennen, offenbart sich auch so ganz, woran es lag,
dass trotz glücklicher Vorahnung der Leitmotive der Medizin
des 19. Jahrhunderts, Rademachers Lehre nur in sehr geringem
Ausmass den Fortschritt bestimmt hat. Es fehlte, abgesehen von der
mangelnden Kritik, von dem Hinneigen zum Mystizismus das Mittel-
glied der exakten Diagnose, der naturwissenschaftlichen Methode,
der therapeutischen Technik, um die an und für sich richtigen Grund-
sätze zu erweisen und eine vom Zufall unabhängige Therapie darauf
zu bauen. Der Hauptdienst, welchen Rademacher seiner Zeit leistete,
bestand darin, dass er die Praktiker auf das unveräusserliche
Recht hinwies, das Banner der therapeutischen Empii-ie auch dann
hochzuhalten, wenn die Theorie vorübergehend im Stiche lässt. Aus
diesem Grunde fand seine Lehre, gerade zur Zeit, da die pathologische
Anatomie die Kluft zwischen Wissen und Können erweiternd, eine
Perspektive der therapeutischen Trostlosigkeit eröffnet hatte und der
therapeutische Nihilismus indirekt durch die Heilerfolge der Homöo-
pathen genährt wurde, nicht nur bei deutschen, sondern auch bei
französischen Aerzten (vermittelt durch J. S. Otterbourg) warme
Anhängerschaft, schon wegen der Fülle von Heilmitteln, welche sein
Buch enthielt.
Da die „Erfahrungsheillehre" mit der Homöopathie in der An-
nahme von der Spezifizität der Heilmittel übereinstimmte, so konnten
sich späterhin die „rationellen" Homöopathen mit jenen Anhängern
Rademachers, welche zu Konzessionen bereit waren, zu einer neuen
Schule vereinigen, zur Schule der „Spezifiker". Diese nahmen aus
beiden Systemen wichtige Lehrsätze auf, verwarfen aber sowohl die
Minimaldosen und Symptomdiagnosen Hahnemanns als die mystischen
Universalmittel Rademachers und erhoben den Satz von der spezi-
fischen Beziehung gewisser Heilmittel zu bestimmten
Körper bestandtheilen — ein Prinzip, dem kein Geringerer als
Virchow weise Anerkennung zollte — zum Grundprinzip ihrer theo-
retischen Anschauung und praktischen Thätigkeit. Diese Richtung
128 Max Nen burger.
fand eine kurze Zeit hindurch sogar akademische Vertretung, nament-
lich durch den Tübinger Universitätslehrer Georg Kapp (1818—1886).
Wiewohl alle diese Bestrebungen den Ausdruck der Reaktion gegen
die spekulativen Verirrungen des Brownianismus, der Erregungstheorie,
der Naturphilosophie und ihrer Tochtersysteme darstellen, wiewohl
durch ihren mystisch anmuthenden Mantel die Forderung nach einer
gesunden Empirie hindurchschimmert, — die längst als noth wendig
erkannte, ersehnte Reform der Medizin konnte von ihnen nicht aus-
gehen; denn es fehlte ihren Urhebern der Klarblick für die That-
sache, dass nicht der Verzicht auf rationelle wissenschaftliche Be-
gründung der ärztlichen Kunst, sondern einzig allein die Schöpfung
eines neuen Begriffs der Wissenschaftlichkeit, die Heranziehung einer
einwandsfreien Methode den Gesundungsprozess einzuleiten
vermöge. Und an dieser gebrach es ihnen, ebenso wie ihren
Gegnern! Aus demselben Grunde, aus dem die an sich löbliche Ab-
sicht der Naturphilosophen, Medizin mit der Naturwissenschaft in
Einklang zu setzen, im Sande verlief, war auch die Idee Hahnemanns
und Rademachers, die Medizin bloss auf „ICrfahrung" zu gründen,
totgeboren; denn diese Art der unkritischen Erfahrung, welche kein
anderes Mass als subjektive Ueberzeugung besass, schloss eine
immense Fehlerquelle in sich und ihre Konsequenzen gaben an
Willkürlichkeit den Folgerungen der HyperSpekulation nur wenig
nach. Weder die Extravaganzen der Theoretiker, noch die Grund-
prinzipien der Empiriker waren geeignet, die alte .Pilatusfrage
zu lösen.
Auch die- dritte Hauptgruppe, welche scheinbar über, in der That
aber nur zwischen den Parteien stand — die Eklektiker — , ver-
mochten keinen wahren Fortschritt anzubahnen. Manche der deutschen
Aerzte, welche dem farblosen Banner des Eklektizismus folgten, haben
in Einzelheiten die Medizin zwar bedeutend gefördert, die prak-
tischen Ziele ins Gesichtsfeld gerückt und zur Klärung der theore-
tischen Begriffe beigetragen; die Namen des populären E. L. Heim
(1747 — 1834). der Berliner Professoren Joh. Ludw. Formey (1766 bis
1823), Karl Aug. W. Berends (1759—1826), Aug. Friedr. Hecker
und Ernst Hörn (1772 — 1848), des Tübinger Klinikers Joh. Heinr.
Ferd. Autenrieth (1772—1835), der beiden Leibärzte Friedr. Ludw.
Kreysig (1770—1839) und Joh. Stieglitz (1767-1840), der wahrhaft
philosophischen Wiener Aerzte Ph. K. Hartmann und Ernst von
Feuchtersieben (1806 — 1849) bewahrt die Geschichte in dankbarem
Andenken; die grosse Masse der deutschen Aerzte, welche den
Nachtrab bildete, verstand aber unter Eklektizismus eine prinzipien-
lose Konzilianz, die sich theoretisch durch hohles Phrasengeklingel,
praktisch durch unkritische Handhabung einer meist heroischen
Therapie kundgab. Der Sinn für Thatsachen, für die einfachen
Fragen des Thatbestandes fehlte den meisten. Benebelt von den
Begriffsschemen einer neuen Form ödester Scholastik, von der Schule
her gewöhnt, sich mit den unverdauten Phrasen eines gelehrt
schillernden Gallimathias fortzuhelfen, suchten sie, ohne die Fort-
schritte des Auslandes zu würdigen, sublime Probleme, wo es in
Wirklichkeit keine gab, und ahnten kaum, dass sie in einem
Labyrinth planlos herumirrten. Am traurigsten enthüllte sich der
ganze Jammer im furchtbaren Mene Tekel der Choleraepidemie,
und nirgends tritt die Zerfahrenheit der Medizin mehr zu Tage als in
Einleitung. 129
der ebenso hochtrabenden und theorieschwangeren, wie inhaltsleeren
Litteratur, welche die Verbreitung dieser Seuche gezeitigt hat.
Nicht zum wenigsten unter ihrem Eindruck stehend, mag ein so
denkender Praktiker, wie Stieglitz (1840), die weisen Worte gesprochen
haben: „Die deutsche Medizin ist so gesunken und erschlaift, dass ihr
jede Aufrüttung heilsam sein muss, alles, was sie in neue Bahnen
versetzt, selbst wenn diese reich an Irrtümern und Verkehrtheiten
sein sollten."
Zur Zeit, da der alte Praktiker diese Worte schrieb, war die
Wendung näher, als er ahnte, aber nur die wenigsten erkannten, wo
die Zukunft anknüpfte. Die zerstreuten Lichtpunkte, welche hie und
da schon grell auffunkelten, entgingen zumeist den Blicken einer
Generation, welche im Taumel der Naturphilosophie Sinn und Ver-
ständnis für das Reale fast gänzlich eingebüsst hatte. Träger des
Fortschritts konnte nur die vom Gifthauch der Spekulation noch nicht
verderbte Jugend werden; erst mit ihr, mit einer neuen frisch em-
pfänglichen Generation kommen die Ideen und Methoden zum Durch-
bruch, welche der unvergängliche Physiologe Johannes Müller, die
Ivliniker Chr. Friedr. Nasse, Peter Krukenberg, allen voran aber
Schönlein als Forscher und Lehrer inmitten verblendeter Zeitgenossen
voll zähen Mutes verfochten. Wie wenig die ergrauten Männer der
Theorie und Praxis imstande waren, den Wert und die Bedeutung
der nüchternen Beobachtung, der hypothesenfreien exakten Forschung
zu erkennen, ja nur zu beurteilen, davon liefert die Thatsache den
überzeugendsten Beweis, dass die seit dem Jahre 1836 erscheinenden
Abhandlungen eines Rokitansky kaum beachtet wurden, dass Skodas
Meisterwerk zur Zeit seines Erscheinens (1839) fast nur eisigem
Schweigen begegnete. Dieses Schweigen spricht Bände!
Erst im fünften Dezennium des 19. Jahrhunderts tritt die deutsche
Medizin in eine neue Phase ; Bresche auf Bresche wird in die Ver-
schanzung der dogmatischen Pathologie geschlagen, die morschen
Stützen der Systeme zersplittern, auf dem Trümmerfeld einer ab-
strusen Praktik pflanzt sich das Panier der exakten Wissenschaft
auf. Was Dezennien versäumten, wird in der kurzen Spanne von
Jahren eingeholt, auf den verschiedensten Gebieten entwickelt
sich das Spiel entfesselter Kräfte, geteilt in der Arbeit, geeint in der
Methode, symphonisch zusammenklingend in echt naturwissenschaft-
lichem Streben!
Und diesmal, in einer Kulturströmung weittragendster Art, in der
Annexion und Verarbeitung französischer Ideen, wurde die Medizin
vom herrschenden Grundton nicht später als andere Teilgebiete des
deutschen Kulturlebens ergriffen. Derselbe reale Zug, welcher das
politisch-soziale, das philosophische Denken, das künstlerische Schaffen
dieser Zeit erfüllt und die Gedanken verwirklicht, welche die Juli-
revolution über Europa verweht hatte, prägt auch der Heilwissen-
scliaft den charakteristischen Stempel auf. Und wie der Parlamen-
tarismus und die Publizistik, wie die schöne Litteratur, wie die
positivistische, später materialistische Philosophie den französischen
]\[ustern nicht blindlings folgen, sondern das Ueberkommene durch
Neuschöpfung sehr bald erweitern oder vertiefen, so entlehnt auch
die deutsche Medizin der französischen den Grundriss und Plan,
den Aufbau leitet sie aber nach eigenem Ermessen, unbeirrt durch
ein zwingendes Vorbild.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. IL 9
130 Max Neubur^er.
Soweit auch die französisclie Medizin der ersten vier Dezennien
des 19. Jahrhunderts voraneilte, im Grunde bildet sie nur die un-
vollkommene Ausführung der Ideen, die Fortsetzung der immensen
Geistesarbeit eines einzigen Genius, des grossen Bichat (1771 —
1802), der mit napoleonischer Zielsicherheit und Schnelligkeit den
Weg vorzeichnete, den die wissenschaftliche Medizin einzuschlagen
hatte. Und so radikal die Vertreter der französischen Medizin den
Bruch mit den historischen Traditionen vollzogen oder wenigstens
ostentativ betonten, durch Bichat, den Forscher, der in seiner Denk-
weise die medizinischen Grundideen des 18. mit den Leitmotiven des
19. Jahrhunderts harmonisch vereinigt, hängt auch diese Phase der
wissenschaftlichen Entwicklung aufs engste mit der Vergangenheit
zusammen. AVollen wir das Verbindungsglied in der historischen
Kette aufsuchen, so genügt es daran zu erinnern, dass die französische
Medizin der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders durch
den Vitalismus der Schule von Montpellier und durch die anatomisch-
physiologisch durchgeistigte Technik der Pariser Chirurgen charak-
terisiert ist. Nach Abzug des Vergänglichen verbleiben vom metho-
dologischen Standpunkt als Ergebnisse von dauerndem Wert: die
von den Vitalisten gepflegte physiologische Analyse der
klinischen Phänomene und der von den Chirurgen praktisch
ausgenützte anatomische Gedanke. Die Vertiefung und darauf
folgende Verknüpfung beider zu einer höheren P^inheit bildet den
Ausgangspunkt Bichats und der von ihm in augurierten Schule.
Dieses innere treibende Moment findet seinen sinnlichen Ausdruck
in den Lebensumständen, im Studiengang Bichats, der seine Laufbahn
in Montpellier begann und später in Paris unter Leitung des be-
rühmten Chirurgen Desault und des vitalistischen Physiologen Chaus-
sier fortsetzte. Wie er aus beiden Quellen zu schöpfen wusste, geht
deutlich aus seinen Werken hervor; welch grosses Verdienst ihm
aber durch die geistvolle Verbindung der analytischen phäno-
menologischen Anschauungsweise mit der anatomisch-
lokalisierenden Forschung zukommt, zeigt sich am deutlichsten,
wenn man Bichat mit seinem berühmten Zeitgenossen Pinel vergleicht,
der mit ihm den Ausgangspunkt teilt, aber auf halbem Wege stehen
geblieben ist.
Was Borden und Barthez bereits angeregt hatten, die Medizin
naturwissenschaftlich zu treiben, d. li. im Sinne Condillacs die
physiologischen und pathologischen Erscheinungen in die Grund-
elemente aufzulösen und dem Kausalnexus derselben nachzuspüren,
dieses Programm führte Philippe Pinel (1755 — 1826) in seinem
fundamentalen Werke: Nosographie philosophique, ou la raethode de
l'analyse appliquee ä la medecine (1789) im Umriss, in seiner Mede-
cine clinique (1802) bis in alle Einzelheiten aus. Trotzdem er aber
bei der Bearbeitung der speziellen Pathologie die alten Krankheits-
ontologien teilweise bekämpft und den Satz aufstellt, dass Organe, die
im gesunden und kranken Zustande analoge Erscheinungen darbieten,
auch im Bau der Elementarorgane übereinstimmen müssen,
trotzdem er auf dem Wege der Konklusion sogar zum Lokali-
sationsprinzip gelangt, haftet Pinel zumeist nur an der sym- t
ptomatischen Analyse der Krankheitsprozesse und bleibt den anato- f
misch-physiologischen Nachweis schuldig.
Einleitung. 131
Diese Halbheit zeigt sich am besten in der Art, wie Pinel die „Fieber-
formen" einteilt. Er unterscheidet: 1. F. angioteniques (entzündliches
Fieber), 2. F. meningo - gastriques (Gallenfieber), 3. F. adeno - meningees
(Schleimfieber), 4. F. adynamiques (Faulfieber), 5. F. ataxiques (bösartige
Fieber), 6. F. adeno-nerveuses (Pest). Der anatomische Einteilungsgrund wird
bei Pinel nur in der Differenzierung der Entzündungen festgehalten, welche
er, ohne auch hier in eine nähere Untersuchung der elementaren Vorgänge
einzugehen, in solche der Schleimhäute, der „diaphanen" (serösen) Häute,
des Zellgewebes, des Parenchyms, der Muskeln und der Haut zerfallen
lässt.
Die grosse Lücke konnte Bichat niclit entgehen, weil er in der
chirurgischen Praxis anatomisch denken, nach Fakten suchen gelernt
hatte. Er nahm daher den Gedankengang Pinels nicht bloss auf,
sondern begann auf dem Wege der Beobachtung und des Ex-
periments, nach dem Muster der exakten Naturforschung, Schritt
für Schritt zu untersuchen, wo der Krankheitssitz ist, welche
anatomischen Erscheinungen, welche biologisch-physi-
kalischen Eigenschaften, welche funktionellen Zu-
sammenhänge die charakteristischen Krankheitssym-
tome im einzelnen bedingen.
Der Schwerpunkt lag vor allem in der anatomisch-bio-
logischen Erforschung der Gewerbseigenschaften.
Höher aber als das Verdienst, die normale und pathologische
Histologie als neue Hilfswissenschaft begründet zu haben
(Traite des membranes, 1800), war der Dienst, den Bichat der
medizinischen Erkenntnis dadurch leistete, dass er die Bedeu-
tung dieser Hilfswissenschaften für die Krankheitslehre nach-
wies. „Was ist Beobachtung", ruft er aus, wenn man nicht weiss,
wo das Uebel sitzt. Freilich hatte schon Morgagni auf die sedes
morbi hingewiesen, Bichat aber verfeinerte die Beobachtung unschätz-
bar bis ins Detail, indem er zeigte, dass die Organe nicht als unteil-
bares Ganzes zu betrachten sind, sondern aus mehreren Geweben
bestehen, von denen jedes für sich erkranken kann, dass die Ge-
webe den eigent liehen Krankheitssitz darstellen, wes-
halb es für die anatomische Form der Erkrankung weniger ent-
scheidend wäre, ob das Organ im Kopfe, in der Brust oder im Bauche
liege, als vielmehr, ob eine seröse, fibröse, muköse Haut etc. affi-
ziert ist:
Ein Denker wie Bichat blieb aber nicht einfach beim ana-
tomischen Standpunkt der Pathologie stehen, er ergänzte ihn
durch die phänomenologische Anschauungsweise, durch das Studium
der normalen und pathologischen Verhältnisse der Gewebseigen-
schaften und Organfunktionen — Physiologie, allgemeine
Biologie. Auch hier besteht die Bedeutung Bichats nicht nur darin,
dass er mittels des Tierexperiments (Recherches physiologiques sur
la vie et la mort, 1800), mittels chemisch-physikalischer Untersuchung
der Gewebseigenschaften (Anatomie generale, 1801) die von Haller
inaugurierte experimentelle Physiologie erweiterte, die von
Hunter angeregte experimentelle Pathologie fortführte, sondern
darin, dass er diese Hilfswissenschaften aus ihrer Isolierung löste und
neben der Histologie und pathologischen Anatomie zur Grundlage der
Krankheitslehre erhob.
9*
132 Max Neuburger.
VoUbewusst seiner Ziele, völlig im Klaren über die Konsequenzen
seines Schaffens, sprach Bichat die Hoffnung aus, dass es auf dem
Wege der Beobachtung, der Analyse, des Experiments und der daran
angeschlossenen Reflexion gelingen werde, die Pathologie in eine
Naturwissenschaft zu verwandeln. Die Phänomenologie, die Kenntnis
der Erscheinungen und die Untersuchung der Verhältnisse derselben
untereinander gilt ihm als der Weg, auf dem die Medizin auf die
exakte Stufe der übrigen Naturwissenschaften erhoben werden kann.
„Wenn mein Buch", sagt Bichat in der Vorrede zu seiner Allgemeinen
Anatomie", „ein ähnliches Axiom für die physiologischen Wissen-
schaften festsetzt, wie es in den physikalischen und chemischen zum
Ueberdruss anerkannt ist, so wird es seinen Zweck erfüllen." Ein
Forscher, selbst ein solcher Riesengeist wie Bichat, konnte dieses
Programm, worin der Folgezeit die Aufgabe vorgezeichnet war, nur
in sehr beschränktem Masse ausführen, keiner aber der Nachfolger
verstand es in einer so kargen Lebenszeit eine so gewaltige Arbeits-
last auf seine Schultern zu laden, so vieles Bedeutende schon selbst
zu vollführen und der Zukunft nur die Eolle zuzuteilen, das Stück-
werk zu ergänzen, zu verbessern, zu erweitern. Wie sehr er sogar
darauf bedacht war, die praktische Medizin zu fördern und auf reale
Grundlagen zu stellen, beweist der Umstand, dass er als Arzt am
Hotel Dieu neben der Pflege des von ihm hochgehaltenen Hippo-
kratismus daran ging, die Materia medica einer experimentellen
Prüfung zu unterwerfen, um auch hier das Banner, der exakten
Forschung zu entrollen. Da Bichats Name in der Geschichte der
meisten Spezialzweige wiederkehrt, können wir hier verzichten, im
einzelnen ein Bild seiner Thätigkeit zu entrollen. Die Zeit hat den
Kommentar zu seinen Werken geschrieben, nach seinen Grundsätzen
vollzog sich die Entwicklung der modernen Medizin, er war der erste,
welcher den von uns einleitend formulierten grossen Endzweck
aller wissenschaftlichen Bestrebungen in Sehweite rückte, das ideale
Endziel, an Stelle der Kunst eine festgefügte Wissenschaft zu schaffen,
welche die Kluft zwischen Theorie und Praxis nicht mit spekulativen
Hypothesen und empirischen Regeln, sondern mit Naturgesetzen über-
brückt. Dankt die medizinische Kunst Hippokrates die
besten Leitsätze, dankt die medizinische Wissenschaft
Harvey die fundamentalste Entdeckung, so schulden
beide dem unvergänglichen Bichat die besteMethode —
die Methode des Naturforschers!
Für die Gesamtentwicklung der medizinischen Wissenschaft hat
es wenig Bedeutung, dass auch dieser Heros, der in seiner gewaltigen
Grösse selbst dem Schlachtenkaiser Bewunderung abzugewinnen ver-
mochte, mancherlei Mängel aufzuweisen hat — allerdings nur solche,
welche im Lichte unserer Tage greller hervortreten. Darf man es
ihm allzuschwer anrechnen, dass er die Histologie nicht nach unseren
Vorstellungen bearbeitete und den Gebrauch der noch unvollkommenen
Mikroskope allzu skeptisch beurteilte? Darf man mit ihm rechten,
weil er in vitalistischen Vorstellungen befangen, dem Walten der
physikalisch-chemischen Gesetze eine geringere Bedeutung beimass,
als ihnen gebührt? Und wer dürfte es wagen, auf ihn den Stein
zu werfen, weil er im Streben nach abschliessender Erkenntnis trotz
prinzipieller Abneigung gegen Hypothesen, sich doch manchmal der-
selben bedient, wie z. B. auf dem recht dunklen Gebiete der „Sym-
Eiuleitung. 133
pathien"? Wenn wir dagegen in die Wagschale werfen, was die
Späteren an Einseitigkeiten verschuldeten, so steigt Bichats Schale
der Schuld rasch empor!
In ihm hatte die theoretische 3Iedizin den Eubicon überschritten,
der die Spekulation von der exakten Forschung trennt — in der grossen
Zahl derer, die sich für Apostel seiner Prinzipien ausgaben, waren
nicht allzuviele, die mit Treue und Besonnenheit an seinen Grund-
sätzen festhielten. Wir wollen in kurzem Ueberblick verfolgen, wie
man sich in das Erbe teilte.
In der ersten Zeit bemächtigten sich trotz des grossen und ein-
mütigen Beifalls, den Bichats allgemeine Anatomie nicht nur in Frank-
reich, sondern auch in Deutschland (J. F. Meckel, Soemmering,
Kudolphi, E. H. Weber, Burdach) gefunden hatte, weniger die Ana-
tomen als die Aerzte der fruchtbaren Ideen. Wieder knüpft eine
neue Aera der praktischen Medizin an den Aufschwung der Anatomie
an, und wie immer, kommt auch hier der Satz zur Geltung, dass im
Beginne, unter dem ersten blendendenEind ruck gerade
die Verwertung exakter Beobachtungen zu ganz ein-
seitigen Auffassungen führt, weil die meisten, wie hypnotisiert,
nach einem Punkte starren und die Uebersicht über das Ganze ver-
nachlässigen. Allerdings werden die daraus entspringenden Irrtümer
für die weitere Entwicklung später lehrreich, weil mau nur in dieser
einseitigen Verfolgung auf die wahren Grenzen der Methode stösst.
Der Erste, welcher die praktische Medizin scheinbar auf die
Lehren Bichats aufbaute, die alte ontologische Pathologie und empi-
rische Therapie vom Standpunkt einer vermeintlichen Hyperexaktheit
ins Reich der Geschichte verwies und angeblich keine anderen Schlüsse
zu ziehen vorgab, als solche, die mit Notwendigkeit aus der Leichen-
untersuchung und Physiologie hervorgehen, war Frangois Jos. Victor
Broussais (1772 — 1838), der Schöpfer der „physiologischen-' Medizin.
Dieser „Reformator", der es durch zwanzig Jahre (1816—1836) verstand,
in ^XoTt und Schrift Kollegen und Schüler mit sich fortzureissen, der
eine Zeitlang die französische Medizin repräsentierte und den Geist
der Revolution, des Aufruhrs, der schrankenlosen Schreckensherrschaft
in die stillen Hallen der Wissenschaft hineintrug, bildet das beste
Beispiel in der gesamten Geschichte der Medizin dafür, wie die
blinde oder voreilige Verwendung exakt scheinender, in der Erfahrung
des Lebens nicht geläuterter Leitsätze die strahlende Fackel des
Lichts in eine zündende Brandfackel umwandelt!
Worin bestand das Neue und Exakte des Systems? Denn ein ganzes
Lehrgebäude hatte der Reformator rasch aufgetürmt. Die Hauptdogmen
desselben waren folgende. Das Leben beruht auf der Gegenwart einer un-
bekannten Kraft, welche sich besonders in der Kontraktilität" und Sensi-
bilität offenbart und in ihrer Thätigkeit nur durch äussere Reize unterhalten
wird. Wirken die Reize zu intensiv oder zu schwach (Irritation und Ab-
irritation), so entsteht Krankheit. Die Kraftreizung geht stets von einem
Teil des Körpers aus, und von diesem primär ergriffenen, erkrankten
Teil strahlt die Reizung unter Vermittelung des Nervensystems weiter aus;
je stärker die lokale „Irritation", desto weiter reichen die Irradiationen,
welche sich klinisch als Krankheitserscheinungen, bisweilen auch als solche
ableitender Art, manifestieren. Bis hierher beruht diese Theorie, welcher
der Vorzug der phänomenologischen Betrachtungsweise gegenüber den alten
134 Max Neuburger.
Ontologien zukommt, im "Wesen nur auf einer Kombination längst bekannter
Elemente, nämlich des Vitalismus, des Brownianismus und der Sympathien-
lehre Bicbats, sie läuft auf den Satz hinaus, dass Allgemeinerkran-
kungen nur die Folge primärer Organreizungen sind. Als
„exakter" Forscher kann Broussais aber bei dem vagen Begriff der
„Reizung" nicht verharren, er muss diesen Begriff anatomisch-physiologisch
definieren. Bei einer Anzahl namentlich lokaler Affektionen war es leicht,
die Manifestationen der Heizung als Sensibilitätsanomalie, Blutkongestion,
Ernährungsstörung, Entzündungsvorgänge etc. zu erkennen. Liess sich
Broussais schon dadurch verleiten, allmählich die Irritation kurzwegs der
Entzündung gleichzusetzen, so wuchs seine Willkür geradezu ins Unge-
heuerliche, als er sich vermass, die sogenannten „essentiellen" Fieber der
alten Schule in seinem System unterzubringen. Das Täuschendste dabei
war gerade die scheinbare „Exaktheit", stützte sich Broussais doch auf
pathologisch-anatomische Befunde. Die Leichenöffnungen bei fieber-
haften Krankheiten, namentlich bei typhösen Fiebern, einer in Paris damals
alltäglichen Krankheit, wiesen mit Entschiedenheit auf den Darmkanal hin.
Daraus zog er den Schluss, dass das Fieber in letzter Linie auf eine
gastro-intestinale Reizung zurückzuführen sei, welche nur sekundär, durch
sympathische Irradiation aufs Herz die charakteristischen Symptome her-
vorrufe. Vieles mag auch die Verwechslung von postmortaler Imbibition
mit wirklicher Entzündung beigetragen haben, dass Broussais in der Sucht
zu lokalisieren immer mehr Krankheitsprozesse von einer „Gastro-
enterite" ableitete und ihre klinische Differenz nur durch die Ver-
schiedenheit der Sympathien erklärte. So wurden denn endlich nicht bloss
Typhus und Cholera, sondern auch alle dyskrasischen, Nerven- und Geistes-
krankheiten, die Exantheme (Masern, Scharlach etc.) als Folgen der Gastro-
enterite hingestellt, ja selbst die Krisen, Metastasen etc. von dieser einzigen
Lokalaffektion abhängig gemacht. Einer solchen Pathologie, welche sich
rühmte, auf Bichats Grundsätzen der Analyse zu basieren, thatsächlich aber
geeignet war, den Lokalisationsgedanken in Misskredit zu bringen, entsprach
eine ebenso schablonenhafte, absurde Lokaltherapie, nämlich durch ört-
liche Blutentziehungen (Blutegel, Aderlässe, Umschläge, schleimige Getränke)
der Gastroenterite entgegenzuwirken. Während eines einzigen Jahres (1819)
wurden auf der Abteilung von Broussais 100 000 Blutegel gebraucht! Unter
den zahlreichen Schülern dieses „Messias" der neueren Medizin ragt be-
sonders Jean Baptiste Bouillaud (1796 — 1881) hervor (ein um die
spezielle Pathologie der Herzkrankheiten und des Gelenkrheumatismus hoch-
verdienter Arzt), welcher das Fieber auf eine Entzündung des Endocards
und der Intima der Gefässe zurückführte und demgemäss rasch auf einander
folgende Aderlässe (saignees coup sur coup) empfahl.
Nur die Unreife der Zeit macht es verständlich, dass ein System,
welches die Mehrzahl der Krankheiten aus einer lokalen Entzündung,
besonders der Entzündung des Magendarmtrakts (Gastroenterite) er-
klärte, die Spezifität der Krankheitsprozesse gänzlich verkannte, in
der Therapie nach e i n e r Schablone einem ungezügelten Vampyrismus
huldigte, Anhänger, ja sogar sehr zahlreiche, und ideal begeisterte An-
hänger finden konnte. Die Herrschaft des Doktrinarismus war eben
noch so wenig gebrochen, dass man trotz der traurigen Resultate in
der Praxis — auf der von Broussais geleiteten Abteilung war die
Sterblichkeit am grössten — lieber den objektiven Verhältnissen die
Schuld gab, als an dem Götzen ., Wissenschaftlichkeit" zweifelte. Es
Einleitung. 135
war ein Glück für die medizinische Erkenntnis, dass durch diese
letzte und abenteuerlichste Form der medizinischen Scholastik
wenigstens der blinde Glaube an die Autorität der Alten, an die
symptomatischen Krankheitsontologien (Fieber) zerschmettert wurde,
und dass die Aerzte lernten anatomisch zu denken (Lokalisations-
prinzip). Freilich wurden diese Vorteile teuer erkauft für andere
noch viel grössere Irrtümer, als die alten waren, aber unleugbar
wurde die grosse stumpfe blasse, welche für die keusche \Yahrheit,
wie sie Bichat bot, unempfänglich war, durch das Zerrbild zur Be-
geisterung entflammt, welches Broussais in seinem Spiegel vorhielt.
Es scheint, dass die Wahrheit auf ihrem Siegeszuge
stets die massloseste Uebertreibung als Herold vor-
aussenden muss!
Rascher, als es Broussais lieb war, erkannten besonnene kritische
Forscher die Nichtigkeit seines Systems und beschränkten sich als
echte Nachfolger Bichats darauf, mit völligem Verzicht auf gewagte
Doktrinen, unbefangen im Buche der Natur zu lesen. Langsam aber
zielsicher, entzogen sie dem Broussaismus den Boden und fegten
nicht nur dieses letzte der Systeme hinweg, sondern löschten — was
noch mehr ist — die Systemsucht aus. In der vergleichenden
Betrachtung der in vivo beobachteten Symptome und
der an der Leiche ermittelten Befunde gelang es ihnen,
viele symptomatische Krankheitsbilder und vage Ontologien der alten
^ledizin durch objektiv wahre exakte Krankheitsbeschreibungen zu
ersetzen, und die pathologische Anatomie zur Grundlage der Dia-
gnostik zu erheben. Die Leistungen dieser Forscher sind aus der
modernen Medizin nicht hinwegzudenken, sie bleiben klassisch für
alle Zeit, sie waren die ersten, welche wenigstens auf einzelnen Ge-
bieten die praktische Thätigkeit des Arztes mit exaktem Wissen
und technischem Können ausrüsteten. Die Pariser patho-
logisch-anatomische Schule eröffnete die Heilsbotschaft, dass
die Medizin nicht immer bloss auf mystisches Ahnen oder empirische
Schätzung, wie Zimmermann und Cabanis glaubten, angewiesen sein
wird, sondern mit steigender Entwicklung in unverrückbaren Gesetzen
ihren Rückhalt finden wird.
Abgesehen von einzelnen Vorläufern, welche schon annähernd in
diesem Geiste arbeiteten, wie P. L. Prost, A. Petit und E. Serres,
sind als die eigentlichen Begründer der Schule die beiden Meister
der physikalischen Diagnostik, Corvisart und Laennec anzu-
sehen, die beiden Heroen der modernen Medizin, denen nicht nur die
Klinik ihre Reform, sondern, was noch mehr besagt, jeder bescheidene
Praktiker die Fundamente seines Wissens, die Grundlagen seines
Könnens verdankt. Durch ihre Hinterlassenschaft, die Perkussion
und Auskultation, sind sie für immer die Lehrer der Lehrer ge-
worden und haben die objektive Untersuchung am Krankenbette in
Dezennien mehr erweitert und vertieft, als es vordem Jahrtausende
vermochten !
Die Aera der pathologischen Anatomie konnte nicht glänzender
eröffnet werden als durch den eklatanten Beweis ihrer praktischen
Bedeutung für die Diagnose; der anatomische Gedanke war es. der
Corvisart und Laennec auf Mittel sinnen Hess, die es ermöglichen, die
materiellen Grundlagen der Krankheiten am Lebenden aufzusuchen,
mittels der Sinne die objektiven Veränderungen wahrzunehmen, mit
136 Max Neuburger.
Sicherheit dasjenige zu erkennen, was aus der Beobachtung der
Symptome, aus der Pulsbeschaffenheit, aus der Berücksichtigung des
Allgemeinzustands — diesem Rüstzeug der alten Aerzte — höchstens
genial vermutet werden konnte.
Jean Nicolas Cor vis art des Märest (1755 — 1821), der Leibarzt
Napoleons, der sich auch um die Lehre von den Herzkrankheiten nicht
geringe Verdienste erworben hat, stellt das Bindeglied dar zwischen der
älteren Wiener und der französischen Schule. An der Wiener Klinik
wurde die pathologische Anatomie zu einer Zeit gepflegt, da sie in
Deutschland noch ganz brach lag, aus der Wiener Schule ging der
Erfinder der Perkussion, Auenbrugger, hervor und Maximilian Stoll
war der erste Kliniker, der diese Methode wenigstens einiger-
massen berücksichtigte. Durch mehrere Stellen bei Stoll, über dessen
Aphorismen er Vorlesungen hielt, wurde Corvisart auf Auen-
bruggers unvergängliche Schrift (die bereits von Roziere de la Chas-
sagne ins Französische übertragen war) aufmerksam und sammelte in
zwanzigjähriger Thätigkeit die bedeutendsten Erfahrungen über den
Nutzen der Methode. Im Jahre 1808 gab er zum Triumphe des be-
scheidenen Erfinders das Original samt einer französischen Ueber-
setzung neu heraus, begleitet von zahlreichen und ausführlichen
Krankengeschichten. Trotz einiger später von Skoda rektifizierter
Missverständnisse gelang es ihm die Technik der Perkussion in
mancher Hinsicht zu vereinfachen, und die Schlüsse, die aus der
Beobachtung der Schallphänomene zu ziehen sind, präziser zu be-
grenzen, als es dem Erfinder möglich war, — Verbesserungen, die in
einer 1818 erschienenen Abhandlung über Perkussion (in der letzten
Ausgabe seines Werkes über Herzkrankheiten) niedergelegt sind.
So gleichgültig es für den Fortschritt ist, so muss es doch vom ethischen
Standpunkt besonders gerühmt werden, dass Corvisart, dem es leicht gewesen
wäre, den Namen des Erfinders zu verschweigen, Auenbruggers Verdienst
ins hellste Licht rückte. Der Charakter Corvisarts offenbart sich in der
Vorrede zu seiner Uebersetzung, wo er sagt: j'aurais pu m'elever au rang
d'auteur en refondant l'oeuvre d'Avenbrugger, et en publiant un ouvrage sur
la percussion. Mais, par-lä, je sacrifiai le nom d'Avenbrugger ä ma propre
vanite; je ne l'ai pas voulu: c'est lui, c'est sa belle et legitime decouverte
(inventum novum), comme il le dit justement, que j'ai voulu faire revivre.
Rene Theophile Hyacinthe Laennec (1781 — 1826), eine der
grössten Koryphäen der Medizin aller Zeiten, das Haupt der patho-
logisch-anatomischen Schule, ergänzte die Perkussion durch die zweite
fundamentale Untersuchungsmethode, die Auskultation. Mag ein
zufälliges Erlebnis — er beobachtete Kinder, welche Holzstäbe ans Ohr
hielten, um das Geräusch wahrzunehmen, das sie mit Nadeln am ent-
gegengesetzten Ende hervorriefen — den Anlass zur Erfindung des
Stethoskops gegeben haben, einen gewissen Einfiuss hatte gewiss auch
das gerade von Laennec mit grösster Gründlichkeit betriebene Studium
der hippokratischen Schriften, worin der Succussio eine so hohe
Bedeutung eingeräumt wird. Ueber Jahrtausende hinüberreicht
die moderne Medizin der hippokratischen die Hand gerade zur Zeit,
da anscheinend die Kette der Ueberlieferung zerrissen wurde!
Laennec machte seine bahnbrechende Erfindung zuerst im Jahre 1815,
gelegentlich der Demonstration eines Hydrothorax bekannt. Seine
auf vieljähriger Anwendung beruhenden Erfahrungen über die Prin-
Einleitung-. 137
zipien und den diagnostischen Wert der Auskultation bei Herz- und
Lungenkranklieiten sind in dem unsterblichen Meisterwerk: De l'aus-
cultation mediate (Paris 1819), in einer Weise niedergelegt, dass in
zwei Jahrzehnten von den Nachfolgern nichts verbessert oder hinzu-
gefügt werden konnte.
Laennec ist der Schöpfer der Diagnostik der Herz- und Lungen-
krankheiten, bereicherte aber auch andere Zweige der Pathologie.
Unausgesetzt am Krankenbette oder am Seziertisch thätig, rastlos
beobachtend, sammelnd, vergleichend, lieferte er eine Reihe der wich-
tigsten grundlegenden Arbeiten über Entozoen, Peritonitis, Aneurysmen,
Lungenemphj'sem, Bronchiectasie, über Tuberkulose, über Neubildungen
und verstand es, auf dem rein empirischen Wege die Wissenschaft
durch Besitztümer von dauerndem Wert zu bereichern. Durch die
Auskultation weit über Morgagni hinausdringend gelang es ihm, aus
den akustischen Phänomenen Lokalität und Eigenart der krank-
haften Affektionen in vivo zu diagnostizieren, die pathognomonischen
Zeichen festzustellen. Die letzte Aufgabe, an die sich der grosse
Arzt heranwagte, sichere Mittel zu finden, durch welche die ana-
tomischen Veränderungen in den Normalzustand zurückgeführt werden
können, war zu hoch gestellt, um auch nur eine bescheidene
Lösung zu finden, dennoch waren Laennecs Verdienste auch in der
Therapie nicht gering, da er wenigstens der missbräuchlichen An-
wendung der Blutentziehung (Broussais) mit grösster Entschieden-
heit entgegentrat und insbesondere bei der Phthisis die herkömmlichen
„Heilmittel" mit berechtigter Skepsis beurteilte. Dem Beispiele des
grossen Laennec folgte eine ganze Reihe von ausgezeichneten
Forschern, welche in der Epoche von 1815 — 1840 den Ruhm der
französischen Medizin begründeten.
Unter ihnen sind besonders bemerkenswert: Gaspard Laurent Bayle
(1774 — 1816) durch sein berühmtes Buch über Phthise; Aug. FranQois
Chomel (1788 — 1858), der Nachfolger Laennecs im Lehrfach; Paul Bre-
tonneau (1771 — 1862), durch seine Schriften über Diphtherie; Pierre
Adolphe Piorry (1794 — 1879), der Erfinder des Plessimeters; Leon Rostan
(1790 — 1866) durch seine Studien über Gehirnerweichung; Leon Jean
Baptiste Cruveilhier (1791 — 1874), der erste Professor der pathologischen
Anatomie in Paris; Pierre Charles Alexander Louis (1787 — 1872), Ab-
handlungen über Phthise und Typhus; Gabriel Andral (1797 — 1876),
Verfasser des ersten als „Klinik" bezeichneten Werkes, Clinique medicale
(1829 — 1833), in welchem zum erstenmale die Methode verfolgt wurde, aus
einer Reihe von Einzelbeobachtungen gewöhnlich vorkommender Krankheits-
fälle, die Verhältnisse der betreffenden Krankheiten empirisch festzustellen.
Die Beseitigung der alten symptomatischen Pathologie und des
Broussaismus, die Begründung der physikalischen Diagnostik, die Auf-
stellung einer grossen Zahl von Krankheitsbildern auf Grund exakter
pathologisch-anatomischer Befunde und gewissenhafter klinischer Be-
obachtungen, das Prinzip der anatomischen Klassifikation der Krank-
heitsgruppen mit entsprechender Terminologie — das sind die be-
deutsamsten, die bleibenden Ergebnisse der Pariser Schule. Aut
solche Fundamente Hess sich sicher weiterbauen. Es hiesse jedoch,
auf das historische Urteil Verzicht leisten, wollten wir neben den
hervorgehobenen eminenten Verdiensten nicht auch auf die Mängel
hinweisen, die sich nicht nur unserem vorgerückten Standpunkt offen-
138
Max Neuburger.
baren, sondern geradezu wie ein negativer Druck befördernd auf die
weitere Entwicklung eingewirkt haben. Diese Mängel mit ihren
theoretischen und praktischen Konsequenzen lassen sich in letzter
Linie aus der extremen Durchführung des Lokalisationsprinzips,
welche bei dem damaligen Wissensniveau zu einer völligen Ver-
kennung des Krankheitsprozesses führen musste, erklären.
Bei der an sich lobenswerten Absicht, nur das als wahr anzu-
erkennen, was palpabel ist und ins Gesichtsfeld tritt, gelangte man
nicht nur dahin, die grosse Anzahl von Affektionen, welche die Ana-
tomie auch heute noch nicht aufhellt, zu vernachlässigen, ihnen ge-
wissermassen Realität abzustreiten, sondern man verfiel sogar in den
Fehler, die in der Leiche vorgefundenen schwersten Zerstörungen
schablonenmässig, ohne Berücksichtigung des Entwicklungsstadiums
kurzwegs mit der Krankheit zu identifizieren. Infolge der masslosen
Ueberschätzung einer nicht einmal bis ins mikroskopische Detail herab-
steigenden pathologischen Anatomie, infolge der völligen Ausseracht-
lassung der physiologischen Vorgänge wurde weder die Konstitution des
Patienten, noch die Aetiologie und Entwicklung der Krankheit, noch die
Selbstregulation des Organismus gebührend berücksichtigt — wie es von
selten der hippokratisch denkenden Aerzte geschah. Theoretisch ergab
sich aus diesen Verhältnissen eine starre ontologische Krankheitsauf-
fassung, praktisch eine, die Lidividualität des Kranken vernach-
lässigende, bloss gegen die Krankheitsspezies oder, besser gesagt, Nomi-
naldiagnosen gerichtete schablonenhafte Therapie, welche je nach dem
Grade des Sanguinismus entweder total indifferent oder roh eingreifend
(mit toxischen Dosen, heroischen Mitteln) ausfallen musste ; darum waren
die früheren Aerzte bessere Praktiker als die pathologischen Ana-
tomen, weil sie fein individualisierend auf dasjenige wirkten, was
oft allein durch die Therapie modifiziert werden kann: auf den Ge-
samtzustand, das Fieber, den Schmerz, auf die Ernährung. So wurde
denn der unleugbar ungeheure Fortschritt- des Wissens zunächst durch
den Verlust längst besessener Vorteile, durch einen Rückgang der
Kunst erkauft, der kaum durch die bereits sichtbar werdende Lokal-
therapie, besonders chirurgischer Art, durch das beginnende Spezia-
listentum paralysiert werden konnte.
Betrachtet man aber auch diese Konsequenzen, die sich übrigens weit
bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts geltend machten, als notwendige,
durch die mangelhaften Hilfsmittel gegebene Verhältnisse, so kann doch
nicht übersehen werden, dass eine getreuere Beachtung der Prinzipien des
grossen Bichat, eine Fortführung seiner Leistungen im Sinne der fort-
geschrittenen Zeit die französische pathologisch-anatomische Schule auf eine
höhere Stufe erhoben hätte, als ihre temporäre „Exaktheit" war. Wir
sagen „temporäre Exaktheit", weil ihre Anhänger die zu dieser Zeit in
Deutschland bereits bewundernswert gepflegte Gewebelehre gänzlich vernach-
lässigten, weil sie in der Diagnostik die bei den einzelnen Affektionen
beobachteten Schallphänomene als pathognomonische beschrieben, ohne durch
Untersuchung der physikalischen Verhältnisse Einsicht in das Wesen ihrer
Entstehung zu suchen, weil sie in der Pathologie in ähnlich empirischer
Weise zwar die Symptome jeder Krankheitsspezies naturhistorisch schilderten,
ohne jemals naturwissenschaftlich die Erklärung aus den ursächlichen physio-
logischen Momenten ins Auge zu fassen. Der schlimmste Fehler lag aber
darin, dass man, fast ebenso einseitig wie Broussais, bei aufgefundener grober
Einleitung. 139
anatomischer Läsion, den ganzen pathologischen Erscheinungskomplex, die
Gesamtkrankheit auf ein einziges Organ bezog (z. B. Kopfschmerz der be-
stehenden DarmaflPektion zuschrieb) oder aber die Begleitzustände, wie
Schmerz, Temperatursteigerung, Pulsanomalien etc. kaum besprach.
Wie sehr das Bewusstsein dieser Uebelstände allmählich auf-
dämmerte, verrät sich darin, dass am Ausg-ang der Epoche von einigen
geistvollen Vertretern wichtige Umgestaltungen der Schule in An-
griff genommen wurden. Diese bezogen sich sowohl auf den thera-
peutischen als auf den pathologischen Standpunkt.
Es war zuerst Louis, ein Forscher, der durch seine an mehr als
5000 Leichen angestellten Untersuchungen gewiss alle an Exaktheit
übertraf, welcher die Notwendigkeit erfasste, die Grenzen der Erfahrung
über den engen Gesichtskreis der Leichenkammer, über die Schranken
der individuellen Beobachtung hinauszuschieben. Er benützte die
schon von Laplace für medizinische Zwecke empfohlene numerische
Methode, die Statistik, um Fragen der Aetiologie, Symptomato-
logie, Diagnostik. Prognostik und Therapie zu klären und regte
Gavarret dazu an, dieses Verfahren weiter auszubilden. In dem
interessanten Buche des letzteren (Principes generaux de statistique,
1840) werden ganz besonders therapeutische Fragen berührt, und so
gross auch die Irrtümer waren, zu denen die noch gar zu naive Ueber-
schätzung der statistischen Methode den Anlass gab, es war doch
ein Weg gefunden, um dem Dilemma zwischen blindem Arzneiglauben
und therapeutischem Nihilismus durch voraussetzungslose Prüfung zu
entkommen. Man bekehrte sich zu dem Grundsatz, es müsse, wie
mit den übrigen Zweigen der Medizin, so auch mit der Therapie
ganz von vorne, rein empirisch begonnen werden.
Einen Schritt weiter ging noch Andral, der beste Kliniker der
Schule. Er richtete nicht nur seinen ganzen Eifer darauf, mit Meister-
kunst die Bilder der einzelnen Krankheitsformen zu entwerfen, sondern
legte das Hauptgewicht darauf, neben den anatomisch nachweisbaren
Veränderungen den Entwicklungsgang der krankhaften
Erscheinungen, den Krankheitsprozess zu verfolgen. Damit kam
er dem Programm, welches Bichat entworfen hatte, näher als seine
Vorgänger und wurde wie dieser dazu gedrängt, auch das Blut als
Quelle oder Sitz mancher Krankheiten in Betracht zu ziehen.
Die in Gemeinschaft mit Gavarret ausgeführten chemischen Unter-
suchungen des Blutes führten ihn zu einem Ergebnis, das mit den
starren solidarpathologischen Lehren der französischen Schule in
grellstem Widerspruch stand. In seinem 1832 erschienenen Grundriss
der pathologischen Anatomie zeigte er nämlich, dass das Blut bald
durch Uebermass oder Mangel an Fibrin oder Albumin, bald durch
abnorme Beschaffenheit der Eiweissstoffe , des Blutfarbstoffs oder
durch Beimischung von „Encephaloidmassen" (Leukocyten), Sekretions-
stoffen. Giften etc. pathologisch verändert sein könne und dass es
Veränderungen des Blutes gebe, die vor denen der festen Teile auf-
treten. Wie Bichat am Schlüsse seiner Laufbahn, kommt Andral
notwendig zu dem Schlussergebnis, dass es primäre Blut er kran-
kungen und demgemäss Allgemeinerkrankungen gäbe. So
löste sich denn die Pathologie neuerdings aus ihrer solidaristischen
Einseitigkeit und gelangte im Spiralgang wieder zu einer Humoral-
pathologie höheren Stiles (Hämatopathologie) zurück, in welcher
140 M.&X Neu burger.
die einstigen Bestrebungen der Chemiatriker, die hamätologischen
Untersuchungen eines Hewson und Hunter zu neuem Leben erweckt
wurden.
Der Anstoss zu solcher Bewegung stammte von aussen, von einem
führenden Geiste, der es sich zum Ziele gesetzt hatte, gerade den-
jenigen Teil der Arbeit Bichats fortzuführen, welchen die patho-
logischen Anatomen völlig beiseite gelassen hatten: die Experi-
mentalforschung. Frangois Magen die (1783—1855), der
feurigste Apostel des medizinischen Positivismus, war es, der nicht
nur der Physiologie durch die Proklamation der exakten Prinzipien,
durch die völlige Verdrängung der Hypothesen eine neue glanzvolle
Aera des Fortschritts eröffnete, sondern auch dem grösseren Ziele
zustrebte, mittels der Experimentalforschung die gesamte Medizin aus
den Banden der Spekulation zu befreien und auf die Höhe zu bringen,
welche die Physik und Chemie bereits erklommen hatten. Mag er
durch seine grundsätzliche Verleugnung der Tradition, durch seinen
ungestümen Drang, den Vitalismus in seiner Gänze in die bekannten
physikalisch-chemischen Gesetze aufzulösen, zu manchen irrtümlichen
oder ganz einseitigen Erklärungen gekommen sein, mag Magendie
auch durch seine oft nur vermeintliche Exaktheit, welche weder Ge-
wicht, nach Mass berücksichtigte und zuweilen an der mangelhaften
Technik eine Klippe fand, manchen richtig erkannten Satz der alten,
„romantischen" Physiologie oder Medizin in die Vergessenheit zurück-
gedrängt haben — die grosse, umwälzende Eevision der Fakten,
die er einleitete, die vielen Errungenschaften, welche der mecha-
nistischen Bearbeitung der Lebens- und Krankheitsprobleme ent-
sprangen, die reichen Früchte, die seine Anregungen auf allen Gebieten
trugen, machen seine Leistungen, seine Methode zu einem integrieren-
den Bestandteil der modernen Medizin!
Magendie war nicht der Schöpfer der Experimentalphj^siologie,
auch durchaus nicht der Erste, der das Experiment in den Dienst
der Pathologie stellte (Hunter und Bichat), aber keiner vor ihm hat
die souveräne Bedeutung des Tierversuchs mit solcher Schärfe ver-
treten und den Nutzen dieser Methode gegenüber der Spekulation
durch praktische Bereicherung der Wissenschaft in ein so helles Licht
gerückt. Noch höher sind seine experimentalpathologischen Arbeiten
zu bewerten, wenn man erwägt, dass sie geeignet waren, nicht nur
die Hypothesen zurückzuschlagen, sondern auch die einseitig ge-
deuteten anatomischen Befunde durch die phj^siologische Verfolgung
des Krankheitsvorgangs zu ergänzen, auf ihr wahres Mass zurück-
zuführen. In seiner Auffassung wurde die Pathologie zur Physio-
logie des kranken Menschen.
Seine Versuche über das Erbrechen, über den Liquor cerebro-
spinalis, über Herzthätigkeit, Verdauung, tierische Wärme u. s. w.
haben manche sichere Grundlagen gegeben, der Nachweis des Bell-
schen Gesetzes hat erst die Bearbeitung der Nervenpathologie ermög-
licht und die Experimente über die Folgeerscheinungen der Lijektion
fauliger, eitriger Massen in die Venen erklärten zwar nicht die Genese
des Typhus, machten aber das damals noch gänzlich unbekannte
Wesen der septischen Infektion verständlicher.
Gerade diese letzteren Experimente veranlassten Magendie, die
Bedeutung des Blutes für das Entstehen von Krankheiten weiter zu
verfolgen, und die Erfahrungen, welche er selbst und andere Forscher
Einleitung. 141
in Yersuchen über seröse Blutmischung, über fibrinarmes Blut etc.
erwarben, führten ihn zu hämatopathologischen Ansichten, denen, wie
wir sahen, auch die späteren Vertreter der anatomischen Schule bei-
pflichteten.
Noch mehr! Was Bichat kurz vor seinem Tode in Angriff nehmen
wollte, den wissenschaftlichen Aufbau der Materia medica, auch dieses
gi'osse Problem beschäftigte Magendie in höchstem Masse. Mit
Ausserachtlassung der alten zusammengesetzten Arzneimischungen
unterwarf er eine grosse Zahl einfacher Präparate, wie die aus
Pelletiers Laboratorium hervorgegangenen Alkaloide (Chinin, Yeratrin,
Strychnin, Piperin, Morphium, Emetin), ferner Jod- und Bromverbin-
dungen dem Experiment, sowohl an Versuchstieren, wie an Kranken.
Die Ergebnisse wurden die Basis für die ganze neuere Pharma-
kodynamik.
Auf solcher Basis konnte sich die Pariser Schule zu ungeahnter
Höhe entwickeln und in wenigen Dezennien die medizinische Entwick-
lung aller anderen Nationen überflügeln. Der Fortschritt kam nicht
nur im Gesamtbild der inneren Klinik, in der Blüte der Chirurgie
(Dupuytren), sondern auch darin zum Ausdruck, dass die Spezialzweige
wie die Syphilidologie, die Dermatologie, die Urologie, die Otiatrie,
die Nervenpathologie, die Psychiatrie, die Geburtshilfe, Gynäkologie,
die forensische Medizin (Orflla) einen anatomisch-physiologischen Auf-
bau in neuer Bearbeitung erhielten.
Die schärfere Abgrenzung der Spezialfächer hing mit dem
Streben zusammen, die alte unbestimmte generelle Therapie durch
eine wirksame Lokalb eh andlung zu ersetzen. Bei dem geringen
Umfang der zu Gebote stehenden Mittel konnte sich die Lokal-
therapie, soweit sie rationell sein wollte, nur in dem alten Schema
der Derivation bewegen oder musste zu Heilmethoden greifen, welche
mechanischen Prinzipien entsprachen, also namentlich zu chirurgischen.
Wie sehr demnach die anatomische Auffassung der Krankheit zur
Vereinigung der Chirurgie und der inneren Medizin hinleitete, bedarf
keiner weiteren Andeutung.
Eine weitere Konsequenz der anatomischen Krankheitsauffassung,
beziehungsweise des zunächst folgenden therapeutischen Pessimismus
bestand darin, dass man der Verhütung von Krankheiten jetzt grössere
Aufmerksamkeit schenkte und daher zur Schöpfung der Hygiene
die ersten Schritte that. Dieser Impuls fand in Frankreich kräftigen
Ausdruck in der Litteratur; zur praktischen Durchführung kam es
aber sowohl in Form der hygienisch-klimatischen Therapie
(besonders bei Phthise und Skrophulose) als in Gestalt der öffent-
lichen Gesundheitspflege zuerst in England (unter dem Ein-
druck der Cholera).
Dort fanden die Grundsätze der anatomischen Pathologie sehr
bald die lebhafteste Anerkennung, und vorbereitet durch die trefflichen
Arbeiten eines Hunter und Baillie, folgte die englische Medizin
Schritt für Schritt der französischen, freilich ohne an den extremen
Folgerungen derselben Anteil zu nehmen. Es ist charakteristisch,
dass im Lande Sydenhams zu einer Zeit, wo der spekulative Geist
Europa pandemisch durcheilte, die nüchterne kritische Empirie die
Oberhand behielt. Und selbst das System, welches der Chirurg
Travers als Gegenstück zum Broussaismus aufbaute, das System
der „Irritation", hätte nicht den Beifall so klarer Köpfe, wie es Astley
142 Max Neuburger.
Cooper und Brodie waren, finden können, wenn es nicht von Einzel-
fakten ausgegangen wäre.
Die Erwägung, dass sehr oft lokale Affektionen, namentlich chirurgischer
Art, hochgradige Folgeerscheinungen im ganzen Organismus, wie Fieber,
Krämpfe, Tetanus, Betäubung etc. hervorrufen, dass andererseits lokale
Erscheinungen, selbst solche mit anatomischen Veränderungen (z. B. in den
Gelenken) bloss reflektiert von einer Alteration des Gesamtzustandes ver-
ursacht sein können, veranlasste B. Travers (1783 — 1858) den Begriff der
„Irritation" aufzustellen. Für die Ausbildung der Nervenpathologie (Hysterie)
hatte diese Lehre, welche als vorläufiger unpräjudizierender Ausdruck von
Thatsachen aufzufassen ist, grosse Bedeutung. Viele nervöse (hysterische)
Lokalaffektionen (z. B. Gelenksueurosen) wurden klarer, und man Hess sich
nicht mehr so leicht zu unpassenden chirurgischen Eingriffen verleiten. Das
System von Travers wurde an der Hand des Bellschen Gesetzes und der
Lehre von den Reflexbewegungen (IMarshal Hall) durch eine Reihe von
Denkern ausgebildet und endete in der bekannten, zuerst von Parish
formulierten Theorie von der Spinalirritation.
Mit reichem Sinn und Verständnis für alles Praktische begabt,
voll Empfänglichkeit für alles Neue, wenn es auch aus dem Ausland
stammte, durch nüchterne Denkrichtung vor Ueberstürzungen be-
wahrt, übernahmen die englischen Aerzte nicht nur die Methode und
letzten ICrgebnisse der Pariser Schule, sondern entwickelten die schon
ein Jahrhundert vorher von Einzelnen erfolgreich begonnene
Kasuistik zur anatomisch-klinischen Forschung und bildeten die be-
sonders durch J. Forbes übermittelte physikalische Diagnostik selb-
ständig weiter. Es giebt kein Kapitel der speziellen Pathologie,
welches nicht durch ihre Arbeiten bedeutend erweitert worden ist,
ja manche Gebiete erhielten erst durch sie eine exakte Begründung,
wie die Lehre von den Krankheiten des Darms und der Leber, der
Nieren (Bright), der Nebennieren (Addisson), die Neuropathologie,
welche ganz besonders durch das Zusammenwirken anatomischer,
klinischer und physiologischer (Charles Bell, Marshai Hallj Beobach-
tungen zu überraschender Entwicklung gebracht wurde. Diese rege,
echt wissenschaftliche Thätigkeit, deren Ergebnisse durch die
wachsende Publizistik rasch verbreitet wurden, konzentrierte sich
namentlich in zwei Brennpunkten des Fortschritts, in der Schule zu
Edinburg und in der Schule zu Dublin. Was die letztere an-
langt, so genügt es zu ihrer Charakteristik, wenn man die Namen
ihrer Mitglieder W. Stokes, J. Cheyne und R. Graves nennt, Namen,
die jeden Tiro der Medizin an epochemachende Leistungen in der
Pathologie und Diagnostik der Brustkrankheiten und Neurosen er-
innern.
Am spätesten fand der neue Geist in der Medizin der Deutschen
Eingang! Wie langsam die naturphilosophische Spekulation aus Theorie
und Praxis verdrängt wurde, welch harter Kämpfe es bedurfte, um
eingewurzelte Ideen auszurotten, um unbeugsame Autoritäten in den
Hintergrund zu drängen, davon erhält man das klarste Bild, wenn
man die Lebenserinnerungen der grossen Aerzte liest, die nicht nur
beide Epochen, die naturphilosophische und naturwissenschaftliche, in
ihrer Biographie verknüpfen, sondern selbstschaffend am Webstuhl
der Zeit gestanden sind. Den vereinten Anstrengungen dieser Männer
ist es zu danken, dass sich in der deutschen Heilkunde eine Revo-
Einleitung-. 143
lution vollzog-, welche die Throne der Spekulation erzittern, wanken,
stürzen Hess, dass eine Umwertung der Beg-riife folgte, welche die
Schatten des Mittelalters völlig verjagte, und endlich der empirischen
Forschung jene Eechte gab, die ihr immer gebührt hätten. Das Feuer
des Kampfes ist verglommen, die Wogen sind geglättet, die Söhne
und Enkel wissen es kaum mehr zu würdigen, dass der ererbte Boden,
auf dem sie stehen, den sie in Frieden bebauen, mit der Lebens-
arbeit einer Generation gedüngt ist, die alles, was sie überkam, opfer-
mütig in die Schanze schlug und sich von Tag zu Tag die Geistes-
freiheit selbst erobern musste. Mit welcher Wucht zwei Weltan-
schauungen aneinander prallten, mit welcher Schärfe zwei ganz kon-
träre Denkmethoden ihre Klingen kreuzten, spiegelt sich in der
Geistesbiographie der führenden Männer wieder; in der psycho-
logischen Analyse dieser inneren Geschichte sind all 4ie feineren
Triebmomente noch von dem warmen Hauch des Lebens beseelt, dort
sieht man die kapillaren Kräfte werden, wachsen, bis sie allmählich
zum breiten starken Strome schwellen.
Uns fehlt als Epigonen die Plastik des selbst Erlebten, als
geistigen Schülern die kühle, unbefangene Kritik; noch ist die historische
Perspektive zu kurz, um alle Fäden, die sich verwirrend häufen, bloss-
zulegen, um jedes Samenkorn, das unbewusst der kommenden Grösse
ausgestreut worden, in seiner fortwirkenden Kraft vollwertig zu er-
kennen. Welche Früchte bereits herangereift sind, was von Keimen
entwicklungsfähig war, was dagegen frühzeitig abstarb oder noch
latent geblieben ist — all das wird in der Geschichte jedes Spezial-
zweiges der Medizin im einzelnen dargelegt werden. Wir begnügen
uns zur Einführung, den Bildersaal der neuesten Geschichte zu durch-
wandeln und wollen es versuchen, die markantesten Züge aus der
geistigen Physiognomie jener grossen Forscher in uns aufnehmen,
welche den Grund zur neuesten Entwicklungsphase gelegt haben.
Wenn auch die naturwissenschaftliche Aera der deutschen Medizin,
welche in den vierziger Jahren anhebt, ihr erstes Stadium durch die
blosse Uebernahme der positiven Leistungen der Pariser Schule
signalisiert, so erfahren dieselben doch schon so frühzeitig eine der-
art selbständige Umbildung, eine derart breite Ausgestaltung, dass
der Schluss berechtigt erscheint, es müsse der Boden, in welchem die
fremden Ideen alsbald Wurzeln schlugen, mit wundersamen, besonders
entwicklungsfördernden Kräften ausgestattet gewesen sein. Als solche
wäre wohl vor allem die deutsche Gründlichkeit anzusprechen, welche
leider Jahrhunderte hindurch in sublimster Abstraktion ihren Ziel-
punkt suchte und nur der Leitung bedurfte, um auf fruchtbarem
Gefilde ihre herrlichen Vorzüge vorteilhaft entfalten zu können.
Ein zweites ursächliches Moment, das in der speziellen Geschichte
der vorangegangenen Epoche stark hervortritt, liegt darin, dass
die Naturphilosophie im Wesen dasselbe anstrebte, wie die exakte
Forschung der Franzosen, nämlich die Verknüpfung der Medizin
mit der allgemeinen Naturwissenschaft, dass nur ihre Methode
verfehlt war, nicht aber ihre Tendenz. Niemals wurde dieselbe
schöner formuliert als durch die lapidaren Worte des Naturphilosophen
v. Walther, der bereits im Beginne des 19. Jahrhunderts den Aus-
spruch that: „Die Medizin kann wahre Fortschritte nur
«ladurch machen, dass die ganze Physik, Chemie und
alle Naturwissenschaften auf sie angewendet und dass
144 Max Neuburger.
sie auf die gegenwärtig erstiegene Höhe derselben ge-
stellt und mit ihren glänzenden Fortschritten inUeber-
einstimmung gesetzt werde." Dieser Satz gilt auch heute
noch als Glaubensbekenntnis, freilich mit der stillschweigenden Vor-
aussetzung, dass der Weg zu dem vorschwebenden Ideal nur durch
die naturwissenschaftliche Methode hinführt.
Die beiden Ersten, welche allein die exakte Methode in ihrer
Bedeutung erfassten und mit der Macht ihrer Persönlichkeit auf
weite Kreise überzeugend wirkten, waren Johannes Müller (1801 —
1858), der grösste Physiolog nach Haller, und Joh, Lucas S c h ö n 1 e i n
(1793 — 1864), der Schöpfer der deutschen Klinik, zwei Forscher, die
in ihrer Jugend noch ganz im Bannkreis der Naturphilosophie standen,
im reifen Mannesalter aber, der eine auf theoretischem, der andere
auf klinischem Gebiete das Banner der Induktion, des Objektivismus
entrollten.
Der Gegenstand, dem sich Johannes Müller zuwandte, die Physio-
logie, ist wegen der verhältnismässigen Einfachheit der Probleme im
Vergleich zu den pathologischen am ehesten geeignet, Talent und
Forscherfleiss durch Erkenntnisse zu belohnen, welche an Realität den
Gesetzen der Physik gleichkommen. In der That lag schon eine
nicht geringe Zahl wichtiger Einzelerfahrungen vor, welche den Wert
der exakten Methode erwiesen, wie die bahnbrechenden Arbeiten von
DöUinger, Christian Pander, K. E. v. Baer in der Entwicklungslehre,
die grundlegenden Versuche über die Physiologie der Verdauung von
Tiedemann und L. Gmelin, die unübertrefflichen Leistungen eines
Purkyne in der Gewebelehre und Sinnesphysiologie, die exakten
Studien eines E. H. Weber über die Gesetze der Blutbewegung, über
die Mechanik der Gehörknöchelchen, über den Tastsinn u. a. Die
geschichtsbildende Grossthat Joh. Müllers bestand aber darin, dass er
in seinem berühmten Handbuch das ganze Gebiet, wie es seit Haller
nicht geschehen, mit seinem universalen Geiste umfasste, dass er
durch konsequente Anwendung der exakt (mikroskopisch und experi-
mentell) beobachtenden, messenden, wägenden Methode, mit Benützung
der physikalisch-chemischen Hilfsmittel bis an die Grenzen des Mög-
lichen fortschritt, und dass er auch die praktische Bedeutung der
Physiologie und Histologie für die Erforschung der Krankheiten
unwiderleglich nachwies. Das Meisterwerk über die Drüsen, führte
nicht nur die von Bichat begonnene Gewebelehre um ein Bedeutendes
weiter, es wurde der Ausgangspunkt der Zellenlehre; das Werk
über den feineren Bau und die Formen der krankhaften Geschwülste
schuf die pathologische Histologie, regte einen Virchow später an, auf
gleichem Wege fortzufahren. Was Joh. Müller für die deskriptive,
vergleichende und pathologische Anatomie, für die Histologie, Embryo-
logie, für Physiologie und Pathologie während einer relativ kurzen
Lebensspanne geleistet hat, lässt sich noch kaum in seiner Gänze
ermessen, denn zahllose seiner Anregungen haben späterhin in Form
epochemachender Leistungen seiner Schüler, v. Helmholtz, du Bois-
Reymond, v. Brücke, um nur die Grössten zu nennen, fortgewirkt
und der neueren deutschen Medizin den Stempel seiner Methode
aufgedrückt. ^
Ueber die reformatorische Thätigkeit des grossen Klinikers, der J
zur Zeit des Altmeisters der Physiologie wirkte, haben wir fast nur ^
aus begeistertem Schülermund, allerdings sehr beredte Kunde, denn
Einleitung. 145
die wenigen authentischen Schriften, die Schönlein hinterlassen hat,
gewähren keinen genügenden Anhalt, um sich ein Bild von seiner
grossen Persönlichkeit zu macheu. Er gehörte zu jenen grossen
Aerzten, welche den papierenen Ruhm für nichtig schätzen und nur
im Geist und Herzen ihrer Schüler fortleben. Allerdings gemäss dem
Sprichwort ,,ex ungue leonem", liesse sich auch aus der kleinen
litterarischen Hinterlassenschaft, insbesondere aus den 20 Zeilen über
die „Pathogenie der Impetigines", welche die Entdeckung des Favus-
pilzes enthalten, der Schluss ziehen, dass ihr Verfasser die natur-
wissenschaftliche Methode mit Erfolg anzuwenden verstanden hat.
Höher steht aber das Zeugnis hervorragender Eepräsentanten der
neueren Medizin, welche begeistert anerkannten, dass sie ihr Bestes
Schönlein verdanken, dass er der Erste war, der die Auskultation
und Perkussion, die chemische und mikroskopische Untersuchung am
Krankenbette verwendete, um Diagnosen zu stellen. Mit feinem Ohr
für alles Entwicklungsrähige begabt, nahm er die fremden Errungen-
schaften auf, um sie durch eigene Arbeit zu erweitern, sichtlich be-
müht, die Medizin nach dem Muster der Naturwissenschaft umzu-
gestalten. Freilich machte auch Schönlein zuerst den Yerpuppungs-
zustand der „naturhistorischen" Richtung durch (Avie aus veröffent-
lichten Kollegienheften hervorgeht), aber weder diese jugendlichen
spekulativen Anwandlungen, die während seiner Würzburger Thätig-
keit noch vorherrschen, noch die spätere exakte Richtung (in Zürich
und Berlin) verleiteten ihn, die praktischen Zwecke hintanzusetzen.
Selbst pathologischer Anatom im Beginn seiner Laufbahn, späterhin
der pathologischen Chemie und Mikroskopie eifrigst zugewendet, war
ihm doch stets die Krankenbeobachtung das Höchste. Den klarsten
Ausdruck fand diese Tendenz nicht nur in seiner Lehrthätigkeit,
indem Schönlein seinen Schülern Gelegenheit gab, an einem reichen
Material den Verlauf der Krankheiten zu studieren und Einsicht in
die Gesetzmässigkeit des Krankheitsprozesses zu erlangen,
sondern auch darin, dass er die Individualität des Kranken
in der Therapie in erster Linie berücksichtigte und die klinische
Erfahrung zur obersten Richterin erhob, welcher die Naturwissen-
schaften untergeordnet sind. In diesem Sinne ist er als Begründer
der modernen klinischen Methode anzusehen, deren Souve-
i'änität gegenüber Seziersaal und Laboratorium nicht zufälligerweise
-erade in seinem Nachfolger (v. Frerichs) und in seinen Schülern (be-
sonders V. Leyden) so warme Verteidiger gefunden hat.
Die von Joh. IVIüller und Schönlein ins Leben gerufene Schule
bedurfte aber, um zur vollen Entwicklung zu gelangen, einer Unter-
stützung durch Gleichgesinnte und eines kräftigen Einschlags; denn
ihre Pathologie setzte sich mehr aus chronikartig aneinandergereihten,
als kausal verknüpften Thatsachen zusammen; ihre Auskultation und
Perkussion entbehrte wirklich wissenschaftlicher, d. h. physikalisch-
anatomischer Grundlagen und hatte das französische Vorbild zwar er-
reicht, aber nicht übertroffen : ihre Therapie haftete noch zum grössten
Teile am Ueberkommenen, beschränkte höchstens die überlieferte
Polypragmasie früherer Epochen, ohne den Mut zu einem Bruch mit
der Tradition zu finden.
All diese Postulate zu erfüllen, das bildete die Mission der
neueren Wiener Schule; ihre Führer entledigten sich derselben
in solchem Grade, dass Leichenhof und Klinik des ,. Allgemeinen
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 10
146 Max Neuburger.
Krankenhauses" dezennienlang- der Mittelpunkt wurde, auf den die
Blicke der gesamten medizinischen Welt gerichtet waren, dass Wien
die Stätte wurde, wohin wissbegierige Schüler und erprobte Forscher
ebenso wie hilfesuchende Kranke aus dem ganzen Erdkreis pilgerten.
WasRom für den Künstler, war Wien fürdenMediziner,
erst dort empfing er die rechte Weihe!
Der Glanz dieser Schule beruhte auf dem harmonischen Zu-
sammenwirken zweier Forscher, welche schon in jungen Jahren ihr
grosses Ziel vor Augen hatten und unbeirrt, mit überragender Be-
fähigung, mit opferfreudiger Ausdauer und seltener Denkschärfe die
Bahn der echten, voraussetzungslosen Naturwissenschaft bis an ihr
Lebensende verfolgten: Karl v. Rokitansky (1804 — 1878) und
Josef Skoda (1805—1881).
Der gemeinschaftliche Wesenszug der Beiden ist nicht allein
darin zu suchen, dass sie ausgehend von den Leistungen der Franzosen
das Thatsachenmaterial unendlich bereicherten, und die Beschreibung
der Einzelfakten mit minutiöser Genauigkeit verbesserten, sondern
hauptsächlich darin, dass sie bemüht waren, den Zusammenhang der
pathologischen Erscheinungen, die Gesetze ihres Zustandekommens
aufzudecken. Hierzu war die gegenseitige Durchdringung der Klinik
und der pathologischen Anatomie unumgänglich nötig, die eine fand
in der anderen ihre Ergänzung, ihre Führungslinie; galt es doch vor
allem den Obduktionsbefund und die Krankengeschichte in reale
Uebereinstimmung zu bringen, um dahin zu gelangen, einerseits am
Lebenden durch physikalische Kennzeichen die ana-
tomischen Veränderungen, andererseits das klinische Bild
der Krankheit aus dem Leichenbefund herauszulesen.
Das reiche Material, welches Rokitansky zur Verfügung stand,
bot ihm zunächst Gelegenheit zum Nachweis, dass sich nach einzelnen
Symptomengruppen stets bestimmte anatomische Läsionen zeigen.
Das Wechselverhältnis derselben festzustellen, erforderte eine rastlose
und mühsame Forscherthätigkeit. Bedeutet schon die Zurückführung
der mannigfaltigen anatomischen Bilder auf wenige Typen eine
Riesenleistung, welche um so bewunderungswürdiger ist, als brauchbare
Vorarbeiten nur zum geringsten Teile vorlagen und der Meister
sogar genötigt war, erst eine neue, präzis charakterisierende Sprache
als wissenschaftliches Ausdrucksmittel zu schaffen, so bildete für
Rokitansky dieser ungeheuere Reichtum an aufgestapelten Er-
fahrungen nur das Mittel, um mit prüfendem Scharfsinn die Zu-
sammengehörigkeit, die Entwicklungsstufen und die Umwandlungs-
stadien der anatomischen Veränderungen zu verfolgen. Erst die
Vergleichung verschiedener Entwicklungsstufen desselben Prozesses
in zahllosen Leichenöffnungen Hess aus der Chronik der Obduktions-
befunde eine wirkliche Geschichte des Krankheitsprozesses hervor-
gehen und die Möglichkeit einer künstlichen Beseitigung oder natür-
lichen Ausgleichung der Krankheit erörtern.
Wurde Rokitansky durch die Fülle seiner Erfahrungen (jähr-
lich an 2000 Sektionen), durch die Schärfe seiner Beobachtung, durch
die Plastik seiner klassischen Darstellung der Schöpfer der modernen
pathologischen Anatomie, so wurde sein Handbuch der pathologischen
Anatomie dadurch zum Markstein der medizinischen Wissenschaft,
dass es die pathologische Anatomie zu einer anatomischen Pathologie
Einleitung. 14^
umgestaltete und die Erforschung der natürlichen Heil-
Vorgänge (Verödung der Gewebe), sowie dieG ranzen des ärzt-
lichen Könnens in den Kreis der Betrachtung zog. Nicht nur in
der Theorie, sondern auch in der Praxis stürzten die Träume in
Nichts zusammen.
Bevor wir die für die Wiener Schule praktisch so bedeutsamen
Konsequenzen des extrem anatomischen Standpunkts in Erwägung
ziehen, wollen wir darauf verweisen, dass derselbe auf die Dauer
einem so weitblickenden und universal begabten Denker, wie es
Rokitansky war, nicht allein genügen konnte. Das Ideal einer physio-
logischen Pathologie vor Augen, erkannte er, dass die pathologische
Anatomie zwar den wichtigsten, aber doch nur einen Baustein der
Pathologie abgiebt und einer notwendigen Ergänzung bedarf, welche
die Kette der anatomischen Querschnitte erst zum Begriff des kranken
Lebens zusammenschliesst. Die Lücke, welche späterhin eine hoch-
entwickelte Mikroskopie und Chemie, namentlich aber das Experiment
zu verkleinern vermochte, suchte Eokitansky mit Ideen auszufüllen,
welche sein schöpferischer Geist zwar mit gewohnter Denkschärfe, aber
in zu kühner und voreiliger Generalisation ersonnen hatte. Aehnlich
wie Bichat (in der letzten Zeit seines Lebens) und später Andral
schien es auch Rokitansky, dass der exklusive Organizismus , die
Solidarpathologie, weder die klinischen Allgemeinerscheinungen, noch die
Konstitutionsanomalien, noch die Spezifität der Krankheitsvorgänge
genügend erkläre. Im Hinblick auf die scheinbar sicher gestellte
Thatsache, dass alle normalen und pathologischen Neubildungen aus
dem Plasma hervorgehen, mit Rücksicht auf Metastasen und andere
Erscheinungen, kam er dahin, im Blute die häufigste primäre
Quelle der Krankheiten zu vermuten, um so mehr als die kaum
zurückgeschlagene alte Humoralpathologie und die von Andral, Ga-
varret u. a. gepflegte chemische Blutuntersuchung nicht ohne E!n-
druck auf seine Denkrichtuug bleiben konnten. Es entstand die
bekannte „K rasenlehre"', welche gemeinhin mit einer Nuance
von Tadel als Beweis der Spekulationssucht eines der grössten
Forscher aller Zeiten angeführt wird, in Wahrheit aber mehr für
die Lückenhaftigkeit der damaligen Hilfswissenschaften spricht, welche
selbst einen Denker, wie Rokitansky, im Drange nach Abgeschlossen-
heit auf die abschüssige Bahn der Hypothesen trieb. Für die Ge-
staltung der wissenschaftlichen Medizin erwies sich übrigens die
Krasenlehre nicht ganz nutzlos, weil sie sogar spekulative Köpfe ans
anatomische Denken gewöhnte und geistig gewachsene Kritiker an-
regte, auf exakten Wegen die AVidersprüche zu lösen, die den
Anlass zu ihrer Begründung gegeben hatten.
Immerhin ist es eine interessante und einzig dastehende Er-
scheinung, dass sich der Mitstreiter Rokitansky's mehr Nüchternheit
im Urteil bewahrte als der Anatom, dass Josef Skoda seinem genialen
Freunde überallhin folgte, nur nicht ins Gebiet einer noch so geist-
reichen Spekulation, Ein Kliniker, der, zumal in damaliger Zeit, eine
solche Feuerprobe bestand, muss schon deshalb allein als leuchtendes
Beispiel unwandelbarer, echt naturwissenschaftlicher Denkweise be-
zeichnet werden. Skodas Auftreten bedeutet aber auch sonst eine
tiefe Cäsur im Gang der Geschichte; wie Kant die metaphysischen
Systeme zerschmetterte und die Grenzen der Erkenntnis feststellte,
so zermalmte Skodas Kiitik die hohlen Theoreme und beleuchtete
10*
148 Max Neuburger.
die Grenzen des ärztlichen Könnens. Durch ihn wurde die grosse
Revision der Fakten unerbittlich zu Ende geführt und indirekt die
Neuerrichtung der Therapie auf festeren Grundlagen angebahnt.
Skodas Meisterleistungen gingen den Forschungen Rokitanskys
parallel. Wie dieser knüpfte auch er, schon in Jünglingsjahren, an
die Pariser Schule an, indem er die Angaben eines Corvisart, Laennec,
Piorry, Bouillaud gewissenhaft nachprüfte, verbesserte und erweiterte.
Aehniich aber, wie es Rokitansky glückte, die Fülle der i)athologisch-
anatomischen Bilder auf wenige Grundtypen zurückzuführen, so ge-
lang es Skoda, die komplizierten Beschreibungen des Perkussions-
schalls dadurch zu vereinfachen, dass er vier verschiedene Skalen
(nämlich vom vollen zum leeren, vom hellen zum dumpfen, vom tym-
panitischen zum nicht tympanitischen, vom hohen zum tiefen Schall)
aufstellte. Gänzlich überholte er endlich die Franzosen dadurch, dass
er nicht bei der blossen Beschreibung stehen blieb, sondern zur Kau-
salforschung überging, d. h. dass er sich nicht damit begnügte, sym-
ptomatologisch-empirisch anzugeben, bei welchen Affektionen gewisse
Geräusche auftreten, sondern diephysikalischenEntstehungs-
gründe der Schallqualitäten mittels akustischer Experimente und
durch das Studium der anatomischen Verhältnisse zur vollkommenen
Klarheit aufhellte. Während die Vorgänger die akustischen Phäno-
mene einfach registrierten, war Skoda der Erste, der klinisches Bild
und Leichenbefund in Uebereinstimmung setzte, der aus dem Perkus-
sionsschall und der Auskultation die anatomischen Veränderungen,
ja sogar die einzelnen Stadien ihrer Entwicklung erkennen lehrte.
Erst dadurch wurde die physikalische Diagnostik wahrhaft durch-
geistigt und von der Stufe der Empirie zu einer Wissenschaft
erhoben.
Was Rokitansky am Seziertische zutage gefördert, das verwertete
Skoda in befruchtender Weise am Krankenbette; mit vollendeter
Meisterschaft wusste er namentlich die Diagnostik der Herz- und
Lungenkrankheiten fast auf die Höhe mathematischer Sicherheit zu
bringen. Im Jahre 1839 erschien als Frucht einer Reihe von scharf-
sinnigen Vorarbeiten jenes klassische epochale Werk, welches trotz
seines geringen Umfangs, trotz seiner schmucklosen Darstellungsweise,
durch seinen Inhalt einen Wendepunkt in der Geschichte bedeutet : die
Abhandlung über Perkussion und Auskultation. Spätere
Forschungen haben in Einzelheiten manches berichtigt oder hinzu-
gefügt, an den Grundfesten, welche Skodas rastloser Fleiss, scharfe
Beobachtungsgabe, schöpferische Gestaltungskraft und namentlich sein
stoisches Festhalten an der Wahrheit errichtet hatte, vermochte
niemand zu rütteln.
Die so hoch entwickelte physikalische Diagnostik gestattete
Skoda aber nicht bloss die Krankheiten in ihren Phasen, unabhängig
von den subjektiven Symptomen zu verfolgen, sie schien ihm auch der
einzig exakte Prüfstein der Therapie zu sein. Diesen Prüfstein nützte
er im naturwissenschaftlichen Sinne so weit als möglich aus, um
über den Wert der herkömmlichen dogmatischen Behandlungsweisen
ins Reine zu kommen. Da sich hierbei die Wertlosigkeit der da-
maligen Polypragmasie ergab, statt dessen aber die Bedeutung der
Naturheilung bei einzelnen Krankheiten umso deutlicher hervor-
trat, so reduzierte Skoda thatsächlich die therapeutischen Massnahmen
bis auf ein Minimum und bestrebte sich nach mechanisch-anatomischen
Einleitung. 149
Prinzipien, gewissen cliirurgischen Eingriffen fz. B. der Punktur
seröser Höhlen) mehr Eingang zu verschaffen. Freilich musste diese
weise Beschränkung im Lichte der Zeit als Indifferentismus er-
scheinen; wenn aber auch nicht geleugnet werden soll, dass von
Skodas Klinik ein tiefgehender Zweifel an der Eealität der aktuellen
Therapie verbreitet wurde, so muss doch die geschichtliche Wahrheit
festgestellt werden, dass nicht der Meister selbst, sondern nur einige
seiner Schüler, besonders Dietl und Hamernik, in Schrift und Wort
jenen zersetzenden Standpunkt formulierten, der als „therapeutischer
Nihilismus" bezeichnet wird, ein Standpunkt, der wesentlich durch
die wirklichen oder vermeintlichen Kurerfolge der Homöopathen und
des Wasserapostels Vincenz Priessnitz beeinflusst wurde, da man in
diesen eben nur den unbewusst erbrachten Beweis der universellen
Bedeutung der Naturheilung erblickte.
So gross aber das Verdienst ist, welches in der Proklamation der
Naturheilkraft liegt, so gründlich der Augiasstall der Polj'pragmasie
durch den eisernen Kehrbesen eines Dietl, eines Hamernik rein gefegt
wurde, die geschichtliche Entwicklung ist über diesen Eadikalismus
hinweggeschritten. Abgesehen davon, dass diese Männer das Wesen
des ärztlichen Wirkens voreilig mit der Naturforschung identifizierten
und die humane, die psychische Seite des Berufs völlig ignorierten,
abgesehen davon, dass sie, irregeleitet von anatomischen Ontologien
die individuelle Behandlung, die hygienisch- diätetische Beeinflussung
des Gesamtorganismus gänzlich hintanstellten, haben sie mit ihrer
Forderung nach einer rein wissenschaftlichen, mathematisch aus der
Pathologie deduzierten Therapie zwar ein Postulat für die Zukunft
ausgesprochen, aber die historisch erhärtete Thatsache verkannt, dass
die klinische Erfahrung nicht nur den „rationellen" Eichtungen sehr
oft vorausläuft, sondern dieselben auch überdauert und jedenfalls
die höchste Eichterin über Wert oder Unwert von Heilmethoden
bleibt. Darin liegt kein Widerspruch mit dem Streben der Medizin,
die Kunst in eine Wissenschaft umzugestalten, denn mag man der
Therapie einen selbständigen Entwicklungsgang zuerkennen oder sie
bloss als Anhang der Pathologie betrachten, mag man die Deduktionen
aus der Pathologie oder die Empirie höher stellen, die letzten Gesetze
schöpft sie in jedem Falle ausschliesslich aus einer mit peinlichster
Kritik ausgebildeten induktiven Methode, die am Krankenbette ihren
Ausgangspunkt nimmt.
Es waltete daher ein besonders günstiges Geschick über der
Wiener Schule, als sich dem Kreise ihrer Mitglieder ein Kliniker zu-
gesellte, der trotz strengster Verfolgung des anatomischen Gedankens,
trotz anerkannter diagnostischer Meisterschaft das Heilen an sich,
als höchstes Ziel der medizinischen Wissenschaft hinstellte und mit
dem Takte tiefer Menschenkenntnis die Mitte zwischen therapeutischem
Nihilismus und doktrinärer Polypragmasie einzuhalten verstand —
J. V. Oppolzer (1808—1871). Als klinischer Lehrer ersten Eanges,
als humaner Arzt von Weltruf, hat er zum Euhme des medizinischen
Wiens nicht weniger beigetragen, als das Dioskurenpaar Eokitansky und
Skoda, zu welchem er durch seine Ausgleichsbestrebungen zwischen
Wissenschaft und Leben in einem gewissen Gegensatz steht.
Der exakt anatomische Gedanke in Form der Lokaldiagnose und Lokal-
therapie kam in der "Wiener Schule sehr bald auch in der Chiriirgie (Schuh),
150 Wax Neuburger.
in der Dermatologie (Hebra), in der Augenheilkunde (Jäger, Arlt), später-
hin in der Otologie und in den neugeschafFenen Disziplinen der Laryngologie
und B,hinologie zur praktischen Durchführung.
Die reichen Anregungen der Wiener Meister fanden nach anfäng-
lichen Hindernissen seit den vierziger Jahren auch in Deutschland
begeisterte Aufnahme. Was Schönlein begonnen, wurde in ziel-
bewusster Arbeit durcli eine Reihe genialer junger Forscher zu Ende
geliihrt, welche mit kühnen Axtschlägen die letzten Bollwerke der
naturphilosophischen und naturhistorischen Schule zerstörten und der
naturwissenschaftlichen Methode Eingang in die Medizin
erzwangen.
Als Nachzüglern, welche schon sichere AVegzeichen vorfanden,
eröffnete sich ihnen eine Bahn aufsteigenden Fortschritts, die nicht
bloss in der Reform der deutschen Heilkunde, sondern in der Be-
gründung der modernen Heil Wissenschaft auf naturwissenschaftlicher
Grundlage ihr Ziel gefunden hat. Trotzdem aber nur dieses eine
Ziel vorschwebte, lassen sich anfangs doch drei Richtungen deutlich
unterscheiden.
Der Gründer der ersten dieser Richtungen, der sogenannten
physiologischen Schule war K. A. Wunderlich (1815 — 1877j,
ein universaler Denker und hervorragender Kliniker, der zuerst in
Tübingen, später in Leipzig wirkte. In Gemeinschaft mit Griesinger,
K. V. Vierordt und dem Chirurgen Roser plante er, anknüpfend an
die Tendenzen der Wiener Schule eine Umgestaltung der Heilkunst
nicht allein durch pathologische Anatomie und physikalische Diagnostik,
sondern auch durch den engen Anschluss an die Gesetze der Physio-
logie. Auf dieser breiten Basis sollte eine phj-siologische Pathologie
aufgebaut werden, von der er sich wenigstens in der ersten Zeit des
Sturms und Drangs versprach, dass sie ausschliesslich die Richtschnur
für eine rationelle Therapie abgeben könne.
Begreiflicherweise konnte Wunderlich dieses höchste Problem
nicht lösen, und so scharf er anfangs in seinem ,.Archiv für physio-
logische Heilkunde" die alte unwissenschaftliche Heilkunst bekämpfte,
am Schlüsse seiner Laufbahn kehrte er nach bedeutenden Wandlungen
in seinen Anschauungen in den Hafen der empirischen Therapie
zurück, für welche er allerdings besonders in der klinischen
Thermometrie ein bewährtes Kriterium auffand. Immerhin trug
Wunderlich vieles dazu bei, dass die rohe Empirie durch eine Er-
fahrung höherer Art verdrängt wurde, und eine kritische Unter-
suchungsmethode in Aufnahme kam, welche die Wirkung der Heil-
mittel auf einzelne pathologische Phänomene oder Funktionsstörungen
rationell prüfte. In vollem Ausmass gelang es ihm hingegen, die exakt
naturwissenschaftlichen Prinzipien in der Theorie zur Anwendung
zu bringen, wovon sein Handbuch der Pathologie und Therapie ein
glänzendes Zeugnis liefert.
Von grösstem Werte war es namentlich, dass Wunderlich die
Krankheitsprozesse in ihrem Werden und Ablauf studierte und in-
folge funktioneller Analyse die anatomischen Ontologien aufs schärfste
bekämpfte. Klinisch drückte sich diese Auffassung in einer vor-
wiegend exspektativen und individualisierenden Thera-
pie aus.
Gleichzeitig und anfaugs im freundliclien Verhältnisse zur physio-
Einleitung. 151
logischen entwickelte sich unter der Aegide des Anatomen Jakob
Henle (1809 — 1885) eine zweite Richtung, „die rationelle Medi-
zin", der aber nur eine kurze Blüte beschieden war. "Was AVunder-
lich im Beginne seiner Laufbahn für die Therapie gefordert, eine
wissenschaftliche Begründung durch Deduktion, das suchte Henle
in der mit K. v. Pfeufer herausgegebenen „Zeitschrift für rationelle
Medizin", in seineu „pathologischen Untersuchungen", und in seinem
berühmten „Handbuch der rationellen Pathologie" (1846 — 1853) auch
auf die Pathologie auszudehnen. Mit weitem philosophischem Blick
begabt, auf einer durchdringenden Kenntnis der anatomisch- physio-
logischen Hilfsfächer fussend, schöpferisch auf verschiedenen Arbeits-
gebieten, glaubte Henle schon die Zeit herangebrochen, in der die
Heilwissenschaft im stände sei, „die physiologischen Thatsachen,
welche die Beobachtung des kranken Körpers zu Tage gefördert
hat, nebst den Theorien und Hypothesen, zu denen sie Anlass gaben,
in eine systematische Form zusammenzufügen. Wie die übrigen
Naturwissenschaften, solle auch die Heilwissenschaft, so rasch wie
möglich, von der rein empirischen Forschung zum Verständnis des
kausalen Zusammenhangs übergehen, zur rationellen Erkenntnis,
wozu ausser Induktion und Experiment auch die Hypo-
these in Anwendung zu bringen sei." Diese rationelle natui^-
\vissenschaftliche Methode, für welche Henle eintritt, soll die Mitte
halten zwischen der empirischen und der philosophischen, von welch
letzterer sie sich darin unterscheidet, dass sie nicht von einem
obersten aprioristischen Grundprinzip, sondern von Thatsachen aus-
geht, deren Zusammenhang induktiv, besonders durch das Experiment
aufgedeckt worden ist. Henle hat nicht allein das physiologisch-
pathologische Wissen seiner Zeit in geradezu bestechender Weise zu
einer höheren Einheit verwoben, sondern auf dem Wege der Hypo-
these, die er sehr intensiv anzuwenden liebte, manche Erkenntnis er-
langt, welche den heuristischen Wert seiner Denkmethode in das
hellste Licht rückt.
Schon im Jahre 1840 lehrte er, auf Grund der Entdeckungen von de la
Tour und Schwann (über die Gärung), dass die ansteckenden Krankheiten
durch Ein^yanderung kleinster Organismen entstehen und gab — was be-
sonders merkwürdig bleibt — die noch heute gültigen Kriterien an, welche
erfüllt werden müssen, damit man einen Mikroorganismus mit voller Sicher-
heit als Krankheitserreger ansprechen dürfe. Gerade aber die Ent-
wicklung der Bakteriologie hat wieder bewiesen, dass die
Hypothese, welche antizipativ im Kopfe eines genialen
Denkers unter dem Bilde der Intuition entsteht, zwar
zündend wirken, ja ganz neue Forschungsgebiete eröffnen
kann, immer aber erst wieder der Bestätigung und der
empirischen Nachweise bis ins Einzelne bedarf, um für die
Wissenschaft Bedeutung zu erlangen oder gar in die Praxis
umgesetzt werden zu können. Einem Denker wie Henle war es
zwar gegönnt, selbst aus ungenügendem Erfahrungsmaterial oberste Leitsätze
zu münzen, welche früher unverstandene Thatsachen beleuchteten und un-
vermittelte Kenntnisse in Zusammenhang brachten, aber trotzdem blieb es
hiedurch der Wissenschaft nicht erspart, die Folgerungen dieser obersten
Sätze erst an der Hand tausendtältiger Erfahrung auf ihren Wahrheits-
gehalt zu prüfen.
162 Max Neubnrger,
Wenn uns heute der heuristische Wert einleuchtet und die Hypo-
these wie in allen anderen Naturwissenschaften mit Vorsicht ausge-
nützt wird, so ist es doch zu billigen, dass Henles „rationelle Medizin,"
die sicherlich durch eine grössere Anhängerschaft wieder in die Netze
der Naturphilosophie verstrickt worden wäre und thatsächlich zu
Einseitigkeiten, wie es die Neuropathologie von Spiess war, geführt
hat, von wachsamen Zeitgenossen als eine Gefahr bekämpft wurde.
Dies geschah durch Wunderlich, besonders aber durch jene dritte
Gruppe von ausgezeichneten Forschern, welche der Schule Joh. Müllers
und Schönleins entstammten, mit ängstlicher Vermeidung voreiliger
Abstraktion und Generalisation, bloss in der nüchternen induktiven
kritisch-empirischen Methode ihr Leitmotiv erblickten und alles
daran setzten, um die Stützpfeiler der medizinischen Wissenschaft mög-
lichst tief zu senken, die Grundfesten möglichst weit auszudehnen.
Diese dritte Richtung führte bezeichnenderweise keinen speziellen
Namen, weil sie keine doktrinäre Einmischung von aussen zuliess, keinem
Einzelbezirke der Forschung die Souveränität zugestand, weder dem
„Mechanismus" (Lotze), noch dem Chemismus (Liebig) die Herrschaft
einräumte, sondern rastlos, ohne nach Abschluss zu drängen, die
Natur des Menschen in allen Gestaltungen des gesunden und kranken
Lebens zu erforschen strebte und daher keine Thatsache, keine
naturwissenschaftliche Methode, kein technisches Hilfsmittel unge-
nützt Hess. Wegen ihrer mit Gründlichkeit gepaarten Allseitigkeit
musste ihr der Sieg zufallen, musste ihr der stolze Triumph zu
teil werden, alle Dissonanzen ausgesöhnt, alle Systeme und Schulen
überwunden, Vergangenheit und Gegenwart wieder verknüpft, der
Zukunft aber unvergängliche Bausteine gesichert zu haben. Ihr
Führer und geistige Mittelpunkt wurde Rudolf Virchow (1821 —
1902). Er war der Genius, dessen Erscheinen, dessen erlösende
That Johannes Müller prophetisch mit den Worten ankündigte:
„Der Genius, der auf Grundlage philosophischer Vor-
bildung, der Naturwissenschaften, der Geschichte der
Medizin, der Anatomie und Physiologie fussend, selbst
Untersucher in der chemischen, pathologisch-ana-
tomischen und mikroskopischen Analyse der patho-
logischen Formen ist und eine auf die Physiologie
und die pathologische Anatomie gegründete, dem Zu-
stand der medizinischen und der Naturwissenschaften
würdige allgemeine Pathologie vor uns hinstellen
wird."
Wiewohl dem Fache nach pathologischer Anatom, erkannte er
mit überragendem Fernblick, dass das Wesen der Krankheitsprozesse
nicht immer in der Leiche, wo nur das Nebeneinander erscheint, ent-
rätselt zu werden vermag. Um das flüchtige Leben im kranken Zu-
stande, um die Succession der pathologischen Phänomene beobachten
zu können, griff Virchow daher in Gemeinschaft mit dem geistvollen
L. Traube (1818—1876) zum Tierversuch und lehrte die Bedeutung
dieser Erkenntnisquelle schon bei den ersten Schritten (Thrombose,
Embolie, Infektion) in solchem Ausmass kennen, dass seither die
Experimentalpathologie, neben der klinischen Beobachtung
und der pathologischen Anatomie zum Hauptpfeiler der Krankheits-
lehre geworden ist.
Zeigte Virchow einerseits den Weg, wie der Krankheits-
EinleitTmg. 153
p r 0 z e s s der naturwissenscliaftlicheii, induktiven Forschung: zugänglich
gemacht werden kann, so richtete er andererseits sein volles Streben
auch darauf, die Erforschung des Krankheitssitzes auf sichere
Grundlagen zu stellen. Zu diesem Zwecke stand kein anderes Mittel
zu Gebote als die eifrigste Verwertung der Gewebelehre, die Er-
gänzung der pathologischen Anatomie durch — die pathologische
Histologie. Das „anatomische" Denken steigerte sich jetzt zum
..mikroskopischen" !
Unermüdlich durch Beobachtung, Yergleichung, Experiment und
vorsichtige Schlussfolge weiterschreitend, kam Yirchow durch seine
Untersuchungen über Eiterbildung und über Geschwülste allmählich
dahin, den Bindegewebskörperchen eine bedeutende Rolle in der
Pathologie zu vindizieren und in ihren Teilungsvorgängen die Ur-
sache kontinuierlicher Gewebsentwicklung zu vermuten. Die Lehre,
dass gewisse Zellen sich durch Teilung vermehren können, stand in
totalem Gegensatz zu den herrschenden Anschauungen, nach welchen
die zuerst von Schwann (1839) als Elemente des tierischen Organis-
mus erkannten Zellen stets aus einer organischen aber nicht orga-
nisierten Grundsubstanz (Blastem) hervorgehen sollten. Damit war
natürlich die Frage gegeben, ob nicht vielleicht alle Zellen aus
bereits bestehenden abzuleiten seien. Diese Frage wurde von Yirchow
im Jahre 1855 apodiktisch bejaht, nachdem er sich für die ausschliess-
liche Entstehung der Zellen aus Zellen schon 1852 vermutungsweise
ausgesprochen hatte, und es Robert Remak (1815 — 1865) im gleichen
Jahre gelungen war, auf embryologischem Gebiete den positiven
Nachweis zu erbringen: Omnis cellula e cellula.
Die Zelle rückte jetzt in den Mittelpunkt der Forschung über
die Lebensvorgänge, man erkannte nach dem Yorgang Köllikers,
dass jedwede biologische Erscheinung an ihren Bestand geknüpft ist.
Die neugewonnene Erkenntnis trug Yirchow in die Lehre vom kranken
Leben hinein, Krankheit wurde die kranke Zelle, und durch
seine Cellularpathologie (1858) enthüllte sich die Wahrheit,
dass Kranksein nichts Fremdes, sondern nur ein Leben unter anderen
Bedingungen ist: die Pathologie verwandelte sich in
einen Teil der allgemeinen Biologie.
Welche Bedeutung der Cellularpathologie für den gesamten Auf-
bau der Medizin zukommt, wie durch diese Theorie der Streit zwischen
Humoral-, Solidar- und Xeuropathologie eine befriedigende Lösung fand,
wie es durch sie erst möglich wurde, das rege Streben und Schaffen
auf den verschiedensten Gebieten der Heilwissenschaft ohne Gefahr
der Kräftezersplitterung organisch zu verknüpfen, wie diese, rein
induktiv geschaffene Lehre, in Form der Lokaldiagnostik und Lokal-
therapie keinen Spezialzweig der Heilkunst unbeeinflusst Hess und
inmitten einer ungeheueren Arbeitsteilung doch die innere Einheit
wahrt, bedarf keiner Ausführung. Es giebt keinen Arzt auf dem
ganzen Erdenrund, der nicht in der Zellenlehre die letzten
Gründe seiner Thätigkeit sucht, der nicht ein geistiger Schüler
Virchows wäre!"
Wir sind au der Schwelle der modernen Medizin angelangt und
würden die uns gezogenen Grenzen überschreiten, wollten wir, in
unserer Darstellung fortfahrend, noch die allseitige Verwertung natur-
wissenschaftlicher Ideen und technischer Errungenschaften, den Aus-
bau der Hilfsfächer, die wissenschaftliche Entwicklung der Patho-
154 Max Neuburg er.
logie, der Aetiologie (Bakteriologie), die Fortschritte der Diagnostik,
die Triumphe der Chirurgie (Narkose, Antisepsis, künstliche Blut-
leere), die empirisch-rationellen Bestrebungen der inneren Therapie
(Antipyrese, physikalisch-diätetisch-hygienische Heilmethoden, Organo-
und Serumtherapie) und den Aufschwung der Hygiene im Laufe der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schildern.
In sinnreicher Weise, entsprechend dem tief einschneidenden
DiflFerenzierungsprozess, welcher die Medizin fazettenartig in zahl-
reiche Einzelfächer mit eigener Entwicklung spaltete, legte der Be-
gründer dieses Werkes die Feder in die Hände berufener Spezial-
forscher, die den Werdegang der einzelnen Wissenszweige ge-
sondert und in ihren gegenseitigen Beziehungen schildern werden.
Mosaikartig wie die moderne Wissenschaft selbst, wird sich das Bild
ihrer neuesten Geschichte zusammensetzen.
Geschichte der Anatomie.
Von
Bobert Ritter von Töply (Wien).
Literaturübersicht.
Wert der Anatomie und des anatomischen Studiums.
FabHcius (W.), Änatomiae praestantia et utiUtas, 1634, 8^. — Major,
Aiiatomia literata quovis digna, medico autem necessaria, Kilon. 1665 (Diss.). —
Schiveling, Carmen panegyr. in laiulem änatomiae, Lips. 1680. — Shargali
I Hieron.), Exercitat. physico-anatomica, Bonon. 1689, 8 ° (clinico anatomiam in-
utilem esse). — Cappeln (John. Frid. ä), Disp. I de anatome in genere, Bremae
1690. — Schwendendörffer (Geo. Tob. resp. Andr. Corvinus), Medicorum anatomen
jure divino et humano licitam esse, Lips. 1663, 4 "; ibid. 1690, 4 " (respondentis
opus). — Hohn, Diss. de utilitate anatomes subtilioris in praxi medica, Lips. 1691.
— Hoffmaini (Fr.), Diss. de anatomia publica, Hai. 1703. — Peterniann
I B. B.), De anatomia publica, Hai. 1703, 4". — Hoffniann, Diss. de anatomes
"XU in praxi medica, Hai. 1707. — Heucher (Jo. H), Paria analyseos mathe-
„laticae et anatomicae fata, Viteb. 1709, 4". — Schidze, Oratio de justa anatomiei
studii aestimatione, Altd. 1720. — Albinus (C. B.), Oratio de anatome prodente
errores in medicis, Traj. ad Bhen. 1723. — Heister, Diss. de anatomes subtilioris
utilitate. Heimst. 1725. — Plaz fA. Grii.), De corporis hum. machina divinae
sapientiae teste, Lips. 1725, 4^. — Hahn (J. C), De anatomes subtilioris utilitate,
Heimst. 1728, 4^. — Treiv (Chph. Jac), Vertheidigung der Anatomie durch einen
ijründlichen Beweis, dass d. Zergliederung derer Menschen u. Thiere sowol als das
Aufbehalten derer menschlichen Theile nicht nur nach allen göttlichen u. menschlichen
(resetzen erlaubt, somlern auch an sich Selbsten nicht verächtlich sey, Xürtib. 1729,
■i °. — Juncker, Progr. de discreto sensu circa Studium änatomiae, Hai. 1730. —
Winsloiv (J. C), Diss. : non ego potest anatomes parum gnanis funestes errores
< i-itare, Paris 1732. — Ulrich (Phil. Ad.), Quaestio an medicis corpora peremtorum
"i anatomen concedenda, Lips. 1733, 4<*. — Schulze, Diss. de anatomes ad praxin
hirurgicam summa necessitate, Halae 1737. — Fabricus, Progr. atrum-assidua
ractio studii medici et anatomiei cum primis plus taedii et molestiarum, quam
■ imoenitaiis conjunctum habenf, ac an illa cultores suos ad praematuram mortem
disponat.. Heimst. 1749. — Äsfruc, Ergo ex anatome subfiliori medicina certior,
Par. 1753, 4". — Sturm (Jo. Joach. Gotthard), De eo quod justum est circa ana-
tomen, Rostock 1755, 4^. — West pfal (Andreas), V. d. Eiuftuss der Zergliederungs-
.MunnicJcs, Oratio de summis, quas anatome habet, deliciis, Ch-oning. 1771
156 Robert Ritter von Töply.
Hirzel (Casp.), Zu-ey Reden üb. d. Zergliederunqskunst, Zürich 1782. — Sieftold
(Carl Casp.J, Rede von den Vortheilen, ivelche äer Staat durch öffentliche anatovt.
Lehranstalten gewinnt, Würzb. 1788. — Hints, respecting human dissections etc.,
London 1795, 8 (Salzb. medic. chir. Zeitung 1796, II p. 214 — instituta publica).
— Tenon, Observation» sur les obstacles qui s^opposent aux progres de Vanaf.,
Paris 1786. — Ehle (R.), De studio anatomico, C. tab. Vind. 1827. — *Mifl<frn-
dorp (H. W.), D. Anatomie d. Grundstein zum Tempel der Medicin, Antrittaredc
V. 7. Oct. 1871, Groningen 1871, 31 S.
Anatomische Gedichte.
Vgl. Seidenschmir (Otto) in HenscJiels Janus II, 1847, S. 786 u. f.
Nomenclatur (Onomatoiogie).
*Kilifin, TJeb. d. richtige Aussprache der in „ideus" ausgehenden anatomischen
Adjective (dazu Votum des Professors Dr. Fr. Ritschi, Abdr. aus Göschen's „Deutscher
Klinik"), 7 S. — *Hyrtl (loseph), Das Arabische u. Hebraeische in der Anatomie,
Wien 1879, 311 S. — *J£j/rU (Joseph), Onomatologia anatomica. Geschichte u.
Kritik der anatom. Sprache der Gegenwart, Wien 1880, 626 S. — *lTyrtl (Joseph),
D. alten deutschen Kunsticorte der Anatomie, Wien 1884, 230 S. — *S}j (Richard),
D. Eigennamen in der medicin. Nomenclatur, Jena 1887, 76 S. — *Huher (J.
eil.). Zur Onomatologia medico-historica, Münch. Med. Wochschr. 1890, Nr. 23 u. ff.,
S.A., 27 S. — ''Krause (W.), D. anatomische Nomenclatur, Leipz. 1893, 33 S.
(Vorbericht zum Folgenden). — *Hi8 (Wilh.), D. anat. Nomenclatur. Nomina
anatomica, Verz. der von d. anat. Ges. auf ihrer 9. Vers, in Basel angenommenen
Namen. M. 30 Abb. u. 2 Taf., Leipz. 1895, 180 S. — *Anonyni, Terminolog.
Verz. von Eigennamen, die zur, Bezeichnung von internen Krankheiten dienen,
Aerztl. Reform-Ztg., Wien, I Nr. 12, 2. Dec. 1899, S. 135—141. .
Unterricht, anatomische Institute.
*JBartJiolimts (TJi.), Domus anat. Uafniensis breviss. descripta, Hafniae
1662, 62 p. — *Wutzer (W), Bericht üb. d. Zustand der anat. Anstalt zu Münster
i. J. 1830, Münster 1830, 4^, 156 S. — Schnitze (C. A.), D. anat. Sammlmigen
u. d. neue Anatomiegebäude iu Greifswald, 1856, 4°. — *Ecker (Alex.), Das neue
Anatomiegebäude der ünivers. Freiburg. Beschreibung u. Geschichte. M. 4 T. Freib.
i. B. 1867, 4*^, 48 S. — *Koelliker (A.), D. Aufgaben der anat. Institute, Würzb.
1884, 21 S. (Festrede v. 3. Nov. 1883). — *1Falfleijer (Prof. 0.), Wie soll inan
Anatomie lehren u. lernen (Rede v. 2. Aug. 1884), Berl. 1884, 41 S. — *Hi8 (Wilh.),
Zur Gesch. des anat. Unterrichtes in Basel, S.A. aus Gedenkschrift zur Eröffnung
des Vesalianum in Basel 28. Mai 1885, Leipz. 1885, 48 S. (Behandelt im Wesent-
lichen nicht die Unterrichtsmethode, sondern die Gesch. d. Anat. in Basel. In dieser
Beziehung wertvoll, iveil quellenmässig.) — *JRftuber (A.), Ueb. d. Einrichtung von
Studiensälen in anatom. Instituten, Leipz. 1895, 20 S. M. Abb. des Studiensaales
in Jurjetv (Dorjjat. Einen derartigen Studiensaal hatte schon vorher Toldt während
seiner Lehrthätigkeit in Prag eingerichtet).
Bibliographie.
*jDouglas (Jacob), Bibliographiae anatomicae specimen. Ed. 2. Lugd. Bat.
1734, 8^, 263 pp. -{- index (entwertet). — * Haller (Alb. v.), Bibliotheca anatomica,
T. I, 1744, 816 pp., T. II, 1777, 870 pp., Tiguri 4 <>. (M. biogr. Notizen vom ge-
schichtlichen Gesichtspunkt. Noch heute brauchbar.) — *StocT\ton-Hoiiyh, Biblio-
theca medica historio-literaria et bibliographica. Von diesem Werke, das den strengsten
Anforderungen gerecht zu werden versprach, erschien nur die Prospektnummer Vol. 1,
No. 1, Jan. 1, 1890, Trenton, Neiv Jersey. Sie behandelt Peyligk und Hundt. —
Nicolas, Bibliographie anatomique, 6 vol., Paris, Berger - Levrault et Co. 1898.
Geschichte der anatomischen Abbildung.
*Chmdaiit (Ltidw.), Die anatom. Abbildungen des 15. u. 16. Jahrhunderts.
Denkschr. zur Feier der Ges. f. Natur- u. Heilkunde in Dresden, Dresden 1848^
4 °, 32 S. — *Marx (K. Fr. Heinr.), Marc' Antonio u. Leon, da Vinci, d. Be-
gründer der bildlichen Anatoiuie. K. Societ. d. Wiss., 9. Decbr. 1848, S. 131 — 148. —
Geschichte der Anatomie. 157
*Choulant (Lndmg), Gesch. u. Bibliographie der anatom. Abbildung, Leipz., Bud.
Weigel 1852, 43 Holzschn. u. 1 chromolithogr. Taf., 203 S. kl. fol. (grundlegendes
QueUemcerh). — *Choulant (Ludwig), Graphische Incunabeln f. Naturgeschichte
H. Medicin, S.A. aus Arch. f. d. zeichn. Künste III. Jahrg. v. Naumann, 168 S.
(vervollständigt das vorige). — *Duval (Math.) et Cuyer (Ed.), Histoire de V Ana-
tomie plastique, Paris 1898, 351 pp. m. 118 Abb. — Einzelnes auch in den folgenden
2 Werken: *Pet€rs (Herrn.), Der Arzt u. d. Heilkunst in d. deutschen Vergangen-
heit. Mit 153 Abb. u. Beil. n. d. Originalen a. d. 15. — 18. Jahrh., Leipz. 1900,
136 S. lex. 8^ (davon 100 Exemplare auf Büttenpapier). — Sicher (F.), L'art et
la medicine, Paris 1902, 4 ". Ac. pl. et fig. (30 frs.).
Geschichte der Anatomie im allgemeinen.
*Go€licke (Andr. Ottom.), Historia anatomiae, Halae Magdeb. 1713, 244 pp.
(oberflächlich, veraltet). — *GoeUcke (Andr. Ottom.), Introductio in histo7-iatn
litterariam anatomes, Francof. ad Viadr. 1738, 4^, 540 pp. C. effig. (ebenso). —
*Portal, Histoire del Vanatomie et de la Chirurgie, Paris, 6 tom. 1770 — 1773 (noch
heute unentbehrliches Nachschlageicerk). — *JSrainMlla (Gio. Alessandro), Storia
delle scoperte fisico medico anatomico chirurgiche fatte dagli uomini illustri italiani,
Milano, T. 7, 1780, 190p.; T. II p. 1, 1781, 274p.,p. 2, 1782, 210p.. fo. — Lassus,
Essai ou discours historique et critique sur les decouverts faites en anatomie par les
anciens et les modernes, Paris 1783. — *Lassus, Historisch-kritische Abhandlung der
von den Alten sowol als den Neuern in d. Anat. gemachten Entdeckungen. Aus d.
Französ. von Joh. Heim: Crevelt, Bonn 1787 j88, 2 TliU., 164 u. 208 S. — *Lauth
(Thomas). Histoire de Vanatomie, T. I, Strassb. 1815, 606 p., 4 ". (Beicht bis zum
Ende d. 16. Jh., Band 2 nicht erschienen.) — *Jiurggraeve (Ad.), Precis de
Thist. de Vanat., compr. Vexamen comparatif des oeuvr. des principaux a)iatomistes
anciens ei modernes, Gand 1840. (Eingehend, berücksichtigt besonders die Haupt-
momente.) — *3Ierk€l (Friedr.), Festrede zur alcad. Preisvertheilung am 3. Juni
1893, Götting., 25 S. (Ueberblick mit besonderer Berücksichtigung des 19. Jahrh.). —
'^jyieclersheim (Bobert). Zur Gesch. der Anatomie, Freib. i. Br. 1894, 4", 36 S.
(Festrede, summar. Ueberblick). — ^Shepherd (Francis J.), Sketch of the early hist.
of anat. Bepr. from the Canada Med. and Surg. Journ. o. 0. u. J., 25 S. (Ober-
flächlicher Ueberblick.)
Die Literatur über die Geschichte einzelner Gruppen und Personen smcie
kleinere Sonderabhandlungen sind im folgenden Text angeführt.
Geschichtliche Entwicklung der Anatomie einzelner Körperteile.
*3Iagnus (Hugo), Historische Tafeln zur Anatomie des Aiiges. Beilageheft
:h den Klin. Monaisbl. f. Augenheilk., Juni-H XV. Jahrg., Rostock 1877, 11 Tafeln
in. 17 S. Text. — *Magmis (H), D. Anatomie des Auges in ihrer geschichtl. Eni-
wickelung. 13 färb. Tafeln m. Text, Breslau 1900 (der augenärztlichen Unterrichts-
tafeln von Magnus Heft 20. Von bleibendem Wert). — *Waldeyer (W.), Ueb.
einige neuere Forschungen im Gebiete der Anatomie des Centralnervensystems, Lpzg.
1891, 64 S. m. Abb. (eingehend u. gründlich). — * Weber (Ernst), Ueb. d. geschichtl.
Enticicklung der anat. Kenntnisse an den weibl. Geschlechtsorganen., Diss., Würz-
burg, März 1889. — * Weyertnann (Herrn.), Geschichtl. Entwicklung der Anatomie
des Gehirns, Inaug.-Diss., Würzb. 1901, 117 S.
An7n. Diese Uebei'sicht weist manche Lücke auf. Vervollständigende Mit-
teilungen nehme ich dankbar entgegen. B. B. v. T.
Der Orient.
Inhalt. Keilschriftmedizin mit Spuren anatomischer Kenntnisse.
Aegypten zur Pharaonenzeit, Tliier anatomie. Chitia, isolierte Entwicklung
kr Anatomie, enger Anschluss an naturphilosophische Hypothesen. Indien, theo-
'tische Auffassung. Tibet als Mittelglied zwischen Indien u. China.
Keilschrift medizin.
*Der alte Orient. Gemeinverständl. Darstellungen herausgeg. von d. Vorder-
isiat. Gesellsch., Leipz., J. C. Heinrichs. Seit 1899 jährl. 4 Hefte. Dient haupt-
158 Robert Ritter von Töply.
sächl. zur Orientierung in ethnofiraph. xi. archäolog. Hinsicht. — *l)elitZ8ch (Fneär.),
Bcibel u. Bibel. M. öO Abb., Leipz., J. C. Heinrichs, 52 S. — ■*Oefcle, Literatur-
nachweis zur Gesch. der Medicin in d. Keihchriftcultur. Deutsche medic. Presse
Nr. 24, 1901, S.A. HS. — *Oefele (Felix Freiherr), Keilschriftmedicin. Ein-
leitendes zur Med. der Koyunjik-CoUection. M. li Taf., Breslau 1902, J. U. Kern,
56 S. — *Sn(lhoff (K.), Medicinisches aus babylonisch-assyrischen Astrologen-Be-
richten. D. Medichi. Woche, Berl. 1901, Nr. 41. Auszug aus lt. Campbell
Thompson, The reports of the Magician and Astrologers of Nineveh and Babylon
in the Brit. Mus., Lond. 1900. — *Kächler (Friedr.), Beiträge z. Kenntn. d.
assyr. Med., Inauq.-Diss., Marlmrg 1902, 52 S., 4 °. (Umschrift, Uebersetzung n.
Kommentar der texte K. K. 191 + 201 -f 2474 + 3230 + 3.363. Sehr gründlich.}
Die Ausgrabungen von J. de Morgan in Susa und die Ent-
zifferung der dort gefundenen Texte durch den Dominikaner P. Seh eil
haben in letzter Stunde die Keilschriftkultur in ein neues Licht ge-
stellt. Danach wäre das Reich El am mit der Stadt Susa (ehemals
Parasa) und den anzanitischen Bewohnern der Ausgangspunkt der
babylonischen Civilisation. Die Geschichte von Elam ist nun bis in
das vierte Jahrtausend v. Chr. und darüber hinaus aufgeklärt. Die
zahlreich erhaltenen Texte sind jedoch vorwiegend geschichtlichen,
rechtlichen und kaufmännischen Inhalts, Eine gleichzeitig gefundene,
dem didymenischen Apollon gewidmete Bronze in Gestalt eines
Hammelknochens, laut Inschrift aus Rüstungen und Waifen der
von den Griechen Besiegten zusammengegossen, war von D a r i u s
dorthin entführt worden.
Soweit aus den übrigen Texten, und zwar hauptsächlich aus den
Keilschrifttafeln von Ninive (Kouyimjik-Collection des Brit. Mus.)
zu ersehen, hat die Keilschriftmedizin besondere anatomische Kennt-
nisse nicht besessen. Was an Benennung der Körperteile gelegentlich
mit unterläuft, geht über allgemeine volkstümliche Kenntnisse nicht
hinaus. In den von Küchler veröffentlichten Texten finden sich
folgende Benennungen:
libbu = das ganze Leibesinnere; MTJH = muhhu das Schädeldach;
lit& = Beine mit Hinterbacken, Gesäss; SU. SI = ubanu GAL . TI =
rabiti(-ti) ,, grosser Finger'^, Daumen; KU Unterleib, Eingeweide, viel-
leicht Gesäss + After ; S AK . SA epigastrium ; TU = takaltu? Magen ? ;
sTrf Fleischteile, Muskeln?; IM = säru und KU Gesäss oder besser
After ; n a p s a (ä) ti Kehle ; m a s k a Zitzen ? , r ü Kot ; s T n ä t i Harn ;
HAR = kabittu Leber.
Einmal kommt eine Reihenfolge der Körperteile vor: Scheitel,
Nacken, Hände, Brust und libbi, naglabi, Beine.
Wie man sieht, sind die Entzifferungsversuche noch nicht in jeder
Beziehung endgiltig abgeschlossen.
In plastischen Darstellungen liebt besonders die assy-
rische Kunst eine stärkere Kennzeichnung der Muskulatur bei Tieren
und bei Menschen, besonders an den Gliedmassen, bei ersteren auch
eine Andeutung der Hautvenen, die Völkertypen sind an den
wiedergegebenen Köpfen sehr leicht kenntlich. ^) ^ Die fünffüssigeu
Tiergestalten als Thorhüter sind keineswegs ein anatomischer Ver-
stoss, sondern aus Gründen praktischer Kunstanschauung so gebildet.
^) Reichliches Anschauungsmaterial in Assj'rian sculptures publ. by
H. Kleinmann and Cie., Haarl., Lond.
Geschichte der Anatomie. 159
Die Photographie eines Penis mit bildlicher Darstellung auf der
Glans und Weihiuschrift auf dem Schafte war in der historischen
Ausstellung zu Düsseldorf 1898. Von sonstigen Darstellungen einzelner
Körperorgane ist besonders eine Leber aus Babylon (Terracotta,
3. Jahrtausend v. Chr.) bekannt geworden. -) Der grösste Durch-
messer von rechts nach links beträgt etwa 13,5 cm. Sie ist beider-
seits mit Scbriftzeichen versehen. Stieda erklärt sie für die Nach-
ahmung einer Schafs-(Hammel-)Leber. Man erkennt an der unteren
Fläche deutlich den P r o c e s s. papillär., den Proc. pyramidalis
(caudatus), dann die Gallenblase. Doch dürfte der Gegenstand
anatomischen Zwecken kaum gedient haben. ^)
Aegypten zur Pharaonenzeit.
Cr. Ebers, Papyros Ebers, m. Glossar von L. Stern, 2 Bde., Leipzig 1875. —
*JEr. Joachim, Papyros Ebers übers., Berlin 1890, 8<», 214 S. — *G. Ebers, D.
Körperteile im Altägyptischen. Abhandl. d. k. bayer. Akad. d. Wiss. I. C'l. 21. Bd.
1. Abth. S. 81—174. S.A. 1897, 4«, 96 S. — *Ad. Erman, Zaubersprüche f. Mutter
u. Kind. A. d. Pap. 3027 der berl. Mus. K. pr. Ah. ä. Miss. Philos.-histor. Abh.
190, I. S.A. 4« 52 S. m. 2 Taf.
Die Annahme der älteren Historiker, demgemäss die anatomischen
Kenntnisse der alten Aegypter aus dem Balsamierungsverfahren ge-
schöpft sind, ist irrig. 1. wurde das Balsamierungsverfahren, ins-
besondere die zumeist vorhergehende Entfernung der Eingeweide nicht
von Aerzten, sondern von niederen Handwerkern geübt; 2. ist es
Thatsache, dass — wenigstens den erhaltenen Quellen zufolge — die
ägyptischen Aerzte weitaus geringere anatomische Kenntnisse besessen
haben, als sie sich bei einem solchen Verfahren hätten aneignen
können; 3. gehen die Quellen auf eine Zeit zurück, zu der das Bal-
samierungsverfahren erst in der Entwicklung war. Einheimische
Nachrichten nennen schon den zweiten historischen König Athothis
als Arzt und Verfasser anatomischer Bücher, ^j Das „Buch vom Ver-
treiben der uchudu", welches Andeutungen einer Gefässlehre enthält,
ist in zwei Niederschriften vorhanden.-) Laut ersterer wurde es ur-
sprünglich dem fünften König Husapait (Usaphais, 1. Dynastie, um
3700 V. Chr.) überreicht, der zweiten zufolge nach dem Tode des
Husapait dem König Sent (Sethenes, 2. Dynastie) übergeben. All
diese Angaben beziehen sich auf das 4. Jahrtausend v. Chr.
^) Photogr. in Cuneiform Texts from Babylonian Tablets etc. in the Brit. Mus.
P. IV, Lond. 1898, B. 89—4, 268. Vgl. A. Boissier-Geneve, Note sur un Monument
Babylonien se rapport. ä lextispicine, Geneve 1899, 12 pp., dann Stieda (L.), Ana-
tom.-archäol. Studien I. II. S.A. aus Bonnet-Merkels anatom. Heften Bd. 15/16, Wiesb..
J. P. Bergmann, 1901,' 131 S. M. Abb.
') Aus Oefele, Keilschriftmedizin ersehe ich eben, dass unlängst eine zweite ein-
schlägige Arbeit erschienen ist: A. Boissier, 'Note sur un nouveau document
Babylonien se rapportant ä l'extispicine, Geneve. Es wird darin Km 620, das bisher als
ein Ochsenhufmodell galt, als Lebermodell für Opferschauer erwiesen. (Oefele
a. a. 0. S. 14.)
^) Manethos bei Africanus. Syncellus p. 54 B. 56. R. Lepsius, Königsbuch,
Abth. I, Quellentafeln S. 5. i . -& r
*) Pap. Ebers Taf. 10.3, verkleinerte Abb. bei G. Steindorff, D. Blütezeit
des Pharaonenreichs, Bielefeld u. Leipzig 1900, 8» 164 S., S. 75; Pap. Brugsch.
maj. Sp. 15.
160 Robert Bitter von Töply.
Besondere anatomische Schriften haben sich nicht erhalten, doch
berichtet Clemens Alexandrinus — allerdings erst im 2. Jahrhundert
V. Chr. — das erste der 6 hermetischen Blicher medizinischen Inhalts
habe von der Einrichtung des menschlichen Körpers gehandelt {Ttegl
Tfjg tov OMfimog yiataay.evi]g. Cl. Alex, stromateis VI.).
Aus der folgenden Uebersicht der gelegentlich vorkommenden
Benennungen der Körperteile (geordnet nach dem hieroglyphischen
Alphabet) ersieht man, dass die Hauptbestandteile des Körpers aller-
dings bekannt waren, dass jedoch auf die feineren Einzelnheiten noch
kein besonderes Gewicht gelegt wurde. Wo es sich um die Deutung
innerer Organe handelt, herrscht aus eben diesem Grunde heute noch
eine ziemliche Unsicherheit.
3m = die Faust; 3gb =: das Knie.
* i 3 1 := der Rücken ; ^ i w f = Fleisch (sowol menschlich als tierisch) ;
'ib (der Tänzer) = 1. das Herz, 2. der Magen; 'im h-t (das im Bauche
Enthaltene) = 1. die Baucheingeweide, 2. das Rückgrat, die Rückenwirbel-
säule; 'imt, 'imy'h-t (was sich im Leibe befindet) = Eingeweide ; 'imt
p U w i (was hinten ist) = der Hintere ; ■" i r - 1 = das Auge ; ' ilj 1 1 = die
Kehle, Luftröhre, das Respirationsorgan.
w% 'iw' = das Fleisch, Fleisch und Blut; w'^rt=:das Bein; whm
(der Wiederholer) = die Zunge; wd3-t = das Heilsauge (als Symbol).
b3b3W' shf m d3d3 = die sieben Höhlen (Oeffnungen) im Kopf;
b3h = die Vorhaut?; b nt 3pd = das Hörn, die Haube oder Krone
{eines Vogels); bgst == die Kehle (Halsschmuck?).
p h w i = das Hinterteil ; p s t = das Rückgrat, die Rückenwirbelsäule ;
p d = der Fuss, das Bein.
fnd, fnd, fnti = die Nase (ss n t3wi = das Nest für den Wind,
tp n fnd = die Nasenspitze).
m 3 1 = das Auge ; m n d - 1 :^ die Brust, der Euter, die Zitze ; m h i
(mh'i) = cubitus, brachium, die Elle; mMjyk (geschrieben m'h'k) =^
der Hals; msht = der Schenkel; msdr = das Ohr; rat = das Gefäss,
die Ader, der Nerv; mt, mtt, mti=- die Mitte, das Mittlere; m'd^i
'(m'^ds, m'ts) = das GeschlechtsgHed.
njibt = der Hals, Nacken; 'nh = das Ohr; ns die Zunge.
r 3 = der Mund ; r 3 ' i b = der Magen (später von h-t verdrängt) ;
r 3 h *^ t i — der Magenmund, kardia ; r m n h r w = der Oberarm ; r m n h r
= der Unterarm ; ' r t i = die Kinnladen ; r d = der Fuss ; r d ' i b := das
linke Bein; rd wnm = das rechte Bein.
h*' = die Glieder; hr = der Kopf, das Haupt, das Gesicht; hr'ib
= der mittlere Teil ; h r (r m n) oder h r (r m n) ==: Ober- und Unterarm ;
h't = das Vorderteil, extremitas, summitas; h*^ti (Dualform) = 1. das
Herz (vielleicht auch die Lunge, „Fett des hfi = Fett des Herzens),
2. der Magen, Magenmund (auch 'ib), 3. überhaupt „das au der Vorder-
seite Befindliche"; htt = die Kehle, Luftröhre, das Respirationsorgan.
h 3 b w t = der Nacken ; h p d = die weibliche Scham ; h p d w =• die
Nieren; hft = das Antlitz, Angesicht; *^hm-t ^ der heilige Leib (des
Osiris) ; hnt, hntä, hntt= die Nase ; h r , h r w = der untere Teil ;
hrww, hrwi = die Hoden; hr hs' = Kot haltend; hr hpt = Ge-
schlechtsteil oder Blase, h-t = der Leib, Bauch, Magen.
S3 = der Rücken; sbk = die Fusssohle ; spt = die Lippe; smd =
•die Augenbrauen; sd = der Schwanz eines Tieres; sdh = das Schienbein.
sn = das Haar; sp = die Hand(-breite) ohne Daumen, palmus.
Geschichte der Anatomie. 161
b3h = die Zehen; sst = die Knöchel?.
kftw-t = das Hinterteil, der Steiss (eines Vogels); kff-t s = die
Uilch (der Amme) ; k "^ h i i = der Arm, Vorderarm, die Hand.
•^twt' = die Mandeln im Halse; tp, tp(i)' = ds da = der Kopf,
das Haupt; tp*^ = die Spitze der Hand, die Fingerspitzen.
d - 1 = die Hand.
tbt == die Fusssohle, Sandale.
da da = tp, tp(i)*^ = der Kopf, das Haupt; db% d'b = der Finger,
der Zoll; dt = der Körper, Leib, Kadaver; dd-t = das Rückgrat.
Für die Auffassung der Reihenfolge der Körperteile bestehen
zwei allerdings stark voneinander abweichende Anhaltspunkte. 1. Eine
Gruppe der literarischen Denkmäler zählt die Teile vom Scheitel bis
zur Zehe auf, so dass zuerst der Kopf mit seinen Teilen, dann Nacken,
Arme und Finger, dann der Leib mit seinen Teilen, endlich die Beine
und Füsse genannt werden. '^) So nennt der dritte Zauberspruch des
Berliner Pap. 3027 folgende Reihe: „Kopf, Scheitel. Stirn, Augen-
brauen, Augen. Nase, die beiden ....?, Mund, Zähne, Schlund, Zunge,
Lippen, Schläfe, Ohren, Nacken, Schultern, Arme, Finger, Brustwarze,
Brust, das ?, Leib, der ....?, Nabel, After, Schamglied, Weichen?,
Rücken, Wirbel?, Hinterer, Hinterbacken, Beine, Fuss, Knöchel?.
2. Die 14 Teile der Leiche des Osiris, die Isis bestattet hat (Dar-
stellung der Reliquien bei J. D ü m i c h e n , Geographische In-
schriften altägvptischer Denkmäler, Leipz. 1885, Abt. III, Taf I),
werden hingegen in dieser Reihenfolge aufgezäht: a) das linke Bein,
der Leib, die Kinnladen, das rechte Bein, das Schamglied; b) der
Magen und die grossen Eingeweide (?), die kleinen Eingeweide (?),
die Lunge (und das Herz?), die Leber und die Gallenblase (?); c) das
Herz, der Hals, das Rückgrat, die Hände (oder Arme, samt dem
Auge?). Welche von diesen Einteilungen ärztlicherseits gebräuchlich
war, ist vorderhand nicht festzustellen.
Genaueres ist nur über das Gefässsy st em bekannt. Nach dem
vom Herzen handelnden „Geheimbuch des Arztes" *) ist das Herz der
Ausgangspunkt der „metu", was sowohl Gänge, als Gefässe, Adern,
Nerven, Muskeln bedeutet. Es werden dann folgende „metu" ge-
nannt: 4 in der Nase (2 geben Schleim, 2 Blut), 4 an den Schläfen
(sie versorgen auch das Auge), 4 im Kopf (Ausbreitung am Hinter-
haupt), 2 zum Jochbein, je 2 zum rechten Ohr (für den Lebenshauch)
und zum linken Ohr (für den Todeshauch), 6 zu beiden Armen, ebenso
viel zu den Füssen, 2 zu den Hoden, 2 zu den Nieren, 4 zur Leber
(sie führen ihr Feuchtigkeit und Luft zu). 4 zum Mastdarm und zur
Milz (mit derselben Verrichtung), 2 zur Blase (Harnleiter), 4 in den
After. Von den letzteren heisst es: „sie geben und bringen in ihm
hervor Feuchtigkeit und Luft; sodann öffnet sich der After jedem
Gefäss auf der rechten und linken Seite, indem er sich erstreckt bis
in die Füsse und vermischt sich mit Exkrementen".^) Nach dem „Buch
vom Vertreiben der uchedu" hat der Mensch 12 Herzgefässe, die sich
') Pyram., Kap. 311 = P. .565 ff.; Todtenbuch Kap. 42; Litauie du soleil IV:
Rit. de rem bäum. (Maspero, pap. du Louvre p. 25); die drei Zaubersprüche bei
Tlnnan, besonders S. 15 ff.
*) Pap. Ebers T. 99.
") Pap. Ebers. Joach S. 187.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 11
162 Robert Ritter von Töply.
in alle Glieder ausbreiten. Je 2 befinden sich in der Brustgegend, je
2 ziehen zum Schenkel, zum Arm, zum Hinterkopf, zum Vorderkopf,
zum Auge, zur Augenbraue, zur Nase, zum rechten Ohr (Lebenshauch),
zum linken Ohr (Todeshauch). „Sie kommen in ihrer Gesamtheit von
seinem Herzen und verteilen sich in seiner Nase, sich sammelnd in
ihrer Gesamtheit in seinen beiden Hinterbacken." **) Mit diesen An-
gaben stimmt die Bemerkung des Pap. Brugsch maj. nicht überein,
„der Kopf hat 32 Adern (!), von ihm aus schöpfen sie den Atem nach
der Brust, so dass sie den Atem allen Gliedern geben". Wie man
sieht, herrscht in der Gefässlehre — und diese ist das einzige bisher
genauer bekannte Gebiet der ägyptischen Anatomie — viel Unklarheit.
Aus diesen Angaben, welche immerhin dem 4. Jahrtausend ent-
stammen mögen, aber noch im 14. Jahrhundert giltig waren (der Pap.
Brugsch major ist aus der Zeit des Ramses II, also 1324—1258), ist
zu entnehmen, dass sie nur auf flüchtigen Beobachtungen beruhen,
wie solche sich gelegentlich beim Schlachten von Tieren ergeben, in
Einklang gebracht mit einer willkürlichen Physiologie. Eine genauere
Kenntnis des menschlichen Körpers hat im Pharaonenreich nicht be-
standen.
In Uebereinstimmung damit kann von anatomischen Darstellungen im
wissenschaftlichen Sinne nicht die Rede sein. "Was sich auf diesem Gebiete
an plastischen Nachbildungen einzelner menschlicher Körperteile findet, g'e-
hört in das Gebiet der Amulete (vgl. u. a. Wilkinson. Customs and
manners of the ancient Egyptians, Lond. 1837 — 41, 6 voll. 8, III, 393),
oder der Prothesen (z. B. das künstliche Auge der Mumie des kunst-
historischen Museums in Wien). Ueber den Proportionskanon der ägyptischen
Kunst handeln die meisten eingehenderen archäologischen und kunstgeschicht-
lichen Schriften, ebenso über die genaue Wiedergabe der Rassenraerkmale
in Bildwerken. Eine charakteristische Auswahl solcher bei H. Bulle, Der
schöne Mensch im Altertum (Hirths Stil I. Serie, 216 Taf.) Taf. 1—22.
Zu beachten Taf. 21, Relief am Horustempel in Edfu, die Tätowierung der
Brüste bei den Frauen, wie auch anderswo. Ueber Balsamierung vgl.
Herodot II, 86 — 88; Diodor I, 91. Geschichte des Verfahrens bei J. N.
Gannal, Hist. des embaumements, 2me ed., Paris 1841, 8^, 448 pp. Jul.
Magnus, D, Einbalsamieren d. Leichen in alter u. neuer Zeit, ßraua-
schweig 1839, 8 «, 128 S.
China.. I
Mit Rücksicht auf die schwere Zugängigkeit des Gegenstandes folgt eine Ueber'
sieht der nottvendigsten Hilfsbücher.
a) *Kainz (C), Prakt. Grammatik der chin. Sprache, Wien, Pest, Leipzig,
8», 191 S., 10 Schrifttaf.
b) *Andreae (V.) u. Geiger (John), Biblioth. sinologica (Wegiceiser durch
d. Sinolog. Literatur), Frankf, Lond., Par. 1864, 8", 108 + 31 S., 16 S. Schrifttf.
c) *Kidd (Sam.), China, Lond. 1841, S**, 403 SS. (Grundzüge der Kultur u.
Literatur, gründlich; *Navarra (B.), China u. d. Chinesen, Bremen, SJuingai 1901,
8°, 1184 SS. (Nach eigener Anschauung, reich illustr., gehört zu den besseren Tages-
erzeugnissen.) \
d) *Cleyer (Andr.), Specimen medicinae sinicae. C. figg., Francof. 1682, 4'|
Cleyer (Andr. pi-odux., aut. M. Boymo, procur. Ph. Copletio), Clavis medica aa
Chinar. aoctrinam de pulsib. S. l. 1684, 4", 144 pp., 6 tob.; *J)u Halde (J. B.),
«) Pap. Ebers. Joach S. 187.
1
Geschichte der Anatomie. 163
Descript. de Vernpire de la Chine. La Eaye 1736, 4 vols., 4 ° (m. einem eingehenden
Kap. über Medicin) ; *Choulant (L.), Graph. Incunabeln f. Natur g. u. Med. S.A.
aus Naumanns Arch. f. d. zeich. Künste III, Leipz. 1858, 8", 168 SS. (besonders
Einl. S. XV u. f.); Tatarinoff (A.), D. chines. Med. Arb. der kais. russ. Ge-
sandtsch. in Peking üb. China. A. d. Russ. von C. Abel u. F. A. Mecklenburg,
Bd. II, Berl. 1858, S. 421 — 465; *Dabry (F.), La medecine chez les CJiinois, Paris
1863, 8 °, 580 pp. (Bisher die reichhaltigste %md ausführlichste Monographie, aber
stellemceise oberflächlich, daher nicht immer verlässlich.)
e) Day (W.), Chinese tract on the Vaccine. Origin. print. at Canton in 1805,
lithogr. in Land. 1828, 8 "; ^ßeliinann (J.), Zwey chines. Abhndlngn. üb. d. Ge-
burtsh. A. d. Mandschur. ins Russ., a. d. Russ. ins Deutsche übers. St. Petersb.
1810, 8°, 36 S.; *Pfizniaiet' (Aug.), Erklärung einer alten chines. Semiotik, D.
Pulslehre Tschang-KVs, Analecta aus d. chines. Pathologie. Sitzgsber. d. philos.
hist. Cl. d. kais. Ak. d. Wiss., Wien 1865, 5L Bd. S. 5 u. f., 1866, 52. Bd., S. 207
u. f., 565 u. f. (au<:h im S.A.).
f) *I*orter SniitJi (Fr.), Contrib. toic. the Materia med. and nat. hist. of
China, SJmngai, Lond. 1871, S", 237 pp. (aiphabet. Verz. der chin. Drogen m. Er-
läuterungen): *Mi€clel (J. D.), Gedenkblatt an d. Ausstelbing chines. Arzneimittel,
Aug. 1890, Berl, 8", 20 S. (Verz. von 341 Heilmitteln aus China).
g) Bi'etschneid ;r (E.), On ihe study and value of Chinese botan. works etc.,
Foochow 1870—71, 8°, pp. 51; Botanicon Sinicum, P. 1, Lond. 1882, pp. 288.
P. II, W. annot. etc. by Fabber (K), gr. 8^, Shanghai 1892. P. III, Shanghai
1895; History of European botan. discoveries in China, 2 vols., Lond. 1898.
h) Cohn (W.), Anatomie in China. Deutsche med. Wochenschr., Berl., 27. Juli
1899, Nr. 30 S. 496.
i) *Im chines. Original kenne ich den „goldenen Spiegel zu den äusseren
Krankheiten^, 10 Bde., Format 17,5 : 10,5 an zu je ca. 150 SS. In Bd. 1
mehrere rohe Abb. zur Gefässlehre. — Ueber 4 chinesische Original-Abb. in d. med.
chir. Akad. zu Dresden vgl. Choulant in Rubner's Hlustr. med. Zeitung III, 314. —
Ein chines. Holzschnitt (69 x 26 cm) mit 2 Abb. zur Gefässanafomie der oberen
Gliedmasse nach europ. Vorbild, sowie einige andere chines. Originale in meinem
Besitz.
j) Vergl. auch die Zusammenstellung der Litteratur von B. Schwalbe im 1. Bd.
>'. 19. — Belanglos sind, wenn auch öfter citiert: *DuJar(lin, Hist. de la Chir.,
T. I, Par. 1774. (Im Anhang 4 Taf. mit Figuren zur Verdeutlichung der Wahl-
steilen f. d. Moxa, bezto. Akupicnktur, flüchtige Nachbildungen chinesischer Originale,
durch die Darstellung bei Dabry überflügelt ; *Ilyrtl, Antiquitates anat. rar., Vindob.
1835, mit 2 verkl. Kopien nach Cleyer; *IIeu8inger, D. chines. Medicin (nach
Wilson (J.), Medic. notes on China, Lond. 1846, p. 233) in HenscheVs Janus III,
S. 193—216, 1848 (fexälletonist. Plauderei).
k) Neuere französische Litteratur. Bouffard (Docteur), Notes medicales
recucuillies ä Tchen-Tou (Chine). (Annales d'hygiene et de medecine coloniale 1900,
Nr. 2). — Cauvet, Nouveaux elements d'hist. naturelle medicale, Paris 1885
(Bailliere, edit.). — JJeheaux, Essais sur la pharmacie et la matiere medicale des
Chinois, Paris 1865 (Bailliere et fils, edit.). — *Dumouti€V, Essai sur la phar-
macie annamite, Hanoi 1887 (Schneider, edit.). — Gouzien (Docteur), Manuel
franco-tonkinois de conversation specialem, ä Vusage du medecin, Paris 1897 (Chal-
lamel, edit.). — Lanessan (Docteur J. L. de), Les plantes utiles des colonies fran-
'■aises. — Lonriro (J. de), Flora Cochinchinensis. — Matignon (Docteur J.),
(In traitement chinois de la diphterie (Bull, gener. d. therapeut.. 15 aoüt 1895J;
Les suicide en Chine, Lyon 1897 (Storck, editeur) ; Les instruments de Chirurgie des
Chinois (Archives cliniques de Bordeaux, novembre 1897); Superstition, crime et
unsere en Chine, Lyon 1899 (Storck, editeur). — Jilorache (Docteur G.), L'exercice
•le la medecine chez les Chinois, 1864 (Recueil des memoires de med. milit., 3me
th'ie, t. XII); Pekin et ses habitants, Paris 1869 (Bailliere, edit.); Chine (article
ilans le dictionnaires encyclop. des sciences med.). — *Nordemann, Manuel versifie
'le medecine annamite, Hanoi 1896. — Loubeiran et Dabry, La matiere medi-
ale chez les Chinois, Paris 1847 (Masson, editeur).
l) *JRegnaidt (.Jules), Medecine et pharmacie chez les Chinois tt chez les
Annamites. A. Challamel ed. Paris. S.A. (1902), gr. 8°, 233 jp (dm ßedürfniss
der Selbstbelehrung entsprungen, von tcecliselnder Gründlichkeit, aoer mit reich-
haltigem Inhalt. Als Einleitung in das Studium des Gegenstandes empfehlenstcert.
Die anatomischen Abbildungen aus Cleyer). — liegnaidt (Jules), Notes sur l'opo-
lUerapie chez les Chinois et les Annamites (Revue des Medecine, 1900).
m) * Lockhart (W.), Der ärztl. Missionär in China. Deutsch von H. Bauer,
Würzb. 1863, 246 S.
11*
164 Robert Ritter von Töply.
Der Ursprung der Anatomie ist hier wie anderswo in das Gewand
der Fabel gehüllt. Das als klassisch geltende Buch Noi-king (nui-
king, nuj^-kim, neiszin, Hwang-ti-noi-king), angeblich von dem legen-
dären „gelben" Kaiser Hwang-Ti oder doch aus dessen Zeit her-
rührend (2697—2598 oder 2698—2599), hat neuestens nicht nur in Be-
zug auf Ehrfurcht vor seinem Alter, sondern auch als grundlegendes
Werk über den „Bau des Menschen" wesentlich an Ansehen verloren.
Einer erspriesslichen Entwicklung der Anatomie ist übrigens der Um-
stand hinderlich, dass die Leichenschau noch heute als „Beleidigung
des Toten und eine Unzukömmlichkeit gegenüber den Lebenden" gilt.
Was der Anatomie hier vor allem mangelt, das ist die Selbständigkeit.
Sie ist nicht die Grundlage, auf der sich die anderen medizinischen
Fächer aufbauen, sondern nur deren erläuternde Einleitung. Daher
spielen auch nur jene Abschnitte eine Rolle, mit denen sich die
praktische Medizin zumeist befasst, das ist die Ein ge weide lehre
und die Gefässlehre. In den Kopien der Abbildungen bei Cleyer
und Dujardin (letztere minderwertig), ebenso in den mir im Original
bekannten des goldenen Spiegels zu den äusseren Krankheiten sind
die Knochen nur scheraatisch und meist zusammenhanglos eingetragen.
Die Wirbelsäule in letzterem ähnelt am ehesten einem Satz von 22
Theetassen. Das Gefässsystem ist wie das Strassennetz einer Land-
karte im grossen Massstab gezeichnet, das Muskelsystem, das Nerven-
system sowie die Sinnesorgane scheinen nicht näher bekannt zu sein.
Die Einteilung der Eingeweide schliesst sich eng an die der spe-
kulativen Naturphilosophie zu Grunde liegende Lehrevon der Fünf -
zahl an, welche in der chinesischen Kultur eine wichtige Rolle spielt.
Sie gründet sich auf die Annahme von 5 Planeten und deren Ana-
logien. Da die astronomischen Kenntnisse in die Urzeiten der Kultur
zurückreichen, muss auch den darauf gestützten Analogien, bezw. dem
darauf gebauten anatomischen System ein hohes Alter beigemessen
werden. Daraus ergiebt sich aber auch, dass das System der chine-
sischen Anatomie als durchaus autochthon aufzufassen ist und die
bisher wiederholt geäusserten Vermutungen oder Andeutungen eines
Zusammenhangs zwischen China und griechischer Kultur in dieser
Beziehung (ob zwar ein solcher in anderer Hinsicht nicht abzuleugnen
ist) grundlos sind.
Die hauptsächlichen Daten dieses eigentümlichen Systems sind
kurz skizziert. Den fünf Planeten (Jupiter, Mars, Saturn, Venus,
Merkur) entsprechen die Elemente 1. Holz (muk), 2. Feuer (hüo),
3. Erde (t'ü), 4. Metall (kin), 5. Wasser (sui), mit den Farben L grün
(implicite blau), 2. rot, 3. gelb, 4. weiss, 5. schwarz, den Elementen die
solideren „Eingeweide": 1. Leber, 2. Herz, 3. Milz, 4. Lunge,
5. Nieren. Diese Eingeweide sind gleichzeitig Repräsentanten des
negativen (weiblichen) Urstoffes a n (ürstoff der Finsternis, der Feuch-
tigkeit). Hire Rangordnung ist gegeben durch die der analogen
Elemente in beistehender Weise:
Herz
Lunge Milz
Nieren
Leber
Durch Einwirkung der Luftarten (L Wind, 2. Hitze, 3. Feuch-
tigkeit, 4. Dürre, 5. Kälte) auf diese Eingeweide entstehen die Farbe n
Geschichte der Anatomie.
165
im Körper, und kommen im Gesichte als ,.geistige Blüte" im Sinne
obiger Eangordnung an der Stirn, rechten Wange, Xase, linken Wange,
am Kinn zum Ausdruck. Das Verwandt- ^
schaftsverhältnis der Eingeweide und
deren Farben ergiebt sich aus dem
beistehenden Pentagon, wenn die Punkte
1 — 5 mit den entsprechenden Einge-
weiden, Farben u. s. w. besetzt werden —
(die Zeichen + beziehen sich auf die
Eigenschaften der Farben). Die Linien
des Pentagons bezeichnen das verwandt-
schaftliche Verhältnis (Konsonanz), die
des eingezeichneten Pentagramms das
feindliche Verhältnis (Dissonanz). Mit
den Eingeweiden korrespondieren die „Kammern" (Hohlorgane) als
Vertreter des positiven (männlichen) ürstoffs y ä n g (Urstoff des Lichtes,
der Wärme): 1. Gallenblase, 2. Dünndarm, 3. Magen, 4. Dickdarm,
5. Harnblase (und üreteren). Nebst den allerdings nur sehr kurzen
Beschreibungen der Organe bestehen auch noch Angaben über Ge-
wichte und Masse. ^)
Die Leber hat 7 Lappen, links 3, rechts 4. Gewicht 4 kin 4 leang.
Das Herz ist mindest 12 leang schwer. Es fasst 3 ko, hat 7 Löcher und
3 Klappen. Die Milz ist 5 tsun lang, 3 tsun breit. Gewicht 2 kin 3 leang.
Die Lunge hat 8 Lappen. Gewicht 3 kin 3 leang. Die Nieren haben
ein Gewicht von 1 kin 1 leang. Die Gallenblase fasst 3 ko ; ihr Ge-
wicht 3 leang 3 schu. Der Dünndarm ist 3 tschang (3) 2 tsche lang,
2 kin (2) 14 leang schwer. Die Länge seines ,, Kopfs" beträgt S^!^ fen.
Er fasst 2 teu (4) 4 tsching Nahrung und 6 tsching 2^/., ko Wasser. Er
hat 16 Windungen. Der Magen ist 2 tsche 6 tsun lang, 1 tsche 5 tsun
dick (Umfang in der Mitte). Sein Gewicht 2 kin 14 leang. Er fasst 2 teu
Nahrung, 1 teu 5 tsching Wasser. Der Dickdarm bildet 16 Windungen,
^vie der Dünndarm. Es ist 2 tschang 1 tsche lang, 2 kin 12 leang schwer
(ungefähr wie der Dünndarm). Er fasst 1 teu Nahrung, 6^, tsching
Wasser, Die Harnblase fasst 9 tsching 9 ko Harn. Ihr Gewicht be-
trägt 5 leang, die Breite 9 tsun.
Das Gefässsystem besteht erstens aus 12 Adern (king), von
denen je 5 den Eingeweiden bezw. den Kammern entsprechen, also
den negativen bezw. den positiven Urstoff führen, während die elfte
dem Herzbeutel entsprechend für den negativen, die zwölfte dem Brust-
fellsack (santsiao) entsprechend für den positiven Urstoff dient. Sie
bilden gepaart eine geschlossene Kette für den Blutumlauf derart,
dass je ein positives und ein negatives Paar abwechselt. Die Auf-
zählung hält sich auch hier, wie bei den Eingeweiden und Kammern,
nicht an den organischen Zusammenhang, sondern an die Stellung in
jenem System:
— 1. Lungenader fey-king (seü-tai-yn, Ader des grossen Ürstoffs
yn, an der Hand endend). Sie ist die praktisch wichtigste Pulsader (a.
radialis).
') "Vgl. die Schlussanmerkung.
166 Robert EHter von Töply.
-j- 2. Dickdarmader ta-tschang-king (§eü-yang-ming, Ad. des leuch-
tenden TJrst. yang an der Hand beginnend).
-j- 3. ]ll[agenader oey-king (tso-yang-ming, Ad. des leucht. TJrst.
yang, am Fuss endend).
— 4. Milzader py-king (tso-tai-yn, Ad. d. gr. TJrst. yn, am Fusse
beginnend).
— 5. Herzader sin-king (seü-tschao-yn, Ad. des verminderten TJr-
stofFs yn, an der Hand endend).
-|- 6. Dünndarmader siao-tschang-king (seü-tai-yang, Ad. d. gr.
TJrstoffs yang, an d. Hand beginnend).
-|- 7. Harnblasenader pang-kwang-king (tso-tai-yang, Ad. d. gr.
TJrst. yang, am Fusse endigend).
— 8. Nierenader tschin-king (tso-tschao-yn, Ad. d. vermind. TJrst.
yn, am Fusse beginnend).
— 9. Herzbeutelader sin-pao-king (seü-kiue-yn, Ad, d, vermind.
TJrst. yn, an d. Hand endigend).
-|- 10. Brust fe Hader san-tsiao-king (seü-tschao-yang. Ad. d. ver-
mind. TJrst. yang, an d. Hand endigend).
-|- 11. Gallenblasenader tan-king (tso-tschao-yang. Ad. d. ver-
mind. TJrst. yang, am Fusse endend).
— 12. Leberader kan-king (tso-kiue-yn. Ad. d. vermind. TJrst. yn,
am Fusse beginnend).
Dieses Sj^stem vervollständigen zwei Sammelge fasse:
-|- a) tu-me-king, das Sammelgefäss für den TJrstoff yang, an der
Rückseite zum Gehirn aufsteigend und an der Oberlippe endigend.
— b) dschin-me-king, das Sammelgefäss für den TJrstoff yn. Es
steigt als Gegenstück zum Vorigen an der Vorderseite zur TJnterlippe auf.
Diese 14 Hauptadern haben 23 kleine Aeste. TJeberdies wird
noch eine Reihe anderer kleiner Gefässäste beschrieben, und zwar:
An der Vorderseite des Kopfes 5, an dessen Rückseite 7, am
Halse 7, für die Brust und den Bauch 11, am Rücken 5, am Arm
hinten 3, vorn 3, an den unteren Gliedmassen hinten 3, vorn 3.
Die Zerstückelung eines organischen Ganzen, wie es das Gefäss-
system ist, zu gunsten eines raffiniert ausgeklügelten bodenlosen Ge-
bäudes, macht es sehr schwer, aus der Beschreibung das Zusammen-
gehörige zu finden. Das Herz, welches im Blutumlauf eine den übrigen
Organen gleichwertige Rolle spielt, ist bei der Beschreibung des Ge-
fässsj^stems gar nicht berücksichtigt.
Dem System zuliebe entstehen Knaben und Mädchen in
der Gebärmutter gesondert. „Zur Linken ist es ein Knabe, zur
Rechten ist es ein Mädchen" entsprechend dem Satze „die linke Seite
ist der TJrstoff des Lichtes, die rechte Seite ist der Urstoff der
Finsternis*'.-)
Die von der unseren völlig abweichende Nomenklatur, sowie die
fremdartige Ausdrucksweise erschweren ungemein das Verständnis
chinesischer Texte, auch in wortgetreuer Uebertragung. So ist z. B.
Fisch = Daumenballen, Thor des Lebensloses = Mitte beider Nieren,
Mitte der Thorwarte = Raum zwischen beiden Augenbrauen, Knochen
-) Tschang-ki, Pulslehre ed. Pfizmaier, S. 243, 244.
Geschichte der Anatomie. 167
der Schnur = Jochbein. Knochen des Wagens der Zähne = Ober-
kiefer, leere Weglänge = grosse Ader des Magens. Zur Andeutung
der Ausdrucksweise dürften die folgenden von Tschang-ki gegebenen
Beschreibungen der Eadialarterie als bevorzugter Pulsader genügen:
„Die an dem Munde des Zolles sich bewegende Ader ist der Hof und
das Stammhaus der grossen Versammlung — der Himmel der mittleren
Abteilung ist die zunächst dem leitenden Wassergraben sich bewegende
Ader des Mundes des Zolles, wohin die Luft der Ader des grossen
Urstoifes der Finsternis (Lungenader, s. oben Nr. 1) an der Hand
sich in Gang setzt und welche die Lungen erspäht." ^)
Versuche, die chinesische Anatomie durch eine wissenschaftliche
zu ersetzen, dürften vor allem an dem Umstände scheitern, dass die
Anatomie dort mit den Grundsätzen der Weltanschauung eng verknüpft
ist, welche dem kleinen Kinde bereits in der ersten Unterrichtsklasse
eingeimpft werden. Unter den ersten Sätzen, die das Kind aus seiner
Fibel, dem „Buch der drei Worte" (verfasst 1277) lernt, lautet der
eine „Wasser und Feuer. Holz, Metall und Erde, dies sind die fünf
Elemente, die Zahl der Natur".'*) Deshalb dürften die idealistischen
Bestrebungen des Kaisers Kang-hi, sein Volk mit der europäischen
Anatomie bekannt zu machen, auch ihr Ziel verfehlt haben, selbst
wenn sie zur Ausführung gekommen wären. Der Sachverhalt ist
wiederholt verschieden dargestellt worden, jedoch ohne Quellenangabe.
Nach der im folgenden mitgeteilten Quelle hatte der Kaiser im Jahre
1722 den Jesuiten P. Perennin mit einer Uebersetzung der Anatomie
des Pierre Dionis (1690 und öfter) beauftragt und ihm ein ent-
sprechendes Hilfspersonal zugeteilt. Da jedoch der Kaiser bald danach
starb, sendete Perennin, was er bisher zu stände gebracht, an die
Bibliothek der k. Akademie der Wissenschaften in Paris. ^)
Zur Geschichte der anatomischen Abbildung. Vier
anatomische Tafeln, welche Hedde im Jahre 1848 in seiner Reise-
beschreibung als originalchinesische ausgegeben hatte, ^) haben sich
als Mache eines in Kanton wohnhaften englischen Arztes ergeben,
welcher sie nach einem englischen anatomischen Atlas gearbeitet hatte. ')
Anm. Masse und Gewichte. Nach Dabry ist 1 ko = 0,08 L. ;
1 kin = 588 g = 16 leang; 1 tschang := 3,14 m =^ 10 tsche = 100 tsun
= 1,000 fen; 1 teu = 120,000 Hirsekörner = 10 tsching = 100 ko =
1,000 yo. — Nach Regnault ist ein kin (Pfund) = 604 g = 16 leäng,
danach 1 leäng = 3,775 g = 10 ts'ien = 100 fenn = 1000 li = 10,000 haö
= 100,000 seü, danach 1 seü = 0,0003775 g. Ueber die Mannigfaltig-
keit der Masse und Gewichte vergl. den Artikel Masse und Gewichte bei
B. Navara, China und die Chinesen 1901, S. 669 u. f.
^) a. a. 0. S. 209, 215.
*) C. F. Neumann, Lehrsaal des Mittelreichs, Münch. 1836, 4°, 45 S. u. 20 S.
chines. Text.
*) Aneedotes historiqnes, litteraires et critiques sur la med., la chir. et la
pharm. 1 part., Amsterd. et Paris 1785, p. 146 sq.
") Gemeint ist wohl J. Hedde, Descript. methodique des produits divers,
recueillies dans un voyage eu Chine, St. Etienne 1848, gr. 8".
') Vergl. Choulant, Graph. Incuu. u. Wernich in Gurlt-Hirsch Biogr.
Lex. II S. 11-14.
168 Robert Ritter von Töply.
Indien.
Gmndr. der indo-ar. Philologie u. Altertumskunde begr. v. G. Bühler, fortges.
V. F. Kielhorn. Daraus: Blooniflelfl (M.), The Atharvaveda and the Gopatha-
Brähmanm (II IbJ; *Jolly (Julius), Medicin, Strassb. 1901, MOS. (Knappe, sehr
gründliche Uebersicht.) — *Susruta8, Ayurvedas. Vert. Franc. Hessler, Erlang.
1844 — 1852 (unverlässliche Ucbersetzung). — Havelock (Charles), The progress of
the teaching of human anatomy in Northern India, Br. J. II, p. 841 — 844, 3 abb.
Die buddhistische Periode in Indien beginnt mit der Einführung
des Buddhismus durch König A^oka (regierte ungefähr 269 — 232).
Die vedische Medizin, auf der Vorstufe dieser Periode fussend, ist
nichtsdestoweniger in die Werke der späteren Zeit in ihren Grund-
anschauungen meist vollinhaltlich übernommen worden. ^)
Die theoretischen Anschauungen fussen auf der Annahme
von drei Grundsäften (dosa, dhatu) : Wind, Galle, Schleim. Vom Wind
und der Galle gibt es je 5 Arten. Die Annahme des Blutes als vierten
Grundsaftes kommt nur vereinzelt vor. Sie erinnert an die griechische
Humoral Pathologie; ebenso die Einteilung des Windes und der Galle
in je 5 Arten an die Lehre von der Fünfzahl bei den Chinesen. Indes
stimmen die Sitze des Windes und der Galle mit jenen der chinesischen
Haupteingeweide nicht völlig überein, so dass ein unmittelbarer Ein-
fluss chinesischer Theorien nicht anzunehmen ist. Der Körper besteht
aus 7 Grundbestandteilen (dhätu): rasa (Saft, Chylus), rakta (rote
Flüssigkeit, Blut), mämsa (Fleisch), medas (Fett), asthi (Knochen),
majjä (Mark), sukra (Samen).
Die Anatomie ist wesentlich theoretischer Natur. Die Zahl
der Knochen wird in den meisten Schriften übereinstimmend mit 360
angegeben, und zwar: Zähne 32, Zahnwurzeln 32, Nägel 20, Hände
und Füsse 20, Finger und Zehen 60, Fersen 2 (unterhalb der Ballen 2),
Handgelenke 4, Fussknöchel 4, Ellbogen 4, Unterschenkel 4, Kniee 2,
Kniekehlen (Becken?) 2, Oberschenkel 2, Arme und Schultern 2, unter-
halb der Schläfe 2, Gaumen 2, Hüften 2, Schambein 1, (Kreuzbein 1,
Steissbein 1), Rücken 3.5 (45), Hals 15, Schlüsselbein 2, Kinn 1, Unter-
kieferknochen 2, Stirn 2, Augen 2, Wangen 2, (Nasenknorpel 1, Nasen-
knochen 3), Rippen und Rückgrat 72, Schläfe 2, Kopf 4, Brust 17.
Die Unterscheidung von 32 Zähnen und ebensoviel Zahnwurzeln, die
Einbeziehung der Nägel, dann des Nasenknorpels in die Knochenlehre
zeugt von einer sehr rohen Anschauung. Als die 6 Hauptglieder (anga)
des Körpers gelten die Arme, Beine, der Rumpf, der Kopf, als Neben-
glieder (pratyariga) der Schädel, Bauch, Rücken, Nabel, die Stirn,
Nase, Ohren, Augen, Finger u. a. (nach einer Angabe 56). An der
Haut werden 6 — 7 Schichten unterschieden. Die 5 Sinneswerkzeuge
sind: die Haut, Zunge, Nase, die Augen, Ohren, die 5 „Werkzeuge
der That": Hände, Füsse, After, Geschlechtsteile, Zunge. Die 7 Be-
hälter (asaya, ädhära) oder hohlen Eingeweide enthalten die Luft,
Galle, Schleim, Blut, unverdaute Speisen, verdaute Speisen, Harn, bei
den Frauen der achte (garbhäsaya) den Fötus. Sie umfassen auch die
inneren Organe (hosthäriga) und zwar das Herz, die Lunge, Leber,
Milz, Blase, den Magen, Mastdarm u. a., im ganzen 15. Die 9 Oeff-
nungen sind der Mund, die Nasenlöcher, Ohren, Augen, der After, die
^) Ueb. d. ved. Med. vgl. insbes. Bloom field, The Atharvaveda.
Greschichte der Anatomie. 169
Harnröhre, bei Frauen die Brüste und die Scheide. Der Körper ent-
hält an Wasser 10, an Galle 5 anjali f Handvoll). Die Zahl der Ge-
lenke beträgt nach Susruta 210: 68 in den Gliedmassen, 59 am Rumpf,
83 über dem Hals; dazu kommen noch andere an den Muskeln, Sehnen,
„.„,,, Bänder (snävu. Sehnen. Nerven) . . ...
Nerven, Adern. Die Zahl der ^ — M~Y1 betragt
900 ^ r.1- ^ 600 ^ f 230 , , „ , ^ , 70
^TTTT : an den Gliedmassen 77^' am Eumpi 77;^. oberhalb des Halses ^^.
oOO 400 d6 o4
Dazu kommen noch mehrere bei den Frauen. Unter den 700 Adern
(sirä) werden 10 Grundadem (mülasiiä) am Herzen hervorgehoben.
Auch ist von 72000 Röhren (nädii gelegentlich die Rede, die vom
Herzen ausgehen. Je 175 Adern enthalten Luft (Wind). Galle, Schleim,
Blut. Vom Nabel gehen 24 selbständige Röhren idhamani, d. h. Ge-
fässe und Nerven 1 aus, und zwar je 10 nach oben bezw. unten. 4 quer
durch den Körper. Die Quellen (Caraka. Yaiigasena, Yäjiiavalbya)
sprechen sogar von 3 956 000 (2 900 956) sirä und dhamani I Ueberdies
werden als besondere Kanäle die srotas ei-wähnt, und zwar je 2 für
den Atem, die Speisen, das Wasser, den Chylus, das Blut, Fleisch,
Fett, den Harn, Kot, Samen, das Menstrualblut, dann 16 Sehnen
(kandarai, aus denen die Nägel hervorgehen, ebensoviel Netze fjäla),
6 Ballen (kmca) an den Händen, Füssen, am Hals. 4 Striche (rajju)
am Rückgrat, 7 Nähte (sevanl. 5 am Kopf, je 1 an der Zunge und am
Penis), 14 Knochengruppen mit Scheidelinien.
Sehr bezeichnend füi- die indische Auffassung ist die Anatomie
des Auges : Das Schwarze (trsnamandala) beansprucht V- des Auges, das
Sehorgan (drsti, Pupille und Linse) \- des Schwarzen. 5 Ki-eise
(Wimpern, Lider, das Weisse, das Schwarze, die drsti), 6 Verbindungs-
stellen (samdhi, vgl. oben Gelenke), 6 Membranen (2 an den Augen-
lidern, 4 am Auge) setzen das Auge zusammen. Der Durchmesser der
Membranen beträgt insgesamt ^5 des Sehorgans (drsti).
Diese Anatomie sowie auch die Embryologie ist ebenso in ein
mittelalterliches musiktheoretisches Werk, die Saingltaratnäkara, in
genauer Uebereinstimmung mit Susruta und Caraka übergegangen.
Wie ei^ichtlich, ist diese Anatomie nicht auf besonderen Beobach-
tungen aufgebaut. Nichtsdestoweniger empfiehlt Susruta (3, 5) den
Chirurgen das Studium der Leiche, allerdings ei-st, nachdem sie
in einem Käfig durch 7 Tage im Wasser gelegen und gehörig verwest
ist. Die auf diese Weise zu stände gekommene Zerfaserung mag die
grosse Zahl der Einzelbestandteile erklären, deren Aufzählung den
wesentlichen Inhalt der indischen Anatomie bildet, während die Be-
schreibung beinahe gänzlich in den Hintergrund tritt.
Die Entwicklungstheorie der älteren Zeit, deren Susruta
erwähnt (3, 3, 28 j, liess die Entstehung des Embryo je nachdem,
vom Kopfe, dem Herzen, dem Nabel, den Händen und Füssen, der
Mitte des Körpers ausgehen. Gegenüber diesen Ansichten, welche
Susruta nicht billigt, besteht die herrschende Lehre von der Ent-
wicklung nach folgender Monatseinteilung: 1. eine von den 5 Elementen
verdickte schleimige Masse; 2. eine feste, rundliche Masse, welche sich
in der Folge männlich, weiblich oder zu einem Zwitter entwickelt;
3. Entwicklung des Körpers nach 5 Richtungen; 4. Ausbildung der
Körperteile und des Herzens; 5. Zunahme des Fleisches und Blutes;
6. Ausbildung des Kopfhaares, der Nägel, Knochen, Sehnen, Adern u.s. w.;
170 Robert Ritter von Töply.
7. das Kind ist ausgebildet und lebensfähig; 8. Ueberleitung der Lebens-
kraft durch die den Chylus (rasa) führenden Kanäle von der Mutter
zum Kind und umgekehrt. Hervorzuheben ist, dass der männliche
Fötus auf der rechten Seite der Mutter, der weibliche auf der
linken liegt, ein impotenter in der Mitte. Der Nabel hängt durch
ein Gefäss mit dem Mutterkuchen (aparä), dieser mit dem Herzen der
Mutter zusammen.
Eine kurze Uebersicht der indischen Anatomie lässt es als auf-
fällig erscheinen, dass darin einerseits die Fünfzahl, andererseits
die Sieben zahl (abgesehen von der gelegentlich vorkommenden
Vierzahl der Elemente) eine nicht unwesentliche Eolle spielt. Dies
gerechtfertigt die Annahme von bisher nicht genau aufgeklärten Be-
ziehungen zur Medizin der Chinesen einerseits, zu der der Griechen
andererseits und weist dieser Anatomie eine geographisch, sowie der
Zeitfolge nach begründete Mittelstellung zwischen der von China
und Griechenland zu. Der Umfang, den sie im medizinischen
System einnimmt, ist nur sehr gering. Besteht doch der ursprüng-
liche Ayurveda aus folgenden Teilen (anga): 1. grosse Chirurgie
(salya); 2. kleine Chirurgie (säläkya, ürdhvänga); 3. Behandlung der
Krankheiten des Körpers, wie Fieber u. dgl. (käj^acikitsä) ; 4. Dämo-
nologie (bhntavidyä, graha); 5. Kinderheilkunde (kaumära bhrtya,
bäla); 6. Toxikologie (agadatantra , visagaravairodhi kaprasamana);
7. Elixiere (rasäyana, jarä) ; 8. Aphrodisiaca (väjikarana, vrsa). Hier
ist also der Anatomie kein besonderer Platz angewiesen. Im
Ayurveda des Susruta nimmt die särlrasthäna, d. i. die
Somatologie bezw. x\natomie und Embryologie als drittes Buch nur
einen recht bescheidenen Umfang ein. Sie umfasst dort folgende
Kapitel: 1. Allgemeines, 2. Der männliche und weibliche Same,
3. Embryologie, 4. Das entwickelte Kind, 5. Aufzählung der Körper-
bestandteile, 6. Fortsetzung, 7. Gefässlehre, 8. Fortsetzung, 9. Bänder-
lehre, 10. Das schwangere Weib. Dem ganzen Geiste nach ist das
Buch särlrasthäna nicht als Anatomie, sondern als Entwicklungs-
geschichte zu bezeichnen.
In dem von der englischen Regierung zur Heranbildung von Ein-
geborenen im 19. Jahrhundert errichteten BengalMedical College
(Delhi College) hat selbstverständlich nur die moderne Anatomie Ein-
gang gefunden. Für den Unterricht bestanden ursprünglich nur John
Tytlers arabische üebersetzung von Hoopers Anatomists Vade-
Mecum („Anis Ul Musharrahi'n") und die Bengali- Üebersetzung
eines Manual of Anatomy, von F. Cary. In den Jahren 1846—49 er-
schien dann im Auftrage der Regierung das umfangreiche Werk:
*Mouat (Frederic John) An Atlas of anatomical plates of the human
body, w. descriptive letter-press in English and Hindustani. Calcutta:
Bishops College Press. 1849. Folio, 50 kolorierte Kupferstichtafeln,
Text abwechselnd in Hindustani und englisch, mit Benutzung der
Werke von Charles Bell, Bostock, Carpenter, Cruveilhier, Ellis,
Harrison, Meckel, Sharpey, Wilson. Die Ueberschriften der Abbildungen
sind nur in Hindustani. Als tüchtigen Demonstrator der Anatomie
an der Schule nennt die Einleitung den Eingeborenen Pundit
Madasudana Gupta.
Geschichte der Anatomie. 171
Tibet.
*Laufer (Heinrich), Beiträge zur Kenntnis der Tibetischen Medizin, I. Teil,
Berl, Gebr. Unger, 1900, 41 S.; IL Teil, Leipz., 0. Harrasowitz, 1900, 90 S.
Die ersten Kenntnisse der Arithmetik und Medizin sollen erst
unter dem Könige g Nam ri srong btsan (gest. 630 n. Chr.) her
gelangt sein. Um 740 — 56 übersetzte V a i r o c a n a ,,die vier Tantra"
(r Gyud bzi) aus dem Sanskrit in die Tibetsprache. Der erste Teil
rtsa rgyud (Wurzeltraktat) umfasst u. a. die Anatomie (verbesserte
und vermehrte Aufl. von Gyn thog). Als bester Kommentar gilt „der
blaue Lasur" (Vaidürya sngon po) von Sangs rgyas rgya mtsho
(geb. 1652). Im übrigen vergl. Laufer a. a. 0.
Die Anatomie (lus kyi gnas lugs, d. h. Anordnung der Körper-
teile) ist mit der Physiologie eng verknüpft und wird im r Gyud bzhi
auch gleichzeitig abgehandelt. Der Fötus entsteht aus dem männ-
lichen Samen und dem weiblichen Menstrualblut (und dem Lebens-
prinzip) und wird je nach dem Vorwalten des einen oder anderen ein
Knabe, Mädchen bezw. Hermaphrodit (vergl. Indien). Aus dem
Sperma entstehen die Knochen, das Gehirn und Skelet, aus dem
Menstrualblut Fleisch, Blut, Herz, Lunge, Leber, Niere und die 6
Venen. Das Wachstum des Fötus bewirken 2 Venen zu beiden
Seiten des Uterus, ein kleines Gefäss, welches das Menstrualblut
führt. Die Frucht macht während 38 Wochen ihre Veränderungen
durch. In der 4. Woche kann man aus der Form das Geschlecht er-
kennen, in der 8. die Kopfform, in der 9. und 10. die Gestaltung des
Leibes, der Arme und Weichen. Es entstehen hintereinander die
Konturen der 9 Löcher, die 5 Lebensorgane: Herz, Lunge, Leber,
Milz, der Gefässapparat, dann die 6 Venen, im 4. Monat die Glied-
massen, Venen und Nerven u. s. w. In der 27. — 30. Woche bildet sich
der Körper vollkommen aus, in der 38. wendet er sich dem Mutter-
mund zu, worauf die Geburt beginnt. Der fertige Körper enthält
Schleim, Galle, Wind. Jeder dieser Grundbestandteile erfüllt an be-
stimmten Orten fünf Funktionen (vergl. Indien). Als die 7 Stützen
des Körpers gelten: Chylus, Blut, Fleisch, Fett, Knochen, Mark,
Samen, als lebenswichtige Organe werden genannt: Herz, Lunge, Leber,
Milz und als fünftes einmal der Gefässapparat, ein anderes Mal die
Nieren (vergl. China).
Der Gefässapparat umfasst die Arterien , Venen und Nerven. Die
grösseren Arterien gelten als Kanäle des Windes. Die 4 Arten von
Adern oder Nerven sind die: 1. der Vorstellung, 2. des Seins, 3. der
Verbindung, 4. der Lebenskraft. Gruppe 1: 3 vom Nabel aus-
gehende Nerven (Venen): a) zum Gehirn (Schleim und Dummheit);
b) in das Hypochondrium (Galle); c) zu den Genitalien (Wind).
Gruppe 2 : a) erregt vom Gehirn aus ; b) sitzt im Herzen und macht
es der Erinnerung fähig; c) sitzt im Nabel und bedingt das Wachs-
tum, Aenderung des Körperbestandes; d) sitzt im Penis. Jeder
von diesen 4 Nerven hat 500 kleinere als Begleiter. Gruppe 3:
Die Verbindungsnerven (Venen) sind weiss oder schwarz.
24 breite dienen dem Wachstum der Sehnen und der Vermehrung des
Blutes, 8 breite verborgene zur Verbindung der Krankheiten der
Eingeweide und Gefässe, 16 sichtbare zur Verbindung der äusseren
Glieder. Aus diesen entstehen 77 J)lutende (Aderlass ?-)venen. Es
172 Robert Ritter von Töply.
gibt 112 schädliche Venen, 189 gemischter Natur, davon 120 für die
äusseren, inneren und mittleren Teile, diese verzweigen sicli wieder in
360 kleinere, die durch den Körper wie ein Netzwerk gehen. Dann
gibt es noch 19 Nerven (Venen) mit kräftiger Funktion, die vom Ge-
hirn herabsteigen, 13 davon verbinden verborgen die Eingeweide, die
6 sichtbaren die äusseren Teile. Von ihnen breiten sich 16 kleine
Sehnen aus. G r u p p e 4 : Die vitalen Nerven (Venen) : a) begreift
Kopf und Leib; b) steht mit der Atmung in Verbindung; der Haupt-
nerv verbindet die Umlaufskanäle für Luft und Blut und regelt das
Wachstum. Er heisst „die Schlagader" (Aorta?). — Im ganzen giebt
es 900 Nerven und Fasern.
Sonstige Zahlen : 12 grosse, 250 kleine Gliedergelenke, 16 Sehnen,
11000 Kopfhaare, 11 Mill. Haarporen am ganzen Körper, 9 Oeffhungen
und Löcher (an anderer Stelle 13 Oeffnungen und Durchgänge für
den Transport der Luft, des Blutes, der Nahrung beim Manne, 16 beim
Weibe). Der Chylus geht durch 9 Venen vom Magen zur Leber und
wird dort zu Blut.
Ob sich diese Anschauungen des r Gyud bzhi seither geändert
haben, ist nicht bekannt, indes ist dies nicht wahrscheinlich. Bei den
Mongolen spielen die 4 Tantra, die 5 Elemente, noch heute eine
Rolle in der Medizin. Auch sollen die Lama der Mongolen ana-
tomische Zeichnungen und Tafeln besitzen, doch sollen sie
sehr ungenau sein. Auch die Lama der Tibeter sollen sich aus eigener
Anschauung manche anatomische Kenntnis erworben haben, in der
tierischen Knochenlehre ^) bewandert sein und einige Bezeichnungen
für gewisse Muskeln haben.
Wie ersichtlich, verleugnet die tibetische Anatomie ihren indischen
Ursprung nicht, doch finden sich auch Anklänge an China, überdies
aber, besonders in der Gefäss- bezw. Nervenlehre Anschauungen
autochtonen Ursprungs.
Griechen.
Mob. Fuclis hat im 1. Band dieses Handbuchs auch das Wesentlichste aus
der Gesch. der Anatomie mit Literaturbelegen iviedergegeben, so dass das Folgende
nur eine erweiterte Zusammenstellung bietet.
Die ältesten Philosophen ziehen in den Bereich ihrer Spe-
kulationen auch die Anatomie, zum Teil gestützt auf Naturbeobachtung.
Die diesbezüglichen Nachrichten sind jedoch ein Gemisch von Wahr-
heit und Dichtung, in dem der Mythos wie auch bei den Uranfängen
der Kultur anderer Völker (China, Aegypten) eine nicht unwesent-
liche Rolle spielt. So gilt Alkmaion von Kroton (um 550—500)
als Erster, der Sektionen anstellte^), als Entdecker der Sehnerven
^) Im Grassi-Museum zu Leipzig habe ich im J. 1898 eine Statuette tibetischen
Ursprungs gesehen: Ein Skelet von Silber mit einem Wolkenmantel von Gold tanzt
am 1. Bein, hält in der Rechten eine Frucht, in der Linken ein kleines Skelet. Ich
habe Hen-n Dr. H. Lauf er darauf aufmerksam gemacht, doch ist mir nicht be-
kannt, ob die Figur nicht schon vorher publiziert war oder seither publiziert
worden ist.
^) Zweifel darüber schon bei *Harless (Fr.) in Kurt Sprengeis Beitr. z. Gesch.
d. Med. 1794—96, I 3, S. 180. Vgl. Fuchs im I. Bd. S. 173.
Geschichte der Anatomie. 173
(Holilgäiige. jTÖQoi) und der Eustachischen Bohre bei Zieg-en. Em-
pedoklesvou Agrigent (um 490—430) gar als Entdecker des
Ohrlabyriuths. Merkwürdig ist dabei nur, dass Alkmaion und Em-
pedokles bei ihren so eingehenden Untersuchungen des Gehörorgaus
die Entdeckung der Ohrknöchelchen so gelassen auf eine spätere
Zeit, und gleich auf 2000 Jahre aufgespart haben. Zu den Lieblings-
beschäftigungen jener älteren Periode gehört auch die spekulative
Embryologie. Auf diesem Gebiete stellen sie ähnlich wie die vor-
besprochenen orientalischen Völker eine Eeihe von allerdings sehr
zweifelhaften Theorien auf. Hippon (5. Jahrb., 2. Drittel) spricht
schon vom weiblichen Samen, welcher allerdings nicht zur Frucht-
bildung dient, dann von der Entwicklung des Embryo. Bei diesem
entwickelt sich zuerst der Stoff, zuletzt die Nägel und Zähne. Die Aus-
bildung beansprucht 60 (oder 40?) Tage, unter Umständen 4 Monate.
Die erste Beschreibung des Gefässsystems giebt Syenesis der
Kyprier: „Die dicken Adern (al cpUßeg al jiaxüai) verlaufen folgender-
massen: aus dem Auge neben der Augenbraue durch den Rücken
neben der Lunge unter die Brüste geht die eine von rechts nach
links, die andere von links nach rechts, und zwar die von links
kommende durch die Leber in die Niere und in den Hoden, die von
rechts kommende in die Milz, die Niere und den Hoden und von dort
in die Schamteile (to atdolov)" (Arist. bist. III 2, 21). Diogenes
von Appollonia (um 430) giebt schon ein ausführlicheres und
anschaulicheres Bild: ,,Die Adern verhalten sich beim Menschen so:
Die zwei grössten erstrecken sich durch die (Bauch-)höhle neben dem
Rückgrat, die eine rechtsseits. die andere linksseits, eine jede in den
zugehörigen Schenkel sowie aufwärts neben dem Schiüssel(-bein) duixh
die Drosselgegend {öia ziov ocpayCov) in den Kopf. Von diesen er-
strecken sich Adern in den ganzen Körper und zwar von der Rechten
nach rechts, von der Linken nach links und zw^ar die zwei grössten
am Rückgrat in das Herz, andere etwas höher durch die Brüste unter
der Achsel in jeden zugehörigen Arm. Die eine heisst Milzader
{oTclr^vlTiQ). die andere Lebe rader {r,7taxlTig). Jede derselben spaltet
sich an der Hand und zwar einerseits zum grossen Finger (Daumen),
andererseits zur Handfläche {Tagoog), von dieser das dünne und viel-
zweigige in das übrige der Hand und die Finger. Von den ersten
Adern erstrecken sich andere dünnere rechterseits in die Leber, linker-
seits in die Milz und die Nieren. Diejenigen welche sich in die
Schenkel erstrecken, spalten sich am „Schluss" (yiaia rf^v Ttqöocpvoiv)
und erstrecken sich durch den ganzen Schenkel. Die grösste erstreckt
sich an der Rückseite des Oberschenkels und erscheint dick, die andere
etwas dünner als jene einwärts. Dann ziehen sie neben dem Knie
in den Unterschenkel und den Fuss, gelangen gleichwie in die Hände
zur Fusssohle und erstrecken sich von hier in die Zehen. Auch spalten
sich von ihnen zur (Bauch-)höhle und Brusthöhle viele dünne Adern
ab. Diejenigen, welche in den Kopf ziehen, erscheinen in der Drossel-
gegend am Halse gross. Von jeder derselben spalten sich schliesslich
viele in den Kopf ab und zwar von den rechtsseitigen nach links,
von den linksseitigen nach rechts. Sie endigen jederseits in das Ohr.
Neben der grossen befindet sich am Halse jederseits eine andere Ader,
etwas kleiner als jene, in welcher die meisten aus dem Kopfe kommen-
den Adern sich vereinigen. Und diese ziehen dureh die Drosselgegend
einwärts, und ziehen von einer jeden derselben unter dem Schulter-
174 Robert Ritter von Töply.
blatt in die Hände. Neben der Milzader und der Leberader sind
andere etwas dünnere sichtbar, welche die Heilkundigen spalten, wenn
unter der Haut etwas w^eh thut. Wenn aber der Bauch schmerzt,
eröffnen sie die Leberader und die Milzader. Andere ziehen von
diesen unter die Brüste, andere ziehen durch das Rückenmark in die
Hoden, andere ziehen unter der Haut und durch das Fleisch in die
Nieren und endigen in den Hoden bei den Männern, bei den Weibern
aber in die Gebärmutter {sig rög vozegag). Die aus der (Bauch-)höhle
entspringenden Adern sind anfangs weiter, dann werden sie dünner,
bis sie sich von der rechten Seite nach links und von hier nach rechts
wenden. Diese heissen Samenadern {o7teQ(.iaTULdeg). Das dickste
Blut {al^ia) wird von den Fleischteilen aufgesogen, sobald es aber in
diese Gegend übergeht, wird es dünn, warm und schaumig." -) Dies
sind die zwei ältesten Dokumente der griechischen Gefässlehre, darum
hier vollinhaltlich wiedergegeben. Wie ersichtlich, ist bei Diogenes
schon ein bedeutender Fortschritt gegenüber Syenesis merklich, gleich-
zeitig auch, dass der Ausdruck cplfßeg = Adern dem Sammelbegriff für
das blutführende Gefässsj^stem entspricht, und dass das Herz dabei
noch keine besondere Rolle spielt. Die nächste Stufe nehmen dann
Polybos, schliesslich Aristoteles ein. Es ist kein Zufall, dass es ge-
rade Fragmente aus der Gelässlehre sind, die sich aus der ältesten
Zeit der griechischen Anatomie erhalten haben. Auch auf anderen
Vorstufen findet man die Gefässlehre, weil augenfällig, mit Vorliebe
berücksichtigt. Bei Pythagöras von Samos (um 575 — 500) begegnet
man ebenfalls Spekulationen über den Bau der Tierkörper und die
Zeugung, bei A 1 k m a i o n von Kroton, abgesehen von den bereits er-
wähnten Andeutungen anatomischer Kenntnisse ^) wieder embryo-
logische Spekulationen: männlichen und weiblichen Samen, dessen
Ueberwiegen das Geschlecht des Kindes bestimmt, Erstbüdung des
Kopfes beim Embryo. Mit seiner Schrift „Ueber die Natur" beginnt
das griechische medizinische Schriftwesen. Auch bei Parmenides
aus Elea (geb. um 540) begegnet man embryologischer Spekulation:
Abhängigkeit des Geschlechts vom Ueberwiegen des männlichen und
weiblichen Samens, Bildung des Knaben aus dem rechten Hoden in
der rechten Gebärmutterhälfte und umgekehrt, eine Annahme, die
nun gute 2000 Jahre anhält. Aehnliches findet sich auch bei
Herakleitos aus Ephesos (um 535 — 475). Seine Theorien betreffen
wieder die Geschlechtsbestimmung und die Entwicklung der Leibes-
frucht, ^) allerdings in einer von den Vorgängen etwas abweichenden
Art, dann Spekulationen über die Zusammensetzung der Knochen und
der Weichteile. Demokritos von Abdera hat eine Anatomie des
Chamaeleons geschrieben. Plinius*^) nennt das Buch jedoch ein
neues Zeugnis der Lügenhaftigkeit und des Leichtsinns der Griechen,
bespricht Einzelnes daraus (allerdings nichts Anatomisches) und schliesst
mit der Bemerkung, Dem. verdiente Prügel für seine Schwatzhaftigkeit,
sowie mit den Worten, soviel stehe fest, dass dieser sonst so scharf-
-) Arist. bist. III 2, 22—25; vgl. Pseudo-hippokr. de morbo sacro VI (III),
Fuchs II 553 f.
') Anffassimg der Sinnesnerven als „Gänge" (jtö^ot), die Gegenüberstellung
von Adern {<HEßts) und blutführenden Adern {aifiö^^oot y.\ die Kenntnisse der
Luftröhre {dprrjfjirj).
*) Vgl. Fuchs a. a. 0. S. 174 u. f.
*) h. n. 28 k. 29.
Geschichte der Anatomie. 175
sinnige und gemeinnützige Mann durch seinen allzugrossen Eifer, dem
Menschen zu helfen, in gewaltige Fehltritte verfallen ist. Bei Anaxa-
goras aus Klazomenai in Kleinasien (um 500 — 428) findet man die
erste Beobachtung der seitlichen Gehirnhöhlen, dann als pathologischen
Befund das Vorkommen einer einzigen Gehirnhöhle bei einem ein-
hörnigen Bocke, also die ersten Anfänge der Gehirnzer-
gliederung, dann wieder embryologische Spekulationen, wonach den
Samen für die Fruchtbildung nur der Mann liefert, die Knaben aus
dem rechten Hoden hervorgehen, im rechten üterushorn liegen und
umgekehrt.
Vorhippokratische oder zeitgenössische Aerzte des
Hippokrates. Euryphon von Knidos wird von Galenos unter den
ältesten Aerzten, welche sich mit Anatomie befasst hatten, als letzter
erwähnt. ^)
Das Corpus h i p p o k r a t i c u m. Die anatomischen Hauptwerke
dieser Sammlung sind: 1. die Anatomie, 2. das Herz, 3. das Fleisch,
4. die Drüsen, 5. die Natur der Knochen. Doch entspricht der er-
wartete Inhalt nicht immer dem Titel. Das unechte Bruchstück „die
Anatomie" giebt nur eine Uebersicht der Brust- und Bauchorgane, „das
Herz" nur gelegentlich eine, noch dazu recht unvollständige Beschreibung,
„das Fleisch" embryologische Spekulationen über die Körperbestandteile,
„die Drüsen- eine immerhin angehende Aufzählung, „die Natur der
Knochen" nur eingangs deren Aufzählung, im übrigen eine ausführliche
Geiässlehre. Doch enthalten die anderen Schriften soviel Einstreuungen
anatomischen Inhalts, dass man sich einen genügenden Begiiff" von den
diesbezüglichen Kenntnissen der Hippokratiker bilden kann. Man darf
dabei jedoch nicht vergessen, dass die Schriften des Corpus verschiedenen
Zeiten, sowie verschiedenen Verfassern angehören, woraus es erklärlich
wird, dass die anatomischen Beschreibungen nicht immer übereinstimmen.
Die Frage, ob die Griechen Anatomie an Menschenleichen geübt
haben, ist vielfach — vielfach von Anatomen mit philologischen, von
Philologen mit anatomischen Beweismitteln — erörtert worden. ') Eine
genauere Durchsicht der Stellen, welche als Stütze für eine solche
Annahme herangezogen worden sind, *) insbesonders aber auch das
Eingehen auf die thatsächlichen anatomischen Errungenschaften des
Corpus führen zu der Ueberzeugung, dass die Anatomie des Corpus
hippocrat. auf gelegentlichen Beobachtungen, wie sich solche am
Krankenbette ergeben, auf Zergliederungen von Tieren, zum Teil auf
reinen Hypothesen beruht, keineswegs aber auf Zergliederungen von
Menschenleichen.®) Die Topographie des Kopfes, des Halses, des
**) Diokles, Praxagoras, Erasistratos, Pleistonikos, Philotimos,
Mnesitheos, Dieuches, Chrysippos, Antigenes, Medeios, Enryphon,
Gal. K. XV 186.
') Aeltere Litteratur: *.T. Riolau Fil, An veteres Anatomici, praesertim
Galenus, humana cadauera dissecuerint ? Opera Lnt. Par. 1649, fol., p. 44 sq.: *Alb.
V. Hai 1er, Quod corpora hnmana secuerit Hippocrates. Progr. ad priraam anatomen
Gottingensem. Opusc. sua anat. Gotting. 1751, p. 133 sq.; *Chr. G od. Grüner,
Analecta ad autiquitatcs medicas. Vratisl. 1774, II. Hippocrates coi-pora humana
insecuerit, nee neV p. 51— V^ . Sehr eingehend, im ablehnenden Sinne.
•*) Vgl. besonders Grüner.
"j Derselben Ansicht ist auch Schrutz im Gegensatze zuLittre, Hirsch,
Haeser. Vgl. 'Littre, Oeuvres de Hipp. I, 236, 241; *Hirsch, De collect, hipp,
auct. anatomia, Berol. 1864; »Haeser, Lehrb. d. Gesch. d. Med. 3. Bearb. I. 1874,
5. 129 u.f. ; *Schrutz (Ondrej), Hippokratovske näzory o püvodu, skladbe a vykonech
tola lidskeho. V. Praze 1895, 253 Str. = Die Ansichten der Hippokratiker ül)er die
176 Robert Ritter von Töply.
Stammes und der Gliedmassen ist hier ausführlich bekannt. Sehr
schwach ist die Kenntnis des Knochensystems. Die in der Schrift
von den Knochen angegebenen Zahlen sind willkürlich (Hand 27,
Fuss 24, Hals 7, Lenden 5, Rückgrat 20, Kopf 8, insgesamt 91), die
Knochenverbindungen werden zwar schon mit besonderen Namen be-
legt, besondere Beschreibungen fehlen jedoch (im allgemeinen ^vf-ufväg,
nQÖocpvaig, im besonderen ^aq>ri, ^vi.icpvaig, uqOqov, diäqi^QLooig, avvdg-
^Qtüotg). Der Schädel ist nur aus der Betrachtung von aussen her be-
kannt, daher die Erwähnung folgender Knochen: Stirnbein (Augen-
beine i/rcoTiioi), Nasenmuscheln (knorpelig), Felsenbein, Nasenbeine,
Oberkiefer, Jochbein {Cvyü)f.ia), Viiierkiefer {fj xatco yvdO-ug). Dieser gilt
an einzelnen Stellen der Benennung nach als doppelt (yvdi/oi, yiweg).
Die Hauptnähte der Schädelkapsel sind bekannt (Schuppennähte, Kranz-
naht, Pfeilnaht, Lambdanaht), jedoch durch Umschreibungen bezeichnet,
ihre Zahl nicht immer gleich. Das Kiefergelenk gehört zu den am
besten beschriebenen Gelenken. Die Angaben über die Zahl der
Wirbel schwanken. Insbesonders sind bekannt der 2. und 7. Hais-
und der 5. Lendenwirbel. Das Kreuzbein (Heiliges Bein, iegov öoTtov)
wird häufig erwähnt. Der 2. Halswirbel heisst im ganzen ..der Zahn"
{oöovg). Die Zahl der wahren Eippen beträgt 7, die der falschen ist
nicht bekannt, das Brustbein [oif^d-og) mit seinem „Knorpel" (yövÖQov)
ist erwähnt. Vom Schultergürtel ist bekannt das Schlüsselbein
(Schlüssel, xlrjk) das Schulterblatt (oj/^wTildTri) mit dem' „Akromion",
welches als Bindeglied {^vvöeof.iog) des Schlüsselbeins und des Schulter-
blatts gilt, wodurch sich der Mensch von den anderen Tieren unter-
scheide. ^") Auf den Oberarm {ßgayitov) folgt der Vorderarm mit dem
oberen und unteren Bein (radius, ulna), die Bezeichnung Olekranon
kommt einmal vor.^') Eine eingehendere Kenntnis des Ellbogengelenkes
besteht nicht, ebensowenig eine solche des Handskelets. Die Hüft-
gürtelknochen sind nicht genauer bekannt. Die Unterscheidung zwischen
Darmbein und Sitzbein kommt erst bei Galenos vor. Das Scham-
bein wird jedoch schon erwähnt. Das Hüftgelenk mit dem ligam.
teres ist recht gut bekannt, ebenso das Oberschenkelbein, die Knie-
scheibe {s7tii.ivlig, f-iv'^.1]). keineswegs jedoch das Innere des Knie-
gelenks. Vom Fusse wird nur erwähnt das Sprungbein unter dem
Namen „Würfel" (daTQdyaXog), der Knochen der Ferse {miQvri), keines-
wegs aber die übrigen Bestandteile, ausser den Zehengelenken. Eine
eingehendere Kenntnis der Muskeln besteht nicht, nur in den koischen
Vorhersagungen geschieht eine Erwähnung von „Muskelköpfen". ^-) Der
Begriff der Sehnen ist ganz unklar {revqa, zevovieg, vevQcböseg zevorteg
u. a.). Mit einigem guten Willen kann ein geübter Anatom und
Historiker immerhin Andeutungen aus dem Gebiete der Muskellehre
finden. Sie betreffen folgende Einzelheiten: Schläfemuskeln, Kau-
muskeln, Nackenmuskeln, Deltamuskel, grosser Brustmuskel, m. biceps
brachii, m. brachial, ant., m. triceps brachii, m. ulnar, int, flexor
digitor. subl., m. psoas, m. biceps femoris, die Achillessehne u. dgl. ^'^j
Entstehung, Zusammensetzung u. die Funktionen des menschl. Körpers, Prag 1895,
253 S.; "Schrutz (0.), Anatomicke a fysiologicke spisy sbirky Hippokratovske.
casopis lekafü cesk^ch 1897 = die anat. u. physiol. Schriften des Corp. hipp. Zeitschr.
der tschechischen Aerzte, 1897, S.A., 44 S.
^<') Die Selhständigkeit des Akr. begründete später Eudemos u. Galenos.
") Epid. VII 61.
12) L. V 698.
") Vgl. Schrutz, Hipp, näzory, S. 120 u. f.
Geschichte der Anatomie. 177
Doch sind dies zumeist Gegenstände, welche nicht auf Rechnung- einer
besonderen Kenntnis der Anatomie zu setzen sind, sondern jedem ge-
bildeten Künstler auffallen und in der ältesten griechischen Plastik
auch thatsächlich berücksichtigt wurden. Die Benennung des Zwerch-
fells als fpQsvsi; wird angefochten. ^*) Die Eingeweidelehre ist höchst
oberflächlich. Sie stützt sich, abgesehen von der Beobachtung einiger
leicht zugängiger Teile, auf die Tieranatomie. So werden die Einzel-
heiten der Mundhöhle, der Rachen, die Speiseröhre, der Magen, die
Därme, die Leber, deren Lappen, Pforte, die Gallenblase. Milz, das
Bauchfell, das Mesenterion und Mesokolon erwähnt, aber eine genauere
Beschreibung nicht dargeboten. Bekanntlich hat eine solche für das
Bauchfell erst Galenos,^^) später Vesal und Fabricius ab Aqua-
pendente geliefert. Am Kehlkopf wird die Ritze und der Kehldeckel
erwähnt, die Luftröhre teils als Arterie, teils als Sjrinx bezeichnet.
An der Lunge werden 5 Lappen unterschieden, die Nieren als herz-
förmig bezeichnet, die Harnblase sowie die Harnröhre (urethre, Ureter),
die Hoden, die Samenblasen, die ductus ejaculatorii, das Schamglied
und die Vorhaut sind bekannt. Die Gebärmutter kommt unter ver-
schiedenen Benennungen vor. Die breiten Mutterbänder werden
deutlich erwähnt, die Hörner der Gebärmutter nur einmal ^^). Die
weibliche Scham ist nur im allgemeinen bekannt — ein Beweis für
die geringe gynäkologische Thätigkeit der Hippokratiker — hiogegen
wird an den Brüsten die Warze und der Warzenhof unterschieden.
Der Embryologie ist viel Platz eingeräumt, das Chorion, die
Kotyledonen, der Nabel, die Nabelschnur des Erabryon erwähnt. Mit
„urachos" wird die Herzspitze bezeichnet!'')
Die Gefässlehre nimmt im Corpus einen unverhältnismässig
breiten Raum ein. obzwar die Begriffe hier noch nicht genau abge-
grenzt sind, da die Unterschiede zwischen den einzelnen Gefässen,
deren Verhältnis zu den Nerven und Sehnen nicht genau festgestellt
waren. '^) Eine übersichtliche Schilderung des Systems geben die
Schriften „Natur der Knochen- '^) und ..Natur des Menschen'" : '-•^) Die
grössten (dicksten) Adern verhalten sich folgendermassen : Es giebt
4 Paare. Paar I geht hinten vom Kopfe durch den Hals, dann
aussen längs des Rückgrats nach den Hüften zu dem Schenkel,
durch die Waden zu den äusseren Knöcheln in die Füsse. Paar 11
am Kopf längs der Ohren durch den Hals (afpayhideQ\ innen längs
des Rückgrats an den Lenden entlang in die Hoden und den
Schenkel und durch die Kniekehlen an der Innenseite hindurch, dann
durch die Waden nach den inneren Knöcheln und in die Füsse.
Paar HI geht von den Schläfen durch den Hals zu den Schulter-
blättern, dann wendet es sich nach der Lunge, und es gelangt dann
die von rechts nach links verlaufende Ader unter der Brust nach der
Milz und nach der Niere, die von links nach rechts verlaufende von
") L. VI 392.
1») K. II 556— .067.
'«) L. VIII 476.
*') Ansführliches bei *Fasb ender, Entwicklungslehre, Geburtsh. u. Gyuäk.
in den hippokr. Schriften, Stutt;». 1897.
**) Vgl. die Bezeichnungen fUßte, fkeßla, äyyeTa, rev^ea, £7ti6^oai, oxeroi, oSoi,
OiöSotj fXTTocfivädss öiaaxiöe», vevgov Ivatftov, vavooxoiXtot.
'») Kap. 9.
^o) Kap. 11 (Fuchs XII).
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 12
178 Robert Ritter von Töply.
der Lung-e unter die Brust, nach der Leber und der Niere, beide aber
laufen im After aus. Paar IV geht von dem vorderen Teil des
Kopfes und den Augen nach dem Halse herab und unter die Schlüssel-
beine, dann durch die Arme oberhalb nach der Armbeuge, alsdann
durch die Vorderarme nach den Handwurzeln und den Fingern, dann
wieder zurück von den Fingern durch die Ballen der Hand und durch
die Vorderarme nach der Armbeuge, durch die Oberarme und zwar
durch deren unteren Teil nach den Achselhöhlen : oben von den Rippen
aus gelangt die eine nach der Milz, die andere nach der Leber,
schliesslich laufen beide über den Leib hinweg in den Geschlechts-
teilen aus. Als Urheber dieser Beschreibung ist jedoch nicht Hippo-
krates selbst, sondern dessen Schwiegersohn P o 1 y b o s verbürgt.^^) Die
sonstigen Schilderungen, besonders in der Schrift „Natur der Knochen"
lassen stellenweise einige Klarheit vermissen. Bemerkenswert ist, dass
das Herz noch immer nicht als Mittelpunkt des Systems gilt. Dem-
entsprechend beschränkt sich auch die Beschreibung auf die Erwähnung
der Ohren, der Spitze (urachos), der Scheidewand, der Kammern, der
Mündungen (stomata), der Halbmondklappen, des Herzbeutels. Von
den peripheren Blutgefässen sind folgende wenigstens angedeutet:
Aorta, aa. intercostales, a. femoralis, aa. front, et temp., a. brachialis,
a. subclavia, a. pulmonalis, vena cava, portae, mesaraicae, azygos, pul-
monales, sul3clav., jugul. comm.?, intt., extt. postt., cephalica, tempo-
rales, diploeticae, ophthalmica, sublinguales, diaphragmat., niammar.,
epigastr., mammar. int., thorac. extt. resp. thoracico-epigastr. longa,
plexus pampiuiform., basilica, mediana, cephalica, saphena. Von
Drüsen sind bekannt die glandulae mesaraicae, auriculares, sub-
maxillares, jugulares, axillares, inguinales, dann die Tonsillen, was sich
aber nicht auf anatomische Forschung, sondern auf die Beobachtung
krankhafter Zustände gründet. Sehr unklar und unzureichend ist die
Neurologie, was ja schon dadurch begründet ist, dass der Begriff
des Nerven noch nicht genau festgestellt ist. Abgesehen vom zwei-
teiligen Gehirn, dessen zwei Häuten und dem Rückenmark sind An-
deutungen folgender Nerven festzustellen: N. olfactorius, opticus,
trigeminus, vagus, plexus gastrici, hepaticus et lienalis, laryngeus,
recurrens, plexus l)rachialis, n. ulnaris, intercostalis, cruralis, sympa-
thicus. Von einem System ist jedoch nirgends die Rede. Das Auge
ist nur äusserlich bekannt, ebenso das Ohr bis zum Trommelfell ein-
schliesslich desselben, die Nase, Haut, Haare und Nägel, soweit man
sehen kann.--) Im grossen Ganzen sind die anatomischen Kenntnisse
der Hippokratiker, mehr der Fleischbank als dem Seziersaal entlehnt,
auf einer recht primitiven Stufe. Von einer systematischen Forschung
ist noch keine Spur, eine systematische Beschreibung findet sich erst
bei Polybos, doch ist diese noch recht hypothetisch und betrifft nur
das Gefässsytem. Die Anatomie der Hippokratiker bedeutet gegen-
über derjenigen der Vorgänger keinen wesentlichen Fortschritt, sie
fügt sich völlig ein in den Kreis der bisherigen Anschauungen vom
Baue des menschlichen, eigentlich des tierischen Körpers.
21) Arist. h. an. III 4.
"-) Vgl. im Einzelnen Schrutz, Hipp. näz.
'^■') Riiuph. DR. 162.
2*) Gal. K. IV 674, V 182, 185, XV 136.
«) Gal. K. XIV 744.
Geschichte der Anatomie.
179
Unmittelbare Nachfolger des Hippokrates. Unter
ihnen ragen vor allem die Anhänger der sikelischen Schule her-
vor. Eine Uebersicht der Schule und der Ausläufer derselben giebt
die folgende Tabelle.
Empedokles
Pausanias Gorgias Philistion v. Lokroi Akren
Euryodes
Eudoxos
Chrysippos v. Knidos
Aristoffcnes Medios Metrodoros
Diokles v. Karystos
Praxagoras v. Kos
Erasistratos Kleophantos Herophilos
Xenophon v. Kos Mnesitheos Pleistonikos Philotimos
Von Philistion erwähnt Rhuphos, er habe gewisse Adern, die
durch die Schläfe zum Kopf ziehen, äerovg (Adler, Hausgiebel) ge-
nannt. Chrysippos hat die Hirnhöhlen, sowie das Herz als mit
Pneuma gefüllt aufgefasst und mit Anderen angenommen, es entwickele
sich als erstes Organ und sei die Ursprungsstätte der Gefässe und
Nerven, wogegen Galenos polemisiert. Weitaus hervoiTagender als
Chrysippos ist Diokles von Karj'stos, das Haupt der dogmatischen
Schule nach Hippokrates. Die Hauptstätte seines Wirkens war Athen.
Er hat sich besonders mit dem Gefässsystem befasst, das Herz als
die Quelle des Blutes angesehen. Im Blutgefässsystem unterscheidet
er als zwei Grundstöcke die „Arterie" (Aorta) und die „Hohlader";
aus letzteren gehen wieder die anderen ..Adern" hervor. Die „Arterie"
mündet in die linke Herzkammer und erstreckt sich bis zu den
Nieren und der Blase. In der Unterscheidung jener beiden vom
Herzen ausgehenden Grundstöcke schliesst er sich der im Buche vom
..Fleisch" des Corp. hipp. (K. 5) ausgesprochenen älteren Ansicht
an, „vom Herzen gehen 2 hohle Adern aus: die eine heisst Arterie, die
andere Hohlader". Von Venen kennt er die ..Lebervene", die Adern
der Lunge, die Interkostalvenen, die tiefen Venen des Kopfes, die
Sublingualvenen, die innere und äussere Vene der Armbeuge und
der Hand. Hingegen ist ihm der Begriff der Nerven noch immer
nicht klar, wie auch seinem Schüler Praxagoras, der die Nerven
vom Herzen ausgehen lässt bezw. als die feinsten Ausläufer der
Arterien auffasst, die durch Zusammenfallen ihre Hohlräume eingebüsst
haben, eine Theorie, die noch von Aristoteles und Chrysippos vertreten
wurde. Die Schrift ttsq! xaQÖirjg des Corp. hipp, dürfte zu seiner Zeit
entstanden sein. -^) Leider kennen wir ihn nur bruchstückweise, was
umsomehr zu bedauern ist, da er sowie sein Schüler Praxagoras
die ersten sind, die je eine „A natome" betitelte Schrift verfasst haben.
Den erlialtenen Nachrichten zufolge dürfte auch er nur Tieranatomie
getrieben haben. So hält er an Kotyledonen der Gebärmutter fest,
die schon Alkmaion angenommen haben soll, Demokritos, Hippon,
") Fredrich, Wellmann.
12*
180 Robert Ritter von Töply.
Diogenes von Apollonia anerkannt haben, und die erst seit Aristoteles
verschwinden. Andererseits gedenkt er der „Gänge" von der Leber
zur Gallenblase, er kennt den „Magenmund'', den „Blinddarm", das
orificium ilei, orificium intestini recti, -') die Eierstöcke („Hoden"), die
Eileiter („Samengefässe"), lässt aber letztere, wie auch später noch
Herophilos, an den Blasenhals herantreten. Die Schamlippen nennt
er „Abhänge" {v.Qri!.ivoL). Wellmann steht nicht an, nach Alkmaion
ihm das grösste Verdienst um die Ausbildung der griechischen Ana-
tomie zuzuschreiben. '^^) Die Anatomie des Praxagoras (um 340 — 20)
ist verloren gegangen. -") Er verwechselte zwar Nerven, Sehnen und
Blutgefässe und wird deshalb von Galenos zurückgewiesen. "**), erklärt
das Gehirn für einen Anhang des Rückenmarks, '^'^) das Herz für den
Ausgangspunkt der Nerven, •''-) ist aber doch als Gründer einer aus-
gebreiteten Anatomen schule bemerkenswert. Unter seinen Schülern ragt
Xenophon von Kos durch seine Verdienste um die schon vor ihm
durch Aristoteles begründete anatom. Nomenklatur hervor. ^'^) P 1 e i s t o -
nikos zählt bei Gal. a. a. 0. zu den ältesten Anatomen, ebenso Philo-
timos (um 290 V. Gh.). Die Anhänger des Praxagoras und Philotimos
haben die Muttertrompeten „Busen" Uölnoi) genannt, während sie
Eudemos „Fangarme" {Ttlt-AxävaL) benannt hatte. =^^) Mnesitheos
zählt bei Gal. a. a. 0. zu den ältesten Anatomen (ebenso D i e u c h e s
von Athen).
Piaton (427 — 347) kann in einer Darstellung der Geschichte der
Anatomie nicht gut übergangen werden, da seine im „Timaios" dar-
gelegten Ideen in späteren Werken anatomischen Inhalts nicht selten
durchschlagen. Er selbst war in der Anatomie nicht sehr be\\^andert
und steht ihr nur als geistreicher Dilettant gegenüber. ='^)
Aristoteles (384 — 322) hat sich um die Naturgeschichte der
Tiere bleibende Verdienste erworben. Der Anatomie des Menschen
steht er in seinem Hauptwerke jedoch fremd gegenüber. Die äussere
Topographie ist ihm selbstverständlich bekannt, das Uebrige entnimmt
er jedoch der Tieranatomie, so die Besprechung des Gehirns, der Hirn-
häute und Kammern, des Sehnerven als Hohlgang {nÖQog), der Ohr-
trompete, hingegen leugnet er den Zusammenhang zwischen Gehirn
und Ohr, behauptet, das Hinterhaupt sei leer, ist über die Schädel-
nähte ganz im Unklaren und beschreibt sie unrichtig. Er kennt das
Zäpfchen, den Kehlkopf mit Kehldeckel, die Luftröhre, deren Gabelung
und Uebertritt in die Lunge, ist aber über den Zusammenhang
zwischen Lunge und Herz im Unklaren. Er kennt die Speiseröhre,
den Magen und Darm, das Netz und das Mesenterium. Er stellt das
'^') Die Blinddarmklappe, s. Vindician.
**) *M. Well mann, D. Fragmente der sikelischen Aerzte Akron, Philistiou
und die des Diokles v. Karystos, Berl., Weidmann, 1901. 254 S.
^^) Gal. K. XIV 683 nennt als Vertreter der logischen Sekte: Diokles den
Karystier, Praxagoras von Kos, Heropliilos von Chalkedon, Erasistratos von Chios,
Mnesitheos von Athen, Asklepiades von Bithynien. Kianos „den Prusier".
»ö) Gal. K. V 188-200.
*i) Gal. K. III 671.
32) Gal. K. V 187.
•■'») Gal. K. XIV 700.
"') Herophilos hat sie mit einem Halbkreis, Diokles mit wachsenden Hörnern
verglichen, Gal. K. II 890.
^*) Vgl. besonders vom Kapitel 20 an, wo die Hypothese von den Elementar-
dreiecken einsetzt. Textausg. des Tiraäos und Kritias mit gegenüberstehender
deutscher Uebers., Leipz., Engelmaun, 1853.
Geschichte der Anatomie. 181
Herz als Mittelpunkt des Gefasssystems hin. beschreibt weitaus besser
als Syenesis, Diogenes und Polybos das Gefässsystem, jedoch nur
dessen Hauptstämme und deren Aeste. die Aorta, die Hoblvene bis
zu den Händen und Füssen so^\ie bis zum Kopf und zu den Bauch-
eingeweiden. Die Holilvene und Aorta nennt er noch immer ..Adern",
bemerkt jedoch, dass letztere von Einigen ..Aorte" genannt ^ird,
weil sie in der Leiche sehnig aussieht. „Das Herz hat bei allen
Tieren Höhlungen im Innern, aber bei den ganz kleinen ist kaum
die gi'össte sichtbar, bei denen von mittlerer Grösse auch die zweite,
bei den grössten aber alle drei." Das Herz des Menschen sowie die
Herzklappen kennt er nicht. Er erwähnt das Zwerchfell, die Leber und
Gallenblase, die Nieren. Nierenbecken. Harnleiter, Xierenvenen, Harn-
blase, Harnröhre. Rute, die Hoden, deren Blutgefässe, den ..Kopf" des
Hodens (Nebenhoden) die Samengänge und deren Yerlaull aber nicht die
Samenblasen. Er beschreibt die Gebäimutter (zweihörnig. da sie nahe
den Schamteilen liegtj aber nicht deren Adnexe, erwähnt der Kotyledonen
beim Hornvieh und nur mit einer Zahnreihe ausgestatteten Tieren im
Gegensatze zur innen glatten Gebärmutter der Lebendiggebärenden.
Wo er vom Menschen spricht, trachtet er Unterschiede zwischen Mann
und Weib zu finden. (IIL 7. Das AVeib hat eine kreisförmige Schädel-
naht, der Mann drei oben zusammenstossende Nähte.) In der all-
gemeinen Anatomie geht er über die gewöhnlichen L'uter-
scheidungen von Adern, Sehnen, Fasern, Knochen, Knorpeln, Hörn, Haut,
Haaren, Membranen. JFleisch. Fett, Blut. Mark, Milch, Samen nicht
hinaus. ^^) In der Embryologie hat er gegenüber seinen Vorgängern
durch Studium der Entwicklungdes Hühnchensim Ei, Bildung
des Herzens. Gehirns, der Augen, der AUantois und der Dottergefässe
u. a. einen wesentlichen Schritt nach vorwärts gemacht.^') Laertios
Diogenes nennt noch folgende, leider verschollene Werke des Aristo-
teles anatomischen Inhalts: avarour/Mv 8 Bücher, l/j.oyi] dvaxoiuwv
1 Buch, vneg tcov ovvd^hwv Lwiov 1 Buch. ^^) Der anonyme Verfasser
der Lebensgeschichte des Aristoteles bei Menagios rechnet noch eine
ctvaToui] äv^QcüTiov hinzu. Ein späterer Auszug aus Ai-ist. ist der sog.
Anonymus des Lauremberg = ävtovvuov aiaayioyrj ävaxouiya]'^^)
Straton, der Nachfolger des Theophrastos in der peripat^t.
Schule, hat u. a. über die menschliche Natur, die Hervorbringung von
lebendigen Jungen, die Geschlechtsvereinigung geschrieben. Klearchos
von Soloi schrieb ttsqI oy.e/.€Tü)v.^*') Kallisthenes von Olynthos (gest.
um 326), Neffe des Aristoteles, ein Werk über Anatomie.
Alexandriner. Die Blütezeit der alexandrinischen Schule unter
den Ptolemäern dauerte nicht lang. Ptolem. I. Soter I. regierte 304
bis 285, und schon Ptol. VIII. Euergetes 11. (reg. in Aegypten 170
bis 163, in Kyrene bis 145, dann in Aegypten und Kyreue bis 116)
vertrieb die Gelehrten einschliesslich der Aerzte. Leichensektionen
»») Vgl. bes. Tierkunde B. III.
'') Vgl. Tierkunde B. 5, 6. Zeugungs- u. Entwicklnngsgesch. 1—4: Text-
ansgaben mit gegenüberstehender deutscher Uebersetzuug : *Tierkunde von Aubert
u. Wimraer, Lpzg., Engelmann, 1868, 2 Bde., *Fünf Bücher v. d. Zengnng u. Ent-
wicklung d. Tiere v. Aubert u. Wimmer, das. 1860: Erstere m. Taf., darunter
Darstellung des Gefäss.systems nach Diogenes, Polybos., Aristoteles.
3*1 V 1, Xn § 25.
*»J Gute Ausg. mit lat. Uebers. von »Triller u. Bemard L. B. 1744.
***) Fragmente bei Athenaios, Deipnosophist.
182 Robert Ritter von Töply.
sind hier (und zwar nur hier) sichergestellt, doch scheinen sie sich
nur auf eine Eröffnung der Bauchhöhle, dann der Brusthöhle be-
schränkt zu haben. Der hervorragendste dieser Alexandriner ist
Herophilos (4. Jahrh. 2. Hälfte bis 3. Jahrh. 1. Hälfte?). Seine
anatomischen Schriften*^) sind verloren, doch sind die Leistungen von
den Nachfolgern sattsam hervorgehoben. Sie betreffen 1. Zergliederung
menschlicher Leichname, Vivisektionen (sehr fraglich), anatomische
Technik (darsis); 2. Unterscheidung des Grosshirns und des Kleinhirns,
Gehirnhäute, Blutsinus (torcular Herophili), Plexus, Hirnhöhlen, Schreib-
feder (calamus Herophili), Hirnnerven, Rückenmasksnerven, Sinnes-
nerven, Herznerven, Häute des Auges; 3. Unterschied zwischen Schlag-
und Blutadern, Dicke der Arterien, Lungenpulsader, Bau des Herzens,
Ursprung der Arterien, Gehirnvenen, Chylusgefässe des Mesenteriums;
4. Speicheldrüsen, Pankreas; 5. Zwölffingerdarm; 6. Vergleichung der
menschlichen Leber mit der Tierleber, Beschreibung derselben, Ab-
weichung in Gestalt und Lage ; 7. Blutgefässe der Hoden, Nebenhoden,
Samengang, Samenbläschen, Gestalt des Uterus, Blutgefässe, ver-
schiedenes Verhalten des Halses, Angabe des Muttermundes, Eier-
stöcke. Beschreibung, Vergleichung, Muttertrompeten (fallopische
Tuben); 8. Zungenbein, Schienbein; 9. Samenbildung, Milchbildung,
Bewegung des Fötus. Die Gebiete, die er vorzugsweise bearbeitet hat,
sind also das Nervensystem, das Blutgefässsystem, die Eingeweide-
lehre. Mit ihm beginnt die systematische Forschung in der
Anatomie.^-) Eudemos, von Galenos gleichzeitig mit Herophilos,
jedoch vor diesem genannt, hat sich nicht nur auf dem Gebiete der
Drüsen und Nerven, sondern auch auf dem der Gefäss- und Knochenlehre
hervorgethan. Mit Eudemos und Herophilos beginnt das Studium der
Osteologie. Eudemos insbesondere hat das Akromion als ostarion
= Knöchelchen bezeichnet, den Griffelfortsatz des Felsenbeins mit
einem Hahnen sporn verglichen, aber unbenannt gelassen.
Die zweite herophileische Schule (in Menos Karu) hat
sich um die Anatomie nicht verdient gemacht.
Erasistratos (um 330— 250/40) hängt sowohl der Abstammung
als dem Studien gang gemäss mit der Schule des Chrysippos zu-
sammen. *=^) Er gehört neben Herophilos auch als Anatom zu den
ersten Vertretern der streng wissenschaftlichen Forschung. (Vgl. über
ihn die ausführliche Darstellung von Rob. Fuchs in diesem Hand-
buch I 295 — 306.) Die Schule des Erasistratos fand in dessen Schüler
Straton, und wieder in des letzteren Schüler Apoll onios von
Mempliis ihre Fortsetzung. Dieser wird in dem fraglichen, dem
Galenos zugeschriebenen Buch „Einleitung o. d. Arzt" gelegentlich
■") avnrofuxd^ wenigstens 3 Bücher, rcsol ScpO-alficov = üb. d. Augen.
*^) *Marx (K. F. H.), Herophilus, Carlsr. u. Baden 1838, 8», 103 S., *De Hero-
phili celeberrimi medici vita etc., Gotting. 1840, 4**, 60 p. — Nachtrag dazu aus
Theophilos p. t. t. anthr. katask. IV 5: „die Nachfolger des Her. haben den aadriv
= Rinne sowohl Tivekoi = Trog als auch yiovri = Trichter genannt".
■**) Vgl. die obige Uebersicht der Schule des Empedokles, dann beistehende
Stammtafel :
Kretoxene Medios
Gatte: Kleombrotos
Erasistratos.
Geschichte der Anatomie. 183
der Bemerkung: erwähnt, dass Aristoteles als Lehrer und schrift-
stellerisch zuerst die äusseren Körperteile und deren Benennungen
behandelt habe. Später haben sich auf diesem Gebiete besonders die
Nachfolger des Erasistratos hervorgethan. wie Appolonios von
Memphis und vor ihm Xenophon. ^^) In den ..medizinischen De-
finitionen" wird Apoll, v. M. neben Herophilos und Athenaios
Attaleus als auf diesem Gebiete thätig erwähnt.*') Her gehört
auch Martianos (Martialios = Martialis), Verf. zweier Bücher über
Anatomie. **')
Aratos, Aristogenes. Der erstere (um 315 — 240) soll eine
Embryologie geschrieben haben,*') der andere (um 278) wird neben
Medios als eifriger Anhänger des Chrysippos genannt. *^)
Pneumatiker und Eklektiker, Ehuphos. Athenaios
von Attaleia (um 41 — 54 n. Ch.), Gründer der pneumatischen Schule
in Eom. hat im VII. Buch seines vielbändigen Werkes auch eine
Embryologie gegeben, überdies auch ..Definitionen" geschrieben.
Ehuphos von Ephesos verdankt seine anatom. Bildung dem Studium
in Alexandrien, welches sich in der römischen Kaiserzeit eines
neuen Glanzes erfreute. Seine anatomischen Schriften haben sich
wenigstens teilweise erhalten. Sie sind durch die zahlreich einge-
streuten geschichtlichen Bemerkungen sehr wertvoll. Es sind dies
a) Benennung der Körperteile des Menschen" und ein er-
gänzendes Anepigraphon dazu; b) ,.Knochen", die einzige aus der
vorgalenischen Zeit erhaltene Osteologie. Bruchstück einer grösseren
Schrift, in welcher dem vorhandenen Stücke eine Eingeweidelehre
vorangegangen war. Das erste Werk ist eine Einleitung zur prak-
tischen Zergliederung des Afi'enkörpers mit der Bemerkung, dass die
Alten derartige Dinge allerdings an Menschen gelernt hatten, das
andere eine schon recht eingehende Knochenlehre, mit genauerer Be-
rücksichtigung der am Schädel aussen (aber nicht an der Basis) sicht-
baren Nähte, Angabe der Zahl der Carpusknochen. noch ohne Unter-
scheidung der Bestandteile des Hüftbeins, mit Unterscheidung des
talus und calcaneus, aber ohne genauere Kenntnis der Tarsusknochen.
Soranos aus Ephesos hat ebenfalls in Alexandrien studiert
(Blütezeit in Eom um 110) und u. a. ebenso wie Ehuphos eine Nomen-
klatur hinterlassen,''") welche zwar im Original verloren, aber noch
einigermassen rekonstruierbar ist.
Alexandriner des 2. Jahrhunderts. Dahin zählen als
Anatomen Herakleianos **') und Julianos,*^) beide Lehrer des
Galenos in Alexandrien.
Schule des Marino s. Eine Uebersicht derselben giebt die
folgende Tabelle: ")
*') Gal. K. XIV 699 fg.
*•') Gal. K. XIX 347.
*») Gal. K. XIV 615, XIX 18.
*'') Vgl. dieses Handb. 1 318.
*") G. K. XI 197, 252; XV 136 hier wohl ein Schreibfehler: Antigenes.
*") TTfoi ofo^aaifüf {eTVfioXoyiiüf) toi aaiftmos rov dv&ocÖTiov etC. = -t. xara-
oxev^S rov awitmos rov df^oeö:Tov.
^«) Gal. K. X 53 sq., XII 177, 95, XV 136.
si\ X 53.
") Nach Gal. K. TI 217, 283, V 112, XV 136. XVI 197. 524, XIX 22, 57.
184
Robert Ritter von Töply.
Marinos
1
Kointos
Satyros
Numisianos
(Korinth)
Lykos
(Makedouier)
Pelops
(Srayrna)
Galenos
Marinos ist der glänzendste der unmittelbaren Vorgänger des
Galenos. Dieser beruft sich wiederholt auf ihn und hat sogar einen
4 bändigen Auszug aus dessen 20 bändiger Anatomie veranstaltet, über-
dies das Inhaltsverzeichnis überliefert.^^)
I = Marines 1 — 6. 1. Vorrede, dann Haut, Haare, Nägel, Fleisch, Speck,
Fett; 2. Drüsen, Häute, Membranen, Bauchfell, Brustfell, Zwerchfell; 3. G-e-
fässlehre und ob in den Arterien naturgemäss Blut enthalten ist; 4. Kraft
und Bethätigung der Arterien, deren Ursprung u. s. w., Harnleiter, Harnröhre,
Nabelschnur, Samengefässe, Gallengefässe und -gänge und Drüsen, Drüsen-
gefässe, Kehlkopf, Milchgänge der Brust, Ergüsse im Körper, Inhalt der
Gefässe, Nahrung; 5. Kopf, Nähte, Fugen aller Schädelknochen, deren
Höhlen, Unterkiefer, ob er zusammengewachsen sei, Zähne, Kehlbein und
anliegende Teile; 6. Hodensack, Heiligenbein, Hüfte, Rippen, Brust, Schulter-
blätter, Schlüsselbeine, Oberarm, Vorderarmknochen, Handwurzelknochen,
Finger, Schenkel, knorpeliger Knochen der Kniee (Kniescheibe). II ^
Marin. 7 — 10. 7. Verhältnis des Schädels zu den Hirnhäuten und anderen
Häuten, Gesichtsnerven, Schläfe- und Kaumuskeln, Muskeln der Wangen
und Lippen, Zahntächer, Kiefermuskeln, Muskeln an der Innenseite des
Unterkiefers, Muskeln an den Nüstern, der Zunge, Zungenmuskulatur,
Muskeln um das Auge ; 8. Mund, Lippen, Zähne, Zahnfleisch, Zäpfchen,
Kehldeckel, Rachen, Mandeln, Nase, Nüstern, Ohren, Hals und Halsmuskeln ;
9. Zwerchfellmuskeln, Rückenmuskeln, Intercostalmuskeln, Bauchmuskeln,
Muskeln des Oberarms und der Schulter, des Vorderarms, der Hand ;
10. "Wadenmuskeln, Schenkelmuskeln, Kniegelenk. III = Marinos 11 — 15.
11. ,,0b in die Lunge Flüssigkeit, und ob beim Essen in den Magen Luft
gelangt", Schlund, Speiseröhre, Lunge, Herz, Herzbeutel, Thymosdrüse ;
12. Leber, Galle, Milz, Bauchhöhle, Mesenterium; 13. Darm, Nieren, Harn-
leiter, Nabelschnur, Harnröhre, Rute, männliche und weibliche Scham, Ge-
bärmutter, Schwangerschaft, Hoden (Marinos nennt sie ,, Zwillinge" öidvf.ioi,),
deren drüsige Substanz; 14. Anatomie der Venen oberhalb der Leber;
15. die vom Herzen zur Leber führende Vene, alle Venen unterhalb des
Zwerchfells. Alle Arterien des Tieres (Marinos schreibt also Tieranatomie).
IV ^= Marinos 16 — 20. 16. Das Gehirn und dessen Funktion, ob ihm die
Pulsbewegung innewohnt, ob wir darein Atem einziehen, das Rückenmark,
die Meningen; 17. die Herrschaft des Gehirns; 18. die willkürlichen Thätig-
keiten, die Unterschiede der Nerven, deren einzelner Ursprung; 19. Ge-
5») Im übrigen über Marinos vgl. Gal. K. II 280, 283, IV 646, XIII 25,
XV 136, XVIII B. 926, 935, XIX 25.
Geschichte der Anatomie. 185
hirnnerven, Geruch, die Augennerven, welche Herophilos und Eudemos
Röhren nennen, ferner . . . (hier beginnt eine Lücke).
Man begegnet hier schon einer vollständigen systematischen Ana-
tomie nebst angeschlossenen physiologischen Bemerkungen. Kointos
hat nichts geschrieben. Umso fruchtbarer war wieder Lykos. Er
hat eine übrigens stellenweise lückenhafte ^luskelanatomie verfasst,
welche ungefähr 5000 Zeilen hatte. ^^ Galenos bekämpft ihn, weil er
statt 10 Hüftmuskeln nur 5 kennt. •'^) die mm. pterygoidei sowie die
breiten Halsmuskeln übersehen hat, ^^j nur 5 Augenmuskeln annimmt ^')
XL. s. w.. hat aber nichtsdestoweniger einen zweibändigen Auszug aus
dessen Werken veranstaltet. Auch die Muskelanatomie des Pelops
ist gleichwie die des Lykos und Ailiauos d. J. geschäzt gewesen.
Pelops hat sie im 3. Buche seiner Einleitung zu Hippokrates mit der
übrigen Anatomie abgehandelt, Ailianos d. J. in einem Auszuge aus
den anatomischen Schriften seines Vaters. Sowol die Schriften des
Lykos als auch die des Pelops und Ailianos, des Vaters wie des Sohnes,
sind jedoch verloren gegangen.
Galenos (Sommer 130 — Sommer 200?). Seine Werke sind in
diesem Handbuch I 381 fg. der Entstehungszeit nach aufgezählt. Hier
folgt eine Uebersicht der anatomischen Schriften nach deren Inhalt,
beigesetzt die in jener Aufzählung die Zeitfolge andeutenden Nummern.
A. Schriften allgemeinen Inhalts: Anatomie an Lebenden,
2 Bücher (42), Anatomie an Toten, 1 Buch (43), Anatomische
Streitfragen, 2 Bücher (44). Die Urschriften sind verloren, die
arabische Uebersetzung von Hobeisch ben-el- Hasan (vor 987) ebenso.
B. Lehrbücher, a) Einleitende Schriften. Je 1 Buch über Knochen (45),
Venen und Arterien (46), Nerven (47), Muskeln (56): die Gefäss-
lehre von den Alexandrinern später in 2 Bücher geteilt, b) Hauptwerke :
Anatomische Hantierungen (9) in verschiedenen Redaktionen, die
erhaltene in 15 Büchern (nur 1 — ^9 griechisch, das Ganze arabisch in
mehreren Handschriften), Gebrauch der Körperteile des Men-
schen (2), 17 Bücher (deutsch von Nöldeke 1805, franz. von Daremberg
1854. Eine neue deutsche Ausgabe wäre dringend notwendig). C. Hilfs-
bücher : Auszug aus den anatomischen Büchern des Marinos,
4 Bücher (s. oben bei Marinos), Auszug aus allen anatomischen
Büchern des Lykos, 2 Bücher (s. oben bei Lykos). Arabische TJeber-
setzungen beider Werke kennt noch Oseibia. D. Kritische Werke über
die Anatomie des Hippokrates, 6 Bücher (40), Anatomie des Erasi-
stratos, 3 Bücher (41), die dem Lykos unbekannten ana-
tomischen Thatsachen (60). E. Sonderabhandlungen zur Embryologie :
Anatomie der Gebär mutter (33), Anatomie d e s Embry on (36).
F. Mehr physiologischen Inhalts Die Stimme, 4 Bücher (39), Der
Samen (52), Das Geruchswerkzeug (55), Die Entwicklung der
Leibesfrucht (61).
Das Hauptwerk, die anatomischen Hantierungen {ävcao/iuy.ai
lyx^iQ^joeig) hat folgenden Inhalt: 1. Muskeln und Bänder der Hände,
**) Während Gal. denselben Gegenstand auf einem Drittel des Umfangs er-
schöpft haben will.
") Aussen 3, innen 2, G. K. XVIII B. 1000.
") K. II 449.
•■*"} XVIII B. 933.
186
Robert Ritter von Töply.
2. Muskeln und Bänder der Füsse, 3. Nerven und Gefässe der Glieder,
4. Muskulatur der Wanden, Lippen, des Kopfes, Halses und Nackens,
5. Brust-, Bauch-, Lenden-, Rückenmuskeln, 6. Nahrungswerkzeug-e :
Darm, MsLgen, Leber, Milz, Nieren, Harnblase, 7. Herz, Lung-e, die
Arterien beim toten sowie beim lebenden Tier, 8. Arterien des Brust-
korbs, 9. Gehirn und Rückenmark, 10. Augen, Zunge, Speiseröhre und
Umgebung, 11, Kehlkopf, ypsilonförmiger Knochen (Zungenbein) und
Umgebung samt deren Nerven, 12. Arterien und Venen, 13. Gehirn-
nerven, 14. Rückenmarksnerven, 15. Geschlechtsteile. Der Inhalt, an-
scheinend durcheinander gewürfelt, entspricht dem beiläufigen Gange
einer Sektion. Weitaus systematischer sind die sog. kleinen ana-
tomischen Schriften.
Grundzüge der Anatomie des Galenos.
Knochenlehre. System der Gelenke nach folgender Uebersicht.
ovvSeoig
rwv doTiüV
Zusammen-
setzung der
Knochen
ägd-gov
[avvTatig =
ovvSeaig,
öuilia)
Gelenk
avurpvaig
(eviüoig)
Ver-
wachsung
ÖlCCQ&QlOOtg
merklich
beweglich,
freigelenkig
awagd-gioaig
unmerklich
beweglich,
straif
tvdgd-QCüffig tief
aQ^gioöla seicht
yiyylvf.iog Wechselgelenk
gacprj
yöi-UfLoaig
äg(.iovLa
Naht
Vernagelung
Strich fuge
ovyyövdgioaig
knorpelig
avvvevgtoGig . . .
nervig
anaodgxiüoig
fleischig
veüga TtgoaigerrKcc Willens-
nerven
vevga avvdstr/.d Sehnen
Tsvovreg Bänder.
Kenntnis der Aussenansicht des Säugetierschädels mit den Nähten,
auch an der Basis. Gedachte Gegenüberstellung von Schädelkapsel
und Gesichtsteil. Zusammensetzung der Schädelkapsel aus 6 Knochen
(zweiteilige Stirnbeinschuppe, die 2 Seitenwandbeine, die 2 Schläfe-
beinschuppen, Schuppe des Hinterhauptbeins). Kenntnis des Keilbeins
und der Flügel, der Naht zwischen dem Hinterhauptbein und Keil-
bein (Grundlinie des Kopfes Gal.). Kenntnis des Felsenbeins mit dem
Griffelfortsatz, proc. mastoideus, proc. zygomaticus, Gehörgang. Auf-
fassung der Jochbrücke als eines selbständigen Ganzen. Genaue
Kenntnis der Nähte des Gesichtsteils des Schädels, oberflächliche der
Gaumenbeine, Kenntnis der Nasenbeine, Annahme eines Zwischen-
kieferknochens. Ungenaue Unterscheidung der Bestandteile des Ge-
sichtsteils des Schädels, daher Gesamtzahl der „Oberkieferknochen" je
nach der Auffassung 8 — 15. Zahl der Zähne 32. Schneide und „Hunds-
zähne" (Eckzähne) einwurzelig, je 5 ,. Backenzähne", im Oberkiefer
dreiwurzelig, im Unterkiefer zweiwurzelig, ausnahmsweise einige im
Oberkiefer vierwurzelig, im Unterkiefer drei wurzelig und zwar zumeist
die hintersten. Unterscheidung von Kieferladen und Zahngruben. Der
Unterkiefer ist nicht einfach, sondern zweiteilig. 24 Rückgratwirbel
Geschichte der Anatomie, 187
unter Umständen mehr oder weniger, am Ende das „heilige" oder
„breite" Bein. 7 Halswirbel. Zweiter Wirbel („Zahn" des Hipp.)
mit sondenknoptähnlichem Fortsatz (von Einigen zahnförmiger Fort-
satz genannt ). Fortsätze der 5 übrigen Halzwirbel : hinterer Fortsatz
„Dorn", seitliche Fortsätze. 12 Brustwirbel. Körper, Dornfortsätze,
seitliche Fortsätze. Lendenwirbel, deren Fortsätze. Das Kreuzbein
ist dreiteilig, ebenso das Steissbein. Beide haben Austrittsstellen
für je 3 Xervenpaare, der Eest des Eückenmarks tritt überdies am
Ende des dritten Hinterbeinteils unpaarig aus. Brustknochen : Brust-
blatt, je 12 Rippen, 12 Rückenwirbel. Am unteren Ende des Brust-
blatts ein dreieckiger Knorpel angewachsen. Einige nennen das
Brustblatt schweitiörmig. Unterscheidung zwischen wahren und
falschen Rippen. Kenntnis der Schulterblätter, des Grats. Selbständig-
keit des Akromion. Einige nehmen neben dem Schulterblatt und
Akromion noch einen dritten Knochen an, bald Beischlüssel, bald
Akromion genannt. Hals, Pfanne des Schulterblatts, ankerförmiger
Fortsatz, auch Rabenschnabelfortsatz genannt. Schlüssel(-bein). Ober-
armbein mit Kopf, Hals, Einschnitt (sulcus intertubercularis), welcher
den Kopf (!) in 2 höckerähnliche Abschnitte trennt. Undeutliche Be-
schreibung des unteren Endes. Andeutung der fossa coronoidea und
olecrani, der trochlea. Elle, deren 2 Schnäbel (olecranon und proc.
coronoid.), halbmondförmige Höhlung (incis. semilun.), säulenförmiger
Fortsatz (proc. xyloid.). Handwurzel zweireihig. Obere Reihe 3. untere
Reihe 4 -j- 1 Knochen. Eine Beschreibung der einzelnen Handwurzel-
knochen fehlt. 5 Mittelknochen, 14 Fingerknochen (Glieder, auch
Stäbchen genannt). Das Becken als solches ist nicht bekannt. Die
Hüftbeine als Ganzes haben keinen eigenen Xaraen, ihre drei Ab-
schnitte werden als breite Hüftbeine (Darmbeinschaufehi). Hüftgelenks-
beine (mit Pfanne), Schambeine bezeichnet. Der Begriif des letzteren
ist nicht ganz klar. Sicher hinzuzurechnen ist das os pubis und der
Sitzteil des os oschii. Oberschenkel mit Kopf und Hals, unten zwei
Knorren. Xebst dem ligam. teres noch 3 Kapselbänder (1 innen,
1 aussen, 1 zwischen beiden hinten). Trochanteren , der grössere
heisst „Hinterbacke". Schienbein oben mit Ansatz (Epiphyse), Gelenks-
fläche mit zwei Gruben, dazwischen Vorsprang für den Einschnitt der
Oberschenkelknorren. Schienenbeinvorderteil = Kante. Wadenbein,
Knöchel, von einigen ..Würfel" genannt. Kniescheibe mit Vorsprung
an der Rückseite. Fusswurzel: ..Würfel" (Sprungbein) mit Geviert
(trochlea tali) Hals, Kopf. Kahnförmiges Bein (os naviculare) mit
augenbrauenähnlichen Vorsprüngen beiderseits; Ferse (calcaneus) mit
2 Vorsprüngen für die Höhlungen des Sprungbeins, rückwärtigem Ab-
schnitt, vorderem Abschnitt, Verbindung mit dem Sprungbein und
„würfelähnliches Bein" (cuboideum); das „kahnförmige Bein" (navicu-
lare); weiter drei kleine Knochen, nicht näher bezeichnet (Keilbeine).
Vorfuss mit 5 Knochen, Zehen mit (4x3)-|-2 Knochen. Der „Knochen
im Herzen", am Kehlkopf („lambda- oder ypsilonförmiges Bein"
= Zungenbein), in der Xase (in der galenischen Anatomie nicht
näher bekannt), die Sesambeine zählen nicht zum Skelet.
X e r V e n 1 e h r e. A. Gehirn. Die galen. Anatomie kennt folgende
Gehirnteile. 1. Balken Tvlibör^g ixioga). 2. die 2 „Vorderkammern",
3. dritter Ventrikel, 4. Vierter Ventrikel, 5. 7T6QOi = Aquaeduct.
Sylvii, 6. P^rnix Aaudgiov ze y.ai ipaKouötg (/^iöqiov ly/.efpaXuv), 7. Vier-
hügel, 8, Zirbeldrüse -MovaQiov, 9. rivoneg = proc. cerebelli ad corp
188 Robert Ritter von Töply.
quadrigemina? 10. Wurmfortsatz a>cLi)lr]yio€iör]s ScTtocpvaig, 11. Sclireib-
leder (calamus Script.) Semy'Aicpi] y.ala^iov (von Herophilos so genannt),
12. Trichter Tivtlog xat xdivrj, 13. Hypophyse b dcÖiiv zfjg xodiag. Die
Beschreibung der Hirngefässe ist dem Tierreich entnommen, besonders
die des Netzwerks an der Hirnbasis (plexus der Herophilos), die der
Venensinus folgt den Entdeckungen des Herophilos, besonders in der
Annahme des „Kelters" (torcular). B. Hirnnerven. Sieben Paare
(der Geruchsnerv als solcher nicht bekannt). I. Sehnerv (hohl),
IL Augenmuskelnerv. III. Der „weiche" Nerv. 1. Ast von Gal. ent-
deckt für die Kaumuskeln und das Zahnfleisch, 2. Ast „Geschmacks-
nerv". IV. Gaumennerv, dessen Unabhängigkeit von III durch
Marin US entdeckt, V. von Marinus als fünfter bezeichnet, nach Gal.
aber ersichtlich zw^eiteilig und zwar 1. Ast „Gehörnerv", 2. Ast für
das Platysma myoides (dieses von Gal. entdeckt). VI. 1. Ast = vagus
mit dem von (ialenos entdeckten laryng. recurrens, 2. Ast für die
Muskulatur des Rachens und der Zungenwurzel = accessorius 3. für
die Schulterblattmuskeln. Eingehendere Besprechung der Verbindungen
zwischen dem III., VI., VII. Hirnnervenpaar und dem I., IL Rücken-
marksnervenpaar. Soviel sich aus der nicht sehr klaren Beschreibung
entziifern lässt entspricht I dem Sehnervenpaar. Das Chiasma ist be-
kannt, eine thatsächliche Mengung findet aber nicht statt. Den N.
abducens sowie den „patheticus" kennt Gal. nicht. V 1 = acusticus,
V. 2 = facialis, VI. = vagus und accessorius, vielleicht auch glosso-
pharyngeus. Der recurrens ist eine Entdeckung des Galenos. Dieser
beschreibt auch das ganglion cervicale sup. et inf.. sowie das gangl.
coeliac. Der Verlauf des vagus und sympathicus ist sehr oberfläch-
lich und verworren geschildert. Rückenmarksnerven: 8 Halsnerven-
paare genauer, die übrigen oberflächlich beschrieben. Die Zahl der
Spinalnerven wird einmal auf 50, ein andermal auf 60 angegeben.
Von den Armnerven wird der radialis, ulnaris, medianus erwähnt,
auch sind die crurales, und ischiadici beschrieben, sämtlich jedoch
ohne Benennung. Im ganzen gehört die Nervenlehre, abgesehen da-
von, dass sie sich nur auf Thiersektionen stützt, zu den sdiwächsten
Leistungen des Galenos. ^*)
Gefäss lehre. Sie stützt sich ausdrücklich auf Zergliederung
des Affenkörpers (/r. cpleß. y.al ägz., Einleitung). Vorangestellt wird
die Beschreibung der Venen, hier wieder die 7 Aeste der Pfortader
zum Magen, dann die Verzweigungen der aufsteigenden, schliesslich
die der absteigenden Hohlader. Dieser Abschnitt ist ebenso ausführ-
lich als eingehend und lässt nicht viel zu wünschen übrig. Hingegen
ist die Beschreibung der Arterien ziemlich flüchtig. Das Herz wird in
der Gefässlehre nur als Ursprungsstätte der Arterien erwähnt, aber
nicht beschrieben. Die Kranzarterien sind aber angeführt, ebenso das
von den Karotiden an der Hirnbasis gebildete netzartige Geflecht
öixTvoeidhg nlsyna. Die Arterien der Bauchhöhle sind nur in ihren
Hauptstücken gestreift, auf die der Hände und Füsse wird nicht ein-
gegangen. Hingegen sind die Nabelgefässe und zwar als Doppel-
paar beschrieben, während im Bauch nur eine Nabelvene beschrieben
ist. Im fötalen Herzen beschreibt Gal. das ovale Loch, dessen Ver-
schluss. ^^)
5») *Falk (Friedrich), Galen's Lehre vom gesunden n. kranken Nervensystem,
Leipz. 1871, Veit u. Co., 56 S.
5») US. p. XV 6.
Geschichte der Anatomie. 189
Muskellehre. Sie steht hinter der Knochenlehre weit zurück,
indess hat Galenos doch einige neue Benennungen eingeführt (plat.ysma
myoides, deltoideus. diaphragma, Intercostalmuskeln. Bauchmuskeln).
Die Aufzählung geht von den Funktionen aus, wobei des Galenos
Vorliebe für die Physiologie zum Durchbruch kommt. Am Kopfe
nennt er den Hirnmuskel, 6 Augenmuskeln (4 gerade, 2 schiefe, der
7. der Tieranatomie entnommen), ein Xasenschliessmuskelpaar. vier
Lippenmuskeln (jederseits einen oberen und einen unteren), vier
Muskelpaare am Unterkiefer, den Schläfemuskel. Kaumuskel, den
biventer und pterygoideus int., weiter am Halse das platj'sma myoides,
die Zungenmuskeln, Schlundmuskeln, Zungenbeinmuskeln, 10 Kehlkopf-
muskeln, den sterno-hyoideus und sternothyreoideus als ,.Luftröhren-
muskeln". Von den Kopfbewegern geht einer zum Schulterblatt, die
vielen übrigen sind nicht genauer beschrieben. Am Brustkorb be-
schreibt er den subclavius, serratus magnus, die Zwischenrippen-
muskeln und das Zwerchfell. Die Rückenmuskeln sind nur flüchtig
erwähnt, besser der psoas, die Kremasteren. der ischio - cavernosus,
sphincter ani, dann ein Blasenmuskel (bulbo-cavernosus ?j besprochen.
Die Beschreibung der Gliedermuskeln, abgesehen von den grösseren,
ist oft dunkel und lückenhaft. So spricht er am Vorderarm von
2B Muskeln, davon 7 kleine an der Hand, 7 grössere an der Innen-
seite, 9 an der Aussenseite des Vorderarms, er beschreibt 10 Muskeln
an der Hüfte, 7 am Knie, 14 am Unterschenkel und 4 am Fuss.
Eingeweidelehre. Am Kehlkopf kennt Gal. nur 3 Knorpel,
den Schildknorpel. Eingknorpel und den Giessbeckenknorpel. welchen
er als einheitlich auffasst, an der Lunge 5 Lappen. Eine besondere
Aufmerksamkeit widmet er den Häuten der Verdauungsorgane. Er
unterscheidet im allgemeinen an einem röhrenartigen der "Weiter-
beförderung dienenden Gebilde 3 Häute: a) eine innere mit Längs-
fasern zur Anziehung, b) eine mittlere mit Schrägfasern zum Fest-
halten, c) eine äussere mit Querfasern zum Ausstossen. Der Magen
besitzt die Fasern a b, der Darm die Fasern c. Der Magen übergeht
in 6 weitere Teile. 1. Ekphysis (Zwölffingerdarm), 2. Leerdarm,
3. Dünndarm, 4. Blinddarm, 5. Dickdarm (Kolon), 6. Mastdarm. Die
Leber ist mehr vom Standpunkt ihrer Thätigkeit beschrieben. Ihr
Gegenstück ist die Milz, deren Vene zum Magen Aeste abgiebt (vas
breve). Die Nieren sind nur ihrer Form nach beschrieben. In der
Beschreibung der Geschlechtsteile hält Gal. an der Ansicht von den
Hörnern der Gebärmutter fest. Er nimmt darin 2 Kammern an, die
rechte für männliche, die linke für weibliche Früchte, und zwar beim
Menschen, denn im allgemeinen stimmt die Zahl dieser Kammern mit
der der Brüste bezw. Zitzen überein. Vom Thränenapparat kennt die
galenische Anatomie zumindest die obere Thränendrüse (glandula
innominata Galeni). Der untere Thränenpunkt galt als Austrittsstelle
der Thränen. •*'^)
Mit Galenos ist der Höhepunkt der griechischen Anatomie erreicht.
Nach ihm liegt das Gebiet so ziemlich ein Jahrtausend und einige
Jahrhunderte darüber brach. Die „galenische Anatomie" giebt der
Medizin die Grundlage bis zum Erwachen der Renaissance und da-
*") Daher der Name „Quelle" {nrjrj) für den inneren Augenwinkel bei Hesychius.
Eine genauere Kenntnis des Thränenapparates stammt jedoch erst seit Nicol. Stenon
(Obs. anat. Lugd. Bat. 1662).
190 Robert Ritter von Töply.
rüber hinaus. Der Name ist aber nicht richtig gewählt. Galenos hat
nur die vor ihm, schon hauptsächlich in der Schule des Marinos vor-
handene, auch literarisch reichlich bearbeitete Anatomie stellenweise
vervollständigt und verbessert, andererseits manchen schon gethanen
Fortschritt wieder zurückgedrängt. Was er bietet, ist Tieranatomie, die
Muskellehre und Geiässlehre an Affen, das übrige an diesen und
anderen Thieren. Dabei ist er ein Kritikaster gegenüber den Leistungen
Anderer, ohne genügende Kritik gegen sich selbst, ohne zu forschen,
ob die am Fleischfresser festgestellten Thatsachen auch beim Affen
vorkommen, ob die Befunde bei beiden auch für den Menschen gelten.
Er hat an Tieren festgestellte Befunde für richtig gehalten, für
richtig erklärt, selbst dort, wo sie jenen Thatsachen widersprachen,
welche von den Vorgängen am Menschen als richtig erkannt waren.
Er hat dadurch, dass er seine Funde kritiklos auf den Menschen be-
zog, eine fiktive Anatomie geschaffen.
Pseudogalenische (lateinische) Schriften. 1. De natura
et ordine cuiuslibet corporis, ad nepotem mit Erwähnung des Hippokrates,
Aristoteles, Apollonios (Memphites?). 2. De compagine membror. s. de
natura humana mit griechischen Anklängen. 3. Yocalium instrumentorum
dissectio, Uebersotzung einer griechischen Schrift aus der Nähe des Meletios ?
4. De voce et anhelitu. Arabische bezw. lateinische Uebersetzung der Schrift
TtSQt cpcüvr]g? 5. De anatomia vivorum aus der Nähe des Taddeo Alderotto
um 1260 — 1300 (vgl. die Analyse in H. R. v. Töply, Studien zur Gesch.
d. Anat. im Mittelalter, 1898).
Spätere Kompilatoren. Oreibasios (Jahre der schrift-
stellerischen Hauptthätigkeit 360 — 363) hat für seine Synagogai
iatrikai, B. 24, 25 die Werke des Lykos, ßhuphos, Soranos, Galenos be-
nützt und so ein Kompendium folgenden Inhalts geschaffen: I. Ein-
geweidelehre, a) Gehirn, Rückenmark, b) Brust, c) Bauch, d) Ge-
schlechtsteile. IL Knochenlehre. III. Muskellehre. IV. Nervenlehre.
Bemerkt sei, dass Oreib. bezüglich der Eingeweidelehre und Knochen-
lehre jene Rangordnung einhält, die auch Rhuphos beobachtet hatte.
Die alexandriner Encyklopädie der „16 Bücher" des Galenos, an-
fangs des 7. Jahrhunderts von einer Gelehrten Vereinigung, darunter
Joannes medicus s. grammaticus Alexandriniis, hat als 5. bezw.
8. Teil die kleinen anatomischen Schriften des Galenos aufgenommen,
dabei aber die Knochenlehre getrennt und so folgende Zusammen-
stellung bewirkt: a) Knochen, b) Muskeln, c) Nerven, d) Venen, e) Ar-
terien. Diese Schriften wurden später auch ins Arab. und Hebr.
übersetzt. Folgende Schriftsteller haben für ihre naturgeschichtlichen
Werke anatomischen Inhalts den Galenos benutzt: 1. Gregorios
von Nyssa Ttsgi -AazaGycsif^g Scv-O-qwtcov (um 332 — 395. *Textausgabe
mit deutscher Uebersetzung von Oehlerl850) ; 2. N e m e s i o s von Emesa
71. cpvoecog dvSgwTtov (um 375 — 400); 3. Meletios tt, t. tov avdqwTiov
Ttagoaxitf^g (um 600—800); 4. Theophilos (Protospatharios und
Archiater?); 7t. x. tov av^Qwnov TtaQaay.Evfjg. Letzterer hat des Galenos
Ttegl XQ^^f^S (.ioqUov geradezu geplündert.
Aus dem XV. Jahrh. stammt eine ganz kurze griech. Aufzählung
der Körperteile von Georgius Sanguinaticius mit dem Bei-
namen Hypatus (lebte um 1450, war röm. Konsul und lateranensischer
Graf) unter dem Titel sQf^rjveia iGjv tov acb^arog fisQü/v.
Geschichte der Anatomie. 191
Anatomische Abbildungen als Illustration von Hand-
schriften haben sich aus der älteren Zeit im Original nicht erhalten,
obzwar Andeutungen solcher vorkommen. So weist Aristoteles
wiederholt darauf hin, ^^), aber die Abschreiber haben die Zeichnungen
weggelassen, sodass solche in unsere Ausgaben erst von neuem ein-
getragen werden müssen. Dies haben z. B. Aubert und Wimmer in
ihrer Ausgabe der Tierkunde des Aristoteles dort gethan (I S. 306), wo der
Text ausdrücklich mitBuchstabeu auf die Einzelheiten einer fehlenden
Zeichnung der männlichen Geschlechtsorgane hinweist, ebenso Kaspar
Wolf in seiner Ausgabe des sogen. Moschion/-) indem er die fehlende
Abbildung der weiblichen Geschlechtsteile durch eine Kopie nach Vesal^^)
ersetzte. Je drei Abbildungen aus der byzantinischen Zeit hat St.
Bernard nach einer leydener Handschrift,*^'*) dann Rob. Fuchs
nach einer pariser *^^) veröffentlicht. Die erstereu stellen je eine
Vorder- und Rückansicht des ganzen Körpers, dann die Vorderansicht
des Kopfes mit eingetragenen Benennungen einzelner Teile vor. Die
der Pariser Hs. geben eine Rückansicht und zweimal die Vorderansicht
eines Mannes, in letzterem Fall mit eröffneter Bauchhöhle und spii-alig
angedeutetem Darm in der Nabelgegend. Der Umstand, dass die
erste Figur an den Oberarmen Aderlassbinden trägt, spricht dafür,
dass die Zeichnungen der Pariser und auch die ganz ähnlichen der
Leydener Handschrift Chirurgen zum Unterricht gedient haben.
Bildliche Darstellungen anatomischen Inhalts zu
Kunstzwecken, als Weihgeschenke und zu religiösen
Zwecken waren im Altertum besonders in Italien nicht selten.
Skelete kommen nicht selten vor.*'") Man vergleiche z. B. das
Mosaik mit dem Totenkopf als Tischplatte aus Pompeji, die Becher
des Fundes von Bosco reale mit einer ganzen Gesellschaft von Skeleten,
eine ähnliche Gefässscherbe im Museum zu Aquileja, die Sitte, bei
einem Trinkgelage ein silbernes Skelet mit beweglichen Gliedern auf-
zutischen (drastisch geschildert im Gastmahl des Trimalchio bei
Petronius), ein fingerlanges Bronzeskelet mit beweglichen Gliedern
im Albertinum zu Dresden. "") Unter den altilatischen Weihgeschenken
(donaria) sind besonders solche mit plastischer Darstellung einer er-
öffneten Leibeshöhle bemerkenswert."^) Plastische Darstel-
lungen der Leber, wahrscheinlich zum Unterricht in der Opfer-
schau, sind: die Bronzeleber von Piacenza, die Alabasterleber von
Volterra. "*)
") gen. animal. I 7, hist. anim. I 14 (= 17. 24), II 13 (= IH 1).
««) 1566 p. 2.
*') Hum. corp. fahr. 1. IH zum Schluss, Ed. 1555 p. 505.
'*) Im Anhang zu *Anon. intr. anat., Hypatus, L. B. 1744.
•*) *Fuchs (Robert), Anat. Tafeln a. d. griechi-schen Alterthum, nach einer
Paris. Hs. zum ersten Male herausg. deutsche Med. Wochschr. 1898, Nr. 1, S.A., 9 S.
"") Olfers (J. Fr. M. v.), Ueb. ein Grab bei Kumae u. die in demselben ent-
haltenen merkwürdigen Beiwerke, m. Rücksicht auf d. Vorkommen von Skeleten
unter den Antiken. M. 5 Taf., Berl. 1831.
"") Saal. IX, Vitrine V Nr. 384.
**j *Stieda (L.), Anatom.-archaeolog. Studien I. Ueb. d. ältesten bildl. Dar-
stellungen der Leber, II. Anatomisches üb. alt-ital. Weihgeschenke, S.A. aus Bonnet-
Merkels anat. Heften Bd. 15/16, 1901, 131 S. m. 5 Taf.
•") *Giaco8a (Piero), Magistri salernitani nondum editi.
192 Robert Ritter von Töply.
Araber.
Inhalt. Die Araber als Vebersetzer der griechischen Anatomen. Sonder-
werke im Anschluss an die Griechen.
Mohammad ist i. J. 632 gestorben. 1492 endet die Herrschaft
der Nasrids in Granada und damit die Höhe der arabischen Kultur.
Sie hat während der Blütezeit, d. i. ungefähr in den Jahren 800 bis
1300 eine lange Reihe von Werken anatom. Inhalts gezeitigt. Die
folgende Uebersicht entspricht dem, was ich in meinen „Studien zur
Gesch. der Anat. im Mittelalter" ausführlicher dargelegt habe.
Gruppe I. Erster Zeitraum, vorwiegend Ueber-
setzungen, Hauptsitz der literar. Thätigkeit Bagdad.
1. x4.bu Othm an Amr el-dschähidh (gest. 868) ist Verfasser
einer Tierkunde, aus der er selbst, und später Abd-el-Letif einen
Auszug veranstaltet hat. 2. Dschabril ben Bachtischua
(IX. Jalirh.) begann eine Uebersetzung der Anatomie des Galenos, hat
sie aber nicht vollendet. 3. Jahja ben Mas er weih (Mesue d. Ae.
IX. Jahrb., 1. Hälfte) hat eine Anatomie geschrieben. 4. Hon ein
ben Ischak (Johannicius, 809 — 873) hat folgende Uebersetzungen
geliefert: a) Hippokrates, Natur des Menschen, h) die Eingeweidelehre
des Oreibasios, c) die 4 kleinen anat. Schriften des Galenos. Ueber-
dies hat er ein selbständiges Werk über die Benennung (tasmijja) der
Glieder sowie Anatomica unbestimmten Inhalts verfasst. 5. Hobeisch
benel-Hasan ist nebst Honein Hauptübersetzer des Galenos. Er
liefert folgende Uebersetzungen : a) Anatomische Meinungsverschieden-
heiten, b) Anatomie Lebender, c) Anatomie Toter, d) Anatomie des
Hippokrates, e) Anatomie des Erasistratos , f) Anatomie der Gebär-
mutter, g) der Samen, h) Lehrmeinungen des Hippokrates und Piaton,
i) Anatom. Hantierungen, j) Gebrauch der Körperteile. 6. Thäbit
ben Korra (gest. 901) hat eine Embryologie, eine Anatomie der
Vögel, eine Anatomie der Gebärmutter, ein Werk über die Körper-
formen geschrieben. 7. Jahja Ibn el-Batrik (IX. Jahrb., I.Hälfte)
hat die Tierkunde des Aristoteles ins Syrische übersetzt. 8. Abu
Ali ibn Zer'a (gest. 1008), Uebersetzer zoologischer Schriften des
Aristoteles. 9. Ibn Abu Oseibia (gest. 1269) nennt überdies noch
folgende Galen-Uebersetzungen : a) Auszug aus der Anatomie des
Marinos, b) Auszug aus der Anatomie des Lykos, c) Unkenntnis des
Lykos in der Anatomie, d) Unterschiede der gleichartigen Körperteile,
e) Anatomie des Auges (d, e nach Honein unecht). Am Ende des
10. Jahrhunders hatten die Araber demgemäss beinahe alle, bis zur
Mitte des 13. Jahrb. alle anat. Schriften des Galenos, und die Schriften
anat. Inhalts des Hippokrates übersetzt.
Grupp'e IL Vorw^iegend selbständiger Betrieb der
systemat. Anatomie.
L Abu BekrMuhammed ben Zakerijja er-Räzi (Razes,
gest. 923 oder 32). Die Anatomie ist systematisch im Kitaab al tib
al Mansury (Über medicinae mansuricus) in 26 Kapiteln abgehandelt.
Sie ist das erste arab. systematische Lehrbuch der Anatomie, ein
Vorbild für die Folgezeit, auf Hippokrates und Galenos (Oreibasius)
Geschichte der Anatomie. 193
fussend. Ueberdies schrieb er-Bäzi über das Auge. Ohr, den Gehör-
gang, das Herz, die Leber. 2. Abul Kheir el- Hassan ben
Suwär (pers. Christ, 942—91) ist Verf. eines Buches über die Natur
des Menschen und Zusammensetzung der Körperteile in 4 Abhand-
lungen. 3. Abu Nasr Muhammed ben Muhamraed ben
Tarkhän ben Aurelag (?) el-Färäbi (gest. 950) schrieb über
die Organe der Tiere. 4. Dschabril ben Obeid Allah (gest.
1005) ist Verfasser einer Abhandlung über die Eigentümlichkeiten
der Tiere. 5. Abu Ali Isa ben Ischak ibn Zer'a ben
Markus ben Zar'a ben Juhanna (gest. 1008), Uebersetzer des
Aristoteles, a) Tierkunde, b) Teile der Tiere. 6. Abu Dschafar
Ahmed ben Muhammed ben Ahmed ibn Abul-Asch'ats
gest. 970), Verf eines Buches über Tiere. Auszug daraus von Abd
el-Letif 7. 'Ali ben el-'Abbäs el-Madschusi (Haly Abbas,
Perser, gest. 994). Seine Anatomie ist enthalten im I. Teil, Buch 2
und 3. des Al-Malikhi (über regius) in 16 bezw. 37 Kapiteln. Dies
ist das zweite arab. systematische Lehrbuch der Anatomie, weitaus
eingehender als er-Eäzi. 8. In der anonymen Encyklopädie Thohfat
akhuan es-safa = Geschenk der lauteren Brüder (10. Jahrb., Basra
= Bassora im Wilajet Bagdad) handelt Teil II, Abschn. 8 von den
Tieren, Abschn. 9 vom Bau des menschl. Körpers. 9. Abu Ali al-
Hosein ben Abdallah Ibn Sina (Avicenna, geb. um 980,
gest. 1037) hat die systematische Anatomie in 95 Kapiteln in seinen
Khitab el-Kanun fi al-ttib eingeflochten. Zusammengefasst M bilden
sie eine vollständige und zwar umfangreichere System at. Anatomie als
die des Räzi und Abbas. Sie lehnt sich eng an Galenos an, auch
in Bezug auf die masslos ausartende Teleologie. Das Kapitel von den
Nerven (I, 1, 3) hat Sprengel (Kurt) arab. und deutsch in seinen
„Beiträgen"; 1794 herausgegeben. Die Anatomie des Ibn Sina ist
das dritte arab. systematische Lehrbuch der Anatomie. Sie ist fortan
massgebend gewerden. 10. Abu'l-Berakät Auhad ez-Zaman
el-Beldi (XII Jahrb., 2. Hälfte) ist Verf. eines Kompendiums der
Anatomie, aus Galenos entnommen. 11. Muhammed el-Gäfiki
(XII. Jahrb., 1. H.) behandelt im 2. Teil seines Morched (director) die
Anatomie des Kopfes und des x\uges. Die Hs. Escor, n. 835 enthält
auch Darstellungen des Faserverlaufes der Arterienhäute, der Schädel-
nähte und des Chiasma opticum. (Dasselbe scheint auch in anderen
arab. Handschriften vorzukommen, wenigstens deutet manche Stelle
sogar in den Drucken der lateinischen Uebersetzungen darauf hin.
Dass auch die Araber keine Feinde der bildlichen Darstellungen
w^aren, ist nun sattsam bekannt, doch dürften sich die anat. Ab-
bildungen, soviel mir aus dem Studium der erwähnten Drucke erinner-
lich,-) nur auf schematische Darstellungen beziehen.) 12. Abu Mer-
w ä n ibn Z o h r (Avenzoar, Abumeron, Abhomeron, span. Araber, gest.
1162) macht in seinem Iktisad eine Bemerkung, aus der hervorzugehen
scheint, dass wenigstens er die Anatomie an Knochenpräparaten studiert
hat. 13. Abul-Welid Muhammed ben Ahmed ibn Roschd
el Maliki (Averroes 1126—1198) behandelt im Khitab el-Kullidschät
(= lib. universalis de medicina, Colliget Averrois, nach Husemann
') Vgl., die Ztisammenstellung in meinen ..Studien zur Gesch. der Anatomie im
.Mittelalter", 1898, S. 70.
*) S. die Schlussbemerkung.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 13
194 Robert Ritter von Töply.
(Th.) in Götting. gel. Anz. 1899 Nr. 1 S. 27—32 ist der Khitäb nach
1184 geschrieben) die Anatomie in einem summarischen Abriss
(Traktat I Kap. 2—35), von dem er selbst erklärt, er wolle damit
nichts neues sagen, was des grossen Philosophen, der ja Ibn Roschd
in erster Linie war, würdig ist. 14. Abu Abdallah Fachr ed-
Din er-Räzi ibn el-Khatib (1149—1210) hat einen Kommentar
zur Anatomie des Ibn Sina begonnen, aber nicht vollendet. 15. Abu
Hamid Nedschib ed-Din el-Samarkandi (gest. 1222) schrieb
eine Abhandlung über die Anatomie des Auges. 16. AbuMuhammed
Abd el-Letif el-Bagdadi (Abdollatif, 1162-1231) verdiente den
Beinamen „der Kompendienschreiber". Er hat Kompendien nach
folgenden Werken veranstaltet: A. a) Aristoteles Tierkunde, b) El-
Dschähidh Tierkunde, c) Abul-Asch'ats Tierkunde. B. aus Galenos
a) Gebrauch der Körperteile, b) Lehrmeinungen des Hippokrates und
Piaton. C. Aus dessen Schriften, a) über den Fötus, b) die Stimme,
c) den Samen, d) die Atmungsorgane, e) die Muskeln. 17. Abu'
1-Hassan Ibn en-Nefis el-Misri (gest. 1288/96) ist der Verf.
des zweiten Kommentars zur Anatomie des Ibn Sina (erster von Fachr
ed-Din er-Räzi vgl. Nr. 14).
Die anatomische Literatur der Araber ist demgemäss weitaus
umfangreicher, als man bisher anzunehmen pflegte, auch hat sie, wie
jede andere Literatur, ihre Entwicklungsstufen. Sie besteht teils in
Uebersetzungen griechischer Werke, teils in selbständigen Schriften.
Die übersetzten Autoren sind Aristoteles und Galenos, von Aristoteles
die Tierkunde und die vier Bücher über die Teile der Tiere, von
Galenos alle rein anatomischen sowie die physiologischen Schriften
mit anatomischem Inhalt, übersetzt, a) nach den Originalen, b) nach
dem Auzug des Oreibasios, c) nach der alexandriner Encyklopädie
der „16 Bücher". Die selbständigen Werke sind: a) Kompendien
der systematischen Anatomie und zwar teils als in sich abge-
schlossene Schriften, teils als theoretische Einleitung oder Ein-
streuung in die Handbücher der praktischen Heilkunde (letzterer
Fall bei Ibn Sina), b) zahlreiche Sonderabhandlungen über die ein-
zelnen Organe. Am umfangreichsten und einflussreichsten ist in dieser
Gruppe die Anatomie des Ibn Sina. Sie wurde bereits von den Arabern
kommentiert, auch frühzeitig ins Lateinische übersetzt (um 1150), ver-
drängte schnell die Uebersetzungen anderer Werke und wurde zum
Kanon der spätmittelalterlichen Anatomie im Abendlande. Ein be-
sonderes Merkmal der Anatomie der Araber ist die teleologische
Richtung. Leichenzergliederungen sind nicht bekannt, doch scheinen
hie und da Nachprüfungen an Knochenpräparaten stattgefunden zu
haben. Beispiele für letzteres die erwähnte Stelle bei Abu Merwän
ibn Zohr, dann die Thatsache, dass Abd el-Letif die irrige Behauptung
von den zwei Teilen des Unterkiefers richtig gestellt hat. Die Ana-
tomie der Araber hat eine geschichtliche Bedeutung von grosser Trag-
weite, denn sie beherrscht die ganze romanische Periode des Abend-
landes, ihr Einfluss lässt sich aber noch darüber hinaus, bis in das
16. Jahrhundert verfolgen.
Ohne organischen Zusammenhang mit den Arabern, aber doch
durch denselben Glauben und dieselbe Schrift Erben ihrer Kultur, sind
die Türken. Eine zusammenfassende geschichtliche Darstellung der
Medizin in der Türkei ist noch ausständig. Die türkische Buch-
druckerei in Konstantinopel besteht seit 1726/27, das erste anatomische
Geschichte der Anatomie. 195
Werk -wurde aber erst 1820 gedruckt. Es ist dies der „Spiegel der
Körper in der Anatomie der Glieder des Menschen, gedruckt zu
Skutari J. d. Hedschra 1235, J. n. Clir. 1820", Fol. mit 56 Kupfer-
tafeln, von Schani Zadek Mehemmed Attaulah. (Choulant,
Gesch. d. anat. Abb. 1852 S. 156.)
Beispiel für das Illustrationsbedürfnis der Araber. Avicenna,
Uebersetzung des Gerhard v. Cremoua, kollationiert von Andreas Alpago
von Belluno nach der arabischen Handschrift, Juntina 1544 folio 12 verso :
„Et hmöi quide figura arcui similatur, in cuius medio linea recta sicut per-
pedicularis est recta [erectaj quae est hoc mö ( — Et adorem tertia inter
occiput & basim ipsius cöis existit : cuius puncto, cü ipsa sit secundum
figuram anguli, extremitas sagittalis continuatur, & vocatur adore laude, eo
quod laude litere grece similis existat, q est ita <^ Cumque duabus adorem
quas prius noiauimus coniungitur [fitj figura talis ( — <C-"
Mittelalter.
Inhalt. Spuren der Nachicirkung des Altertums bei Isidor von Sevilla.
TJehersetzungen aus dem Arabischen, Arabisten. Italien, Mondino de'Luzzi. Ueber-
fragung der Anatomie von Italien einerseits nach Frankreich, von dort nach Eng-
land und Spanien, andererseits nach Deutschland. Humanisnms, Kampf gegen den
Arabismus, Rückfall in den Galenismus.
Isidor, Bischof von Sevilla (Isidorus Hispalensis, gest. 636) hat
in seinem lateinischen Konversationslexikon (Etymologiae o. Origines),
geschöpft aus etwa 80 älteren Schriftstellern, auch die Naturgeschichte
des Menschen berücksichtigten. Buch: 1. Körperteile, 2. Altersstufen,
3. Missgeburten, 4. Verwandlungen) und dadurch wenigstens die Nomen-
klatur der Hauptbestandtdile des Körpers wach erhalten. Die Nach-
wirkung seiner diesbezüglichen Thätigkeit bekundet sich in den 1011
Versen des wahrscheinlich um die Mitte des 11. Jahrhunderts in
Italien entstandenen Gedichts Speculum hominis. \) Es ist nichts
anderes als Teile des in Eeime gebrachten Textes des Isidor. -) Es
bricht plötzlich ab. •^)
*l8idori Hisp. episc. Etymologiarum 11. XX ed. Frid. Vil. Otto, Lips.
1833, 702 pp., 4^ (Lindemann, Corpus grammaticor. lat. vet. T. III);
Collect. Salernit. V p. 173—198.
Die lateinischen Uebersetzungen aus dem Arabischen.
Als Europa nach der Völkerwanderung wieder zu sich gekommen
war, fand es eine tabula rasa mit einigen aber nur wenigen Brocken
antiker Kultur. Eine wesentliche Vermittlerrolle zwischen dem alten
Griechentum und dem Abendlande spielt die eben besprochene ara-
bische Litteratur. Sie musste jedoch erst der lateinischen und germa-
nischen Welt in Uebersetzungen zugängig gemacht werden. Der erste
Uebersetzer arabischer Schriften anatomischen Inhalts ist der Bene-
diktinermönch Konstantin von Afrika (1018—1106. Der Bene-
diktinerorden war schon 529 auf Monte Casino gegründet worden).
*) In der CoUectio Salemitana von de ßenzi V, p. 173—198 unter der Ueber-
schrift Poema anatomicum aufg:enommeu.
2) XI 1, 2; IX 5, 6, 7; IV 6, 7.
') reuma = Isid. IV 7 Nr. 11, woran sich bei Isidor noch weitere Deutungen
f\)h Nr. 39) anschliessen.
13*
196 Robert Ritter vou Tüply.
Durch ihn gelangte von 1067—1106, rund um das Jahr 1100 das
„Pantegni", die willkürliche Uebersetzung des Khitaab el-malikhi des
Abbäs, und damit dessen Anatomie zur Kenntnis und raschen Ver-
breitung.^) Weiter hat Gerhard von Cremona (1114 — 1187) den
Khitaab al-Mansuri des Räzi sowie den Khitaab el-Kanun des Ibn
Sina^) wiedergegeben. Somit waren um die Mitte des 12. Jahr-
hunderts die drei hervorragendsten arabischen Werke mit anatomischem
Inhalt zugängig gemacht. Die Sprache, in der das geschehen ist,
weicht allerdings weit ab von Cicero, Deren Verständnis ist um so
schwieriger, als die Uebersetzer eine gar lange Reihe arabischer
Ausdrücke beibehalten , viele dazu noch arg verstümmelt haben. ®)
Ein kleines Beispiel aus der Uebersetzung des Gerhard v. Cremona,
Avicenna, lib. 1, fen 1, doctr. V, summa 1, Knochenanatomie: ossa
sisamina, laguahic, laguahicata, seren sceu adorem, aseid, nuca, paxillum,
ossa paris, domesticum laudae, neguegiel, simenia, athachib, bucelle,
alhauis, alhosos, aseid, raseta, cuzer, anemel, alhauim, pars syluestris,
alharafa, rigil, alchahab.
Italien,
Salem itaner Anatomie. Unter dem Einfluss des Liber
Pantegni entstanden in Salerno zwei anatomische Schriften. Die erste
ist die Anatomie des Kopho II (um 1085—1100)^) eine kurze An-
leitung zum prakt. Studium der Anatomie an einem Schweine unter
der Annahme, dass die Eingeweide keines anderen Tieres dem
Menschen so ähneln. Die zweite salernitaner Anatomie -) ist eine
erweiterte Ausgabe der ersten mit eingestreuter Polemik gegen diese.
Der Verf. tritt gegen seine Schüler heftig auf, tadelt u. A., man habe
ihm im vorigen Jahre vorgeworfen, er hätte Nerven für Blutgefässe
ausgegeben. Er erwähnt des Galenos und Hippokrates, nennt den
Liber Pantegni des Konstantin von Afrika, das Buch über den Harn
des Ischak Ben Soleiman, die Aphorismen des Hippokrates und bezieht
sich auf seine Aussprüche in Philarito (Philareti lib. de pulsibus) und
im Johannes (Damascenus = Abu Zakeriija Jahja ben Maser weih).
Zu dieser Gruppe zähle ich auch die Anatomie des Magister
Richardus (Floriani). -') Sie ist von den Uebersetzungen des Kon-
stantin von Afrika beeinflusst (Tegni galerii, Pantegni, Viaticum). Ich
setze sie auf Grund der in meinen „Studien zur Gesch. d. Anat. im
Mittelalter" angegebenen Anhaltspunkte in die Zeit um 1161—1181.
Der Verf. erklärt ausdrücklich, dass gegenwärtig die Anatomie nur
an Tieren betrieben wird. Der Affe und der Bär seien aber dem
*) Die nächste Uebersetzung von Stephanus in Antiochia 1127.
^) Baseler Hs. der letzteren Uebersetzung von 1149.
*) *Hyrtl (Jos.), Das Arabische u. Hebr. in d. Anatomie, Wien 1879, Brau-
müller, SlTS., *Hyrtl (Jos.), Onomatologia anatomica, ebendas. 1880, 626 S.
^) In den ersten Drucken unter dem Titel Anatomia parva Galeni, der 1. Ab-
schn. von Job. Eichraann (Dryander) u. d. T. Anat. porci ex traditione Cophonis
1537 herausg., Vorrede dazu von Severini in seiner Zootomia democritaea 1645, voll-
ständig bei Salv. de Renzi, Coli. Salernit. 11 p. 387—401.
*) Aus der Hs. der Magdalenenbibl. in Breslau von Henschel u. d. T. demon-
stratio anatomica. fehlerhaft herausg.. Coli. Salern. II p. 391—401.
•'') Nach der Berliner Hs. Ms. lat. fol. 219 zum ersten Male herausg. von
♦Florian (Jul.) 1875, in verbesserter Aufl. m. deutscher Uebers. u. d. T. *Die Ana-
tomie des Richardus von Vict. Tarrasch, Berl. 1898, 49 S.
Geschichte der Anatomie. 197
Menschen nur der äusseren Gestalt nach älinlich. dem inneren Bau
nach jedoch das Schwein. Die an solchen Tieren geübte Anatomie
sei zweckentsprechend, eine andere aber unnütz.
Die Salernitaner haben demg-emäss praktische Anatomie getrieben,
sich jedoch auf die Beschauung der Eingeweide von Schweinen be-
schränkt. Der damit verbundene theoretische Vortrag war haupt-
sächlich auf die durch Konstantin von Afrika übermittelte arabische
Anatomie des Ali ben el-Abbäs gestützt. Eine Festigung hat das
Studium der Anatomie hier durch die Verordnungen Friedrichs IL
vom J. 1240 erlangt. ^) Sie beschränken den medizinischen Unter-
richt auf Salerno und Neapel, die Erlangung des Titels eines Arztes
und der Berechtigung zur Ausübung der Heilkunst auf Salerno, setzen
die Studienzeit fest und knüpfen die Ausübung der Chirurgie an die
Vorbedingung eines mindest einjährigen Studiums, vor allem der
Anatomie.
Der Wortlaut einer Stelle erinnert auffallend an den in der Einleitung
zur Knochenlehre des Galenos : nullus chirurgus-admittatur, nisi-anatomiam-
didicerit-sine qua nee incisiones salubriter fieri poterunt, nee factae curari :
rä)v doTCüv-STTioraad-al fpr^iu /o^j'ßt rhv iciTQOv, elrceg ye ögd-öjg /iul/.ei zd
z€ '/.arayuara avTwv y.al tu i^aob-Qr^uara läad-ai. — oarig öh toDto ayvoü,
OVIS OTir^ ra Ttenov^öra zf^g cpvoecog e^Lozazai, ovzs cog xqtj avza STraraysiv
sig zb xcacc (pvaiv etaezai.
Bologna.^) Die Anfänge des anatomischen Studiums an dieser
Schule hüllen sich in Dunkel, obz^var mehrere Andeutungen über
die Teilnahme daran im 12. Jahrh. vorhanden sind.-) Hier hat sich
der Chirurg Wilhelm von Saliceto seit 1269 aufgehalten und in
seiner Chirurgie (vollendet 1275 oder 1279) auch die Anatomie be-
handelt (das 4. der 5 Bücher). Man begegnet darin zum erstenmal
einer Anatomie für die praktischen Zwecke der Chirurgie,
allerdings ohne neue Ergebnisse. "Wilhelm ist der erste, der hier
(nicht in Mailand, wie man irrtümlich angenommen) Leichen ge-
öffnet, ^) und zwar noch vor dem 15. Februar 1302, an welchem Tage
Wilhelm von Varignana eine anatomische Leichenschau zu ge- ßarwWU-v*»^*«^«
richtsärztlichen Zwecken (Feststellung einer Vergiftung) vorgenommen
hat. Lehrmeister der Anatomie katexochen, nicht für Bologna oder
für seine Zeit, sondern gleich für 2Vo Jahrhunderte ist hier Mondin o
de'Luzzi. Hier beginnt also um 1300 das seit der Ptolemäei-zeit
vernachlässigte Studium des Menschen, anfangs allerdings nur damit,
dass man sich auf den Nachweis des Ueberlieferten an der Leiche
beschränkte. Die zu diesem Zwecke verfasste Anatomie des Mondino
ist das grundlegende Werk der mittelalterlichen Universitäten. Sie
wird immer wieder tradiert und kommentiert und neu gedruckt bis
zum J. 1550, d. i. beiläufig bis zum litterarischen Auftreten des Vesal
(vgl. Pavia, Matteo Corti). Die Einleitung zu seiner Anatomie, die
*) Vollständig bei *Huillard-Br eh olles, Historia diplomat. Friderici II.
Ad. fidem chartar. et codd. Par. 1851—61.
*) *Medici (Michele), Compendio storico della scuola anat. di Bologna, Bologna
1857, 4°, 4.S0 p.; *Medici (Michele), Della vita e degli scritti degli auatoraici e
medici fioriti in Bologna dal cominc. del sec. XIII. fino al pres., Bologna 1853, 4*',
Sammlung von 13 Monographien.
*) Vgl. die Kritik bei Medici Comp. stör, eingangs.
'' Laboulbene, Les anatomistes anciens, Eev. scientif. 1886.
198 Robert Ritter von Töply.
als Buch seit 1478 sehr oft erschienen ist, erwähnt, dass das Nach-
folgende ein Schulbuch sei, dass die Sektion an der Leiche eines Ver-
storbenen, Enthaupteten oder Gehenkten vorg-enommen wird, giebt vor-
her eine allgemeine Uebersicht, und geht dann, dem praktischen
Zwecke gemäss in folgender Weise weiter: I. Bauch (venter inf.,
membra naturalia), 1. Myrach (Bauch), 2. Bauchmuskeln, 3. Siphac
(Peritoneum), 4. Unterleibserkrankungen, Bauchwassersucht, Bauchstich,
5. Zirbus (Omentum), 6. Dickdarm, 7. rectum, Kolon, 8. Dünndarm,
9. jejunum, 10. duodenum, 11. mesenterium, 12. Magen, 13. kardia
und pylorus, 14. Milz, 15. Leber, 16. Gallenblase, 17. vena cylis (Hohl-
vene), emulgentes ( Nieren venen), Nieren, 18. Nierenkrankheiten, Nieren-
stein, 19. Samengefässe, 20. Gebärmutter mit der Annahme von sieben
Kammern: 3-|-l+3, 21. Hoden, 22. Hoden und Samengefässe, 23. Blase,
24. Rute, 25. After. IL Brust (venter medius, membra spiritualia) :
26. Brüste, 27. Brustmuskeln, 28. Brustknochen, 29. Zwerchfell, Brust-
fell,, mediastinum, 30. Zwerchfell, 31. Herz (3 Kammern: a) rechte
Kammer mit dreizipfeliger Klappe, Mündung der vena arterialis mit
3 Klappen, b) linke Kammer mit 3 Klappen an der Adhorti-Mündung,
Mündung der Arteria venalis, c) dritte Kammer keine einheitliche
Höhle, sondern mehrere kleine Höhlen in der Scheidewand), Herzbeutel
= casula, 32. Lunge, 33. venae guidem (jugulares), Mandeln (amyg-
dalae), 34. Mund, 35. Mery (Oesophagus), trachea arteria (Luftröhre),
36. Kehldeckel, 37. Zunge. III. Kopf (venter superior, membra ani-
mata): 39. Schädel, 40. Hirnhäute, 41. Eückenmark, 42. Riechorgan,
(corpora mamillaria !), 43. Gehirnnerven (die 7 Paare des Galenos),
44. Augen (die 7 Häute: 1. Cornea, 2. conjunctiva, 3. sclirotica,
4. Uvea, 5. secundina, 6. aranea, 7. retina; 3 humores: 1. vitreus,
2. crystallinus [3. aqueus]). 45. Ohr. IV. Skelet: 46. Wirbelsäule,
47. Arm und Hand, 48. Schenkel und Fuss. — Auf das Muskelsystem
sowie auf die peripheren Gelasse und Nerven geht Mondino nicht ein.
Aus gelegentlichen Bemerkungen ist zu entnehmen, dass er im Januar
und März 1315 je eine weibliche Leiche, im J. 1316 eine Sau seciert,
und dass er seine Anatomie noch im selben Jahr geschrieben hat.
Sein Dissector Ottone Agenio Lustrulano scheint sich nur als
solcher bethätigt zu haben. Die Seltenheit des Leichenmaterials hat
schon damals zum Leichen raub zu anatomischen Zwecken
geführt. Ein solcher ist für den 20. November 1319 festgestellt. Die
Sektion fand im Schulgebäude unter Anleitung des Magister Alberto
de' Zancari*) statt. Mondinos Schüler, der Lombarde Bertuccio
(Prof. der Logik und Medizin, gest. 1347 an der Pest) hat die Schul-
sektionen in der Art seines Lehrers in 4 Vorlesungen abgethan. Er
behandelte an der auf einer Bank gelagerten Leiche: 1. (wegen der
Fäulnis) die Baucheingeweide, 2. die Brustorgane, 3. den Kopf, 4. die
Gliedmassen und besprach dabei, wie sein Vorgänger der Schulmethode
folgend, an jedem Gegenstand 9 Punkte: 1. positio, 2. substantia,
3. complexio, 4. quantitas, 5. numerus. 6. figura, 7. colligatio, 8. actio
et utilitas, 9. aegritudines, (9. de Cauliaco, Chir. magna tract. I. doct.
1. cap.) im Anschluss an die Kategorien des Aristoteles. Er
selbst hat in seinem „Collectorium" nur ein anatomisches Kapitel
mit einer kurzen Beschreibung des Gehirns, doch deutet die Ueber-
*) Laureat 1326, Lektor der Med. bis IMl. Feststellung der Person bei Medici
Comp. stör. p. 37, Processakten bei De Renzi Storia II p. 249.
Geschichte der Anatomie. 199
Schrift auf den Ausfall einer Fortsetzung.^) Bertucci hat durch
seinen Schüler Guy de Chauliac die Anatomie in Montpellier be-
einflusst. Der noch dem 14. Jahrhundert angehörende Tommaso di
Garbo (gest. 1370) kennzeichnet sich durch seinen Kommentar zur
Embryologie des Avicenna (Kan. lib. 3. fen. 21, tract. 1, cap. 2 de
generatione embryonis) ebenso wie der etwas jüngere Paduaner J a c o p o
da Forli als Arabist. Im 15. Jahrhundert wurden die Leichen-
zergliederungen durch die Universitätsstatuten von 1405 und den Zu-
satz von 1442 geregelt, im allgemeinen jährlich 2 angesetzt (je eine
männliche und weibliche Leiche, nur in Ermangelung 2 männliche).
Ob der Chirurg P i e t r o d' A r g e 1 a t a ( Pietro della Cerlata) Anatomie
geübt hat, ist zweifelhaft. Sicher ist jedoch, dass er die Leiche des
1410 hier gestorbenen Papstes Alexander Y. balsamiert hat. ^)
Giovanni da Concor eggio (ursprüngl. in Mailand, dann Lector
publ. in Bologna, gest. in Pavia 1438) hat ein umfangreicheres anat.
Werk hinterlassen, ^j Einen entschiedenen Fortschritt bedeuten die
drei Zeitgenossen Gerbi, Achillini und Berengar. Gabriele Gerbi
(Zerbi. Zerbus) war Prof. d. Med. 1473 — 77, auch der Logik und
Philosophie bis 1483. Seine Anatomie wurde wiederholt gedruckt.*)
(Die in der Literatur wiederholt angeführte ,,Anatomia infantis" ist ein
ganz kurzes Excerpt — 2 Seiten und einige Zeilen — aus Gerbi, welches
Johann Eichmann seinen Illustrationen zur Gehimanatomie angehängt hat. ^)
Der Gang seiner Darstellung ist noch immer der von Mondino und
Bertucci eingehaltene, dabei geht er aber schon weitaus genauer auf
die einzelnen Organsysteme (Knochen, Gefässe, Muskeln) ein und
schliesst mit der Embryologie (s. oben). In diesem Kapitel hält er
sich ziemlich an Avicenna. im übrigen bedeutet er einen wesent-
lichen Fortschritt. Abgesehen von einer Eeihe besserer Darstellungen
I Blase, Auge, Pharynx, Nerven), beschreibt er schon sehr genau die
Faserung des Magens (iibr. musc. obliq.. transv., später Falloppio),
spricht nicht mehr von den Höhlen des Uterus, hält noch an dessen
Hörnern fest, deutet aber schon die sog. Fallopischen Tuben an, spricht
nicht mehr von der 3. Herzkammer, entdeckt die Thränenpunkte des
Auges,^*^) studiert den Geruchsnerven, erklärt den Interkostalnerven ^^)
als Ast des V. Paares und untersucht den n. pterygoideus (guidianus).
Alessandro Achillini (1463—1512). Seine ,.Annotationes anatomicae
in Mundinum" ^-) zeugen von Gewissenhaftigkeit im Nachforschen. Er
kennt die Blinddarmklappe, entdeckt die Einmündung des Gallen-
gan g e s in den Zwölffingerdarm, das im Altertum nur wenigen bekannte,
ja angezweifelte, im Mittelalter bisher nicht erwähnte Jungfern-
häutchen (velamen), beschreibt genauer das Kleinhirn, die Hirn-
^) Proeminm primi libri: In quo de Anatomia corporis humani agitur. *Ber-
trucii Bononiensis compendiura. Colon. 1537, fo. XII, recto
^) Beschr. des Verfahrens in seiner Chir. 1. V, tract. 12 c. 31.
'') *Jo de Concorezio lucidarium et lios Medicinae divis. in IV tractatus, de
capite, de pectore, de stomacho et annexis — complet — 1438.
*) *Liber Anatomiae corp. hum., Venet. 1502, dann u. d. T. Opus praeclarum
anatomiae Totius corp. hum., Venet. 1533.
") *Anatoraia, h. e., corporis hum. dissectionis pars prior — per Jo. Dryandrum —
Item Anatomia Porci, ex traditione Cophonis, Infantis ex Gabriele de Zerbis, Marp. 1537
^'') Später Berengar.
") Später Achillini.
") Folio Bonon. 1522.
200 Robert Ritter von Töply.
nerven, das Rückenmark, die Armvenen, entdeckt den Hammer und
Ambos im Mittelohr. Ernennt als Anatomiejahre 1502, 1503, 1506.
Da seine Thätigkeit zu Bologna bis zum Jahre 1505 reicht (in Padua
1505 — 1508), so dürfte hier Pietro Morsiano da Imola, Lector
der Chirurgie, sein Ostensor gewesen sein. Eine von Pietro aus-
geführte Sektion ist für den 13. Okt. 1499 bezeugt. Pietro hat in
Gemeinschaft mit 2 Studenten der Chirurgie eine verbesserte Ausgabe
der Anatomie des Mondino veranstaltet.^^) Der Chirurg Jacopo
Berengario da Carpi (um 1470 — 1530) ist der weitläufigste Kom-
mentator des Mondino. ^^) Das Hauptgewicht legt auch er auf die
Eingeweide, denn die Nerven könne man nur an ausgewässerten, die
Muskeln an gekochten Leichen genauer studieren, auch könne man
bei einem öffentlichen Schulvortrag nicht demonstrieren. ^^) Im wesent-
lichen fusst Berengar, obzwar Gegner des Galenismus, doch noch auf
einem alten Standpunkt. Er hält mit Galenos gegen Mondino an
2 Fächern des Uterus, mit Mondino an der dritten Herzkammer des
Aristoteles fest, bezeichnet den Kehldeckel unter Berufung auf Galen
als glotida und principalissimum vocis Organum, hingegen weist er das
Wundernetz des Galenos an der Hirnbasis, die Hohlheit der Sehnerven
(beides allerdings nicht genug entschieden) zurück, er hat zuerst die
Paarigkeit der Giessbeckenknorpel erkannt, auf die Klein-
heit des mensch 1. Wurmfortsatzes hingewiesen. Doch hat er,
wie die Griechen, an die Veränderlichkeit des menschlichen
Typus geglaubt, daher so mancher Beobachtung — ob neu, ob alt
— nicht den richtigen Wert beigelegt, obzwar er Hunderte von
Leichen öffentlich und privatim zergliedert haben will, auch Vivi-
sektion an Tieren getrieben und am anatomischen Präparat experi-
mentiert hat. ^'') Besonders hervorhebenswert ist sein Verdienst um
die anatomische Abbildung,^') obzwar die Tafeln mehr Hlu-
stration als genaue Darstellung nach der Natur, auch nicht alle
originell sind.^^) Gabriel Falloppio hat den Berengar als Reformator
der Anatomie gepriesen. Das ist Berengar allerdings nicht gewesen. Er
beschliesst nur die mittelalterliche um Mondino gescharte Anatomie
an einem Uebergangspunkte von der alten zur neuen Zeit.
Padua. ^) Die nachweislich älteste Sektion hat 1341 statt-
gefunden, bei welcher Gelegenheit Ge utile da Foligno (gest. 1348)
einen Gallenblasenstein entdeckte; der folgenden Zeit des 14. Jahr-
hunderts gehört Jacopo da Forli (f 1413), durch seinen Kom-
") Im Fascic. medicinae des Job. de Ketham, Druck von 1495. Vgl. Choulant,
Bücherk. 1841, S. 403.
^^) *Carpi Commentaria cum amplissismis Additionibus super anatomia (!)
raundiui una cum textu eiusdem in pristimim et verum nitorem redacto, Bonon. prid.
Non. Mart. 1521, 4", 528 Bl.; *Isagogae Breues perlucidae ac iiberrimae in Anatomiam
bum. corp. a communi Medicorum Academia usitatam a Carpo — ad suorum Schola-
sticorum preces in lucem datae, 1523, 15. Juli, Bonon. 4", 80 Bl.*): Beide Werke
m. Holzscbn.
*) Die erste Aufl. soll vom J. 1522 sein.
!•') Comment. 1521 f. 516 a, 500 a.
18) Vgl. die Kritik bei Rotb, Andr. Vesalius 1892, S. 37—48.
1") 21 mit der Zeit auf 23 erweiterte Tafeln, vgl. die Zusammenstellung bei
Roth a. a. 0. S. 50.
***) Auf ihre Abhängigkeit von verschiedenen Vorlagen hat Roth a. a. 0.
S. 49 — 56 hingewiesen.
*) Tosoni (Pietro). Della Anatomia degli Antichi e della scuola anat. Pado-
vana — Päd. 1844, 4° m. 1 Taf.
Geschiclite der Anatomie. 201
mentar zu dem die Embryologie behandelnden Kapitel des Avicenna
(kan. 1. 3, fen 21 tract 21 kap. 2). ebenso wie der Bolognese Tommaso
di Garbo als Arabist gekennzeichnet. Im 15. Jahrhundert wird einer
Sektion am 8. Febr. 1429 an der Leiche eines Berg-amasken unter
Leitung des Ugo de Senis, dann einer an einer weiblichen Leiche
am 4. April 1430 gedacht. In beiden Fällen hat der bekannte Chirurg
Leonardo Bertapaglia assistiert.-) 1436 wird Antonio da
Padova als Anatom genannt. Die praktische anatomische Thätig-
keit war sehr rege, denn Bartolomeo Montagna d. Ae. (Prof.
1422—1441, gest. um 1460) hat hier bis zum J. 1444 vierzehn Sektionen
erlebt, und für 1446 ist schon ein anatom. Theater erwiesen,-') eine
feierliche Schulsektion mit nachfolgendem festlichem Begräbnis fand
vom 20. — 28. März 1465 statt. Eine Regelung bcAvirkten die Statuten
der Artisten v. J. 1495.^) Danach sollen womöglich jährlich
2 Leichen verschiedenen Geschlechts zergliedert werden. Die wieder-
holt genannte Errichtung eines anatom. Theaters i. J. 1490 durch
AlessandroBenedettidaLegnano (Alex. Benedictus, gest. 1525,
Schüler des humanistischen Florentiners Ant. Benvieni) ist eine ge-
schraubte Annahme von Guis. Cervetto. Dokumentarisch sichergestellt
ist nach jenem aus dem J. 1446 nur die Errichtung eines splendiden
theatrum anatomicum. begonnen den 23. Jan. 1584, fertiggestellt 1595.
Benedetti bespricht in seiner ..Anatomice"^ (Vorrede vom 1. Aug. 1503)
nur gelegentlich die Einrichtung eines „temporarium theatrum'' nach
dem Vorbilde derer in Eom und Verona und scheint auch ein
solches erlangt zu haben. Er erweist sich wie sein Lehrer als ge-
bildeter Humanist (er kennt Hippokrates, Piaton, Aristoteles, Galenos,
Pollux, Rhuphos, Alexandros Aphrodisias, Lucretius, M. Varro, Cicero.
Celsus, Plinius. A. Gellius, Macrobius, LactantiusX mit dem Bestreben
über die Alten hinauszukommen, will u. A. die Vorhöfe des Herzens
nicht mehr als „Ohren", sondern als Wassergrotten (specus) aufgefasst
wissen, ist Entdecker der Mündungen d e r s o g. B a r t h o 1 i n s c h e n
oder Tiedemannschen Drüsen.') Bezeichnend für seinen huma-
nistischen Standpunkt ist. dass er seiner Anatomie die Abhandlung
des Georg Valla von Piacenza über die anat. Nomenklatur an-
hängt. Seine Zeitgenossen und Nachfolger Antonio Capedino di
Romano (1501), Giambattista Fortezza Vicentino (1504),
Niccolo de'Musi Padovano (1526), dann Bassiano Landi
(ermordet 1563) *^), sind hinter ihm zurückgeblieben, obzwar die Uni-
versität seit der Wiederherstellung im J. 1517 sich neu gekräftigt
hatte, und öffentliche Anatomien wiederholt abgehalten wurden. Nach-
gewiesen sind sie für 1520 (Lektor Nico laus de Janua), 1532, dann
für 1536 37. Letztere dauerte volle vier Wochen, vom 24. Dezemb.
1536 bis 24. Jan. 1537 und wurde verrichtet von Giovanni Nicola
Leonice no (1428 — 1524, Prof zu Ferrara) einem der ersten Vor-
kämpfer der neuen Zeit und Lehrer der Realdo Colombo. Es war
•) Ferrari I. c. p. 128129.
") Tosoni p. 101. Streit um die Kosten u. s. w.
*) Favaro, D. Hochschule Padua z. Z. des Coppernicus, deutseh v. Curtze,
Thorn 1881.
•'■) Alexandri Benedict! physici anatomice 1. Aufl., Venet. 1493, *Basil. 1527,
8«, 119 Bl , *Paris 1514, 8«, 82 Bl.
") Verf. von De humana bist , v. singular. hominis part. cogTiitione 11. duo
Basil. 1542, 4», sq.
202 Robert Ritter von Töply.
dies wohl eine der letzten Sektionen der alten Schule, denn am Jahres-
schlüsse, den 6. Dezember 1537 arbeitet hier als Sekant bereits Andreas
Vesal. ')
Venedig.^) Ein Erlass des grossen Rates (Maggior Consiglio)
vom 27. M ai 1368 ^) verfügt, dass die Chirurgen je einmal eine Leichen-
sektion veranstalten und zwar im Beisein der Vorstände, Aerzte und
Chirurgen. Die Kosten wurden am 8. Aug. 1370 nach einem dies-
bezüglichen Streite zwischen den Aerzten und Chirurgen auf beide
Parteien verteilt. Nachdem die Republik in den Jahren 1400—14 die
Republik Vicenza, Belluno, Feltre, Rovigo, Verona, Padua erobert
hatte, war der wissenschaftlichen Gravitation nach letzterer Stadt der
Weg geebnet und sank der Betrieb der Anat. an den Lagunen. Eine
Regelung gaben die Statuten von 1507. Danach hat der Vorstand der Chi-
rurgen jährlich eine „Anatomie" zu veranlassen. Dabei hat Einer aus
dem Collegium physicum den Mundius vorzulesen, ein Chirurg die Sektion
vorzunehmen, falls nicht jemand aus dem Collegium physicorum Lust
dazu hat. Das Schwanken zwischen alt und neu spiegelt sich hier
in Antonio Massa (gest. 1569). Er nimmt einen allgemeinen Unter-
hautmuskel an,'^) benennt den von Galenos entdeckten Unterhaut-
halsmuskel Platysma myoides, beobachtet die inscriptiones t en-
din eae der geraden Bauchmuskeln (meist 3), erklärt dasMeconium
für einen Ausfluss der Gallenblase, hält mit Galenos den Urachos für
den Harngang des Fötus, glaubt nicht an das ständige Vorkommen
des Wurmfortsatzes (s. Berengar), kennt besser als Berengar die
Nierensubstanz (Streifung), nimmt an der Harnblase mehrere Schichten,
an den üreteren nur eine an, kennt die von Berengar entdeckten
Samenblasen nicht, hat jedoch die Prostata entdeckt und eine
grössere Dicke der Blasenwand zwischen der Harnröhre und der Mün-
dung der Üreteren beobachtet (Andeutung des trigonum Lieu-
taudii), nimmt im Hodensack ein „mediastinum", im Herzen drei
Kammern, an der Zunge 9 Muskeln (äussere und innere) an, spricht
von zwei Gehörknöchelchen u. a. *)
Florenz. Die erste Leichenzergliederung ist für das Jahr 1388
erwähnt. Sie fällt in die Zeit des Nicolo Falcucci (gest. 1411,
s. Pagel in diesem Hdb. I 678), welcher in seinen umfangreichen
7 Sermones medicinales auch Anatomisches einflicht. ^) Nie. Falc. ist
nicht zu verwechseln mit dem weit jüngeren Kalabresen Nicolo
Regino de Deo propio (um 1317 — 45), Herausg. des Nikolaos Myrepsos,
Uebers. von Gal. de ump., auch Verf. einer „anatomia oculi".-) An-
tonio Benvieni (gest. 11. Nov. 1502), einer der Vorkämpfer der
Neuzeit, hat hier zumindest 20 Autopsien, auch Privatautopsien
durchgeführt. ^) Der Umstand, dass ihm nur einmal eine Privatautopsie
verweigert wurde, spricht für das schon sehr vorgeschrittene Ver-
ständnis seiner Mitbürger für Leichensektionen. Benvienis Geistes-
') Hs. des Vitus Tritonius Athesinus, Hofbibl. Wien Nr. 11, 195 (med. 119),
p. 172a bis 182b, Bericht darüber bei Roth a. a. 0. S. 454 fg.
^) Musatti (Cesare), Dell' anatomia in Venezia. Discorso del Dr. Luigi
Nardo (publ.) con note e ginnte, Venezia 1897, 8", pp. 112.
•') Bei de Renzi Storia II 2, p. 247, J. 1308.
') Von Ch. Estienne Aviderlegt.
■•) Anatomiae üb. introductor, Venet. 1536, 4" u. f.
^) s. 3 memb. cap., 4. mb. spirit., 5. mb. nat., 6. mb. generat-
«) Vgl. Mercklin Linden, renov. 1686, p. 841.
^) Die Resiiltate in „de abditis morborum causis".
Geschichte der Anatomie. 203
richtung*) hat dessen Schüler Benedetti weiter gezüchtet. In dieser
über das jVIittelalter hinaus bereits weit fortgeschrittenen Welt-
anschauung hat 1495 Michelangelo Buonarotti seine ana-
tomischen Studien zum Kruzifix für die Kirche des Klosters S. Spirito
an Leichen gemacht, mit denen ihn der Prior des Klosters versah.
Im J. 1505 erhielten die Aerzte von S. Maria Xuova eine männliche,
1533 eine weibliche Leiche zu anatomischen Zwecken.
Siena, Perugia, Genua, Ferrara, Pisa, Pavia, Yer-
celli, Verona. — Siena bewirbt sich am 9. Jan. 1427 um d. Leiche
eines Gehenkten „pro faciendo anatomiam", Perugia kann um das
J. 1457 jährlich 2 Verbrecherleichen beanspruchen, in Genua schliesst
das Aerztekollegium i. J. 1482 gewisse Leichen von der Anatomie
aus. In Ferrara bestimmen die wahrscheinlich vom Ende des
15. Jahrhunderts stammenden Statuten der Universität ^) die jährliche
Lieferung einer Leiche seitens des Podestä. Hier wirkt seit 1464
durch 60 Jahre Nicolo Leoniceno (1428 — 1524) einer der hervor-
ragendsten Vorkämpfer des Humanismus -). Er bekämpft den Plinius.
Avicenna, Mondino, Gentile da Foligno, geisselt den Benedetti, weist
ihm die Oberflächlichkeit im Klassizismus und unbesonnenes Ab-
schreiben des Plinius sowie der Arabisten nach, hängt aber an Aver-
roes und Galenos. Leoniceni ist, wie die Mitglieder der Neuen Floren-
tiner Akademie, Stürmer des Arabismus zu Gunsten des Galenismus.
In Pisa wird die Abhaltung einer Anatomie für das Jahr 1501
erwähnt. Pavia,") Hier war der Polizeipräfekt (podestat) im
15. Jahrhundert verpflichtet über Ansuchen der med. Fakultät, wann es
dieser beliebt, Leichen beiderlei Geschlechts zu liefern."*) Giammateo
Ferrari da Grado iProf 1432—1472) gilt als Erster, der die weib-
lichen Hoden als Ovarien bezeichnet und (bereits vor Stenon, de Graaf,
Verheyen) gut beschrieben haben soll. Thatsächlich hat Ferrari kein
anatomisches Werk verfasst, sondern nur in seiner ..Practica" sowie
in den „Expositiones" auch anatomische Erörterungen eingeflochten,
u. A. bemerkt, „in der Gebärmutter sind auch zwei Eier (ovai,
welche drüsiges Fleisch (carnes glandose) heissen, und dies sind
die zwei Hoden des Weibes", dann die zwei Deckhäute hervorgehoben,
zwischen denen sie liegen, schliesslich die „Samengefässe", d. i. die
Muttertrompeten, welche er aber noch in den Gebärmutterhals ein-
münden lässt. ^1 Behufs Gründung einer anatomischen Schule berief
man erst den Marcantonio della Torre (M. Ant. Turrianus. geb.
1473, gest. schon 22. Sept. 1506), einen Stürmer des Arabismus zu
Gunsten des Galenismus. Er starb während der Vorbereitungen zur
Ausgabe eines grossen anatomischen Werkes „ex placitis Galeni".
dessen Illustration Leonardo da Vinci (1442 — 1519) übernehmen sollte.
■*) Der Kampf der nexien Florentiner Akademie ist ursprünglich von einem
Stnrm gegen die Araber zu gnnsten des Galenisraus ausgegangen.
^) Gegründet 1391 durch Bulle des Bonifacius III.
^) Nie. Leoniceni Vicentini De Plinii et plurimor. alior. medicor. erroribus,
Ferrara 1492.
') Vgl. *Ferrari (Henri-Maxime), Une chaire de medecine au XVe siecle, uii
professeur ä l'Universite de Pavie de 1432-1472, Par. 1899. M. Hs.-Facs. u. 5 Repi.
aus Druckwerken (betrifft Giammatteo Ferrari da Grado). Die Universität wurde
gegründet durch Stiftsbrief Karls IV. v. 13. Apr. 1361. Päpstliche Bestätigung
durch die Bulle Bonifacius IX. v. 16. Nov. 1389.
*) Cit. bei Ferrari S. 130.
*) Text-Analyse bei Ferrari p. 115—123.
204 Robert Ritter vou Tüply.
Die anatomischen Studienblätter des Leonardo da Vinci liaben sich
erlialten. Ein Teil ist vor kurzem in würdig-er Weise veröffentlicht
worden.") Sie zeug-en von treuer Beobachtung der Natur. Ein ana-
tomisches Theater wurde durch Beschluss der Universität vom
21. Nov. 1522 nach dem Vorbilde derjenigen von Pisa und nach An-
gabe des Gabriele Cuneo errichtet. Dieser leitet als Schüler und
Verteidiger des Vesal bereits zur neuen Zeit hinüber. Doch hielt
man andererseits doch noch am Galenismus, ja an Mondino fest. Be-
weis dessen, dass hier noch im J. 1550 Matteo Corti den Mondino mit
einem gleichgesinnten Kommentar herausgeben konnte ohne Ahnung,
dass mittlerweile eine neue Zeit angebrochen war. ')
In Vercelli hat der durch den Humanismus aufgeblüte, haupt-
sächlich von den Florentinern hochgetragene Galenismus lange nach-
gehalten. Sein Verteidiger ist Francesco P o z z i (Franciscus Puteus,
Apologia in Anatome pro Galeno, contra Andream Vessalium Bruxel-
lensem, Venet. 1562).
Die päpstliche Kurie.') Der Sinn der das Verfahren mit
Leichen einschränkenden Erlässe der Päpste Bonifa eins VIIL
(P. 1294—1303) und Sixtus IV. (P. 1471—1484) ist vielfach miss-
verstanden w^orden. Bonifacius VIII. erklärt nur diejenigen für ex-
kommuniziert, die da Leichen ausweiden und kochen, um die Knochen
für den Versandt zum Begräbnis in die Heimat herzurichten. -) Die
Bulle richtet sich hauptsächlich gegen die Begräbnisse „more
teutonico". Thatsächlich war es Sitte, die gelegentlich der Kreuz-
züge in fremdem Lande Verstorbenen derart zu behandeln. Dies
Schicksal erlebte Kaiser Barbarossa in Syrien, Ludwig der Heilige in
Tunis, dann die Landgrafen Ludwig III. und IV. von Thüringen,
Herzog Ludwig von Bayern, die in Eom i. J. 1167 an der Pest ge-
storbenen Erzbischöfe Eaynald von Köln und Daniel von Prag, die
Bischöfe von Speier, Verdun, Lüttich, Regensburg, Herzog Friedrich,
Sohn des Königs Konrad, Herzog Weif, die Grafen von Sulzbach,
Tübingen, dann beim 5. Kreuzzug Hademar von Kuenring und Graf
Wilhelm von Arundel, der im J. 1130 in San Germano gestorbene
Herzog Leopold von Öesterreich. =^j Das Breve des vSixtus IV. (keine
Bulle) enthält kein Verbot der Leichenzergliederung, sondern es macht
nur diese von der behördlichen und geistlichen Gewalt abhängig
(Lussana (F.), Lettera fatta nella R. Acad. d. Sc. il genn. 1886). Be-
weis der Duldsamkeit der Päpste gegenüber der Anatomie ist deren
zeitliche Uebung in Rom (allerdings im Mittelalter ohne besonderen
Erfolg), dann der Umstand, dass unter Clemens VI (1342 — 52, Avignon)
®) *I manoscritti di Leonardo da Vinci della reale biblioteca di Windosor. Dell'
Anatoraia fogli A. pnbbl. da Teodoro Säbach uikoff transcritti e anuot. da Giov.
P i u m a t i cou traduz. in lingua f ranc. preced. da uno studio di Mathias-Duval, Par.
1898, Fol., in 400 Exemplaren gedruckt.
') *D. Matthaei Curtii — In Mundini Anatomen explicatio, Papiae 1550,
400 p.
^)DeI Gaizo (Modestino), Dell azzione dei Papi dell' anatomia e della
Chirorgia sino al 1600. Milano 1893 (Mera. publ. nel peiiodico La scuola cattolica).
-) De sepulturis Bonifacius octauus. Corpora defunctorum exenterantes et ea
immaniter decoquentes, ut ossa carnibus separata ferant sepelienda in terram suam,
ipso facto sunt excommunicati. Datum Lateran. XIL Cal. Martii, Pont, nostro
anno sexto.
') Vgl. .,Zur Geschichte des Begräbnisses", Zeitschr. f. deutsche Philologie
Bd. 24.
Geschichte der Anatomie. 205
während der Pest in Siena i. J. 1348 amtliche pathologische Ob-
duktionen vorgenommen wurden. Schliesslich ist nicht zu vergessen,
dass Clemens VII. (P. 1523—1524) die Ausübung der Anatomie an
Menschenleichen zu Lehrzwecken gestattet hat.*) Die Fortschritte
der Anatomie in Rom waren allerdings bis in die Zeit der Eenaissance
nicht bedeutend.
Literatur für Italien abgesehen von LohalgescJiichfe : *De Senzi (Sahatore).
Storia della medicina in Italia, Xapoli, 5 Bände, Napoli I (2. ed.) 1S48, II. llt
1845, 1Y1S46, V 1848 (ohne Belege). — *Iloth (M.), Andreas Vesalius Bntxellensis
Berl.. Beim er 1892, in. 30 Taf., 500 S. (sehr gründlich, mit urkundlichen Belegen)
— *Cet'r€tto (Giuseppe), Di alcuni celebri Änatomici ital. del 15. sec. Ed. 2.
Brescia, Venturini 1854, 155 p. (krit. Nachrichten üb. Montagna, Gerbi, Della Torre,
Benedeiti). — I>€l Gaizo (Modestino). Della pratica della anatomia in Italia
-oio al 1600, Xap. 1892 (Estr. degli Atfi d. R. Acad. med.-chir. di Xap. a. 46 X
S. Xr. 2).
Frankreich.
Gründungsjahre für die bis zum Schlüsse des 16. Jahrh. zu Frankreich ge-
hörenden Universitäten, abgesehen von Paris u. Montpellier, nach *tTourdain (Gh.),
Bist, de Vuniv. de Par. au 17. et au 18. S. 1862: Toulouse 1229, Avignon 1308.
Orleans 1306, Cahors 1332, Angers 1364, Orange 1365, Aix 1409, Poitiers 1431,
Caen 1432, Yalence 1452, Xantes 1460, Bourges 1464, Bordeaux 1541, Beims 1547,
Douai 1562, Besannen 1564, Pont ä Mousson 1572.
Paris. — Die Geschichte des ärztlichen Standes in der Seine-
stadt bietet während des Mittelalters und noch in die Neuzeit hinein
das klägliche Bild wiederholter Zänkerei dreier Körperschaften. Neben
der medizinischen Fakultät (ihr Ursprung geht auf das Jahr 1200 —
1250 zurück) besteht die Bruderschaft der Chirurgen, ^) dann die Gilde
der Barbiere bezw. Barbierchirurgen. -) Diese gelten als C h i r u r g i e n s
de robe courte gegenüber den Chirurgiens de robe longue
von Saint-Come.
Der anatomische Unterricht geht auf die Zeit der Kapetinger
(987 — 1328) zurück. In die ersten Jahrzehnte der Universitäts-
gründung fällt die Anatomie des Ricardus Anglicus (ca. 1242 —
52). '^) in den xA.nfang des 14. Jahrhunderts die des Chirurgen Henri de
^I 0 n d e V i 1 1 e als Einleitung zu dessen Chirurgie, *) doch gehört Henri
dem "Wesen nach der Schule von Montpellier an (s. d.)
Eine festere Organisation der Universität brachten die letzten
Regierungsjahre der geraden Linie des Hauses Valois (1328—1498),
dank der Thätigkeit des Kardinals Estouteville (cardinalis Totavillaeus,
1452). Eine seiner wichtigsten Bestimmungen war die Aufhebung
der veralteten Satzung, welche den Verheirateten die Lehrbefähigung
sowie Amtsberechtigung (regentia) innerhalb der Fakultät abgesprochen
hatte. Gleichzeitig wirkte hier Jacques Despars von Tournay
Jacobus de Partibus, gest. 1465, Leibarzt Karls VII. und des Herzogs
*) *Del Gaizo (Mod.), II genio d'Ippocrate, 1897, p. 27.
*) Confrererie de Saint-Come et Saint-Damien, gegründet den 25. Feb. 1255;
das College des maitres chirurgiens wird erst 1553 erwähnt.
■-) Aelteste Urkunde v. J. 1301, seit 1505 neue Privilegien.
'•) *Anatomia Ricardi Anglici. Primum ed. Eob. Töply Eques, Vindob. 1902.
4 ", 5U pp.
*) Chirurgie de maitre Henri de Mondeville. Trad. franc. p. E. Nicaise, Par.
1893, 903 pp.
206 Robert Ritter von Töply.
von Burgund).*) Dank seinen Bemühungen und anderer wurde zufolge
Universitätsbeschluss v. J. 1469 in der Rue de la Bücherie ein altes
Gebäude gekauft und dort 1472—77 ein Fakultätshaus errichtet.
Schon 1478 fand die erste nachweisliche Leichenzergliederung statt.
Seither ist die Fakultät unausgesetzt eifersüchtig bestrebt, den ana-
tomischen Unterricht zu monopolisieren. Seit 1483 verlangt man von
den Bakalaren einen Nachweis anatomischer Kenntnisse. Die nächste
Leichenzergliederung verzeichnen die Fakultätsakten jedoch erst 1493,
obzwar angeblich seit Menschengedenken (ab omni patrum memoria)
vier von der Fakultät dazu bestimmte Pariser Aerzte alljährlich an
mindest vier Menschenleichen den Chirurgen die Sezierkunst (dissecandi
artificium) gelehrt hatten. <*)
Die Könige der Linie Valois-Orle ans (1498—1589. Ludwig XIL
1498—1515, Franz L 1515—47, Heinrich IL 1547 - 59, Karl IX.
1560 - 74, Heinrich III. 1574 — 89j haben die Medizin in Paris wesent-
lich gefördert. Heinrich IL hat eine Professur der Anatomie und
Botanik errichtet. Umso eifersüchtiger wahrte die Fakultät ihre An-
sprüche auf das Fach. Sie erwirkte gegenüber der angeblichen An-
massung der Chirurgen im April 1552 einen Parlamentserlass, dem-
zufolge eine Leichenzergliederung nur unter dem Vorsitz eines Doktors
der Medizin vorgenommen, und niemand — weder der Strafrichter
noch die Scharfrichter, noch die Magister des Hötel-Dieu oder der
Prevot des marechaus — ohne eine vom Fakultätsdekan unterzeichnete
und mit dem Siegel der Schule versehene Erlaubnis irgend eine Leiche
ausliefern darf. "') Daraus ergaben sich immer nur Gehässigkeiten
zwischen der Fakultät und den Chirurgen. Das Verdienst um die
weitere Hebung der Verhältnisse gebührt dem Humanisten Pierre
de la Kamee (Petrus Ramus, 1515 — 72), der in einer an Karl IX.
gerichteten Rede für die Reform der Akademie und Befreiung des
medizinischen Unterrichts aus den Fesseln der Scholastik männlich
eingetreten war. ^) Nun begannen auch die Vorarbeiten zur Errichtung
eines anatomischen Theaters. Nachdem der Doktorschmaus 1564 ein-
gestellt worden war, ^) bestimmte ein Erlass des Königs vom 10. April
1568, dass in Zukunft anstatt dessen jeder neue Doktor 60 Ecus für
den Bau eines anatomischen Theaters zu erlegen hat. Das Geld floss
jedoch lange nicht seiner Bestimmung zu. 1576 wurde die Stelle eines
Archidiaconus (archidiacre, prosector) geschaffen. ^") Zufolge Fakultäts-
beschluss v. J. 1496 ist jede zergliederte Leiche in geweihter Erde
zu begraben und für deren Seele eine feierliche Kirchenmesse abzu-
halten. Im Fakultätshause scheint jedoch für die festliche und mehr-
*) Er hielt 1432 — 53 Vorlesixngen über das I. Buch des Kanon der Avicenna.
Collecta Jac. de partibus in medicina pro anatomia, Ven. 1507. Die Articeila-
ausgaben — nach Choulant die Venet. 1507, 8 u. fg., auch meine Lugd. 1519,
5. Öct. — enthalten die *Summula Jacobi de partibus, u. zum Kapitel Tom Aderlass
als Illustration einen Aderlassmann, in der letztgenannten Ausg. fol. 400 verso.
**) Ren. Moreau vor J. Sylvii Opera med., unter Berufung auf des Jac. Sylvias
Angabe v. J. 1531, cit. bei Roth, Andr. Vesalius Bnix. S. 13, Anm. 1.
') Reg. de la Fac. t. VI fol. 1.'>1 vo. Nach Portal II 384 ist Germain Courtain
der Urheber dieses Erlasses, den Riolan in das J. 1540 verlegt.
») Cit. bei Riolan, Anthropogr. I 19, Op. 1649 p. 64. Gedruckt u. d. T. Pro-
emium reformandae Academiae ad Carolum IX regem, Par. 1562, 12", Advertisse-
ments sur la reformation de l'Universite de Paris au roy. 1562, 12^ Andre Wechel.
'*) Riolan Anthropogr. I 19.
^'*) Laut Dict. Enc. IV p. 225 zuerst dem Riolan verliehen. Selbstverständlich
könnte nur J. Riolan d. Aeltere, gest. 18. Okt. 1605, gemeint sein.
Geschichte der Anatomie. 207
tägige Veranstaltung kein genügender Platz gewesen zu sein. ^^) Die-
selben Akten heben wiederholt einzelne Zergliederungen hervor. Den
27. März 1526 erbittet sich die Fakultät vom Parlament den Körper
des in der Conciergerie in Haft befindlichen zum Tode verurteilten
Jehan Despatures „pour faire sur icelluy aucunes experiences con-
cernant Tart et science de medecine". Der Bitte wurde willfahrt mit
der Bemerkung, dass dem Eechtsstandpunkt des Bischofs von Paris
Eechnung zu tragen, die Leiche ihm dann auszuliefern und am Galgen
in Saint-Cloud zu henken ist. ^-) Eine Zergliederung im eigentlichen
Sinne des Wortes, bezw. eine Zertrennung scheint also nicht statt-
gefunden zu haben. Anfangs März 1551 (1552 N. S.) wurde im Hotel
Dien unter Vorsitz des Jacques Goupyl fprom. 1548, Nachfolger
des Jacques Dubois am College ro3'al) die Leiche einer während der
Geburtswehen Gestorbenen untersucht, was die Fakultätsakten als
.Seltenheit (propter raritatem casus) hervorheben.
L^nter den Anatomen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts
sind hervorhebenswert als Theoretiker Jean Fernel, (Leibarzt Hein-
richs IL, * 1497, seit 1534 Prof, f 26. April 1558), ^^j Promotor des
Galenisten Joh. Günther von Andernach (* 1487, seit 1527 in
Paris, seit 1530 Dr., j 1574), Lehrer des Eondelet und Vesal. erster
Uebersetzer der Anatomicae administrationes des Galenos, **j als Prak-
tiker Guido Guidi (geb. Anf d. 15. Jh., von Franz L als Prof an
das College de France, 1547 nach Pisa berufen), ^^) besonders aber
Jacques Dubois von Amiens (Jacobus Sylvius, * 1478, eröffnete
seine medizinischen Vorlesungen in Paris erst 1531. 1550 Nachfolger
von Guido Guidi am Coli, royal, f 13. Jan. 1555),^^) Lehrer der
Spanier Serveto und Vasseu, sowie des Andreas Vesal. Dieser erzählt,
Dubois habe (1535) Vorlesungen über Galenos de usu part. gehalten,
den Gegenstand jedoch sprungweise abgethan. alles was sich auf die
Extrema bezieht übergangen, den Autor für unfehlbar gehalten. Zu-
weilen brachte er Organe eines Hundes in die Vorlesung. Die eifrigen
Schüler zeigten ihm einst die Klappen der Lungenarterie und der
Aorta, die er tags vorher nicht finden konnte.^') Man darf dabei
nicht vergessen, dass bei den Anekdoten des Vesal mehr persönliche
Empfindung als historischer Gerechtigkeitssinn die Rolle spielt. Dubois
war eben ein Kind seiner Zeit. Das von Pierre de la Eame hoch-
getragene humanistische Studium hatte auf Hippokrates und Galenos
im Originaltext zurückgeführt und so waren Günther von Andernach,
") So verzeichnet der Dekan Jean Avis (Loysel) in den Fakultätsakten ..die
17 a januarii (1505. X. S. 1506i incepta fuit lectura anatomica per decanum in
ilomo regia de Jsesle (Hotel de Nesle, jenseits der Seine) juxta Augustinenses. Et
'luravit lectura per tres dies integros. Autem fecit soluni de membris naturalibus"
Reg. ms. de la Fac, t. III, p. 569).
1*) Reg. ms. de la Fac, t. III fol. 195. •
^^) Lebensgeschichte in der Gesamtausg. seiner Werke von Otho Heumius 1656.
") Roth, Andr. Vesalius Brux. S. 67 Anm. 1. Ueber Günther vgl. E.
Turner, Jean Gninter d'Andernach 1505 — 74: Gaz. hebdom. de med. et de chir.
ISKl. S.A.
'•^) De anat. corp. hum. 11. VII erschien posthum 1611.
"*) Ordo et ordinis ratio in legendis Hippocratis et Galeni libris 1539, *1561,
l'ar. : In Hippocratis et Galeni physiologiae partim anat. isagoge p. Alex. Araand.
1555, * 1561. Corament. in Gl. Galeni de ossibus, Par. 1561. Opefa ed. R. Moreau 1635.
'') Ueber Vesals Verhältnis zu Dubois vgl. Roth a. a. 0. Doch ist nicht zu
vergessen, dass Vesal seine Lehrer Dubois u. Günther v. Andern, wie auch andere
mit ätzendem Spott überschüttet und dass Roth für Vesal schwärmt.
208 Robert Ritter von Töply.
Dubois, ja, so war die ganze Fakultät in das Fahrwasser des Galenis-
miis geraten und zu dessen Verfechter geworden. Es wiederliolt sich
hier dasselbe Schauspiel wie bei den Anatomen in Italien. Die Re-
naissance war eine Wiedergeburt, aber sie führte geradenwegs zum
Rückschlag. Seine Leistungen als Anatom sind die eingehende Be-
schreibung des Keil b eins, der Fortsätze und der Höhlen, die Kennt-
nis des Gaumenbeins, die Beschreibung der Wirbel, ihrer Gelenk-
flächen, die Bezeichnung der Fortsätze als schräge und quere, die
Erwähnung der Venenklappen, die erhöhte Sorgfalt für die ana-
tomische Nomenklatur. Im Herzen ist er allerdings Galenist, er
glaubt an die Veränderlichkeit des menschlichen Typus u. s. w^ und
tritt für Galenos auch gegen Vesal ein.
Dieser Galenismus hält auch in der zweiten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts in Paris noch an, wenn auch schon öfter eine freiere Natur-
beobachtung mit im Spiele ist. Jetzt sind es aber neben den in
Theorien befangenen Doktoren der Fakultät besonders die Chirurgen
und Barbiere, die das Heft in die Hand nehmen. Der Schüler des
Jacques Dubois, Michael Marescot wird von Riolan d. J. als
„quondam Scholae Parisiensis oracalum" gepriesen. Er hat die
Barbiere zum Studium der i^natomie herangezogen. Der Nachfolger
G e r m a i n C o u r t a i n , docteur regen t in der medizinischen Fakultät ^ ^)
wird von Riolan d. J. sehr gelobt, indes erklärt Portal dessen Werk
für eine elende Mache. ^^)
Der Chirurg Jean Tagault (1534—38 Dekan der medizinischen
Fakultät, gest. 1545 im Apr.) ist als Bearbeiter des Guy de Chauliac
erwähnenswert.-") Mit Hilfe des Chirurgen Estienne de la
Riuiere veröffentlichte Charles Estienne (Dr. 1542, f 1564)
seine reich illustrierte Anatomie. -^) Den Abschluss dieses Zeitraums
bildet der einstige Barbier (seit 1554 maitre im College de S.-Cosme)
Ambroise Pare (* um 1510, f 20. Dez. 1590).--) Pare hat sich
auch mit dem Balsamierungsverfahren-*^) befasst. Seine Ana-
tomie ist schon von Vesal stark beeinflusst.
Montpellier.^) Zur älteren Periode der Universität-) gehört
der Chirurg Henri de Monde ville (1260 — 1320), Zeitgenosse des
Bernard Gordon in Montpellier '^) und des Mondino de' Luzzi in Bologna.
^*) Er hat seine Vorlesungen über Anatomie u. Chirurgie, die er den an-
gehenden Chirurgen 1578 - 87 gehalten, veröffentlicht.
1») Portal II p. 383.
^"j De Chirurg, instit. 11. V, Par. 1543 etc.; Metaphrasis in Guid. de Cauliaco,
Par. 1545.
^') De dissectione part. corp. lium. 11. tres, Par. 1545, franz. * 1546; Vor-
arbeiten a. d. J. 1530; Tgl. Choulaut, Auat. Abb. S. 36 u. f.
^-) Briefve coUection de l'administr^tion anatomique: Avec la maniere de con-
joindre les os. Et d'extraire les enfants tant morts que vivans du ventre de la
mere, 1550 (1549?); Anatomie universelle du c. h., comp, par A. Pare — revene et
augm. — av. J. Rostaing de Bignose ProvenQül, aussi Chirurgien Jure ä Paris,
1561 etc.; *Malgaigne, Oeuvres compl. d'A. Pare. — Vgl. E. Turner in Gaz. hebd.
de med. et de chir. 1878 Nr. 8. Hier Nachweis der vesalischen Figuren. Cit.
Roth a. a. 0. S. 250.
") Vgl. Opera, zum Schluss.
^) *(J. Riolan d. J.), Curieuses recherches sur les escholes en medecine. de
Paris, et de Montpellier, Par., Meturas 1651, 291p.; Astruc (Jean), Memoires pour
servir ä l'hist. de la faculte de med. Montp. Rev. et pnbl. p. Lorry, Par. 1767, 4.
Die Herrschaft kam Ende des 13. Jh. an die Könige von Majorka u. erst 1350 an
Frankreich.
2) Gegründet 1289.
Geschichte der Anatomie. 209
Seinen 1304 in Montpellier gehaltenen Schulvortrag über Anatomie
hat nach der Berliner Hs. zum erstenmal Pagel herausgegeben. *) Sie
ist dem Ursprung nach unter Einfluss der italienischen Chirurgen
Borgognoni und Lanfranchi entstanden, dem Wesen nach ein Auszug
aus Avicenna. Als Lehrbehelfe verwendet er 13 Abbildungen, ^) wahr-
scheinlich auch Modelle, wenigstens beschreibt er ein Schädelmodell
zu Lehrzwecken.**) Bei Henri begegnen uns die ersten mittelalter-
lichen Mittel für den Anschauungsunterricht in der Anatomie.
Seine anatomischen ünterrichtstafeln haben sich nicht erhalten, doch
lassen sie sich aus den Handschriften rekonstruieren:
1. Vorderansicht eines Menschen. Knochen, Knorpel, Ligamente, Ge-
lenke. An den Gliedmassen die Nerven, Sehnen und Muskeln. 2. Rück-
ansicht wie Nr. 1 nebst Darstellung der Rückgratsnerven. 3. Gefässverlaof
in der Brust- und Bauchhöhle. 4. Ein Mann, der seine abgezogene Haut
an einem Stocke über der Schulter trägt. Darstellung des Unterhautfett-
gewebes. 5. Situsbild, Rückansicht des Gehirns und der Hirnhäute, des
Brust- und des Bauchfells. 6. TJebersicht des Zentralnervensystems. 7. Schädel
von oben betrachtet. 8. Schädel, Seitenansicht. 9. Medianschnitt durch
den Körper, Situs viscerum. 10. Das Auge. 11. Situs viscerum, Rück-
ansicht. 12. Das TJrogenitalsystem des Mannes. 13. Das des Weibes.
Die angeblich aus dem J. 1340 stammenden Statuten schreiben
den Prokuratoren der Magister die Fürsorge für Autopsien vor. Das
erste Privilegium auf solche stammt jedoch nach Astruc aus dem
J. 1376 oder 1377. "') Den regen Anteil der Chirurgen an der Ana-
tomie bekundet der astrologisch angehauchte Schüler des Bertrucci
Guy de Chauliac (geb. kurz vor 1300, zuletzt Leibarzt der Päpste
Clemens VI, Innocenz VI, Urban V, 1342—62). Der erste der 8 Teile
seiner Chirurgie umfasst einen kurzen Abriss der Anatomie. Er er-
weist sich darin als Kenner der Literatur, der seinen Vorgängern
manchen Irrtum aus der Autopsie nachweist. Seine Anatomie ist bis
in das 16. Jahrhundert für Montpellier ebenso zum Schulbuch ge-
worden me die des Mondino für Italien.*) Johannes a Torna-
mira (Arzt der Päpste Gregor XL und Clemens VII., 1370-78)
scheint auch das Balsamierungsverfahren geübt zu haben. ^) Der
drittberühmte Chirurg von Montp., Laurent Joubert (16. Dez.
1529 bis 21. Okt. 1583), hat sich u. a. durch Herausgabe der Chirurgie
des Guy de Chauliac verdient gemacht. '**)
Ein anatomisches Theater wurde hier erst durch G u i 1 -
laume Rondelet (1507—1566) im J. 1556 errichtet, ßondelet, ein
Schüler des Günther von Andernach, ist besonders durch seine ichthyo-
logischen und botanischen Arbeiten bekannt. Ueber die für die
*) Gordons Lilium medicine ist datiert vom Juli 1305, im 20. Jahr der Lehr-
iitigkeit, also beinahe gleichaltrig: mit Henris Schul vertrag. Dem Lilium war
rangegangen der Liber de prognosticis, welcher aber in der Ausg. des Gordon L. B.
>T4 erst zum Schluss angeführt ist. Vgl. *Bernardi Gordoni opus L. B. 1574
iioemium u. den Eingang zum Lilium.
*) *Pagel, Die Anatomie des Heinrich von Mondeville, Berl., Reimer 1889, 79 S.
*) Guy de Chauliac, Chir. tr. I doct. 1, c. 1.
«) 1. c. p. 26.
') Bestätigungen von 1377, 1396, 1484, 1496.
'') Berengar. Comment. 1521, p. 171a.
*) M. Donatus, cit. bei Roth a. a. 0. S. 12.
^°) *Chirurgia magna Guidonis de Gauliaco, Lugd. 1585.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 14
210 Robert Ritter von Töply.
Zeit ziemlich häufigen Leichensektionen berichtet Felix Platter. Im
Ganzen beschreibt er vom 14. Novb. 1552 bis 10. Jan. 1557 eil
Sektionen, überdies die Zergliederung eines Affen, welcher Rondelet,
wie auch sonst öfter präsidierte, während ein Barbier die Sektion vor-
zunehmen pflegte. Am 5. Februar 1556 fand schon das erste Schau-
spiel im neuen „theatrum collegii" statt. Es wurden gleich
2 Sektionen zur selben Zeit vorgenommen, und zwar die eines jungen
Mädchens und die einer jungen Frau.
England.
Die Kenntnis der Anatomie dürfte schon anfangs des 14. Jahr-
hunderts und zwar direkt durch Henri de Mondeville hier eingefülirt
worden sein. Wenigstens hat J. F. Payne vor einigen Jahren die
englische Handschrift eines Ungenannten aus dem J. 1392
entdeckt, ') der sich zwar als Schüler des Lanfranchi bekennt, jedoch
in der ausführlich in drei Abschnitten wiedergegebenen Anatomie
sowol in der Anordnung des Stoffs als auch im Ausdruck nicht an
Lanfranchi, sondern an Henri de Mondeville eng sich anlehnt. Mit
dieser Entdeckung schwindet die bisher gegoltene Priorität des
Chirurgen Thomas Vicary (geb. um 1490/1500,. gest. zwischen
Sept. 1561 bis 7. April 1562),-) denn die Textvergleichung ergiebt,
dass der Anatomie des Vicary vom J. 1548 jene Hs. zu Grunde liegt.
Daraus geht übrigens auch hervor, dass der Einfluss des Henri de
Mondeville sich hier bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts erhalten hat.
In die Zeit des Vicary fällt die Erlaubnis Heinrichs VIII. für die
Barbierchirurgen vom J. 1540 zu jährlich vier Zergliederungen von
Leichen hingerichteter Verbrecher. Dieselbe Erlaubnis erhielt die
„Gesellschaft der Aerzte" (gegründet 1518 von Thomas Linacre als
College of Physicians) von der Königin Elisabeth im J. 1563.
Spanien.^)
Fernando III el Santo soll bereits i. J. 1290 an der Universität
in Palencia eine Lehrkanzel der Anatomie für Chirurgen errichtet
haben, welche später durch den König Alonso el Säbio nach Sala-
manca übertragen wurde. Diese Angabe des Suärez de Ribera und
Adveva (18. Jahrh.) sind jedoch nicht glaubwürdig. Im Hospital de
Ntra. Sra. de Guadalupe zu Extremadura (gegr. 1322) haben die
Aerzte mit päpstlicher Erlaubnis Leichensektionen vorgenommen, aller-
dings mehr zu Zwecken einer Erkenntnis der Todesursache als zur
Erkenntnis der normalen Anatomie. Urkundlich nachweisbar ist, dass
durch einen Auftrag des Königs Juan I. von Aragon vom 3. Juni
1391 der Magistrat angewiesen wurde, der Universität zu Lerida
^) *The Anatomie of tlie bodie of men by Thomas Vicary. The Edit. of 1548
as re-iussed -in 1577 ed. by Fred. J. Furnivall and PercyFurnival, P. I,
Lond. 1888, 8", 336 p. Early Engl. Text Soc. Extra Ser. 53.
■) *Payne (J. F.), On an unpublished eng. anatomic. treatise of the 14. cent.
Brit. med. J., Jan. 25th, 1896, S.A., 10 S.
^) *Garcia (D. Victor Escribano), La anatomia y los anatömicos espanoles del
siglo XVI, Granada, J. L. Guevara 1902.
Geschichte der Anatomie. 211
Verbrech erleichen zu liefern. -) Später, im J. 1488, hat Ferdinand der
Katholische der Bruderschaft von S. Cosmas und Damian zu Zara-
goza ein Privileg auf Verrichtung von Leichensektionen im Spital
erteilt.^) Obzwar die Anatomie also auf ein ziemliches Alter zurück-
blicken kann, so ist sie doch recht langsam fortgeschritten, weil sie
in den Schuhen des Galenismus stecken blieb. Es ging hier ebenso
wie in Italien, wo man mit der Waffe des Galenismus, mit der man
den Arabismus stürmte, sich selbst schlug. Der Galenismus ward aus
dem benachbarten Frankreich herübergetragen. Ihn vertritt vor allem
der vielgereiste Andres a Laguna (1490 — 1560), befreundet mit
Realdo Colombo in Padua. Seine Beschreibungen sind voll emphatischer
Vergleiche. Die ihm zugeschriebene Entdeckung der Ileocoekalklappe
bestätigt sich nicht. Der Katalonier Loys Vasseu kennzeichnet
sich auch äusserlich als Schüler des von ihm verehrten Jacques Dubois,
weil dieser den Arabern den Garaus gemacht habe. Seine Schrift ist
eine tabellarische Zusammenstellung der Anatomie, ähnlich wie des
Dubois Ordo et ordinis ratio in legendis Hippocratis et Galeni libris,
aber kein anatomisches Tafel werk, wie behauptet wurde. ^) Luis
Lovera de Avila beschreibt den Körper romantisch als Mikro-
kosmos. ^) Bernardino Montana deMonserrat (geb. um 1482 83)
ist der bedeutendste der älteren Spanier, der erste unter ihnen, der
sein Werk mit, wenn auch rohen, Abbildungen (Holz sehn.) ver-
sieht. **) Als 60 jähriger besuchte er noch die anatomischen Vorlesungen
des Bakalars Alfonso Rodriguez de Guevara, ein verlöschendes neben
einem aufgehenden Licht. — Bis 1551 hatten an den Universitäten
zu Salamanca, Valladolid, Valencia, Granada, Zaragoza keine öffent-
lichen Autopsien stattgefunden.
Deutschland.
Eröffnungsjahre der Universitäten bezw. Akademien bis zur Mitte des
16. Jahrhunderts: Prag 1348, Wien 1365, Heidelberg 1386, Köln 1388,
Erfurt 1392, Würzburg 1402/10. Leipzig 1409, Rostock 1419, Greifswald
1456, Freiburg i. B. 1457 60, ' Basel 1460, Lüneburg 1471, Trier und
Ingolstadt 1472, Tübingen und Mainz 1477, Wittenberg 1502, Breslau 1505,
Frankfurt a. 0. 1506, Marburg 1527, Königsberg 1544.
Wien. ^) Die Universität war 1365 gegründet, die Akten der
medizinischen Fakultät laufen aber erst seit 6. Mai 1399. Die erste
„Anatomie" wurde den 12. Februar 1404 feierlich begangen, seither
^ Veröff. von Chinchilla (Anastasio) in Siglo Medico Jsr. 12 tom. 1 pag. 94,
vgl. Gazette des Hopit. 1881, Nr. 54 p. 430.
') Mitgeteilt bei Morejon (Antonio Hemandez), Hist. bibliogr. de la mediana
espafi. t I p. 252.
*) Lodovici Vassaei Catalannensis in anatomen corp. hum. tabulae quatnor,
Paris 1540, *1542 u. öfter.
') Libro de Anatomia 1542.
■) Libro de la Anothomia — con nna declaraciö de un snefio qua sono el Hustrisimo
-I nor Don Luis Hurtado de Mendoza Marques de Mondejar, Valladolid 1551, fol.
') *Aschbach (Jos. Eitt. v.), Gesch. d. wiener Univ.. Wien, 3 Bde. I 1865,
ii 1877, III 1888. Nachträge von Hartl (Wenzel) u. Seh rauf (Karl) I 1, 1898;
*D. älteren Statuten d. Wiener med. Fakult., von einer Fakultäts-Kommission, Wien
1847, 293 S.; *Acta facultat. med. univ. viudob. herausg. v. Schrauf (Karl), Wien,
I 1399-1435, II 1436-1501. — »Schwarz (Ign.), Zur älteren Gesch. des anat.
Unterrichtes an d. Wiener Univ., Wiener klin. Wochenschr. Nr. 25, 1895, S.A., 11 S.
14*
212 Robert Ritter von Töply.
Öfter, aber nicht regelmässig, obzwar die Bakalare und Scholaren der
Fakultät am 4. Dez. 1435 vorgeschlagen hatten, jährlich eine Ana-
tomie zu begehen und zwar einmal an einer männlichen, ein andermal
an einer weiblichen Leiche. Seit 1416 erfolgte die Einladung zur
Beteiligung durch Thoranschlag. Die Beschaffung einer Verbrecher-
leiche, der Ort für die Durchführung des Aktes bereiteten viel Schwierig-
keit, Zweimal ereignete es sich, dass das justifizierte, zur Sektion be-
stimmte „suppositum" wieder zu sich kam (1441, 1491 j. Die gewöhn-
liche Dauer einer „Anatomie" betrug 3—8 Tage. Die Zahl der
Anwesenden muss bedeutend gewesen sein, denn 1580 macht Johann
Aichholz den Vorschlag zur Errichtung eines hölzernen Theaters für
mindest 300 Zuschauer und veranschlagt die Kosten eines solchen auf
15 — 20 Gulden. Das Personal einer Veranstaltung bestand im 15. Jahr-
hundert gewöhnlich aus dem Superintendenten, dem Prokurator und
dessen Adjunkten, dem Lektor, dem Indikator, dann einem
Chirurgen als Incisor und einem anderen als dessen Koadjutor,
welche über Befehl der Doktoren die vorgeschriebene Sektion „pul ehre et
subtiliter" (1444) ausführen. Als Lektor war im 15. Jh. besonders
Mag. Michael Puff von Schrick beliebt (Art. et. med. Dr., Lektor
1444, 1447, 1455). Als Zuseher wurden nebst den Fakultätsmitgliedern
auch Magister in artibus, Apotheker und Chirurgen zugelassen (Aus-
nahmen s. Acta facult.). Die Erlangung einer Verbrecherleiche, die
sonstigen Vorbereitungen, die Kosten machten viel Umstände. So be-
trugen die Einnahmen bei der Veranstaltung von 1452 zwar 4 Pfund
2 Schillinge, die Ausgaben aber 2 Schillinge mehr, welche aus der Fakul-
tätskasse bestritten w^urden. Diese Auslagen betrafen 1 Pf für den
Scharfrichter und die Ausrufer, das Uebrige für das Begräbnis, Linnen,
eine Decke, Schwämme, Easiermesser, Schaffein, Herrichtung der Thür,
Konfekt, Bier, Wein. Die Sektion fand anfänglich an verschiedenen
Orten statt (1440 ausserhalb der Stadtmauer), zufolge Fakultätsbeschluss
vom 17. Mai 1452 in Hinkunft im Bibliothekszimmer. Als Grundlage
für den theoretischen Vortrag in der Anatomie, welche jedoch nebst
der Chirurgie erst im fünften Jahrgang als ergänzendes Fach vor-
getragen wurde, galt Mondino. -) Literarisch hat sich das mittel-
alterliche Wien auf dem Gebiete der Anatomie nicht hervorgethan.
Es war gegen Italien um mehr als ein Jahrhundert zurückgeblieben.
Dass Galeazzo de S. Sophia das Interesse für die Anatomie aus Padua
her verpflanzt habe, ist zu vermuten, aber aus den Fakultätsakten
nicht direkt zu erweisen. Auf dieser ältesten Stufe erhielt sich Wien
bis zur Eeform durch Kaiser Ferdinand I. vom J. 1533, welche an
der Fakultät besoldete Lehrer anstellte.
Die Universitätsstatuten von Tübingen (spätestens vom J. 1485)
bestimmen, dass alle 3 oder 4 Jahre eine Leiche nach dem Text des
Mondino zergliedert werde. In Leipzig befand sich das Studium der
Anatomie von 1409 — 1519 auf einer tiefen Stufe, doch ist wenigstens an
der Wende des Jahrhunderts das Interesse an anatomischen Ab-
bildungen erwacht. Solche liefert Johann Peyligk zu seinem
ganz kurzen Abriss der Anatomie (1474—1552),^) dann Magister
^) Stainpaiss (Martin), Liber de modo studendi seu legendi in Medicina,
Vienn. 1520, 4".
') *Corapendium philosopbiae naturalis. II. Th. u. d. T. Compendiosa capitis
physici declaratio, Liptz. 1499 ix. öfter bis 1518.
Geschichte der Anatomie. 213
Magnus Hundt (1449 — 1519) in einem etwas umfangreichen Werke.^)
Die originellen Bilder Beider sind willkürlich ersonnen, einige bei
Hundt teils Kopien nach den Hlustrationen zu Mondino in der
Venetianer Ausgabe des Fasciculus medicine des Deutschen Johannes
de Ketham,-^) teils dem Peyligk entnommen. •*) Erst 1519 bestimmt
der Lehrplan der medizinischen Fakultät die alljährliche Abhaltung
einer „Anatomie". In Strassburg ist die erste Leichenöffnung ±ür
das Jahr 1517 nachweisbar. Sie wurde unter Anleitung des Doktors
Wendelin Hock von Brackenau (Doktor von Padua) abgehalten
und eine Abbildung der eröffneten Leiche in Holzschnitt veröffent-
licht. ^) Gleichzeitig hat der Wundarzt Hans von Gerszdorff
(genannt Schylhans) in seinem Feldbuch der Wundarznei in
kurzer Fassung die Chirurgie des Guy von Chaiüiac aufgenommen,
auch anatomische Abbildungen und einen „Yocabularius ana-
tomie" hinzugethan. **) — In Wittenberg hielt Augustin
Schürf im Juli 1526 eine öffentliche Anatomie ab, er musste sich
jedoch wegen des schlechten Wetters auf den Kopf beschränken (die
Veranstaltung fand also im Freien statt). Nach Raumer (Gesch. der
Pädag. I, 321) soll die Schule hier schon im J. 1482 von Sixtus TV.
das Recht zur Ausübung von Leichensektionen erhalten haben. — Für
Basel, wo zufolge Beschluss vom J. 1536 jährlich oder mindestens
alle zwei Jahre eine „Anatomie" stattfinden sollte, ist eine von
Oswald Beer verrichtete Zergliederung am 9. Jan. 1531 festgestellt.^) —
In Marburg ist der hauptsächliche Vertreter des Faches der viel-
seitige Johann Eichmann ( Jo. Dryander, Prof. in Marb. seit 1536,
gest. 20. Dez. 1560 1, ein Anhänger des Galen und Gegner des Vesal,
Sein anatomisches Hauptwerk ist unvollendet geblieben. Der er-
schienene 1. Teil enthält nur die Vorrede, Tafeln zur Anatomie des
Kopfs, eine tabellarische Uebersicht dazu und 4 Tafeln zur Anatomie
der Brust. Nicht alle Tafeln sind originell, gleich die erste ist eine
Kopie nach M. Hundt. ^) — In Prag fanden die ersten drei wissen-
schaftlichen Leichenzergliederungen erst anfangs des 17. Jahrhunderts
durch Bemühung des Johann von Jessen (* 1566, enthauptet 1621)
statt, und zwar am 5. Juni 1600, 11. Februar und 11. September 1605.
Anm. Die älteste in Deutschland als Einblattdruck vervielfältigte
anatomische Abbildung (Holzschnitt) ist ein Skelet nach der Zeichnung
des Pariser Arztes Eicardus Heia, 1493 in Nürnberg gedruckt (ver-
Öffentl. von Wieger a. a. 0., kleiner aber genauer bei *P e t e r s (Hennann),
D. Arzt u. d. Heükunst in d. deutschen Vergangenheit, Lpzg. 1900). Eine
besondere Gruppe für sich büden die anatomischen Klappbilder. Tafeln
-) Antropologium. Liptzck. 1501, 4 ", 120 ff., 18 figg.
') *rasciculus medicine. Venet. 1491 u. öfter, folio.
*) Die beste Wiedergabe der Abb. des Peyligk u. Hundt bei*Stockton-Hough,
Bibl. med. Vol. 1. Nr. 1. Jan. 1. 1890. Trenton, New Jersey.
*) Verkl. Kopie bei Choulant, Gesch. d. anat. Abb. 1852, S. 26.
•*) In der Auä. von 1517 eine im Text, zwei extra. *Feldtbüh der Wimd-
iftziiey, Strassb. 1517 u. öfter. — Ueber die ersten anatom. Abb. vergl. *Wieger
Friedr.), Gesch. d. Med. in Strassb. vom J. 1497—1872, Strassb. 1885; *Choulant
Ludwig), Gesch. d. anat. Abb., Leipz. 1852, Graph. Incunabeln f. Naturg. u. Med.,
Leipz. 1858.
') M. Roth, Beitr. z. vaterl. Gesch. N. F. H, Bas. 1886, 171. u. Andr. Ves.
Brux. 1892, S. 15.
*) *Anatomiae, h. e., corporis hum. dissectionis pars, prior, Marp. 1537. Im An-
hang Anat. Porci bezw. Infantis nach Copho bezw. Gerbi.
214 Kobert Ritter von Töply.
zur Anfertigung solcher hat auch Vesal seiner Hum. corp. fabrica bei-
gefügt, im 17. Jahrhundert hat Jlemmelin, im 18. Hellwig derartige zu-
sammengesetzte Tafeln herausgegeben . Im 16. Jahrhundert sind in Deutsch-
land mehrere derartige Blätter aus der Zeit der vorvesalischen Anatomie
erschienen, auch mit besonderem erklärenden Text in Buchform. (Ein
solcher ist *Au8legung und Beschreibung der Anathomy — Strassb., Job.
Froelich 1544, 14 Bl., 4».)
Das nördliche Europa.
lag in Beziehung auf Kenntnis des Menschen bis in die Mitte des
16. Jahrhunderts im tiefen Schlaf. Vesal berichtet, dass die Aerzte
zu Löwen um 1518 von der Anatomie nicht einmal geträumt haben.
Hier bedurfte es eines Stürmers und Drängers, und das war Andreas
Vesal.
Neuzeit.
Inhalt. Einkitung. Die Refm-mation der Anatomie. Spanien. Italien.
Niederlande. Dänemark. England. Deutschland. Frankreich. Schweden. Russ-
land. Amerika. Japan. China.
Einleitung.
Die aus Zergliederungen von Tieren gewonnenen anatomischen
Kenntnisse der Griechen hatten sich als fiktive Anatomie in der
Ueberlieferung der Araber erhalten, sie waren dann durch lateinische
Uebersetzungen aus dem Arabischen bezw. aus dem Persischen zur
Kenntnis Europas gelangt und galten dort so lange für bare Münze,
als die Verhältnisse eine Kontrolle an Menschenleichen nicht zuliessen.
Das klassische Objekt der mittelalterlichen Anatomie, das Schwein,
spielt seit dem Ende des 11. Jahrhunderts bis zum Anfang des
14. die geradezu ausschliessliche Rolle beim praktischen Unter-
richt, aushilfsweise wird es noch im 16. Jahrhundert und darüber
hinaus verwendet.^) Die um das J. 1300 in Italien aufgekommene
Eröffnung von Verbrecherl eichen, die daran sich anschliessende Not-
wendigkeit der Errichtung von — anfangs fallweise aufgestellten,
später für die Dauer gebauten — anatomischen Theatern hatte ein
eingehenderes Studium ermöglicht. Aber die den Arabern folgenden
Lehrer, die sog. Arabisten, hielten anfangs dennoch zähe an der über-
lieferten Tradition fest, was ja um so leichter war, als die Sektionen
vorläufig nicht allzu oft stattfanden, da die Gelegenheit dazu sich
oft viele Jahre hindurch nicht bot, das Schauspiel sich nur auf die
Eröffnung der Körperhöhlen beschränkte und überdies der Univer-
sitätslehrer selbst nur selten praktisch eingriff, nur die theoretische
^) Abb. des am Secierbrett befestigten Schweins bei Vesal, H. c. fabrica 1555
pag. 822. Sektion des Schweins von Putti vorgenommen in der reizenden Initiale Q
(im Quadrat von 75 ram Seitenlänge) das. p. 255, 708. Gegenseitige Kopie des
Schweins am Secierbrett bei Valverde T. III lib. V fig. XXI, ebenso am Titelbl.
zu Bauhin Theatr. anat. 1621. Das Schwein als allegor. Figur mit einem Affeu
als Gegenstück auf den Titelblättern zu Valverde Anat. 1560 (abgeb. bei Duval
et Cuyer a. a. 0. p. 121), 1586 (in meinem Besitz).
Geschichte der Anatomie. 215
Erläuterung lieferte, die Durchführung der Sektion aber einem Chi-
rurgen und den Hinweis auf das Erläuterte dem Demonstrator über-
liess.-) Eine wesentliche Umgestaltung dieser Verhältnisse bewirkte
die Erfindung der Buchdruckerkunst. Sie hat gleich in den ersten
Jahrzehnten mit ihren 1574 Inkunabeldrucken medizinischen Inhalts ^)
eine gewaltige Umwälzung der Geistesthätigkeit insofern hervor-
gerufen, als sie einen schnelleren Gedankenaustausch, ein umfang-
reicheres Erfassen und Vergleichen des bisher Geleisteten ermöglichte
und dadurch Anlass zu neuem Schaffen gab. Nachdem dann mit dem
Wiedererwachen der Geister der Humanismus eingezogen war und in
raschem Ansturm die bisherigen Autoritäten vernichtet hatte, stand
eine neue freie Entfaltung der schlummernden Kräfte in Aussicht.
Aber so wie schon manche Revolution zu einer Eestaui-ation geführt
hatte, so verfiel auch der Humanismus in einen Rückschlag, der in
Form des starren Galenismus die Lebenski-aft der wenigen neuen
Errungenschaften gefährlich bedrohte. Man pflegt die am Ende des
15. und anfangs des 16. Jahrhunderts an der Umgestaltung der alten
Richtung beteiligten Männer hie und da als Reformatoren hinzustellen.
Mit nichten. Nicht jede neue Form ist eine Reform im fortschritt-
lichen Sinne. Der Eklektiker Benedetti. sowie Leoniceno in
Italien. Brissot, Copus, Günther von Andernach, Dubois
Jacobus Sylvius) in Paris, Hagenbut (Janus Comarius) und
Fuchs in Deutschland, voran als Phalanx die von Hagenbut enthu-
siastisch erwähnte ..Neue galenische florentiner Akademie" mit
PietroFrancescoPaolo.LeonardoGiachinoan der Spitze *)
haben im Uebereifer den Teufel unbedenklich durch Beelzebub aus-
getrieben, und beiläufig Aehnliches erreicht, wie ungefähr zur selben
Zeit auf anderem Gebiete Wittenberg, das schliesslich im Luthertum
-) Eine klassische Darstellung' als Holzschnittülustration zn der Anatomie des
Mondino de" Luzzi im Fasciculos medicine des Ketham (Johannes de), Venet.
1493 u. f.: kleinere bei Berengar da Carpi im Titel der Commentaria . . super
anat. Mundini 1521, wiederholt als Titel zu den Isagogae 1523, etwas geändert u.
vergrössert in der Ausg. von 1535. Kopie der letzteren bei Choulant, Gesch. d.
anat. Abb. Aelteste Darstellung einer mittelalterl. Anat. in einer Hs. zu Montpellier
a. d. 14. Jahrb., wiedergegeben bei Nicaise (E.) Guy de Chauliac, Paris 1890, PI.
m p. 25. Grössere Darstellungen aus späterer Zeit als Titel zu Vesals Fabrica
(Holzschnitt) u. als Titelillustration zu Paanw, Succenturiatus anatomicus (Kupfer-
stich), kleinere wiederholt als Titelschmuck bis ins 18. Jahrb. Abbildungen des
anatomischen Theaters in Altdorf: „Theatrum Altdorflnnm Mauritio Hof fm anno
Anatomico Publ. Extr. A. C. 1659". Kupferst. von Pnschner repr. bei Peters
(Herrn), Der Arzt, Leipz. 1900, S. 99, Abb. 110: „Das Theatrum Anatomicum in dem
Collegio zu .\ltdorf-', Kpfr. von Puschner repr. bei Reicke (Emil), Lehrer u.
Unterrichtswesen, Leipz. 1901, S. 125, Abb. 109. Ueber die Abbildungen der anat
Theater in Padua, Kopenhagen, Leyden, vgl. die Anmerkungen zu den Kapiteln
Vesal, Bartholin, Paauw, überdies: Anatomiesaal zn Leyden, Kpfr. von
Swanenburg (W.) nach Woudanus (J. C.) 1610, repr. bei Peters a. a. 0.
" 98, Abb. 109. — Skizze zweier Männer bei einer Leichensektion von M ic bel-
üge lo in Oxford, Coli. Taylor, nach Photogr. von Braun bei Duval-Cnyer,
nat. plast., Par. 1898, p. 61, fig. 8.
') Verz. bei *Stockton-Hough, Incnnabnla medica. Trentoni in Novo-
aesarea 1890, 4».
*) Roth, Andr. Vesal, Brux. S. 36 Anm. 2 erwähnt, es sei ihm Genaueres
.iber diesen Galenbnnd nicht bekannt. Thatsächlich sind die *Xovae academiae
florentinae opuscula (Venet. 1533. 8^ 47 fol.) auch von Haeser nicht gewürdig^t
worden, wie überhaupt eine eingehendere mit den gleichzeitigen Kultnrverhältnissen
vertraute Darstellung des Uebergangs aus dem Arabismus zur neueren Zeit noch
ausständig ist. Wertvolle kritische Beiträge liefert Roth a. a. 0.
216 Robert Ritter von Töply.
erstarrt, bald aufgehört hatte, eine lebendige Kraft zu sein und zur
Zuchtrute für kirchlich freier sich entwickelnde Köpfe wurde."^) Indes
gab es daneben noch immer so manche, wie die Anatomen Achillini,
Berengar da Carpiu. a. die sich von dem einseitigen Galenismus
nicht unbedingt fortreissen Hessen und so jene wahrhafte Eeformation
der Anatomie vorbereiteten, die an Ort und Stelle von Vesal,
Falloppia, Eustachi durchgeführt wurde. Je nach dem jeweiligen
Kulturzustande irgend eines Landes entwickelte sich nun die Ana-
tomie bald hier, bald dort, allerdings jahrhundertelang noch behindert
durch die Schwierigkeit der Leichenbeschaffung. Die Begründung
der vergleichenden Anatomie durch Severino (Mark Aurel) <*) führte
sie auf neue Wege, die Entdeckung der Chylusgefässe durch A s e 1 1 i o
in Italien, die des Blutkreislaufs durch Harvey in England, die Er-
findung einer vervollkommneten Injektionstechnik durch Swammer-
dam in Holland gab ihr im 17. Jahrhundert eine neue Richtung,
die schliesslich am Ende des 18. die Höhe der Vollkommenheit er-
reicht zu haben schien.
Indessen hatten aber, wie so oft, technische Erfindungen auch
auf die Vertiefung des Wissens ihren Einfluss geübt. Neben dem
einfachen Mikroskop, das in den zahlreichen Beobachtungen eines
Leeuwe nhoek (1632 — 1723) seine Triumphe gefeiert hatte, war im
17. Jahrhundert das zusammengesetzte Mikroskop aufgetreten. Wenn
dessen Leistungsfähigkeit bis zur Einführung des ersten wirklichen
achromatischen Objektivs (Buldsnyder 1791) und noch eine Zeit-
lang darüber hinaus nur gering war, dementsprechend auch die Er-
rungenschaften der Anatomie auf mikroskopischem Gebiete bis zum
Schluss des 18. Jahrhunderts nicht als wesentlich bezeichnet werden
können, so gab doch diese Beschäftigung mit den Gegenständen der
Mikroskopie Anlass zur Vervollkommnung — man könnte beinahe sagen
zur Erschliessung — zweier neuer vervollständigender Eichtungen,
das ist die Embryologie und die Histologie. Beide sind im 19. Jahr-
hundert zu selbständigen Wissenszweigen herangewachsen und haben
durch Einbeziehung biogenetischer Fragen eine über den ursprüng-
lichen Umfang hinausreichende Tragweite angenommen.
Embryologie. Der eigentliche Schöpfer der Embryologie ist W o 1 f f
(Casp. Priedr., * 1735, f 1794). Seine „Theoria generationis, 1759" war
jedoch durch Haller, der die alte Einschachtelungstheorie vertrat, mundtot
gemacht worden, bis Meckel (J. F.) sie 1812 durch TJebersetzuug ins
Deutsche wider ans Tageslicht zog. Durch Döllinger (Ignaz, * 1770,
•f 1841) angeregt, hatte kurz vorher Oken (Lorenz, * 1779, f 1851) selb-
ständig den von Wolff angegebenen richtigen Weg eingeschlagen und in
Kies er (Dietr. Georg, * 1779, -f 1862) einen würdigen Mitarbeiter ge-
funden. Die seither sehr schnell aufblühende Embryologie gelangte nun
zur Geltung besonders in Deutschland durch Bär (Karl Ernst von, * 1792,
t 1876), Rathke (Mart. Heinr., * 1793, f 1860), Fand er (Chr., * 1794J
t 1865), Bischoff (Theod. Ludw. Wüh., * 1807, f 1882), Reichert
(Karl Bogisl., * 1811, f 1883), Remak (Rob., * 1815, f 1865), Vogt
(Carl, * 1817, f 1895), Kölliker (Rud. Albert, * 1817), Kupffer (Karl
Wilh., * 1829, t 1902), His (Wilh., * 1831). Die von ihnen gesammelten
*) Vgl. *Gurlitt (Cornelius), Die Lutherstadt Wittenberg, Berlin, Jul. Band
1902. 8°.
*) *Zootomia democritea, Norimb. 1645, 4**, C. fig.
Geschichte der Anatomie. 217
Thatsachen fanden im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine neue Deutung
in der von Häckel (Ernst Heinr., * 1834) i. J. 1874 veröffentlichten
„Gastraeatheorie", ") defzufolge durch Furchung der einen Eizelle ein
kugeliger Zellenhaufen (Morula), aus diesem eine Blase (Blastula) und aus
letzterer durch Einstülpung die Gastrula entsteht. Dadurch erklärt sich
der ürmund, der Urdarm, die Keimhöhle, die FuLrchungshöhle, die Ent-
stehung der beiden primären Keimblätter, des äusseren und des inneren.
Hertwig (Oscar, * 1849), der die B,eifung, Befruchtung und erste Furchung
des Eies an Seeigel eiern direkt beobachtet und 1875 (u. f.) beschrieben
hatte, vervollständigte die Grastraeatheorie durch die „Theorie des mittleren
Keimblattes" und des Cöloms (Leibeshöhle), wodurch die Entstehung der
.Chorda dorsalis- und die der serösen Höhlen (Pleura-, Pericardial-, Peri-
tonealhöhle) erklärt wird.
In eine neue Phase trat die Entwicklungsgeschichte am Schluss des
19. Jahrhunderts durch die von ßoux ("Wilh., *1850) ins Leben gerufene
, Entwicklungsmechanik". Es beteiligten sich auf diesem Gebiete Hertwig
(0.), Drie8ch(H.), Barfurth (Dietr., * 1849), Herbst (C), Enders
(H.), Haacke (Wilh.).*) Der in den Jahren 1894 und 97 zwischen
Hertwig und ßoux entbrannte Kampf um die Frage , Präformation
oder Epigenesis?" hat trotz der von beiden Seiten aufgebrachten umfang-
reichen Argumente die Angelegenheit endgiltig nicht geklärt.
Neben diesen Untersuchungen veröffentlichte Weismann 1875 u. 76,
dann in einer Rede auf der Salzburger Xaturforscherversammlung 1883
neue Gedanken aus dem Kreise der Biogenese, welche in der Unmöglich-
keit der Vererbung erworbener Eigenschaften gipfelten, und dadurch mit
der von Darwin und Häckel neu belebten und gestützten Descendenz-
lehre im Widerspruch standen. Die daran sich anschliessenden auch weitere
Kreise ergreifenden Erörterungen und Auseinandersetzungen haben am Ende
des Jahrhunderts ebenfalls keinen befriedigenden Abschluss erreicht.
Die Histologie gewann durch B i c h a t (Marie Fran^ois Xavier,
* 1771, -|- 1802), insbesonders in dessen „Anatomie generale 1801*' eine
systematische Grundlage. ^) Die Benennung „Histologie" hat jedoch erst
Mayer (Aug. Franz Jos. Karl, * 1787 2. Nov., j 1865 9. Nov.) i«^)
i. J. 1819 eingeführt. ^**^) Doch war die Histologie wegen der unzureichen-
den Stärke und des grossen Fokus der ersten achromatischen Objektive
noch lange weit entfernt vom thatsächlichen Eindringen in die Elemente
des tierischen bezw. menschlichen Organismus. Erst nachdem die Kom-
bination mehrerer achromatischer Glieder zu einem System den zusammen-
gesetzten Mikroskopen endgiltig zum Vorrang über dem einfachen verholfen
hatte, feierte nach mehreren Vorarbeiten die Zellenlehre durch Schwann
(Theod., * 1810 7. Dez., 7 1882 11. Juni)'!) <j^rch dessen Hauptwerk 1839
den Einzug. In den folgenden 60 Jahren des 19. Jahrhunderts ist die
") Jenaische Zeitschr. Bd. Vm, 1874.
*) *Haacke (Wilh.), Gnmdr. der Entwicklnngsmechanik, ni. 143 Fig., Leipz.
1897, 8«, 398 S. Mit Literaturühersicht S. 368-93.
•) Neueste Ausg. *Xavier Bichat, Anat. generale appliquee ä la physiol.
et ä la med., Paris I. p. 1900, 8«», 525 p., 2. p. 1901. 8°, 604 p.
'"•) In Bern 1813 Prosektor, 1815 Prof. d. Anat. n. Physiol., in Bonn 1819— 56,
Vorgänger von M. Schnitze u. Helmholtz.
^"*^) üeb. Histologie u. eine neue Eintheilnng der Gewebe des
menschl. Körpers, Bonn 1819, 8".
'*) Aus der Schule von Joh. Müller hervorgegangen, 1839 als Windischmanns
Nafhf. Prof. d. Anat. in Löwen, 1848-80 Prof. d. Physiol. u. vergl. Anat. in Lüttich.
218 Robert Ritter von Töply.
Zelle ein Gegenstand eingehendster Forschungen geblieben, welche beinahe
bis an die Thore des Lebensbeginns geführt haben.
Nachdem Raspail sowie Dutrochet, welche den Namen „Zelle"
schon gebraucht haben, dann Treviranus, Fr. Arnold, J. Müller,
Henle, Purkinje die Elemente der tierischen Grewebe gesehen und be-
schrieben hatten und der Zellkern (bei Orchideen) von R. Brown 1831
entdeckt worden war, begründete Theodor Schwann (* 1810, -j- 1882;
als Anatom seit 1839 Nachfolger von Windischmann in Löwen, 1848 —
80 in Lüttich) die tierische Zellenlehre, damit auch die moderne Biologie.
Seine hervorragendsten anatomischen Entdeckungen (Nagelzellen, Feder-
zellen, die sog, G 0 m e s sehen Zahnfasern, die Kerne der glatten und ge-
streiften Muskelfasern, der sichere Nachweis der schon von Prochaska
gesehenen sogen. Schwannschen Scheide der Nervenfasern) wurden teilweise
schon 1838 (in Frorieps Neuen Notizen) veröffentlicht. Sein Hauptwerk
enthält die Grundzüge der jetzigen Zellenlehre.
Schwanns Hypothese von der „freien Zellenbildung" hat sich jedoch
bald als unhaltbar erwiesen, nachdem Robert Remak (Berlin, * 1815,
t 1865) i. J. 1841 und Rudolf Virchow (Berlin, * 1821, f 1902)
i. J. 1857 einzelne Fälle von miotischer Zellteilung beschrieben hatte.
Durch Remaks weitere Arbeiten (Unters, üb. d. Entwickelung der Wirbel-
thiere, ] 855) ward der Satz gestützt, dass das Wachstum der Gewebe all-
gemein und gewöhnlich auf Zellvermehrung durch Zellteilung beruht. An
der Ausarbeitung dieser Lehre haben sich Oellacher, Hermann Fol,
O. Bütschli, Walther Flemming, Auerbach beteiligt, doch hat
sich des Letzteren Lehre von der „Karyolyse" oder palingenetischen Kern-
vermehrung, d. i. dem morphologischen Untergang des Kerns bei dessen
Teilung als unhaltbar erwiesen. Das Wesentlichste des Vorgangs (von
W. Flemming „Mitose" genannt) entdeckte und beschrieb der Zoolog Ant.
Schneider 1873 am Ei eines Plattwurms. Für die meist fadenförmigen
Kerngebilde, welche dabei eine Hauptrolle spielen, hat Waldeyer den
Ausdruck „Chromosomen" eingeführt. Die Centralkörper, welche als Be-
wegungspunkte (kinetische Centren) der Zelle angesprochen werden (vielfach
auch „Centrosomen" genannt) wurden 1875 — 76 von Edouard van
B e n e d e n entdeckt, alsbald von B o v e r i bestätigt. Es folgte dann das
Werk von Strassburger (Zellbildung und Zelltheilung, 1. Aufl. Jena 1875,
später 2 weitere Aufl.), welches homologe Vorgänge für viele Pflanzenarten
aufwies. 1875 — 76 beschrieb den Teilungsverlauf W. Mayzel an fixierten
und gefärbten Objekten (Tritonlarven), 1878 u. f. W. Flemming sowie
Peremeschko am wachsenden Tiergewebe (Salamanderlarve). Walther
Flemming (* 1843, seit 1876 o. Prof. d. Anat. in Kiel) gab schliesslich
1882 in einem zusammenfassenden Werke auch eine Geschichte des Gegen-
standes (Kap. 26).
Die nächstwichtigen Untersuchungen veröffentlichte Edouard van
Beneden (* 1846, -f 1894, Prof. zu Lüttich, mit Ch. van Bambeke seit
1880 Herausgeber der „Archives de biologie") i. J. 1883 und 1887 mit
Neyt (angestellt am Ei von Ascaris megalocephala), indem er das Ver-
halten der Fäden zu den Tochterkernen beschrieb. Die Morphologie der
Centralspindel bearbeitete dann L. Drüner i. J. 1894, wobei er die
Wirkung der Spindelfasem als eine Art von Hemmwirkung auffasste.
Die Ursachen und der Mechanismus der Mitose sind jedoch bis zum
Schlüsse des 19. Jahrhunderts in befriedigender Weise nicht aufgeklärt
worden.
Daneben wurde auch der weitaus seltenere Weg der Zellteilung (oft
Geschichte der Auatomie. 219
nur der Kernteilung in ein und derselben Zelle) mittelst direkter Durch-
schnürung (A m i t o s e , Zellteilung mit Kernteilung ohne Mitose, sogenannte
Eemaksche, einfache oder direkte Kernteilung), hauptsächlich von Julius
Arnold (* 1835, seit 1866 Prof. d. pathol. Anat. in Heidelberg, auf
histologischem Gebiete vielfach thätig) studiert, und nachgewiesen, dass die
Kemzerlegung dabei nicht so einfach ist, wie sie Eemak ursprünglich und
zwar irrtümlich für die Kernteilung überhaupt angenommen hatte.
Schtvann {Th.). Mikrosk. Untersuchungen üb. d. Uebei'einstimmiing in d.
Structur n. d. Wachsthum der Jhiere u. Pflanzen, Berl. 1839, m. 4 Taf. ; Heiden-
hdin CJ/.), Schieiden. Schwann u. d. Gewebelehre. Sitzungsber. d. phys. med. Ges.
Wärzb., S. 16, 1899. — Hertivig (0.). D. Zelle u. d. Gewebe, Jena 1892. M. Abb.
— Bergh {R. S.). Vorlesungen üb. d. Zelle h. d. einfachen Getcebe des tier. Körpers,
Wiesb. 1894. M. 188 Fig. — Flemming iW), Zellsubstanz. Kern- und Zell-
theilung. Leipz. 1882: Flemniing {W.). Ueb. Zellteilung in: Deutsche Med. i.
19. Jahrh. Säcular-Artikel der Berl. Min. Wochschr. herausg. von Ewald u. Posner,
I. Bd., Berl. 1901.
Obzwar die ersten Arbeiten über die Zellsubstanz, die Kern- und Zell-
teilung noch in die Zeit einer relativ unvollkommenen Technik fallen, so
wurde die Feststellung der feineren Einzelheiten, wie überhaupt das be-
wunderungswürdig rasche Emporblühen der Histologie erst durch die nam-
hafte Verbesserung der technischen Arbeitsmittel ermöglicht. Dahin gehört
die Begründung der mikroskopischen Färberei und zwar anfangs der Karmin-
färbung durch Gerlach d. Aelt. (Jos. von, * 1820 3. Apr , j 1896
17. Dez.), ^-*) die Einführung der Ueberosmiumsäure, des Kali acet., Kon-
struktion der Wärmetische, Einführung der sog. physiologischen Flüssig-
keiten durch Schnitze d. J. (Max Joh. Sigism., * 1825 25. März, -^ 1874
16. Jan.), ^■^^) das Beizfärbeverfahren von Weigert (Karl, * 1845, seit
1884 Prof. der path. Anat, in Frankf. a. M.), die Untersuchungsmethoden
von Golgi (Camillo, * 1844), Ramön y Cajal (Santiago, * 1852), die
Färbung in vivo mittels Methylenblau durch Ehrlich (Paul. * 1854),^*)
^'*) 1850—91 in Erlangen Prof. d. Anat., überdies bis 1865 der path. Anat., bis
1872 der Physiol. '2")
^^'') Als Gründungsjahr der Kanninfärbung gilt 1858. Vgl. Gerlach (J. v.),
Mikrosk. Studien a. d. Gebiete der menschl. Morphologie, Erlang. 1858. Doch hat
Gerlach schon 1847 die Kapillären mit Karminammonium-Gelatinmasse injizirt. Für
die Entwicklung der photogr. Methodik ist besonders wichtig Gerlach (J. v.), D.
Photographie als Hilfsmittel mikroskopischer Forschung, Leipz. 1863. — Gerlach
d. J. (Leo, * 1851 23. Jan.. 1874 Assistent seines Vaters. 76 Privatdoz., 79 Prosektor,
82 Prof. e. o., 91 Prof. o. u. Dir. d. anat. Inst.) hat besonders die Entstehungsweise
der Doppelmissbildungen bei den höheren Wirbeltieren bearbeitet.
^'"j Schüler u. Prosektor seines Vaters, 1854 Prof. e. o. in Halle, 1859 — 74 Dir.
d. anat. Inst, in Bonn, i'*")
1=^") Sein Vater Schnitze d. Aelt. (Karl Aug. Sigism., * 1795 1. Okt., t 1877
28. Mai: Schüler von J. Fr. Meckel, 1818—21 dessen Prosektor, dann o. Prof. d.
Anat. u. Physiol. in Freib. i. Br.. 1831—68 in Greifswald, hier bis 59 Dir. des anat.
u. physiol. Inst., behielt dann nur die vergl. Anat.) war ein hervorragender Biolog.
Vgl. die folgende geneal. Tabelle:
Karl August Sigismund Schnitze
* 1795, t 1877
Max Johann Sigismund Seh. Bernhard Sigmund Seh.
* 1825, t 1874 * 1827
Oskar Max Sigmund Seh.
* 1859.
**) Dir. des Instit. f. Serumforschimg in Steglitz bei Berlin 1896, in Frank-
furt a. M. 99.
220 Robert Eitter von Töply.
die Einführung der Chromsäurehärtung durch Hannover (Adolf, * 1814
24. Nov., -|- 1894 8. Juli), ^^) die der Chromosmiumessigsäure durch
Flemming, die Einbettung in Paraffin von Klebs (Edwin, * 1834),^")
Hiß (s. im Folg.), in Celloidin von Merkel (s. im Folg.) und S chieff er-
de c k e r , der Einschluss gefärbter Präparate — nach vorheriger Entwässerung
und Aufklärung in flüchtigen Oelen — in Balsame durch Clarke (Lock-
hart) und Reissner, die Befeuchtung der Messerschneide durch S t i 1 1 i n g
(Benedikt, * 1810 22. Febr., f 1879 28. Jan.), ') die Erfindung des
Schlittenmikrotoms, die Einführung der Immersionssysteme durch A m i c i
(1850), die Bemühungen von Abbe seit 1879 um die Erzielung noch höherer
Achromasie, die ersten Apochromate von Zeiss 1883, die gemeinsamen
Arbeiten in dieser Richtung von Abbe, Schott und Zeiss, welche 1884
zur Errichtung einer eigenen wissenschaftlich arbeitenden technischen Anstalt
führten, Verbesserung der Beleuchtungsvorrichtungen, der Okulare.
Die Ergebnisse der mit Hilfe dieser Mittel bewerkstelligten Forschungen
sind in den Handbüchern von KöUiker,^^) die TJntersuchungstechnik in
dem Werke von Ran vi er (Louis Antoine, * 1835 2. Okt., 1875 Tit.-
Prof. des für ihn errichteten Lehrstuhls der allg. Anat. in Paris) ^'•') zu-
sammengefasst.
Die deskriptive Anatomie, ^•^) welche mit Haller und dessen be-
rühmten Zeitgenossen den Höhepunkt und in dem Handbuche von
Sömmering (1. Aufl. 1791 — 96) den Niederschlag aller Vollkommen-
heit erreicht zu haben schien, hat während des ersten Aufschwungs
der Histologie nur langsame Fortschritte gemacht und erst in der
Zusammenfassung durch Henle (Friedr. Gust. Jakob, * 1809, f 1885;
s. im Folg.) -^) wieder eine würdige Vertretung gefunden. Seither
haben neue Arbeiten vervollständigenden Stoff hinzugebracht, neue
Arbeiter neue Gedanken und neue Auffassungen in das Fach hinein-
^^) 1840 Privatdoz. der mikrosk. Anat. in Kopenhagen.
1«) Prof. d. pathol. Anat. 1866—92 in Bern, Würzburg, Prag, Zürich, seit 95
in Asheville Northc, seit 96 in Chicago.
") Unters, üb. d. Textur des Kückenmarks, Leipz. 1842, zus. m.
B. F. Wallach, H. 2. Ueb. d. Medulla oblong., Erlang. 1843. — Unters, üb. d.
Bau u. d. Verrichtungen des (jehirns I. Ueb. d. Bau des Hirnknotens o.
der Varol. Brücke m. 22 Kupferst., auch lat., Jena 1840 (erhielt den Monthyon. Preis).
— Anat. u. mikr. Unters, üb. den feineren Bau der Nerven etc., Frank-
furt a. M. 1856. — Neue Unters, üb. den Bau des Rückenmarks m. Atlas
mikrosk. Abb. von 30 lith. Taf., nebst 1 gr. Wandt., gr. fol., 5 Lief., Cassel 1857 —
59. — Unters, üb. d. Bau des kleinen Gehirns des Menschen, 3 Bde.,
Cassel 1564, 67, 78. — Dem hochverdienten Stilling ist nie ein akad. Amt zu teil
geworden, einer der wunden Punkte in der Gesch. der deutschen Universitäten des
19 Jahrhunderts. — Vgl. *Kussmaul, Dr. Benedict Stilling. M. Noten von Goltz,
Waldeyer, Kussmaul, Strassb. 1879, 8», 71 S.
^*') Kölliker (Alb. v.), Handb. der Gewebelehre des Menschen, 6. Aufl.. 2 Bde.
m. Abb., I 1889, II 1896; 1. Aufl. u. d. T. Mikrosk. Anat. u. Gewebelehre des
Menschen, Leipz. 1850 — 54, 2 Bde.
^») Traite d'histologie technique 1875; 2. ed. 1882; deutsch u. d. T.
Technisches Lehrb. d. Histologie v. Nicati (W.) u. Wyss (H. v.). M. 395 Holzschn.,
Leipz. 1888.
2'*) *Merkel (Friedr.), Entwickelung d. Anat. im 19. Jahrh. Festrede, 3. Juni
1893, Gotting., 8", 25 S. — *Bardeleben (Karl von). Ein Ueherblick üb. d. letzte
Vierteljahrh. der Anat. u. Entwickelungsgesch., Deutsche Med. Wochenschr. 1900,
No. 1, S. 14—18.
**) *Handb. der systemat. Anat. des Menschen, 3 Bde., Braunschw.,
3. bezw. 2. Aufl., 1871 — 79. — Die überschwängliche Lobpreisung von Henle als
Genie dämpft *Henke (Wilh.), Jakob Henke, Arch. f. Anat. u. Physiol., anat. Abth.
1892, S.-A., 8 », 32 S.
Geschichte der Anatomie. 221
getragen . "welche ganze Organsysteme in verändertem Licht er-
scheinen lassen. Die Skeletlehre erweiterte 1867 Mever (Georg
Herrn, von, * 1815 16. Aug., f 1892 21. Juli) --) durch Entdeckung
der Eegelmässigkeit und mechanischen Bedeutung der Spongiosa-
architektur. welche von J. Wolff, Merkel. Albert an den Ex-
tremitätenknochen, von Bar de leben (Karl von) 1874 an der Wirbel-
säule und den Eippen genauer untersucht ward. Das Kopfskelet hat
erst vor kurzem Graf Spee in Bardelebens Handbuch der Anatomie
des Menschen umfassend dargestellt, die Frage von Hand und Fuss
hat Bardeleben 1883 wieder in Gang gebracht und 1894 in einem
Referat vor der anatomischen Gesellschaft vorläufig abgeschlossen.
Die Muskellehre hat eine umwälzende Auffassung erfahi-en. seit
Gegenbaur und Fürbringer zum Ausgangspunkt der Betrach-
tung die motorischen Nerven gewählt haben, demgemäss der Muskel
als Endorgan der Nerven zu gelten hat 'Kühne, Hensen) bezw.
mit der Aufstellung des Gesetzes vom Muskelnerveneintritt durch
Schwalbe (G.) i. J. 1879. Dieses Gesetz ist durch Bardeleben
und Frohse 1887 und 1898 dahin modifiziert worden, dass die Muskeln
eine grosse Reihe von Nerveneintrittsstellen besitzen. Schliesslich
hat Bolk das Verhältnis der Spinalplexus zu der von ihnen ver-
sorgten Muskeln, die segmentale Anordnung der Gliedmassenmuskulatur
festgestellt und Rückschlüsse auf die Segmentierung des Skelets ge-
zogen. Die Gefässlehre ist durch grundlegende Arbeiten von His
sowie Born über die Entwicklung des Herzens erörtert worden,
Roux (W.) hat 1878 die Gesetzmässigkeit in der Form der Abgangs-
stellen der Arterienäste (Kegel) und die Ablenkung des Stammes in-
folge Abgabe grösserer Aeste nachgewiesen. Klärende Arbeiten
über den Bau der Geföss Wandungen, die Anpassung au die Druck-
und Zugkräfte lieferten Bardeleben. Thoma, Schiele-Wie-
gandt, Bonnet, der erstere überdies berichtigende Darstellungen
der Hautnerven der Extremitäten, sowie Untersuchungen über die
Venenklappen und deren Elastizität. Im Gebiete des Darmtrakts hat
Heidenhain (R.) durch seine Arbeiten über die Speichel- und
Schleimdrüsen, dann Stöhr (Ph ) Wichtiges geleistet. Die rätsel-
haften Gianuz zischen Halbmonde erscheinen nun im neuen Lichte,
man hat die Form- und Strukturänderung an Zellen bei der Ab-
sonderung, die Haupt- und Belegzellen des Magens kennen, die sog.
Becherzellen der Dünndarmschleimhaut als einzellige Schleimdrüsen
auffassen gelernt. Die entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen
von Toi dt haben die Anatomie des Bauchfells endgiltig klarge-
stellt. Die feinere Struktur- der Leber (hier die wichtige Entdeckung
der Endigung der Gallengänge in den Leberläppchen von Mac-
Gillavry) und des Pankreas ist nun genau bekannt, die Kenntnis
der Milz aber noch nicht abgeschlossen. Die Keblkopimuskeln be-
arbeitete 1875 Fürbringer (M.), die Kehlkopfknorpel Schottelius
1879, Kallius 1897, Märtens 1898, die Entwicklung der Schild-
drüse 1880 Wölfler. Die Niere, welche nach Entdeckung der
schleifenförmigen Harnkanälchen durch Henle und des Zusammen-
hanges der ofifenen Harnkanälchen mit den gewundenen Schaltstücken
durch Schweigger-Seidel endgiltig erforscht zu sein schien, hat
**) Schüler von Tiedemann u. Joh. Müller, 1856—89 o. Prof. in Zürich f. Anat.,
bis 62 auch f. Physiol., Histol., vergl. u. pathol. Anat.
222 Robert Ritter von Töply.
sich auf Grund der vergleichend-eutwicklungsgeschiclitliclien Unter-
suchungen als echte mesodermale Drüse ergeben. Die vielumstrittene
Spermatogenese wurde von Waldeyer i. J. 1887 in einem zu-
sammenfassenden Referate behandelt, die Spermie von La Valette
und später von Bardeleben als Zelle erwiesen. Die Lage der
weiblichen Beckenorgane ist seit 1888 genau festgestellt, die Ent-
wicklung der weiblichen Geschlechtsorgane, besonders des Eierstocks
und des Eies von Waldeyer, Mihalkovics, Nagel gründlich
bearbeitet.
Dem Cerebrospinalsystem stand man zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts etwa so gegenüber, wie einst gegenüber dem Schädel, nach-
dem Galenos seine Untersuchungen über denselben abgeschlossen
hatte. Man kannte es in groben Zügen von aussen, eingehender aber
nicht. Die Versuche von Keil, den Bau des Gehirns durch Härten
und Brechen zu entwirren (die bedeutenderen Arbeiten, aus den
Jahren 1808 — 11, sind im Arch. f. Physiol. veröffentlicht) haben die
gröbere Formbeschaffenheit des Kleinhirns und der Insel (Insula Reilii)
festgestellt, die Schleife als ein eigenes Gebilde, das aus dem Hirn-
stamm absteigt, den Linsenkern genau und auch den (roten) Kern
der Haube kennen gelehrt, aber zu der vermeintlichen Entwirrung
ist Eeil doch nicht gelangt. Weiter ist schon Burdach auf Grund
des Schnittverfahrens und der Zusammenfassung der bisherigen
Leistungen in dem Werke „vom Baue und Leben des Gehirns und
Rückenmarks" 1819 — 25 fortgeschritten. Er hatte damit die gröbere
Morphologie zu einem gewissen Abschluss gebracht. Erst Stilling
hat jedoch durch Einführung der kontinuierlichen successiven Schnitt-
reihen (Hauptarbeiten 1842 — 78) eine Reform der Untersuchungs-
methode des Faserverlaufs angebahnt. Bahnbrechend wurden dann
die experimentelle Methode von Gudden (Beruh. Aloys von, * 1824,
t 1886)-^) die entwicklungsgeschichtlichen Arbeiten von Flechsig
(Paul Emil, * 1847),-'^ *) die Chromsilbermethode von Golgi (s. im
Vorigen).-'^) Hmen schliessen sich an die Arbeiten von His, Cajal,
Golgi, Kölliker, Edinger, Retzius (G., s. im Folg. Schweden),'-^)
Nissl.-') An den Nerven beschrieb in den letzten Jahrzehnten
Ran vi er die nach ihm benannten Schnürringe (1872), L an t er-
mann, Schmidt, Zawerthal die Marksegmentierung (1874),
Flechsig die Entwicklung der Markscheiden (1876), Schwalbe
(Gust, * 1844, 1. Aug.),'-^) Golgi (Cam.), Ramöny Cajal (Santiago),
-*) Prof. d. Psychiatrie in Zürich, 72 in München.
2*») Seit 84 0. Prof. d. Psychiatrie in Leipzig. 2*'')
^*'') D. Leitungsbahnen im Gehirn u. Rückenmark des Menschen auf
Grund entwickehangsgeschichtl. Unters., Leipz. 1876. — Ein Plan des mensch 1.
Gehirns, Leipz. 1883. — Gehirn u. Seele, Leipz. 1896. — Zur Anat. u. Ent-
wicklungsgesch. der Leitungsbahnen im Grosshirn d.M., Arch. f. Anat.
u. Physiol., anat. Abt. 1887. — Ueb. eine neue Färbungsmethode des
centr. Nervensyst. etc., Ber. d. k. sächs. Ges. d. Wissensch., math.-phys. Kl.
1889. — Zur Entwickeluugsgesch. der Associationssysteme etc.,
ebenda 1894.
") Studii istologici sul midollo spinale. Redinc. di 3. congr. freniatr.
ital. 1880, Arch. ital. p. le malatt. nerv. an. 18 •*, fasc. I 1881.
^^) Biolog. Untersuchungen, seit 1881 acht Foliobände. — Das Menschen-
hirn. Studien in d. makroskop. Anat., 1896. Mit 96 Taf.
^') Begann seine Unters. 1893. Resultat: die nach ihm benannten Körperchen
od. Granula in den Ganglienzellen.
^^) Schüler von M. Schnitze in Bonn, 0. Prof. u. Dir. d. anat. Inst, in Jena
1873—81, zu Königsb. i. Pr. 81—83, zu Strassb. seit 83.
Geschichte der Anatomie. 223
His (Wilh.), Kölliker (Alb. V.), Retzius (Gust.) das Verhalten der
Ganglienzellen in den Centralorganen und deren Zusammenhang mit
den aus- und eintretenden vorderen und hinteren Nervenwurzeln.-'')
Die wichtigste Entdeckung auf dem Gebiete der Sinnesorgane
aus den letzten Jahren ist die des Sehpurpurs durch Boll (Franz
Christian, * 1849, f 79),=^"^) auf dem der Hautsinnesorgane der Nach-
weis der „Milchlinie '• bei Säugetierembryonen durch Schultze (0.),
der „Milchleiste" bei menschlichen Embryonen durch Kallius.
Im Blut fanden Bizzozero, Hayem, Pouchet die Blutplättchen
und die Hämatoblasten, Ehrlich (1879) die eosinophilen Granulationen m
den Leukocyten und 5 verschiedene Arten der letzteren, Dekhuyzen
noch eine oder einige Arten mehr, nachdem Stricker (Sara.) die Diape-
desis der roten Blutkörperchen durch die Kapillarwand, und nach ihm
Cohnheim und Hering die der weissen Blutkörperchen entdeckt hatten.
Daran reiht sich St Öhrs Entdeckung der Durchwanderung der Leuko-
cyten von den Follikeln (der Tonsille etc.) durch das Epithel des Ver-
dauungsapparats. Diese auf dem Grenzgebiet der deskriptiven Anatomie,
Histologie und Physiologie sich bewegenden Entdeckungen schliessen sich
der Entdeckung des Kapillarblutlaufs durch Malpighi würdig an.
Eine nicht zu unterschätzende Stütze der wissenschaftlichen
Forschung, welche im 19. Jahrhundert einen so grossen Umfang an-
genommen und eine solche Tiefe erreicht hat, sind die neuen lite-
rarischen Hilfsmittel, welche in Gestalt periodischer umfang-
reicherer Druckschriften Sonderabhandlungen aufnahmen oder die
Jahresleistungen berichterstattend besprachen. Auch hier stand, wie
auf allen Gebieten der Anatomie, Deutschland an der Spitze. Dahin
gehören das ..Archiv für Anatomie und Physiologie", herausgegeben
von Reil,Autenrieth, Meckel, Müller, Reichert, DuBois-
Reymond, His und Braune seit 1796, •^\) die „Jahresberichte über
die Fortschritte der Anatomie und Physiologie" von Hofmann und
Schwalbe seit 1873, ■^■^) die „Zeitschrift für Anatomie und Entwick-
lungsgeschichte" von His und Braune als Vorläufer des Archivs
20) *Wevermann (Hans). Geschichtl. Entwickelung der Anat. des Gehirns.
Inaug.-Diss., Würzb. 1901, S«, 117 S. (schliesst mit Eeil und Burdach). — *Stieda
(L.), Gesch. der Entwickelung der Lehre von den Nervenzellen u. Nervenfasern
während des 19. Jahrh. I. Von Sömmering bis Deiters, Jena 1899, 4 **. M. 2 Taf.
— Van Gebuchten (A.), Les decouvertes recentes dans l'anat. et Fbisto]. du syst,
nerv, centr. Bruxelles, 1891. — Lenhossek (M. v.), Neuere Forschungen üb. den
feineren Bau des Nervensyst., Corrbl. f. Schweiz. Aerzte. Jahrg. 21. 189i. — *"VVal-
deyer (W.), Ueb. einige neuere Forschungen im Gebiete des Centralnervensvst.,
Leipz. 1891, 8 », 64 S. m. Abb., S.-A. d. Deutsch. Med. Wochschr. 1891, N. 44 u. f.
— Vgl. auch die Monographie von Ziehen in Bardelebens Handb. der Anat.
«°») Prof. der Physiol. in Rom (i. J. 1876). ="»•)
80'') Eigentlich war die Entdeckung von Boll eine Wiederauffindung (Leydig).
Weitere Arbeiten von Kühne. Auf dem Gebiete der Zoologie überragt sie noch
die des sog. Parietalanges bei den Reptilien durch Spencer ( 1886, Vorarbeiten von
Ahlborn, Rabl-Rückhard, de Graaf). Spuren desselben sind bis zu den
Wirbeltieren nachweisbar.
") Serien: 1796—1815 Arch. f. Physiol., 12 Bde.: 1815-23 Deutsches Arch. f.
d. Physiol., 8 Bde.; 1826—32 Arch. f. Anat. u. Physiol, hrsg. v. Meckel, 6 Bde.;
1834 76 Arch. f. Anat., Physiol. u. wissensch. Med , hrsg. v. Müller (J.), Reichert
(C. B.), Du Bois-Reymond (E.), 43 Bde.: 1877—1898 Arch. f. Anat. u. Physiol.,
hrsg. V. His (W.), Braune (W.), Du Bois-Reymond (E.), seit 1898 m. be-
sonderer physiol. Abth., hrsg. v. Engelmann (Th. W.).
") Bd. 1-20, N. F. Bd. 1—7, 1873-99.
224 Robert Ritter von Töply.
für Anatomie (Bd. I. II, Leipzig 1876/77), der „Anatomische Anzeiger"
von Bardeleben (K. v.) seit 1886, das „Archiv für mikroskopische
Anatomie und Entwicklungsgeschichte", herausgegeben von Schnitze
(W.) seit 1865, fortgesetzt von La Valette St. George und
Wald ey er (W.), die „Bulletins de la societe anatom. de Paris"
seit 1825, das „Journal de l'anat. et physiol." von Robin und
Pouch et seit 1864, die „Archives d'anat. microscopique" gegründet
von Balbiani (E. G.) und Ran vi er (L.), gegenwärtig herausgegeben
von letzterem und Henneguy (L. F., Prof. d. Embryol. am College
de France), das „Journal of anatomy and physiology" conduct. by
Humphry (G. M.) and Turner (W.), das „Journal of the roy.
microscop. society" ed. by Jefrey Bell (F.), das „Monthly microscop.
Journal" ed. by Lawson (H.), welches die Verhandlungen der „Roy.
micr. soc." bringt, die „Internationale Monatsschrift f Anat. und
Histol.", herausgegeben seit 1883/84 von Schäfer,Testut,Kopsch
(Krause) u. A.
Persönlichen Meinungsaustausch und Anbahnung gemeinsamer
Arbeiten ermöglichte die Gründung anatomischer Gesellschaften, dar-
unter die der deutschen Gesellschaft, deren erste Versammlung 1887
in Leipzig stattfand. Eine ihrer hervorragendsten Leistungen ist
die Festsetzung einer anatomischen Nomenklatur, welche 1875 zu
Stande gekommen, die gegenseitige Verständigung wesentlich er-
leichtert. Um das recht schwierige Werk haben sich besonders von
Kölliker, Hertwig (0.), His, Kollmann, Merkel, Schwalbe,
Toldt, Waldeyer, von Bardeleben (K.), Krause (W., als
Redaktor), dann Braune, Henke, von Kupffer, von Mihäl-
kovics, Rüdinger, Zuckerkandl verdient gemacht.^'*)
Im Gebiete der anatomischen Abbildung hat das fortschreitende
19. Jahrhundert im allgemeinen weitaus weniger Wert auf die künst-
lerische Seite gelegt, als das 18., dafür aber die Verständlichkeit
mehr berücksichtigt. Für die Textabbildungen in Holzschnitt hat
Henle als Erster Farben angewendet. Merkel (Fr.) hat sich der-
selben seit 1885 in seinem Handbuch der topographischen Anatomie in
w^eit ausgedehnterem Masse bedient und die Farben rot, blau, gelb
gebraucht. Die Errungenschaften der photomechanischen Druckver-
fahren hat in besonders ausgiebiger und mannigfacher Weise Rü-
dinger benützt (s. im Folg.). Was die moderne Reproduktion ge-
rade auf diesem Gebiete zu leisten vermag, beweisen die Photo-
gravüren in dem 1892 erschienenen Atlas über das Gehirn von
Kronthal. =^*)
Wenn man die Entwicklung der Anatomie in der Neuzeit vom kultur-
geschichtlichen Standpunkt überblickt, so entrollt sich ein Bild von unver-
muteter Plastik und unerwarteter Lebhaftigkeit. Man bemerkt, wie in der
Umgebung der geistig wiedergeborenen Höfe des Cinquecento die Reformation
einsetzt und ihren Ausgangspunkt nimmt, wie sie von den spanischen
Schülern der Italiener aufgenommen wird, im Lande des Torquemada, der
*') * Krause (W.), D. anat. Nomenclatur. Eine histor. Unters., Leipz. 1893,
8 °, 33 S. — *D. anat. Nomenclatur. Nomina anat. Verz. der v. d. Anat. Ges. . . .
angenommenen Namen. Eingel. ... von Wilh. His, Leipz. 1895, 8**. 180 S. m.
30 Abb. u. 2 Taf.
") Kronthal (P.), Schnitte d. d. centr. Nervensyst. d. Mensch. M. Vorw
d. Prof. Mendel. 18 Taf. m. 29 Fig. in Photograv. u. Text, Berl. 1892, gr. 4».
Geschichte der Anatomie. 225
Stierkämpfe und einer starren höfischen Etikette jedoch ebenso schnell ver-
siegt, als sie erblüht war. Man sieht, wie sie in dem durch die Restauration
von 1660 wiedergekräftigten England, in den von der spanischen Herrschaft
freigewordenen Niederlanden mit der üppigen Entfaltung geistiger Kräfte
gleichen Schritt hält, wie sie in dem vom Wohlstande der Grossen und von
weltumfassenden Gedanken getragenen Frankreich in der zweiten Hälfte des
17. und im 18. Jahrhundert fruchtbar gedeiht, während sie in dem parti-
kularistischen Staatenwesen Deutschlands trotz einer Unzahl von Hoch-
schulen fem von einem nennenswerten Aufschwung im Sande stecken bleibt.
Man kann verfolgen, wie die lächerlichen Geistestumiere der Barockzeit
auch in den Kampf- und Streitschriften der Anatomen sich wiederholen,
wie die höfische Neugier übersättigter Potentaten hie und da die Abhaltung
von Leichenzergliederungen zu einem Schauspiel von iingewöhnlichem Reiz
erwählt und wie die zeitgemässe Devotion der Kleinen gegenüber den
Mächtigen so manchem Veranstalter derartiger Belustigungen die Bürgschaft
seiner geistigen Grösse vorspiegelt. Und nun kommt die grosse, geistig
längst vorbereitete Umwälzung am Schluss des 18. und in der ersten Hälfte
des 19. Jahi'hunderts. Bevolution, Eestauration, Reaktion, und wieder eine
neue Umwälzung lösen einander ab. Nivellierende Gedanken, neue Ver-
kehrsmittel, neue Verkehrswege umspannen den Erdball und bahnen eine
internationale Verständigung an, allerorten ein gleich emsiges Schafi'en in
gleicher Richtung. Rasende Fortschritte der Technik und Industrie ermög-
lichen die Ausbildung zweier geradezu neuer Wissenszweige, der Embryo-
logie und der Histologie, stürzen die naturphilosophische Spekulation in der
Anatomie, erweitem und vertiefen den Gesichtskreis und erzeugen Fragen
der Onto- und Phylogenese. Die moderne Auffassung der Muskelanatomie
ist ein unmittelbarer Ausfluss des durch die geänderten Lebensverhältnisse
und die geänderte Weltanschauung in der Wissenschaft bedingten Um-
schwungs.
Das alte Gleichnis von der Geschichtswissenschaft als Spiegel des
Fortganges, und in schönfärbender Auffassung als Spiegel des ununter-
brochenen Fortschrittes der Medizin, erweist sich bei einer derartigen Be-
trachtung als wenig befriedigend, weil unzureichend. In der That, welcher
Vorstellung ist es entsprungen? Hier der Spiegel als kühler Reflektor,
dort die jeweilige Phase einer aus sich selbst gewordenen, sich selbst be-
fruchtenden je nach dem Jahresdatum nur die Farbe wechselnden Wissen-
schaft. Darin wurzelt und gipfelt die chronistische, bisher zumeist geübte,
von massgebenden Grössen gepflegte und als medizinische Geschichtsforschung
bezeichnete Methode. Ihr liegt die Auffassung zu Grunde, die Medizin sei
ein Ding an und für sich, und der Historiker deren gewissenhafter er-
gebenster Referent. Sollte aber die Medizin, sollten deren einzelne Zweige
und Wurzeln nicht vielmehr Etwas sein, das durch Hunderte von Fasern
mit dem Werden und Vergehen der Kultur verknüpft ist, doch nichts
Anderes als das Endergebnis des Zusammenwirkens der unzähligen Faktoren,
die die Weltereignisse bedingen und wiederum ein Niederschlag dieser Er-
eignisse? Giebt es überhaupt eine Wiss-enschaft, die losgeschält aus dem
Zusammenhange mit dem Weltlauf als Ding an und für sich zu bestehen
vermag? Es kann immerhin im fernab schweifenden Traume des Einen
oder des Anderen vorgekommen sein, dieser oder jener Gedanke, diese oder
jene einem zündenden Geistesblitz entsprossene Leistung seien sein ureigenes
Erzeugnis. Und doch, sie waren nur der Ausfluss der ihn bestimmenden
Umstände, das Ergebnis gegenseitiger Wechselwirkung zwischen Individuen
und den Massen. Es besteht ein besonderer Reiz darin, gerade bei einem
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 15
226 Robert Kitter von Töply.
anscheinend so abstrakten, dem Einflüsse der Weltereignisse entrückten
"Wissenszweig, wie die Anatomie, dessen "Werdegang zu verfolgen und
dessen Bedingungen nachzuspüren auf dem Wege einer genetischen Methode.
Erst in dieser Auffassung wird die Geschichtsforschung zu einer "Wissen-
schaft im modernen Sinne des "Wortes, ähnlich verfahrend wie jene Forschungs-
zweige, die die Ontogenese und Phylogenese aufschliessen. Im Folgenden
ist bald da, bald dort ein Verstoss in dieser Weise unternommen, aber nicht
überall durchgeführt, da es sich in erster Linie um die vorläufige Er-
bringung und Sammlung des Stoffes handeln rausste, über den die Ge-
schichte der Anatomie verfügt.
Die Reformation der Anatomie.
Im klassischen Stammlande der Künstler und der Anatomen
hatten zwei Jahrhunderte der knospenden Kunst und Literatur (das
Trecento und das Quattrocento) die herrlichen Blüten des Cinquecento
gezeitigt. Auf diesem fruchtbaren Boden entwickelte sich nun auch
die Renaissance der Anatomie mit allen grossen und auch allen herben
Zügen, die so vielen bedeutenden Kunstwerken jener Zeiten (man
denke an Donatello, Mantegna, Michelangelo, "Verochio) eigen sind. Sie
entwickelte sich auf einem Boden, der von kunst- und prachtliebenden
Fürsten, Päpsten und Kardinälen, wenn nicht unmittelbar abhängig,
so doch stark beeinflusst war. Äeltere Darsteller haben die Sachlage
so zu deuten gewusst, als ob die päpstliche Kurie der Entwicklung
der Anatomie seit jeher feindlich entgegengestanden sei. Thatsächlich
hat sie ihr kaum irgendwelche Hindernisse in den Weg gelegt. Sie
hat im Gegenteil die Anatomie allenthalben geiördert, trotz des viel-
verbreiteten aber unerwiesenen Gerüchts, demzufolge man im 16. Jahr-
hundert keinen Anstand genommen haben soll, lebende Menschen zu
sezieren.
Die päpstliche Kurie. Unter Paul III. (1534 — 49) wurden in
Rom Faschulen für Anatomie und Botanik errichtet und ein Gehalt für den
Prosektor festgesetzt. Realdo Colombo, der Entdecker des kleinen Blut-
kreislaufs, wurde durch Paul lY. (1555 — 59) nach Rom berufen (1549?).
Seine Söhne haben dessen Nachfolger Pius IV. (1559 — 65) das "Werk ihres
Vaters „De re anatomica" gewidmet. Kardinal Giulio della Rovere
brachte den Bart. Eustachi nach Rom, wo dieser Stadtarzt und Professor
der Anatomie an der Sapienza wurde (gest. 1574). Unter Sixtus V.
(1585 — 90) veröffentlichte Archang. Piccolomini seine anatomischen
Vorlesungen mit der "Widmung an den Papst (1586). Unter Clemens VIII.
(1592 — 1605) wurde Andrea Cesalpino, der angebliche Entdecker des
Blutkreislaufs (Corradi 1876) von Pisa nach Rom berufen. Unter Paul V.
(1605—21), Gregor XV. (1621—23), Urban VIII. (1623—44), In-
nocenz X. (1644 — 55) wirkte Giov. Maria Castellani, seit 1622 bis
ca. 1655 als Professor der Anatomie und Chirurgie an der Sapienza,
möglicherweise Urheber der sog. Berrettinischen anatomischen Tafeln (letzteres
Annahme von Möhsen). Giov. Maria L a n c i s i war Leibarzt der Päpste
InnocenzXI. (1676— 89), Inno cen z XII. (1691— 1700), Clemens XL
(1700 — 1721) und wirkte unter ihnen als Professor der Anatomie an der
Sapienza. Mit Hilfe des Clemens XL veröffentlichte er die noch nicht
abgedruckten Kupfertafeln des Eustachi mit einem eingehenden Kommentar.
Lancisis fleissiger Nachfolger Giorgio Baglivi wurde unter Innocenz XII.
Geschichte der Anatomie. 227
Professor der Anatomie (1696; seit 1701 Prof. der theoret. Medizin). Er
hielt seine anatomischen Vorlesungen mit Demonstrationen sowol des
morgens als abends. Unter Clemens XI. wurde ein neues anatomisches
Theater auf dem Janiculus eröffnet. Dem Kardinalfürsten Annibale
Albani, Neffen des Clemens XI., widmeten 1728 die Brüder Paghanini
die 2. römische Ausgabe der Eustachischen Tafeln. Benedikt XIV.
(1740 — 58) gab der Satztuag des Bonifacius VIII. eine freisinnige Aus-
legting dahin, dass sie sich nicht auf jene schulmässigen Zergliedertingen
bezieht, welche für die ausübende Medizin so notwendig sind (Institut. 64.
„De cadaverum sectione facienda in publicis Academiis,
utrum constitutio Bonifacii VHI sectioni humanorum cadaverum adversetur.
Singulari dei beneficio medicinae Studium in hac civitate (Eoma) magnopere
floret, cujus etiam professores ob eximiam virtutem in remotissimis terrae
partibus commendantur. Ipsis sane maxime profuit, quod incidendis mortuis
corporibus diligentem operam contulerint, ex qua procul dubio praeclaram
artis scientiam, in consultationibus obetindis pro aegrotorum salute prae-
stantiam, morbisque curandis peritiam consecuti sunt Porro haec
membrorum incisio nullo modo adversatur Bonifacii Institutioni .... lUe
quidem poenam excommunicationis indicit, Pontifici solo remittendam, üs
Omnibus qui audeant ctiiuscumque defuncti corptis exenterare, ac illud
membratim, vel in frustra immaniter concidere, ab ossibus tegumentum carnis
excutere. Tamen ex reliquis ejusdem constitutionis partibus clare depre-
henditur, hanc poenam illis infligi, qni sepulta corpora e tumulis eruentes
ipsa nefario scelere in frustra secabant, ut alio deferrent, aüoque sepulchro
coUocarent. Quamobrem membrorum incisio minime interdicitur, quae adeo
necessaria est medicinae facultatem exercentibus"). Auch kaufte er 1757
für 1000 Thaler die von Giov. Ant. Galli gearbeiteten anatomischen Prä-
parate aus Terracotta und Wachs, und schenkte sie der Universität Bologna
(GaUi wurde noch im selben Jahre Professor der Geburtshilfe in Bologna).
Clemens XIV. (1769 — 74) sowie Pius VI. (1775 — 99) schenkten dem
Ospedale S. Spirito in Rom, ersterer 1772, letzterer 1780, zahlreiche, imd
zwar Pius VI. 154 anatomische Präparate und chirurgische Instrumente.
Der Kardinal Staatsekretär Franc. Xav. de Zelada in Rom Hess für
das Ospedale S. Spirito einen aus 36 Stücken bestehenden Apparat zur
anatomischen Unterweisung der Hebammen durch den anatomischen Bild-
hauer Giov. Batt. iTanfredini unter Leitung des Professors der Ana-
tomie Carlo Mondini in Bologna herstellen (1779 — 82) tind hat dann
noch mehrere "Wachspräparate, darunter einen ganzen Rumpf, durch letzteren
bezogen. -)
Die angeblichen Vivisektionen des Menschen im 16. Jahr-
hundert und die Beschaffung des Materials zu Studien-
zwecken in der älteren Zeit. Einige Stellen bei Falloppia tind
Dulaurens sowie spätere Berichte begründen den Verdacht, dass Berengar
da Carpi, Vesal, Falloppia lebende Menschen zergliedert haben. Neuere
Autoren, wie Hyrtl, Littre, Burggraeve, Malgaigne, Häser, sind davon völlig
überzeugt. Neuestens (1898) hat Andreozzi sogar Dokumente als an-
geblichen Beweis erbracht, dass in Florenz unter dem Herzog (später Gross-
herzog) Cosimo in den Jahren 1545 — 70 thatsächlich Vivisektion an Ver-
') F. Lussana, Lettura fatta nella R. Accademia delle Scienze. 11 17. g«n-
naio 1886.
*) Die diesbezüglichen Schriftstücke zum erstenmal veröffentlicht von ♦Curatulo
(G. Emilio), Die Kunst der Juno Lucina in Rom. Berl. 1902, 247 S.
15*
228 Robert Ritter von Töply.
brechern geübt worden sei. Eine genauere Analyse aller einschlägigen
Stellen ergiebt aber nur, dass in älterer Zeit Verbrecher nicht nur zum
Tode verurteilt, sondern auch zur nachträglichen Ablieferung an die Ana-
tomie bestimmt wurden, und dass für solche Fälle sogar hie und da ge-
eignete Todesarten vorausgesehen waren oder gewählt wurden. So bestimmt
schon das Privilegium der Universität von Lerida aus dem Jahre 1391,
dass zu Gunsten der Anatomie der Tod durch Ertränken zu wählen ist, und
Doch 1674 bitten die Deputati der Universität zu Sie na den Grossherzog
von Toskana, es möchte wieder einmal eine Anatomie abgehalten und die
Leiche eines zum Galgen und zur Vierteilung verurteilten Verbrechers zu
diesem Zwecke überlassen werden, doch solle die Hinrichtung nicht durch
Vierteilen, sondern nach der in Pisa geübten Erdrosselungsmetbode vor-
genommen werden. Ein direkter Beweis, dass in der Neuzeit eine Zer-
gliederung an einem lebenden Menschen vorgenommen worden wäre, ist
aber nicht erbracht.^)
Indes darf man den Zeitgeist vergangener Jahrhunderte nicht über-
schätzen, und nicht glauben, man hätte ehemals in uneigennütziger und
kühl erwägender Selbstbeschränkung immer ruhig zugewartet, bis eine
Leiche der Anatomie zugefallen war. So geht aus den Akten der medi-
zinischen Fakultät zu Wien deutlich hervor, dass die Fakultät dem An-
erbieten des Scharfrichters zur Vermittelung von Materiallieferungen im
Jahre 1444 willig Gehör geschenkt und sich mit ihm in diesbezügliche
Unterhandlungen eingelassen hat. Sie wurden mit der Bekanntgabe des
Scharfrichters an die Fakultät eingeleitet, es sei eben ein junges "Weib da.
Falls die Person hingerichtet werden sollte, was er aber noch nicht wisse,
wolle er insgeheim veranlassen, dass die Fakultät sie bekomme, wenn sie
dieselbe für die Anatomie haben will. Worüber die Fakultät sehr zufrieden
war und ihre Vertreter beauftragte, sich des Scharfrichters zu versichern
für den Fall, dass er eines derartigen „Suppositum" habhaft werden könnte.
Die Verhandlungen blieben nicht ohne Erfolg und die Anatomie kam zu
stände. Aus den Eintragungen über die nächste im Jahre 1452 abgehaltene
Anatomie ergiebt sich, wie umständlich die Vorverhandlungen waren, wie
geheim sie gepflogen wurden, und schliesslich, was eben ausschlaggebend ist,
dass man unter den 6 Weibern, die hingerichtet werden sollten, eine sorg-
fältige Auswahl traf, als ob es sich um Schlachtvieh handeln würde. Drei
von ihnen waren sehr elegant und bemerkenswert (elegantes et notabiles)
und unter diesen ward wieder die eine sehr geeignet befunden, ertränkt und
der Fakultät überwiesen. Es genügt übrigens das skandalöse, sogar ver-
brecherische Treiben der Resurrektionistenbande in England während
des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts als Beweis, dass die Leichen-
beschaffung selbst in vorgeschritteneren Zeiten in einzelnen Fällen nicht
immer ganz einwandfrei gewesen ist, abgesehen davon, dass ehemals selbst
hervorragende Männer das Material zu Studienzwecken sich manchmal auf
recht skrupellose Weise zu beschaffen wussten. So hat Vesal im Jahre
1536 zu Löwen thatsächlich ein Skelet stückweise vom Galgen gestohlen,
Palfyn (1650 — 1730) wurde am Friedhof zu Kortrijk beim Leichen-
ausscharren betroffen und entging nur durch die Flucht nach Gent der
Verfolgung der Polizei.
Ueber die an dem Aufschwung Beteiligten gehen die gleich-
zeitigen und auch die späteren xA.nsichten sehr auseinander. Falloppia
') Vgl. die ausführliche Analyse bei Roth Andr. Vesal, Brux., S. 473 — 85.
Geschichte der Anatomie. 229
erklärt den Berengar da Carpi (* vor 1470, f 1530 24. Nov.),
Massa sich selbst für den Erneuerer. Andere lassen nur Vesal
als solchen gelten, indem sie Falloppia in den Schatten stellen.
Der Historiker Aleandri bezeichnet hingegen den Eustachi als
„principe degli anatomici", indem er seinem Schützling einen Titel
beilegt, den in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts Riolan d. J. zu
Paris für sich in Anspruch nahm. Nach Abwägung aller Umstände
dürfte aber doch dem Kleeblatt Vesal, Falloppia, Eustachi zu gleichen
Teilen das Verdienst der Reformation der Anatomie zuzusprechen sein.
Vesal (Andreas Vesalius Bruxellensis), in Brüssel 1514 o. 1515
geboren, studierte in Löwen, dann 1533(?)— 36 in Paris unter Jacques
Dubois (Jac. Sylvius) und Günter von Andernach. Nach einem vor-
übergehenden Aufenthalt in Löwen, Brüssel. Venedig wurde er Dr.
in Padua und eröffnete dort am 6. Dez. 1537 als Prof. der Chir.
seine Vorlesungen mit einer Schulanatomie. Er blieb nun bis 1542
in Italien, veröffentlichte mittlerweile 1538 sechs anatomische Tafeln
und gleichzeitig eine Neuauflage der Institutiones anat. des G. v. Ander-
nach, übersetzte für die Juntina-Ausgabe des Galen v. J. 1541 die
Schriften über die Zergliederung der Gefässe, die der Nerven, das
grosse Bruchstück de anat. administration., und gelangte dadurch schon
1540 zu dem richtigen Schluss von der Unhaltbarkeit des Galenos,
der nie eine Menschenleiche zergliedert hatte, vielmehr im wesent-
lichen die Anatomie der Affen lehrt. Er verbrachte die Jahre 1542
und 43 auf Urlaub in Venedig, Ferrara (?), Basel und Hess hier 1543
sein Hauptwerk „De humani corporis fabrica libri Septem" in folio
mit mehr als 300 Holzschnittabbildungen, sowie ein Kompendium u. d.
T. „Suorum de hum. corp. fahr, libror. epitome" erscheinen. Der
Wert dieser Werke liegt — ganz abgesehen von dem Fluss der
Schreibweise, der den gebildeten geistreichen Mann bekundet — in
der wissenschaftlichen Darstellung, in einer eingehenden, wenn auch
nicht erschöpfenden Kritik der galenischen Anatomie, in den Ab-
bildungen (hauptsächlich 2 nackte Gestalten und 5 Muskelmänner
der Epitome, 3 Skelette und 14 Muskelmänner der Fabrica), deren
wohlthuende Verbindung von wissenschaftlicher Darstellungsweise und
künstlerischer, manchmal allerdings stark gezierter Auffassung sie
weit über Alles hinaushebt, das bis dahin geleistet worden, in der
Berücksichtigung der vergl. Anatomie bei gleichzeitiger Darbietung
der ersten vergleichend anatomischen Abbildungen. Nach einem kurzen
Abstecher in die Niederlande verbrachte er die Jahre 1543 — 44
wieder in Italien und hielt sich in Padua, Bologna, Pisa auf. 1544
als kaiserlicher Arzt an den Hof Karls V. berufen, begleitete er diesen
zumeist auf dessen Reisen bis zum Verzicht auf die Regierung i. J.
1556. Er besorgte w^ährend dieser Zeit eine verbesserte Auflage der
Fabrica (1555), worauf er in den Dienst Philipps II. in Madrid über-
trat. Nachdem er aus einem nicht aufgeklärten Anlass eine Fahrt
nach Jerusalem unternommen, starb er auf der Heimreise, der zu-
verlässigsten Nachricht zufolge in einer griechischen Stadt im
Jahre 1564.
Vesal ist bei Lebzeiten ebensoviel angefeindet worden, wie er
bei Lebzeiten und später in den Himmel gehoben wurde. Thatsäch-
lich hat er als Anstürmer gegen Galenos den Ursprung (die Ein-
niündung) der V. azj-gos oberhalb des Herzens nachgewiesen und
ziemlich getreu beschrieben, während Galen sie aus der Hohlader
230 Robert Ritter von Töply.
entspringen Hess, er hat diesem gegenüber den Herzknochen geleugnet,
die Einfachheit des Unterkiefers, das Fehlen der Zwischenkiefemaht
an der Gesichtsfläche des Schädels, die wahre Form und Zahl der
Bestandteile des Brustbeins aus drei Stücken (Galen hatte 7 Stücke
und einen Knorpel angenommen), die Zahl der Bestandteile des Kreuz-
beins und des Steissbeins nachgewiesen, eine von Galen abweichende
richtigere Beschreibung der Oberarmmuskeln gegeben, die Cartilagines
arytaenoidae geschildert, deren Paarigkeit schon Berengar gegenüber
Galen behauptet hatte, er hat die Höhlen der Phalangen, die Zahn-
höhle, die Gelenkmenisken des Unterkiefers, der Hand und des Knies
entdeckt (trotzdem J. Dubois die Priorität sich anzueigenen versucht
hat), die Solidität der Kammerscheidewand des Herzens betont, den
Hymen, die menschliche Placenta beschrieben, die Copora lutea des
Eierstocks, die fötale Verknöcherung, den fötalen Kreislauf, den
knöchernen Gehörgang, die Weite der A. pulmonalis beachtet, den
Zusammenhang der Kniescheibe mit den Sesambeinen betont. Hin-
gegen hat er den dritten Brustbeweger des Galenos, der wol bei
Affen und Hunden vorkommt, aber nicht am Menschen, sowie die sog.
4 Schädelformen der Alten und Natspuren am Brustbein, ebenso das
Kreuzbein sechsteilig, die Zungenbeinhörner einmal gleich lang, das
anderemal das kleine doppelt so lang als das grosse und noch dazu
gestückt abgebildet, Mm. levatores epiglottidis, einen siebenten Augen-
muskel, einen inneren Nasenmuskel, einen Truncus brachiocephalicus,
das Hinabreichen des Rückenmarks bis zum Hiatus sacralis ange-
nommen, die Linse in die Mitte des Auges verlegt, am Ursprung der
Hohlader von der Leber festgehalten, die Venenklappen nur als Ver-
dickungen oder Verstärkungen der Venenwand aufgefasst, die sich
bloss im erschlafften Zustand als Membran darbieten, daher er sie
nicht abbildet, er lässt die Gehirn arterien in die Sinus einmünden
(von Falloppia widerlegt) und verwirft die Entdeckungen von Fal-
loppia, nämlich die tiefen Penisarterien, die Clitoris und deren Homo-
logie mit dem Penis.
Vesals Werke: Paraphrasis in nonutn librum Rhazae ad Alman-
8 0 7-., Bas. 1537, 8". — Sechs Taf. gr. fol. Impr. B. Vitalis, Venet. sumpt. Jo.
Steph. Calcar. 1538 (3 Skelete, 4. Taf. Pfortadersystem, Genitalien, 5. T. Hohlvenen-
syst., 6. T. Arteriensystem). — Epist. docens venam axill. dextri cubiti
in dolore laterali secandam, Bas. 1539, 4^. — Dehum. corp. fabrica libri
Septem, Basil. 1. Ausg. 1543, fol. max.; *2. Ausg. 1555. — Suor. de hum. corp.
fabr. libror. epitome, Bas. 1543, fol. max. 14 Bl. — Epistola rationem
modumqii,e propinendi radicis Cliynae decocti, quo nuper invict. Carolus V.
imp. usus est, pertractans, Bas. 1546 f.; Venet. 1546, 8°; Lugd. 1546, 16 '^, 1547,
12°; Bas. 1566, 4°, — *Anatomicar. Gabrielis Falloppii Observation,
ex amen, Venet. 1564. — Gesamtausgabe: *Andr. Vesalii Opera omnia anat.
et Chirurg, ed. H. Boerhaave et B. S. Albinus L. B. 1725, fol, 2 vol. M. aus-
führl. Biographie. Abb. in Kup ferst. — Untergeschobene Werke: Gabr. Cunei
Mediolan. apologiae Franc. Putei pro Galeni anatome examen, Venet. 1564, 4 ° (mit
Bezug auf Franc. Puteus, Apologia in anatome pro Galeno contra Andr. Vesalium,
Venet. 1562 [G. Cuneo war Prof. d. Med. zu Pavia, erhielt dort 1552 Gelder zur
Errichtung eines anat. Theaters, lourde 1554 Lehrer der Anat. Sein Nachfolger
war 1573174 — 1606 L. G. Carcano A. Gorradi, Memorie e documenti per la
storia delV Univ. di Pavia, 1, 1878); Chirurgia magna ... a Prosp. Borgarutio
recogn., einend, et in lucem ed. Venet. 1568, 8 " (eine plumpe Fälschung). — Ve^ah-
biographie: *Burggraeve (Ad.), Etiides sur Andre Vesale, Gand. 1841. M.
Portr. in Kupferst. u. Facs. 438 S. Sehr eingehendes Referat über Vesals Anor-
tomie. — *Roth (M.), Andreas Vesalius Bruxellenis. M. 30 Taf.. Berl. 1892, 500 S.
{kritische Arbeit, bringt neue Urkunden, ergänzt das Vorige). — * .Täcks chath iE.),
D. Begründung der modernen Armt. durch Leon, da Vinci u. d. Wiederauffindung
Geschichte der Anatomie. 231
ziceier Schriften dess., Nmhurgers „Med. Blätter^, Wien 1902, N. 46 {erklärt die
Fahrica Tesals als ein Plagiat nach Leonardo; verspricht eine ausführlichere Dar-
legung. In der vorliegenden Fassimg zu oberflächlich, um eine iceitere Würdigung
zu verdienen).
Venetianer Ausgaben der Fabrica in kleinerem Formate 1568 u. S. a.; Werke
mit Abdruck der Originalholzplatten von Torinus (Alban.), Bas. 1543, Ma sehen -
baur [Dr. u. Verl.),' Augsb. 1706, 1723, *Leveling {Heinr. Palmaz), Ingoist. 1783;
friihere Nachahmungen von Macrolios [Aegid.]. S.l.e.a. [Cöln 1539), de Neck er
{.lobst.), Augsb. 1539, o. 0. u. J. {Cöln), Ryff {M. Ghialth. Herrn.), Strassb. 1541;
spätere Nachahmimgen von Ge minus {Thom.), Lond. 1545, Grevin {.lacq.), Par.
1-569. Bauman (Jac), Nürnb. 1551. 1575, Amst. 1617, de Piles {Roger) u. Torte-
bat {FranQ\ Par. {1667) 1668, 1733, 1798199 (d. früheste f. Künstler bestimmte
Anatomie, Uebers. von Ger icke. Sam. TJieod., Berl. 1706). Bonavera {Domen.),
S. l. e. a., Moro {Jac. Giac), Vin. 1679, Sandifort (Ed.), L. B. 1783, — Vgl.
Choulant, Gesch. d. anat. Abb., 1852, S. 43 — 58.
Yesals Gegner gehören zwei verschiedenen Richtungen an. Die
Vertreter der einen sind die starren Galenisten. Dahin gehört Du-
bois (Jac. Sylvius) in Paris, der sich um die anatomische Nomen-
klatur ein umstreitiges Verdienst erworben hat.*) Er empfand
die Angriffe Vesals gegen Galenos als die eines Wahnwitzigen
(vaesani cuiusdam), da er sich den Mangel an Uebereinstimmung der
Befunde am Menschen mit der Beschreibung des Galenos durch eine
seither stattgefundene und noch anhaltende physische Degeneration
des Menschen zu erklären wusste.^) Dahin zählt auch der allerdings
weniger bedeutende Pozzi (Francesco, von Vercelli).^) Die andere
Gruppe besteht aus Männern des Fortschrittes, die ihn bei der
.schwachen Seite angriffen. Er hat sich nur gegen einen derselben
o'ewehrt. das ist der ihm gleichwertige Falloppia. Doch kam die in
Form einer Kritik gehaltene Schrift vom 27. Dez. 1561 nicht mehr
in des letzteren Hände.
Falloppia (Gabrielle, ') * 1523, j 1562, 9. Okt.)») hat weder ein
so einheitliches Werk herausgegeben wie die Fabrica Vesals, noch
liat er der Illustration einen höheren Wert beigelegt, als den eines
gelegentlichen Verständigungsmittels. Er hat sich jedoch in seinen
Schriften, welche das ganze Gebiet der Anatomie betreffen, einer be-
sonderen Genauigkeit beflissen, daher die Anatomie um eine grosse
Zahl von Entdeckungen bereichert. Besonders hervorhebenswert sind
seine Beschreibungen des Knochensystems, der Knochenentwicklung,
des Gehörorgans. Er beschreibt als Erster 3 Muskelpaare des
weichen Gaumens, kennt die Gefässe der Hirnsubstanz, verbessert
Vesal bezüglich der Einmündung der Gehirnarterien in die Sinus,
beschreibt die Hals- und Lendenanschwellung des Rückenmarks,
liefert einen genauen Nachweis der Clitoris und stellt deren Homo-
*) Von ihm stammen die Gefäss- ii. Muskelnamen : cystica, gastrica, intercostalis,
cervicalis, renalis, cruralis, poplitea, obturator ext., int. etc.
*) Die Zurückweisung Vesals durch Dubois (Vaesani cuiusdam calumniamm in
Hippocratis Galenique rem anatomicam depulsio) u. die für Vesal eintretende Ver-
teidigungsschrift ist enthalten in: *Hener (Renat. Lindoens.), Advers. Jac. Sylvii
depulsion. anatomicar. calumnias pro. Andr. Vesalio Apologia, Venet. 1555 (Vorrede
V. 3. Id. Nov. 1554), 8 », 134 + 1 P-
*) Puteus (Franc. Med. Vercellens.), Apologia in anatome pro Galeno, contra
Andr. Vesalium Bruxellens., Venet. 1562; Gegenschrift: Guneus (Gabr. Medio-
laiiens.), Apologiae Franc. Putei pro Galeni anatome examen, Venet. 1564, 4 °.
') Dies die eigene Schreibweise. Vgl. *Corradi (A.), Tre lettere d'illustri
anatomici del Cinquecento Aranzio-Canano-Falloppia, Milano 1883, 30 S.
*) Prof. d. Anat. 1548 zu Ferrara, gleich darauf zu Pisa, 1551 Prof. d. Anat.
u. Botan. in Padua.
232 Kobert Ritter von Töply.
logie mit dem Penis fest, entdeckt die tiefen Penisarterien, schildert
die nach ihm benannten Tuben, er untersucht das Auge und dessen
Umgebung, giebt dem „ligamentum ciliare" seinen Namen, beschreibt
den M. levator palpebrae, den obliquus sup. mit seiner Rolle, den
Ursprung des N. trochlearis und dessen Ende im M. obliq. sup.
Seine Abhandlung über die „partes similares" (Knochen, Knorpel,
Nerven, Bänder, Sehnen, Arterien, Venen, Häute) ist weitaus wissen-
schaftlicher, als die seiner Vorgänger. Wenn man ihn deshalb
als Vorläufer Malpighis und Bichats hinstellt (Haeser), so ist dies nur
mit dem Vorbehalt aufzufassen, dass dieses Kapitel schon bei den
mittelalterlichen Anatomen eine Hauptrolle gespielt hatte, aber sehr
schematisch behandelt worden war.**)
Eustachi (Bartolomeo, da Sanseverino-Marche, * ?, f 1574
Aug.)^^j hatte ein umfangreiches Tafel werk in Kupferstich mit mono-
graphischer Behandlung der einzelnen Abschnitte vorbereitet, aber
nur einige Bruchstücke davon herausgegeben (Nieren, Gehörorgan,
Knochen, Vena azygos und tiefe Armbeugenvene, Zähne). Ursprüng-
lich ein treuer Anhänger Galens, schwang er sich später zu selb-
ständiger Auffassung auf. Er berücksichtigte in den Abschnitten
über die Nieren und Zähne die Entwicklungsgeschichte vom Fötus
an und flicht auch vergleichende Erörterungen aus dem Tierreiche
ein. In der Abhandlung über die Nieren beschreibt er Einzelheiten,
die später Bellini wieder entdeckt hat. Eine Gesamtausgabe seiner
mittlerweile verschollenen Tafeln veranstaltete erst 1714 Lancisi mit
eigenem Kommentar, da der nicht gedruckte des Eust. verloren ge-
gangen war. Diese Tafeln enthalten, trotz ihres geringen künstle-
rischen Werts, aber zufolge ihrer Genauigkeit und Naturtreue soviel
des Neuen, dass sie dem Urheber einen Ehrenplatz sichern.^ ^)
Spanien.^)
Die in Italien reformierte Anatomie fand in den spanischen
Schülern der Reformatoren sofort entsprechenden Anklang. G i m e n o
®) Anatomische Werke: Institutiones anat. ; observationes anat. ; obser-
vationes de venis; de partibus similaribus. Das bedeutendste darunter, die Obss.
anat. erschien Venet. 1561, 8", 1562, S», 1571, 8", Par. 1562, 8», Colon. 1562, 8".
Gesamtausgabe der Opera Venet. 1584 fol., Francof. 1600 fol., * Venet. 1606 fol.,
letztere die beste, in 3 Bdn. — Untergeschoben: De corp. hum. fabrica com-
pendium, Venet. 1511.
^'^) Seit 1539 angestellter Stadtarzt (phisicus), später Prof. d. Anat. an d.
Sapienza in Rom.
^^) Opuscula anat. *Venet. 1563 (nicht 1564, wie Choiilant u. Haeser an-
giebt), 4 ö, m. 8 Taf. (Originalausg.), L. B. 1707, Delphis 1726 m. schlechteren Nach-
stichen. — Hanptausgaben der Tabulae anat. Rom 1714, *1728 (Ed. Romana altera,
vermehrte Ausg.), beide mit Text von Lancisi (Jo. Maria), Rom 1740 u. d. T.
*Riflessioni anat. sulle noti di Lancisi fatte sopra le tavole del cel.
B. Eustachio mit Text von Petrioli (Gaetano), sämtlich fol. Wegen der übrigen
vgl. Choulant, Gesch. d. anat. Abb. S. 59 u. f. Die Tafeln des Eust. haben graduierte
Randleisten wie die Landkarten u. einen eigenen Massstab als Beigabe zur Orts-
bestimmung des gesuchten Gegenstandes. Diese Massstäbe sind zumeist verloren
gegangen. Ich besitze einen solchen. — *Aleandri (Vittor. Eman.), La famiglia
del cel. anat. Bart. Eustachi, Bari 1892, 21 S. (Urkundlich festgestellte Genealogie.)
*) Portal, Hist. de Tanat: Choulant, Gesch. d. anat. Abb.; Roth, Andr.
Vesal. Brux. ; Garcia a. a. 0.
Geschichte der Anatomie. 233
(Pedro)-) hat schon 1549 eine sehr g-enaue Beschi*eibung des Steig-
bügels gegeben.'^) Valverde de Haniiisco (Joan, Schüler des
Colombo. erster Arzt des Kardinals Joan de Toledo in Eom; Lebens-
umstände nicht genau bekannt) verbessert den Yesal mehrfach, z. B.
bezüglich der Zahl und Vemchtung der Augenmuskeln, bezüglich der
Nasenmuskeln durch Beschreibung der Levatoren. bezüglich des Ver-
laufs der Vertebralarterie. der Verästelung der V. subclavia. Er
schreibt aber sich selbst überdies eine Keihe von Entdeckungen zu,
die schon Andere gemacht hatten. So ist seine angebliche Entdeckung
des Steigbügels ein Verdienst des Gimeno. Valverde ist der erste
spanische Anatom, der Kupferstichillustrationen (gezeichnet
von Becerra. ^össtenteils in Anlehnung an Vesal, einzelne originell,
gestochen von Nie. B e a t r i z e t) anwendet. *) C o 1 1 a d o (Luis,
Schüler des Vesal und dessen eifi-iger Vertreter gegenüber Jacq.
Dubois) giebt schon eine auf Naturbeobachtung gegründete Knochen-
lehre, allerdings ohne wesentlich Neues zu bringen.^) Collados Schüler
Cosme de Medina (Prof. zu Salamanca) war ein eifriger Freund
der Anatomie. Der Bakalar Kodriguez de Guevara (Alfonso)
hat an der über sein Ansuchen in Valladolid errichteten Lehrkanzel
der Anatomie 20 Monate unter gi'ossem Zuspruch gelehrt, sich aber
später nach Lissabon gewendet, wo Juan IIL ihm eine gut dotierte
Lehrkanzel verlieh.^) Die Univereität zu Salamanca setzte 1561 über
Anregung des D. Covarrubias fest, der Professor der Anatomie
soll jährlich zwischen dem St. Lukastag (18. Okt.) bis Ende März
30 öffentliche Autopsien an Menschen- und Tierleichen abhalten.
1580 war hier Väzquez (Augustin) Professor der Anatomie. Er
wurde 1583 für 4 weitere Jahre gewählt. Erst 30 Jahre nach dem
Werke des Rodr. de Guevara verfasste jedoch wieder eines Andres
de Leon (Leibarzt Philipps ILj ")
Im grossen Ganzen ist das anatomische Studium in Spanien
während des 16. Jahrhunderts trotz der vielversprechenden Anfänge
sehr schnell zurückgegangen um dann recht lang darnieder zu liegen.
Weitaus wertvollere Leistungen, als auf dem Gebiete der deskriptiven
Anatomie wurden auf dem der Kunstanatomie vollbracht. Das Land
eines Velazquez (1599—1660) undMurillo (1617—82) war ja nie
arm an Künstlern mit Verständnis für die Form des menschlichen
') Stud. in Paris, Löwen, Pavia unter Dnbois, Brachelius, Vesal, war 20 Jahre
Prof. zn Valencia.
*) Dialogns de re med. . . . universam anatomen hnm. corp. per-
stringens, summe necessarius omnih. med. candidatis. Valencia 1549.
*) Historia de la composicion del cuerpo humane, Roma 1556,
fol. m. 42 Kupfertafeln u. Kupfertitel, u. öfter bis 1607 in verschiedenen Sprachen.
Choulant a. a. 0. S. 63 hat folgende Ausg. nicht erwähnt: *La anat. del corpo
um. da M. Giovanni Valverde nnovamente ristamp. E con Taggiunta di alcune
tauoli ampliata. In Yinet. nella stamp. de Giunti 1586. Kupfert., Vorrede v.
20. Mai 1559 m. Hinweis auf den Uebersetzer Tabo da Albenga (Ant.), Kupferstich-
portr. bez. NB., 154 Seiten, 42 Kupfer der ursprüngl. Ausg. nebst 4 Muskelmännem
als Zusatz zum 2. Buch (in meinem Besitz, von tadeUoser Erhaltung). — Portal
a. a. 0. I 536: Titelblätter der Ausg. Rom 1556 u. 1560 bei Duval et Guy er
a. a. 0. Fig. 37, 38.
*) In Galeni librum de ossib. ad tyrones enarrationes. Valent, 8°,
78 p., 1555. Am Schluss: Ossium capitis foraminum et sinnum ad tvrones brevis
descr. 8 p. — Portal a. a. 0. I 523.
*) De re anat., Conimbr. 1559: 1592.
') De anat. liber. Besäe 1590, 4».
234 Robert Ritter von Töply.
Körpers. Zu diesen gehört Berruguette (Alfonso, 1480—1561),
Felipe de Vigarny (Fei. de Borgofia), Becerra (Gaspar, 1520 —
70, Illustrator des Valverde), hauptsächlich aber De Arphe y
Villafane (Juan 1535—95?; Schüler des Cosme de Medina). Seine
von Albr. Dürer beeinflusste Proportionslehre ist naturgetreuer,
lebendiger, geistreicher und eingehender illustriert, als die des
deutschen Meisters. Den Wert der anatomischen Figuren beurteilen
Duval und Cuyer ,,le texte est accompagne de figures, qui, pour la
myologie, ont une certaine valeur, mais qui, pour l'osteologie, sont
d'une inferiorite surprenante". Indes, auch die Valeur der rayo-
logischen Figuren ist eine quantite negligeable, wenigstens, soweit
dies den bekannten, wiederholt reproduzierten Torso betrifft.^) Im
17. Jahrhundert folgt der wahrhaft verdiente M a r t i n e z (Crisostomo,
1650—94), von dessen auf 20 Tafeln berechnetem Werk jedoch nur
zwei erschienen sind,'"*) und erst im 19. Jahrhundert Esquivel
(Ant. Maria).^**) Auch der Professor der Anatomie zu Zaragoza
während der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts Ta bar (Valero) hat sich
viel mit Kunstanatomie befasst.
Im Verhältnis zu der langen Zeit, seit welcher die Anatomie in
Spanien heimisch ist, und im Vergleiche mit den Leistungen anderer
Länder sind die Errungenschaften der Erben der kulturell hoch-
stehenden Araber recht spärlich. Erst in der neueren Zeit ist wieder
ein feineres Verständnis und ein tieferer Sinn für die Aufgaben der
Wissenschaft aufgetaucht. Die Professoren der Anatomie in Granada
Maestre de San Juan und Garcia Carreras haben sich um
die Geschichte des Fachs verdient gemacht. Garcia (Victor Escri-
bano) hat das 20. Jahrhundert mit einer übersichtlichen Besprechung
der Anatomie und der Anatomen in Spanien des 16. Jahrhunderts
eingeweiht, Eamon y Cajal (Santiago, * 1852 1. Mai)^^) vertritt
die neueste Richtung der histologischen Forschung, insbesondere auf
dem Gebiet des Nervensystems.^-)
Italien.
Für Italien bedeutet das Auftreten der drei Genannten eigentlich
nur eine Etappe in dem seit dem Mittelalter ununterbrochen sich
fortentwickelnden anatomischen Studium. Es folgen einander nun im
16. Jahrhundert Ingrassias (Giov. Filippo, * 1510, f 1580),^) der
*) Varia commensuracion para la escultura y arquitectura,
Sevilla 1585, fol. u. öfter; 8. Ausg., Madrid 1806 von Asseusio y Torres. —
Vgl. Choulant a. a. 0. S. 72 u. f., Duval et Cuyer, Hist. de l'anat. plast. p.
123 sq. Hier auch Näheres über das Todesdatum.
*) Beide Tafeln bei Duval et Cuyer fig. 46, 47, letztere auch bei Chou-
lant S. 101.
^°) Tratado de anatomia pictorica. Madrid 1848.
'^) Schüler seiues Vaters, Professors der prakt. Anat. in Zaragoza, 1881 im
Konkurs Prof. d. Anat. in Valencia, 86 d. Histol. in Barcelona, seit 92 in Madrid.
^*) Manual de anat. general, Valenc. 1885. — Elementos de histol.
normal, Madr. 1892. — Les nouvelles idees sur la fine anat. du syst.
nerveux. Paris 1895. — Textura del sist. nerv, del homb. y de los
vertebr. 1899. — Vgl. Pageis Lex. S. 1343, Waldeyer Ueber einige neuere
Forschungen etc. S. 14 u. f.
^) Prom. in Padua 1537, Prof. d. theoret. u. prakt. Medizin u. Anatomie in
Neapel bis 1560, dann Archiater von Sizilien.
Geschichte der Anatomie. 235
Führer der neapolitaniselien Anatomen, Entdecker des Steigbügels
(1546J. Freund des Vesal und des Galeuos zugleich.-) der von ihm
abhängige Kompilator Catti (Francesco Antonio, Professor der
Chiurgie und Anatomie in Neapel).-^) Ingrassias Schüler und Nach-
folger Jasolini (Giul.)."') Yesals Hörer und Nachfolger zu Padua
und Pisa Colombo (Realdo, f 1559)^) rühmt sich einer Hörerschaft
von 300 Personen und darüber. Er hat bis zu 14 Leichen in einem
Jahr — im Spital und privatim — seziert. In seiner flott ge-
schriebenen Anatomie unternimmt er gegen 50 Angrifle auf Vesal,
über 70 auf Galen, 20 auf Beide, mehr als 20 auf Aristoteles. Er
misst sich viele Entdeckungen bei. obzwai* er andererseits deni Herzen
die muskulöse Natur, dem Penis Venen und Nerven abspricht, dem
Uterus Acetabula zuspricht und eine haltlose Lehre von den Augen-
muskeln aufstellt. Hingegen beschreibt er gut den Steigbügel, er
kennt die vordere Abflachung der Linse, deren Lage vor der Mitte
des Auges, den Dui'chtritt der Aa. vertebr. dui'ch das Hinter-
hauptloch, deren Vereinigung zur A. basil. und abermalige Trennung.
Sein Hauptverdienst ist die Darstellung des Lungenblutlaufs. *)
Aranzio (Giulio Cesare. auch Aranzi de Maggi genannt, * 1530,
j 1589 7. April) ") liefert eine Beschreibung der schwangeren Gebär-
mutter und des Fötus und entdeckt den arteriellen Gang zwischen
der Lungenarterie und Aorta. *j welcher fälschlich nach dem auf
anatomischem Gebiete kaum erwähnenswerten Botallo (Leonardo,
Konsiliarius und Arzt des Königs Karl IX., der Königin, des Herzogs
Wilhelm von Brabant) benannt ist^) Varolio (Costanzo, * 1543,
^) In Galeni librum de ossib. commentaria, Panonn. 1603 (postiuin).
— N. b. Laut Gurlt-Hirsch Lex. IH 345, starb Ingr. am 6. ^'oT. 1680!
^) *Anatomes Enchiridion . . . medicinae candidatis admodum necessar.
Neap. 1552, 4^.
*) Quaestiones anat. , Osteologia parva, de cordis adipe, de aqua in
pericardio. de pingnedine in gen., Neap. 1572. — Oollegium anat., Hanov. 1654.
*) Schüler des Jo. Ant. Leonicus gen. Flatus in Venedig. Schülers des 1531
verst. Chirurgen Dom. Senuus ; Prof. d. Anat. in Padua nach dem Abgange Yesals,
1544 in Pisa, um 1548 in Eom.
«) De re anat. libri XV, Venet. 1539, fol.. *Par. 1562, 8», 495 S. u.
öfter; deutsch von *Schenck (Job. Andr., nicht Schenk, Avie Haeser angiebt) u. d. T.
Anatomia, d. i. sinnreiche künstliche begründete Aufschneidung, Theilung vund
Zerlegung . . . Mit angefügter analogischer Zugaab darin sceleta Bruta etc.
Frankf. a. M., fol., 274 S. m. Kupf. Nur der Titel 1609, der Inhalt 1608, die Tier-
figuren Kopien nach Coiter. — Kritik des Colombo bei Koth, A. Vesal. Br.
S. 256 u. f.
') 1556 — 89 Prof. d. Anat. in Bologna, wo er den Brauch abschaffte, zufolge
dessen aUe Professoren der Reihe nach iSe Anatomie vortragen mussten.
*) De hum. foetu opusc, Eom 1564, 8°: Venet. 1571, 1587 u. ö. 4». — Obss.
anat., Venet. 1587, 159.5, 4P; Basil. 1671, 8«. — Brief an Aldrovandi bei Corradi,
Tre lettere etc. (s. oben).
") Mit der Erwähnung des Botallo sticht man in ein kaum entwirrbares Ge-
webe von falschen Deutungen. Botallo hat in seinen anat. Beobachtungen das
bereits dem Galenos bekannnte fötale Foramen ovale des Herzens unter dem Titel
„Vena arteriamm nutrix, a nullo antea notata" beschrieben und in der bei-
geschlossenen Abbildung des Herzens auch jenen nach ihm benannten Gang darge-
stellt (* Opera omnia ... e musaeo Job. van Home, Lugd. Bat. 1666, 8",
800 p. Seite 66 u. f.). Bei der Beschreibung des for. ov. gebraucht er den Ausdruck
„ductus'', sodass ein oberflächlicher Leser leicht den Eindruck gcAvinnen kann, er
meine thatsächlich jene Anastomose zwischen der Aorta u. Pulmonalis. Die Fabel
der Biogr. med., wonach Bot. ein Schüler des 300 Jahre älteren Lanfranchi gewesen
sein soll, hatte schon de Reuzi (Stör. d. med. in It. III 174, 1845) widerlegt und
erklärt. Bot., Schüler des TrincaveUa u. Falloppia, ist um 1530 promovirt — nicht ge-
236 Robert Ritter von Töply.
t 1575)^°) beschreibt eingehender das Cerebrospinalsystem (pons
VaroliiV^) Carcano (Leone Giambattista, * 1536, f 1606)^-) be-
schreibt wieder einmal das ovale Fenster und dessen Klappe im Herzen
des Fötus, dann die geraden und schrägen Augenmuskeln, die
Thränendrüse und die Thränenwege.^"') Fabrizi d'Acquapen-
dente (* 1537, f 1613),'^) gilt mit Unrecht als Entdecker der Venen-
klappen, denn schon vorher hatten sie Ch. Estienne in der V. azygos
und Giov. Batt. Cannani daselbst wie auch anderswo nachgewiesen,
auch Jacq. Dubois, Vesal, Eustachi hatten sie gesehen und beschrieben.
Indes hat Fabrizi die bis dahin ausführlichste Beschreibung und um-
fangreichste Abbildung derselben geliefert (1603). Die Abbildungen zu
W. Harvey's anatomisch-experimenteller Studie über die Herz- und
Blutbewegung bei den Tieren (1628) sind dieser Abhandlung (tab. 2,
fig. 1) entnommen. Sein grösstes Verdienst liegt auf dem Gebiet der
Embryogenie. Die diesbezüglichen Abhandlungen liefern sachlich
und in Abbildungen das Umfangreichste, was bis dahin in dieser Be-
ziehung geleistet worden. Er hat darin als Erster die Decidua er-
wähnt und abgebildet, als würdiger Vorgänger von Munniks van
Cleef, Everard Home, B,ichard Owen, Kölliker, Giov.
Batt. Ercolani die Placenta vom vergleichend-anatomischen Stand-
punkt studiert. Ueberdies hat er zu Padua auf eigene Kosten ein
schönes anatomisches Theater errichtet. ^^) Sein Bedienter," Schüler
und Nachfolger Casserio (Giulio, * 1561, j 1616; seit 1604 Prof d.
Anat. zu Padua) veröffentlichte prachtvolle Tafelwerke über die
Stimm- und Gehörorgane, dann über die Sinnesorgane mit Berück-
sichtigung der vergl. Anatomie. Er hinterliess, ohne die Hauptauf-
gabe seines Lebens erfüllt zu haben, 78 Platten zu einer illustrierten
Anatomie. Sie wurden 1627 von Rindfleisch (Daniel Bucretius, aus
Breslau) herausgegeben.^") In diese Gruppe gehört auch der Belgier
boren — worden. Dennoch hat Frölich im Biogr. Lex. von Gurlt-Hirsch I 545
die alten Märchen wieder aufgetischt.
^") Prof. in Bologna, seit 1573 an der Sapienza in Rom.
") De nervis optic. nonnulltsq. aliis praetor coramunem opi-
nion. in hum. capite observatis epist., Patav. l.'iTS, 8°, Francof. 1591. 8**.
— Anatoraia s. de resolutione corporis hum. lihri IV, Francof. 1591, 8**.
^^) Schüler seines durch Vesal gebildeten Bruders Pietro Martire, dann des
Falloppia, seit 1593 Lehrer der Anat. zu Pavia.
^*) Suir unione dei vasi grossi del cuore nel feto. Sui muscoli
deir occhio e delle palpebre, 1593.
**) Falloppias Nachf. zu Padua seit 1562.
^') Anat. u. physiol. Einzelabhandlungen in versch. Ausgaben, 1600 — 24. —
Opera chir., 16i3 u. öfter bis 1665, ital., Päd. 1672, fol.. deutsch von Job.
Scultet, Mrnb. 1673: *2. Aufl., Nürnb. u. Franki. 1684, 4«, 358 S. u. Anhang.—
Opera omnia seit 1625 öfter, L. B. cur. B. S. Albin. 1738 f. — Opera omnia
anat. et physiol. *Lips. 1687, praef., Job. Bohnii, Fol. 452 p., c. tab. (de
formatione ovi pennatorum pennati uterorum bist. m. 7 Taf.; de formato foetu m. 32
Taf . ; de ventriculo intestinis et gula; de venarum ostiolis, m. 8 Taf.; de respiratione
et ejus instrumentis ; de oculo m. 4 Taf. ; de aure m. 1 Taf. ; de larynge m. 6 Taf. ;
de locutione; de motu locali animalium; de musculis; de articulorum structura; de
totius animalis integumentis). — *Romiti (Guglielmo), II merito anat. di Girol.
Fabrizi d'Acquap. Estr. da Lo Sperimento 1883. 8 p.
^**) De vocis anditusque organis. Ferrar. 1601 fol. maj. m. 37 Kpft. —
Pentaesthesion h. e. de quinque sensib. liber. *Venet. apud Nicolaum Misserinum
S. a. (1609) fol., 346 S., 33 Taf. (in meinem Besitze; Choulant hat diese Original-
ausgabe nicht gesehen), Francof. 1610(1622). — *Jul. Casserii ... tab. anat. 78 ...
Dan. Bucretius 20 quae deerant supplevit etc., Venet. 1627, fol., 97 anat. Taf. ui.
Erkl. (über d. versch. Ausg. vgl. Choulant, Gesch. d. anat. Abb. S. 76 u. f.).
Geschichte der Anatomie. 237
Van den Spieghel (Spigelius, Adriaen, * 1578, f 1625),^^ dessen
wichtigste Arbeiten die Leber nnd das Nervensystem betreffen.'^) Die
herrschende zootomische Richtung vertritt der Altmeister Severino
(Marco Aurelio, * 1580 2. Nov., f 1656 16. Juli).^«') Mit seiner
„Zootomia democritea" (1645) setzt die wissenschaftliche Behandlung
der vergl. Anatomie ein. -*') Ueberdies verdienen einer Erwähnung
Piccolomini (Archangelo, * 1526, j um 1605; Prof. d. Anat. in
Rom) wegen der von ihm herrührenden Bezeichnung „linea alba
abdominis'', sonst ein mittelmässiger Schriftsteller mit viel Interesse
für Galen ■-^) und Boschi (Hyppolito. * 1540. f ?; Schüler von Canano,
öffentlicher Lehrer am „Gymnasium"' zu Ferrara und Gemeinde-
chirurg), ■-'^) sowie der Friese Koyter (Coiter. Volcher, * 1534,
1 1600).-'^) Dieser gibt u. A. die erste, wenn auch kurze Beschreibung
und Abbildung des Knochensystems des Fötus und des Kindes, dann
einen Vergleich der Menschenknochen mit denen der Affen und des
Wolfs. Das Wesentlichste dieser Richtung der genannten italienischen
Anatomen besteht in der Berücksichtigung der Embryogenie und der
vergleichenden Anatomie. Dadurch ragen sie über ihre Vorgänger weit
hervor.
Im 17. Jahrhundert entwickelt das wissenschaftliche Ver-
einswesen, das schon im 16. eine Rolle gespielt hatte,-*) neue
Blüten. Es bilden sich naturwissenschaftliche Vereine, -•^) auch einer
für die Pflege der Anatomie, nämlich der „Coro anatomico" in Bo-
logna, gegründet von Massari (Bartolomeo) und aus 9 Mitgliedern
bestehend, darunter Capponi (Giov. Batt.), Fracassati (Carlo),
Malpighi (Marcello). Unter den zahlreichen Lehrern jener Zeit, zu
denen ebenso wie im vorigen Jahrhundert so mancher Ausländer ge-
^') Schüler von Fabbrizi u. Casserio, lebte eine Zeitlang in Mähren, Prof. d.
Anat. u. Chir. in Padua 1605 — 25.
^'') Catastrophe anatomiae publicae in Lycaeo Patavino, Padua 1624. —
De formato foetu, Padua 1626, (durch L. Crema). — *De hum. corp. fahr,
libr. 10, opus posth. Dan. Bucretius Yratislav, jussu authoris [Venet. 1627) Fol.
330 S. — *Opera, quae extant, omnia ex recens. 1. A. van der Linden,
Amst. 1645, fol, 2 Bde. (Prachtausgabe). — Vgl. Choulant, Gesch. d. anat. Abb. S.
76 u. f.: *Broeckx. Essai sur l'histoire de la niedecine beige, Gand 1837.
^^) Prof. d. Anat. u. Medizin in Neapel bis zu seinem Tode.
^°)*Zootomia Democritea, Norimb. 1645, 4° c. fig. — Hist. ana-
tomica . . . eviscerati corporis, Neap. 1629, 4"; franz. v. J. Vigier, 2 vol., Par.
1629 — Vgl. *Assmann (Friedr. Wilh.). Quellenkunde der vergl. Anatomie,
Braunschw. 1847, 319 S.
■-') Anatomicae praelectiones, Eom 1586, mit einigen minderwertigen
Abbildungen. Die angebliche 2. Ausg. u. d. T. Anatome integra reuisa von
Fantoni, Verona. 1754 fol., ist ein Buchhändlerbetrug mit Abdruck der Platten
des Catoptrnm microcosmic. von Job. Eemmelin. Vgl. Choulant, Gesch. d. anat.
Abb.. Art. Eemmelin.
*-) *De facultate anathomica per breves lectiones. Ferrar. 1600,
4», 76 p.
*') Prosektor des Falloppia, Schüler des Aranzio u. Aldrovandi, Freund des
Eustachi, scliliesslich .\rzt, Physikus u. Chirurg der Stadt Nürnberg. — De ossib. et
cartlaginib. corp. hum. tabulae, Bonon. 15(^6 (Uebersichtstabellen ohne Abb.).
♦Externar. et internar. principal. c. h. tabulae etc., *Norib. 1573, foL 133p.
c. tab., Lovan. 1653.
-*) Vgl. die Neue Florentiner Akademie u. deren Angriff auf Avicenna
XL. Mesue zu Gunsten des Galenos *Novae Academiae Floreutinae opuscula aduersus
Auicenam et medicos neotericos, qui Galeni disciplina neglecta, barbaros colunt.
Venet. L A. Junta 1533, Octob. 47 Bl.
") Z. B. die Accad. del cimento in Florenz 1657.
238 Robert Ritter von Töply.
hörte, zählen der Westfale Vesling (Johann, * 1598, f 1649
30. Aug.)?"") dessen „Syntagma anatomicum" während der 2. Hälfte
des 17. und der 1. des 18. Jahrhunderts das gebräuchlichste Schul-
buch war und zum Mittelpunkt einer ziemlich umfangreichen Litera-
turgruppe geworden ist,-') Marchetti sen. (Pietro de, * 1593,
t 1673 16. April) '^») und Marchetti jun. (Domenico de, * 1626,
t 1688), ^®) einer der Ersten, der von den Gefässinjektionen Gebrauch
machte,*^") der Entdecker des Blutserums Barbato (Hieron., Padua,
17. Jahrb., 2. Hälfte),^^!) Molinetti (Antonio, * ?, f IQlSy^) Unter
den Forschern ragte besonders hervor erstens Asellio (Gasparo, * um
1581, 1 1626 als Arzt in Mailand). Er entdeckte die allerdings schon
vor ihm gelegentlich bemerkten, aber nicht beschriebenen Chylus-
gefässe im Mesenterium eines Hundes („vasa lactea"), Hess sie jedoch
vereinigt in die Leber gehen. Die diesbezügliche nach seinem Tode
von Tadino und Settala herausgegebene Beschreibung spielt auch
in der Geschichte der anatomischen Abbildung eine hervorragende
Eolle durch 4 Hlustrationen in Farbenholzschnitt. =^'^) Dem ganz dem
17. Jahrhundert angehörenden Malpighi (Marcello, * 1628 10. März,
f 1694 29. 0. 30. Nov.)^*) gebührt nicht nur die Priorität in der
Anatomie der Pflanzen vor Grew (Nehemiah), das Verdienst der Ent-
^®) Stud. in Wien, wurde 1627 Incisor in Venedig, eröffnete dort nach einer
Orientreise i. J. 1628 Privatvorlesungen über Anat. u. Botan., wurde 1632 Prof. d.
Anat. Chir. u. Botan. in Padua, gab 1638 d. Chir. auf, unternahm 1648 eine zweite
Orientreise.
^^) Erste Ausg. des Syntagma Padua 1641, seither öfter, auch holländ., engl.,
deutsch, im ganzen 13 Ausg. bis 1696; *Syntagma anat. comment. atque append.
a Ger. Leon. Blasio Amst., add. Epist. Geo. Hieron. Velschü, Patav. 1677, 4",
248 p. c. tab. Der Append., enthält Auszüge aus den jüngsten Entdeckungsschriften
des Pauli, Asellio, Bartholin, Rudbeck, Tulp, Highmore, De Graaf,
Bellini, Malpighi, Warthon, Blaes, Stensen, Schneider, Willis,
Ruysch, Swammerdam. — *Schrader (Frider.), Additamenta ad Job. Veslingii
Syntagma anat., Heimst. 1689, 4" (16 Disputationen).
28) In Padua Prof. d. Chir., 1652—61 der Anat.
*") In Padua Schüler seines Vaters, Assist, von Vesling, dessen Nachf. als Prof.
d. Anat. 1649—88.
«•>) Anatomia Päd. 1652, 1654; Harderwyk 1656.
^^) Dissert. ... de sanguine et ejus sero, Pav. u. Frankf. 1667, Leyd.
1736. — *De formatrice, conceptu, organizatione, et nutritione foetus in utero, Patav.
1686, 4°, 144 p. c. tab.
■''^) In Padua seit 1649 Prof. d. Anat. u. Chir. als Nachf. von Vesling. seit 1661
auch Prof. d. theor. Medizin als Nachf. Licetis. *Dissertationes anat. et
pathol. de sensib. et eor. organis., Patav. 1669, 4", 116 p. c. tab., betr. den
Durchschnitt des Auges u. Lichtstrahlengang, d. Augenmuskeln.
33^ *De lactibiis s. lacteis venis quarto vasor. mesaraicor. genere. Mediol.
1627 (nicht 1628, wie Gurlt im Biogr. Lex. I 210 angibt), 4», 79 p. m. Kupfertitel,
Portr. in Kupferst. u. 4 Farbenholzschn. in Fol. Ausg. nur mit Kupferst. Basil 1628, 4
(Choulant), *Lugd. Bat. 4<', 104 p. (mihi). — Zur Gesch. des anat. Farbenholz-
schnitts sei bemerkt, dass Farbendrucke mit Verwendung mehrerer Platten schon
im 15. Jahrb. vorkommen. Eines der frühesten bekannten Beispiele ist das Titel-
blatt zu einem Passauer Missale, Augsb., E. Ratdolt 1498, mit den Heiligen Valentin,
Stephan, Maximilian (Reprod. der Reichsdruckerei Berlin, 1900 Nr. 633). Für den
ältesten Farbenholzschnitt anatom. Inhalts halte ich das sog. „Symbol des Todes"
von Job. Wechtlin (1509 — 19), einen Schädel in architekton. Umrahmung mit der
Unterschrift „Mundanae felicitatis gloria" (Reprod. das. Nr. 300). Choulant a. a. 0.
S. 88 erklärt die Tafeln des Asellio für die frühesten anat. Abb in Buntdruck. Dem
Gesagten zufolge giebt es noch Vorstufen. — Die in meinem Bes. befindlichen Aus-
gaben der Schrift des AseUio sind von tadelloser Erhaltung.
'*») 1656—91 mit 2 Unterbrechungen Prof. d. Med. in Bologna, dann Leibarzt
des P. Innocenz XII.
Geschichte der Anatomie. 239
deckung des kapillaren Blutlaufs (1661) und der Blutkörperchen
(1665), er ist auch einer der Mitbegründer der mikroskopischen Ana-
tomie und Embryologie. Seine begonnene Geschichte der Ana-
tomie ist leider nicht zu stände gekommen.^-^) Malpighis Mitarbeiter
Fracassati (Carlo, Prof. in Bologna und Pisa) ist an dessen Unter-
suchungen über das Gehirn und die Zunge beteiligt, ein anderer Ge-
hilfe war Buonfiglioli. Der als Schriftsteller durch Verschweigung
älterer Vorarbeiten gewissenlose Bellini (Lorenzo, * 1643 3. Sept.,
f 1704 8. Jan.;"^*^) bei seiner Anstellung wurde die ao. Professur der
Anatomie in eine o. umgewandelt) hat die bisherige Annahme, die
Niere sei ein strukturloser fester fleischiger Körper, durch den Nach-
weis der sog. Bellinischen Röhrchen gestürzt (Vorarbeit von Eustachi),
die Zungenpapillen als Geschmacksorgan erkannt und deren Ver-
bindung mit den Nerven beschrieben.
Einer der ersten Italiener, die der Harveyschen Lehre vom Blut-
kreislauf beistimmten, war Genga (Bernardino, * 1655, j 1734).-^ '^)
Er schrieb eine chirurgische Anatomie der Knochen und Muskeln
und lieferte die anatomische Arbeit zu einem der hervorragendsten
Werke der Kunstanatomie, welches unter Leitung von E r r a r d
(Charles, f 1689; Direktor der kön. franz. Maler- und Bildhauerakad.
in Rom) erschienen ist.^^'') Den Text lieferte Lancisi (Giov. Maria,
*"') *Anatome Plantar. Cui subjnngitnr Appendix iteratus et anctus
ejusd. Authoris De Ovo Incubato obss. cont., Lond. 1645. Anatomes plantar. Pars
altera, Lond. 1679, fol. ni. Kupft. (prachtvolle Originalausg.). — Opera, Lond.
1686 f.; Amstd. 1687, 4°; *L. B. 1687, 4«. — Opera posthuma. Lond. 1697,
Amst. 1698, 4 », *Venet. 1743, fol. -- Die Schriften anat. Inhalts sind : De formatione
pulli in ovo (dazu Briefwechsel mit H. Oldenburg), dann ein Appendix des
Malpighi an die k. Engl. Ges. v. Okt. 1672 (einschlägig Ant. F e 1 i x de ovis cochlear.
epist., J. J. H a r d e r , Epist. de partib. genital, cochlear. etc.) ; de cerebro ; de lingua ;
de externo tactus organo; de cornnum vegetatione; de utero et viviparor. ovis; de
omento, pinguedine et adiposis ductib. (de cerebro, de lingua mit Fracassati);
de structura viscerum, nominatim hepatis, cerebri corticis, renum (Malpighische
Knäuel), lienis: de polypo cordis: de pulmonibus. — Ueb. die Vorarbeiten zu einer
Gesch. d. Anat. vgl. Atti, Notizie della vita e delle opere di Malpighi e di Bellini,
Bologna 1547, 4 ".
*-^) *Epistolae anatt. viror. clariss. M. Malpighii et C. Fracassati,
Amst. 1669, 12 », 260 p. c. tab.
*•») Schüler von OUva, Eedi, Borelli, seit 1663 Prof. d. philosoph. u. theor.
Med. in Pisa u. noch im selben Jahre o. Prof. d. Anat. bis 1693.
**") Exer^cit. de structura et usu renum, Florenz 1662. 4" u. öfter, zu-
letzt Leyd. 1724, 4°. — Gustus Organum novissime deprehensum,
Bologna 1665 u. öfter, zuletzt Leyden 1726, 4 •> m. d. Abb. üb. d. Nieren. — Opera,
*Venet. 1708, 4«; Florent. 1720, 4 «, 1747, 4».
'•') Primarchirurg sowie Prof. d. Anat. u. Chir. am Archiospedale S. Spirito
in Rom.
"'*') Anat. chirurgica, cio e" istoria anat. dell' ossa e muscoli del corpo um.,
con . . . un breue traft, della circolaz. del sangue, Rom 1672, 1675; *Bologna 1686,
S°, 332 p. (die in Gurlt-Hirsch's Lex. U 522 als Bologna 1687 bezeichnete Ausgabe
dürfte mit dieser identisch sein, welche weder im Titel noch zum Schluss ein Datum
trägt. Der Censor- Antrag zur Drucklegung ist vom 24. März 1686). — Anat. per
uso et intelligenza del disegno etc., Roma 1691, fol. maj. m. 56 Kupferbl.;
der allegorische Nachtitel, Taf. 21 u. 26 bei Duval et Guy er, fig. 55, 56, 57.
Vgl. C ho u laut, Gesch. d. anat. Abb. S. 96 u. f. — Im Anhang zu dem ersteren
Werk macht Genga aufmerksam, dass der Blutkreislauf zwar von Harvey veröffent-
licht wurde, aber schon vorher den römischen Professoren Colombo (lib. 19 de re
anat. c 2. de pulm.) u. Cesalpino (quaest. med. qu. 17) bekannt war. In der Folge
behandelt er auch kurz die Entdeckung der Venenklappen. Laut Biogr. Lex. von
Gurlt u. Hirsch II 522 wollte Genga die Entdeckung des Blutkreislaufs dem Fra
Paolo Sarpi zuschreiben. Ich habe die Stelle nicht finden können, lieber Sarpi vgl.
240 Robert Ritter von Töply.
* 1654 26. Okt., t 1720 21. JuniV^«'') Herausgeber der Tafeln des
Eustachi.«^*^)
Unter den Sonderabhandlungen jener Zeit ist die neue Beschrei-
bung des Gehörorgans von Folli d. Ae. (Cecilio, * 1615, f 16b0)-^^°)
hervorheben« wert. Sie gehört nebst den späteren Monographien von
Du Verney und Cassebohm zu dem Besten, was in der älteren Zeit
über diesen Gegenstand geschrieben wurde.'^^^) Eine umfangreichere,
auch die pathologischen Verhältnisse berücksichtigende diesbezügliche
Abhandlung lieferte später Valsalva (Ant. Maria, * 1666 15. Febr.,
f 1723 2. Febr.). '^*) Weitaus vielseitiger ist Santorini (Giov.
Domenico, * 1681 6. Juni, f 1737 7. Mai),^"") hervorragend durch
musterhafte Arbeiten über die Schädeldecken (Emissarien des Sant.),
das Gehirn, den venösen Blutlauf, das Zwerchfell, die Gesichts-
muskeln (M. risorius Sant), den Kehlkopf (Cartilag. Santor.), die Ovarien
(erster Nachweis der Corp. lutea auch in den Eierstöcken von Jung-
frauen), die Entdeckung des Gangl. oticum. Sein unvollendetes Tafel-
werk (17 Tafeln mit graduierten Randleisten nebst Konturtafeln,
einzelne darunter meisterhaft, z. B. gleich Taf. I, die Gesichtsmuskeln
darstellend) erschien erst 1725.^*^'')
Von geringerer Bedeutung sind Vallisneri (Antonio, * 1661
3. Mai, t 1730 28. Jan.),^^^) ein tüchtiger Mikroskopiker und Em-
bryolog).''^^) Nanni (Pietro. * 1677, f 1716; Arbeiten über die Drüsen),
Bianch'i (Giov. Batt, * 1681 12. Sept., f 1761 20. Jan.),*-) Pozzi
(Giuseppe, * 1697 6. März, f 1752 2. Sept.),'^^^) Molinelli (Pier Paolo,
* 1702 2. März, f 1764 11. Okt.), Bibiena (Franc. Maria Galli,
* 1720 16. Jan., f 1774 26. Nov., Prof. in Bologna; vergl.-anat. und
physiol. Arbeiten), Mondini (Carlo * 1729 5. Nov., f 1803 4. Sept.,**)
Arbeiten über das Gehörorgan, die Chorioidea, die Gehirnarterien,
♦Bassaglia (Leonardo) Del genio di F. Paolo Sarpi, Vinez. 1785, 8 °, t. I 278 p.,
t. II 200 p.
'*") 1684—97 im Konkurs Prof. d. Anat. am Coli, di Sapienza in Rom, Leibarzt
von Innoceuz XI. (P. M. 1676—89), Innocenz XIL (P. M. 1691—1700), Clemens XI.
(P. M. 1700-21).
^"''j Laut Gurlt-Hirsch' Biogr. Lex. III 594 Art. Lancisi wäre Innocenz XU.
i. J. 1699 gestorben. Thatsächlich hat er bis zum 27. Sept. 1700 gelebt (vgl.
Grotefend, Handb. d. histor. Chronologie). — *Jo. Mar. Lancisi Opera, 4 tom.,
Rom. 1745, 4».
^*'') Lehrer d. Anat. in Venedig.
'*<>) Nova auris internae delineatio, 6 Taf., Vened. 1645, 1647; Frank-
furt 1641.
'") Schüler von Malpighi, seit 1697 Prof. d. Anat. in Bologna: De aure hum.
tract., Bouon. 1704, 4 " u. öfter. — Opera, ed. Morgagni, *Venet. 1740, 4 " 2 voll.;
L. B. 1742. — Biographie von Fabroni, Vitae Viror. illustr., Rom 1770, tom. V.
^^*) Schüler Bellinis, seit 1703 Lehrer d. Anat. in Venedig.
*«'0 Obss. Anat., Venet. 1724, 4»; L. B. 1739, 40. — *Septemdecim
t a b u 1 a e . . . Addit. de structura mammar. et de tuuica testis vaginali Mich. Girardi,
Parm. 1725, fol. 217 S. m. Portr. u. Biogr. — Opera Parm. 1773, 4 «. — Vgl.
Choulants Gesch. d. anat. Abb. S. 103. — Ueb. d. Entdeckung des Gangl. ot. vgl.
Müller (Job.) Hist.-anat. Bemerkungen. S. 284.
*i*) Schüler von Malpighi, in Padua seit 1700 a. 0., 1709 zweiter, 1711 erster
0. P.rof. d. theor. Med.
*^^) Istoria della generazione dell' uomo, degli animali etc., Venedig
1721. — Opere fisico-mediche, Vened. 1733, 2 vol.
*^) Prof. in Bologna u. Turin; flüchtige Schriften über die Leber, 1711, die
Thränengänge, 1715, Gegner der Hallerschen Irrstabilitätslehre.
*^) Prof. in Bologna; Ueb. den Bau der Thymusdrüse („pulmo succenturiatus"),
der Leber u. A.
**) Prof. d. Anat. in Bologna als Nachf. Galvanis.
Geschichte der Anatomie. 241
den Wurmfortsatz, die Haut, namentlich des Negers, die Entwicklungs-
geschichte), Galvani (Luigi. * 1737 9. Sept., f l'?98 4. Dez.;*^)
vergl.-anat. Arbeiten über die Vögel, Unters, über die Zirbeldrüse
1768; Entdecker des „Galvanismus" 1789 6. Nov.). Malacarne
Michele Vincenzo Giacinto, * 1744 28. Sep., f 1816 4. Dez.);*«^)
icgte besonderen Wert auf die vergleichende Anatomie, auch auf
historische Forschungen, beschrieb besonders sorgfältig das Kleinhirn.*^'')
Parallel und gleichbedeutend mit der deutschen Schule Hallers
geht im 18. Jahrhundert die italienische Schule des Morgagni
(Giovanni Battista. * 1682 25. Feb., j 1771 6. Dez.).*"^) Seine ,.Ad-
versaria anatomica" enthalten eine derartige Fülle von Neuheiten,
Hinweise auf vergessene Dinge und Kritiken der neueren Autoren,
dass sie zu den Hauptwerken der Anatomie zu rechnen sind. *'^) Die
meisten hervorragenderen italienischen Anatomen der 2. Hälfte des
18. Jahrhunderts sind direkt oder indirekt aus Morgagnis Schule her-
vorgegangen. Dahin zählen Caldani (Leopoldo Marc' Antonio,
* 1725 21. Nov.. t 1813 30. Dez.),**^) mit seinem Neffen Floriano
(Prof. in Padua) Herausgeber des zweitgrössten Sammelwerks, welches
ähnlich wie das von Loder (1794 — 1803). die besten vorhandenen
anatomischen Abbildungen nebst solchen nach Originalpräparaten ver-
einigte,^«^) Girardi (Michele. * 1731 30. Nov.. t 1797 17. Jun.),*»'')
Herausgeber der Santorinischen Tafeln.^^''] Cotugno (Domenico.
1736 29. Jan., f 1822 6. Okt.).^«^'^) Entdecker des ,. Aquaeductus
Cotunii". des N. nasopalatinus. verdient um den Aufschwung des
Studiums an dem 1785 neu eröffneten anatomischen Theater in
Neapel, ^*'^) Malacarne (Michele Vincenzo Giacinto, * 1744 28. Sept.,
**) Seit 1762 Prof. d. Anat. in Bologna his zur Gründung der cisalpin. Republik.
***) 1775 — 83 Prof. d. Anat. zu Acqui, dann in anderen Stellungen zu Turin,
Pavia, Padua.
***') Nuova esposizione della vera struttura del cerveletto
umano, Torino 1776, 8". — Delle opere de' medici e de' cerusici che
nacquero o fiorirono prima del scolo XVI negli stati deUa real casa di Sayoja etc.
1786, 1789, 4. 2 voU.
■'^'l Zu Bologna Schüler u. Prosektor von Valsalva, nach dessen Abgang nach
Parma Demonstrator der Anat., in Padua 1712 — 71 Prof. d. Anat. als Nachf. von
Vallisneri.
*'*') Adversaria anatomica I— "VT, Bologna bezw. Patav. 1706 — 19, 4°; zu-
sammen Patav. 1741, 4 °, * Venet. 1762 (opus nunc vere absolutum, von Haeser nicht
gekannt) fol. 244 S. m. 11 Kpft. — Corradi, Lettere di Lancisi a Morgagni, Pavia
1876, 8", 306 pp. (Briefe a. d. Zeit 1707—19, unt. A. Beiträge zum Streit mit
Bianchi). — Biograpliien von Mosca (Jos.), Neap. 1768, 8", Fabroni (.Vitae ülustr.
Italor.), Tissot (in De sedib. et caus. morb., Everod. 1779, 4'*).
**") 1771 — 1805 Prof. d. Anat. als Nachf. von Morgagni, ebenso wie dieser mit
einem Grehalt von 500 Dukaten angestellt.
"'') Iconesanat. ...ex optimis neotericor. operib., Venet. 1801 — 13, fol. max.,
4 Bde. m. 264 Taf.; Expücatio, Venet. 1802—14, fol., 5 Bde. — Caldani (L. M. A.),
Institutiones anat., Tom. I, U, Venet. 1787, 8 Nap. 1791, 8, Lips. 1792, 8»; ital.
V. Castellani, Bresc. 1878. M. 7 T. — Caldani (Florian), Tabb. anat. Uga-
mentor. corp. hum., Venet. 1803, fol. max. m. 11 Doppelt. (= Icones anat. I, 41 — 51);
Riflessioni suU' uso dell' anat. nella pittura, Venez. 1808, 4**; franz. v. Kühnholtz,
Montp. 1845. — Vgl. C ho u laut, Gesch. d. anat. Abb., S. 153 u. f.
**■) Prof. d. Anat. in Padua neben Morgagni, dann in Parma.
*•'') S. oben, Girardi. — Prolusio de origine nervi intercost. Florenz
1791.
'"') Prof. d. Anat. an der Univ. in Neapel.
**'•) De aquaeductib. auris hum. int. Neap. 1760, 8", Vienn. 1774, 12^ —
*l8truzione e stabilimento per l'apertura del nuovo teatro anat. nel r. spedale
di S. Giacomo degli Spagnuoli il di 1. Apr. c. a. formati dall' ill. govemo della r.
casa, e spedale sud., Nap. 1785, 16 S.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 16
242 Robert Ritter von Töply.
t 1816 4. Dez.,^^**) Mitbegründer der chirurgischen Anatomie, Wert-
schätzer vergleichend- anatomischer Studien, insbesondere auf dem
Gebiete der Anatomie des Gehirns verdient, auch historisch ge-
bildet),"'') Comparetti (Andrea, * 1764, f 1801 22. Dez.);^''='')
dessen vergleichend - anatomische Beobachtung über das Gehörorgan
nebst der einschlägigen Abhandlung von Scarpa zu dem Besten ge-
hört, was in diesem Gegenstand geleistet wurde. Er ist der Ent-
decker des Ganglion nervi vagi im Foramen lacerum, sowie des Ramus
auricularis nervi vagi, dessen beide Aeste er schon angibt.'*-^) Der
bedeutendste Schüler Morgagnis ist Scarpa (Antonio, * 1752
19. Mai, t 1832 31. Okt.).^^*) Er erwirkte die Erbauung eines für
die damalige Zeit grossartigen anatomischen Instituts in Modena, so-
wie den Neubau einer anatomischen Schule in Pavia, entdeckte den
N. naso-palatinus, beschrieb das seinen Namen tragende Dreieck am
vorderen Teil des Oberschenkels, lieferte eine hervorragende Unter-
suchung über das Gehörorgan und in seinem Hauptwerk, den von
Anderloni gestochenen „Tabulae neurologicae", Muster anatomischer
Darstellung, welche die vielgerühmten Sömmeringschen Abbildungen
an Kraft des Stiches übertreifen.^-^'') Scarpas Nachfolger in Pavia,
Fattori (Santo, * ?, f 1819; zuerst in Pavia, dann in Modena) ist
hinter seinem grossen Vorgänger stark zurückgeblieben.-^^)
Erst Panizza (Bartolomeo, * 1785 15. Aug., f 1867 17. April) ^•^)
hob wieder die Anatomie in Pavia und erweiterte den Gesichtskreis
durch experimentell-physiologische, insbesondere durch vergleichend-
°^*) 1775—83 Prof. d. Anat. zu Acqui, dann Chef des Militär-Medizinalwesens
in Turin, Prof. der Chir. u. Geburtsh. in Pavia, der Chir. in Padua.
^"') Nuova esposiz. d. vera struttura del cerveletto um., Torino 1776,
8°. — Encefalotomia univers., Torino 1780, 8 •'. — Nervoencef alotomia,
Pavia 1791, 8**. — Encefalot. di alcuni quadrup., Mant. 1795, 4°. — Ricordi
deir anat. chirurg., 3 Hfte., Päd. 1801, 1802, 8". — Delle opere de' medici e
de' cerusici che nacquero o fiorirono prima del sec. XVI negli stati
della r. casa di Savoja, 1786, 1789, 4°, 2 vol.
^•"l Prof. d. Med. in Padua als Nachf. von Bianchini.
^"^^i Occursus medici de vaga aegritudine infirmitatis nervor.,
Venet. 1780. — Obss. anat. de aure int. comparata, Padua 1789, 4'*, c. tab.
— Zur Gesch. der genannten Entdeckungen vgl. *Müller (Job.), Historisch-anat.
Bemerkungen, 1837, 24 S., 8".
5»") 1772 — 83 0. Prof. d. Anat. u. tbeor. Chir. a. d. Univ. in Modena, in Pavia
1783—1803 Prof. d. Anat, überdies 1787-1812 der Chir.
^"') De structura fenestrae rot. auris etc., Mutin 1772, 8**, c. figg. —
Anatomicar. annotat. lib. I, Mutin. 1799, lib. II, Ticin. 1785, 4» c. fig-. Ed. 2,
Ticin. 1792. — Anatom, disquisition es de auditu et olfactu. Ticin. 1789,
fol., c. flg.; Ed. 2 auctior, Mediol. 1795,. fol., c. flg.; deutsch von Schreger (Chr.
Heinr. Theod.), Nürnb. 1800, 4'*. — Tabulae neurolog. ad illustrandam historiam
anat. cardiacor. nervor., noni nn. cerebri, glossopharyngaei, et pharyngaei ex VIII.
cerebri. Ticin. 1794, fol. maj., c. flg. — De penitiori ossium structura, Lips.
1799, 40 maj.. c. fig.; deutsch von Ro ose (Th. G. Aug.), Leipz. 1800. — *Opere . . .
p. c. del 0. Pietro Van noni, 2 voll., 4". m. Atlas gr. fol., 52 Taf., deren Ausführung
jedoch hinter den Originalen weit zurückbleibt, Florenz 1836 — 39. — Das angegebene
Geburtsjahr ist festgestellt durch Scarenzio (Lnigi). Vgl. Cautaui in Gurlt-Hirsch
Lex. V, 197. — Ueb. den künstlerischen Wert der Anderionischen Tafeln s.
Choulant, Gesch. d. anat. Abb.
^*) Discorso sulla natura dei nervi, Pavia 1791. — Guido allo
studio della anat. um., Pavia 1817, 1812.
'*^) Freund von Mascagui u. Bnfalini, Schüler von Atti, Cairoli, Volpi, Scarpa,
Monteggia, Palletta, 1814 von Scarpa zum Supplenten der anat. Lehrkanzel in Pavia
vorgeschlagen, nachdem diese durch Fattoris Abgang nach Modena freigeworden,
seit 1817 in Pavia 0. Prof. der Anat.
Geschichte der Anatomie. 243
anatomische Studien (Foramen Panizzae = Kommunikation zw. zwei
Blutgefässen bei Krokodilen).^^} Sein Schüler, Schwiegersohn und
Nachfolger Zoja (* 1833 Juni) lieferte mehrere Beiträge zur Ana-
tomie der Knochen, sowie eine eingehende Beschreibung des Anhangs
der Schilddrüse und ordnete das von Eezia angelegte, von Scarpu
bereicherte Museum.^')
Die Yorgeschichte dieses Museums reicht ziemlich weit zurück. Der
verdiente Bertrandi (Giovanni Ambrogio, * 1723 17. Okt., -|- 1765
6. Dezemb. ; seit 1755 Prof. costituto der Chir. an d. Univ. in Turin mit
der Verpflichtung zur Erteilung praktischen Unterrichts in der Anat., seit
1758 Prof. d. prakt. Chirurgie) hatte zwar in Turin im Spedale maggiore
di S. Giovanni die Errichtung eines anat. Theaters, später die eines
Hebamraeninstituts und einer Tierarzneischule durchgesetzt, sich aber haupt-
sächlich auf dem Gebiete der operativen Chirurgie hervorgethan, ^^) ebenso
wie sein Schüler Moscati (Pietro, * 1739, f 1824 24. Jan.; 1764—72
Prof. d. Anat. u. Chir. in Pavia, dann der Geburtsh. in Mailand). Erst
dessen Lieblingsschüler Rezia (Giacomo, * 1749 9. Xov., -f 1825 10. Febr.;
Moscatis Nachf. als Prof. d. Anat. u. Chir. zu Pavia 1772 — 83, dann der
Physiol. u. allg. Path. bis 1796, 1802 — 16 Direktor, später Generalinspektor
der Sanitä militare) begründete jenes, später von Scarpa weiter ausgestaltete
Museum. ^")
Morgagnis Einfluss erwies sich in gleicher Weise wolthätig auf
die Entwicklung der Anatomie in Siena. Dessen Freund Tabarrani
(Pietro. * 1702 3. Mai. j 1780 5. April) «f»'^) hob dort den seit 15 Jahren
darniederliegenden Unterricht.""^'') Tabarranis Schüler Mascagni
(Paolo, * 1752, t 1815 19. Okt.) "«) hat sich dm-ch seine bis auf das
Jahr 1777 zurückgehenden Arbeiten über das Lymphgefässsystem
(dessen Bestand er allerdings selbst an Orten annahm, wo ein solches
nicht vorhanden ist), dann auf dem Gebiete der mikroskopischen Ana-
tomie, der Kunstanatomie, schliesslich auf dem der anatomischen
Illustration durch ein monumentales Tafelwerk mit lebensgrossen Ab-
bildungen, auch auf dem der plastischen Nachbildung anatomischer
^Präparate als einer der hervorragendsten Anatomen überhaupt er-
iesen.*'^'') Mascagnis Prosektor Antomarchi (Francesco, * um
^«) Vgl. Cantani in Gurlt-Hirsch Lex. IV, 476.
^') Eicerche e consideraz. sull' apofisi mastoid., Milano 1864. — S.
Jnrse seröse etc., ib. 1865. — S. articolazione peroneo-tib. sup. 1867. —
lic. anat. s. appendice d. glandula tiroidea, Eoma 1879, 5 tav. — Studij
8. varietä dell' atlante, Pavia 1881. — Ale. var. dei denti um., Pavia 1881.
'*■') Anat. Arbeiten: Diss. anat. de hepate et de oculo. Aug. Taurinor.
|1748, 4 "^ (von Haller u. Zinn gelobt ; letztere Arbeit entspricht der Ophthalmographie
|V. J. 1745). — Obss. de glanduloso ovarii corpore, de placenta et de
Ltero gravido in Miscell. phüos.-mathera. Societ. privatae, Taurin. 1759.
^^) Specimen Observation, anatomicar. et pathologicar., Pavia 1784.
««•) Seit 1759 Prof. d. Anat. in Siena, 63 J. alt erblindet.
"") Obss. anat, Lucca 1853, 4°.
«*») Seit 1774 Nachfolger von Tabarrani in Siena, seit 1800 in Pisa, 1801—15
rof. am Ospedale S. Maria nuova.
*"') Prodrome d'un ouvrage sur le syst, lymphat, Siene 1784, 4",
4 T. in fo. — Lettera di Aletofilo al Giomalista, Mispoli (Siena) 1785,
° (Gegen-schr. auf die Angriffe gegen den Prodrome). — Vasor. lymphaticor.
sorp. hum. historia et ichnographia, Senis. 1787, fol., 138 S. ra. 41 Kupfert.
Hauptwerk); deutsch in *Ludwig (Christ. Friedr.), William Cruikshanks u. Paul
Hascagni'.s Gesch. u. Beschr. der Saugadem des menschl. Körpers, Leipz., 4», 1. u.
i. Bd. 1789, 3. B^. 1794, letzterer m. histor. Uebersicht von der Entdeckniig des
16*
244 Robert Ritter von Töply.
1780) ist weniger durch wissenschaftliche Forschungen als vielmehr
durch eine unbefugte Neuausgabe der 'J'afeln Mascagnis. sowie durch
die Behandlung und Autopsie Napoleons I. auf St. Helena (1819
23. Sept. — 1821 5. Mai) bekannt geworden. Unter den anatomisch
thätigen Chirurgen jener Zeit ragt hervor Palletta (Giov. Batt.,
* 1747, t 1832 27. Aug.) «2)
Nach der weittragenden Verbesserung des achromatischen Mikro-
skops i. J. 182 7 durch Amici (G. B., zuerst in Modena, später Prof.
und Direktor des Observatoriums in Florenz, f 1862) kam an Ort und
Stelle auch die moderne Histologie zur Geltung, und zwar in erster
Linie durch Pacini (Filippo, * 1812 25. Mai, f 1883 9. Juli).«=^'')
Er hat nicht nur die nach ihm benannten (Vaterschen) Körperchen
der Fingernerven entdeckt, sondern auch eine hervorragende Beschrei-
bung der menschlichen Augennetzhaut geliefert (erstere 1840, die
letztere 1844 veröffentlicht), überdies 1845 ein Mikroskop von be-
sonderer Form mit schrägem Okulartubus angegeben.'^^^) Die neueste
Richtung der Histologie ward aber erst ermöglicht, nachdem derselbe
Amici i. J. 1850 mit seinen Immersionssystemen an die Oeffentlich-
keit getreten war. Sie vertritt Golgi (Camillo, * 1844 7. Juli)."*)
'M Literatur-Nachtrag. *Sangiorgio {Paolo), Cenni storici sulle (lue uni-
versitä di Pavia e di Milano etc. Opera postuma . . . per ctifa di Francesco
Longhena, Milano 1831, 8^, 681 pag., 3 Tav. — *Iioerner {Frieder.}, De
Alexandra Benedicto . . . Brunsvigae 1751, 4°, 16 pag.
duct. thorac. (1564) bis auf P. Lupi (1793). — Posthume Werke: Anat. p. uso d.
stud. di scult. epittura, Firenze 1816, fol. — Prodromo d. gr. anatomia...
da Fr. Antomarchi, Firenze 1819, fol., m. 20 Kpft.; 2 ed. da Torara. Farnese,
Milano 1821, 8 **. m. 48 Kpft., 4 ° (letztere Ausg. gründlicher). Der Titel dieses
Werks ist unrichtig gewählt. Es behandelt die mikrosk. Anat. des Menschen, der
Tiere, der Pflanzen. — Anat. universa 44 tabulis . . . cura ... Vacca
Berlinghieri — Barzellotti — Rosini, Pisis 1823—32, m. 88 Taf. fol. max.,
darunter 44 farbig. Aus je 3 Blättern ein ganzer Körper zusammenzusetzen;
Planches anat. du c. h. . . . par F. Antomarchi, Paris 1823 — 26. Lithogr.
Nachbildung des Vorigen. — Vgl. Choulant, Gesch. d. anat. Abb. S. 143 u. f. —
Nach Mascagnis Präparaten arbeitete Font an a (Feiice, f 1805) Wachsnachbildungen
für die Sammlung der Specola in Florenz.
"-) Seit 1769 Chirurg am Osped. magg. zu Mailand. Nova gubernaculi
testis Hunteriani et tunicae vagin. anat. descr., Mail. 1777, 4°. — De
n er vis crotaphit. et buccinatorio, ib. 1784, 4 <>, c. t.; in Ludwig, Script,
neurol. min. III, 1793. — Die Ehre der ihm zugeschriebenen Entdeckung des Gangl.
otic. gebührt dem Santorini. Vgl. oben d. Anm. zu Sant.
•*''») 1847 Prof. der descr. u. Maler- Anat., 1849 Prof. d. topogr. Anat. u. Histol.
in Florenz.
«3b^ Nuove ricerche microscop. s. tessitura int. della retina,
Bologna 1845; deutsch Freib. 1847. — Sulla scoperta di Monneret dei
pretesi muscoli delle valvole semilun. del cuore, Florenz 1850 (J. A.
E. Monneret, * 1810, f 1868, Prof. d. Med. an d. Ecole prat. in Paris). — Nuove
ric. miscrosc. s. tessit. d. ossa e dei denti 1851. — Sopraun nuovameca-
nismo di microscopio specialm. destin. alle ric. anat. N. Ann. d. Seien,
nat. di Bologna, Nov. 1845. — Nuovo microscopio fotogr. e chimico, beschr.
von Caruccio 1868. — Vgl. Cantani in Gurlt-Hirsch Lex. IV, 458; Petri, D.
Mikroskop. 1896.
«^) 1875 Prof. 0. d. Anat. in Siena, 76 Prof. d. Histol. in Pavia, hier seit 81
Prof. d. allg. Path. Sulla fina strutt. dei bulbi olfatt. 1875. — Studii
aulla fina anat. degli organi centr. del sist. nerv, (preisgekr. 1883).
Geschichte der Anatomie. 245
Niederlande.
Sebastian (A. A.), Oratio de Batavor. seailo 17. de anatome meriüs atque
inventis in ea praestantissimis, Groning. 1832, 4". — * Van der Boon (A.), Ge-
schiedenis der onfdekkingen in de ontkedkunde van den mensch, gedaan in de
noordelijke Xederlanden tot aan het hegin der 19e eeuw, Utrecht 1851, 266 S. m.
Facs. — Israels (A. H.) en Daniels (C. E.), De Verdiensten der HoUatidsche
Geleerden ten opzichfe van Harvey's leer van den bloedsomloop. Met goud bekroond
en nitgegeven door het Prov. TJtr. GenootscJuip v. Künsten en Wetensch., Utrecht
1883, S*».
*IUustrium HoUandiae et Wesffrisiae ordinitm Alma Academia Leidensis.
Lugd. Bat. 1614 = Alma et ill. Acad. Leidens. . . . Delineationes artificiosiisimae,
4°, 231 S. m. Kpf. — *M.eursius (Jo.), Atlienae Batavae sc. de tirbe Leid, et
acad., virisque cl. etc., Lugd. Bat. 1625, 4 ", 351 S. — *Fundatons, curatorum et
professorum etc. quorum gratia . . . Academia Lugduno-Batava incepit . . . effigies.
A Leide. Chez Pierre f'an der Aa = Le fondateur, les premiers cnrateurs, les plus
renommez professeurs etc. A Leide, chez Pierre Van der Aa, dans VAcad. (Pracht-
volles Illustrafio7iswerk in folio mit 159 Kupfertafeln aus der berühmten Offizin von
P. van der Aa m. spärlichem lat. u. franz. Text). — Suringar (G. C. B.),
Bydragen tot de geschied, van het geneeskondig onderwijs aan de hoogeschool te
Leiden. 18 Abtl., die Jahre 1575 — 1815 umfassend in Xederl. Tijdschr. voor Ge-
neesk. 1860— 70. — *Schotel (G. D. J.), De Academie te Leiden in de 16e, 17e en
18e eeuu: 2L platen, Haarlem 1875, lex. 8 *>, 410 S.
Groshans, Histor. verslag over de geneeskundige school te Rotterdam, Rotterd.
1853. 8 ".
Jonchbloet, Gedenkboek der Groninger Hoogeschool. — Boeles (Mr. W.
B. S.), Levensschetsen der Groninger Hoogleeraren, G)-oningen 1864.
Sandifort (Ed.), De B. S. Albino anatomicor. facile principe 1803. —
Camper (Adr. Gilles), Levensschets van Petrus Camper, Leexiwarden 1791;
Vrolik (G.), De gutachten van Camper en Hunter, aver het nut der holte beenen
in Vogels nader overtcogen ent tes toetse gebragt, Amst. 1803, 8°; fluider
(Joann.). Oratio de meritis Petri Camperi in anat. comp., Groningae 1808, 4°;
Daniels (Car. Ed.), Het leven en de Verdiensten van Petrus Camper. M. goud
bekr. en uitg. d. h. Prov. Utr. Genootsch. v. K. en Wetnsch., Utr. 1880, 4^. —
Halberfsnia (Hiddo), De Leenicenhoekii meritis in qiiasd. partes anatomiae
microscop. diss. etc., Deveter 1843. — Fleck (F. Le Sueur), De Leeuwenhoekii
etc., diss., Leyden 1843; f'an Charatite (X. H), De Leeuwenhoek. etc.,
diss., Leyd. 1844; Haarntann, Antonius van Leeuwenhoek., Leid. 1875. —
*Schreiber (Jo. Frid.). Hist. vitae et meritor. Friderici Ruysch, Amst. 1732, 4",
80 S. m. Porfr.; Schelteina (P.), Het leven van Fred. Ruysch, 1886. — *Baer (w.),
Johann S wammer dam's Leben u. Verdienste um d. Wissenschaft. Ein Vortrag
geh. bei Eröffnnng der anat. Anst. zu Königsb. im Herbst 1817 {v. Baer, Beden I,
1864), 8*^, 34 S. {Aus der Biographie geschöpft, welche Boerhaave seiner Ausg. der
Biblia nat. vorgesetzt hat.) — Sinia (R.), J. Swammerdam in de lijst vom zijn
iijd 1878; *Stokvis (B. J.). Redevoering fer herdenking van den 200jarigen sterfdag
van Jan Swammerdam. Uitg. door het Genootsch. tot bevord. van Xatur-,
Genees- en Heikunde te Amsterd. 1880. — *Wittiver {Phil. Ludtc), Xiklaas
Tulp, Xürnb. am 21. Decemb. 1785, 4», 24 S. M. Abb. einer Porträt-Med. ;
Bogge (H. C), Xicolaas Tulp, 1880; *Tilanns (J. W. R), Xicolaas Tulp.
Akad. proefschr., Amst. 1881, lex. 8", 149 S. — *Van Baemdoncke (J.), Levens-
beschrijvina van Philip Verheyen. St. Xikolaas (Buitengew. uitg. van den oudheits-
kundigen kring van het Laiid van Waes Xr. 1. o. ./., lex. 8 ", 90 S. m. Portr. —
*Siiringar {Ger. Corn. Bern.), Memoria Gerardi Sandifort, Lugd. Bat. et
Amst. 1848, S**, 58 pag. — Suringar (Piet. Hendr.), Byzonderheden betreff, het leven
van D. G. C. B. Suringar, Amst. 1874. — Van der Hoei'en (J), Levensber. vari
Gerardus Vrolik in Jaarb. der kon Akad. van Wetensch. 1859. — Van der
Hoeven (J.), Levensber. van WUlem Vrolik in Jaarb. d. kon. Akad. van Weten-
sch. 1863.
Tilanus (J. W. R.), Beschrijving der Schildaijen afkomstig van het Chirurgiins-
Gilde te Amsterd., Amst., T. Muller, 1865. — *Triaire (Paul), Les legons d'atiat.
et les peintres holland. au 16e et 17e siecles. Av. 2 eaux-fortes. Paris 1887, kl. 4°,
79 S. Ill
In den Niederlanden gelangte die Anatomie erst im 17. Jahr-
hundert, dann allerdings zu einem bedeutenden Aufschwung. In
246 Robert Ritter von Töply.
Holland war eine Festigung erst in der 2. Hälfte des 16. Jahi--
hunderts durch die Chirurgengilde zu Amsterdam zu stände gekommen,
später durch das Aufblühen der von Wilhelm I, von Oranien als
Akademie i. J. 1575 gegründeten Hochschule zu Leyden. Obzwar
sich das Studium der Anatomie zu Amsterdam früher entwickelt hatte,
so behielt doch Leyden das Uebergewicht, und blieb bis in das 19. Jahr-
hundert die Pflanzstätte der niederländischen Anatomen, mit welchen
es auch die Lehrkanzel der Nachbarstadt zu versorgen pflegte.')
Der Einfluss der von Italien ausgegangenen Reformation gelangte
zu Leyden bald nach Eröffnung der Hochschule zur Geltung. Der
in Padua promovierte De B o n d t (Bontius, Gerardus, * 1536, f 1599
15. Sept.), anfangs (1575 — 81) der einzige Lehrer, hielt auch Vor-
lesungen über Anatomie, der dann hinzugekommene "Van Heurne
d. Ae. (Heurnius, Jan, * 1543 25. Jan., f 1601 11. Aug.) hat dort als
Erster anatomische Uebungen, und zwar eigenhändig vorgenommen.-)
Die Errichtung des anatomischem Theaters kam erst 159 7 zu stände,
und zwar durch den auf anatomischen Gebiete auch literarisch thätigen
Paauw (Pauw, Pavins, Pieter, * 1564, j 1617).'') Durch Paauws
Schüler Tulp kam bald darauf die Anatomie zu Amsterdam in Auf-
schwung. VanHeurned. J. (Otto, * 1577 8. Sept., f 1652 24. Juli)*)
hat den klinischen Unterricht gestiftet. Sein Nachfolger Van
Hörne (Johannes, * 1621, f 1670 5. Jan.) war in zahlreiche Streitig-
keiten anatomischen Inhalts verwickelt, welche durch die verschiedenen,
eben von allen Seiten auftauchenden thatsächlichen und angeblichen
Entdeckungen hervorgerufen wurden (dazu zählten insbesondere die
des beinahe gleichalterigen Louis De Bils, * 1624, f 1670). Er
ist bekannt durch seine Beschreibung und Abbildung des Ductus
thoracicus beim Menschen (s. im Folgenden Amsterdam), dann durch
^) Die Liste der älteren Professoren der Med. an der Leydener Hochschnle
lautet nach Van der Aa: Junius (Hadr.), Forestus (Petr.), Heurnius (Joh.),
Dodonaeus (Robert), Paauw (Petr.), Clusius (Carol), Vorstius (Everh.),
Heurnius (Otto), Bontius (Reiner), Screvelius (Ewald), Vorstius (Adolf),
Kyperus (Albert), van der Linden (Jo. Antouides), ran Hörne (Jo.). Deleboe
Sylrlus (Franc), Schuyl (Florent.), Drelincourt (Carol.), Schacht (Lukas),
Craanen (Theod.), Nnck (Ant.), Bidloo (Godfr.), Dekkers (Fred.), Hot ton (Petr.),
Le Mort(Jak.), Albinus (Beruh.), Boerhaave (Herrn.), Rau (Joh. Jak.), Schacht
(Herrn. Oosterdyk), Albinus (Beruh. Siegfried. B. F.).
2) Alma Acad. Leid. L. B. 1614, p. 135.
*) Stud. in Leyden, Paris, Orleans, Rostock, Padua, hier unter Fabr. ab Aquap.,
Prof. d. Anat. u. Bot. seit 1589. Abb. dieses Theaters in dem Prachtwerk von Van
der Aa, kleinere in der Alma Ac. Leid. 1614 u. bei Meursius, dann in einem
Foliostich (de Gheyn inu., Andr. Stog. scol.), welcher dem Succenturiatus anat. v. J.
1616 vorgeheftet zu sein pflegt, Paauw im Seciersaale vorstellt u. offenbar ein Seiten-
stück zu dem Titelholzschnitt von Vesals Fabrica ist. — Primitiae anat. de
h. c. ossibus, L. B. *1615, 4 «, 188 S. m. Kpf.; 1630; Amst. 1633 (Vorrede f. d.
Gesch. der literar. Thätigkeit des Autors wichtig). — Andr. Vesalii epitome
anat., opus rediv. , cui acced. notae et coniment. P. Pavii, Amst. 1616;
1633. — *Succenturiat. anat. cont. comraent. in Hippocr., de capit. vulnerib. etc.
L. B. 1616, 4», 270 u. 128 S. m. Kpf. — Epistolar. ad amicos (de valv. intest.
Bauhini cent. una (in G. Fabricii Hild. Opera, Oppenh. 1619). — *Obss.
anat. selectiores (als Anhang zu Th. Bartholin. Hist. anat. rarior. Cent. III et
IV, Haffn. 1657, 45 pag.). — Als Prof. d. Bot. hat Paauw i. J. 1601 d. erste Beschr.
des Leydener bot. Gartens herausg. Ein Verz. der von 1681 — 86 aufgenommenen
Pflanzen veröffentlichte 1687 m. Abb. Paul Hermann (Prof. d. Med. u. Bot.), ein
anderes nach den Mitteilungen von Herm. Boerhaave (Prof. d. Med., Bot, Chemie)
erschien in Rom 1727 in 2 T.
*) Als Nachf. seines Vaters Prof. d. Med., seit 1617 — 52 auch der Anat.
Geschichte der Anatomie. 247
Untersuchungen über die Geschlechtswerkzeuge, welche durch
Swammerdam (s. im Folgenden) eine Ki'itik erfuhren.^) Van Hornes
Schule hat für die Entwicklung der modernen Anatomie eine weit-
tragende Bedeutung. Sie konzentriert sich schliesslich in Albr. v.
HaUer, dem Begründer der neueren Anatomie in Deutschland. Yan
Hornes unmittelbare Schüler (C. Bontekoe, Fred. Deckers, Fred.
Ruysch, Jan Swammerdam, Nie. Stenonis) gehören zu den
glänzendsten Erscheinungen der niederländischen Medizin. Eine weit-
aus geringere Bedeutung für die Entwicklung des Fachs hat der Be-
gründer der Chemiatrie, De le Boe Sylvius (Franz, ursprünglich
Dubois, * ?, t 1672 14. Nov.). Seine zu Lejden am Schluss des Jahres
1640 und anfangs 1642 gehaltenen Vorlesungen im Anschluss an die
Institutionen des Kasp. Bartholin vernachlässigen den beschreibenden Teil
und gehören nicht nur zu seinen, sondern überhaupt zu den schwächsten
Leistungen auf diesem Gebiet.**) Unter Van Hornes Nachfolger Dre-
iin court (Charles, * 1633. | 1697).''') dessen Verdienst in der Er-
werbung von Verbrecherleichen für den anatomischen Unterricht nur
örtliche Bedeutung hat, drohte die Anatomie zu verflachen, da er
starr, wie sein ehemaliger Lehrer Riolan sein Interesse mehr dem
Altertum als der Zukunft zuwendete. Im übrigen beschrieb er zu-
erst die nach Vieussens genannte Klappe im Gehirn, auch recht gut
den Larynx und die Drüsen des Kehldeckels. Eine eigentümliche
Rolle spielte hier in den Jahren 1670 — 86 der Cartesianer Craanen
(Theodorus, * 1620, f 1690), dessen Abhandlung über den Menschen,
ähnlich wie die des Des Cartes, sämtliche Errungenschaften der Medizin
und der Naturwissenschaften zur Deutung der Lebensthätigkeit heran-
zuziehen sucht. ^) Erst Drelincourts Schüler und Nachfolger Nuck (Anto-
nius, * 1650, t 1692)^^) brachte die beschreibende Anatomie wieder auf
eine höhere Stufe durch seine eingehenden Studien über die Lymph-
•^) Yan Home steht inmitten einer hochinteressanten wissenschaftlichen, literarisch
äusserst fruchtbaren Bewegung, deren Schilderung einer Sonderbesprechung wert ist.
Es handelt sich dabei aber um ein sehr umfangreiches, nicht leicht zugängiges
Material. Einiges darüber bei Suringar a. a. 0., 1863, S. 193—206, Fokker
(Nederl. Tijdschr. voor Geneesk. 1865, II. 167 seq.), *Töply (Eob.), Ludwig de
Bus. Prag. med. Wochschr. 1887 Nr. 6, S.-A. 7 S. (eine der Erstlingsarbeiten des
Verfassers auf histor. Gebiete, als solche zu beurteilen). In der Streitfrage um das
Lymphgefässsystem spielte schliesslich Buy seh s' ,.Dilucidatio valvulär, in vasis
lymphat. et lacteis"' eine gewichtige Rolle. Ausführliche Verzeichnisse der Schriften
des Van Home bei Haller, Bibl. anat. 1.432 u. Portal III 10. Eine allgemeinere
Bedeutung haben: Novus ductus chyliferus, nunc primum delineat. , descript. et
eruditor. eiamini expositus., L. B. 1652, 4": Microcosmus s. brevis manuduetio ad
historiam c. h., L. B. 1660, *1662, 8 ° u. öfter; Suor. circa partes generationis in
utroque sexu Observation, prodromus etc., L. B. 1668, 12 ". — Für die Beurteilung
der erwähnten Strömungen vgl. besonders *Hoffmann (Joh. Maur., Maur. fil.) . . .
Dissertationes ... ad Joh. van Home . . . Microcosmum . . . annexa . . . epist. de geni-
talib. c. . . . not. Joh. Swammerdamii etc. Altd. noric. 1685, 4 <>, 328 S.
®) *Opera, ed. J. Schrader, Amst. 1679, 40 u. öfter. — *Dictata ad Casp.
Bartholini Institutiones anat. ab eodem in collegio anat. suo sub. fin. a.
IWO et init. a. 1641 Lugd. Bat. habito, explicatas: in Opera medica, Genev, 1681
toi. Seite 672 — 86. — Biographisches in der Oratio funebris von Schacht; in den
Opera 1681 Seite 738-47; Suringar a. a. 0. 1863, 497—510; *Gubler in Confe-
rences historiques, Paris 1866, 8. p. 269—308.
'*) Schüler von Riolan in Paris, in Leyden Prof anat. 1670 — 87.
'*■) Verz. der Werke bei Portal.
*) Tractatus physico-medicus de homine. C. fig. aen. L. B. An. Petr.
Van der Aaa 1689, 4 », 765 p.
"•) Seit 1638 Lektor Anat. am CoUeg. anat.-chir. im Haaff, 1687—92 Prof. anat.
et med. in Leyden.
248 Robert Ritter von Töply.
gefässe, die Drüsen, die Gebärmutter.^^) Ein unruhiger Geist kam
zur Geltung in dem extravaganten B i d 1 o o (Govert , * 1649 im
März, 1 1713 im April).^"*) Sein künstlerisch vollendetes anatomisches
Tafelwerk ist von G. de Lairesse gezeichnet (nicht gestochen, wie
Haeser meint) und von A. ßlooteling gestochen, aber ohne wissen-
schaftliche Genauigkeit. Die Schärfe seiner Polemik, ohne welche es
damals in der Wissenschaft nicht anging, erinnert an die seiner be-
leidigenden Parodie der Gerichte, auf Grund deren er für eine Zeit
verhaftet wurde.^**") Bidloos Schüler Muys (Weijer Willem, * 1682,
5. Jan., f 1744 19. April)^^*) lieferte die ersten wissenschaftlichen
Arbeiten über die kurz vorher von Leeuwenhoek nachgewiesene
fibrilläre Zusammensetzung der Muskulatur.^^^) Ein vornehmer Geist
gelangte in Leyden zur Geltung mit Albinus d. Ae. (Bernard,
eigentlich Weiss, seit 1656 von Weissenlöw, * 1653 7. Jan., f 1721
7. Febr.), 12) dann Rau (Johannes Jacobus, * 1668, f 1719), 1=^")
berühmt als Steinoperateur, verdient durch die Entdeckung der
Zusammensetzung des Septum scroti, Beschreibung des Unterkiefer-
gelenks, des langen Hammerfortsatzes, des Auges. 1^^) Mit Albi-
"'*) De vasis aquos. oculi L. B. 1685. — De ductia salivali novo etc
L. B. 1687, 12 <*. — Beide zus. in Sialo 8:raphia et ductuum aquosor.
anatome nova L. B. *169ü, 95, 1727. — IDefensio ductuum aquosor. nee
non fons salivalis nouus, hactenus non descr. L. B. *1691 — 95. — Adenographia
curiosa et uteri foem. anatome nova c. epist. ad amicum de inventis novis L. B.
*1691, 1722. — Die Epistola ad amicum enthält eine geschmacklose Grab-
schrift für die Zirbeldrüse: „Viator gradum siste omnique conatu conarium respice
sepultum partem tui corporis primam ut olim volebant animae sedem glaudulam
pinealem" etc. Die damaligen Gelehrten überboten einander in der Fabrikation der-
artiger Epitaphien. Aehnliche Meisterwerke lieferten Th. Bartholin d. J. u. Swalwe.
^''') Schüler von Ruysch, 1688 — 90 Lektor d. Anat. und Chir. im Haag als
Nachf. von Nuck, nach verschiedenen Abenteuern seit 1694 Prof. d. Med. u. Chir.
in Leyden.
101)) *Anatomia h. c, 105 tabulis per G. de Lairesse ad viv. delineatis
demonstrata, Amst. 1685, fol. max. ; Nachdruck von Cowper (Will, * 1666, f 1709),
Oxford 1697; dagegen: *Guil. Cowper criminis literarii citatus coram
tribunali etc. per God. Bidloo., L. B. 1700, 4 ", 54 S. m. Kpft. ; Cowpers' Antwort er-
folgte bald darauf mit „Eucharistia in qua dotes plurimae et singulares
G. Bidloo" etc. — Zum Streit mit Euj'sch: Vindiciae contra ineptas
animadversiones F. Ryschii.
"") In Franeker, seit 1709 Prof. d. Mathem., seit 1712 auch der Med., seit
1720 überdies der Chemie.
"**) Investigatio fabricae, quae in partib. musculos componentib. exstat.
Diss. L L. B. 1738, 4°, 1741; franz. das. 1745; holländ. von J. A. Vesser das. 1747;
Musculor. artificiosa fabrica . . . iconib. manu authoris delin. etc. Diss. IL
L. B. 175L — Van Leeuwenhoek (Antoni *1632 24. Okt., ^1123 26. Xwg.; 39
Jahre „Kamerbewaerder der Kamer van beeren schepenen" zu Delft) war der Erste,
der über eine grosse Anzahl eigener, origineller, mit einfachen Mikroskopen ge-
machter Beobachtungen in Avisseuschaftlicher Weise berichtet hat. Vgl. nebst der
eingangs citierten Literatur das diesbezügliche Kapitel bei P e t r i , D. Mikroskop,
Berl. 1896 S. 18—38.
^^) Schüler von Drelincourt u. Craanen, seit 1681 Prof. med. in Frankf. a. 0.,
eröffnete hier 1684 das theatr. anat., später Leibarzt Friedrichs I. in Berlin, seit
1702, 19. Okt., Prof. ordinär, med. theor.-pract. in Leyden.
"") Stud. in Leyden, dann unter Duverney u. Mery in Paris, hielt in Leyden
seit 1696 mit Zustimmung des Medizinalkollegs gegen den Willen von Ruysch Vor-
lesungen, später auch im theatr. anat. u. seit 1705 mit Erlaubnis des Universitäts-
kuratoriums gegen den Willen von Bidloo, wurde nach dessen Tod i. J. 1713 Prof.
d. Med., Anat., Chir., war aber die letzten 4 Lebensjahre kränklich.
i»b) *Epist. de inventoribus septi scroti ad virum CI. F. Bujsch;
*Eesponsio ad qualemcunque defensionem F. Ruyschii, beide 1699, in
Ruysch, Opera. — *Index supellectilis anat. . . . quam legavit . . . Rau . . .
confect. a . . . B. S. Albino . . . L. B. . . . 1725, 4", 48 pag.
Geschichte der Anatomie. 249
nus d. J. (Bernh. Siegfr., * 1697 24. Febr., f 1770 9. Sept.y^'')
hat die deskriptive Anatomie in den Niederlanden den Höhepunkt
ebenso erreicht wie mit seinem Zeitgenossen Haller (1708 — 77)
in Deutschland. Seine sämtlichen Tafelwerke, zu deren Herstellung
er sich der Meisterhand eines J. Wandelaar und besonderer Vor-
richtungen bediente, zeichnen sich durch wissenschaftliche Genauig-
keit und künstlerische Formvollendung aus und zwar nicht nur das
Hauptwerk, welches die Knochen- und Muskellehre umfasst. sowie die
zugehörige Fortsetzung über die Knochen, sondern auch die kleineren
Abhandlungen über die Muskeln, die Knochen des Fötus, die hoch-
schwangere Gebärmutter und die Frucht, dann die lebensgrosse Dar-
stellung des Milchbrustganges, schliesslich die grosse Zahl kleiner
Beiträge zur Anatomie. Physiologie, Zoographie, Phytographie. welche
in den umfangreichen ,.akademischen Anmerkungen" niedergelegt
sind. Ein Vergleich mit Haller ergibt, dass Albinus an Formvollen-
dung der Darstellung weitaus über letzterem steht, dass Haller jedoch
an Umfang und Tiefe des Wissens, sowie durch die Menge neuer
Errungenschaften überragt, dass die Beiden einander ergänzen und
miteinander den Gipfel desjenigen bedeuten, was die gröbere Ana-
tomie bis zum Eingreifen der Histologie geleistet hat. Abgesehen
von den Originalarbeiten hat sich Albin durch sorgfältige Ausgaben
der Werke des V e s a 1 (mit Boerhaave 1 725) Fabricius ab Aqua-
pendente (1737) der anatomischen Tafeln des Eustachi (1744)
verdient gemacht. Peter Camper hat ihn „anatomicorum princeps
magnus Albinus" genannt. Wenn in der Wissenschaft Standes-
erhebungen üblich wären, hier wäre sie nicht unverdiente*^) Der so
ziemlich gleichalterige. ebenfalls aus der Leydener Schule hervor-
gegangene Winter (Frederik, * 1712, j 1760 11. Nov..^-^'') gehört
^^») Schüler von Bidloo, Kau, Boerhaave, seit 1719. Okt., Lektor anat. et chir.,
nach dem Tode seines Vaters auf Empfehlung von Boerhaave Prof. anat. et chir.
ord. his 1745, Aug., dann Prof. med., in der vorigen Stellung 1745 — 70 durch seinen
jüngeren Bruder Friedrich Bernhard ersetzt.
"'^'j Libellus de ossib. c. h. 1726. — *Historia musculor. hominis,
Leid. Bat. 1734 m. 8 T., 4^ — Icones ossium foetus hum. Acced. osteo-
geniae brevis bist., Leid. Bat. 1737 m. 32 Kpft., 4". — *Tabulae sceleti et
musculor. c. h., Lugd. Bat. 1747. fol. max. m. 40 Kpft. in Grossfol. (Hauptwerk);
Tabulae ossium humanor. . Leid. 1753, fol. max. 70 Kpfbl. (Forts, der Tab.
sceleti). — Tabulae 7 uteri mulieris gravidae cum jam parturiret
mortuae, Lugd. Bat. 1784, fol. max.; Tabula r. uteri... Appendix T. I ibid.
1751 f. max. — Tab. vasis chyliferi cum v. azyga etc., Lugd. Bat. 1757,
fol. max. — *Academicar. annotation. libri 1 — 8, Leid. 1754—68. 4 ", 2 Bde.
m. 37 Kupferbl. — Nachstiche von Albins Tafeln in Tarin (Petr.) Osteographie,
Par. 1753, Brisbane (John), Anat. of paint, Lond. 1769, fol.; überdies zahlreiche
spätere Nachahmungen. — Vgl. Choulant, Gesch. d. anat. Abb. S. 113 u. f., über
den Streit mit P. Camper über die Auffassung einer zeichnerischen Wiedergabe das.
S. 119, die Antwort des Albinus in Annot. acad. Hb. 8. — Neben Wandelaar be-
schäftigte Albinus auch den Kupferstecher Ladmiral zur Anfertigung von Bunt-
kupf erdrucken. Das so zustande gekommene Sammelwerk u. d. T. -Anatomische
Toorwerpen door Jan Ladmiral", 1736—41, m. 6 Tafeln, spielt in der Geschichte der
anat. Abbildung eine Rolle. Ich besitze die Stücke 1, 5, 6. Gegenüber dem
modernen Dreifarbendruck machen sie keinen besonderen Eindruck. Dasselbe gilt
für D'Agot}' (Gautier). Ich besitze von ihm die Anat. de la tete par M. Du-
verney 1748. Vgl. Choulant, Ge.sch. d. anat. Abb. S. 105 u. f. Anat. Buntkupfer-
drucke verwendete später auch Bleuland (.L). Sie sind bei Choulant nicht er-
wähnt. Vgl. im Folgenden Anm. 18b.
^^•) Prof. d. Med. seit 1740 in Herbom, seit 1744 in Franeker., seit 1747 in
Leyden, hier um die Eröffnung einer Poliklinik verdient.
250 Eobert Ritter von Töply.
einer Richtung an, die einerseits auf Leeuwenlioek und Muys zu-
rückführt, andererseits von seinem Zeitgenossen Haller vertreten wird.
Obzwar er keine literarischen Arbeiten hinterliess, hat er die von den
beiden Erstgenannten vertretene Lehre von der librillären Struktur
der Muskeln weiterentwickelt und die Irritabilitätslehre so gestützt,
dass er in dieser Beziehung Hallers Mitarbeiter genannt zu werden
verdiente '^'') Die deskriptive Anatomie schien nach dem Tode des
Albinus eine Zeit lang stille zu stehen. Sein Nachfolger van
Doveren (Walther, * 1730 16. Nov., f 1783 31. Dez.),^«"^) ein viel-
seitiger Mann,^*"') steht in dieser Beziehung weit zurück hinter
Sandifort d. Ae. (Eduard, * 1742 14. Nov., f 1814 13. Febr.),i"«)
von Cruveilhier „Vater der pathologischen Ikonographie" genannt).
Dieser folgte wieder der beschreibenden Methode des B. S. Albinus,
ordnete und beschrieb mit seinem Sohne das mittlerweile ungemein
angew^achsene anatomische Museum und sorgte wie Albinus für die
Neuauflage klassischer Schriften."*') Sein Sohn Sandifort d. J.
(Gerard, * 1779, f 1848 11. Mai)^'^°) setzte das vom Vater begonnene
Werk über das Museum fort und war auch auf dem Gebiete der
Kraniologie thätig.^^"^) Der aus der Schule der Letztgenannten her-
vorgegangene Bleuland (Jan., * 1756 20. Juli, f 1838 8. Nov.)^^*)
ist weniger wegen des Inhalts, als wegen der Form seiner zahlreichen
Arbeiten bemerkenswert. Ein Meister der anatomischen Technik, ver-
fertigte er über 2000 Präparate, welche von der Regierung für das
anatomische Museum in Utrecht gekauft wurden. Die Schaustücke,
darunter Meisterwerke der Injektionsmethode, veröffentlichte er zu-
meist mit Hilfe des Zeichners Van der Jagt in Buntkupferdruck,
jenem seltenen, schon von Ladmiral und Gautier d'Agoty
^"') Oratio de motu vitali et irritabilitate fibrar. 1747. — Vgl.
überdies die einschläg-igen zahlreichen Dissertationen seiner Schüler.
"") Schüler von F. B. Albinus u. Winter, seit 1754, 18. März Prof. in Groningen,
nach dem Tode des Albinus dessen Nachfolger in Leyden.
"'') Specimen Observation, acad. ad monstror. historiam, ana-
tomen, pathologiam et artem obstetriciam etc., Groning. et Lugd. Bat.
1765, 4».
1'») Stud. in Leiden 1758-83, war hier seit 1771 a. o., seit 1772 o. Prof. der
Anat. u. Chir., seit 1778 auch der Med.
^''•) Decsriptio musculor. hom., L. B. 1781. — Descr. ossium hom.,
Ib. 1785. — Tabulae intestini duodeni, L. B. 1780, 4". — Tabulae uteri
puerperae, Ib. 1781. — Exercitationes acad., Ib. 1783 — 85, 2 Teile. —
Museum Anat. Acad., Lugd. Bat. descript. 1793—1835, I, II von Ed. Sand.,
ni, IV von Ger. Sand. — Vesalii tabulae ossium humanor., Lugd. 1782. —
Opuscula anat. selectiora (Germani Azzoguidi Obss. ad uteri constructionem ;
J. B. Pallettae Nova gubernaculi testis Hunteriaui et tunicae
vaginal, descr., Jean. Brugnoni diss. de testium in foetu positu etc.
1780—84 (88?).
^■•') Prosector anat. et adjutor seines Vaters, später a. o., 1812 o. Prof. d.
Anat. in Leyden.
^''*) De accuratioris et subtilioris anatomes studio, medicis et
chirurgis maxime commendando (Antrittsrede). — Tabulae anat. situm vis-
cerum thoracicor. et abdominal, deping, 4 Fase, Leyd. 1801 — 09. —
Museum anat. Acad., L. B. III, IV, 1827 — 35. — Tabulae cranior. diversar.
nation., Lugd. Bat. 1838. Abb. in nat. Gr. — Oratio de Seb. Just. Brug-
m a n 8 (Sebald Justinus * 1763, f 1819, zuerst Prof. in Leyden, dann General-Inspektor
des railitärärztl. Dien.stes, ein tüchtiger Naturforscher. Beschr. seiner vergl.-anat.
Präparate von Sandifort in Mus. Anat. Acad. L. B. III, über 300 Seiten).
**") Schüler von Sandifort, Albinus. van Doeveren, seit 1791 Prof. in Harderwijk,
1795—1826 in Utrecht Prof. d. Anat., PhysioL, Zoolog., Geburtsh. bei gleichzeitigem
Unterricht in der Med.
Geschichte der Anatomie. 251
geübten, aber für die anatomische Abbildung nur wenig geeigneten
Verfahren.^ ^'') Bleuland zählt noch zu jenen Anatomen der älteren
Zeit, die sich durch besondere manuelle Geschicklichkeit ausgezeichnet
hatten, für die aber ebendeshalb die Freude an der Mache eines
Präparats ausschlaggebend war, selbst wenn der wissenschaftliche
Wert der Errungenschaft keineswegs im Verhältnis zu der darauf
angewendeten Mühe gestanden ist. Diese Auffassung schwand all-
mählich, nachdem die Histologie und moderne Embryologie ihren Ein-
zug in die Anatomie gehalten hatten. Diese neuere Richtung vertritt
gegenwärtig zu Leyden Professor Z a a y e r.
In Amsterdam ward i. J. 1555 durch Philipp IL den Chir-
urgen jährlich eine Verbcherleiche für anatomische Zwecke zu-
gestanden, nachdem die Chirurgengilde die erste in Holland ge-
wesen, die einen Leichnam geöffnet habe, und zwar im St. Ursula-
konvent i. J. 1550.^^) Die Liste der hier wirkenden Lehrer der
Anatomie weist erst im 17. Jahrhundert hervorragende Namen
auf. Die meisten sind aus der Schule von Leyden hervorgegangen.
Die Liste lautet: Kost er (Maarten Jansz. K. of Aedituus, M. D.,
Bürgermeister, der erste Lector anatomiae. * ?, angestellt 1578, f ?).
Egbertszoon (Sebastiaan, * ?, y 1621 23. April; 1595 Nov. ..Prof.
vel Praelector chirurgiae" der Chirurgyns Gilde, 1606 Bürgermeister), -^)
Fonteijn d. Vater (Joan, meist Fontanus gen.. * 1574, angest. 1621,
t 1628 8. Aug.).^^) Tulp (Nicolaas, auch Claes Pietersz und Nicolaus
Petrus gen.. * 1593, f 1674).--) Deijman (Joan, * 1666 2. Dez.),^»)
Euysch (Fredrik, * 1638, f 1731 22. Febr.),-^) Roell (Willem,
* 1700, t 1775 27. Okt.),-') Camper (Petrus, * 1722 im Mai, f 1789
^^^] Obss. anat. med. de sana et morbosa oesophagi structura.
c. fig. L. B. 1785. — Experimenta anat. quo arteriolar. lymphaticar.
existentia probabiliter adstrnitur, L. B. 1784, 4°. — *Icon tnnicae
villosae intestini duodeni, juxta felicem vasculor. impletionem.
Ipsis colorib., qui in praeparato conspiciuntur ed., Traj. ad Rhen.
1789, 4" (Tafel: Van der Jagt delin., J. Kobell sculps.). — Vascnlor. in
intestinor. tenuium tunicisdescr. iconib. ad nat. fid. etc., Traj. ad Rhen.
1797, 4° (Tafel von V. D. Jagt). — Icon hepatis foetus octimestris, Traj. ad
Rhen. 1789, 4°. — *Otium ccademicum cont. descriptionem speeiminum non-
mülar. part. c. h. et animalium subtilioris anatomiae ope etc., Traj. ad Rhen. 1828,
40, 93 S., 24 Taf. in Buntkixpferdruck, Tab I, J. H. Verheyen fecit, J. C. D.
B r u y n sculp. — *Icones, quae ad anat. animal. comparatampertinent,
Ibid. 1826, 4 **, 50 S.. 12 Taf. in Buntkupferdr. — *Icones anat. -pathologicae,
Ibid. 1826, Ibid. 1826, 40, 158 S., 36 Taf. in Lithogr., nur Taf. IV in Buntkupferdr.
— De f abrica et functionib. c. h. et animal. brutor. dissectione prudenter
illustrandis (Utrechter Antrittsrede). — Oratio qua mem. H. D. Gaubii —
commendatur (Harderwyker Antrittsrede). — Choulants Gesch. d. anat. Abb. er-
wähnt die Bemühungen Bleulands um den Buntkupferdnick nicht.
'*) Facsimile der Urkunde bei van der Boon a. a. 0. als Beil. I.
*") Nach Daniels in Gurlt-Hirsch Lex. II, 267 hat Egbertsz wahrscheinlich
schon vor 1595, als Koster seine Vorlesungen eingestellt hatte, auch Anar. doziert.
Van der Boon u. Thijssen a. a. 0. nennen als Anstellungsjahr für die Professur
der Anat. 1599.
-'j Sein älterer Sohn Bernard Fonteijn (f 1645) hat sich mehr mit der
Dichtkunst u. dem Theater befasst, als mit der Medizin. Vgl. Worp (J. A.), Dr.
Bemard Fonteyn, Amst. 1884.
**) Schüler von Paauw, Bontius, 0. Heumius, Vorstius, 1626—53 Prälektor d.
Anat, 1632 von Eembrandt gemalt, 1654, 55, 66, 71 Bürgermeister.
*■') Praelector anat. 1653 — 66, 1656 von Rembrandt gemalt.
**) Schüler von Van Home, De le Boe Sylvius, Schuyl in Leyden, Praelect.
anat. seit 1666.
■^) Angest. 1727 30. Okt. als Assist, von Ruysch, seit 1731—55 als Prof. d.
Anat. u. Chir. wirkend, aber erst 1762 entlassen.
252 Robert Ritter von Töply.
im April),2«) Snip (Volkert, * 1733, f 1771 25. Juni),^^ Bonn
(Andreas, * 1738 im Juni, f ISIS),^») Vrolik d. Ae. (Gerardus, * 1775,
t 1859),-") Bosscha (Hendrik, * ?, f 1829 13. Sept.),»"«) Suringar
(Gerard Coenraad Bernard, * 1802, f 1874 im Jan.j,=^') Vrolik d. J.
(Willem, * 1801, j 1863 im Dez.),=^-') Berlin (Willem, * ?, f 1902 im
Nov.), der Schützling' und Mitarbeiter von Donders, Fürbringer
(* ?, t ?), Rüge (Georg, * 1852).«»)
Wenn man bedenkt, dass die Anatomen hier bis zum letzten
Viertel des 17. Jahrhunderts auch eine politische Rolle zu spielen
pflegten (Koster, Egbertsz, Tulp), dass man später zur Anatomie noch
Fächer auflud, die mit dieser nur in sehr lockerem Zusammenhang
standen, so muss man sich geradezu wundern, dass Einige von ihnen
eine weit über das Mittelmass gehende Bedeutung erlangt haben.
Allerdings darf man andererseits nicht vergessen, dass zur Hebung
des Ansehens Einzelner auch das kulturgeschichtliche „milieu" wesent-
lich beigetragen hat, in dem sie sich bewegten. Das gilt gleich von
Tulp (1593 — 1674). Kurz vor seiner Geburt hatte der Aufstand der
Niederlande (seit 1566) mit der Utrechter Union und der förmlichen
Lossagung der nördlichen Provinzen von Spanien geendet (1581), die
Republik der vereinigten Niederlande erlangte im westfälischen Frieden
(1648) ihre Unabhängigkeit, die Niederländer wurden das grösste
Handelsvolk Europas. Die Kunst blühte auf, die Maler (Aert Pietersen,
Thomas de Keyser, Nicolas Elias, Rembrandt, Johan van Neck, Adriaen
Backer, C. Troost, Regters) wetteiferten darin, die Anatomen bei
ihrer Arbeit (Seb. Egbertsz, Fonteyn, Tulp, Deyman, Ruysch, Roell,
Camper, die Bilder stammen aus den Jahren 1603 — 1758) durch die
Kunst festzuhalten und der Nachwelt zu überliefern, durch dieselbe
Kunst, mittels deren die Amsterdamer Aerzte Ephraim Bonus, Manas-
seh-ben-Israel ebenso wie der Bürgermeister Six berühmt geworden
sind, lediglich deswegen, weil ein Rembrandt sie in Meisterwerken
verewigt hat. Allerdings hat sich Tulp durch die erste Beschreibung
der durch Rondelet, Lehrer des Bauhin entdeckten sog. Ileocökal-
klappe (Valvula Bauhini sc. Tulpii), durch die erste Nachweisung
der von Asellio beim Hunde entdeckten „vasa lactaea" beim
Menschen (demonstrirt laut Angabe von Bartholin an einer Ver-
brecherleiche im J. 1639, also 12 Jahre vor Joh. Van Hörne), durch
^^) Stnd. in Leyden, seit 1749 Prof. d. Philos., einige Wochen später auch der
Anat. n. Chir. in Franeker, 1755 24. Apr. — 1761 23. Jan. Prof. d. Med. in Amster-
dam, 1763 — 73 Prof. d. theor. Med., Anat., Chir. u. Botan. in Groninj^en.
^') Stud. in Franeker, Prof. d. Anat. u. Chir. in Amst. 1762— 71.
**) Prof. d. Anat. u. Chir. am Athenaeura illustre in Amsterd. 1771 1. Nov.— 1798.
^^) Stud. in Leyden, in Amsterd. seit 1797 Prof. d. Botan., 1798 16. Mai Prof.
d. Anat. u. Physiol.,' Gehurtsh., Botan. bis 1820, worauf er diese Fächer in den J.
1820, 28, 34 an Bosscha, Tilanus, de Vriese abtrat.
='*''') Seit 1820 10. Okt. Prof. d. Anat, Physiol., Chir. am Athenaeum, dann
Prof. d. Anat. u. Chir. an der über seine Anregung errichteten 1828—65 bestehenden
klinischen Schule. '"''')
**"•) Daniels in Gurlt-Hirsch Lex. giebt sein Geburtsjahr mit 1701.au. Dies
dürfte wol ein Druckfehler sein.
"*) Stud. in Leyden unter Sandifort, Krauss, Bernard, seit 18.30 6. Jan. Prof.
d. Anat., Physiol., Chir. am Athem. ill. in Amst., seit 1831 Prof. d. Med. an d. klin.
Schule u. Prof. honor. am Athen , 1843 — 72 Prof. d. Med. in Levden.
3«) 1828 a. 0. Prof. d. Anat. u. Physiol. in Groningen, 1831 1. Jan. Prof. d.
Anat. u. Chir. in Amst., hier auch Lehrer der Zoologie la. Med. forens.
^^) Geb. in Berlin, 1882 a. o., 1888—97 o. Prof. d. Anat. in Amst., dann in
Zürich.
Geschichte der Anatomie. 253
die erste Beschreibung des Chimpansen verdient gemacht, sein
literarisches Hauptwerk ist jedoch nur eine kleine Sammlung ka-
suistischer Mitteilungen aus beinahe allen Gebieten der Medizin und
der Zoologie.-^*) Tulp war aber als Persönlichkeit der Mittelpunkt eines
Kreises von hervorragenden Künstlern, wie Rembrandt und Forschern
wie Swammerdam (Jan., * 1637, f 1680 17. Febr.).^'») Letzterer
ist der Erfinder der Injektionen mit geschmolzenem Wachs (demon-
strirte die Methode zu Amsterdam 1666, wo Ruysch sie ablernte,
Paris 1669. London 1671). Mit ihm beginnt die feinere Anatomie des
Gefässsystems. Sein anatomisches Hauptwerk behandelt die Blut-
gefässe des Uterus. Die schönste der angeschlossenen drei Tafeln ist
dem Tulp gewidmet. •^■^^) Swammerdaras Schüler in der Injektions-
technik Ruysch (1638 — 1731) hat sich bekannt gemacht durch den
Nachweis der Klappen in den Lymphgefässen und des Unterschieds
zwischen dem männlichen und weiblichen Skelet, durch die Ent-
deckung der Aa. bronchiales, intercostales ext, der Art. centralis
retinae, des Periosts der Gehörknöchelchen, durch die genaue Be-
schreibung der Drüsen, seinen Streit mit Malpighi über die Leber,
die Milz, die Nieren, mit Rau über das Septum scroti, durch seine
Untersuchungen über die anatomische Zusammensetzung des Auges,
durch die Entdeckung der Hautpapillen und seine Mitteilungen über
einen im Fundus uteri kreisförmig verlaufenden Muskel. ■^'') Bekannt
ist sein Verhältnis zu Zar Peter d. Gr., der Ankauf der einen Samm-
lung des Ruysch durch den Zar im Jahre 1717, der Zustand in dem
die Sammlung in Petersburg ankam, nachdem die Matrosen unter-
w^egs den Spiritus ausgetrunken hatten, die Anlegung einer neuen
Sammlung, welche nach dem Tode des Ruysch von dem Polenkönig
Johann Sobieski gekauft und der Universität Wittenberg geschenkt
"wurde. Die Präparate seines Museums kennzeichneten sich durch
groteske Anordnung und theatralische Aufstellung und entsprachen
als solche nicht der wissenschaftlichen Bedeutung ihres Verfertigers,
wol aber der Barockzeit, in der er lebte. '^') Ruyschs Mitarbeiter
**) Observation, medicar. libri tres. Mehrere Ausgaben, hauptsächlich
Amsterdam u. zw. 1641, 8°; *1652 (iibro quarto auctior), 8", 403 S. m. Taf.; 1672,
8**; 1685, 8*^. D. Abb. des Chimpansen m. d. Ueberschr. „Homo sylvestris. Orang-
ontang" in der 2. Ausg., p. 284, Tab. 14.
**■) Schüler von Deijman, De le Boe Sylvias, Van Home, wurde durch Au-
toinette Bousignon de la Porte zum Schwärmer, Melancholiker, Mysticisten.
^^^) Miraculum naturae s. uteri muliebris fabrica notis in D. Joh. van
Home prodromum illustr. etc. Adjecta est nova methodus, cavitates corporis ita
praeparandi etc , Lugd. Bat. Ed. 1. *1672, 4 », 57 S. m. 3 Kpft. ; andere Ausg.
Leyd. 1679, 1717, 1729, Lond. 1680. (Mein schönes Exemplar ist ein Dedikations-
exemplar mit eigenhändiger Widmung des Autors an Tulp.). — Tract. physico-
anatomico-medicus de respiratione usnque pulmon., Ed. 1 Lugd. Bat.
* 1678, 8°, 121 S. m. Kpft. u. 6 Fig. im Text, im Anhang Positiones inaug. f. d.
22. Febr. 1667; andere Ausg. Leyd. 1677, 1679, 1738. — Zu den Kontroversen vgl.
D e G r a a f , Defensio partium genit. adv. Swammerdammum L. B. 1673 ;Lamzweerde,
Eespirationis Swammerdammianae exspiratio, Una c. anat. neologices Jo. de Raei etc.,
Amst. 1674. — Swammerd. war auch einer der Verf. von den „Obss. anat. selectiores,
ed. a collegio med. privato Amstelod." — Die Injektionstechnik vor Swammerdam
bediente sich der Einspritzungen von Wasser (Berengar etc.) oder des Lufteinblasens
(Ch. Estienne etc.). Letztere Methode hat Eiolan in seiner Abhandl. üb. die Anatorae
pneumatica ausführlich beschrieben. Hyrtl hat in seiner Gesch. der Injektionen
(Handb. d. prakt. Zergliederungskunst, Wien 1860, S. 583 u. f.) diese Abb. nicht
erwähnt.
*^j Daniels in Gurlt-Hirsch Biogr. Lex. V, 131.
*') Von seinen in verschiedenen Ausgaben erschienenen Werken folgen hier nur
254 Robert Ritter von Toply.
Kerckring (Theodor. * 1640, f 1693) •'"^") hat die nach ihm be-
nannten Valvulae conniventes im Dünndarm zum erstenmal genauer
besclirieben, die Vasa vasorum (beim Pferd) entdeckt und die Knochen-
entwicklung beim Fötus stufenweise verfolgt,^**'') Ruyschs zweiter
Nachfolger Camper (1722—89) entdeckte den Proc. vaginal, peri-
tonei, gab eine ausgezeichnete topogr. Beschreibung und Abbildung
des Armes, des Beckens und des Leistenkanals, wies überdies zum
erstenmal deutlich nach, dass die Linse des Auges aus Fasern be-
steht, wie Leeuwenhoek vermutet hatte. Seine Entdeckung des An-
gulus facialis ist der erste Versuch menschlicher Schädelmessung.'^")
Bonn (1738 — 1818) ist mit seiner Dissertation „De continuatione
membranarum. 1763" der Vorläufer von Bichat und von diesem tliat-
sächlich — allerdings ohne Hinweis auf Bonn — für den „Traite des
membranes" ausgenützt worden. Vrolik d. Ae. (1775 — 1859), Be-
gründer des von seinem Sohne vermehrten ,.Museum Vrolik" hat sich
durch anthropologische Studien über das Becken hervor gethan.^")
Vrolik d. J. (1801 — 63), vorwiegend Zoolog und pathologischer Ana-
tom, hat erst der Embryologie in Amsterdam Eingang verschafft.*^)
Leyden hat auch auf Utrecht Einfluss geübt. Der aus der
Leydener Schule hervorgegangene Van Diemerbroeck (Ysbrand,
* 1609, t 1674)*-'') ist Verfasser eines allen fortschrittlichen An-
forderungen entsprechenden Handbuchs. *''^^) Einer seiner Schüler,
die Titel: *Dilncidatio valvulär, iiivasis lymphat. et lacteis. — ♦Brief-
wechsel üb. anat. Gegenstände mit Gaub (Job.; in der Antwort auf den 3. Brief
eine schöne Abb. der Kranzgefässe des Herzens u. ihrer Verzweigung:), C am do-
rn e reu s (Job. Jac), Frentz (Gerard), Graetz (Joh. Heinr.), Goelicke (Andr.
Ottom.), Keerwolff (Barthol.), Wolf (Joh. Chi ist), EttmüUer (Mich. Ernst),
Wedel (Christ.), Reverhorst (Maurit.), Graetz (Alb. Henr.), Vater (Abrah.) —
*De Fabrica glandulär, in corp. h um. (Briefwechsel mit Herrn. Boerhaave).
— *Obser vation. anat.-chir. centuria. Accedit Catal. rarior., qua in Musaeo
Ruyschiano asservantur. — *Thesaurus animalium I, anatomicus II — X. —
*Resp. ad God. Bidloi libelluin quem Vindicias inscripsit. — *Adversarior.
anat.-med.-chir. decas I, II, III. — *Curae posteriores s. thesaur. anat.
omuium praecedent. maxim. — *Curae renovatae s. thes. anat. post curas post.
novus. — *Tractatio anat. de musc. in fundo uteri obs. antehac a nemine
detecto (zugehörig *Abr. Vater i, Epist. grat. ad Frid. Ruysch. de m. orbic. in
fundo uteri detecto; *Epist. v. cl. Hecqueti ad D. D. . . . de Ruyschiano musc.) —
*Resp. ad diss. epist. J. Ch. Bohlii de usu novar. cavae propagin. in syst, chylo-
poeo, nee non de cort. cereb., m. Bezug auf *J. Ch. Bohlii, Biss. epist. ad. Fr
Ruyschiura de usu etc. — Hierher gehört auch *J. J. Rau, Resp. ad quäl. def.
Fred. Ruyschii . . . pro septo scroti; *J. J. Rau, Ep. de inveutorib. septi scroti ad
V. cl. Fr. Ruyschium.
^^^) In Leyden prom., in Amsterdam bis ungef. 1675.
381.^ *Spicilegium anat. cont. . . . osteogeniam foetmim etc., Amst. *1670,
4°, 280 S. m. Kpf.; Ed. 2. 1673; Supplement: *Anthropogeniae ichnographia
s. conformatio foetus ab ovo etc., *Amst. 1671, 4°, 14 S. m. 6 Fig.; Paris 1672. —
Opera omnia. Ed. 1. ?; Ed. 2. 1717; Ed. 3. 1729, Amst.
^^) Demonstration, anat. -patholog. lib. I cont. brachii hum. fabric. et
morbos, 1760; lib. II cont. pelvis hum. fahr, et morb. 1762, Amst., fol. max., m. 3
bezw. 5 Kpft.
•'") Over het verschil der bekkens in onderscheiden volksstammen, 1826.
— Ov. d. wervelkolon en het Uekken van den mensch, 185Ü. — Hoe raen
zieh de doormetiugen van het vrouwelyk bekken bey den mensch
behoort vor te stellen.
"**) De foetu hum. animalium minus perfector. forraas referente. Antritts-
rede 1831. — T ab ulaeadillu Strand, embryogenesin hominis et mammalium,
Amst. 1849, mit dem Monthyon-Preis gekrönt.
*2») 1649 e. 0., 1651—74 Prof. o. anat. et med. zu Utrecht.
*-•') Anatom e corp. hum. plurimis novis inventis illustr., Utrecht 1672,
Geschichte der Anatomie. 255
Hoboken (Xicolaas. * 1632, f 1678)*=^=') hat eine ausführliche Be-
schreibung und Abbildung der Nachgeburt veröffentlicht*-^'') der
jüngere De Graaf (Eeinier, * 1641 30. Juli, f 1673) ■*^*) ist durch
seine Untersuchungen auf dem Gebiete der Anatomie der Ge-
schlechtsorgane (Folliculi Graafiani ovarii), den einschlägigen
Prioritätsstreit mit Swammerdam über diesen Gegenstand, so-
wie in der anatomischen Technik durch Beschreibung und Ab-
bildung der Injektionsspritze bekannt.**^) Diemerbroecks Nach-
folger Munniks (Johannes, * 1652. j 1711)*-^^) hat sich aber Avieder
mehr der Chirurgie zugewendet.**'') Gegenwärtig lehrt die Anatomie
zu Utrecht Prof Rosen zweig.
Das friesische Groningen ist in der älteren Zeit gegenüber
Leyden und Amsterdam an Bedeutung weit zurückgestanden. Der
dort geborene Koyter (Coiter, Yolcher. * 1534, j 1576 oder 90)**^")
hat seine Studien in Italien und Frankreich, das übrige Leben
in Deutschland verbracht, so dass er nicht der niederländischen
Schule zugezählt werden kann.*'''') Deusing (Ant, * 1612 15. Okt.,
*1679, 4 ", 606 S. m. Kpft. (Kopien nach bewährten Mustern) u. verschiedene Ausg.
sowie üehersetzungen Genua. Padua, Lvon, Lond.
**") Prof. d. Mi.thematik u. Med. 1663 am Athenaeum in Steinfurt, 1669—72
in Harderwyk.
*'"') Novus ductus salival. Blasianus in lucem protractus, 1662. —
Anatom e secundinae hum. 15 fignris ad viv. propria autoris manu deliueatis
illustr. c. annexo Spicilegio Epistolar. Traj. ad Ehen. *1669, 8 ", 221 S. m. Kpftf.,
Portr., Titelkpf., Widmung au Tulp. Das Spicilegium umfasst eine einschlägige
Korrespondenz mit Bartholin (Th.), Lamzweerde (J. Bapt. ä), Heidegger
(Joh. Henr.), Spinaeus (Gothefred), Heckhaus (Gisbert Heckhusius).
•"*) Schüler von Diemerbroeck, De le Boe Sylvius, Van Hörne, Arzt in Delft.
**^} De viror. organis generationi inservientib., L. B. 1668; 1670;
1672. — Epist. ad Luc. Schacht de nonnullis circa partes genit. in-
ventis novis, L. B. 1668. — De mulier. organis generat. inservient.
tract. novus, L. B. 1672. — Partium genit. defensio adv. Swammerdamm.
L. B. 167.S. — De usu syphonis in anat. . L. B. 1668. — Opera, Lugd. Bat.
*1677, 8^', 717 S. m. Kpft. '(Daniels in Gurlt-Hirsch. Lex. II, 616 kennt diese Ausg.
nicht, nennt aber mit Berufung auf Portal III, 214 u. f. eine Leydener Ausg. vom
J. 1674, welche aber sowol Portal als mir unbekannt ist), Lond. 1678, Amst. 1705;
hoUänd. Amst. 1686 ; franz. Basel 1679, Lyon 1679. — Die deutschen Uebersetzungen
der älteren Beiträge zur anat. Technik verbergen sich in folgenden Schriften:
*Timmii (Job.), Collectanea ad praxin anatomes. . . . D. i. Sammlung einiger zur
anat. Vorbereitung der menschl. Cörper gehör. Schrifften (Lyser, Casp. Bartholin,
De Graaf) Bremen 1735, 8", 40 S. m. 4 Kpft.: *Schultzens (Joh. Heinr.) Ab-
handl. v. d. Stein-Cur . . . welcher heigefüget . . . Alex. Monro's ... Zwo Versuche
von künstlichen Einspritzen etc., Franckf. u. Leipz. 1740. 8", 146 S. m. Kpft.
'^*) Seit 1677 Lector anat., seit 1678 Prof. d. Anat. u Bot.
*^'') De utilitate anatomiae 1677 (Antrittsrede). — Liber de re anat..
Utr. 1697. — *Anat. nova, Lugd. 1699, 8°, 229 pag. c. fig. — Alle de werken
enz., Amst. 1740.
^•") Seit 1555 Schüler von Falloppia, Eustachi, Aranzi, Eondelet, seit 1569
Stadtarzt in Nürnberg, später Militärarzt unter Pfalzgraf Joh. Kasimir.
*'"') De ossib. et cartilaginib. c. h., Bologna 1566. — *Externar. et
internar. principal. h. c. partium tabulae, ■Sorib. 1573, fol., 133 S. m. Kpft.
Tabellar. Uebersicht der Anat. mit eingestreuten Exkursen: de ovor. gallinaceor.
generationis primo exordio etc. ; ossium tum hum. foetus . . . historia etc. ; analogia
ossium hum., simiae etc. ; paradigma in explicatione partium nostri corporis sequend.
ad oculum accomodatum ; de auditus instrumento ; eine spätere Ausg. Löwen 1653. —
Diversor. aniraalium sceletor. explicationes . . . iÜustratae, Nürnb. 1575;
1595. — Tractat. anat. de ossibus foetus abortivi et infantis dimidium
anni nati (1669 angeblich durch H. Eysson veröflfentl. mir nicht näher bekannt). —
Man hat ihm allerlei Entdeckungen zugeschrieben (oberste Nasenmuskeln = mm.
proceres Santorini, m. corrugator .supercilii, corpora lutea, Ganglien der Rücken-
256 Robert R-itter von Töply.
t 1666),*'*) ein vielseitiger Polemiker (gegen Bartholin, 0. Borch, De
le Boe Sylvias, De Bils)*'*') vernachlässigte schliesslich den ana-
tomischen Unterricht gänzlich. Sein Ersatzmann, der ehemalige
Theolog Eysson d. Vater (Henricus, * 1620, f 1690)**) sowie auch
Eysson d. Sohn (Rudolph, * 1655, f 1705 im Nov.)*"'*) werden
als sehr tüchtig geschildert, indes sind die anat. Schriften des Vaters
ohne Bedeutung, der Sohn schrieb nur botanische Arbeiten.*"'') Der
hier eine ganz kurze Zeit thätige Mulder (Johannes, * 1769 15. Mai,
f 1810 im Nov.)^*^^) befasste sich viel mit Geburtshilfe, Chirurgie,
Zoologie,^" ^) Sebastian (Augustus Arnoldus, * 1805, f 1861)."*)
hauptsächlich mit Physiologie. ^^^) Im grossen Ganzen war den
Groninger Anatomen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Ueber-
bürdung mit verschiedenen Lehrfächern nachteilig, wodurch sie vom
eingehenderen Studium der Anatomie abgelenkt wurden. Gegenwärtig
vertritt das Fach Prof. van Wyhe.
Die ebenfalls friesische Universität in Fr aneker, welche von
1585 — 1811 bestand, bis sie von Napoleon I. in ein Athenaeum um-
gewandelt wurde, war in der Anatomie ganz von Leyden abhängig
(s. Leyden). Der dort ausgebildete Blankaart (Steven, * 1650
24. Okt., f 1702) ^-'') ist weniger durch sein kompilirtes Handbuch
der Anatomie, als durch das seit 1679—1832 in beiläufig 20 ver-
schiedenen Ausgaben erschienenen medizinische Lexikon bekannt. ^-'')
Belgien^^^) ist auf anatomischem Gebiete hinter dem blühenden
Holland zurückgestanden. In Brabant galt die Universität zu L ö w e n
marksnerven etc.). Vgl. darüber Daniels in Gurlt-Hirsch Lex. n, 51 bezw. Boon
1. c. p 13 sq.
*'*) Stud. in Leyden, 1637 in Groningen, dann in Harderwijk Prof. d. Mathem.
n. Physik, erhielt hier 1642 einen für ihn errichteten med. Lehrstuhl, seit 1646
wieder in Gron., später Universitätsrektor.
*'■') Vgl. Gurlt-Hirsch Biogr. Lex. II, 170. Eines seiner Hauptwerke, durch
Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs hervorgerufen, ist *De motu cordis et
sanguinis iteinque de lacte ac nutrimento foetus in utero diss., Groning. 1655,
12 0, 719 S.
*8) Stud. 1639—49 in Gron., seit 1654 Prof. e. o. anat., seit 1665 Prof. med.
*»») 1695 Prof. bot., 1696 Prof. ehem. et anat. u. 1705 auch Prof. ord. med.
**'') Schriften des Henr. Eysson: Tractat. anat. et med. de ossib. in-
fantis etc., Groning. 1659 (vgl. Koyter). — Collegium anat. s. omnium h. c.
partium bist.
^"*) Stud. in Franeker, Leyden, England, 1794 Lektor d. Anat., Chir., Geburtsh.
in Leeuwarden, später Prof. in Franeker, seit 1808 Prof. d. Anat., Chir.. Geburtsh.,
Physiol. in Groningen.
^°^) Seine Antrittsreden betreffen in Leenwarden die Beinbrüche, in Franeker
die Ursachen, warum die Niederländer im allgemeinen sehr wenig zur Verbreitung
u. Ausbreitung der Heil- u. Geburtskunde beigetragen haben. Lobrede auf P. Camper
s. oben Literatur verz. Seine Gesch. der Geburtszangen ist für Historiker sehr
wichtig.
^^') Stud. in Heidelb., war dann Lektor d. Anat. u. Chir. an d. milit.-ärztl.
Schule in Utrecht, 1832—49 Prof. med. in Groningen, dozierte hier Anat., Physiol.,
Pathol., pathol. Anat., theor. u. prakt. Chir., dann prakt. Arzt in Amsterd.
^"') Vgl. Boeler a. a. 0. u. Daniels in Gurlt-Hirsch Lex. V, 334.
***') Sohn des Prof. Nicolaas Bl. in Franeker, stud. dort, war seit 1674 prakt.
Arzt in Amsterdam.
'^2b) Anatomia nova reformata, Amst. 1688, 8°; 1690; 1695; Leid. 1695,
8»; deutsch Leipz. 1691, 4°. - Opera, Lugd. Bat. 1701, 4 », 2 vol. — *Stephani
Bianca rdi, Lexicon medicum . . . Ed. novisima . . . a Car. Gottl. Kühn, Lips. 1823,
2 vol., 1743 pag.
'^•'') *ßroeckx (C), Essai sur l'hist. de la med. beige avant le 19e siecle.
Chez Leroux, Gand, Brux. et Mons 18.37, 8 °, 322 pag., 4 Portr. ; Documents pour
servir ä l'hist. de la bibliogr. med. beige av. le 19e s. (1. supplem.).
Geschichte der Anatomie. 257
(Leuven. Louvain), während ihrer Blütezeit (1426 — 1797).^*) besonders
aber im 16. Jahrhundert als eine der berühmtesten Europas. Nichts-
destoweniger lag die Anatomie in der vorvesalschen Zeit hier ebenso
darnieder, wie im übrigen nördlichen Europa. Vesal gedenkt aller-
dings einer um 1518 hier stattgefundenen Leichen Zergliederung,^^)
aber in dem Pädagogium der Artistenfakultät, das er ungefähr 1522 —
32,33 besuchte, diente zur Erklärung des Gehirns eine noch äusserst
primitive Abbildung.-^*') Nach der Eückkehr von Paris (1536) wohnte
er in Löwen einer Privatsektion bei und beobachtete dabei ein Cor-
pus lut. des Eierstocks, stahl sich ein Skelet vom Galgen und ver-
richtete Ende 1536 oder anfangs 1537 eine öffentliche Zergliederung,
nachdem seit 18 Jahren hier keine stattgefunden hatte. Die daran
sich knüpfenden Auseinandersetzungen brachten ihn aber in den Ver-
dacht der Ketzerei, er ging daher noch im letztgenannten Jahr nach
Venedig und Padua. Die angedeuteten Verhältnisse hielten noch
recht lange an. Die anatomischen Schriften der ziemlich gleichalterigen
Van Vieringen (Jean AVauters, * um 1539) und Romain (Adrien,
* 1541) sind bedeutungslos. Das 17. Jahrhundert schliesst mit dem
berühmten Prof. der Anatomie Van den Zype (Franz). Aber auch
er hat sich mehr mit der Chemiatrie und mit dem Blutkreislauf befasst
als mit der anatomischen Forschung. Der erste Anatom von hervor-
ragender Thätigkeit zu Löwen war Verhej'en (Philip. * 1648
23. April, t 1710 18. Jan.).") Sein Biograph ^^) nennt ihn den Vesal
des Landes von Waes. Indes hatten schon, von Anderen ganz abge-
sehen, in Deutschland Schelhammer (Günth. Christoph) ^^) und
besonders Heister Verheyens Sünden (zumeist Unterlassungsiehler)
aufgedeckt. Nichtsdestoweniger war sein Handbuch der Anatomie bis
zum Erscheinen von Heisters Kompendium das gebräuchlichste Schul-
buch in Deutschland, und auch in Italien beliebt. Durch sein Ver-
hältnis zu bedeutenden Zeitgenossen und die Beteiligung an der Lösung
brennender Streitfragen stellte sich Verheyen in den Mittelpunkt
wissenschaftlicher Kontroversen in ähnlicher Weise wie der um eine
Generation ältere Thomas Bartholin zu Kopenhagen, ein Umstand, der
zu seinem Rufe wesentlich beigetragen hat. ***^)
^*) 1426 gegründet, 1797 aufgehoben, 1817 wieder hergestellt. 1834 wieder auf-
gehoben, 1835 durch die von Mecheln her verlegte streng katholische Universität
ersetzt.
*^) Feststellung des Datums bei Roth, Andr. Vesal. Brux., S. 15.
^*) Roth, Andr. Vesal. Brux., S. 63 Anm. 1. Vgl. mit dieser Stelle die Abb.
zu Aristoteles de anima auf Blatt 40 in *Aristotelis, Stagyritae philosophi de
anima etc. Aug. Vindelicor. 1520, fol., 80 Bl.
*") ursprünglich Theolog, nach Verlust eines Beins Mediziner, in Löwen an-
fangs Lehrer der Natur- u. Heilkunde, 1689 königl. ord. Lehrer der Anat., 1692
königl. ord. Lehrer der Medizin.
'•■') *Van Raemdoncke (J.), Levensbeschrijving van Philip Verheyen, St.
Nikolaas, o. J., gr. 8 ", 90 S. m. Portr. (Buitgengewoone uitgaven van den oudheids-
kundigen kring van het Land van Waes, N. 1).
**) In der Vorrede zu den Analecta anat.-physiol., Kiel 1704, 4°.
««j Corporis hum. anat.. Ed. 1, Löwen 1693. 1697, 4«; Lips. »lege, 8",
576 pag., Portr., 31 tab. : 1704, 1705, 1711, 1714, 1716, 8°; vlämisch u. d. T. Anatomie
oft ontleedkundige beschrijvinge van het menschen lichaem door den Heer Philippus
Verheyen uit het latijn vertaelt door And. Dom. Sasseuus, Brüssel 1711, gr. 8**,
798 Blatts, Ed. 2. u. d. T. Corporis hum. auatomiae lib. primus, Supple-
nientum anat. s. anatomiae corp. hum. lib. secundus, *Brnxell. 1710. 4**,
2 part., 400 + 428 pag., im 1. Th. Portr. u. 40 Taf., im 2. Th. 6 Taf. Lib. U
tracl. 5 des Supplements behandelt die Embrjogenie., 1726, 4"; Köln 1712; Genev.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 17
258 Kübert Ritter von Töply.
Im benachbarten Flandern folgt zu Gent der von Verheyen
angegebenen Richtung dessen Freund und Zeitgenosse Palfijn (Jo-
hannes, * 1650 28. Nov., t 1730 21. Apr.),«!«^) in weiteren Kreisen
durch die Erfindung der Geburtszange bekannt, nebst Colombo, In-
grassia, Cabrol, Severin, Riolan einer der ersten, welcher die Anatomie
in ihrer Beziehung zur Chirurgie kennen gelehrt hat, wenn auch seine
Anatomie ebensowenig fehlerfrei ist, wie die des Verheyen."^ ^)
Zu den belgischen Anatomen zählt auch Despars (Jacques,
Jacobus Departibus, * in Tournay, hier f 1465), dann der helmstädter
Professor Boeckel (Jean, * 1535 1. Nov., f 1605 21. März). Der
erste ist noch ein eifriger Ausleger des Avicenna, der letztere ein
Anhänger des Colombo.
Dänemark.
*Bartholinu8 (Thomas), Cista medica Hafniensis . . . Acced. ejusd. Domus
anat. brevissime descr., Hafn. 1663, 12 °, 645 -\- 62 pag , Doppelter Yortit. in
Kpfst. m. Abb. des Anatoniieyebäiidcs. Enthält wertvolle Beiträge zur älteren Gesch.
der Med. in Kopenhagen. Wichtiges Quellenwerk. Schriften des Sim. Pauli i
p. 5, Biogr. des Andr. Christensen p. 146, Biogr u. Schriften des Casp.
Bartholin sen. p. 294, Biogr. u. Schriften des Ole Worm p. 579. Beschr. des
Anatomiegebäudes in der Domus anat. — Sh'jeldrtip (Mich.), Anniversaria in
mem. reip. sacrae et literar. Hafniensis, Hafn. 1811, 4 ". — Ingerslev (Joh.
Vilh. Christian), Danmarks Laeger og Laegevaeren fra de aeldste Tider indtil Aar
1880; En Fremstilling efter trykte Kilder. Deel 1, 2. Kjoebenhavn 1873, 8^. —
Pamnn (P. L.), Universitätsfestschrift 1879. — Manni, Vita del lett. mons.
Nicolo Stenone di Danimarca, Firenze 1775. — Wichfeld, Eindringer om
N. Stensen. Hist. Tidskrift 8 R, IV. — Gösch, Danmarks zool. Literatur,
1873, II, pag. 149—256. — Plenkers, D.Däne N. Stensen, Freib. i. Br. 1884;
tTörgensen, N. Stensen, Kopenh. 1884.
1712; Neapel 1717, 1734; Leipzig 1718, 1731, 8«; Amsterd. 1731, 8". — Animad-
versiones in anat. Blancardianam et obiter in quand. alias. Als Anh.
zu C. h. anat., *Lips. 1699, 8°, p. 577—611. — Epistola anat. ad v. cl. ac
celeb. d. Frid. Ruyschium (dat. Lovan. 20. Maji 1697. Im Anli. zu C. h.
anat. Lovan. 1697, *Lips. 1699, 8", p. 612—22; Lips. 1705). Enthält eine Kritik
der Antworten Ruyschs auf die Zuschriften seiner Schüler. Ein von Raemdoncke er-
wähnter früherer angeblich auch veröffentlichter Brief an Ruysch ist mir nicht
bekannt. — Lettre ecrite ä un chirurg. deGand, Paris 1698, 12°; Seconde
lettre ä un anatomiste de Gand, Par. 1698, 12 ** (beide Briefe an Palfijn
in Gent). — Controversia inter authorem supplementi anat. et d.
Mery... de usu foraminis ovalis et de circulatione sanguinis in foetu etc. Im
Anh.' zum Supplem. anat., *Brux. 1710, 4°, pag. 397—428 (die Angabe von Raem-
doncke, die Controv. sei mit dem Suppl. anat. in Löwen 1710, 4" erschienen, dürfte
auf einem Irrtum beruhen. Die Antwort von Mery in *Oeuvres completes de Jean
Mery par Petit (L. H.), Par. 1888, 557 p., Portr., 3 pl. ; eine Uebersetzung der
Kontroverse habe ich seit Jahren fertiggestellt, aber noch nicht veröffentlicht). —
Ad. Wilh. Henrici Muller diss. de thymo resp., Lovan. 1706, 4** (zur dies-
bezügl. Kontroverse mit Muller u. Bidloo vgl. Raemdoncke 1. c. p. 44 sq. u. Haller,
Bibl. anat., über Verheyen überhaupt Portal IV, 156 sq. u. Heisters Compendium anat.,
Vorrede).
"'") Schüler von Duvemey, Winslow, Albinus, Mery u. A., in Gent 1698
Meester Chirurgyn-Barbier, 1708 bis ungef. 1726 Prof. d. Chir. u. Anat.
*'*') Waare en seer nauwkeurige beschryving van de beenderen
etc., Gent 1702, 8», Leyd. 1727; Amst.1758; deutsch Breslau 1730, 8«; franz. u.
d. T. Nouvelle Osteologie etc., Par. 1731, 8". — Descr. anat. des parties
de la femme, qui serventälageneration, Leyd. 1708; Ontleedk. beschr.
van de vrouwelyke deelen die ter voortteeling dienen, Gent. u. Leyden
1724. — Anat. du c. h., av. des remarques utiles aux chirurgiens etc.,
Par. 1726; verm. u. d. T. Anat. chirurgicale, Paris, von Boudon 1734, 2 vol.; von
M. A. Petit, 1753, 8°, 2 vol. — Vgl. Portal a. a. 0. IV, 289 u. f.
Geschichte der Anatomie. 259
Das ohne Nebenländer nicht einmal 40000 qkm Flächeninhalt
umfassende Dänemark spielt nichtsdestoweniger auf geistigem Gebiete,
sowol in der Kunst als in der Wissenschaft, eine hervorragende Eolle.
Für die Anatomie ist auch hier, wie anderswo, als Sammelpunkt des
Geisteslebens die Landeshauptstadt massgebend. Die Universität zu
Kopenhagen war im J. 1478 von Christian I. als Akademie gegründet
worden, die med. Fakultät hatte zum Zeichen ihrer endgiltigen Ge-
staltung i. J. 1537 von Christian II. ein Siegel erhalten, dennoch dauerte
es noch recht geraume Zeit, bis der anatomische Unterricht in
Schwung kam. Die ersten diesbezüglichen Versuche von Chris-
ten s e n (Anders, Andreas Christiernus, * 1551, f 1606),\) auf private
Leichenöffnungen beschränkt, riefen allseits Entsetzen und Abscheu
hervor. Der theologisch angehauchte Bartholin (Kaspar senior.
Barthol. Malmogiensis, * 1585 12. Febr., f 1629 13. Juli) 2) begründete
hier eine Professorendynastie, die mit der verschwägerten Linie der
Familie Worm die Universität bis in das 18. Jahrhundert beherrschte. =*)
Sein Schwager Worm (Ole sen., * 1588, 13. März, f 1654 17. Sept.),^^j
ein hervorragender Polyhistor und Naturaliensammler, ist keineswegs
Entdecker der schon vorher bekannten, aber erst nach ihm benannten
„Ossa Wormiana".^**). Die Errichtung eines Anatomiegebäudes er-
reichte im J. 1645 der erste Professor der Anatomie und Botanik
Paulli d. Ae. (Simon, * 1603, f 1680)."«) Er schuf jedoch Originelles
^) Stud. in Kopenhagen, Wittenberg, Jena (soll dort Unterricht in der Änat.
erteüt haben), Padna. Basel, wnrde hier 1583 promoviert, darauf Prof. in Kopenh.
*) Stnd. 9 Jahre im Auslande an fast sämtlichen bedeutenderen Hochschulen,
1610 von Bauhin zum D. med. promoviert, wurde in Kopenh. Prof. eloquentiae,
1613 Prof. d. Med., 1624 Prof. theol.
') Casp. Bartholin sen. war in jeder Beziehung fruchtbar. Er hat 54 Schriften
veröffentlicht u. 7 Kinder gezeugt. Die Verwandtschaft der Linien von Bartholin
u. "Worm giebt die folgende Tabelle:
Thomas Fincke
1561—1656
Anna Dorothea
Gatte: Caspar Bartholin sen. Gatte: Ole Worm sen.
1585—1629 1588—1654
aus 2. Ehe:
Thomas Bartholin Erasmus Bartholin Wilhelm Worm
1616—1680 1625—1698 1633—1704
Caspar Bartholin jun. Ole Worm jun.
1655—1738 1667—1708.
Anat. Schriften des Casp. Barth, sen.: Institutiones anat., Witteb., 8°; Rostock,
12"; Argent, 12«; Goslar, 8«; Oxon., 12«; spätere vermehrte Ausg. von Th. Barth.
— Controversiae anat., Goslar, 8**.
*•) Stud. in Deutschland, Italien, Frankr., in Basel von Bauhin promoviert, in
Kopenh. 1613 Prof. in der philos., 1624 in [der med. Fakultät als Nachf. von Casp.
Bartholin sen.
*'') Auch er war überaus fruchtbar. Er zeugte mit seiner ersten Gattin
Dorothea (Fincke) 6 Töchter, mit der zweiten Susanna (Matth. Jani) 3 Söhne und
noch als Greis mit der dritten Magdalena (Motzfeld) 4 Söhne u. 3 Töchter. Unter
seinen 14 Schriften sind hervorhebenswert: Historia rarior. MuseiWormiani,
Lutrd. Bat. 1655, fol. — Catalogus Musei Wormiani, Hafn., 16^ 1642, 1645:
4V 1653 ed. G. Seger.
■*•) Stud. in Rostock, in Paris unter Riolan d. J., war seit 1635 Prof. in Rostock,
1639-49 Prof. d. Med., Anat., Botan. in Kopenh., 1650 an den kön. Hof berufen.
17*
260 Robert Ritter von Töply.
nur in der Botanik und trug die Osteologie noch 1641 nicht nach
Vesal vor, sondern im Anschlüsse an Galenos De ossibus."*^) Zur Be-
rühmtheit brachte es erst Bartholin d. Sohn (Thomas, * 1616
20. Okt., t 1680).«'^) Er wies den Ductus thorac. beim Menschen
nach, kurz nachdem ihn vorher Pecquet beim Hunde entdeckt hatte,
er entdeckte beinahe gleichzeitig wie der Schwede Rudbeck (Ole)
die Lymphgefässe, er ist beteiligt an der Feststellung der richtigen
Auffassung des Ductus Wirsungianus, der anfangs für ein Chylus-
gefäss gegolten hatte, am Sturz der von Riolan d. J. in Paris ver-
teidigten galenischen Auffassung der Leber als blutbildendes Organ.
Sein vielverbreitetes und wiederholt aufgelegtes Handbuch ist eine
vervollständigte Ausgabe der anatomischen Institutionen seines Vaters.
Er beschloss seine anatomische Thätigkeit mit einer eingehenden Be-
schreibung des anatomischen Theaters. Die Einschreibgebühr für den
Besuch desselben hatte Paulli mit 6 Mark dän. festgesetzt. Die schon
von Paulli ausgegebene Eintrittsmarke (tessera anatomica) war von
Bartholin im J. 1651 geändert worden. Bartholin galt vielfach als
der grösste Anatom seiner Zeit. Er verdankt dies jedoch mehr dem
Gewichte seiner Persönlichkeit, dem Umfange seiner literarischen
Thätigkeit, der Beteiligung an dem in England durch Harvey
(1578 — 1678) entfachten Streite um die Lehre vom Kreislauf im Körper
und der Bekämpfung des „Fürsten der Anatomen" in Paris, Riolan
d. J. (1580 — 1657), als seinen Errungenschaften auf praktisch-ana-
tomischem Gebiete.*^) Indes war diese ganze Thätigkeit doch sehr
^^) Unter seinen 12 Werken ist das hervorragendste die erste Veröffentlichung;
einer Flora Danica 1648. Anat. Inhalts: Oratio introductoria (cum
Galenum de ossibus. ad sceleton, publice in Collegio Finckiano esset interpretaturus),
Hafn. 1641, 4**. — De anat. origine, praestantia et utilitate Syntagma,
Hafn. 1643, 4**. — Ausg. der anat. Tafeln des Casserio m. deutschem Text,
Frankf., 4 °. Vgl. darüber Choulant, Gesch. d. anat. Abb., S. 80. — lieber seinen
Sohn s. im Folgenden.
*") Stud. 9 Jahre im Ausland, Schüler von de Wale in Leyden, Vesling in
Padua, 164.5 in Basel von Bauhin promov., in Kopenh. 1646 — 48 Prof. philolog.,
1648 — 61 dritter Prof. der med. Fakult. als Nachf. von Simon Paulli u. damit Vor-
stand des anat. Instituts.
'"') Hauptwerk *Anatomia Parentis C. Bartholini novis observa-
tionib. et figuris locupletata, L. B. 1641 8"; secundum locupl., L. B. 1645,
auch franz. u. ital. ; tertium ad sanguin. circulationem reform. c. novis iconib.,
L. B. *1651 u. öfter, auch belg. u. engl.; Anatome ad. circulat. harvejan. et vasa
lymphat. quartum renov. c. iconib. nov. et indicib. *L. B. 1673, 8" (Kpftit. 1674
m. Portr.); *Lugduni 1684, 8« (Kupftit. 1677); quintum renov. *L. B. 1686, 8"
(Kupftit. 1686) m. Port. — *Casp. Bartholini .. .Institutiones anat. ... ab
auctoris filio Thoma Bartholino, L. B. 1645, 8 '*, 488 p., Kupfertit. mit den Portr.
von Hippokrates, Vesal, C. Bau hin, Paauw, Galen, Riolan, Spighel,
0. Heurne, C. Barthol., dann A. Falcoburg im Seziersaal: *franz. von Abr.
du Prat, Paris 1647, 4", 656 pag. — Collegium anat. disputationib. 18
adorn. , Hafn. 1651, 4". — Bequemste Ausgabe der Schriften über das Lyraph-
gefässsystem *Opuscula nova anat. de lacteis thorac. et lymphat. vasis.,
Hafn. 1670, 12*>, 726 pag. (1. De lacteis thor. in homine brntisque obss., historia
anat.; 2. Vasa lymphat. nuper in animantib. inventa, et hepatis exsequiae (An
Eiolan); 3. Dubia anat. de lacteis thor., et an hepatis funus immutet medendi
methodum (an Guy Patin); 4. Vasa lymphat. in homine nuper inventa et hepatis
exsequiae; 5. Defensio lacteor. thor. contra Riolan.; 6. Examen judicii novi, quod
de venis lact. tulit. Job. Riolanus; 7. Defensio vasor. Ij-mphat. contra Riolan.;
8. Defensio dubior. anat. de lacteis thor. a Job. Riolano necdum solutor. ; 9. De
lacteis venis sententia Guilh. Harvei expensa; Spicilegium I ex vasis lymphat.,
ubi Glissonii et Pecqueti sententiae expendentur; 10. Spicil. II ex vas.
lymphat., ubiBachii.Cattierii,leNoble,Tardii,Whartoni,Charletoni,
Bilsii etc. sent. examinantur; 11. Responsio de experimentis anat. Bilsianis, et
Geschichte der Anatomie. 261
anreg-end. denn er hat fünf tüchtige Assistenten herangebildet. Lyser
(Michael, * 1626, f 1659)'-'') hat einen wesentlichen Anteil an der
Entdeckung- der Lvinphgefässe , sein „Culter anatomicus" ist das
erste umfassendere Werk über anatomische Technik,'*') Moenichen
(Henrik a, * 1631, f 1709) verbreitete während einer Eeise im Aus-
lande 1655—61 die Kenntnis des Lymphgefässsystems . Boy den
(Martin, * 1631, f ? zu Bern) verteidigte in zwei Schriften die Autor-
schaft seines Meisters an der Entdeckung der Lvmphgefässe (1653),
Seger (Georg. * 1629, f 1698 19. Dez.; in Dänemark 1654-59) be-
thätigte sich als Yerfechter Bartholins, Angreifer Eiolans und An-
hänger Harveys.^) Paulli d. J. (Jakob Henr., Sohn des Simon)
wurde später Prof. d. Med., schliesslich Historiograph der Krone und
Diplomat.^) Thom. Bartholins Schüler Blaes d. Vater (Gerhard
Leon., * ?, t nach 1682) ^*''') hat mehr als Herausgeber zahlreicher
Schriften Anderer, als durch seine eigenen Werke Bedeutung.^" •*)
difficili hepatis resurectione ad Nie. Zäsium: 12. Diss. anat.. de hepate defiincto
novis Bilsianor. experimentis opposita ad Anton. Densin gium: 13. de hepatis
exantorati desperata cansa cum praecipuis orbis viris concertatio (So. 2. enthält die
wenig geschmackvolle Grahschrift m\{ die Leber : ,,Siste viator. Clauditur hoc tumulo,
qui tumulavit phirimos, princeps corporis tui cocns et arbiter, hepar." etc. Xo. 1, 2. 3
nebst den einschlägigen Schriften von Pecqnet n. Eudbeck in *Hemsterhuis
(Sibold) , Messis anrea, L. B. 1654, 12 °, 347 pag. Feststellung des Anteils von
Bartholin u. Eudbeck an der Entdeckung der Lvmphgefässe in des Letzteren Briefen
an Hemsterhuis 1653, 23 Dec. st., vet.) — *Cista medica Hafniensis, Hafn.
1662, 12", 645 pag. Anhang: Domus anat. hafn, s. oben Dänemark, Literaturverz.
Die Cista enthält zahlreiche histor. Beiträge zur Gesch. der med. Fakultät, Bio-
graphisches über Ole Worni sen. u. Casp. Bartholin sen. u. s. w. — Zum Streit über
die Leber: *Diss. anat. de hepate defuncto novis Bilsianor. observationib.
Hafn., 1661, 12**, 84 p.; *Responsio de experimentis anat. Bilsianis et
difficili hepatis resurrectione, Hafn., 1661, 12". 40 pag.; De hepatis
exautorati desperata causa, Hafn. 1668. 8°. — Zum Streit mit Hofmann:
Anat. vindiciae Casp. Hofmanno aliisque oppositae, Hafn. 1648, 4";
Animad versiones in anatomica Hofmanni. Ibid. — Schriftenverzeichnisse:
*Catalogus operum Thomae Bartholini hactenus editor., Anno 1661,
Hafn. 12", 8 Bl. ; *De anatome practica ... consilium c. operum ...
catalogo, Hafn., 1674, 4", 48 pag. (75 Originalwerke in verschiedenen Ausgaben,
19 Werke anderer Verf., von Barth, herausg. bezw. eingeleitet).
•") Beschäftigte sich mit der Anat. in Kopenhagen 1649—52, ging dann nach
Deutschland u. Italien, war 1656 Prof. d. Medizin in Leipzig, später Provinzialarzt
in Dänemark.
'") Culter anatomicus, Kopenh. 1653, 1665; Frankf. 1679: Utr. 1706;
*Ed. 5. Lngd. Bat. 1726, 8", 246 p. c. fig. aen.; 1731; deutsch in *Timmii (Joh.)
Collectanea ad praxin anat. spect., Bremen 1735, 8", 254 u. 70 S. m. 4Kpft.; engl.,
Lond. 1740.
*) Triumphus, nobilissimi corporis nostri visceri ac benignissi-
mo oeconomo, cordi, post felicissime tandem captam dnce Th.
Bartholino ex totali hepatis clade victorians., Kopenh. (nach Barth,
domus anat. p. 14 i. J. 1653, nach Pagel in Gurlt-Hirsch Lex. V 343 i. J. 1654 ersch.) ;
Basel 1661, mitAnhang: Querimonia nobilissimi visceris cordis quaeri-
moniae hepatis autore J. Riolano ad medicos Parisienses habitae
opposita. — Einige Dissert. über die Bartholinsche Lymph., Kopenh. 1656.
•) Jak. Heinr. Paulli von ßosenschild (ursprünglich Prof. d. Med., seit
1663 Prof. d. Gesch., dann in der angedeuteten Laufbahn) spielt im Streit um die
angebliche Entdeckung eines ductus roriferus durch De ßils eine Rolle. Ana-
tomiae Bilsianae anatome. Access. . . . Jo. Jac. Wepfferi de dubiis auatomicis
Epist., c. respons. Argent. ap. Simeonem Paulli 1665, 8", 128 S. m. Kpft.
'"") Stud. in Kopenhagen u. Leyden, hier 1646 promov., wurde 1660 Prof. d.
Med. u. Dir. des Hospitals zu Arast.
101.) *Joann. Veslingii . . . Syntagma anat. commentario atque
appendice etc. a Gerardo Leon. Blasio cui add. . . . Epist. G. H. Vel-
schii, Pataw. 1677, 4", 48 S. m, Kupf., Kpft. m. Darst. einer anat. Vorlesung. —
262 Eobert Ritter von Töply.
Weitaus hervorragender ist der geniale Anatom und Geolog Stensen
(Niels, Nicolaus Stenonis, * 1638 10. Jan., f 1686 26. Nov.).^^») Seine
Entdeckung des Ausführungsgangs der Ohrspeicheldrüse (Duct. Steno-
nianus) entfachte einen heftigen Prioritätsstreit mit Blaes d. Vater.
Seine Darlegung des Mechanismus und der Funktion des Thränen-
apparats ist musterhaft, die des Herzens als eines reinen Muskel-
organs war epochemachend, der „Discours sur l'anat. du cerveau"
wurde später von Winslow in dessen Exposition anat. aufgenommen,
das „Elementor. myologiae specimen" hat der Hallerschen Irritabili-
tätslehre die erste solide Grundlage gegeben. Seine Untersuchungen
der Haie, durch die richtige Deutung der „Testes mulierum" in
anat. Beziehung bemerkenswert, sind durch die aus der weiteren
Verfolgung des Gegenstands sich ergebende Begründung der neuen
naturwissenschaftlichen Geologie bahnbrechend gewesen.^^*') Nach
dem jüngsten Bartholin (Caspar junior, * 1655, f 1738)^-*) sind
der Ausführungsgang der Sublingualdrüse und die den Cowperschen
Drüsen entsprechenden Glandulae Bartholinianae benannt. Im übrigen
bearbeitete er die von seinem Lehrer Stensen ermittelten That-
sachen. ^■-'') Der Glanz der Kopenhagener Schule erblich, nach-
dem eine Feuersbrunst i. J. 1728 sämtliche Gebäude und Sammlungen
der Universität zerstört hatte, und es fand sich das ganze 18. Jahr-
hundert hindurch nicht eine Kraft, die ihn wieder herzustellen im
Stande gewesen wäre.
♦Anatome contracta, Amst. 1666, 12", 281 pag., Kpftit. — Anat. med. spin.
et nervor. inde provenient., Amst. 1666. — Obss. anat selectior. ed. a coli,
medicor. privater. Am., Amst. 1667. — Ueberdies zoolog. Schriften. — Herausg. :
Pulverinus, Ph. Müller, J. Beguin, J. Primrose, P. Morellus, J. J.
V. Brunn, Th. Bartholin, F. Licetus, L. Bellini, J. A. Borelli, Th.
Willis.
"*) Schüler von Thom. u. Rasmus Bartholin sowie Sim. Paulli in Kopenhagen,
Gerb. Blaes in Amst., dann in Leyden von Van Hörne gefördert. 1664 in Kopenh..
dann mit Swammerdam in Paris, übertrat 1667 in Florenz zum Katholizismus,
wurde 1672 Anatomicus regius in Kopenh., ging im Sommer 1974 wieder nach
Italien, wurde 1675 Priester u. Missionar in Deutschland.
"■*) Obss. anat, quibus vari a oris, oculor. et narium vasa
describuntur, novique salivae, lacrymar. et muci fontes dete-
guntur. Et novum. ..Bilsiidelymphae motu et usu comment. exami-
natur et rejicitur, L. B. 1662, 12", * 1680, 12", 108 pag., c. tab. — De
musculis et glandulis obbserv. specim., c. epist. (de anat. rajae
et vitelli in intestina pulli transitu), *Hafn. 1664, 4", Amst. 1664, 12". —
Elementor. myologiae specim. c. musculor. descr. geometr. etc.,
Florent. 1667, 4 "; Amst. 1699, 8". — Discours sur l'anat. du cerveau, Paris
1669, 12"; lat. Leyden 1761. 12"; aufgenommen in die Anat. des J. B. Winslow
(Stensens petit-neveu). — Rekapitulation der Speicheldrüsen: Glandula parotis m.
ductus Stenonianus, gl. submaxillar. m. duct. Whartonianus, gl. sub-
ungualis m. duct. Rivini (8 — 12), Ausführungsgang duct. Bartholini. Ueberdies
gl. Nuhnii s. Blandini an der Zungenspitze in der Muskulatur.
^**) Seine Thätigkeit auf dem Gebiete der Anat., Phvsiol., Physik umfasst die
Jahre 1675—1701.
^^^) *De olfact. organo, Hafn. 1679, 4", 18 pag. — *Specimen historiae
anat. partium c. h., Hafn. 1701, 4", 187 pag, c. 4 tab. (bemerkenswertere Beob-
achtungen: 1. de modo, quo Peritoneum viscera abdom. involvit; 2. de ductu
salivali infer. ; 3. de lacteis secuudi generis quae et lymphatica sunt ; 4. demonstratio
sanguinei circuli per divisionem ventriculor. in septo; 5. de secretione humor. in
glandulis; 6. de nervis oculor. ad m. uveae; 7. de olfactus organo; 8. de
diaphragmatis stnictura: 9. musculor. vertebral. fabrica et demonstrandi methodus;
10. de fabrica et compositione ossium ex tendinibus musculor.
GescMchte der Anatomie. 263
England.
Der echt wissenschaftliche Geist der exakten Forschung, durch
die sich Harvey kennzeichnet, hat gleichzeitig auch in die descriptive
Anatomie seinen Einzug gehalten. Schon die 2. Hälfte des 17. Jahr-
hunderts bringt hier eine Reihe von Einzeluntersuchungen, die sich
denen der Italiener getrost zur Seite stellen. Glisson (Francis,
* 1597, t 1677: Cambridge. London) beschreibt die Leber (Capsula
Glissonii), den Magen und Darm,^) sein Freund Wharton (Thomas,
* 1610, 7 1673 14. Nov.; London) die Drüsen und entdeckt den Aus-
fiihrungsgang der Unterkiefer-Speicheldrüse, -) der oxforder Freund
Harveys, Highmore (Nathanael, * 1613, f 1684; Shaftesbury), ent-
deckt die Oberkieferhöhlen und liefert eine kritische Entwicklungs-
geschichte,-^) Lower (Richard, * 1631, j 1691: London) untersucht
eingehend das Herz (Tuberc. Lowerij, insbesonders dessen Faserung,*)
Willis (Thomas, * 1622 6. Febr., f 1675 21. Nov.; London) er-
ötfnet mit einer eingehenden Abhandlung über das Cerebrospinal-
system, die er mit zahlreichen Abbildungen belegt, die neuere Rich-
tung auf diesem Gebiete.^) Shepherd stellt in seiner Sketch (s. unten)
die Entdeckungen des Willis auf dem Gebiete des Nervensystems auf
dieselbe Stufe mit denen von Wren, Millington, Lower. Das
wäre für die letzteren eine doch zu starke Beförderung. Needham
(Walter, * ?, f 1691 16. Apr.; London) beschreibt die Xabelgefässe
und die Placenta. Er leugnet die Durchgängigkeit des Urachus und
glaubt nicht an die Allantois, diesen Zankapfel der alten Anatomie.
Ueberdies polemisirt er gegen die Priorität der Stenonschen Ent-
deckungen.*^)
Die jüngere Richtung teilt sich zwischen London und Edinbui'g,
indes ist auch der Edinburger Zweig auf London zurückzuführen.
Er wurzelt in Cowper (William, * 1666, f 1709 8. März; London),
bekannt durch die Entdeckung der Harnröhrendrüsen, hervorragend
durch seine Muskelanatomie, der sich bis auf Albinus nichts Aehnliches
zur Seite stellen lässt.') Dies geht am besten aus einem Vergleiche
mit der kurz vorher erschienenen Myologie von Browne (^John,
ordinierender Chirurg des Königs Karl IL), dessen Figuren teUs dem
Ch. Estienne, teils dem Casserio entnommen wurden und nur dadurch
von der üblichen Darstellung abweichen, dass die Namen der einzelnen
Muskeln aufgedruckt sind.^) Cowpers Schüler Cheselden (William,
* 1688, f 1752 10. April, London) scliliesst sich seinem Lehrer durch
*) Anatomia hepatis, Lond. 1654 u. ö. — De ventriculo et intesti-
nis, cui praemittitnr de partib. continentib. in genere et in specie de iis abdonünis
tract, 1677, Lond. 4 », Amst. 12 °.
^) Adenographia s. glandulär, totius corporis descr., Lond 1656, 8 ° u. ö.
*) *Corp. hum. disquisitio anat.. Hag. Com. 1651, fol. — The history
of generation, examining the opinions of divers author., Lond. 1651, 8".
*) *Tractat. de corde, item de motu et colore sanguinis et chyli in eum
transitu, Lond. 1669, 8» u. ö.
*) *Cerbrianatome, cui accessit nervor. descript. et usus. Lond. 1664. 8 °, u. 5.
•) *Disquisitio anat. de formato foetu, Lond. 1666, Amst. 1669, 8 <» .—
Obfervationes Anatom., Ed. 2, L. B. 1706. Leid. 1714, 12".
") Myotomia reformata, Lond. 1694, 8°, 1724, fol. — The Anatomy
ofhum. bodies., Oxf. 1697, fol. m. d. Tafeln von Bidloo. Wegen dieses Plagiats:
*Guil. Cowper criminis literarii citatus per God. Bidloo L. B. 1700, 4 ", 54 pp.
") *Myographia, Lond. 1681 u. ö. bis Lips. 1715.
264 Robert Ritter von Töply.
eine prächtige Beschreibung und Darstellung der Knochen, sowie
durch ein beliebtes Handbuch der Anatomie würdig an.") Beinahe
gleichaltrig sind die Brüder Douglas. Der ältere Douglas (James,
* 1675 — 1742, ein Schotte, Leibarzt der Königin v. England) hat die
vergleichende Muskelanatomie bearbeitet, eine genaue Beschreibung
des Bauchfells gegeben (Cavum Douglasii) und schliesslich eine lange
Zeit geschätzte Bibliographie der Anatomie bis auf Harvey (jetzt
allerdings veraltet) zusammengestellt.^*') Der jüngere Douglas
(John, * ?, t 1759) hat sich durch Herausgabe einiger anat. Abbil-
dungen seines Bruders Jakob verdient gemacht und durch eine sehr
abfällige Kritik der geschätzten Osteographie des Cheselden Aufsehen
erregt. ^ ')
Cheseldens Schüler Monro L (Alexander, * 1697, 8. Sept., f 1767
10. Juni; Prof. d. Anat. 1721—1759) begründete in Edinburg eine
Professoren dynastie, nachdem dort für den Unterricht der Apotheker-
Chirurgen (chirurgeon-apothecaries) im Jahre 1705 eine Professur der
Anatomie mit einem Jahresgehalt von 15 Pfund Sterling errichtet
worden war.^-) . (Die Grundsteinlegung der Universität fand erst am
16. Nov. 1789 statt.) Monro II. (Alexander, * 1733 20. März, f 1817
2. Okt.; Prof. d. Anat. u. Chir. 1759—1801 allein, dann bis 1808/09
mit seinem Sohn)- gab die erste Beschreibung der Schleimbeutel, über-
dies — sow'eit es die damalige Technik gestattete, wertvolle Beiträge
zur Kenntnis des Cerebrospinalsystems, polemisierte auch gegen die
angeblichen Entdeckungen von John Hunter.^=^) Monro III (Alex-
ander, * 1773 5. Nov., f 1859, 10. März; anfangs mit seinem Vater,
dann allein Prof. d. Anat. u. Chir. bis 1846) hat in mehreren Werken
die normale Anatomie teils mit der Physiologie, teils mit der patho-
logischen Anatomie verschmolzen. Neben den Monro wirkten in Edin-
burg Barclay (John, * 1759, f ?), einer der tüchtigsten Anatomen
seines Zeitalters, i^) Gordon (John, * 1786 19. April, f 1818 14. Juni;
») The anatomy of the hum. body, Lond. 1713 u. ö. bis 1778, 8», deutsch
noch 1790 Götting. von A. F. Wolff m. Knpf. von Riepenhausen. — Osteo-
graphia, Lond. 1733/34, fol., m. 56 Kupfern, die Knochen in nat. Gr., angeblich
durch die Camera gezeichnet.
^°) Myographiae comparatae specimen, Lond. 1707 u. ö. bis 1777. —
A description of the Peritoneum. Lond. 1780 u. ö. bis 1740. — *BibIio-
graphiae anatomicae specimen. Ed. 2, L. B. 1734.
") Animadversion on a late pompous book, intitled: Osteo-
graphia, Lond. 1735. — Nine anatomic. figures, repr. the extern, parts,
muscles and bones of the hum. bodv 1748.
12) Osteology, Edinb. 1726 u. ö. bis^l763; franz. u. d. T. *Traite d'osteo-
logie trad. de l'anglois de M. Monro . . . oü Ton a ajoute des pl. en t.-d. . . . par M.
Sue ... Paris 1759, 317 p., 31 Doppeltafeln, fol. max. Eines der prächtigsten anat.
Werke. Auch deutsch. — Essay on compar. anat., Lond. 1744, 1783, franz. 1766,
dtsch. Götting. 1790.
1*) De venis lymphat. valvulosis, Berol. 1757 u. ö. — Microscop.
inquir. into the nerves and brain, Edinb. 1780, fol. — Observat. on the
struct. and funct. of the nerv, syst, Edinb. 1783, fol, w. tab.; deutsch von
Sömmering, Leipz. 1787, 4°. — A description of allbursae muscosae ofthe
hum. body, Lond. 1758, fol.; deutsch v. J. C. Rosenmüller, Leipz. 1799, fol. —
Three treatise on the brain, the eye and the ear, Edinb. 1797, 4". —
Observations anatomic. and physiolog., wherein D. Hunter's claim
to some discoveries is examined, Edinb. 1758.
'*) Descript. of the arteries of the hum. body, Edinb. 1812. — Series
of engravingsrepresent. the bones of the hum. skeletonw. the skelet.
of some of the lower animals, Edinb. 1819. — Introductory lectures to
a course of anat., deliv. by the late John Barclay. W. a. mem. of the
Geschichte der Anatomie. 265
Schüler des Chirurgen J. Thomson in Edinburg und von Wilson in
London), dessen private und später öffentliche Vorlesungen über Osteo-
logie ebensoviel Anklang fanden, wie sein Handatlas desselben Gegen-
stands, der neben den ähnlichen AVerken über die Muskeln von
J. Bell und die Arterien sowie die Nerven von Ch. Bell zu den besten
Handatlanten aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts gehört,'-^) dann
Barclavs äusserst thätiger Nachfolger Knox (Robert. * 1793 4. Sept..
t 1862" 20. Dez.; Thät'igkeit in Edinburg 1825—44), besonders auf
dem Gebiete der vergleichenden Anatomie und Eassenlehre. Einen
Schatten auf Knox wirft dessen, übrigens auch Anderer Fühlung mit
den „Resurrektionisten". Diese stahlen Leichen, um sie für 2 — 16 Pf. St.
an die anatom. Institute zu verkaufen, nötigenfalls machten sie
auch Irgendjemand zur Leiche. Nachdem der Prozess gegen den
Mörder Burke i. J. 1828 ein grelles Streiflicht auf dieses Treiben
geworfen, wurde der Sache i. J. 1832 durch die Gesetzgebung ein
entschiedenes Ende bereitet.^^) Der etwas jüngere Chirurg Lizars
(John, * 1783, f ?, Schüler von John Bell, s. u.) machte sich hier auf
anatomischem Gebiet durch ein umfangreiches Tafelwerk bekannt,^ ^)
während sein Bruder Lizars (Alexander, f 1860 22. Juni), dem er
1831 die Anatomie überlassen hatte, zwar später Prof. dieses Fachs in
Aberdeen wurde, literarisch aber auf dem Gebiete der Chirurgie auftrat.
Zu den Edinburger Lehrern der neuesten Zeit zählt — abgesehen
von Sharpey, der hier nur kurze Zeit wirkte (s. unten) — Goodsir
(John, * 1814, t 1867 11. März),'^") Entdecker der Sarcina ventriculi,
nach John Hunter der berühmteste Edinburger Lehrer der Anat..'^*")
dann die Trias Handyside. Spence, Lonsdale. Handvside (Peter
David, * 1808 26. Okt.. f 1881 21. Febr.)^'-»^) hat sich neben der
Chirurgie mit topographischer Anatomie und Teratologie befasst,^^^)
Spence (James. * 1812 31. März, f ?)-*^) vorwiegend mit Chirurgie.
Der etwas jüngere Struthers ' (John, * 1823 21. Febr., f 1899
24. Febr.) ■-^'*) war einauch historisch gebildeter Anatom,-^'') Turner
life of the aator, Edinb. 1828. Herausgegeb. von Sir George Ballingall, Prof. d.
Mil.-Chir. in Edinb., Assistent von Barclay (* 1780, f 1855).
^*) A svst. of hum. anat., T. I, Edinb. 1815. — Engrav. illustr. the
anat. of the skeleton in 22 plat, Edinb. 1817, 1818.
'") Es ist dies die sog. Warburton-Bill. Anatomical act, 2nd and 3d
William IV., cap. 75, August 1832. — Vgl. Struthers, Historical Sketch of the
Edinburgh Anatomical School. Maclachlan and Stewart 1864; *Lonsdale (Henry),
A Sketch of the life and writings of Eobert Knox, Lond. 1870, 8 °, 420 p.
^') Asystem of anat. plates; accomp. w. descriptions, andphysio-
logical,patholog. and surgic. observations, Parti — 12, Lond. 1822— 1826,
w. 101 pl., fol., new. edit. 1840.
^*"j Schüler von Knox, seit 1844 als Nachf. von Mackenzie Prosektor, seit 1846
Prof. d. Anat an Monros Stelle.
^'"') On the development of the teeth, Edinb. Med. and Surg. Joum.
1839. - ''
^^') Schüler von Tiedemann, als Nachfolger von Struthers 1863 Dozent d. Anat.
am College of Surgeons.
""') The anat., particnlar and surgic, of the hum. bodv, Edinb.
1837, 4 0, 30 col. pl.
-**) Schüler von Knox, unter Monro III bis 1842 Prosektor-Gehilfe, lehrte m.
Handyside u. Lonsdale 4 Jahre lang Anat. ausserhalb des Universitätsverbandes, der
hervorragendste schottische Chirurg nach Syme, ist Verf. einer Abhandlung über
das 8. Nervenpaar: Inquiry into the anat. of the eight pair of uerves,
Edinb. Med. and Surg. Joum. 58, 1842.
''■•) 1847 Dozent d. Anat. in Edinb., 1863—1890 Prof. d. Anat. in Aberdeen.
*•'') Anat. and physiolog. observations I 1854 II 1863. — Osteo-
266 ßobert Ritter von Töply.
(Sir William, * 1832)22«^) hat unt. a. die Topographie der Gehirn-
windungen, die vergl. Anat, der Placenta bearbeitet.'^-'').
Einen weitaus grösseren Einfluss auf die Entwicklung der mo-
dernen Medizin in England übte die von William Hunter in London
gegründete Great Wind mi 11 School (1770—1833), bis ihre
Thätigkeit durch die neugeschaffene Universität abgelöst ward. Sie
war der Sammelpunkt der Hunter, Hewson, Cruikshank, Baillie (path.
Anatom), Wilson, B. C. Brodie (Chirurg), Ch. Bell, Shaw, Mayo, Caes. Haw-
kins (Anatom u. Chirurg). Der älteste H u n t e r (William, * 1718 23. Mai,
I 1783 30. März; London) lieferte in seiner Anatomie der schwangeren
Gebärmutter ein grundlegendes Werk. Von ihm stammt die Be-
nennung „Decidua", die Unterscheidung der Decidua vera und reflexa.
Auch wusste er, dass das Nabelbläschen bis zum Ende der Schwanger-
schaft bestehen bleiben kann. ^=^) Der jüngere Hunter (John, * 1728
13. Febr., f 1793 16. Okt.; London. Bruder des Vorigen, verheiratet
mit der Schwester des Anatomen Edw. Home) untersuchte die männ-
lichen Geschlechtsorgane, begründete die Lehre vom Descensus testi-
culorum (Gubernaculum Hunteri) und erklärte gegenüber der älteren
Ansicht die „Samenbläschen" nicht für Samenbehälter, sondern für
drüsige Organe. Er hatte sich manche Entdeckung zugeschrieben,
die ihm nicht zukommt, und ist deshalb mit seinem Bruder William
und Monro II in einen Prioritätsstreit, betreffend die Ausbreitung der
Geruchsnerven, die Injektion der Harnkanälchen, die Placentararterien,
die Lymphgeiässe bei den Vögeln u. a. geraten. Hingegen gebührt
seiner Beschreibung der Blutgefässe des Tintenfisches (Sepia offl-
cinalis) der Titel einer grundlegenden Arbeit.-*) Sein unstreitiges
Verdienst besteht darin, dass er hervorragende Schüler heranzog.
Darunter gehört Matthew Baillie (path. Anatomie), Thomas Denman
(Geburtshelfer), dann die Anatomen W. Hewson, Ch. Bell, W. Cruiks-
hank, J. Sheldon. Hewson (William, * 1739, f 1774) bearbeitete das
beliebte Thema vom Lymphgefässsystem,-*) Home (Sir Everard,
Bart, * 1763, f 1832) berücksichtigte besonders die vergleichende
Anatomie.-*') Die Brüder Bell haben sich besonders um die ana-
tomische Abbildung verdient gemacht. Der ältere Bell (John, * 1762,
f 1820; Edinburg) war ein vorzüglicher Zeichner. Er hat ein um-
fangreiches anatomisches Tafel werk herausgegeben.^') Der jüngere
logical memoir 1855. — Lessons on the hum. body, 1859. — Anatomical
Sketch of the Edinburgh Anatomical School. Maclachlan and Stewart,
1864. — History of the Edinburgh anat. school, 1866.
^^'■) Schüler des St. Barthol. Hosp. zu London, 1854 Prosektor an der Univ. zu
Edinb., seit 1867 Prof. d. Anat. das. u. an der Roy. Scott. Acad.
^'^^) Atlas of hum. anat. and physiol., w. hand-book. — Con-
volutions of hum. cerebrum topographic. consid., 1868. — An introd.
to hum. anat. includ. the anat. of the tissues. — Lectures on comp,
anat. of the placenta, 1876. — Anat. as taught in the Univ. of Edinb.,
1867. — Address ad the open. of the new anat. depart. of the Univ. of
Edinb., 1880.
^') Anatomy of the human gravid uterus, Birmingh. 1774, foL, Text
von Baillie.
***) Er hat Vielerlei geschrieben. Besonders wichtig sind die Observations
on certains parts of the animal economy., Lond. 1787, deutsch von
Schell er, Braunschw. 1803.
'^'^) Experim. inqu iries into the prop erties of the blood, w. an
append. relat. to lymphat. syst.
^•*) Lectures on comparat. anat., Lond., 4 voll., 1814—22.
*') The anatomy of the hum. body, 3 voll, Lond. 1793—1816 u. ö. —
i
GJeschichte der Anatomie. 267
Bell (Sir Charles. * 1774. f 1842) bearbeitete für dasselbe die Nerven.
Sinnesorgane und Eingeweide, entdeckte überdies die verschiedene
Funktion der vorderen und hinteren Wurzeln des ßückenmarks-
nerven.-^) Cruikshank (William, * 1745, j 1800; in Edinburg
thätig. Freund, Assistent und Erbe der reichhaltigen Sammlungen
von W. Hunter) hat nach dem Tode von J. Hunter ein schön aus-
gestattetes Werk über die Saugadern herausgegeben, welches den
Höhepunkt dessen bedeutet, was auf diesem Gebiete bis dahin ge-
leistet wurde, und auch von der ähnlichen Arbeit Mascagnis nicht
erreicht wird. "-'-') Sheldon (John. * um 1765. f ?) reicht auf dem-
selben Gebiete an Cruikshank und Mascagni nicht heran, er hat sich
vielmehr durch die Beschreibung der hier einzuhaltenden Präparations-
technik verdient gemacht."") Shaw (John, * 1791, f 1827. Prof. d.
Anat. an d. Windmill School mit Ch. Bell) ist als Verf. eines Hand-
buchs der Anatomie hervorgetreten.^'^) ebenso Mayo (Herbert, * ?,
i 1852), welcher ein kleines anatom. Amphitheater errichtete.-^-) Hier
las bis 1830 Hawkins (Caesar, * 1798 19. Sept., j 1884 20. Juli;
Schüler von Brodie, Wilson, Ch. Bell in der "\Mndm. School, Prosektor
das. und Assistent von Ch. Bell und Shaw), worauf er zur Chirurgie
überging. —
Das Licht der Windmill School erlosch, als neue Mittelpunkte
für den Betrieb der Anatomie entstanden waren. Dahin gehört das
private Theatre of Anatomj' and Medicine in Webb Street (Borough),
gegründet von dem älteren Grainger (Edward), gegen 20 Jahre
fortgeführt von dessen Bruder, dem jüngeren Grainger (Richard
Dugard, * 1801, j 1865 1. Febr.; 1842—60 Dozent der Anat. und
Physiol. am St. Thos. Hosp.,'^-') bis es 1842 mit dem St. Thomas-
Hospital verschmolzen wurde. In der etwas jüngeren, von Laue
(Sam.) i. J. 1830 errichteten Schule lehrte eine Zeitlang Wilson
jun. (James Arthur, * 1795, f 1883 29. Dez.), während dessen Vater,
der Chirurg Wilson (James), nach welchem der Wilsonsche Muskel
benannt ist, noch in der Windmill School die Anat. gelehrt hatte.
Ein neues Leben brachte die neugegründete Londoner Universit}*"
(jetzt Univ. Coli). Das Haupt dieser Richtung wurden die Brüder
Engravings explain. the anat. of the bones, muscles and joints
(Lond. 1794, 4», u. ö.). the brain (Lond. 1802), the nerves (Lond. 18031, the
viscera (Edinb. 1804).
**) Engrav. of the arteries, Lond. 1804 u. ö. — Anat. of the
brain, Edinb. 1802 u. ö. — Aseriesof engrav. explain. the course
ofthe nervs, Lond. 1804 u. ö. — Seine Anatomie für Maler erschien 1805
u. ö. Veröffentlichungen über die Funktion der Rückenmarksnervenwurzeln 1811,
1821. *Karl Beils Darst. d. Nerven, frei bearb. v. Robbi (Heinr.), Vorrede v.
ßose^nmüller (Job. Chr.), Leipz. 1820, 118 S., 9 Kpft.
-") Anat. of the absorbing vessels of the hum. body, Lond. 1786,
1790, 4". — *Will. Cruikshanks u. Paul Mascagnis Gesch. u. Beschr. der einsaug.
Gefässe A. d. Engl., vermehrt herausg. v. Ch. Friedr. Ludwig, 3 Bde., Lpz.
1789—94, 4° (für Historiker wichtige Ausgabe).
*>) The history of the absorb. Syst., Lond. 1784. 4 «. — Descr.
catalogue of bis collect, anat. praeparations, Lond. 1787.
") A mannal of anatomy, 2. Ed., Lond. 1822.
") Anat. and physiologic. comraentaries I, 11, Lond. 1822—23. —
A course of dissect. f. the use of students, Lond. 1825. — A series of
engrav. intend. to illustr. the struct. of the brain and spinal cord
in man, Lond. 1827.
") Elements of general anat., Lond. 1829. — Observ. on the
struct. and function of the spinal chord, Lond. 1837.
268 Robert Ritter von Töply.
Quain. Der ältere Quain (Jones, * 1795, f 1851; zuerst anat.
Prosektor an d. med. Schule in Alderso;ate Street, dann Prof. der
Anat. u. Physiol. am Univers. CoH.) ist Verfasser eines Handbuchs,
das zu den besten des 19. Jahrhunderts gehört und sich über 50 Jahre
lebenskräftig erhielt/^*) der jüngere Quain (Eichard, * 1800, f 1887
15. Sept.)'"'**) behandelte die Anatomie der Arterien mit Rücksicht auf
deren chirurgische Bedeutung.'''^ •') Der aus der Schule der Quain hervor-
gegangene Wilson (Sir William James Erasmus, * 1809, f 8. Aug.
1884) ''"'') gab die Anatomie bald auf und widmete sich eingehendst
der Dermatologie, der etwas ältere Sharpey (William, * 1802,
f 1880,^') Mitarbeiter an E. B. Todd's „Cyclopaedia of Anat. and
Physiol", ist der Richtung von Jones Quain ebenso treu geblieben,
wie Ellis (George Viner, * ?, f 1900), ein durch seine besondere
Darstellungsgabe hervorragender Lehrer. •^^) Zu den auf dem Gebiete
der mikroskop. Anatomie glücklichsten Entdeckern gehört der Ophthal-
mologe Bowman (Sir William, * 1816 20. Juli, f 1892 20. März),
bekannt durch Widerlegung der Brückeschen Annahme einer Schich-
tung des Glaskörpers, durch die nach ihm benannten Kapseln der
Malpighischen Körperchen der Niere, durch seine mit Todd heraus-
gegebene „physiologische" Anatomie u. A. ^'') —
Neben Edinburg und London tritt Glasgow in den Hinter-
grund. Der Prof. d. Anat. und Chir. Jeffray (James) ist bekannter
als Erfinder der Kettensäge, denn in der Anatomie. Dieses Fach,
sowie die Embryologie hob erst sein Nachfolger Thomson (Allen,
* 1809 2. April, f 1884 22. März),^«) Mitarbeiter an Todd und Bow-
mans „Cj^clopaedia", Herausgeber der späteren Auflagen von Quains
„Syst. of hum. anat.", ein eifriger Darwinianer.^*^'') Aus den letzten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sind überdies hervorhebenswert in
^^) Elements of descr. and pract. anat. for the use of students,
Lond. 1828; 5. Aufl. von Richard Quain u. Will. Sharpey; 6. Aufl. von
Sharpey u. Ellis 1856; deutsch von K. E. E. Hoff mann, Erlangen 1871,
2. Aufl. 1877—81.
***) Stud. in den med. Schulen von Windmill Str. u. Aldersgate-Street, war seit
1830 Prosektor bei Ch. Bell, nach dessen Resignierung- 1832 selbst Prof. d. Anat.,
übernahm 1834 die Chirurgie am North Lond. Hosp., dem jetzigen Univ. Coli. Hosp.
'**'') The anat. of the arteries of the hum. b. an its applications
to pathol. and operat. surgery. London 1844, m. Atlas. — Ausgabe der Anat.
von Eich. Quain s. oben.
*'*) Assistent von Jones Quain am Univ. Coli., später Prosektor unter Rieh.
Quain, wurde 1840 Lehrer der Anat. u. Physiologie am Middlesex Hosp.
*■) Ursprünglich Prof. d. Anat. in Edinburg, 1836 — 74 Prof. d. Anat. u. Physio-
logie als Nachf. von Jones Quain.
^*) Demonstrations of anat., 8. Aufl., Lond. 1879. — lllustrations
of dissections, mit Ford (G. H.), 2 Bde., 58 Taf., Lond. 1867; New York
1882. — Die Ausg. der Anatomie von Quain durch Sharpey u. Ellis s. oben.
'^^) D. Schichtung des Glaskörpers beschrieb Brücke 1813, Bowman widerlegte
sie 1849. — On the minute struct. and movem. of volunt. muscle,
Phil. Trans. 1840, Addit. note 1841. — On the struct. and use of the
Malpigh. bodies etc., ib. 1842. — The physiologic. anat. and physio-
logy of man. Mit Todd, 2 Bde., Lond. 1849.
*°") Sohn des Chirurgen John Thomson, studierte in Edinb. u. hielt hier 1831
bis 181-^6 mit Sharpey Lehrkurse d. Anat. u. Physiol., wurde 1839 Prof. d. Anat. am
Marishai Coli. u. an d. Univ. Aberdeen, 1841 Lehrer d. Anat. an d. Extra-mural
School in Edinb., 1848—77 an d. Univ. Glasg.
'»*"') On the develop. of the heart and bloodvessels. Diss. 1830,
the vasc. syst., 1830/31. — On the early stages of developem. of the
hum. embryo, 1839.
Geschichte der Anatomie. 269
Dublin Cunningham (J. D.) am Trinity Coli, und Garson am
Coli, of Surgeons. in Cambridge Macalister. In Oxford hatte
Acland (Sir Henry Wentworth, * 1815) die naturwissenschaftlichen
Sammlungen des Christ Church Coli, mitbegründet. Sie wurden
später mit dem Museum der Universität vereinigt, und von Thomsen
(A.) dem Studium zugängig gemacht. —
Literaturnachtrag. * Fidler (Thomas), The Sistory of fhe Universiiy
of Cambridge, froin the conqiiest to the ycar 1684. Edid. by P rieh et t (Manna-
duke) and Wright (Thomas), W. illtistr. notes. Cambridge, London 1840, 8^,
327 pag.
Deutschland.
Während der ersten vier Jahrhunderte des Bestandes von Uni-
versitäten in Deutschland sind hier 42 Hochschulen eröffnet worden.^)
Wenn man bedenkt, welch ein Zuwachs an geistigen Kräften dadurch
ermöglicht war, und den geringen Nutzen erwägt, der daraus in der
ersten Zeit für die Anatomie erwachsen ist, so muss man in dieser
Beziehung den damaligen Zustand Deutschlands im Vergleiche mit
demjenigen anderer Kulturländer als geradezu trostlos bezeichnen.
Nicht als ob die Anatomie hier keinen Eingang gefunden hätte. Ist
doch deren praktische Ausübung sogar für Städte bezeugt, die keine
Universitäten besassen, sondern nur Medizinalkollegien, wie z. B. für
Ulm, wo seit dem Ende des 16. Jahrhunderts einzelne Aerzte wie
Bloss (Sebastian, * 1559 4. Nov., f 1627 März) und seine Nachfolger
gelegentlich eine Leiche sezieren und einen erklärenden Vortrag
halten,-) für Zürich, wo sich 1686 ein ,.anatomisches Kollegium"
gebildet hatte, für Frankfurt a. M., wo ich i. J. 1740 staatlicher-
seits eine Anatomiekammer gemietet wurde, nachdem einzelne Aerzte
dort anatomische Demonstrationen gehalten hatten (die Sencken-
bergische Anatomie wurde 1763 errichtet; auch diese war eine Privat-
stiftung), dann für Rudolstadt, wo unter dem Schutze des Fürsten
von Schwarzburg i. J. 1751 eine anat. Schaubühne eröffnet wurde, in
welcher Reimann (J. Christof) die ersten Zergliederungen vor-
nahm.-^) Doch haben derartige, oft mehr der Neugier als dem Wissens-
drang entsprechende Veranstaltungen zumeist nur örtliche Bedeutung.
Für die Gesamtheit, für den Fortschritt der Wissenschaft sind sie
belanglos. Allerdings ist nicht zu vergessen, dass eine grosse Schuld
die ehemalige Organisation der Universitäten, besonders der kleineren,
trägt. So besass die Universität in Greifs wald bis 1559 nur einen
Professor der Medizin, dann zwei, seit 1790 drei, 1806—16 aber
wieder nur einen.
') Im 14. Jahrhundert zu Pra^, Wien, Heidelberg, Köln, Erfurt;
im 15. Jahrh. zu Leipzig, Rostock, Greifswald, Freiburg i. B., Basel,
Trier, Ingolstadt, Mainz, Tübingen; im 16. Jahrh. zu Wittenberg,
Frankfurt a. 0, Marburg, Königsberg, Dillingen, Jena, Helm-
stedt, Olmütz, Altdorf, Würzburg, Herborn, Graz; im 17. Jahrh. zu
Giessen, Paderborn, Strassburg, Rinteln, Salzburg, Osnabrück,
Dorpat, Bamberg, Duisburg, Kiel, Innsbruck, Halle; im 18. Jahrh. zu
Breslau, Fulda, Erlangen, Göttingen.
^) *Schön (Th.). Gesch. des Medizinal wesens der Württemberg. Städte. D.
Medizinalwesen der Reichsstadt Ulm. Medizin. Korrbl. der Württemberg, ärztlichen
Landes vereine. Bd. 67, Nr. 32 v. 14. Aug. 1897. (Bis 1780 gehender Bericht.)
») Albr. V. HaUer, Tageb. III, 250.
270 Robert Ritter vou Töply.
Greifswald. Universität errichtet 1456. Den ersten praktischen
Unterricht in der Anatomie erteilte Seidel (.Jacob, Prof. 1581 — 1615).
Er beschränkte sich auf Tierzergliederungen. Die erste Sektion einer
menschlichen Leiche machte Sturm (Joh.) vom 14. — 24. Jan. 1624 im
juristischen Auditorium an einem gehenkten Dieb, mehrere Sektionen mensch-
licher Leichen Evert (Joh. Eberhard, Prof. 1617—30), im 18. Jahr-
hundert Westphal (Andreas, Prof. extr. seit 1748, lebte noch 1777),
Rehfeld (Carl Friedr., f 1794), Waigel (Christ. Ehrenfried, seit 1773
Dir. d. bot. Gartens u. d. anat. Museums, 1805 quiesziert). Eine neue
Aera begann mit Rudolphi (* 1771, -f 1832, zum Prof. d. Anat. ge-
wählt 1807, bestätigt 1808, nach Berlin berufen 1810). Sein Prosektor
Rosenthal (1810 nach Berlin berufen, um an der Klinik von Beil die
anatomischen Untersuchungen zu leiten, 1820 — 29 Prof. d. Anat. u. Physiol.
in Greifswald) veranlasste 1822 den Ankauf einer anatomischen Sammlung
in Braunschweig als Grundstock des damaligen Museums. Der nächste
Prosektor Barkow (Hans Karl Leop., * 1798, f 1873) wurde 1826 nach
Breslau berufen. Bis in die Fünfzigerjahre bestand die medizinische Fakultät
nur aus 4 Professoren, darunter einer für Anat. u. Physiol. Das anatomische
Institut befand sich bis in jene Zeit im oberen Stockwerk des Universitäts-
gebäudes.
Braunschweig. Die für Greifswald angeschaffte Sammlung dürfte
auf die Thätigkeit der braunschweiger Professoren Bollin (seit 1750 am
anat. Theater angestellt), Hausmann (Joh. Stephan, * 1754, j 1784
30. Okt., Prof. d. Anat. u. Chir.), Hildebrandt (Georg Friedr., * 1764
5. Juni, f 1816 23. März, 1786—95 Prof. anat. am Colleg. med. in
Braunschweig, dann Prof. med. et ehem. in Erlangen, Verf. des bekannten
Lehrb. d. Anat. 1789 — 92 u. f.) zurückzuführen sein, besonders aber auf
die des langjährigen Prosektors der drei genannten, Schoenijahn (Jul.
Aug.), dieser hatte seit 1762 eine Sammlung von 351 Nummern zustande
gebracht. Vgl. *Schoenijahn (Jul. Aug.), Gesammeltes Museum ana-
tomicum, Braunschwg. 1792, 8", 44 S.
In Basel hatte die medizinische Fakultät 1460—1529 nur einen
Prof. Ordinarius, später zwei, erst seit 1589 einen dritten für die
Anat. und Botanik (dieser Zustand erhielt sich bis in das 19. Jahrb.),
wobei noch, wie auch anderswo, die Uebung bestand, dass ein Vor-
rücken von der anat. Professur in die theoretische und von da in die
praktische stattfand, sodass einzelne Vertreter das Fach nur 2 — 3 Jahre,
ja sogar nur 1 Jahr innegehabt haben und die Anat. vielfach nur als
Uebergangsstufe zu einer einträglicheren Thätigkeit galt. Dazu kommt
der Umstand, dass, wie hier seit 1718, die Lehrkanzeln durch das
Los vergeben, und so oft tüchtigere Kräfte durch Schicksalsfügung
minderwertigen oder anderswohin besser passenden vorgezogen
wurden. So geschah es, dass z. B. hier der berühmte Mathematiker
Bernoulli (Daniel) von 1733—51 die Lehrkanzel der Anat. ver-
stizen musste.*) Ein anderer misslicher Umstand war der,
dass — z. B. in Oesterreich während des 19. Jahrhunderts bis zur
Revolution von 1848 — die Lehrämter infolge abgelegter schriftlicher
*) Vgl. *His (Wilh.). Zur Gesch. des anat. Unterrichts in Basel. S. A. aus
Gedenkschr. zur Eröffnung des Vesalianums 28. Mai 1885, Leipz. 1885, 8 ", 48 S. m.
2T.; *Miescher (Friedr.) D. med. Fakult. in Basel u. ihr Aufschwung unter
F. Plater u. C. Bauhin, Basel 1860, 4 <>, 53 S.
I
Geschichte der Anatomie. 271
und mündlicher Konkurse verliehen wurden, wodurch dem Protektions-
wesen ein wesentlicher Vorschub geleistet war, schliesslich der. dass
die Anatomie bis tief in das 19. Jahrhundert an den meisten Uni-
versitäten nicht als selbständiges Lehrfach gewürdigt, sondern zu-
meist mit der Botanik oder Chirurgie, oft auch mit anderen Fächern
zusammengeworfen wurde. So lehrte Wrisberg in Göttingen
(1764 — 1808) Geburtshilfe, Anatomie, Chirurgie, Augenheilkunde, ge-
richtliche Medizin, zur selben Zeit C. C. Siebold in Würzburg
(1769—1807) Anatomie, Chirurgie, Geburtshilfe. Wenn dennoch so-
wol Wrisberg als Siebold Tüchtiges geleistet haben, so ist dies
ihrer ausnahmsweisen Veranlagung zuzuschreiben, keineswegs aber
der ungebührlichen Oekonomie, durch die ihre Kräfte in Anspruch
genommen waren. Uebrigens ist es bekannt, dass Siebolds wichtigste
Leistungen keineswegs auf dem Gebiete der Anatomie und Chirurgie,
sondern auf dem der Geburtshilfe und ihrer Geschichte gelegen sind.
Eine eingehendere kulturgeschichtlich vorgehende Darstellung des
Ganges der Anatomie müsste diese und andere Verhältnisse wie z. B.
die Stellung der Behörden gegenüber den anatomischen Anstalten,
die Leichenbeschaffung u. s. w. mit in Betracht ziehen, um die Ent-
wicklung der Lehre und Forschung aus dem Einflüsse der Grund-
bedingungen abzuleiten. Dem Widerstand der Behörden gegen die
Errichtung und Ausgestaltung anatomischer Anstalten könnte man
allein ein längeres Kapitel widmen.
Bei Berücksichtigung der erwähnten Verhältnisse wird es ver-
ständlich, warum die neuere Anatomie in Deutschland, obzwar sie in
B a s e 1 •^) unmittelbar an Vesals Auftreten anschliesst , lange hin-
durch nur geringe Fortschritte gemacht hat. Vesal war anfangs
1543 in Basel eingetroffen,^) wo seit 1531 keine Anatomie abgehalten
worden war, hatte dort am 12. Mai eine Verbrecherleiche seziert und
das heute noch erhaltene Skelet mit Hilfe des Chirurgen Jeckel-
mann (Franz) verarbeitet. Im selben Jahr war hier seine Fabrica
und Epitome erschienen und letztere sofort von T o r e r (Alban ) über-
setzt worden.') Jeckelmann hat bald nach Vesals Abreise unter
romantischen Umständen im Pfarrhaus zu Rieken eine Leichenöffnung
vorgenommen. ^) Die nächste vollzog aber im April 1559 der 23 jährige
aus Montpellier zurückgekehrte Schwiegersohn Jeckelmanns Plater
(Felix, * 1536, f 1614). Der Wert seines Wirkens liegt nicht in der
Verfassung seines Handbuchs der Anat., denn dieses ist nur eine
tabellarische Uebersicht mit nach Vesal kopierten wertlosen Ab-
bildungen,®) sondern darin, dass er die Errichtung einer kombinierten
^) Jung (Karl Gust.), üeber das Verhältnis der Anat. zur med. Wissensch. u.
üb. d. Leistungen der Anatomen an d. Baseler Hochschule. Rektoratrede 1828. —
*Miescher (Friedr.) D. med. Facult. in Basel u. ihr Aufschwung unter F. Plater
u. C. Bauhin, Basel 1860, 4», 53 S. — *His (Wilh.), Zur Gesch. des anat. Unter-
richts in Basel. S. A. aus Gedenkschr. zur Eröffnung des Vesalianums, 28. Mai 1885,
Leipz. 1885, 8 <>, 48 S. m. 2 T. — *Eoth (M.), Andreas Vesalius Bmxellensis, m.
30 Taf., Berl. 1892, 8 », 500 S.
*) His a. a. 0. S. 3 Anm. sagt 1542; richtig gestellt durch Roth a. a. 0. S. 128
Anm. 1.
') Von des menschen cörpers Anatomey, ein kurtzer, aber vast
nützer ausszug ..., durch D. Albamim Torinum verdolmetscht (Basel 1543).
*) Miescher a. a. 0. S. 46 Anm. 2.
®) *De corporis h. structura e t u s u Felicis Plateri Bas. medici antecessoris
libri III. Tabulis methodice explicati etc., Bas. 1583, fol.
272 Robert Ritter von Töply.
Lehrkanzel für Anat. und Botanik erwirkte, welche mit ßauhin
(Caspar, * 1560, f 1624 5. Dez.)^"'') besetzt und in dem gleichzeitig
errichteten anat. Theater i. J, 1589 den 15. Oktob. feierlich eröffnet
wurde. Die nach ihm benannte, von ihm 1579 gefundene und 1586
zuerst öffentlich erwähnte sog. Grimmdarmklappe ist zwar eine Ent-
deckung des Guill. Rondelet in Montpellier, nachmals beschrieben
von dessen Schüler Nie. Tulp in Amsterdam, dafür gebührt aber dem
Bauhin ebenso wie dem Jacques Dubois ein besonderes Verdienst um
die Aufstellung der anat. Nomenklatur. So hatte Vesal die Zungen-
beinmuskeln nur als 1. bis 4. o. 5. Paar, Bauhin jedoch sie als mm.
sternohyoeidei, genioliyoeidei, styloceratoeidei, coracohyoeidei, mylohyoei-
dei aufgeführt.^"'') Die kombinierte Professur der Anat. u. Botanik er-
hielt sich hier bis 1824, ohne dass, nachdem Bauhin sie aufgegeben,
durch 200 Jahre Wesentliches geleistet worden wäre. Das verfallene
Studium hob erst wieder der vielseitige Jung (Car Gust, * 1793,
f 1864 11. Juni)^''') durch Schaffung einer anat. Anstalt und einer
Präparatensammlung, Abschaffung des chronischen Leichenmangels,
Anstellung eines Prosektors bei gleichzeitiger Abhaltung von Vor-
lesungen über Chirurgie, Augenheilkunde, Ohrenkrankheiten, Geburts-
hilfe, gerichtl. Medizin, Geschichte der Medizin, Lehre von
den Vergiftungen, vergl. Anatomie. ^^^) Neben ihm lehrten die Ana-
tomie Miescher-His (Joh. Friedr., * 1811 2. März) ^"2) und Ecker
(Alexand., * 1816 10. Juli, f 1887 20. Mai).^=^) Nach einem 20 jährigen
Zeitraum, während dessen die Professur der Anat. mit der der Phy-
siologie verbunden war und von Bruch (Carl; in Basel 1851—55,
dann nach Giessen berufen), Meissner (Georg; in Basel 1855—57,
dann nach Göttingen berufen) später von His (Wilhelm; in Basel
1857 — 72, dann nach Leipzig berufen), vertreten ward, wurde end-
lich i. J. 1872 die Anat. selbständig gestellt. Nun erst konnte
sie sich frei entfalten. Dies geschah durch Hoffmann (Karl
Ernst Emil, * 1827 27. April, f 1877 15. Dez., Prof. in Basel 1872
J"*) Hatte in Montpellier studiert, Prof. d. Anat. u. Bot. 1589—1614, dann
Prof. praxeos.
»"") Hauptwerk: Theatrum anat, Ed. 1, Francof. 1605, 4»; *Ed. 2 opera
sumptibusque Jo. Theod. De Ery 1621, i^, 664 p. u. Index (ohne Abb.). — *yivae
imagines partium corporis hum. ... ex theatro anat. Caspari Bauhini ...
desumptae. Opera sumptibusque Matth. Meriani 1640, 4 ", 265 S. m. Kpf., nebst
12 Bl. Appendix m. Kpf. — Von geringerer Bedeutung: Anatomes lib. I, externar.
h. c. appellationem etc. cont., Bas. 1588; 1591. — De corp. hum. fabrica
ib. 4, Bas. 1590, 8°. — Institu tiones anat., Bas. 1592; Lugd. 1597; Bas.
1609, 8«.
11") 1822 als Prof. d. Anat., Chir., Geburtsh. berufen, 1850 zur klin. Professur
übergetreten.
1"') Diss. sist. evolutionem c. h., Heidelb. 1816. — Animadversiones
quaedam de ossib. generatira et in specie de ossib. raphogemi-
nantib. quae vulgo ossa suturar. dicuntur., Basel, 4°, c. 4 tab. — Ueb.
d. seitl. Erhabenheit in dem Lateral-Ventrikel des menschl. Ge-
hirnes, Bas. 1844, m. 1 Taf. — Ueb. d. Gewölbe in d. menschl. Gehirne,
Bas. 1845, 4 ", m. 3 Taf. — D. anat. Anstalt an d. Hochschule Basel, in
Wissenschaftl. Zeitschr. herausg. von den Lehrern an d. Baseler Hochsch., Bd. III
S. 2, Basel 1825. — Rektoratsrede s. oben.
12) Schüler von Joh. Müller, nach Basel als Prof. d. Physiol. berufen, hier 1837
bis 1844, dann in Bern, 1850—71 wieder in Basel als Prof. d. path. Anat. und all-
gemeinen Pathol.
") Prof. d. Anat. u. Physiol. in Basel 1845—49, in Freiburg 1850—87.
Geschichte der Anatomie. 273
bis 77)^*) und schliesslich dui'ch Ko 11 mann (Julius, * 1834
24. Febr.).^^)
Professoren der Anatomie in Basel. 1. Bauhin, Caspar,
1589—1614; 2. Plater, Thomas, 1614—25; i«) 3. Brunn, Joh. Jac. de,
1625—29: 4. Bauhin, Joh. Casp., 1629—60; 5. Bauhin, Hieronym.,
1660—65; 6. Burckhardt. Joh. Bud., 1665—67; 7. Glaser, Joh.
Heinr., 1667 — 75; 8. ßot, Jacob, 1675 — 85; 9. Eglinger, Nicolaus,
1685—87; 10. Härder, Joh. Jac, 1687—1703; 11. Zwinger, Theod.,
1703 — 11; 12. Stähelin, Joh. Heinr., 1711—21; 13. Zwinger, ßud.,
1721—24; 14. Mieg, Joh. Eud. ; 15. König, Emmanuel, 1732—33;
16. BernouUi, Daniel, 1733 — 51; 17. Zwinger, Friedr., 1751—54;
18. Stähelin, Joh. Bud., 1754—76; 19. Lachenal, Werner de, 1776—
98; 20. Hagenbach, Carl Friedr., 1798—1808; 21. Burckhardt,
Joh. Eud., 1808—24; 22. Jung, Carl Gust., 1822—50; 23. Miescher,
Friedrich, 1837—44; 24. Ecker, Alexander, 1845—49: 25. Bruch,
Carl, 1851 — 55; 26. Meissner, Georg, 1855 — 57; 27. His, "Wilhelm,
1857—72; 28. Hoffmann, C. E. E., 1872—77; 29. Kollmann, Julius,
1878. (Näheres bei His a. a. 0. S. 32.)
Weitaus ungünstiger gestalteten sich schon die Verhältnisse in dem
benachbarten Zürich. Dort hat über Beschluss der Chirurgengesellschaft
„zum schwarzen Garten" deren Mitglied M uralt (Johann von, * 1645
18. Febr., j 173> 12. Jan., Chir. et Med. Dr., promov. in Basel) erst im
Jahre 1686 (7. Jan. — 25. Novbr.) einen Cyklus von 43 Vorträgen über
die Anatomie gehalten. ^ ') Ein anatomisches Theater wurde erst 1 742 von
Ab egg (H. Jak.) eröffnet und 1754 in eine Staatsanstalt umgewandelt.
Unter den hier wirkenden Anatomen seien genannt Burkhard sen. (Joh.
Eud., * 1721, t 1784, Demonstrator u. Prosektor bis 1781), Burkhard
jun. (Joh. Heinr., * 1752, f 1799). Nachdem 1782, 28. Apr. eine
neue med. Lehranstalt eröffnet und 1804 zur Krankenanstalt erhoben worden
war, trat die Gesellschaft zum Schwarzen Garten i. J. 1816 von ihrer Be-
einflussimg der Anatomie daselbst zurück. Unter den Anatomen dieser
Anstalt, welche 1833 in die jetzige Hochschule überging, verdient einer
'*) Grundriss d. Anat. d. Menschen, Leipz. 1865. — Die Lage derEin-
feweide des Menschen u. s. w., Leipz. 1863, m. 15 Taf. ; 2. Aufl. Erlangen
873 u. d. T. Die Körperhöhlen des Menschen u. ihr Inhalt. — Quain-
Hoffmann, Lehrb. d. Anat. d. Menschen, Erl. 1870—72; 2. Aufl. 1877—81.
•*) Schüler von Joh. Müller, Th. L. W. Bischoff, in Basel Prof. seit 1878, unter
welchem 1885, den 28. Mai, eine moderne Anstalt, das Vesalianum eröffnet wurde.
Atlas der allg. tier. Gewebelehre. Nach d. Natur photogr. von J. Albert,
Leipz. 1860. — Lehrb. d. Entwicklungsgesch. des Menschen, Jena 1898.
— Handsammlung f. d. Studierenden in den anat. Instituten, Jena
1895 (empfiehlt d. Einrichtung von Studiensälen; vgl. die einschlägige Schrift von
A. Rauber, Leipz. 1895). — Herstellung der Teichmannschen Injektions-
niassen. ib. 1895. — Mechanik des mensch 1. Körpers, Münch. 1874. —
•Plastische Anatomie f. Künstler u. Kunstfreunde, Leipzig 1886 (über-
trifft in der Auffassung, Illustration u. im Vortrag das ähnliche Werk von
E. Harless, bezw. dessen 2. Aufl. von R. Hartmann, Stuttg. 1876).
'") Stammbaum der Familie Plater bei Miescher a. a. 0. Vgl. auch
Fechter (A.), Thomas Platter u. Felix Platter. Zwei Autobiographien. Ein
Beitr. zur Sittengesch. des 16. Jahrb., 1840, dann *Düntzer (Heinr.), Thomas
Platters Leben, Stuttg., CoUekt. Spemann, 8", 192 S. — Verz. der Professoren der
Anat. in Basel bei His a. a. 0. S. 32.
*') Vademecum anat., Zürich 1677. — *Anat. Collegium gehalten
zu Zürich i. J. Chr., 1686, Nürnberg 1687, 8", 775 S., anat. Wortregister,
Statuten der Gesellsch., Portr., originelles Titelbl. — *Finsler (J.), Bemerkungen
a. d. Leben des Johannes v. Muralt, Zürich o. J., 4°, 24 S.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 18
274 Robert Ritter von Töply.
Erwähnung Hirzel (Leonhard, * 1799, f 1832) wegen der Untersuchungen
über die Verbindung des N. sympath. mit den Gehimnerven. In den ersten
Jahrzehnten der neuen Hochschule fand ein unausgesetzter Wechsel der
Anatomen statt. Es wirkten hier 1. Demme, Hermann, 1833 — 34;
2. Arnold, Fr., 1835—40; 3. Henle, Jak., 1840—44; 4. Engel,
Josef, 1844—49; 5. Ludwig, Karl Friedr. Wilh., 1849—55.18)
Ein weniger erfreuliches Bild wie Basel bietet bis zur Schliessung
der Universität am Ende des 18. Jahrhunderts das nicht allzuferne
Strassburg. Hier hatte das Aufblühen einer chirurgischen Schule
anfangs des 16. Jahrhunderts (Brunschwigk, Gersdorff) zur ersten
Leichenöffnung mit öffentlicher Demonstration geführt. 1536 war
ein Gymnasium errichtet und dieses 1566 in eine Akademie mit
philosophischen Promotionen umgewandelt worden. An beiden wurde
auch medizinischer Unterricht, der anatomische jedoch im 16. Jahrh.
soweit bekannt nur theoretisch gelehrt. Als Beleg wie er aufgefasst
worden sein dürfte, kann die Anatomie desRyff (Walter Hermenius)
vom J. 1541 dienen. Der deutsche Text ist oberflächlich, die zahl-
reichen Illustrationen sind Kopien.'^*') Anfangs des 17. Jahrhunderts
macht Salzmann (J. Rud., * 1574, f 1656 o. 1067 2. Dez.)^«'')
mehrere Dissektionen „publice in collegio" (1604, 05, 08, 09, 14).
An der 1621 gegründeten Universität bestanden ursprünglich nur
2 Ordinarii der Medizin (ein theor., ein prakt.). Sie sollten im Winter
„so sie Gelegenheit haben mögen" eine Anatomie halten. Erst nach
weiteren 30 Jahren wurde als dritte Professorstelle eine Lehrkanzel
der Anat. errichtet (inaug. 1625, 25. März). Im 17. Jahrh. ist hier
die Anat. meist mit der Botanik, im 18. (1708 — 94) fortwährend mit
der Chirurgie verknüpft. Begreiflicherweise hat die chirurgische
Thätigkeit der Lehrer das Interesse für die Anatomie als Wissen-
schaft stark beeinträchtigt, und so wurde zwar in Strassburg viel
praktische Anat. getrieben aber ohne literarische Früchte zu erzielen.
Das Museum erhielt erst 1671 (50 Jahre nach Gründung der Uni-
versität) ein weibliches, 1678 ein zweites Skelet. 1687 hielt Scheid
zum erstenmal „Encoenia s. Eleusinia" d. h. eine feierliche
16 Tage dauernde Demonstration an einer Leiche sowie an abge-
trennten Stücken von 4 anderen Leichen, überdies an Tierleichen
und wiederholte das Schauspiel alljährlich 2 mal. Der Eifer der
Studenten wurde infolgedessen so gross, dass sie einmal eine Leiche
mittels Nachschlüssels aus der Leichenkammer stahlen. Regelmässige 1
Sezierübungen für Studenten eröffnete aber erst S a 1 z m a n n (J.) '
1708. Auch Hess er sich einen Prosektor beistellen. Aber die Pro-
sektoren waren zünftig und munizipal, sie beuteten die Anat. aus.
**) *Meyer-Ahrens, Gesch. des medicin. Unterrichtes in Zürich von seinem
ersten Anfange bis zur Gründung der Hochschule, Locher-Balber, Kurze histor.
Skizze der med. Facult. der Zürcher. Hochschule seit ihrer Errichtung im J. 1833
bis Ende des Semesters 1859/60, Zürich 1860, zusammen 50 S., 4*». — Zwey Reden
üb. die Vorzüge der Zergliederungskunst ... von Casp. Hirzel etc.,
Zürich 1782 (besprochen in *Blumenbach, Med. Bibl., I, S. 416, 1783).
^®») ""Des aller fürtrefflichsten, hoechsten vnnd adlichsten g_e-
schoepffs aller Creaturen ... das ist, des menschen (oder dein
selbst) wahrhafftige beschreibung oder Anatomi (etc., 22 Zeilen) 1541,
73 Bl. fol.; vgl. Choulant, Gesch. d. an. Abb. S. 55, Wieger a. a. 0.
^»'') Dr. in Basel, um 1611/12 Prof. am Gymnasium u. Stadtphysikus, nachmals
erster Prof. an der Universität.
Geschichte der Anatomie. 275
Salzraanns Prosektor M ay (J. Cli.) hat sich auf diese Art ein Privat-
museum angelegt, welches 1736. 15. Mai auf 3500 livres tourn. taxiert
von der Stadt für die Fakultät gekauft, zur Grundlage des anat.
Museums wurde. Das Leichenmaterial mehrte sich in beträchtlicher
Weise (Winter 1725: 30, Winter 1760: 60 Leichen), aber wenn man
von der Eevision des N. accessorius durch Lobstein sen. i. J. 1760
absieht, nicht entsprechend ausgenützt. Nichtsdestoweniger hatte
die Strassburger Anatomie wegen der Gelegenheit zu arbeiten einen
guten Ruf, Göthe besuchte die Vorlesungen von Lobstein und die
Strassburger Schule hat eine ganz beträchtliche Zahl von Lehrkanzeln
in Deutschland versorgt. Salzmann (J.) hat aus der Menge seiner
Schüler allein 5 Professoren der Anat. geliefert.
Professoren der Anatomie in Strassburg von der Er-
richtung der Lehrkanzel bis zur Gründung der TJniversite
de France (1652 10. März bis 1808 7. März). 1. Sebiz fil. (Jo. Albert.,
Melchioris II, fil. * 1614, 7 85 8. Febr.), Anat. 1652—84, Bot. 1652—74
(Schüler: Brunn er, Job. Conr., Prof. anat. in Heidelb. 1687; Zwinger,
Theod., * 1658, Prof. anat. in Basel 1703—11). — 2. Scheidt (Jo.
Yalent., * 1651, f 1731), Anat., Chirurg. 1685— 90 (Schüler: Zwinger,
Jo. Rud., * 1692, Prof. anat. in BaseF 1721— 24). — 3. Sebiz nep,
(Melchior III. Alberti fil., * 1664 18. Febr., f 1'02 13. Nov.), Anat.,
Bot. 1690—1702. — 4. Henninger (Jo. Sigism., * 1667, f 1719
27. Sept.). — 5. Salzmann (Jo., * 1679, f 1738 4. Febr., Anat., Chir.
1708—34. — 6. Nicolai (H. A., Neffe des Sebiz, * 1701, f 33). Starb,
|nachdem er durch 8 Tage seine erste solenne Anat. abgehalten hatte.
(Schüler von Salzmann und Nicolai: Albrecht, Jo. Wilh., Prof. anat. in
[Göttingen 1734—36; Wein, J. Nie, * 1702, f 83, Prof anat. et chir.
[in Altdorf 1732—36; von Bergen, Karl Aug., * 1709, Prof. anat. et
Ibot. in Frankf. a. 0. 1738 — 44 als Nachfolger seines Vaters; Hub er,
Ijoh. Jac, Hallers Prosektor in Göttingen, lehrte hier Bot. und einzelne
iKapitel der Anat. 1736 — 42, dann Prof am Gymnasium in Cassel; Fabri-
|cius, Phil. Conr., * 1714, f 74, Prof. anat., physiol., pharm, in Helm-
gtädt 1748. Idea anat. pract., Wetzl. 1741, Methodus cadavera rite secandi.
id. 2 auct. 1774, deutsch von Schröder, Kopenh. 1776). — 7. Eisen-
lann (Georg Heinr., * 1693 18. Nov., 7 1768 20. Sept.), Enkel mütter-
icherseit des Sebiz. Anat., Chir. 1734 6. Okt. — 1756 (Schüler durch
irze Zeit: Sigwart, Georg Friedr., * 1711, ■{- 95, Prof. anat. et chir.
^in Tübingen 1753 als Nachfolger von Mauchard). — 8, Boeckler (Phil.
Heinr., * 1718 — 59, Schüler von Ferrein, Winslow, Lieutaud), Anat. et
Chir. 1756—59. — 9. Pfeffinger (Jo., * ?, 7 1782), Anat., Chir.
1759 — 68 8. Jun. (Schüler von Morand in Paris, von Eisenmann gedrückt,
durch Lobstein vom Lehrstuhl verdrängt). — 10. Lobstein (Jo. Frid. sen.,
* 1736 30. Mai, f 84 11. Okt., Schüler von Albinus), Anat., Chir. 1768—
82. Diss. de n. spinali ad par vagum accessor. 1760 m. Abb. u. Zusätzen
üb. Venenanomalien (Schüler: Meckel, Phil. Frid. Theod., * 1756, f 1803.
In Halle Prof. anat. et chir. 1779; Metzger, Jo. Daniel, * 1739 7. Febr.,
t 1805, Prof. med. in Königsb. i. Pr. 1777, las über Anat., Physiol.,
PathoL, Chir., ger. Med.). — 11. Roederer (Jo. Mich., * 1740, f 98),
zum Lehrstuhl der Anat. berufen 1783 23. Okt., wies das Anerbieten
zurück, hält dennoch seine Inauguralrede 1784 27. Jan., tauscht aber mit
Lauth. — 12. Lauth (Thomas, * 1758 29. Aug., f 1826 19. Sept.,
Schüler von Lobstein, Desault, Hunter, Adjunkt von Roederer), Demonstr.
18*
276 Robert Ritter von Töply.
d. Anat. 1784, Prof. anat. Chir. 1785, als Prof. d. Anat. an die J&cole de
santö übernommen 1794 21. Dez. Myologie et syndesraologie 1798, deutsch
von J. 8. Klupsch, Halle 1805, mit viel Litteraturnachweisen, *Hi8t. de
l'anat., Strassb, 1815, 4*^, 1 vol., reicht bis Bartholin 1671. Die ficole
de sante wurde 1802 in die Ec. speciale de med. umgewandelt und 1808
durch die medizinische Fakultät der neuerrichteten Universität ersetzt.
Daneben wurde 1856 die Ec. imp. du service de sante militaire organisiert,
aber erst 1864 errichtet. An der Universität wirkten: Lobstein (J.
Friedr., * 1777 8. Mai, f 1835 7. März), Chef des travaux anat. 1804,
Gründer des path.-anat. Museums, durch Cuvier der erste Prof. der path.
Anat. in Frankr. ; Ehrmann (Ch. H., * 1792, f 1878), Prosektor 1818,
Prof. der normalen u. pathol. Anat., Dir. d. anat. Museums bis 1862,
auch 10 Jahre hindurch Lehrer an der Hebammenschule; Lauth (Gustave,
* 1793 9. Mai, f 1817 13. Apr.), älterer Sohn des Thomas L., Prosektor;
Lauth (Ernest Alex., * 1803 14. März, f 37 März), Prof. d. Physiol.
1836. Manuel d'anat., Strassb. 1829; 2e ed. 1835, 7 pl. ; deutsch Stuttg.
1835, 36, 2 Bde. Mem. sur le testicule, Mem. de la Soc. d'hist. nat.,
Strassb., T. I, 1832. üdoge p. Ehrmann, seance publ. de la Fac. de med.
1837 m. Bibliogr.; Küss (Emile, * 1815 o. 16, f 1871 1. März), Schüler
von Alex. Lauth, Chef des trav. anat., dann Prof. d. Physiol. ; Michel
(Eugene, * 1819, f 83 30. Apr.), Chef des trav. anat., seit 1855 Prof.
de med. operat. ; Morel (Ch. Basile, * 1823, -f 84 18. Jan., Prosektor,
Chef des autopsies. 1867 12. Dez. Prof. d. norm. u. pathol. Anat.
Manuel d'histol. norm, et path. m. Zeichnungen von Villemin. Zog 1872
nach Nancy. — (Lobstein u. "Wieger a. a. 0. enthalten manche Unrichtig-
keiten. Sie sind in dieser Uebersicht richtig gestellt und die Daten be-
züglich der Lehrthätigkeit der älteren Anatomen nach Thunlichkeit in Ein-
klang gebracht. Eine urkundliche Revision wäre angezeigt. Ueber die
Anatomen der Kaiser Wilhelms-Universität s. im Folgenden.) ^^)
Im Norden Deutschlands, an der zu Kiel i. J. 1665 eröffneten
Universität, beginnt der medizinische Unterricht im selben Jahre mit
zwei Professoren (einer für praktische, der andere für theoret. Medizin).
Erst 1691 gesellte sich hinzu als Prof. der Anat. und Botanik Wald-
schmidt (Wilh. Huldericus, * 1669, f 1731 12. Jan.).-i) In der-
selben Eigenschaft wirkte Lischwitz (Joh. Christoph, * 1693
8. Febr., f 1743 26. Aug.),- ^) neben ihm eine kurze Zeit Burchardi
(Christoph Martin, * 1680 1. April, f 1744 14. Dez.).^^') Es tritt
dann ein bedenklicher öOjähriger Stillstand ein.^*) Am Ende des
18. Jahrhunderts vereinigt die Prof. der Chir. und Anat. Fischer
(Joh. Leonh., * 1760 19. Mai, f 1833 8. März),^») ebenso dessen Nach-
20) *Lobstein (Ed.), J. Fr. Lobstein sen., Heidelberg 1880, 94 S. (enthält auch
einen histor. Rückblick auf die med. Fakultät. — * Wieg er (Friedr.), Gesch d. Med.
u. ihrer Lehranstalten in Strassb. 1497—1872, Strassb., 173 S. M. Illustr. zur älteren
Gesch. d. anat. Abbildung.
") 1691 Dr. med. u. o. Prof. d. Anat. u. Bot., seit 1697 auch o. Prof. d.
Experimentalphysik in der philos. Fakult. Der hier 1695—1716 als erster Prof. der
Med. wirkende Schelhammer (Günther Christoph, * 1649 13. März, f 1716
11. Feh.) war seit 1689 Prof. d. Anat., Chir., Bot. in Jena gewesen.
22) Seit 1732 o. Prof. d. Anat. u. Bot.
2») 1708—16 a. 0. Prof. d. Anat. u. Pathol. in Kiel, dann o. Prof. in Rostock.
«*) Während deren nur Weber (Georg Heinr., * 1752 27. JiiU, f 1828 7. JuU;
in Kiel 1777 a. o. Prof. d. Medizin u. Prosektor, 1780 o. Prof. d. Med. u. Bot. u. s. w.)
2^) 1786 Prosektor in Leipz., 1789 Dr. med. u. a. o. Prof. das., 1794 o. Prof. d.
Geschichte der Anatomie. 277
folger Deckmann (Christian Gottlieb, * 1798 8. April, j 1837,
24. Feb.).-**) Erst 1837 wird die Anat. von der Chirurgie getrennt
und mit der Physiologie vereinigt. Sie findet so ihre Vertreter in
Behn (Wilh. Friedr. Georg, * 1808 25. Dez.. f 1878 14. Mai),^^) um
endlich 1867 auch von dem Ballast der Physiologie frei zu werden.
Nun erst entfaltet sie sich zu voller Blüte unter Kupffer (Karl,
* 1829 14. Nov., t 1902 im Dezember)-*) und Flemming (Walther,
* 1843 21. April).^^) Im J. 1885 gesellt sich ein eigener Vertreter
der Entwicklungsgeschichte hinzu. Graf von Spee (Ferdinand,
* 1855 5. April). =5"
Aehnliches wie in Basel, Zürich, Kiel, lässt sich auch an anderen
Orten verfolgen (s. z. Tl. im Nachfolgenden). Das Gesamturteil
lautet dahin: bis zum 18. Jahrhundert ist das Studium der Anatomie
in Deutschland unverhältnismässig tief darniedergelegen. Einzelne
Ausnahmen bilden die bei genauerem Zusehen allerdings nicht allzu
hoch anzuschlagenden Felix Plater d. Ae. und Bauhin (Caspar),
der bis zur kritischen Untersuchung Portals als Anatom vielfach
überschätzte Alberti (Salomon, * 1540 zu Naumburg, nicht zu
Nürnberg, j 1600 28. März),^^'') der in seinem unscheinbaren, mit
gräulichen Holzschnittkopien nach Vesal ausstaffierten Handbüchlein
die Venenklappen, sowie die sog. Wormschen Knochen erwähnt, auch
eine Sonderabhandlung über den Thränenapparat verfasst hat,^^^^)
der Jenenser Anatom Eollfink (Werner, Guernerus Eolfincius,
* 1599 15. Nov., .t 1673 6. Mai),=^-*) Begründer eines anat. Theaters
Chir. u. Anat. in Kiel. 1802 Archiater u. Mitdirektor der akad. Krankenanst. i. d.
Prüne, 1810 Etatsrat, Neujahr 1832 emer.
>"*) 1829 a. 0. Prof. d. Anat. u. Chir., auch Prosektor, 1833 o. Prof. u. Direktor
des Friedrichshosp.
*^) 1837 a. 0. Prof. d. Anat. u. Physiol. u. Direktor des zoolog. Museums,
1848—67 0. Prof.
2») Schüler von Bidder, 1867 17. Sept. o. Prof. d. Anat. in Kiel, Ostern 1878
Prof. in Königsberg, 1880—1902 Prof. in München; s. im Folgenden.
2^) Schüler von F. E. Schulze, W. Henke, W. Kühne, C. Semper, Assistent der
drei letzteren 1868—72, 1873 erster Prosektor bei Henke u. a. o. Prof. in Prag, seit
1876 5. Feb. o. Prof. d. Anat. in Kiel, s. im Folgenden.
*") Schüler von Hensen u. Flemming, 1885 Privatdoz. f. Embryologie u. physiol.
Anat., seit 1887 etatsmässiger Prosektor am anat. Instit. zu Kiel, 1892 Prof. e. o.
das., 1898 etatsmässig als solcher. Schriftenverz. in Pageis Lex. S. 1627. — Vgl.
*Volbehr (Friedr.), Professoren u. Dozenten der Christian- Albrechts-Universität zu
Kiel 1665—1887. Beil. zur Chronik der Univers. Kiel 1886/87, Kiel 1887. 8 «, 102 S.
— Vom selben Verf.: Beiträge zur Gesch. der Chr.-Albr.-Univ. zu K. : Die drei Uni-
versitätsgebäude von 1665, 1768, 1876, die Frequenz der Univers, von 1665—1876,
m. 4 lithogr. Abb., Kiel 1876; die Einweihungsfeier des neuen Univers.-Gebäudes
zu K., 24.-26. Okt. 1876, m. 2 lithogr. Abb., Kiel 1876 ; Graph. Darstellungen nebst
Erläuterungen: 1. der Frequenz der Chr.-Albr -Uuivers. von 1800—83, 2. der Imma-
trikulationen von 1665—1883. 3. der Frequenz der med. Fakult. von 1863—85,
4. der Freq. der philos. Fakult! von 1863—86 in „Chronik der Universität" f. 188283
bis 1885/86.
»'») Seit 1570 in Wittenberg, hier 1573—92 Prof., anfänglich der Physik, später
auch der Med., dann kurfürstl. Leibarzt in Dresden.
'"•) Historia plerarumque partium hu m. corporis., in usumtyron.,
Viteb. 1,583, 8°; *1585, S", 121 pag. u. 1 BL; 1601, 8°; 1602, 8»; 1630, 8°. — De
lacrymis, Viteb. 1581, 4" (auch bei Haller, Diss. anat. IV, 57 sq.).
'*•) Mütterlicherseits Neffe von Schelhammer, stud. in Wittenberg u. Leyden,
bereiste England, Frankreich, Italien, dozierte die Anat. in Venedig, promov. 1625
in Padua, lehnte 1628 eine Berufung nach Padua ab, erhielt den Lehrstuhl der
Anat. in Wittenberg, wurde 1629 Prof. d. Anat., Chir., Bot. in Jena, hier überdies
1641 Prof. d. Chemie. Vgl. * Witten, Mem. med. 1676, pag. 161, seq.
278 Robert Ritter von Töply.
in Jena, wiederholt an den Weimar. Hof beschieden, um dort eine
festliche Leichenzergliederung vorzunehmen (vgl. die ähnlichen Be-
friedigungen höfischer Schaulust in Rudolstadt, Kopenhagen, Schwe-
den u. s. w.), unter dem gemeinen Volk aber berüchtigt (rolfinken =
Leichendiebstahl zu anat. Zwecken ; vgl. Resurrektionismus unter Knox
in England),^-'') Rollfinks Vetter Schelhammer d, Ae. (Christoph,
* 1620 15. April, f 1652 21. Jan.),"=') dessen Sohn Schelhammer
d. J. (Günther Christoph, * 1649 13. März, f 1716 11. Feb.),«^) Vater
und Sohn gleich berühmt, jedoch ohne besonderen Erfolg für die
anat. Wissenschaft, die Praktiker Schneider (Conrad Victor, * 1614,
•f 1680)^**) Entdecker der „Schneiderschen Membran" und Vernichter
der Galenschen Lehre vom Herabfliessen (Katarrh) des Schleims
aus dem Gehirn, =^^^) Wepfer (Joh. Jac, * 1620 23. Dez., f 1695
28. Jan.),'^**) ein genauer Kenner des Karotidenbereichs und der Ver-
ästelung der Hirnhautarterien, Brunner (Joh. Konr. Brunn von
Hammerstein, * 1653 16. Jan., f 1727 2. Okt.),^'^) Entdecker der
nach ihm benannten Drüsen im Duodenum des Menschen und des
Hundes, demonstriert durch Kochen des Darms, bezw. durch üeber-
giessen mit kochendem Wasser, •^'^) Peyer (Joh. Conrad, * 1653
26. Dez., t 1712 29. Feb.),=*«*) Entdecker der nach ihm benannten
Dünndarmfollikel,^^'') Hof mann d. Ae. (Moritz, * 1621 20. Sept.,
t 1698 22. April), "^) Entdecker des Ductus pancreaticus beim Trut-
hahn (1641, doch hielt er ihn, wie auch später Wirsung denselben
Gang noch beim Menschen, für ein vom Darm in das Pankreas ein-
tretendes Chylusgefäss), dessen Sohn Hof man nd. J. (Johann Moritz,
* 1653 6. Okt., t 1727 31. Okt.),^«) Wirsung (Georg, * ?, f 1643
22. Aug. meuchlings erschossen; Veslings Prosektor in Padua), Ent-
32b') *i)iggej.tatione8 anat. . . sex libris compreh. . . ad circula-
tionem accomodatae, Norib. 1656, 4**, 1303 pag.! (I. de nobilitate, dignitate,
addiscendi anatomicam artem modo, IL de ossib., III. de musculis, IV. de nervis,
V. de venis, VI. de arteriis). — Diss. de Hepate, Jenae 1653, 4°. — *Diss. de
corde ... ad circulat. accommod., Jenae 1654, 4", 100 p.
*") Stud. unter Rollfink, dann im Ausland, prom. 1643 in Basel, seit 1643 Prof.
d. Anat. u. Chir. in Jena.
'*) 5 Jahre auf wissenschaftl. Reisen im Auslande, 1679 Prof. d. Physiol. u.
1680 der Pathol. u. Bot. in Helmstädt, 1689 Prof. d. Anat., Chir., Bot. in Jena, seit
1695 erster Prof. d. Med. in Kiel.
'"^*) Seit 1639 Prof. in Wittenb., später auch Leibarzt des Kurfürsten v. Sachsen.
3»") De catarrhis libri IV, Viteb. 1660—64, 4 ". ~ VgL Marx in Abh. der
Götting. Societ. d. Wissensch. 1874, Bd. 19, S. 1—49.
^''") Stadtphysikus in Schaffhausen, Leibarzt mehrerer Fürsten.
3-aj Wepfers Schwiegersohn, nur 1687 o. Prof. in Heidelb., dann Leibarzt des
Kurfürsten v. d. Pfalz.
*'*') De glandulis in duodeno intestino detectis, Heidelb. 1687, 4**;
Schwabach 1688, 4"; Francof. 1715, 4°.
^*') Stud. in Basel u. Paris, hier unter Duverney, war in Schaffhausen Arzt,
Prof. der Rhetorik, Logik, Physik.
*"'') Exercit. anat. med. de glandulis intestinor., Schaffhaus. 1677;
auch in Hanget Biblioth. u. in Parerga anat. et med. etc., Amst. 1683, Leyd. 1722.
"») Stud. 1641—44 in Padua. war Veslings Schüler, lebte 1644—98 in Altdorf,
hier 1648 Prof. extr. der Anat. u. Chir., u. 1649 o. Prof. d. Med., seit 1653 auch
der Bot.
*o) Stud. Med. in Altdorf, Frankf. a. 0., Padua, in Altdorf 1677 Prof. e. o. d.
Anat., 1681 Prof. o., seit ca. 1686 auch der Chemie u. Bot., gab 1709 d. Anat. auf,
behielt bis 1713 die Professur der Arzneimittellehre, d^nn Leibmedikus des Mark-
grafen V. Ansbach. *Dissertationes ... ad ... Joh. van Home . . .
Microcosmum . . . c. notis Joh. Swammerdamii etc., Altdorffi Noricor. 1685,
4 0, 328 pag.
Grescbichte der Anatomie. 279
decker des Duct. pancreat. beim Menschen,*^) Meibom d. J. (Heinrich,
* 1638 29. Juni, f 1700 26. März),"-^) Entdecker der ,.Meibomsclien
Drüsen"' der Augenlider.*-'')
Der erste deutsche Anatom, der die Anatomie gründlich und
ihrem ganzen Umfange nach bearbeitet hat. ist Heister (Lorenz,
'' 1683 19. Sept., f 1758 18. April).-'^^^) Sein anat. Kompendium, 1715
angefangen und 1717 vollendet, fusst in der Anlage auf dem damals
beim akademischen Unterricht gebräuchlichsten Buch des Verheyen,
doch ist der Stoff kritisch gesichtet, knapp aber übersichtlich an-
geordnet und mit Literaturnachweisen reichlichst versehen, so dass
es zum beliebtesten Handbuch während der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts und darüber hinaus geworden ist und das ältere,
ursprünglich sehr beliebte Syntagma des Yesling (1. Aufl. 1641) so-
wie die jüngere Anatomie von Verhejen (1. Aufl. 1698) verdrängt
hat.*^'') Der Heisterschen Zeit gehört Cassebohm (Joh. Friedr.,
* 1699 0. 1700, t 1743 7. Feb.)**^) an. Er vervollständigte die
Untersuchungen von Valsalva (1666—1723) über das Gehörorgan
durch die Darstellung der embryonalen Entwicklung und die Be-
schreibung des Spiralblatts der Schnecke und gab ein Handbuch
der praktischen Zergliederungskunst, welches als Anleitung für das
Studium im Präpariersaal betrachtet, weitaus eingehender ist, als der
ältere „Culter anatomicus" von Lyser (1. Aufl. 1653) oder die beinahe
gleichzeitige „Anthropotomie" von J.-J. Sue (1. Ed. 1750, * 2. Ed.
»1765).**'') In Tübingen wirkten zur selben Zeit Duvernoy (Johann,
* 1691, t 1759).*^^) Er hatte dort aber mit Armut, Missgeschick
nnd Leichenmangel derart zu kämpfen, dass er Hunde zum anat.
Studium verwenden musste und nach Eussland ging, wo sich ihm an
**) Figura ductus cujusd. cum multiplicibus suis ramulis noviter
in pancreate in diversis corporibus hum. observatis, Päd. 1642, fol.
min.; vgl. Choulant, Gesch. d. anat. Abb. S. 91, Graph. Incun. S. 147, Joh. Mor.
Hofmann, Idea machinae hum.. Altd. 1703. 4 °.
"•) Seit 1664 Prof. d. Med. zu Helmstädt, dazu seit 1678 Prof. der Gesch. u.
Dichtkunst.
*^^) De vasis palpebrar. uovis, Heimst. 1688, 4°.
*''") Schüler von Kuysch, Albinus, Boerhaave, 1709 auf Empfehlung von Euysch
Oberarzt im holländ. Heere, 1710 Prof. d. .\nat. u. Botanik zu Altdorf, 1720 Prof.
der Chir. in Helmstädt. hier noch dazu 1730 Prof. d. Bot.
*"^) Compeudium anatomicum. Altdorf 1717, 4°; 1719; 1727; 1732;
Venedig 17.30; Amsterd. 173(J; Yienn. 1761, 8"; mehrere deutsche, engl., franz.
Uebers., darunter deutsch nach der 5. lat. Aufl. dargest. von Clauder (Gabr. Fried.),
*Nürnb. 1756, 8», 410 S. m. Portr., 9 Tai, Verl. G. Christoph. Weber. Die sog.
♦Nürnberger Ausg. von 1770 ist keine Neuauflage, sondern die eben genannte, nur
ist die Fusszeile des Titels mittels Ueberklebung in „Verlegts Johann Paul Krausz,
1770" verändert. Die Vorrede Heisters ist eine ausführliche und scharfe Kritik der
Oberflächlichkeit Verhevens.
**") Schüler von Winslow in Paris, Prof. d. Anat. in Halle 1738, in Berlin 1741,
8. Novb.
"'') Diss. de aure interna, Francof. ad Yiadr. 1730, 4°. — *Tractatus
qnatuor anat. des aure hum. tribus figurar. tabulis illustr., Halae
Magd. 1734, 4**, 84 pag. ; *Tract. qu intus . . cui acced. tract. sextus . . c.
trib. figurar. tab. et indice . ., Hai. Magd. 1735, 4°, 64 pag. (die Titelangabe
bei Haeser, Lehrb., 3. Bearb. 2. Bd., 1881, S. 556 ist demgemäss richtig zu stellen).
- Methodus secandi musculos et meth. sec. viscera, Hai. 1740, 8**;
'leutsch 1740, 8". — Methodus secandi o. deutliche Anweisung zur anat.
Betrachtung u. Zergliederung, Berl. *1746, 8«, 664 S.; 1769, 8". — Kritische
.Sichtung der biogr. Daten bei •'Waldeyer (Wilh.), Zur Gesch. des anat. Unter-
richts in Berlin, Berl. 1899, 8 », 48 S.
**•) Hallers Lehrer der Anat. in Tübingen, in Petersburg 1725 — 41.
Robert Ritter von Töply.
der Akademie der Wissenschaften das reichste Material bot, sodass
er dort sonst ungewöhnliche Beobachtungen vornehmen konnte und
u. A. feststellte, dass die in Sibirien gefundenen Riesenknochen nicht
dem Elephanten, sondern dem Mammuth angehören. *'^^) Sein Schüler
Weit brecht (Josias, * 1702 2. Okt., f 1747 8. Feb.)*«») ist durch
eine grundlegende Bänderlehre verdient. Indes ist diese nicht auf
dem damals recht sterilen Boden Deutschlands, sondern auf dem
weitaus fruchtbareren der Petersburger Akademie der Wissenschaften
gewachsen. ^•"') Unter ähnlichen misslichen Verhältnissen wie Duver-
noy in Tübingen, litt in Göttingen Albrecht (Joh. Wilh., * 1703
17. Aug., f 1736 7. Jan.).*'*) Er hiess nur der Menschenschinder
und fand kaum Jemanden zur Bedienung.*"') Eine historische Be-
deutung hat Cos ch Witz (* 1679, f 1729 8. Mai),*«'') nicht so sehr
durch die Erbauung des ersten anat. Theaters in Halle, als durch
eine Reihe vorgeblicher, aber als unrichtig erwiesener Entdeckungen,
welche allerdings kein solches Aufsehen erregt haben, wie ehemals
die des Ludw. de Bils. Seine Klappen in den Ureteren waren ein-
fache Faltungen der Schleimhaut, sein hartnäckig verteidigter
Speichelgang nur Venen.***^) Gegen diese Entdeckung wendeten sich
Heister, Walther (Aug. Friedr.), Duvernoy (J. G.), schliesslich
des letzteren Schüler Hai 1er, und zwar dieser schon im März 1725
als 17 jähriger Student in öffentlicher Disputation. Das war das
erste Aufleuchten einer neuen Zeit.
Ha 11 er (Albrecht von, * 1708 8. Okt., f 1777 12. Dez.)*»*) hat
nicht nur die Universität in Göttingen (gegründet 1733) auf eine
ungeahnte Höhe gehoben, sondern seiner ganzen Zeit den Stempel
seiner Eigenart aufgeprägt. Sein anat. Hauptwerk vervollständigt
die von Winslow und Albinus gegebene Darstellung der Knochen
bezw. Muskeln durch die des Gefässsystems,*»'') seine Sammlung ana-
tomischer Disputationen vereinigt so ziemlich alle kleineren bis zum
**") Schriftenverz. bei Pekarsky (P.), Gesch. d. Akad. d. Wissensch. zu
Petersb., Tl. I, Petersb. 1870, pa^. 174—180.
*"*) Kam 1725 mit Duvernoy als „Student der Akad." nach Petersburg, war
Ajdunkt f. Anat., seit 1731 o. Akademiker f. Physiol.
*•'') Syndesmologia, Petersb. 1741; franz. Paris 1752; deutsch Strassb. i. E.
1779. — Vgl. Pekarsky a. a. 0. S. 468 u. f.
*■») 1730 a. 0. Prof. in Erfurt, 1734 o. Prof. d. Anat, Chir., Bot. in Göttingen,
Hallers Vorgänger das.
*''') Meiners, Gesch. u. Beschr. von Göttingen, Berl. 1801, S. 115.
*^") In Halle 1716 a. o. Prof. d. Med., 1718 in Bevorzugung gegen den tüchtigeren
Heinr. Bass o. Prof. d. Anat., las in d. Folge über Bot., Anat., Chir., Medizin, Er-
bauer des ersten anat. Theaters das.
"'') De valvulis in ureteribus repertis, Halle 1723, 4 <>. — Ductus
salivalis novus . . nuperrime detectus et publico adjectis figuris
aeneis exhibitus, Halle 1724, 4<*. — Continuatio observationum de
ductu saliv. novo, Halle 1729, 4". — Vgl. Förster (J. Gh.), üebersicht der
Gesch. der Univers, zu Halle in ihrem ersten Jahrb. 1794, 8".
*»») Weiht in Bern 1734 das neue anat. Theater ein, 1736—53 Prof. d. Anat.
u. Physiologie in Göttingen, wo er schon 1738 in einem neuerrichteten anat. Theater
seine Zergliederungen begann.
*»'') *Icones Anat., Gotting. 1756, fol., Fase. I Diaphragma, med. spin.,
vagina uteri, Omentum et cranii basis 1743; Fase. II Art. maxill., thyreoid. inf.,
coeliac., Uterus 1745; Fase. III Artt. capit., thorac, mesenterii, renum 1747;
Fase. IV Foramen ovale, nares int. et vasa pelvis 1749; Fase. V Artt. pedis 1752;
Fase. VI Artt. pect, et brachii 1753; Fase. VII Artt. cerebri, med. spin., oculi 1754;
Fase. Vni Artt. tot. corp. systema c. supplem. ad descr. vasor. 17oi3. — * Opera
minora, T. I— III, Laus. 1762—68, 4», m. Kpf.
Geschichte der Anatomie.
281
Jahre 1750 erschienenen Abhandlungen, bildet daher eine für den
Historiker höchst wertvolle Urkundensammlung','*'*'') die ,.Bibliotheca
anatomica" ist eine noch heute brauchbare Bibliographie und Ge-
schichte der Anatomie.^^^) Seine hauptsächlichsten Leistungen auf
dem Gebiete der Anatomie sind: Nachweis, dass der 1724 von Co sch-
witz (Georg Daniel, * 1679, f 1729) entdeckte angebliche Speichel-
gang eine Vene ist, *^^) Untersuchung der Respirationsmuskeln und zwar
eingehendere Beschreibung des Zwerchfells, Deutung der Zwischenrippen-
muskeln als Rippenheber allein, Nachweis der Uterusmuskulatur (1737),
Studium des genaueren Baues der männlichen Geschlechtsorgane (Rete,
Coni vasculosi, Vasculum aberrans Halleri), richtigere Schilderung der
Herzmuskulatui', als Lower sie gegeben, genaue Beschreibung des
Herzbeutels der Venenklappen, einzelner unvollkommen oder gar nicht
bekannter Arterien (Tripus Halleri ^= dreifache Verästelung der Art.
coeliaca, Aa. musculophrenicae von der Mammaria int.. Anastomosen
der Mamm. int. mit den Aa. intercostales), höherer Stand der Blase
über dem Schambein im Kindesalter, Beschreibung des Netzes und
des Zwerchfells, Nachweis der Tela cellulosa als Bindesubstanz und
Ueberzug der Glieder des Körpers.***) In Haller vereinigen sich
einerseits das AVissen und die Kenntnisse derjenigen, von denen er
unmittelbar beeinflusst wurde,-^*'^) andererseits bildet er den Kern-
punkt einer Schule, in der sich Exaktheit der Forschung und glück-
liche Darstellungsgabe harmonisch paaren. Dies kennzeichnet gleich
seine Nachfolger in Göttingen, »*"') Roederer (Joh. Georg, * 1726
*^) *Disputation. anat. selectar., vol. I— VII. Gotting. 1736—51. 4°.
*^) *Bibliotheca anat., Tiguri 1774. 77, 40. Tom. I ad aun. 1700, Tom. II
ab anno 1701—76.
**'') *Experimenta et dubia de ductu saliv. Coschwitziano, L. B.
1727 4 " Diss.
' *»«■)' *Albr. von Haller. Denkschrift auf den 12. Dec. 1877, Bern 1877. 4 <»,
118 S. Mit Verz. der Werke Hallers.
**■) Die Schule, aus der Haller hervorging, ist im Folgenden zusammengestellt :
Van Hörne
1621—1670
Leyden
Du Verney
1648 - 1730
Paris
Euysch
1638^1731
Amsterdam
W i n s 1 0 w
1669—1760
Paris
Du vernoy
1601—1759
Tübingen
A 1 b i n u s
1697-1770
Leyden
Douglas
1675—1742
London
Haller
1708 -1777
Göttingen.
*"»') Sein Vorgänger daselbst, AI brecht (Joh. Wilh., * 1703 17. Aug.,
1736
<. Jan., Schüler zu Jena von Wedel, Teichmeyer u. Hamberger, in Göttingen 0. Prof.
282 Eübert Ritter von Töply.
15. Mai, t 1763 4. April), "«') i^'^) Zinn (Joh. Gottfr., * 1727 4. Dez.,
f 1759 6. April), '^2'') hervorrag-end durch eine klassische Beschreibung
des Auges und dessen Umgebung (zonula Zinnii, ligamentum Zinnii),^-'')
Wrisberg (Heinr. Aug., * 1739 20. Jan., f 1808 29. März)'^'^j mit
seiner Beschreibung des Trigeminus und dem Nachweis, dass die an-
geblichen Aeste desselben zur Dura m. nicht bestehen, einer ein-
gehenden Kritik des Descensus testiculorum, einer Beschreibung des
N. phrenicus, vagus, sympathicus, der Bauchfelldivertikel, der Bauch-
höhlennerven, insbesondere des N. splanchnicus supremus, des Gangl.
magnum des Herzgeflechts (Gangl. Wrisbergii), der Nervengeflechte
der inneren weibl. Geschlechtsorgane, einer vermehrten Ausgabe von
Zinns „Descr. oculi hum." u. s. w. Wrisbergs Schüler Soemmering
(Samuel Thomas von, * 1755 25. Jan., f 1830 2. März)^-»») ist der
bedeutendste deutsche Anatom des angehenden 19. Jahrhunderts in
Bezug auf Beschreibung und gleichzeitig künstlerische Ausstattung
seiner Werke. Die hauptsächlichsten betreff'en die Hirnbasis und die
Sinnesorgane. Sein umfangreiches Lehrbuch ist ein Markstein in der
Geschichte der deutschen Anat. an der Wende des Jahrhunderts.'^*'')
Man lernt es erst ordentlich schätzen, wenn man ältere Kompendien
dagegen hält, z. B. das von Kirchheim (*Vade mecum anatomi-
d. Anat., Ohir. u. Botanik seit 1734) hatte als Menschenschinder gegolten. Obss.
anat. ca. duo cadavera masc, Erfurt 1730; obs. ca. vasa ly mphat. ven-
triculi, Erfurt 1730: Einladungsschr. zur Section 2er männl. Leichen,
Götting. 1735.
'^•») In Göttingen 1751—63, Prof. d. Geburtsh., nach Hallers Abgang i. J. 1753
auch Prof. d. Anat. u. Chir.
*"') Icones uteri hum., Gotting. 1759, fol.
^^») Schüler von Haller, Prof. d. Med. u. Direktor des botan. Gartens in Gott.
1753—59.
^^^) Descr. anat. oculi hum. iconib. illustr., Gotting. 1755, 4°; *Nunc
altera vice ed. etc. ab H. A. Wrisberg, ib. 1780, 248 p., 6 Tab., 4».
«ä) In Göttingen seit 1764 o. Prof. d. Gebh., seit 1765 a. o., seit 1770 o. Prof.
d. Anat. Descr. anat. embryonis etc. 1764. — *Obss. anat. de quinto pare
n er vor. encephali et de nervis qui ex eod. duram matrem ingredi falso dicuntur.
0. tab. aenea, Gotting. 1777, 4°, 28 pag. — De testiculor ... descensu. —
Obss. de nervis viscer. abdominis, Part. I, II, III. — De systemate
vasor. absorbente etc. 1798. — Obss. anat. de corde testudinis marinae
etc. 1800, 40. — Sylloge commentation. anatomicar. 1786, 4". — Ex-
perimenta et observ. de utero gravido etc. 1780, 8°.
5*") 1779 Lehrer d. Anat. u. Chir. am Carolinum in Kassel, 1784—97 Prof. d.
Anat. u. Physiol. in Mainz. Lebte 1804—20 in München, dann in Frankf. a. M.
**''j Ueb. d. körperl. Verschiedenheit des Negers vom Europäer,
Frankf. u. Mainz, 1. Aufl. 1784, 8°; *2 Aufl. 1785, 8°, 80 S. m. 2 Tafeln.
Choulant (Gesch. d. anat. Abb. S. 134) kennt die Tafeln nicht, in meinem Exemplar
sind sie illuminiert. — *De basi encephali et originib. nervor. C. 4 tab.
am. Götting. 1778, 4«, 184 S.; *Ueb. d. Organ d. Seele, m. Kxipf , Königsb. 1796,
4", 86 S.; *Tabula baseos encephali, Francof. ad Moen. 1799, fol., 16 S. m. 2
Kupfert., gez. von Chr. Köck, in Aquatinta von P. M. Alix zu Paris in unübertreff-
licher Schönheit; *Quatuor hominis adulti encephalum describentes
tabulae publice defensus est E. d' Alton, Berol. 1830, 4", 16 S. m. 4 Taf.,
fez. von Chr. Köck, lithogr. v. A. Elsasser. — *Abbildungen der menschlichen
innesorgane m. deutsch, u. lat. Text. Auge, Gehörorgan, Geschmack und
Stimme, Geruch, 1801—10. — Tab. sceletis fem., Frankf. 1797, fol. max. —
Icones embryon. hum. 1799, fol, max. m. 4 Kpf. — *Vom Baue des
menschl. Körpers. 6 Thle., Frankf. 1791—96, 2. Ausg. 1801; lat. u. d. T. de
corp. hum. fabrica, 6 Bde., 1794—1801. — Vgl. Wagner (Rud.), S. Th. v. Sömme-
rings Leben u. Verkehr m. seinen Zeitgenossen, 2 Abt., Leipz. 1844, 8"; auch als
Bd. I der neuen Originalausg. von Söram. v. Baue d. menschl. Körp. — S ö m m e -
ring (Detmar Wilh., fil.) Catal. mus, anat, quod collegit S. Th. de S. Francof. a. M.
1830, 8 0.
Geschichte der Anatomie. 283
cum ... von D. L. H. Kirchheim, 4. Aufl., Dresden 1735, 8 "", 113 S.).
Wi'isbergs anderer Schüler Loder (Justus Christian von, * 1753
28. Feb., 7 1832 4.16. April) ^^*) hob die Anatomie in Jena auf eine
höhere Stufe, später die in Moskau. Sein Tafelwerk und seine Lehr-
bücher Avurden seinerzeit sehr geschätzt, ^^''j Der aus der göttinger
Schule Hallers hervorgegangene Blumenbach (Joh. Friedr., * 1752
11. Mai, t 1840 22. Juni), der erste Professor, der Vorlesungen über
vergl. Anat. hielt, wurde zum Begründer der modernen Anthropologie
(Clivus Blumenbachii).^^) Wrisbergs und Blumenbachs Schüler Hilde-
brandt (Georg Friedr., * 1764 5. Juni, f 1816 23. März)^'^)
ist Verf. eines Lehrbuchs, das die vorangegangenen Kompendien ver-
drängt hat in Deutschland während der Jahre 1790 — 1830 und noch
später ausschlaggebend war.^'^) Blumenbachs historisch gebildeter
Schüler Heusinger d. Ae. (Karl Friedr. H. von "SValdegg. eigentl.
Joh. Christian Friedr. Karl, * 1792 28. Feb., f 1883 5. Mai),^«'^)
welcher in Würzburg eine zootomische Anstalt gründete, zählt zu
den besseren gleichzeitigen Vertretern der Histologie, Anatomie,
Zootomie, Phj'siologie, Anthropologie und patholog. Anatomie der
1. Hälfte des 19. Jahrhunderts.^*'') Dieser Eichtung gehört auch
Weber (Ernst Heinr.. * 1795 24. Juni, f 1878 26. Jan.),^»'») dessen
wichtigste Leistungen allerdings das Gebiet der Physiologie be-
treffen.^»^)
Von Haller erhielt eine nicht unwesentliche unmittelbare An-
regung Joh. Fr. Meckel I. von diesem wieder Alex. Monro II, und
so erstreckt sich Hallers Einfluss beinahe auf die ganze Anatomen-
welt seines Zeitalters.
Würzburg. ^'') An der 1582 gestifteten Universität hat gleich
^"') 1778 0. Prof. d. Anat., Chir. u. Hehammenkunst in Jena, 1803-06 Prof.
d. Anat. u. Chir. in Halle, später in Königsberg i. Pr., dann in St. Petersburg.
^5") Anat. Tafeln. Weimar 1797—1803, 2 Bde. 182 Kpft., 4 Bde., Text fol.
— Grundr. d. Anat., 1. Bd.. .Jena 1806. — Anat. Handb.. 1. Bd., Osteol. u.
Syndemologie, 2. Aufl., Jena 1800 in. Kpf.. lat. u. d. T. Elementa anat. h. c,
Moskau u. Riga 1823. — Vgl. Stieda in Gurlt-Hirsch" Lex. IV 23.
*") Gesch. u. Beschr. d. Knochen d. menschl. Körpers, 1786. —
Handb. d. vergl. Anat, 1805.
■^"*) 1786—95 Prof. d. Anat. am Coli. med. in Braunschw., dann in Erlangen
Prof. d. Med. u. Chemie, später auch d. Phvsik.
"»>) Lehrb. d. Anat. d. Menschen, Braunschw. 1789—92, 4 Bde. : 2. Aufl.
1798-1800; 4. Aufl. von E. H. Weber 1830—32.
»»") 1824—29 Prof. d. Anat. u. Physiol. in Würzb. als Döllingers Nachf., dann
Kliniker in Marburg bis 1867.
'•*'') Ueb. d. Bau u. d. Verrichtungen der Milz, Eisenach resp. Thion-
ville 1817. — Syst. d. Histologie, Eisenach 1822. — De organogenia,
Jena 1822. — Bericht v. d. k. zootom. Anst. zu Würzb. f. 1824/25. Im
übrigen vgl. Pagel in Gurlt-Hirsch Lex. III 191 u. f.
"'"') In Leipzig 1818 ao. Prof. d. vergl. Anat.. 1821 o. Prof. d. Anat. (bis 1871^
und Physiologie (bis 1866).
**'') Anat. comp. n. sympath. 1817. — De sept. nerveo organ. 1817. —
Epistola Scarpae de gangliis neruor. deque origine et essentia n.
intercost. 1831. — Zusätze zur Lehre vom Baue u. denVerrichtungen
der Geschlechtsorgane. 1845. — Bearbeitung der 4. Aufl. von G. F. Hilde-
brandts Lehrb. d. Anat, Braunschw. 1830-32, der 6. Aufl. von J. Gh. Rosen-
müllers Handb. d. Anat., Leipz. 1840.
®°) *Bö nicke (Christ.), Grundr. einer Gesch. d. Univ. zu Wirzburg, Wirzb.
1782, 4", 378 S. m. Kupf. — Siebold (Carl Casp.). Von den Vorteilen, welche der
Staat durch öftentl. anat. Lehranstalten gewinnt, Xürnb. 1788. Mit Ansichten und
Plänen der neuen Anstalt. — *Scharold (Joh. Bapt.), Gesch. des gesamrat. Medicinal-
wesens im ehemaligen Fürstenthum Würzb.. Inaug.-Abh., Würzb. 1824, 8", 141 S. —
284 Robert Ritter von Töply.
anfangs weder Posthius (Johann, hier 1569—85, Leibarzt und
Universitätsprof., dann nach Heidelberg übersiedelt), der sich eng an
die Anatomie des R. Colombo hielt,"') noch Roman (Adrian, aus
Löwen berufen, hier bis 1609)"-) etwas Originelles geleistet."'*) Aus
der im 17. Jahrhundert eingetretenen Verfallszeit sind die beiden
Virdung ab Hardung (Hieronymus Konrad und Philipp Wilhelm,
1680 bezw. 1691) als Anatomen, der jüngere als Prof. der Anat.,
Chir., Botanik gerade einer Erwähnung wert. Die Errichtung des
ersten anatomischen Theaters erfolgte erst um 1724 — 29. Die bald
darauf erschienenen Universitätsstatuten v. J. 1731 "*) verordnen alle
4 Wochen eine öffentliche anat. Demonstration, die neue Ordination
V. J. 1749 bestimmt u. A, einen Prof. der Theorie für die Geschichte
der Medizin und die Medizin, sowie die allgemeinen Grundsätze
der Anatomie. Bis dahin hatten die Professoren, welche die Anatomie
mit der Botanik, wie Beringer (Josef Barthol. Adam) und Orth,
oder mit der Chirurgie vereinigen mussten, wie Bauermüller und
Heuber (dieser auch Lehrer der prakt. Medizin und Prof. der
Chemie) trotz des ziemlich regelmässigen Betriebes der anat. Demon-
strationen nichts Wesentliches geleistet. Eine Besserung begann erst
in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Siebold d. Ae. (Karl
Kasp. von, * 1736 4. Nov., f 1807 5. April),"'* ^) dem ersten, der hier
einen regelrechten anat. Unterricht erteilte, das Museum aus dem
Anfangsstadium hob, eine Restaurierung der anatom. Anstalt, sowie
die Anstellung eines Prosektors in der Person Hesselbachs d. Ae.
durchsetzte."^^) Der aus seiner Schule hervorgegangene Acker-
mann (Jak. Fidelis, * 1765 23. April, f 1815, 28. Okt.),«") ein Wider-
sacher der Galischen Hirn-, Schädel- und Organenlehre, verbesserte
die Einrichtungen der anat. Anstalt in Heidelberg. Der Unterricht
Siebolds, der weder Anatom von Fach, noch in der Physiol. und
vergl. Anat. bewandert war, hatte eine spezifisch praktische Richtung,
sowol unter Siebold selbst, als unter dessen Prosektor Hesselbach
*Ringelmann (A. F.), Beiträge zur Gesch. d. Univ. Würzb. in den letzten 10 J«
(Zum Jubelfeste), Würzb. 1835, 4», 90 S. — *Kölliker (Alb. v.), Zur Gesch. der
med. Fakultät an d. Univ. Würzb., Würzb. 1871, 73 S. 4 «. — *Kölliker (A.), Die
Aufgaben d. anat. Unterrichts, Würzb. 1884, 21 S.
•'^) In Realdi Columbi anat. Observationes anat., in den Frank-
furter Ausgaben von 1590 u. 93 der Des re Anat. lib. XV.
*^^) Rulaud, Adrien Romanus, prem. prof. ä la faculte de med. de Würzb.,
Bruxelles 1867.
**) Das zu Romans Zeit im anat. Theater erwähnte „scamnum volubile"
kann ebensogut ein drehbarer Seziertisch wie eine transportable Bank gewesen sein.
«*) Promulgiert 1734, gedruckt 1743.
*^") Schüler von Sabatier, Bordenave, Ant. Petit, Levret, Moreau, Le Cat, W.
Hiauter, Cheselden, Mackenzie, B. S. Albin, Gaub; anfangs erster Gehilfe des Ober-
chirurgen, Demonstrators d. Anat. u. Hebammenlehrers J. B. Stang, promov. 1769
21. Aug., nachdem er kurz vorher Prof. d. Anat., Chir. u. Geburtsh. geworden, trat
im Winter 1797 98 von d. Anat. zurück.
**'^'') Siebold (K. K.), Von d. Vortheilen, welche d. Staat durch öffentl. anat.
Lehranstalten gewinnt, Nürnb. 1788. Mit Ansichten u. Plänen der 1788 9. Juli
eingeweihten Anstalt; Verfügungen u. Einrichtungen in d. anat. Anstalt, Würzb.
gelehrt. Anz. 1791, Tl. I, S. 345—48. — Ueb. d. Familie Siebold vgl. d. Stammtafel
in Gurlt-Hirsch' Biogr. Lex. V S. 390.
*"*) Stud. seit 1784 in Würzb., dann in Mainz, später Schüler von P. Frank,
Scarpa, Volta, Nessi u. A. in Pavia, 1796 — 98 Prof. d. Anat. als Nachf. von Sömme-
ring in Mainz, 1804 Prof. d. Anat. u. Chir. in Jena an Loders Stelle, 1805 Prof. d.
Anat. in Heidelb , seit 1812 Prof. d. Botanik.
Geschichte der Anatomie. 285
d. Ae. (Franz Kaspar, * 1754 27. Jan., f 1816 24. Juli),«"^) welcher
jedoch ebenso, wie sein Sohn Hesselbach d. J. (Ad. Kasp., * 1788
15. Jan., f 1856 6. Mai),*^*^) um die Bereicherung des Museums
sorgte.^*'') Hesselbach des Aelteren, auch von J. B. von Siebold fa-
vorisierter Schüler Langen beck (Konr. Joh. Martin, * 1776 5. Dez.,
f 1851 24. Jan.),^^^) in der Chirurgie und praktischen Anatomie
gleich bedeutend, ifasste letztere als „anatoraia applicata" auf, machte
sich um die Erbauung eines neuen anat. Theaters in Göttingen ver-
dient (1829) und veröffentlichte ein grossartiges anat. Tafelwerk
„Icones anat.".«^^) Siebolds Schüler Tiedemann (Friedr., * 1781
23. Aug., 1 1861 22. Jan.) ^'^*) gehört zu den hervorragendsten deutschen
Anatomen der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seine klassische
Anat. und Bildungsgeschichte des Gehirns (1816) erweist die Ueber-
einstimmung zwischen der bleibenden Form des Tierhirns mit der
embryonalen des menschlichen, seine Arterientafeln (1822) gehören
zu dem Besten, was bis dahin auf diesem Gebiete geleistet wurde,
in der Schrift über das Gehirn des Negers und des Europäers lieferte
er den Nachweis, dass zwischen beiden kein wesentlicher Unterschied
besteht.'"^) Auch ist ihm die Erbauung des anat. Theaters in Heidel-
berg zu verdanken. Sein Schüler Fohmann (Vincent, * 1794,
t 1837) ''^) hat in einer langen Reihe von Arbeiten das Lymph-
gefässsystem behandelt, '^^^j Tiedemanns hervorragendster Schüler
Arnold (Friedr., * 1803 3. Jan., f 1890 5. Juli)'-'») ist um die
Untersuchung des Sj^mpathicus verdient, wobei er auch der Geschichte
des Gegenstandes und dessen bildlicher Darstellung viel Sorgfalt
widmete. Das von ihm vermeintlich entdeckte Ganglion oticum war
indes schon von Santorini (f 1737) als „plexus ganglioformis" be-
schrieben, von Gii-ardi (1775), Paletta (1784), Comparetti (1789) be-
«"') Prosektor seit 1788, 9. Juli.«'^)
*''') Vollst. Anleitung zur Zergliederungskunde, 3 Hefte, Rudolst.
1805—08, m. Kpf., 4^ — Anat.-chir. Abh. üb. d. Urspr. der Leistenbrüche
1806, m. Kpf., 4«.
«*») Prosektor 1816—28, dann Prof. d. Chir. in Bamberg.
**'') Beschr. d. mensch 1. Auges, 1828. — Ueb. d. Ursprung u. Verlauf
der unt. Bauchdeckenschlagader u. d. Hüftbeinschlagader, 1819.
«»") Seit 1799 in Würzburg, seit 1802 in Göttingen, hielt hier 1803—04 anat.
Vorlesungen, zu denen er sich ein Amphitheater bauen Hess, 1804 Prof. e. o., 1814
Prof. 0. d. Anat. u. Chir., seit 1848 nur der Anat.
«"") Anat. Handb., tabellar. entworfen, 1806; 1817; 1818; a\ich ins
Schwed. übers. — Mikroskop. - anat. Abbildungen zur Erläuterung
seines anat. Handbuchs, 1847—50, m. 17 Taf. — Icones anat, 1826 — 41,
mehr als 170 Taf. folio. — Novum theatrum anat. quod Gottingae est a
regeGeorgio IV conditum, 1829.
^°») Prof. d. Zool, menschl. u. vergl. Anat. in Landshut 1805, in Heidelberg
auch der Physiologie 1816—49.
'**'') Anat. u. Bildungsgesch. d. Gehirns, 1816. Auch franz. u. engl. —
Icones cerebri simiar. etquorundam animal. varior. , 1821. — Tabulae
arteriar. corp. h um. 1822. — Tabulae nervor. uteri, 1822. — Ueberd.
Hirn des Orang-Outangs u. üb. das des Delphins, vergl. m. d. Gehirn
des Menschen, 1825. — Das Hirn des Negers, vergl. mit dem des
Europäers, engl. 1836, deutsch 1837.
'*') Tiedemanns Prosektor in Heidelberg, 1827—37 o. Prof. d. Anat. in Lüttich.
'^^) Anat. Unters, über die Verbindung der Saugadern mit den
Venen, Heidelb. — Das Saugadersyst. der wirbelt hiere; der Fische,
Heidelb. u. Leipz. 1826. 1827.
'*•) 1834 Prof. e. o. in Heidelberg, 1835 Prof. o. u. Dir. d. anat. Anst. Zürich,
Prof. d. Anat. u. Physiologie in Freiburg i. B. 1840, in Tübingen 1845, in Heidel-
berg 1852—76.
286 Robert Ritter von Töply.
sprochen worden.'-^) Tiedemanns und Bischoffs Schüler in Heidel-
berg, Ecker (Alexander, * 1816 10. Juli, f 1887 20. Mai) '=''') lieferte
eine grundlegende Darstellung der Hirnwindungen, dann eine muster-
giltige Anatomie des Frosches. '''^)
Nach dem Rücktritt von K. K Siebold (1797/98) vertraten die
Anatomie in Würzburg während der 1. Hälfte des 19. Jahrb., dessen
dritter Sohn Siebold (Joh. Barthol., * 1774 3. Feb., f 1814 28. Jan.)
und Fuchs (Joh. Friedr., seit 1804/5) ohne besonderen Erfolg, dann der
geniale Döllinger, der jedoch die Sorge für die descr, Anat. seinem
Prosektor Hesselbach d. J. überliess, dessen Nachfolger Heusinger
(1824—29), der sich hier hauptsächlich der Zootomie zuwendete,
schliesslich Münz (Martin, * 1785 5. Feb., f 1848 18. März),''^'') ein
Anatom der alten Schule aus der vormärzlichen Zeit, der ähnlich wie
Prof. Mich. Mayer in Wien 20 Jahre die Lehrkanzel versass, un-
wissend, dass zu seinen Füssen die Neuzeit hereingebrochen war.'***)
Dies war zu stände gekommen durch den Erweiterer der anatom.
Anstalt (1817), den hochverdienten Döllinger (A. Ignaz, * 1770
27. Mai, -|- 1841 14. Jan.),'-^) den Begründer der Lehre von den Keim-
blättern und damit der neueren Embryologie. Döllinger war ein Meister
der anat. Technik, besonders geschickt in der Injektionsmethode, ver-
traut mit dem durch neuere Verbesserungen erst recht verwendbar
gew^ordenen Mikroskop,'") ein fesselnder, anregender, schulemachender
Lehrer. Das Gesamtergebnis der hier 1816 und in den folgenden
Jahren an mehr als 2000 bebrüteten Eiern vorgenommenen Unter-
suchungen ist ein Gemeingut von Döllinger, Pander und d'Alton.'')
Ein Löwenanteil am Ausbau der Entwicklungsgeschichte gebührt den
beiden nach Eussland (s. das.) ausgew^anderten Schülern Döllingers
Pander (Heinr. Christ., * 1794 12/24. Juli, f 1865 10/12. Sept., in
Petersb. 1823—27, 42—65)'^) und Baer (Karl Ernst von, * 1792
'^'') Diss. inaug. ... de parte cephal. u. svmpath., Heidelb. 1826, 4",
1. tab. — *lTeb. d. Ohrknoten, Heidelb. 1828, 4" m. Abb. — *D. Kopftheil
des veget. Nervensystems, Heidelb. u. Leipz. 1831, 4^ m. 10 Kupfert. —
Tabulae anat. I, II, IV, Turici 1838—43, fol. — Handbuch der Anat. des
Menschen, Bd. I— III, Freib. 1843—51.
'^'') In Heidelb. Prosektor u. Privatdoz. 1841, 1844 o. Prof. der Anatomie u.
Physiol. in Basel, 1850—87 in Freiburg.
^•'"') Der feinere Bau der Nebennieren, Braunschw. 1846. — Die Hirn-
windungen d. Menschen, das. 1869; 2. Aufl. 1883. — Die Anat. des
Frosches, das. 1864—83, 3 Abth. ; Nerven- u. Gefässlehre mit Beiträgen, d. Lehre
von den Eingeweiden, dem Integumeut und den Sinnesorganen, bearbeitet von
R. Wiedersheim.
'**) Tiedemanns Prosektor in Landshut, 1816 a. o., 1817 o. Prof. d. Anat. das.,
seit 1828 in Würzb.
•*") Anat. Tafeln, Bambg. 1815, fol. — Handb. d. Anat., m.Abb., 5 Tle.,
Landsh. 1821—27, Würzb. 1835-36.
'"*) Schüler von Barth u. Prochaska in Wien, J. P. Frank u. Ant. Scarpa in
Pavia, Prof. d. Anat. u. Physiol. in Würzb. 1803 — 23, dann in München, wohin die
1472 in Ingolstadt gestiftete Universität, welche 1800 nach Landshut kam, 1825
verlegt worden war.
'") * P e t r i (R. J.), Das Mikroskop. Von seinen Anfängen bis zur jetzigen
Vervollkommnung. M. 191 Abb. u. 2 Facsimiledr., Berl. 1896, 218 S.
'') Pander, Döllinger u. D'Alton, Beiträge zur Entwickelungsgesch. des
Hühnchens im Ei, Würzb. 1817, fol. m. Kupfert. von D'Alton; üb. d. Autorschaft
vgl. Kölliker a. a. 0. 1871 S. 35.
'*) Diss. inaug. sistens historiam metamorphoseos, quam ovum
incubat. priorib. 5 dieb. subit., Würzb. 1817.
Geschichte der Anatomie. 287
17.28. Febr., 7 1876 16.28. Xov.l'»») Letzterer ist der Entdecker
des eigentlichen Säugetiereies (Baersches Bläschen), der eigentliche
Begründer der deutschen anthropologischen Gesellschaft. '''"') Zur
selben Gruppe gehört auch Tiedemanns Schwiegersohn Bischoff
(Theod. Ludw. Wilh., * 1807 28. Okt-V») dann Kölliker (Rudolf
Albert von, * 1817 6. Juli).*^^*) Kölliker ist einer der hervorragendsten
Biologen seiner Zeit, sein Handbuch der Gewebelehre ist ein Mark-
stein in der Geschichte der Histologie, es beherrscht die ganze zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Um Würzburg ist Kölliker insbesonders
durch die Ausarbeitung des Plans zu dem neuen Anatomiegebäude
(eröifnet 1883 3. Nov.) '^^^) verdient. Indes haben die biologischen
Wissenschaften in Deutschland noch weitere Fortschritte gemacht.
Davon zeugt einerseits das ..Biolog. Centralblatt" herausg. von
Rosenthal (Isid.. * 1836 16. Juli; seit 1872 Prof. d. Physiol. in
Erlangen) unter Mitwirkung von Reess (M., Prof. in Erlangen) und
S e 1 e n k a (Emil ; Prof. d. Zool. in München), andererseits der Ausbau
der Entwicklungsmechanik durch Hertwig (Osk., * 1849),
Roux (Wilh., * 1850, Begründer des ..Arch. f. Entwickrungsmechanik"
1894) u. A.
Berlin.*'-). Die erste anat. Anstalt (Theatrum anatomicum, ge-
nannt Anatomiekammer) wurde 1713 für das Collegium medico-chirurgi-
cum errichtet. Hier wirkten an erster Stelle 1713 — 19 Spener
(Christian Maximilian, * 1678 31. März, f 1719 5. Mai), bis 1723 0. 24
Henrici (Heinrich, * 1673, -; 1728), bis 1753 Buddeus (August,
* 1695, j 1753), dann bis 1773 der hervorragende Meckel I
(Joh. Friedr., * 1724 31. Juli, f 1774 18. Sept.; Schüler des Albr.
'»') In Königsberg seit 1817 Prosektor bei Burdach. Prof. e. 0. d. Zool. 1819,
0. 1822, endgiltig in Petersb. seit 1834.
'9'') Entwickelungsgesch. d. T h i e r e , Königsb., 1. Bd. 1820, 3Taf., 2. Bd.
1837, 4 Taf. — Vorlesungen üb. Anthropologie, 1. Bd., Königsb. 1824, mit
11 Taf. — De ovi mammal. et hom. geuesi, Lips. 1827. — Vgl. *Nachrichten
üb. Leben u. Schriften des . . . Dr. Karl Ernst von Baer, mitgeth. von ihm selbst.
Veröffentlicht . . . von der Ritterschaft Ehstlands. 2. Ausg., Braunschweig 1886, 8°,
519 S. m. Portr.; Stieda (L.), K. E. v. Baer, eine biogr. Skizze, Braunschw. 1878
(sehr gründlich).
"<*) Seit 1836 Prof. e. 0., seit 9. Febr. 1843 Prof. 0. f. Anat. u. Plivsiol. in Heidel-
berg, in Giessen seit 22. Sept. 1843 Prof. 0. d. Anat, seit 1844 auch d. Physiol.,
1854—78 in München. Entwickelungsgeschichte der Säuge thiere'und
des Menschen, Leipz. 1842: des Kanincheneies, Braunschw. 1843: des
Hundeeies, Braunschw. 1846: des Meerschweinchens, Giessen 1852;
des Reheies, Giessen 1854. — Historisch-kritische Bemerkungen zu
den neuesten Mitteilungen üb. d. erste Entwickelung der Säuge-
tier e i e r , München 1877.
®^') Stud. seit 1836 in Zürich u. anderswo, hier 1842 Assistent bei Henle, 1845
Prof. d. Physiol. u. vergl. Anat., seit 1847 in Würzb., hier seit 1866 f. Anat,
Mikroskopie u. Ent-wicklungsgesch. bis 1897.
"'') D. Entwicklungsgesch. der C eph al 0 po d en , Zürich 1844. —
Die normale Resorption der Knochen, Zur. 1873. — Die Schwimm-
polypen von Messina, Leipz. 1853. — Icones histologicae, Leipzig,
2 Hefte, 1863, 1865. — *Handbuchd. Gewebelehre, Leipz. 1852, 6. Aufl.|
1889 — 96, 2 Bde. — *Entwickelungsgesch. des Menschen und der
höheren Thiere, Leipz. 1861, 2. Aufl. 1876—79. — *Die Aufgaben der
anat. Institute. Rede bei d. Eröffnung der neuen Anat, 3. Nov. 1883, Würz-
burg 1884, 21 S. — Erinnerungen aus meinem Leben, Leipz. 1899. (Auto-
biographie und Besprechung seiner Publikationen.)
"*) *Pagel, D. Entwickelung der Medicin in Berlin. M. 7 Portr., Wiesb.
1897, 130 S. — *Waldeyer (Wilh.), Zur Gesch. des anat. Unterrichts in Berlin,
Berl. 1899, 48 S.
288 Kobert Ritter von Töply.
V. Haller und Buddeus). Er gab die erste genaue Beschreibung des
N. trigeminus, entdeckte das Ganglion sphenopalatinum (Gangl.
Meckelii majus), sowie das Ganglion submaxillare (Gangl. Meckelii
minus), und wurde der Stammvater einer angesehenen Anatomen-
familie. **•') Sein Schüler Wolff (Kaspar Friedr., * 1733, f 1794
22. Febr.)'*'**) ist der Begründer der modernen Embryologie, ein
Gegner der von Leibniz gebilligten, von Haller gestützten Ein-
schachtelungstheorie. Er hat die Entwicklung des Tierleibes aus
kugeligen Gebilden, die Entstehung des Embryo aus einer Platte, die
doppelt symmetrische Ausbildung und Verwachsung in der Mittellinie,
die nach ihm benannte Anlage („Wolffscher Körper"), die Bildung des
Darmkanals erkannt.**'**') Meckels Nachfolger Walter d. Ae, (Joh.
Gottlieb, * 1734 1. Juli, f 1818 3. Jan.)«^'') hat die klassische Be-
schreibung des Auges von Zinn durch eine ebenbürtige Abhandlung
über die Venen des Auges ergänzt *** ^) und eine bedeutende Sammlung
angelegt, die nachmals zum Stock des anat.-zootomischen Museums
der Berliner Universität wurde. An zweiter Stelle bethätigten sich
Cassebohm (Joh. Friedr., * 1699 o. 1700, f 1743 7. Febr.),«*'*) dessen
wichtigere Leistungen — Entwicklungsgeschichte des Gehörorgans,
Schilderung des Spiralblattes der Schnecke — allerdings in seine
hallenser Zeit fallen,'*^'') dann S pro gel d. J. (Joh. Adrian, * 1728
3. Okt., t 1807 20. Aug.; Schüler von Haller), Schaarschmidt
(August, * 1720 6. Okt., f 1791), Verf. einer beliebten Uebersicht der
Anatomie nach dem Vorbilde von Winslows „ Exposition ",^^) Mayer
**) *De quinto pari nervo r., Gotting. 1748, 4*^. — Zur Orientierung über
die Familie Meckel diene folgender Stammbaum:
Johann Friedrich Meckel der Aeltere (I.)
I
Philipp Friedrich Theodor M.
(Anat. u. Chir. Prof., HaUe a. S., 175G— 1803)
Johann Friedrich M. der Jüngere (II.) August Albrecht M.
(Anat. u. Chir. Prof., HaUe a. S., 1781-1831) (Anat. Prof., Bern, 1790-1829)
I
Heinrich M. von Hemsbach
Cpath. Anat., Charit6 Berlin, 1821—56).
^'*) Hielt ursprünglich Vorlesungen in Berlin, wurde dort jedoch scheel ange-
sehen, seit 1767 in Petersburg, o. Mitgl. d. Akad. (f. Anat. u. Physiol.)
*'*') Theoria generationis, Diss. 1759; *Uebers. von Samassa (Paul),
Leipz. 1896, 2 Tle.; deutsch von Wolff u. d. T. Theorie der Generation 1764; lat.
Neuauflage eines Ungenannten 1774. — De formatione intestinor. Nov. Com-
ment. Acad. Petrop., T. XII, XIII; deutsch von Meckel u. d. T. Ueb. d. Bildung
des Darmcanals im bebrüteten Hühnchen, Halle 1812.
**') Schüler von Chr. Th. Büttner in Königsberg i. Pr. und J. F. Meckel L,
in der Injektionstechnik von N. Lieberkühn. Autobiographie in: *Funfzigjähriger
Jubeltag des . . . Joh. Gottl. Walter, Berlin 1810, 8 », 54 Seiten.
84bj * Anat. Sendschreiben an...WilhelmHunter ...VondenBlut-
adern des Auges u. s. w. = Epist. anat. de venis oculi etc., Berl. 1778, 4",
52 S., 3 Tab. — Das Literaturverz. in Gurlt-Hirsch' Biogr. Lex. VI ist zu ergänzen
durch *Abhandl. von den trockenen Knochen des menschl. Körpers,
Beri. u. Strals. 1763, m. Kupf., 8«, 385 S. u. Reg. (1. Aufl.), *Von der Ein-
saugung u. d. Durchkreuzung der Sehnerven. M. 1 Kupfert, Berl. 1794,
8 0, 104 S.
•*•) Prof. d. Anat. in Halle seit 1738, in Berlin seit 1741.
8=*»') *De aure hum., Hai. 1734, 4«, Tract. V, VI, 1735.
8») *Anatom. Tabellen, Frankf. u. Leipz. 1775, 8°, 4 Theile.
Geschichte der Anatomie. 289
Joh. Christian Andreas, * 1747 8. Dez., f 1801), s') Falkenberg:
auch Falckenberg * ?, f 1^82 17. Nov.), Knape (Christoph, * 1747
26. Dez., t 1831 15. Dez.). Walter d. J. (Friedr. Aug., * 1764
25. Sept.. f 1826 18. Dez.). Neben diesen ragt besonders hervor, ob-
zwar mit keinem Lehramt betraut, dennoch mit Recht als einer der
bedeutendsten Anatomen Deutschlands in der Hallerschen Periode zu
bezeichnen, Lieberkühn (Johann Nathanael, * 1711 5. Sept., f 1756
7. Okt.),*'*'*) Erfinder des Sonnenmikroskops (1738), berühmt durch
seine Gefässinjektionen, bekannt durch die Beschreibung der nach ihm
benannten „Drüsen" der Darmschleimhaut. ^*^)
Die fruchtbare Thätigkeit des berliner Colleginm medico-chirurgicum
ist nicht ohne Einfluss auf die nahe Universität in Frankfurt an der
Oder (errichtet 1506 27. Apr., nach Breslau verlegt 1811) geblieben. Die
Leichensektionen waren hier selten. Die erste wird für 1600 erwähnt. Bis
1646 folgten weitere fünf. Nach einer langen Pause unternehmen abermals
fünf Sektionen Andreae (Tobias, * 1633 IL Aug., j 1685 5. Jan.; in
Frankfurt Prof. med. 1674 — 80, dann in Franeker, Anhänger von Ludw.
De Bils) und dessen Nachfolger Albinus (Bernard, * 1653 7. Jan., y 1721
7. Feb. ; in Frankfurt Prof. med. 1681 — 1702, dann in Leyden). Der
erstere beschaffte 1678 das erste Skelet, letzterer errichtete zum teil auf
eigene Kosten 1684 das erste anat. Theater. Nach seinem Abgange scheint
die prakt. Anatomie wieder geschlafen zu haben, und Goelicke (Andreas
Ottomar, * 1671 2 Febr., y 1744 12. Juni) fand Zeit zu einer eingehenden
historischen Thätigkeit. Erst 1723 wird wieder eine Leichensektion er-
wähnt. Nachdem dann die Verordnungen des Königs Friedr. Wilhelm
(1724 2. Okt., 1725 13. Jan.) die Promotionen in Frankfurt und die Aus-
übung der ärztlichen Praxis an die Absolvierung eines anat. Kursus in
Berlin und ein diesbezügliches Zeugnis des berliner Collegiums geknüpft
hatten und der Einspruch der Frankfurter Fakultät (sie bestand aus zwei
Professoren) zurückgewiesen war, scheint man die Leichensektionen ganz
aufgegeben zuhaben. Wenigstens ist in den bis 1770 reichenden Fakultäts-
akten seither keine Sektion mehr erwähnt (Urkundliches bei *Preuss
(H. C. R.), Analecta ad historiam facultatis med. Univ. Francof. Inaug.-
Diss. 1847, Vratisl., 8 «, 54 pag.).
Nachdem das Colleginm medico- Chirurg, aufgelöst worden (1809
14. Dez.) und dessen anat. Institut i. J. 1810 von der med. Fakultät
der neu errichteten Universität übernommen war, entwickelte sich
eine neue Blüte der anat. Thätigkeit. Rudolphi (Karl Asmund,
"" 1771 14. Juli, f 1832 29. Novb.) vermehrte die Walt ersehe Sammlung
im nahezu 4000 Präparate. Er bethätigte sich hauptsächlich auf dem
' iebiete der Zootomie, Zoologie, vergl. Anatomie und sicherte sich
iurch sein grundlegendes Werk über die Entozoen (1808 — 10) einen
(lauernden 5s"amen. Sein erster Prosektor Rosenthal (Friedr.
Christian, * 1780 3. Juni, f 1829 5. Dez.)»»"») bearbeitete u. A. das
"") Am Theatr. anat. Berolin. 1774—78, dann Prof. d. Medizin in Frankfurt a. 0.
*'") Schüler von Albinus, in Berlin seit 1740.
**"') De fabrica et actione villor. et intestinor. tennium, Leyden
1745, m. HTaf. — Descript. d'un microscope anat., Berlin. 1745. — Opera
•d. Sheldon, Lond. 1782.
**■) Schüler von Joh. Chr. Reil, auf dessen Veranlassung seit 1810 in Berl.,
1815 Prof. e. o., seit 1820 o. Prof. d. Anat. u. Physiologie in Greifswald.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 19
290 Robert Ritter von Töply.
Cerebrospinalsystem ^''^) im Sinne von Reil (Joh. Christian, * 1759
28. Febr., f 1813 22. Nov.; seit 1810 in Berlin), dessen Untersuchungen
über den Bau des Cerebrospinalsystems zu den hervorragendsten
Arbeiten am Schlüsse des 18. Jahrhunderts gehören."") Rudolphis
späterer Prosektor Schlemm (Friedr., * 1795 11. Dez., f 1858
27. Mai)®^) hielt sich als Zweiter ehrenvoll neben dem hervorragenden
Joh. Müller. Rudolphis und Rosenthals Schüler Barkow (Hans Karl
Leop., * 1798 4. Aug., f 1873 22. Juli)»-«») ist durch zahlreiche kost-
bar ausgestattete Abhandlungen, besonders aus dem Gebiete der
Angiologie hervorgetreten."-'')
Barkow ragt in der descr. Anat. weit über seinen Vorgänger und
dessen Vater. Otto d. Ae. (* 1745 6. März, f 1835 10. Nov.; 1758—1811
Prof. d. Med. in Frankfurt a. 0., Oberaufseher des bot. Gartens und des
anat. Theaters) hatte sich als Ornitholog, dessen Sohn Otto d. J. (Adolph
Wilh., * 1786 3. Aug., f 1845 14. Jan.; 1813—45 Prof. o. d. Anat. u.
Dir. d. anat. Mus. in Breslau, hier um die Erbauung des neuen anat.
Theaters 1834/35 verdient) hauptsächlich auf dem Gebiete der Tjiutologie
hervorgethan. / f^Y^iXi^^
Unter Rudolphis Einfluss entwickelte sich dessen berühmter Nach-
folger Müller (Johannes, * 1801 14. Juli, j 1858 28. April),*'^^'*) einer
der grössten Biologen aller Zeiten. Seine hervorragendsten Leistungen
liegen im Gebiet der Physiologie und der vergl. Anatomie. In der
descr. menschl. Anatomie betreffen sie den Nachweis der Arteriae
helicinae, Untersuchungen über die erektilen Organe im allgemeinen,
über die Dammrauskulatur, über das Ganglion oticum und das obere
sog. Ehrenrittersche Ganglion des Glossopharyngeus, um dessen richtige
Deutung er sich verdient gemacht. Das ihm unterstehende Museum
hat er um 12 380 Stücke vermehrt. Er hat mit Purkinje als einer
der Ersten die mikroskopische Anatomie methodisch geübt und Schüler
wie Heule und Schwann herangezogen. Er hat den alten Namen
„Zellgewebe'' durch „Bindegewebe" ersetzt, den feineren Bau der
Drüsen monographisch bearbeitet, unabhängig von Bowman die Harn-
kapseln entdeckt, den von Rathke 1825 entdeckten Gang als Anlage
®'"') Ueb. d. Structur des Gehirns u. d. Nerven, kurz vor dem Tode
vollendet, vgl. Pagel in Gurlt-Hirsch' Biogr. Lex. V, S. 86. — Handb. d. chir.
Anat, Berl. 1817.
*°) Exercitation. anat. fasc. I. de struct. nervor., Halle 1796.
") 1829 a. 0., 1833 o. Prof. d. Anat. Arteriar. capitis superf. icou
nova, Berl. 1830, fol. — Bemerkungen üb. d. angebl Ohrknoten (Gangl.
otic), Frorieps Notizen 1831. — Obs. neurologicae, quas ut locum in facult.
med. . . . rite obtineret, scrips., Berl. 1834, 4 *•, 3 tab.
»2») 1821 Prosektor bei Eosenth. in Greifsw., 1826—73 Prof. d. Anat. in Breslau,
1835 Prof. 0., seit d. Tode von A. W. Otto, d. i. 1845, Dir. d. anat. Inst.
**•') Disquisitiones circa origin. et decurs arteriar. mammal.,
Lips. 1829, 4 tab., 4". — Disq. nonnullae angiol., Vratisl. 1830, 4". — D.
Venen der ob. Extrem, d. Menschen, Bresl. 1868, fol. m. Taf. — D. angiol.
Sammlung im anat. Mus. d. königl. Univ. zu Breslau, Bresl. 1869, 4",
m. Taf. — D. Verkrümmungen d. Gefässe, Bresl. 1869, fol., m. 19 Taf. —
Erläuterungen zurLehre v. d. Erweiterungen u. Verkrümmungen der
Gefässe, Bresl. 1871, fol., m. 19 Taf. — D. Ursachen der Schlagader-
verkrümmungen u. d. Urs. d. Schlagadererweiterungen, Bresl. 1872,
fol., m. Taf.
*") In d. Anatomie Schüler von F. Mayer u. M. J. Weber, Privatdozent in
Bonn 1824, seit 1833 o. Prof d. Anat. u. Physiol. in Berl.
Geschichte der Anatomie. 291
des Eileiters erkannt u. A. ^•^^) Müllers Lieblingsscliüler He nie
(Friedr. Gust. Jakob, * 1809 19. Juli, f 1885 13. Mai)^^'') zählt als
Forscher, Kritiker und Schriftsteller sowie als Lehrer zu den be-
deutendsten deutschen Anatomen des 19. Jahrhunderts. Zu seinen
Leistungen auf dem Gebiete der mikroskop. Anatomie gehören die
Entdeckung des Cylinderepithels des Darmkanals, die Feststellung
der Grenzen und der Verbreitung der Epithelien überhaupt sowie des
Zusammenhangs aller Epithelformen, des Verhaltens der centralen
Chylusgefässe, der inneren Wurzelscheide des Haares, der umspinnen-
den Fasern, die erste genauere Schilderung des feineren Baues der
Hornhaut, die Entdeckung des Epithels (Endothels) der Blutgefässe,
der gefensterten Gefässmembranen, der Leberzellen (gleichzeitig mit . *• y.^^^
Purkinje), der nach ihm benannten Strecke der Nerj^ükanälchen A/läARav
(Henlesche Schleife), des ausschliesslichen Vorkommens von Zapfen
in der Fovea centralis, bezw. Macula lutea der Netzhaut u. A. Seine
..Allgemeine Anatomie" sowie die „Systematische Anatomie" bilden
nicht nur die wissenschaftliche Zusammenfassung dessen, was bis da-
hin geleistet worden war, sie enthalten auch eine Fülle neuer Be-
reicherungen und neuer Gesichtspunkte, welche für die Zukunft mass-
gebend wurden, z. B. die Nomenklatur der Achsen und Ebenen des
Körpers.'^*'') Aus Henles Schule ist eine grosse Reihe tüchtiger
Anatomen hervorgegangen, darunter Eüdinger (Nicolaus, * 1832
25. März, y 1896 25. Aug.),^^'') der die Karbolinjektionen der Präparier-
saalleichen eingeführt und dadurch das Studium an der Leiche ge-
fördert hat, sowie er durch Einführung der Photographie und der
photomechanischen Druckverfahren für die Wiedergabe von Präparaten
einen Ehrenplatz in der Geschichte der anat. Abbildung einnimmt.^'^^)
der geniale Henke (Wilh., * 1834 19. Juni, j 1896 17. Mai),**«^) einer
der anregendsten Lehrer, weil Anatom und Kunsthistoriker zugleich,*^^)
^^^) Biographie von *Waldeyer in Gurlt-Hirsch' Biogr. Lex. IV mit ausführ-
lichem Literatnruachweis.
»^'') 1834 Prosektor hei J. Müller in Berlin, 1838—40 Dozent das., dann Prof.
d. Anat. in Zürich, seit 1844 in Heidelherg, anfangs 2. Prof. d. Anat. neben Tiede-
mann, seit dessen Emeritirung 1849 Dir. d. anat. Anst., 1852 — 85 Prof. d. Anat. u.
Dir. d. anat. Anst. in Göttingen.
94b^ *Symbolae ad anat. villor. intestinal, inprim. eo rnm epithelii
et vasor. lacteor. 1837. Habilitationsschrift. — *Allgemeine Anatomie,
Leipz. 1841. — *STStemat. Anatomie, 3 Bde., Braunschweig, 1. Aufl. 1855,
2. Aufl. 1867, 3. Aufl. 1871—79. — *Waldeyer in Gurlt-Hirsch' Biogr. Lex. HI,
l."33 (danach ohiger Auszug); * Henke (AVilh.l, Jacoh Henle. Arch. f. A. u. Ph.
Anat. Ahthlg.. Leipz. 1892. S.-A., 8° 32 S. — Merkel (F.). Henle. Braunschw. 1891.
°^'') Schüler von Henle, F. Arnold, Th. W. L. Bischoff, 1855 des letzteren Pro-
•ktor u. Adjunkt, 1881—96 Prof. d. Anat. in München.
*'"') Atlas des peripher. Nervensystems des mensch 1. Körpers.
M. Vorwort von Th. "W. L. Bischoff (Atl. du syst, nerveux peripherique du c.
hum.) *1. Aufl., Photogr. n. d. N. von Jos. Albert, Münch. 1861, fol.; 2. Aufl., 52
Taf. vervielf. mittels Lichtdruck von Max G e m o s e r 1870. — Atlas des
menschl. Gehörorgans, Münch. 1866 75. — Die Anat. des peripher.
Nervensystems des menschl. Körpers, m. 37 Taf. nach Albertschen
Photogr. in Stahl gest., Stuttg. 1870, 4". — Morphologie d. Gaumensegels u.
d. Verdauungsapparates, Lex. 8°, mit ,\tlas in fol., enth. 5 Taf. in Farbendr.,
Stuttg. — *Topogr.-chir. Anat. d. Menschen, 192 S. m. Supplement, Stuttg.
1873—89, m. Tafeln in Lichtdr. von M. Gemoser. — Kursus der topogr.
Anat-, München 1891.
»»•) Prof. d Anat. 1865 in Rostock, 1872 in Prag, 1875—96 in Tübingen.
»•'') Handb. d. Anat. u. Mechanik der Gelenke, Leipz. 1863. —
Topogr. Anat. d. Menschen, Atlas u. Lehrb., Berl. 1879— 83. — *D. Menschen
19*
292 Robert Ritter von Töply,
Henles Schwiegersohn Merkel (Friedr, Sigm., * 1845 5. April),*'*)
der Henles Grundriss der Anat. vollkommen neu bearbeitet, die topo-
graphische Anat. gefördert hat, mit Bonnet seit 1892 alljährlich einen
Band „Ergebnisse der Anatomie und Entwicklungsgeschichte" er-
scheinen lässt und Monographien anatomischen Inhalts u. d. T. „Ana-
tomische Hefte" den Weg bahnt.""') Joli. Müllers Schüler Eckhard
(Konrad, * 1822 1. März) ****") hat sich vorwiegend, und schliesslich
endgiltig der Physiologie gewidmet,'*'*'') ein anderer Schüler, His
(Wilh., * 1831 9. Juli)"'*'') leitet hinüber zur allerneuesten Aera der
deutschen Anatomie durch seine wertvollen entwicklungsgeschicht-
lichen Arbeiten, als Mitbegründer des Archiv f. Anthropologie (1866),
sowie mit Braune der Zeitschr. für Anat. und Entwicklungsgeschichte
(1876—78, 1878 in die anat. Abteilung des Archiv f. Anat. und
Physiol. umgewandelt), schliesslich der jetzt festgesetzten anatomischen
Nomenklatur.""^)
Johannes Müllers Nachfolger in Berlin, Eeichert (Karl Bogislaus,
* 1811 20. Dez., t 1883 21. Dez.) i""'') hat die Entwicklungsgeschichte
und Histologie wesentlich bereichert und schon 1842 regelmässige
Vorlesungen über das erstere Gebiet gehalten. Seine Funde betreffen
die genauere Schilderung der 3. Hirnkammer, der Maculae acusticae,
die Aufstellung eines Vorhofs- und Kuppelblindsackes an der Schnecke;
Einführung der Zellenlehre in die Embryologie, Feststellung der
Keimblätter und Primitivanlagen bei den Batrachiern, deren genauere
Schilderung beim Hühnchen, namentlich in histolog. Beziehung, Nach-
weis der Deckschicht bei den ersteren (Umhüllungsschicht, auch für
die Vögel angenommen), genauere Feststellung der Umbildung der
des Michelangelo im Vergleich mit der Antike, Rostock 1871. (Diese
kleine Abhandlung gehört zu dem Besten, was ich über Michelangelo gelesen habe.
Ausserdem schrieb Henke noch über die Venus von Melos in der Zeitschr. für bild.
Kunst und Anderes kunsthistorischen Inhalts. Seine sowie des Kunsthistorikers
Woltmann Vorträge in Prag bleiben mir unvergesslich. Sie haben in uns den
Schönheitssinn geweckt, i;ns eine über das Kleinliche erhabene Auffassung beige-
bracht und dadurch so Manchem über schwere Stunden des Lebens hinweggeholfen.)
»"») In Göttingen 1869 Prosektor, 1870 Privatdozent, 1872 Prof. der Anat. in
Rostock, 1883 in Königsberg, 1885 in Göttingen.
»''') *Handb. der topogr. Anat, 2 Bde., Braunschw. 1885-99. — Von
den anat. Heften ist seit 1892—1901 Bd. 1—16 erschienen, darin auch S t i e d a's
wertvolle anat.-arcliäolog. Studien.
"**") Ludwigs 1. Assist., dann Prosektor in Marburg unter L. Fick, in Giessen
\inter Bischoff, hier 1849/50 habilitiert, wurde Bischoffs Nachfolger als Prof. d. Anat.
u. Physiol., seit 1891 nur der Physiol.
"*'•) Ueber d. Zungenbein d. Säugethiere, Müllers Arch. 1848; unter
Müller gearb. — Ueb. d. Hautdrüsen d. Kröten, das. 1849. — Lehrbuch
der Anat. d. Menschen, 1862.
ö'") Schüler von J. Müller, Remak, Virchow, 1857 o. Prof. d. Anat. u. Physiol.
in Basel, 1872 d. Anat. in Basel.
*""') Beitr. zur normalen u. path. Anat. d. Cornea, 1856. — Crania
helvetica. Mit Rütimeyer (L.) 1865. — Ueb. d. erste Anlage des Wirbel-
thiereies, 1868. — *Unsere Körperform u. d. physiol Problem ihrer
Entstehung, 1875. — *Anatomie menschl. Embryonen, 1880—85. — *Die
anat. Nomenclatur. Verz. der von d. anat. Ges. auf ihrer IX. Vers, in Basel
angenommenen Namen. M. 30 Abb. u. 2 Taf., Leipz. 1895. 180 S. Zu letzterem
Gegenstande vgl. *Krause (W.), D. anat. Nomenclatur. Eine histor. Unters.,
Leipz.. 1893, 33 S. — Verz. der die Entwicklung des Cerebrospinalsystems betreffenden
Arbeiten von His in Pageis Biogr. Lex.
i*^») Schüler von K. E. v. Baer, Joh. Müller, R. Froriep, seit 1843 o. Prof. d.
menschl. u. vergl. Anat. in Dorpat, seit 1853 an Th. v. Siebolds Stelle Direktor des
physiol. Inst, in Breslau, seit 1858 an Müllers Stelle in Berlin.
Geschichte der Anatomie. 293
Kiemenbögen. der Entwicklung des Amphibienschädels , 1845 Auf-
stellung (1er Bindesubstanzgi'uppe.^"^"') Neben ihnen verdient einer
besonderen Erwähnung Ehreuberg (Christian Gottfried, * 1795
19. April, f 1876 27. Juni) als Entdecker der Nervenzellen^"^) und
Remak (Eobert, * 1815 26. Juli, f 186ö 29. Aug., Schüler von Joh.
Müller), in der Embryologie hervorragend durch seine Lehre von der
Zusammensetzung der Keimhaut aus drei Schichten, Entdecker des
Achsencylinders und der nach ihm benannten Fasern, sowie des Zu-
sammenhangs des ersteren mit den Nervenfasern,^^-) dann Joh. Müllers
Schüler und Gehilfe Lieb erkühn (Nathanael, * 1822 8. Juli, f 1887
14. April),^"^^'') ein hochverdienter Embryolog, dessen Hauptthätigkeit
allerdings in seine Marburger Zeit fällt (1870— 1880),^''3b^ schliesslich
Reicherts Prosektor Wagener (Guido Eichard. * 1822 12. Febr.,
f 1896 10. Febr.), ^°^^) auf dem Gebiete der Entwicklungsgeschichte
der Wirbellosen thätig. Nachdem sich in Berlin das i. J. 1865 erbaute
L anat. Institut (Reichert) als nicht hinreichend erwiesen hatte, wurde
1888 das IL anat. Institut (Hertwig) eröffnet. Der so geschaffenen
neuesten Aera gehören Waldever (Heinr. Wilh. Gottfried, * 1836
6. Okti^oöj und Hertwig (Oskar. * 1849 21. April) am^««)
Wien^''') war gegenüber anderen Städten unverhältnismässig
lang zurückgeblieben. Seit der ersten Zergliederung einer menschlichen
Leiche (1404 12. Feb.) hatten jahrhundertelang fallweise Dissektionen
stattgefunden ^"*) ohne jedoch zu einem Aufschwung der Anatomie zu
loob^ De embryonum arcub. sie dictis branchialib., Berl. 1836. 4**. —
Vgl. Entwickelungsgeschichte des Kopfes der nackten Amphibien,
Königsb. 1838, 4**. — Das Entwickelungsleben im Wirbelthierreiche,
1840, 4°. — Bemerkungen zur vergl. Naturforschung im Allgem. u.
vergl. Beobachtungen üb. d. Bindegewebe u. d. verwandten Gebilde,
Dorpat 1845. — D. monogene Fortpflanzung, Dorpat 1845. — D. Bau des
menschl. Gehirns, 2 Abt., Leipz. 1859, 1861. — Die feinere Anatomie der
Gehörschnecke. Äbh. d. königl. preuss. Akad. d. Wissensch., 1864. — Vgl. die
Biographie von Waldever in Gurlt-Hirsch' Biogr. Lex. IV.
^''*) Weitaus weniger als o. Prof. f. Gesch. der Heilkunde (seit 1847).
'*•*) Vorlauf. Mittheilung mikroskop. Beobachtungen über den
inneren Bau der Cerebrospinalnerven, MüUers Arch. 1836. — Obser-
vationes anat. et microscop. de systematis nervosi structura,
Diss. 1838. — üeber denselben Gegenstand : Hannover (A.) , 3Iikroskopiske
Undersögelser af Nervesystemet, Kjöbenhavn 1842; Helmholtz (H. L. F. v.), De
fabrica svstematis nervosi evertebrator.. Berolin. 1842.
^°»») Seit 1867 Prof. d. Anat. in Marburg.
"•""j Ueb. d. Bewegungserscheinungen der Zellen (Marb. 1870); Ent-
wicklungsgesch. des Wirbel thierauges (Kassel 1872); Eesorption der
Knochensubstanz (m. Bermann. Frankf. 1877); Keimblätter der Säugethiere (Marb. 1880).
■*^*) Assistent von Brücke u. Joh. Müller, seit 1867 Prof. in Marburg.
^°^) Schüler von Henle, seit 1872 o. Prof. d. norm. Anat. in Strassburg, seit
1883 Direktor des anat. Inst, in Berl.
lO") Seit 1881 0. Prof. d. Anat. in Jena, seit 1888 o. Prof. d. aUg. Anat. u.
Entwickelungslehre in Berl.
^°') *Hyrtl (Jos.), Vergangenheit u. Gegenwart des Museums f. menschl.
Anat. an d. Wiener Universität, Wien 1869, 264 S. — *Puschmann (Theod.), D.
Medicin in Wien während d. letzten 100 Jahre, Wien 1884, 327 S. — »Schwarz
Qgji-), Zur älteren Gesch. des anat. Unterrichtes an d. Wiener Univ.. Wien. klin.
Wochschr. Nr. 25, 1895, S.-A., 11 S. — *Puschmann (Theod), Abschn. Med.
Facultät in d. Huldigun^festschr. „Gesch. der Wiener Univ. von 1848 — 98", Wien
1Ä98. — *Töply (Roh. Kitt, v.), Wiener Aerztefamilien der theresian. Zeit, in d.
Festschr. ,,Ein halbes Jahrtausend", Wien 1899 (Veröffentlichung des Liber societat.
vidnar. incl. facultät. medicae, tom. I).
*"*) Mangels von Verbrecherleichen an Tierleichen. Am Ende des 15. Jahrh.
' rreclmet der Dekan Mag. Friedr. Kraft eine Ausgabe von 17 Denaren „pro phorco".
294 , Robert Ritter von Töply.
führen. Die Schuld lag teils daran, dass erst 1554 besoldete Lehrer
bestellt wurden, teils daran, dass die Selbständigkeit der Anatomie vor-
derhand nicht anerkannt war. So hat der grundgelehrte Latz (Wolf-
gang, f 1565 19. Jan.) im Collegium Albertinum der Anatomie zwar ein
neues Lokal verschafft (1559), aber selbst auf dem Gebiete nichts ge-
leistet, ebensowenig sein Nachfolger Aicholtz (Joh., * 1520, j 1588
6. Mai), welcher 1558—80 neun Anatomien abhielt. Etwas mehr
Fürsorge widmete dem Fach Sorbait (Paul, f 1691.)^*^'*) Der neuen,
durch Harvey begründeten Richtung huldigt dessen Gehilfe Wolf-
striegel (Lorenz) in seiner Doktorthese (1658), in seinen ausserordent-
lichen öffentlichen Vorlesungen über Anatomie und in dem Einflüsse
auf seine im gleichen Sinne literarisch thätigen Schüler. Er brachte
das erste Menschenskelet in Wien zu stände, es wurde aber von den
Studenten gestohlen. Wolfstriegel beschrieb u. A. den embryonalen
Kanal des Keilbeinkörpers. ^^'^) Noch anfangs des 18. Jahrhunderts
lehrte die Anat. der Prof institutionum. Da seine Stelle als Vorstufe
zur Lehrkanzel des Prof. praxeos galt, widmeten die damit Betrauten
der Anatomie wenig Aufmerksamkeit (vgl. die ähnlichen Verhältnisse
in dem als hegemon geltenden Basel.^") Die Anziehungskraft der
med. Fakultät sank auf diese Weise beträchtlich (1723 studierten in
Wien 23 Mediziner !), ihre Trägheit ist dadurch sattsam gekennzeichnet,
dass im ganzen Jahre 1742 nicht ein einziger anatom. Akt stattfand.
Erst 1736 (a. h. Entschl. v. 26. Jan.) wurde eine Lehrkanzel der
Anat. errichtet, aber erst 1739 (3. Dez.) besetzt. Gleich der erste
Professor Mannagetta (Fr. Xav.) resignierte schon 1742 (Jan.), sein
Nachfolger, der ehemalige Militärarzt Schellenberger (1742
12. Jan. — 1754, f 1779), war ein nichtssagender Mann, ebenso der
pedantische Jaus (Franz Jos., * 1696 13. April, f 1761 IS. Aüg.y^)
In der neu eröffneten Universität (übergeb. 1756 5. April) begann
ein neues Leben, vor allem angeregt durch die von Van Swieten
geschenkte Präparatensammlung. ^^•') Hier gab Gasser (Lorenz,
Prof d. Anat. 1757 — 65) der nach ihm benannten aber schon von
Santorini (f 1737) gekannten Anschwellung des N. trigem. die richtige
Deutung (Gangl. semilun. Gasseri.).^^*) Neben dem unbedeutenden
Collin (Matthäus, * 1739 13. April, f 1817; Prof d. Anat. 1765—74)
lehrte der tüchtige Leber (Ferdin. Jos. Edler v.. * 1727 31. Dez.,
t 1808 14. Okt.; Schüler von Jaus, Prof d. Anat. 1761—86), dessen
Handbuch, ohne originell zu sein, wegen der Uebersichtlichkeit, der
deutschen Benennung der Kunstwörter und des deutschen Vortrags
die üblichen Schulbücher (Compendium von Heister, Vademecum von
^*>®) Isagog-e Institution, medicar. et anatomicar. , Norimb. 1672, fol. ;
Ed. 2. 1680, Vien.; Ed. 3. 1701, Vien.
^*°) Ueber seine u. seiner Schüler literar. Tliätigkeit Hyrtl a. a. 0. S. XX u. f.
^^') Ueber die anat. Schriften aus jener Uebergangsperiode vgl. Hyrtl a. a. 0.
S. XXII u. f.
"'^) Verwaltete das neuerrichtete Amt eines Prosektors seit 1730, war 1749 o.
50—61 Prof. chir., 1754 — 57 auch Prof. anat. Vgl. die urkundlichen Beiträge:
* Töply (Rob. Ritter v.), Professor Jaus, Wien. klin. Wochschr. Nr. 9. 1900,
S.-A., 7 S.
"") Sie enthielt Präparate von Ruysch, Albinus, Lieberkühn u. ward auf
20000 fi. geschätzt.
11*) Veröffentlicht durch Gassers Schüler Hirsch (Raym. Balth.) in dessen
Inauguralschr. 1765. Bis dahin galt das Gangl. als Plexus (Meckel) o. Taenia
nervosa (Haller).
Geschichte der Anatomie. 295
Kirchheim) verdrängt hat,*^^) dann der kunstsinnige Barth (Jos..
* 1745 18. Okt., t 1818 7. April; Prof. d. Anat. 1774—86), Erbauer
eines anat. Amphitheaters für 300 Zuhörer, besonders geschickt in
der Injektionstechnik, und wenn auch literarisch nicht besonders
hervorragend,^'*^) so doch durch seine Genialität der Mittelpunkt einer
nicht unbedeutenden Forschergruppe. Dahin gehören sein Prosektor
Ehrenritter (* ?, f 1790 o. 91; hielt die anat. Vorlesungen seit
1786), Entdecker des Ramus tympanicus und des Ganglion superius
nervi glossopharyngei,^' ') Fischer (Joh. Mart., * 1740, f 1820; seit
1785 Prof. d. Anat. an der Akad. d. bild. Künste), Yerfertiger der
bekannten Muskelstatue für Künstler,^^^) Prochaska (Georg, * 1749
10. April, t 1820 17. Juli),^!»^) welcher die feinere Struktur der
Muskeln und Nerven untersuchte,^^*"') Schmidt (Joh. Adam, * 1759
12. Sept., t 1809 19. Febr., Prof. an der Josefs-Akademie).!-») Vetter
(Alois Rudolf, * 1765 28. Aug., f 1806 10. Okt.).i-i) Derselben Zeit
und Geistesrichtung gehört auch Gall (Franz Jos., * 1758 9. März,
t 1828 22. Aug.), dessen anerkennenswerte Forschungen nach dem
Faserverlauf der weissen Substanz vom Rückenmark ins Gehirn aller-
dings weniger Aufsehen erregt haben, als seine Sammlung von Schädeln,
Gypsabgüssen und Wachsabdrücken (in den Besitz des Jardin des
plantes in Paris übergegangen) und vor allem seine Schädellehre, eine
Parallele zu Lavaters Physiognomik. !--) Nur Mayer (Michael,
115-) »Vorlesungen üb. d. Zergliederungskunst, 2. Aufl., Wien 1778,
488 S. — *Vietz (Ferd. Beruh.), Eede zur Gedächtniszfeyer des . . . Ferd. Edl.
T. Leber, Wien 1810, 23 S., 4«.
"*) Anfangsgründe der Muskellehre, m. 53 Kpf. (meist verkl. Kopien
nach Albin.), 1786: 2. Aufl. 1819. — Schneider (Eob. Eitt. v.), Ein Kunstsammler
im alten "Wien (Prof. Barth). Jahrb. des Kaiserhauses, Wien 1900, fol. S.-A., 11 S.
M. lUustr.
"') 1833 von Joh. Müller wieder beschrieben.
^**) Merkwürdigerweise haben Duval u. Guy er (*Hist. de l'Aanat. plastique,
Paris 1898, .351 p.. 118 flg.) diesem prächtigen Werke, das sich dem Gladiateur
combattant von Salvage getrost zur Seite stellen kann, ebensowenig Aufmerksam-
keit gewidmet, wie der Osteografia e miografia von Cattani (*Bologna 1780, fol.
max.j, obzwar letztere die zwei grössten anat. Kupferstiche enthält, die je ge-
schaffen wurden. Besonders prächtig ist der zweite, 180 cm hohe Muskelmann
(Hercules Lelli sculpsit, Antonius Cattani Placentinus incisit, Bononiae 1780). Auch
Choulant (*Gesch. d. anat. Abb. 1852) kennt letzteres Werk nicht.
1'"») 1778—91 in Prag Prof. d. Anat. u. Augenheilk., seit 86 auch der PhvsioL,
1791—1819 in Wien Prof. d. Physiol.
"*'') De carne niusc. Vindob. 1778 c. tab. — *De structura nervor.,
Vindob. 1779, 137 p. c. 7 tab.'— * Adnotation. academic, Pragae, fasc. I, 1780,
81 p. c. 4 tab., IL 1781, 141 p.. 7 tab., IH. 1784, 223 p., 5 tab. — *Operum minor.,
Pars I, Vienn. 1800, 404 p , 7 tab.
^^"^ Comment. de nn. lumbalib., Vindob. 1794, 4 tabb.
'^') Seit 1797 der erste Prosektor des allg. Krankenhauses in Wien, Gründer
der path.-anat. Sammlung das.. seit 1803 Prof. d. Anat. u. Physiol. in Krakau. Anat.
Lehrb., 4 Tl., Wien 1788— 92, m. Kpf. — Lehr b. d. Anat, L Bd., 3. Aufl.. Wien
1803; Lehrb. d. Anat. . . . d. Knochen- u. Muskellehre enth.. Wien 1812. —
Ich kenne von Vetter nur *Anatom. Grundbegriffe von den Eingeweiden
d. Menschen u. ihren Verrichtengen, Wien 1788, m. 4 Kpfrtf., 8*>, 360 S. *Kurz-
gef. Beschreibung aller Gefässe u. Nerven des menschl. Körpers. M.
4 Kupfert., Wien 1789, 491 S. Hier gesteht der Verf. „Ich habe bei den Blutgefässen
des Prof. Mayers Beschreibung, bei den Nerven die Anatome Eepetita des Prof.
Haase zum Grunde gelegt; bei den lymphat. Gefässen habe ich mich grösstenteils
nach Prof. Maskagni Ichnographie gerichtet". Er erzählt dann mit grosser Offen-
heit, sein Name werde mit Pasquillen gelästert, am 8. Apr. 1788 waren alle drei
Thore mit einem solchen behängt, Motto: Stultitia et arrogantia.
'") Anat. et physiol. du syst, nerveux, Par. 1810—18, 4 Bde. — Eine
auch literargeschichtlich wertvolle Uebersicht bei *Martens (Frnz. Heinr.), Leicht-
296 Robert Ritter von Töply.
Prochaskas Prosektor seit 1800, Prof. seit 1810, Lehrer d. Anat.
1791 — 1830) hat dreissi^ Jahre seines Lebens auf dem anat. Lehr-
stuhl versessen. ^-•^) Immerhin hatte sein bescheidenes Handbucli
Avälirend dieser Zeit doch 5 Auflagen erlebt. ^■^*) Sein Sohn, der
jüngere Mayer (Franz Xav., seit 1824—63 29. Dez. Prof. d. Anat.
in Graz), hat sich nicht wesentlich hervorgethan. Hingegen hat Pro-
chaskas Schützling Berres (Jos. Edler v. Perez, * 1796 18. März,
f 1844 24. Dez.)^-^*) die mikroskopische Anatomie in Wien als
Erster systematisch gepflegt und durch ein eigenes photomechanisches
Verfahren die Illustrationstechnik gefördert. ^-•'^'') Sein Prosektor
(seit 1833) Hyrtl (Jos., * 1811 7. Dez., f 1894 17. Juli)'-««^) war
ein Stern erster Grösse der neuen Wiener medizin. Schule. Er ver-
einigte universelles Wissen mit einer seltenen technischen Geschick-
lichkeit und einer ebenso seltenen Darstellungsgabe. Sein in 20 Auf-
lagen erschienenes und in alle Kultursprachen übersetztes Lehrbuch
beherrschte die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, seiner Initiative ver-
dankt Oesterreich und Deutschland die Einführung der topogr. Ana-
tomie. Die von ihm geleiteten und auch andere Museen verdanken
seiner und seines Assistenten Friedlowsky ^^^'') unermüdlichen
Thätigkeit wesentliche Bereicherungen, besonders durch ganze Folgen
vergleichend - anatomischen Inhalts. Seine Hauptleistungen bewegen
sich auf dem Gebiete der vergl. Anat. des Gehörorgans, der Injektions-
technik, der Korrosionsanatomie, schliesslich auf dem Gebiete der Ge-
schichte der Anatomie. ^ -'''') Sein (und Bochdaleks) Prosektor Gruber
(Wenzel, * 1814 24. Sept., f 1890 30. Sept.)^-'^) hat die Schleim-
fassl. Darst. der Theorie ... des Herrn Dr. GaU, Leipz. 1803, 99 S., 4 », m. 10
Knpfert., 5 in Aquatintamanier gfeätzt von Arndt. (Für d. Gesch. d. anat. Abb.
beachtenswert wegen der Seltenheit dieses Verfahrens. Von Choulant nicht erw.)
i23j Hyrtl, Verg. u. Gegenw. d. Mus. f. menschl. Anat. a. d. Wien. Univ.
p. LIX.
'-*) *Anat. Beschr. des ganzen menschl. Körpers, Wien 1799, 278 S.:
*5. Aufl. von Jeitteles (Andr. Ludw.), Wien 1831, 370 S.
^^^^) Seit 1817 Lehrer d. Anat. am Lyceura in Lemberg, seit 1820 an der neu-
gegründeten Univ. das. auch Prof. d. path. Anat., begründete dort das anat. Mus.
(1848 durch Brand zerstört), 1831 — 44 Prof. d. Anat. an d. Univ. in Wien.
1"") Anthropotomie, 1. Aufl. Lemberg 1821—27; 2. Aufl. 1834 von Hyrtl
mitbearbeitet; *Anat. der microscop. Gebilde des menschl. Körpers.
12 Lieferungen m. 24 Taf., 1837 — 43. — Ueber seine Stellung in der Geschichte der
ersten photomechanischen Verfahren vgl. *Schiendl (L.), Gesch. d. Photographie.
W. P. L., Hartleben 1891, 374 S.
^^^) 1837-45 Prof. d. Anat. in Prag, 1845—74 in Wien.
i26b^ Anton, Privatdozent seit 1868, zog sich später mit Hyrtl ins Privatleben
zurück, lebt gegenwärtig in Kreisbach bei Wllhelmsburg in Mederösterreich. Seine
umfangreiche Sammlung von Porträts (Aerzte u. Naturforscher) wurde 1901 von der
Hofbibliothek in Wien angekauft, nachdem sich die Universität einer derartigen
Erwerbung allerersten Ranges gegenüber ganz gleichgiltig verhalten hatte.
i2öc^ Von Hyrtls selbständig erschieneneu Werken verdienen besondere Be-
achtung: Vergl. -anat. Untersuchungen üb. d. innere u. mittlere Gehör-
organ d. Menschen u. d. Säugethiere, Prag 1845; *Handb. d. prakt.
Zergliederungskunst, Wien 1860; *Vergangenheit u. Gegenw. des
Wiener anat. Museums, Wien 1869; *D. Blutgefässe der menschl.
Nachgeburt, Wien 1870; *Corrosions-Anatomie, Wien 1872if.; *Das Arab.
u. Hehr, in d. Anatomie, Wien 1879; *Onomatologia anat., Wien 1880;
*Handb. d. topogr. Anat., 1. Aufl. 1847. 7. Aufl. 1882; *D. alten deutschen
Kunstworte in d. Anat. 1884; *Lehrb. d. Anat, 20. Aufl. 1889. — Vgl.
*Holl (Äloritz), Josef Hyrtl, Wien. klin. Wochschr. Nr. 30, 1894, S.-A., 14 S. m. Verz
der von Hyrtl veröffentlichten 190 Arbeiten.
127a) Prosektor in Prag 1844—47, dann in Petersburg, hier seit 1855 als Nacht,
von Pirogow Direktor des prakt. anat. Inst., seit 1858 o. Prof. d. prakt. Anat.
Geschichte der Anatomie. 297
beutel, die Bildimgsabweichungen der Gekröse und die Lagerungs-
anomalien der Eingeweide, sowie unzählige Varietäten verschiedenster
Art teils in kleineren Abhandlungen, teils monographisch (Hals-
rippen. Process. supracondvloid. des Oberarmknochens) beschrieben.^-''')
Neben und nach Hyrtl hat Voigt (Christ. Aug., * 1808, f 1890) i-^«)
die Verteilung der Hautnerven, das Liniensystem der Haut unter-
sucht. Aus der Schule von Berres, Hyrtl und Brücke stammt der
ungarische Anatom Lenhossek d. Ae. (Joseph von, * 1818 18. März,
f 1888 2. Dez.), ^■-'"') verdient durch Beiträge zur Histologie des
Centralnervensystems, durch den Monthyon-Preis in Paris ausgezeichnet,
durch den Ankauf seiner Präparate für das Hunterian - Museum in
London geehrt, um die Beschreibung von Schädelfunden in Ungarn
beflissen. Mit ihm beginnt die neue Aera der Anatomie in Ungarn.
Zu dieser zählen der aus der Budapester Schule hervorgegangene,
aber in Wien von Schenk und Toldt, in Leipzig von Ludwig und
Schwalbe, in Strassburg von Waldeyer beeinflusste Mihalkovics
(Victor Geza, * 1844 29. Jan.. f 1899 11. .Tuli),^=^«) einer der be-
deutenderen Vertreter der Entwicklungsgeschichte, sowie Len-
hossek d. J. (Michael IL von L.. * 1863 28. Sept.). i^^)
Hyrtls, aus der Schule von Berres hervorgegangener Nachfolger
Langer (Karl, * 1819, 1 1887), ^='-) ein vielseitiger Mann, hat u. A.
den Bewegungsmechanismus der Gelenke festgestellt, und ist zum Aus-
gangspunkt der jüngsten Wiener Anatomenschule geworden. Zu
dieser zählen in Wien — wo unter Langer, der hohen Frequenz ent-
1271.^ *Verz. der 18-f4 — 1887 veröffentl. Schriften von Dr. Wenzel Gruber (von
einem Komitee russ. Aerzte), St. Petersb. 1887, 52 S., fol. In diesem ausführlichen
Verz. fehlen noch: Beobachtungen a. d. menschl. u. vergl. Anat., Heft VIU, Berl.
1887, 4 °, dann sechs Aufsätze u. d. T. : Anat. Notizen in Virchow's Arch. Bd. 109.
(Grubers Nr. CCLV — CCLX, schliesslich seine letzte Arbeit: Monogr. des m. flexor
digit. brev. ped. in Denkschr. d. Wien. kais. Akad. d. Wiss. 56. Bd. 1889.) —
* Toi dt (C), Wenzel Grnber, Wien. klin. Wochschr. 1890 Nr. 41, S.-A., 4 S.
'*") Prof. d. Anat. an d. chir.-med. Lehranst. in Laibach seit 1847, in Lemberg
seit 1850, an d. Univ. in Krakan 1854 — 61, dann in Wien bis 1878.
^^^) Sohn des Physiologen Michael von L., ursprünglich Prof. e. o. der topogr.
Anat. in Budapest, dann 5 Jahre Prof. d. Anat. in Klausenburg, schliesslich wieder
in der ersten Stellung. — Ueb. d. feineren Bau der sog. MeduUa spin.,
Wien. Akad. Bd. 13. — Beitr. zur Erörterung des histol. Verb, des
centr. Nervensystems, Wien 1858. — Neue Unters, üb. d. fein. Bau d.
centr. Nervensystems, Wien, 2. Aufl. 1858, m. 5 Taf. — Lenhossek ist der Be-
gründer der modernen Eichtung der Anat. in Ungarn. Aus der älteien Zeit sind
erwähnenswert Trnka von Krzowitz (Wenzel, * 1739 Okt. 16, f 1''91 3Iai 12;
durch Van Swietens Vermittlung 1769 im Militärkrankenhaus zu Wien angestellt,
1770 Prof. d. Anat. in Tyrnau u. nach Aufhebung der dortigen Universität 1777—84
in Ofen, dann Prof. d. Pathol. in Pest), u. Kieninge r (Balthasar; veröffentlichte
als Prosektor d. Anat. an der königl. Ungar. Universität der Wissensch. zu Pest:
♦Programm üb. d. Zergliederungskunst, Pesth 1820, 8**, 53 S.).
'*") In Budapest Prof. extr. der Embryol. 1875, Prof. o. der Embryol. n. prakt.
Anat. 1878, o. ö. Parallel-Prof. der ges. descr. Anat. 1881. — Entwickelungs-
gesch. des Gehirns, Leipz. 1877. — Sonstige Schriften in Pageis Lex. S. 1140.
"'j Prosektor in Basel, Würzburg, Tübingen, seit 1900 o. Prof. d. Anat. u.
Dir. d. I. anat. Anst. in Budap. — Beitr. z. Histol. d. Nervensyst. u. der
Sinnesorg., Würzb. 1895. — D. fein. Bau d. Nervensyst. im Lichte
neuester Forschungen, 2. Aufl., Berl. 1895. — D. Gesch'macksknospen,
Würzb. 1894.
1«) 1843-47 Assist., 1849 Privatdoz. f. Anthropol., Anat., Physiol., 1851 Prof.
d. Zool. in Pest, 1856 der norm. Anat. am Josefinum, seit 1870 an d. Universität, —
Anat. d. äuss. Form d. menschl. Körpers. M. 120 Holzschn., Wien 1884. —
Lehrb. d. syst. u. topogr. Anat., 6. Aufl. von Toldt m. 3 lith. Taf., Wien 1897.
298 Robert Ritter von Töply.
sprechend, die Lehrkanzel geteilt worden, war — Toi dt (Karl,
*1840 3. Mai), '"-'') beim Neubau und der Einrichtung der grossen
anat. Institute (Prag 1876— 78, Wien 1885 — 86), als Forscher auf dem
Gebiete der systematischen und topographischen Anatomie, Histologie
sowie der Anthropotomie bewälirt, der Erste, der bereits 1878 im ana-
tomischen Institut in Prag einen „Studiensaal" für die Mediziner er-
richtet hatte, ^=^-'') und Zuckerkandl (Emil, * 1849), i=^ •''''), der be-
sonders die Anatomie der Nasenhölile und deren Umgebung eingehend
bearbeitet hat,!^^'^) in Graz Holl (Moritz, *1852 28. Juni),i=^*) in
Prag Rabl (Karl), ^ ''•''') in Lemberg Kadgi, in Innsbruck Höch-
st e 1 1 e r (Ferdin., * 1861 5. Febr.). ^ =^«) Toldts langjähriger Mitarbeiter
und Assistent Dalla Rosa (Alois) ^•^'''') hat u. A. die Entwicklung
der Schläfe (monographisch), die physiolog. Anatomie, dann für Toldts
Atlas die Gefässlehre bearbeitet, ^'^'^) Toldts Schüler R ex (Hugo, a. o.
Prof. in Prag) hat in seinen meisterhaften Korrosionspräparaten
Seitenstücke zu dem Besten geschaffen, was seinerzeit Hyrtl geleistet
hatte.
Die Histologie lehrte hier zwar schon seit 1849 Wedl (Karl,
*1815 14. Okt., tl891 21. Sept.), i'^^") doch liegt seine Thätigkeit
hauptsächlich auf dem Gebiete der pathologischen Histologie. ^*^^*')
Sein Nachfolger auf der 1872 errichteten Lehrkanzel, Ebner (Victor
Ritter v. Rofenstein, *1842 4. Febr.), ^^'''*) untersuchte u. A. den Bau
der Samenkanälchen, die Entwicklung der Spermatozoiden, die acinösen
Drüsen der Zunge. ^=^"'')
Einen grossen Einfluss auf die Forschungsmethode übte hier
1849 — 90 der Physiologe B r ü c k e (E. ; s. Berlin) , für dessen lang-
jährigen Assistenten Schenk (Leopold) *1840 23. Aug., f 1902)1*"'')
132a) Prof. d. Anat. in Prag seit 1876, in Wien seit 1884.
132b) *stndien üb. d. Anat. d. menschl. Brustgegend. M. 8 Holzschn..
Wien 1875; *Lehrb. d. Gewebelehre, 3. Aufl. M. Abb., Stuttg. 1888: *Anat
Atlas. Unt. Mitwirkg. von AI. Dalla Rosa, Wien 1895-1900. M. 1463 Holz-
schnittabb. — Vgl. *Rauber (A., Ueb. d. Einrichtung von Studiensälen in anat.
Instituten, Leipz. 1895), wo Toldts Leistung bei der Einrichtung des Studiensaales
in Prag ganz übergangen ist.
1"") 0. Prof. seit 1882 in Graz, seit 1888 in Wien.
^'"') Hauptwerk: *Norinale u. pathol. Anat. d. Nasenhöhle u. ihrer
pneumat. Anhänge, Wien 1882-92, 2 Bde. — Verz. der zahlreichen übrigen
Arbeiten in Pageis Biogr. Lex. Jüngste Leistung Umarbeitung von C. Heitz-
manns Atlas, 9. Aufl., 56. — 60. Tausend. Dieser Atlas ist seit 30 Jahren (1. Aufl.,
Wien 1870) das übliche Schulbuch für den Seziersaal. Als solches spielt er in der
Gesch. d. anat. Unterrichts neben Hyrtls Lehrbuch eine ebenso wichtige Rolle, wie
seinerzeit die Werke von Vesling, Verheyen, Heister, Kirch heim, Leber.
^**) Schüler von Hyrtl u. Langer, seit 1882 in Innsbruck, seit 1889 in Graz:
Operationen an d. Leiche, Stuttg. 1883; D. Muskeln u. Fascien des
Beckenausgangs, in K. v. Bardelebens Handb.
"») Suppliert d. Lehrkanzel das. im Wintersem. 1885/86, o. Prof. seit 1886.
i'«) Hier seit 1896 o. Prof.
^*'*) Noch als Med. cand. Assistent von Henke in Prag, sodann u. noch jetzt
von Toldt, a. ö. Prof. in Wien.
13 ;b) Physiolog. Anat. d. Menschen. 1. Th. Bewegungsapparat. M. 116
Abb., Wien 1898.
»3"») a. 0. Prof. seit 1853, o. Prof. seit 1873.
138b) Wedl gehörte ebenso wie M. Heider u. C. Stellwag v. Carion jener
Gruppe von Histologen an, die sich um Rokitansky scharten.
""') Schüler von Brücke u. Rollett, seit 1873 Prof. d. Histologie u. Entwicke-
lungsgesch. in Insbruck, seit 1888 o. Prof. d. Histol. in Wien.
139b) Verz. seiner Schriften in Pageis Biogr. Lex.
'*»•) 7 J. Assist. V. Brücke, a. o. Prof. 1873—1900.
Geschichte der Anatomie. 299
erst im Jahre 1873 ein embryologisches Institut errichtet
wurde. ^*^^) Einen ähnlichen Einfluss übte ung:efähr 1868—1898
Brückes Schüler und Assistent, der Experimentalpatholog Stricker
(Salomon. *1834. tl898 2. Apr.),i*^^) ein Meister in der Methode der
Forschung, ein ebensolcher in der Unterrichtstechnik. Seine und
seiner Schule Verdienste auf dem Gebiete der Mikroskopie der Gewebe
betreffen vor allem die Zelle und den Zellkern (Struktur, Proliferation),
die Zwischensubstanzen (Gesetz: Zellen können auch aus der Grund-
substanz entstehen), die Entdeckung der Kontraktilität der Kapillar-
wand und der Diapedesis, Feststellung, dass die Hornhaut aus einem
verzweigten Zellsystem aufgebaut ist, in dessen Maschen sich die
Grmidsubstanz befindet. ^^'^)
Pr a g. ^*-) Seit der ersten Leichenzergliederung dmxh Jessenins
(1600 8. — 12. Juni)^*=^) konnte die Anatomie durch 1^, Jahrhunderte
zu keinem ordentlichen Aufschwung kommen, weil die Professoren die
Lehrkanzeln jähiiich wechselten, weshalb die Anatomie (in Verbindung
mit Chirurgie und Botanik) nur als Uebergangsstufe zu den
höheren Fächern galt. Daher ist es auch verständlich, dass die
Studierenden, wie auch dereinst in Wien, einmal um Vornahme einer
Leichenzergliederung (1688 11. März), ein andermal um eine Kammer
für Sezierübungen (1691) ansuchen. Abgesehen von Jessenins ist im
17. Jahrh. nur Zeidler von Zeidlern (Sebastian Christian)
nennenswert, und auch dieser weniger wegen seines Lehrbuches, als
wegen der Erbauung eines anatomischen Theaters auf eigene Kosten
im Barmherzigeuspital, welches im Jahre 1688 von der medizinischen
Fakultät erworben, im Carolinum aufgestellt wurde. Seine Nach-
folger haben das Fach so vernachlässigt, dass laut Bericht des
Superintendenten der Universität an die königliche Statthalterei vom
"<"•) Lehrb. d. vergl. Embrvol. d. Wirbelthiere, TVien 1874: Lehrb.
d. Histol. d. Menschen, Wien, L Aufl. 1885, 2. Anfl. 1892. — Seine Broschüre
Einfluss auf d. Geschlechtsverhältniss des Menschen u. der Thiere
(Wien u. Magdeburg 1898) wollte die Geschlechtsbestimmung vom diätetischen Ver-
halten abhängig machen. Diese „Theorie Schenk" erregte ungeheures Aufsehen u.
einen Sturm gegen den Urheber, infolgedessen er nolens Tolens in den Ruhestand trat.
"1") Seit 1868 a. o., seit 1872 o. Prof.
'*'•') Handb. der Lehre von den Geweben d. Menschen u. d. Thiere.
Unt. Mitwirkung von E. Klein, E. Verson, Reitz, Grünwald, E. Albert
2 Bde., Leipz. 1871-73: Manual of hum. and comp, histol. Transl. by
Henry Power, London, N.-Sydenh. Soc. 1870 — 73; A manual of histol. In
coop. w. Th. Meynert (a. o.) transl. by H. Power of Lond., James J. Putman
and J. Orne Green of Bost. Americ. transl. ed. by Alb. H. Bück, N.-York 1872. —
*30 Jahre experim. Pathologie (Festschr. m. Strickers Portr.), 1898, 97 S., m.
Verz. der wissensch. Public. Strickers u. seiner Schüler 1857 — 98.
"*) *Ilg (Georg), Vorwort, gespr. b. d. feierl. Einweihung des neuen Locals
der anat. Lehranst. ... am 11. October 18:^0, Prag, 4°, 16 S. — *Jungmann
(Ant.), Skizzirte Gesch. d. medicin. Anstalten an d. Univ. zu Prag. Med. Jahr-
bücher N. F. Bd. 22. S.-A., Wien 1840, 76S. — *Hyrtl (Jos.), Bericht üb. d. anat.
Institut der Karl-Ferd.-Univ. in Prag, Prag 1841. — *Wintr (Zikmund), Deje
vvsokvch §kol prazskvch 1409—1622. V. Praze (Gesch. der prager Hochschulen
1409-1622, Prag), 1897, 230 S. — *Wintr (Zikm.), 0 zivote na vysokych skoläch
prazskvch. V. Praze (1). Leben an den prager Hochschulen, Prag) 1899, 614 S. —
•Rabl (Carl), Abschnitt „Anatomie'' in Die deutsche Karl-Ferd.-Univ. in Prag unter
d. Reg. S. M. d. Kais. Franz Josef 1., Prag 1899, 492 S.
"') Anatomiae Pragae ao. 1600 abs se solenniter administratae historia
(Acced. de ossib. tract.), Witteb. 1601.
"*) *Somatotomia Andropologica . . . publice... celebrata ... prae-
parante filio Bemardo Norberto ... a. s. 1686, Pragae, 120 S., fol., m. 28 Knpfert.
300 , Robert Ritter von Töply.
Jahre 1712 während 22 Jahren nur 3 Zergliederungen vorkamen.
Unter den späteren Lehrern ^*'^) sind hervorhebenswert Mayer von
Mayersbach (Job. Ignaz) wegen Neuaufstellung des verfallenen
anatomischen Theaters auf eigene Kosten im Jahre 1731, dann dessen
Nachfolger Biener (Franz Ignaz; Prof. 1739), ein in Holland und
Frankreich gebildeter Arzt. ^*")
Eine erfolgi-eichere Entwicklung wurde erst seit 1747 möglich, in
welchem Jahre jener Professoren Wechsel durch die königliche Statt-
halterei aufgehoben wurde. Gleich der erste Anatom Du Toy (Franz
Joseph, resignierte 1761), legte durch Schenkung seiner teils selbst
angefertigten, teils in Holland erworbenen Präparatensammlung den
ersten Grund zu einem anatomischen Kabinet (bis dahin hatte die
Universität nur 2 menschliche Skelete und einen zum Behuf der Myo-
logie präparierten Körper besessen). Auch übte er häufiger die Zer-
gliederungen, sowie er überhaupt den Anschauungsunterricht pflegte,
während seine Vorgänger das Fach nur theoretisch, aus dem Buche
gelehrt hatten. Sein Zögling und Nachfolger Klinkosch (Joh. Jos.
Thaddäus, -|-1778) führte die praktischen Zergliederungsübungen der
Studierenden ein. ^*^) Der von Wien gekommene Pro chaska (Georg,
vgl. Wien) übernahm nach dem Studienplane von 1786 . die „höhere"
Anatomie, Physiologie und Augenheilkunde und erhielt einen besoldeten
Prosektor, ^*^) welcher die anatomischen Vorlesungen zu halten hatte.
Sein Nachfolger Mattuschka (Ignaz Hadrian; vorher Professor der
Anatomie in Brüssel) überliess die Professur auf dem Vergleichswege
(genehmigt 1793 29. Jan.) dem bisherigen Prosektor E o 1 1 e n b e r g e r
(Joseph, *1760), welcher dann mit seinem Prosektor Oechy (Joseph) ^*'"')
die Beistellung eines Sezierraumes, d. h. eines ebenerdigen niederen,
finsteren Gewölbes mit anstossender Kammer erreichte (bis dahin
hatten die Zergliederungsübungen im Hörsaale, jedoch unter den
amphitheatralisch angeordneten Bänken stattgefunden). Rottenberger
lehrte die höhere Anatomie und Physiologie nach Hallers Grund-
riss, Oechy die Anatomie nach Leb er s Lehrbuch, Ilg (hier
1809 — 34, s. im Folg.) in den letzten drei Jahren, wie auch Hyrtl
fhier 1837 — 45, s. im Vorigen) bis zum Jahre 1843 nach dem Hand-
buche von Römer, Bochdalek (Hyrtls Nachf. 1845 — 71) in den
ersten 3 Jahren und wahrscheinlich auch später nach dem Lehrbuch
von Hyrtl. Henke (hier 1872—76, s. Marburg) hat hier den histo-
logischen Unterricht, der bis dahin fast ausschliesslich in den Händen
der Physiologen lag, durch Heranziehung von Flemming (Walter)
in geregelte Bahnen geleitet, Toldt (hier 1876 — 84, s. Wien) im
Jahre 1877 das neue Anatomiegebäude eingerichtet und 1880 endlich
die Errichtung einer besonderen Lehrkanzel der Histologie durchge-
setzt (an Sigm. Mayer übergeben). Aeby lebte hier zu kurz, um
145) Verz. bei Jungmann a. a. 0. S. 16.
'*^) De organo auditus diss.
"^ Seine Besoldung betrag 1000 fl.
"**) Jahresgehalt 600 fl. Bis dahin waren (seit 1746) die 3 Stadtwimdärzte als
Prosektoren abwechselnd dem Prof. d. Anat. beigegeben worden.
u9«) Prosektor seit 1794 15. Mai, übernahm 1808 die neu errichtete Professur
der theoret. Chir.
U9b) Anweisung zur zweckmässigen zierlichen Leichenöffnung
u. Untersuchung Prag 1802. — Der jüngere Oechy (Johann) ist mit einer
merkwürdigen, die Geistesrichtung der damaligen Schule kennzeichnenden Inaug.-
Diss. aufgetreten: *De influxu astror. in corpora hum. 1836, Pragae, 29 S.
Geschichte der Anatomie. 301
irgendeinen nachhaltigen Einfluss zu üben (1884 30. August berufen,
fl885 7. Juli, s. Bern). Sein Nachfolger Rabl sowie Rex (s. Wien)
haben das anatomische Museum neuerdings wesentlich bereichert,
sodass es heute eine Stellung einnimmt, welche von wenigen Museen
Oesterreichs und Deutschlands erreicht und vielleicht von keinem
übertrofien wird, ^^"j
In der Armee waren die Verhältnisse anfangs noch trauriger als an
der Universität. Erst 1776 (18. Okt.) erliess der Hofkriegsrat, damals die
oberste militärische Behörde, eine Verordnung, laut welcher kein Feldarzt
in der Armee angestellt werden darf, der nicht Anatomie studiert hätte.
An der 1785 (7. Xovb.) eröffneten k. k. chirurg. Militärakademie (nachmals
k, k. medizinisch-chirurgische Josephs-Akademie) wurde zwar ein Stab-
chirurgus als Prof. d. Anat. nebst einem Prosektor angestellt und im selben
Jahre für 30 000 Gulden aus Florenz eine der bedeutendsten "Wachspräparaten-
sammlungen erworben, aber noch 1795 hatte die kleine Sektionskammer
kein Wasser, für anatomische Uebungen war im Anstaltsgebäude selbst gar
nicht vorgesorgt. AJlerdings war an die abseits gelegene Totenkammer ein
Zimmer angebaut, aber so unbedeutend und klein, dass es für Nichts zu
rechnen war. Ebenso fehlte es an einer Knochenbleiche und Macerations-
kammer. ^^*) Die Josephs- Akademie hat ursprünglich bis 1848, dann
reorganisiert von 1854 — 74 bestanden. In der ersten Periode wirkten dort
als Professoren der Anatomie und Physiologie Böcking (Wilh.), Seh er er
(Jos. Ritter v., * 1750, 7 1844 10. Okt.), ^5-) schliesslich als Prof. d. Anat.
Römer (Ant.), ^■^'^) ohne Besonderes zu leisten, auch ohne dass dem Gegen-
stande der entsprechende Wert beigemessen worden wäre, denn nach Römers
Abgang d. i. seit 1843 Hess man den Lehrstuhl der Anatomie bis auf
weiteres unbesetzt. ^^^)
Dieser Schule entstammte Ilg (Job. Georg, * 1771, 7 1836 20. Febr.),^^'*)
ein klarer Kopf und scharfer Denker, ein tüchtiger Fachtechniker, besonders
verdient um die Anatomie des Gehörorgans, um das 1830 eingeweihte neue
Lokal der anatomischen Lehranstalt in Prag, i^äb^ Aus seiner Prosektur
sind hervorgegangen Purkyne (Job. Evang., * 1787 17. Dezb., 7 1869
18. Juli; Prof. d. Physiol. in Breslau u. Prag), welcher bereits 1837 mit
dem Grundgedanken der Zellenlehre, also 2 Jahre vor Schwann auftrat,
i«>) Rabl a. a. 0. S. 187.
i^>) *Habart fJoh.) u. Töply (Roh. Ritt, v.), Unser Mil.-Sanitätswesen vor
100 Jahren. Urkundl. Beitr., Wien 1896, 111 S.
^^'') Rede z. Andenken des 7 Joh. Ad. Schmidt, Wien 1810, 4»; Tabb.
anatt. quae exhib. musei anat. Acad. C. R. Josephinae praeparata
c e r e a = Anat. Tabellen nach d. Wachspräparatensammlung u. s. w., 5 Bde., Wien
1817-21, 302 Taf. gr. fol. m. lat. u. deutsch. Text.
"*) Handb. d. Anat. d. menschl. Körpers, 2 Bde., Wien 1831; *Spec.
Verz. der . . . anat.-physiol. natürl. u. Wachspräparate, welche im Ge-
bäude der Jos.-Akad. aufgestellt sind, Wien 1837.
^^) Die Angaben bei Pusch mann (D. Med. in Wien währ. d. letzt. 100 J.)
imd Kirchenberge r (Gesch. des k. u. k. österr. - ungar. Mii.- Sanitätswesens,
Wien 1895, 259 S.) über die Jahre der Lehrthätigkeit der Genannten stimmen nicht
genau überein. Eine endgiltige Klärung wäre erwünscht.
i»*aj ggj|. j^jyg jj lehrender Prosektor am Josephinum, seit 1899 in Prag, durch
Stndienhofkommissionsdekret v. 31. Jan. 1810 wie auch die übrigen Prosektoren u.
Lehrer der Anat. an den Universitäten und Lyceen in den Rang eines Prof. er-
hoben, 1834 auf eigenes Ansuchen enthoben.
i5»b) Grundlinien der Zergliederungskunde, Prag 1811, 2 Bde. —
Einige anat. Beobachtungen, enth. eine Berichtigiing der zeitherigen Lehre
vom Bau der Schnecke etc., Prag 1821 in 3 Steindr. — Anat. Monogr. der
Sehne urollen, Prag 1823, 2 Hefte m. 5 Steindr.
302 Robert Ritter von Töply.
Hain dl (Prof. d. Anat. u. Direktor des allg. Krankenhauses in Lemberg),
Bochdalek (Vincenz, * 1801, f 1883 3. Febr.; seit 1845—71 „Professor
der allgem. Anat., dann der koniparat, u. chirurg. Anat." in Prag). In
des Letzteren Zeit fällt der Beginn des histologischen sowie des entwicklungs-
geschichtlichen Unterrichts in Prag.
Römers Schüler Eble (Burkhard, * 1799 6. Nov., f 1839 3. Aug.) "*«")
ist als Historiker der Jahre 1800 — 25 bezw. als Fortsetzer der noch immer
unsterblichen Leistungen Curt Sprengeis einer der wenigen Sterne erster
Grösse des alten Josephinum. J5"i^) Das Reglement von 1854 stellte an
die Zöglinge weitaus höhere Anforderungen (a für den höheren 5 jährigen
Lehrkurs : im I. Jahr descr. Anat., im II. Physiol. u. vergl. Anat., topogr.
Anat. nebst prakt. Uebungen, überdies das ganze I. u. IL Jahr Sezier-
übungen; b für den niederen 3jährigen Lehrkurs im I. descr. Anat, über-
dies Sezierübungen). Die Lehrkanzel der descr. Anat. hatte zuerst Engel
(Joseph, * 1816, f 1899 3 Apr.). lö'"*) Sein Kompendium der topogr. Anat.
gehörte zu den besseren Büchern jener Zeit. Er entwickelte, wenn auch
nicht ohne Uebertreibung und Paradoxen den richtigen Gedanken, dass die
Form der Antlitzknochen vom Entwicklungsgrad der Kaumuskeln abhängt.^'''"'')
Sein Nachfolger Langer (Karl, am Josephinum 1856 — 70) entfaltete sich
ausgiebig erst an der Universität (s. oben), denn im beschränkten Kreise
einer reglementierten Wissenschaft ist nur wenig Platz für den freien Ge-
dankenflug.
Für eine Sonderbehandlung der medizinischen Studien in den deutsch-
italienischen Provinzen der österreichischen, bezw. in den Ländern der österr.-
ungarischen Monarchie kommen folgende Städte in Betracht : Brunn,
Budapest, Czernowitz, Graz, Innsbruck, Klagen fürt,
Klausenburg, Krakau,^^**) Laibach, Lemberg, Linz, Mailand,
Olmütz, Padua, Pavia, Prag, Salzburg, Trient, Triest,-
Tyrnau, Wien, Zara. An den dortigen höheren medizinischen Lehr-
anstalten, Lyceen bezw. Lehranstalten für Chirurgie und Geburtshilfe, ab-
gesonderten Hebammen-Lehranstalten spielt der Betrieb der Anatomie eine
ungleiche Rolle, teils infolge der verschiedenen Bestandesdauer sowie der
Organisationsänderungen innerhalb jener Schulen, zum Teil unter dem Ein-
flüsse wechselnder Studienordnungen (im 19. Jahrh. 1804, 1810, 1833,
1850). Im grossen Ganzen ist hier — wenn man von den italienischen
Universitäten, dann von einigen wenigen Berufungen aus dem Auslande
15«») 10 Jahre Prosektor, dann seit 1832 Regimentsfeldarzt u. bis 1837 Biblio-
thekar der Josephs-Akad.
i5öb) *Diss. inaug. med. de studio anat, c. tab. aenea, Vindob. 1827,
55 p. (Gleichzeitig Beschr. des Römerschen Apparats zur Eröffnung des Rücken-
markskanals: eine Stichsäge, eine Knochenzange und eine Hacke, im wesentlichen
nichts anderes, als das Esquiro Ische Rachiotom); *Vers. einer pragmat.
Gesch. d. Anat. u. Physiologie v. J. 1800-1825. Wien 1836, 355 S.; *Curt
Sprengel's Vers, einer pragmat. Gesch. d. Arzneik. VI. 1. 1800—25,
Wien 1837, 654 S. m. d. Bildn. d. Verf. — Vergl. *Stotz (Burkh.), Med. Biogr.
Burkh. Eble's, Inaug.-Diss., Tübing. 1841, 46 S.
167a-) 1844 Prof. d. Anat. in Zürich, 1854—74 (od. 1856—73?) an d. Jos.-Akad.
f. topogr. u. path. Anat.
i^'*") D. Knochengerüste des raenschl. Antlitzes, Wien 1850; Com-
pendium der topogr. Anat., Wien 1860.
^^^) Hier ist ausser den Genannten noch hervorzuheben der Entdecker der
Hämatinkrystalle Teichmann (Ludwig T.-Stawiarski, * 1823 16. Sept. f 1895
Nov.; in Göttingen Privatdoo. f. Anat. u. Physiol. 1859, in Krakau 1861 Prof. extr.
der path. Anat., 1868 — 93 Prof. o. der descr. u. vergl. Anat.), verdient durch Er-
bauung des neuen Anatomiegebäudes. Das Saugadersystem vom anat. Stand-
punkte, Leipzig 1861.
I
Geschichte der Anatomie. 303
absieht — für die Entwicklung der Anatomie als "Wissenschaft die "Wiener
Schule massgebend gewesen.
Deutschland hat in der Anatomie während des 19. Jahrhunderts
thatsächlich so viel und so Vieles geleistet, dass es in dieser Eichtung
gegenwärtig an der Spitze steht. Ausser den schon Genannten seien
noch die Folgenden erwähnt. Der älteren Zeit gehört noch Krause
(Karl Christ, *1716, f 1793 26. Apr.), ^^'^j ein lastrophysiker, Gegner
der Hallerschen Irratibilitätslehre, aber Uebersetzer von dessen Abhand-
lung von den empfindlichen und reizbaren Teilen (1756), von Alex.
Monros Knochenlehre (1761), Herausgeber des Celsus (1767), Haase
(Joh. Gottlob. *1739, flSOl 10. Nov.),^«^) ^^j. Ornithologe Otto d.
Ae. (Bernh. Christian, 1745 6. März. tl835 10. Nov.),i«^) Hempel
(Adolph Friedr., *1767 3. Aug., tl834 28. Febr.),i«-'') dessen Lehrbuch
während der ersten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts sehr beliebt
war, ^'^-^ der neueren Zeit jedoch Rosen müller (Joh. Christ., *1771
25. Mai, tl820 28. Febr.), ^<^=^^) ein vielseitig gebildeter Anatom, Mit-
herausgeber der .,Beiträge für die Zergliederungskunst 1800—01'',^^^*')
Burdach d. Ae. (Karl Friedr., *1776 12. Juni, tl847 16. Juli), i«^^)
Gründer einer anatomischen Anstalt in Königsberg und mit Rathke (H.)
sowie Baer (K. E. von) der dortigen anatomischen Sammlung, ^^*^)
Kieser (Dietr. Georg, *1779 24. Aug., tl862 11. Okt.), einer der
Hauptvertreter der naturphilosophischen Richtung in mannigfaltigen
Anstellungen zu Jena, verdient um den Nachweis der schon beim
Säugetier gekannten Allantois für den menschlichen Embryo. ^*'-^) der
Teratolog Otto d. J. (Adolph "VVilh., * 1786 3. Aug., f 1845 14. Jan.),i«ß)
Lucae d. Ae. (Sam. Christian, *1787 30. Apr., tl821 28. Mai),i«'»)
einer der älteren deutschen Anthropologen und Embryologen, ^^^)
1»") Seit 1726 Prof. d. Anat. u. Chir. in Leipzig.
"") Seit 1774 a. o., 1786 o. Prof. d. Anat. u. Chir. in Leipzig.
"1) 1782 Prof. d. Naturg. u. Oekonomie in Greifsw., 1788 Prof. d. Med. in
Frankf. a. 0., zugl. Oberaufseher des bot. Gartens u. des anat. Theaters bis zur
Verlegung der Univ. 1811. Vgl. S. 29i).
1«-") In Göttiugen 1789 Privatdoc. u. Prosektor, 1808 a. o., 1819 o. Prof.
ie2b^ Anfangsgründe der Anat., 1801 — 33 sechs Autlagen.
163a) 1794 Prosektor, 1802—20 Prof. d. Anat. u. Chir. in Leipzig.
lö.^b) Part, externar. oculi hum. impr. organor. lachrym. descr. . . .
iconib. illustr. 1797. — De ovariis embryon. et foetuum hum. 1802. — De
nonnullor. musculor.; D e singularib. et nativis corp. h. varietatib.
1804. — Chir.-anat. Abb., lat. u. deutsch, 3 Th., Weimar 1805—07. — Handb.
d. Anat. nach Loders Umr. 1808; 2. Aufl. u. d. T. Handb. d. Anat. z um
Gebr. f. Vorles. 1815; 4.-6. Aufl. von Weber (E. H.) 1828—40, lat. u. d. T.
Compend. anat. 1816. — De anatomicor. terminis techn. 1811. — N. obtu-
ratorii monogr. 1814. — De viris quibusd. qui in academia Lips. ana-
tomes peritia inclaruer. P. 1.-8, 1815 — 19. — Prodrom, anat. artifieib.
inservient. 1819.
1«*"} 1811 Prof. d. Anat., Physiol., gerichtl. Med. zu Dorpat, 1814 der Anat. u.
Physiol. zu Königsberg i. Pr., Vorst. d. anat. Anst. bis 1827.
i«4b) Ueh. d. Aufgaben der Morphologie, 1818. — Vom Baue und
Leben des Gehirns 1819.
^''*) *D. Urspr. des Darmkanals aus d. Vesicula umbil. dargest.
im menschl. Embryo. M. 2 Kpft, Götting. 1810, 4», 31 S.
"•) Sohn von B. Ch. Otto, in Breslau 1813—45 o. Prof. d. Anat. u. Dir. des
anat. Mus.
i»7.j Prof. d. vergl. Anat. u. Physiol. a. d. med. Spezialschule in Frankf.
1812—13, dann Kliniker in Marburg.
"'^j Schrifenverz. in Gurlt-Hirsch' Biogr. Lex. IV 53. Kulturgeschichtlich
wichtig „Programma: disquis. cur nostris temporib. multo parcius
304 Robert Ritter von Töply.
AVeber (Moritz 'Ignatz, * 1795 10. Juli, f 1875 22. Juli),^««») verdient
um die anatomische Abbildung, *"**'') Huschke (Emil, *1797 14. Dez.,
fl858 19. Juni),*""*) verdient um die Beschreibung der Entwicklung
der Schilddrüse (später Stieda, Wölfler), Einstülpung der Linse, der
nach ihm benannten Zähne in der Gehörschnecke, der Knorpel in der
Nase, der Krystallformen der Otolithen, ^*'*"') Krause d. Ae. (Karl
Friedr. Tlieod., *1797 15. Dez., tl868 8. Juni),i'»'') ein tüchtiger
Histolog, Entdecker der Bindegewebsfibrillen, der Querstreifung der
Herzmuskelfasern, der Anfänge der Lymphgefässe in den Darmzotten
(gleichzeitig mit Henle), der nach ihm benannten acinösen Drüsen der
Augenbindehaut, der Ganglienzellenschicht der Netzhaut und der
Nervenzellen des Orbiculus ciliaris, des Muse, coraco-cervicalis, über-
dies verdient um die Beschreibung der Keilbein- und Siebbeinhöhlen,
die Unterscheidung des Foramen (bezw. der Incisura) supraorbit. und
front, am Margo supraorbit., eine mustergiltige Feststellung der
Gestalt und der Dimensionen des Auges, eine grundlegende Darstellung
des Kopfsympathicus;!^"^) Wagner (Joh., *um 1800, tl833; in Wien
1830 — 33 a. o. Professor der pathologischen Anatomie), welcher 1824
zuerst von vorn den Wirbelkanal und zwar mit gewöhnlichen Meissein
eröffnet hat und dadurch eine Rolle in der Geschichte der anatomischen
Technik spielt (vgl. dazu die Methoden von Esquirol, Römer. Brunetti),
Burdach d. J. (Ernst, *1801 25. Febr., f 1876 10. Okt.),*'i) B^dder
(Heinr. Friedr., *1810 28. Okt. = 9. Nov., tl894 27. Aug.), ^'f*) Ver-
fasser mehrerer biologischer Arbeiten mit Volkmann (Alfr. Wilhelm),
Schmidt (Karl), Kupffer (Karl Wilh.),!'^^) Lucae d. J. (Johan
Christian Gustav, * 1814 14. März, f 1885 3. Febr.),*'^*) dessen Werke
sich auf die normale und pathologische Anatomie des Menschen,
vergl. anatomische Entwicklungsgeschichte beziehen, besonders die
Entwicklung des Schädels und die Kraniologie betreffen, sowie er auch
quam olim inter medicos juniores reperiantur docti literisque satis
imbuti", Marb. 1820, 4. — Vgl. Wagner (C. F. Ch.) mera. S. C. L. Marb. 1822,4.
^'*'**) In Bonn Prosektor, 1825 Prof. e. o. d. Anat., 1830 o. Prof. der vergl. u.
path. Anat.
i<j8b) A^nat. Atlas d. menschl. Körpers in nat. Gr., Düsseid. 1830—33,
2. Auti. 1835—41, imp. fol., 82 T.; engl. 1831—33; franz. 1834. — Vollst. Handb.
d. Anat., 3 Bde., Bonn 1839—42; 2. Aufl. 1845. — Hand-Atlas d. menschl.
Körp. mit den in die einzelnen Theile ein- o. beigeschriebenen Namen ders., ähnlich
wie bei Landkarten. Nach B. S. Albinus, Bonn 1853, imp. fol.
1«»") In Jena von Oken beeinflusst, dort 1824 Prof. e. o., 1827—58 Lodere
Nachfolger.
i8«b) Vergl. Waldeyer in Gurlt-Hirsch' Biogr. Lex. III 324.
i70a^ Aus der anat. Schule des Leibchirurgen Widemeyer in Hannover, Prof.
d. Anat. an der reorganisierten Chirurgenschule das. bis zu deren Auflösung.
1'«"^) Handb. d. menschl. Anat., Hannover 1833—38; 2. Aufl. 1841—43. —
Einige Bemerkungen üb. d. Gestalt u. d. Dimensionen des menschl.
Auges, Meckels Arch. 1832; Poggendorfi's Annal. 1833, 36. — Synops. icone
illustr. nervor. systematis gangliosi in capite hum. Hannov. 1839. —
Artikel „Haut" in R. Wagners Handwörterb. — Vgl. K. F. Krause, ein Lebena-
abriss als Vorwort zu W. Krause, d. motor. Endplatten, Hannover 1869.
i"') In Königsberg 1839 Prof. e. o., 1844 Prof. o. f. Anat. Beitr. zur mi-
krosk. Anat. d. Nerven, Königsb. 1837 m. 2 Kpft.
1^2«) In Dorpat 1836 a.o. Prof. d. Anat. u. Prosektor, 1842 o. Prof. d. Anat,
1843—69 der Physiol.
*'•"') D. Selbständigkeit des sympath. Nervensyst. durch anat.
Unters, nachgewiesen.
^'**) 1851 Lehrer d. Anat. am Senckenbergschen med. Inst., 1863 Prof., seit
1869 auch am Städelschen Kunstinstitut.
Geschichte der Anatomie. 305
seit 1843 mit dem Bildhauer Schmidt v. d. Launitz bemüht war, die
Zeichnungsmethode anatomischer Gegenstände zu verbessern und da-
durch einen hervorragenden Platz in der Geschichte der anatomischen
Abbildung einnimmt, ^'^^) der auf dem Gebiete der topographischen
Anatomie, dann durch die Entdeckung der „Steissdrüse" (glomus
coccygeum) sowie durch eine klassische Beschreibung des Kehlkopfes
bekannte Luschka (Hubert von, *1820 27. Juli, flSTö 1. Mai),^'*)
der auf dem Gebiete der Optik, Mikroskopie, Histologie, Anatomie,
Anthropologie und Ethnologie thätige Erfinder des Miki'otoms W e 1 c k e r
(Herrn., * 1822 8. Apr., f 1897), i'^) Köllikers Schüler Gegenbaur
(Karl, * 1826 21. Aug.), ^^*') einer der hervorragendsten Vertreter der
vergl. Anatomie in Deutschland während der 2. Hälfte des 19. Jahr-
hunderts, Bidders Schüler Kupffer (Karl Wilhelm, * 1829 14. Nov.,
71902 Dez.), ^'") Verfasser zahlreicher Arbeiten auf den Gebieten
der vergl. Anatomie, Embryologie, Histologie, Anthropologie, zumeist
im Verein mit seinem Lehrer Hoffmann (Karl Ernst Emil, * 1827
27. Apr., f 1877 15. Dez.), ^'^) der das anatomische Institut in Basel
auf eine unerwartete Höhe hob, Goll (Friedr., *1829 1. März),i'»)
dem neben Burdach ein besonderes Verdienst um die Anatomie der
Rückenmarksstränge gebührt, Braune (Christian Wilhelm, *1831
17. Juli, f 1892 29. Apr.), ^^'^) dessen Atlas nach Durchschnitten an
gefrorenen Kadavern und Darstellungen der Venen zu den Monumental-
werken des 19. Jahrhunderts gehören, ^^^'^) Krause d. J. (Wilhelm,
i'^'O Abbildungen der menschl. Skelettheile, Frankf. 1860, m. 28 Taf.
gr. fol. — Znr Anat. des weibl. Torso, Leipzig u. Heidelberg, m. 12 Taf., gr.
fol. — Skelet eines Mannes in stat. u. mechan. Verhältnissen, Frankf.
1876, 1 Taf. gr. fol. m. Text. — Vgl. Gnrlt-Hirsch Biogr. Lex. IV 53.
^'*) 1849 — 75 in Tübingen, anfangs Prof. e. 0., seit Arnolds Abgang Prof. 0.
n. Vorst. d. anat. Anst. D. Brustorgane d. Menschen in ihrer Lage. M,
6 Tai, imp. fol.. Tübingen 1857. — D. Halbgelenke d. menschl. Körpers.
M. 6 Kpftf., Berl. 1858. — *D. Anat. d. Menschen in Rucks, auf d. Be-
dürfnisse d. prakt. Heilk., 3 Bde., Tübingen 1862—67. — D. Hirnanhang
u. d. Steissdrüse d. Menschen, Berl. 1860. — D. Kehlkopf d. Mensch., 187L
Im übrigen vgl. Gurlt-Hirsch Biogr. Lex. IV 68.
^''^j In Halle 1859 Prosektor u. Prof. e. 0., 1866 Prof. 0. d. Anat., 1876—93 als
Nachf. von A. W. Volkmann Direkt, des anat. Instituts. Verz. seiner Schriften in
Gnrlt-Hirsch Biogr. Lex. VI 231. — VVelckers Vorgänger i^ Halle Volkmann
(Alfr. Wilh., * 1800 1. Juli, f 1877 21. AprU) lehrte dort 1843—72 Physiologie u.
überdies 1854 — 76 Anatomie, obzwar er vorwiegend Physiolog war.
^"•*) In Jena Prof. extr. 1855, Prof. 0. d. Anat. u. Dir. d. anat. Anst. 1858, in
gleicher Eigensch. in Heidelberg seit 1873. — Grundzüge der vergl. Anat.,
Leipzig 1870, 2. Aufl. 1878; engl. Lond. 1878. — Lehrb. d. Anat. d. Menschen,
Leipzig 1883, 7. Aufl. 1899, 2 Bde. — Seit 1875 Herausgeber des „Morphol. Jahrb.,
Ztschr. f. Anat. u. Entwickelungsgesch."
1'') 1858—66 Prosektor u. Prof. extr. in Dorpat, 1866—76 Prof. 0. d. Anat. in
Kiel, 1876—80 in Königsb. i. Pr., dann 1. Prof. d. Anat. in München als Nachf. von
Bischoflf. — Unters, üb. d. Textur des Rückenmarks u. d. Entwickelung
seiner Formelemente, Leipzig 1857.
^"*) Ursprüngl. Pharmaceut, dann Assist, von Virchow, später von Eckhardt in
Basel, 1872 — 77 0. Prof. d. Anat. u. Entwicklungsgesch. als Nachf. von His. —
Grnndr. d. Anat. d. Menschen, Leipzig 1865. — D. Lage d. Eingeweide
d. M. — Leipz. 1863, m. 15 T.; 2. Aufl., Erl. 1873 u. d. T. D. Körperhöhlen d. M.
— Quain-Hoffmann, Lehrb. der Anat. des M., Erlang. 1870—72: 2. Aufl.
1877-81.
^''^) Schüler von Ludwig, KöUiker, Virchow, Gl. Bemard, seit 1862 Dozent in
Zürich. — D. Verteilung der Blutgefässe auf d. Rückenmarksquer-
«»•hnitte 1864. — Ueb. d. feinere Anat. d. Rückenmarks, Zur. 1868.
"«») Schüler von E. H.,Weber, C. Ludwig, Virchow. 1866 a. 0., 1871 0. Prof.
Chir. in Leipzig.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 20
306 Robert Ritter von Töply.
* 1833 12. Juli), ^^^'') der die feinere und feinste Nervenanatomie be-
arbeitet, in seiner Anatomie des Kaninchens ein Seitenstück zu
Eckers und Wiederslieims Anatomie des Frosches geliefert und sich
U.A. um das Zustandekommen der neuesten anatomischen Nomenklatur
verdient gemacht hat, ^»"') Aeby (Christoph Theod.. *1835 25. Febr.,
1 1885 7. Juli), ^ 82) H e i t z m a n n (Karl, * 1836 2. Okt., f 1896 1. Jan.), ^ «=^)
dessen Atlas sich während der letzten 3 Jahrzehnte des 19. Jahr-
hunderts ein Heimatsrecht in den Seziersälen erobert und in zeit-
gemässer Umarbeitung durch Zucke rkandl (Emil) einen würdigen
Einzug in das 20. Jahrhundert gehalten hat,^^"'') Bidders und Kupffers
Schüler Stieda (Ludwig, * 1837 19. Nov.), ^^*) der eine Reihe von Unter-
suchungen zur vergl. Anatomie des Gehirns und Rückenmarks geliefert,
sich auch auf dem Gebiete der Embryologie bethätigt, die Haupt-
werke von Baer und Pansch neu herausgegeben hat, und durch seine
monumentale Geschichte der Entwicklung der Lehre von den Nerven-
zellen und Nervenfasern während des 19. Jahrhunderts sowie andere
Abhandlungen geschichtlichen Inhalts eine liervorragende Stelle unter
den historisch gebildeten Anatomen des 19. Jahrhunderts einnimmt, ^8*^)
der besonders um die Morphologie des Grosshirns verdiente Pansch
(Adolph, *1841 2. März, tl887 14. Aug.),^^") Raub er (Aug., *1841
isob) *Topogr.-anat. Atlas nach Durchschnitten an gefron Ca-
davern, 1872, 75, 88. — *D. Oberschenkelvene d. M. 1871; d. Venen der
m. Hand 1875; der vorderen Rumpfwand (m. Feenwick) 1884; d. m. Fusses
u. Unterschenkels (m. Paul Müller) 1889.
^*^'') Schüler von Lndwig in Göttingen, 1860 Prof. e. o. das., 1892 Laboratoriums-
vorst. im anat. Inst. Berlin.
^^^^) D. terminalen Körperchen der einfach sensiblen Nerven
(Krausesche Körperchen), Hannover 1860. — D. motor. Endplatten der quer-
gestreiften Muskelfasern, das. 1869. — D. Nervenvarietäten beim
Menschen (m. Teigmann) das. 1868. — Varietäten der Arterien u. Venen,
Braunschw. 1868; 2. Aufl. 1876. — D. Anat. d. Kaninchens. Leipzig 1868: 2. Aufl.
1883. — Handb. der m. ^nat., 3 Bde., Hannov. 1876, 79, 80; ungar. 1881-82;
franz. 1887-89.
1S2) 1863 a. 0. Prof. in Basel, 1863 o. Prof. d. Anat. in Bern, 1884 in Prag. —
Eine neue Methode zur Bestimmung der Schädelform von Menschen
u. Säugethieren, Braunschw. 1863, m. 8 Taf. — Weitere Bemerkungen
üb. d. Bildung des Schädels u. der Extremitäten im Menschen-
geschlecht, Verb. d. naturf. Gesellsch. in Basel. — Der Bau des menschl.
Körpers m. bes. Rücksicht auf seine morphol. u. physiol. Bedeutung.
Leipzig 1871. — Im übrigen vgl. Gurlt-Hirsch Biogr. Lex. I 62, Pageis Lex. S. 13.
^*^*) Assist, von Schuh u. Hebra in Wien, seit 1874 in N. York.
188b) *D descr. u. topogr. Anat. d. M. in 600 Abb., Wien, 1. Aufl., 2 Bde.,
1870, 75; 9. Aufl. von Em. Zuckerkandl, 1902, 50-60. Tausend.
"**) In Dorpat 1866 Prosektor u. Prof. extr., 1875 Prof. o. der Anat. in Königs-
berg i. P , seit 1885 o. Prof. d. Anat. u. Dir. d. anat. Anst.
i84bj ygj.2. der Schriften üb. d. Gehirn u. Rückenmark in Pageis Lex. S. 1652. —
Zur Embryologie: Entwicklung des Gl. thyr. u. Gl. thymus, Leipzig 1880;
Baer (K. E. v.), Entwicklungsgesch. der Tiere, IL Ausg., Königsb. 1888. — Pansch
(A.), Grundr. d. Anat. d. Mensch., 3. Aufl., Berl. 1891. — Historisches: Baer (K. E. v.),
Lebensgeschichte Cuviers, Braunschw. 1897; *Gesch. u. Entwicklung der Lehre
von Nervenzellen u. Nervenfasern während des 19. Jahrb., Jena 1899;
Anatom. -archäolog. Studien in Bonuet- Merkels anat. Heften. I. Ueber d.
ältesten bildlichen Darstellungen der Leber. II. Anatomisches üb. alt-ital. Weih-
geschenke (Band 15/16, 1901). III. D. Infibulation bei Griechen u. Römern (Heft 62
= 19. Bd., Hft. 2. 1902).
1»») In Kiel 1865 Prosektor, 1866 Privatdoc, zuletzt Prof. extr. — De sulcis
et gyris in cerebr. simiar. et hom, Comment. anat. Eutin 1866, c. tab. —
*Modell des menschl. Grosshirns, Kiel u. Hamb. 1878. M. 3 Taf. — D.
Furchen u. Wülste am Grosshirn d. M., zugl. als Erläuterung zum Hirn-
Geschichte der Anatomie. 307
22. März),!««) Schwalbe (Gust, *1844 1. Aug.)/«'^) Herausgeber
der Jahresberichte für Anatomie und Entwicklungsgeschichte, der
Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie, ^^'^j dessen Assistent
Mehnert (Ernst, * 1864 21. Febr.. tl902).is8) ßudge d. J.
(Albrecht, *1846 23. Aug., tl885 17. Juli),*»») Bardeleben (Karl
Heinr. von, *1849 7. März), !®^) Begründer und Herausgeber des
Anatomischen Archivs (Jena, seit 1886), der Verhandlungen der ana-
tomischen Gesellschaft (seit 1887), des gross angelegten Handbuchs
der Anatomie des Menschen (seit 1896), Adamkiewicz (Albert,
*1850 11. Aug.), !^!) dessen Arbeiten über die Blutversorgung des
Rückenmarks diejenigen von Goll vervollständigen, !^!'') Bonnet
(Robert, *1851 17. Febr.), !^-) mit Merkel Herausgeber der anatomischen
Hefte, hauptsächlich auf dem Gebiete der Histologie und Embryologie
thätig.
Frankreich.
Paris hatte sich bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts gegen-
über Montpellier das höhere Recht auf die Wissenschaft angemasst,
dennoch war es noch zu Beginn der Regierung des Hauses Bourbon
(1589—1792) im Vergleiche mit Italien weit zurückgeblieben, weil es
im Galenismus stecken geblieben war. Der Aufschwung der Anat.
setzt ein, nachdem die Universität durch die Reformation vom 3. Sept.
1598 gefestigt worden war. ^) Endlich wurde 1604 in der rue Fouarre
modeil, Berl. 1879, III u. 51 S. m. 3 Taf. — Beitr. z. Morphologie des Gross-
hirns der Säogeth., Leipzig 1879. — Grundr. d. Anat. d. M., Berl. 1881;
3. Axafl. von Stieda Berl. 1891.
^**^) Schüler von Bischoff u. Eüdinger; seit 1886 o. Prof. d. Anat. n. Dir. d.
anat. Anst. m Dorpat. Vatersche Körperchen der Bänder- u. Periost-
nerven, Inaug.-Diss., Neust, a. H. 1865. — Unters, üb. d. . . . Vaterschen
Körperchen, Münch. 1867. — Lehrb. d. Anat. d. M., Bd. I, 6. Anfl., 1143 z. T.
färb. Abb.. 1902, Bd. U, 5. Aufl., 773 z. T. färb. Abb.. 1898.
1»'») Schüler von M. Schnitze in Bonn, 1871-73 Prof. e. o. in Leipzig, 73—81
Prof. 0. u. Dii-ekt. d. anat. Institutes in Jena, 1881—83 in Königsberg i. Pr., seit
1883 in Strassburg.
i87b^ Ueb. die Kaliberverhältnisse der Nervenfasern, Leipz. 1882. —
Als 2. verm. u. umgearb. Aufl. von C. E. E. Hoffmanns Lehrb. d. Anat: Lehrb.
d. Neurologie 1881, der Anat. der Sinnesorgane 1886, Erlangen.
"^) Stud. in Dorpat, Schwalbes 1. Assist, in Strassb. 1890—98, seit 1898 Prof.
e. 0. u. Prosektor am anat. Inst, in Halle a. S. Verz. seiner Arbeiten in Pageis
Lex. S. 1114.
"») Seit 1884 Prof. e. o. f. Anat. in Greifswald, Embryolog.
190^ 1872 Assist, bei His in Leipzig, 1873 Prosektor bei Schwalbe in Jena,
1878 a. 0., 1888 o. Prof. in Jena.
^*'») Schüler von Haidenhain u. Eecklinghausen, 1880—91 o. Prof. in Krakau.
i9ibj *j) Blutgefässe des mensch 1. Rückenmarks, Sitzungsber. d.
k. Akad. d. W., Wien 1881, 84. Bd.; 1882, 85. Bd. — D. Arterien des ver-
längerten Markes vom üebergang bis zur Brücke, Denkschr. das. 1892,
57. Bd. — D. Blutkreislauf d. Ganglienzelle, Berl. 1886. — Tafeln zur
Orient, an d. Gehirnoberfl. des leb. Menschen (bei chir. Operationen u.
klin. Vorlegungen), 2. Aufl. Wien u. Leipzig 1894, 4 Taf.
'®"-) Stud. in München, 1870 Privatdoc, 1881 o. Prof. a. d. Centraltierarznei-
schule, 1889 a. o. Prof. in Würzburg, 1891 o. Prof. d. Anat. in Giessen, 1895 in
Greifswald.
*) *Leges et Statuta in usum Academiae et Universitatis Parisieusis, lata et
promulg. A. D. 1589 die 3. Sept. jubente et mandante Christ, et invict. Francor
I et Navar. rege Henr. IV. Abdr. bei *Jourdain (Ch.), Hist. de Tuniv. de Par. au
I 17e et au 18e s. Paris 1862—66. Unter den 66 Absätzen der zugehörigen Statuten
20*
308 Robert Ritter von Töply.
binnen 15 Tagen ein, allerdings nicht wetterfestes anat. Theater her-
gestellt.-) Einen beständigen, wenn auch vor Wind und Kälte schlecht
geschützten Neubau errichtete erst Eiolan d. J. (Jean, * 1580
20. Feb., t 1657 21. Feb.).^") Trotz einer 10jährigen Abwesenheit
im Dienste der Königin (f 1642 3. Juli) masst er sich bis zum Tode
die Herrschaft in der Anatomie an. Er lässt sich mit Behagen den
Fürsten der Anatomen nennen, kritisiert den Dulaurens, Bauhin,
Spighel, Kasp. Bartholin, Hofmann, Parisano und Andere, bekämpft
den Harvey. Er nennt sich mit Stolz den Entdecker und Benenner
des Muse, anconaeus, der halbmondförmigen Z^ischenknorpel an der
oberen Gelenkfläche der Tibia, er hebt hervor, dass er als Erster die
Schlundmuskeln beschrieben und benannt, ebenso die Beweglichkeit
der Iliosakralsymphyse beschrieben, den Gallengang als doppelt hin-
gestellt, weiters nachgewiesen, dass die Nieren l)eim Fötus sowie
beim Kinde bis zum 3. Jahr und darüber der Kalbsniere ähneln, er
erklärt sich für den Entdecker der Klappe in der V. jugularis int.
und den Ersten, der die Ursprünge und Insertionen, die Zahl und
die Namen der Muskeln aufgestellt, für denjenigen, der die Ana-
tomie der endgiltigen Vollendung zugeführt hat. Thatsächlich gehört
er zu den belesensten Anatomen aller Zeiten und zu den hervorragendsten
seiner Zeit. Aber sowohl sein Gehaben als dasjenige seiner Genossen
trägt den Stempel unleidlicher Unduldsamkeit.'^'')
Am 7. Nov. 1612 verbot der Prevot von Paris den Chirurgen, den
anatomischen Unterricht anders als bei offenen Thüren zu erteilen und
Leichenzergliederungen nicht anders als in Gegenwart von Schülern vorzu-
nehmen. Zufolge Parlamentserlass vom 23. Nov. 1615 hat das Hotel-Dieu
„et tout autres" nicht das Pecht, ohne Erlaubnis der Fakultät den Chirurgen
und Barbierchirurgen Leichen auszuliefern. Infolgedessen hat die Fakultät
Leichen, die den Chirurgen ohne Erlaubnis ausgeliefert werden, wiederholt
mit Beschlag belegt (Arret du 11. nov. 1615, 14. dec. 1630), andererseits
haben sich die Chirurgen wiederholt Leichen angeeignet. Auf Grund eines
von dem Könige am 20. Jan. 1608 durchgesetzten zwangsweisen Haus-
verkaufs bezw. Erwerbs erbaute die Fakultät nach langen Verhandlungen
endhch 1619 — 22 ein anatomisches Amphitheater (Ecke der rue
de la Bücherie und rue de l'Hotel-Colbert, Nr. 13). Die Eröffnungsfestrede
des Jean Riolan ist erhalten (Doctissimis et amantissimis collegis eucharisticon,
für die med. Fakultät bestimmt der Abs. 56 jährlich wenigstens 2 Anatomien.
Leichen sollen behördlicherseits nur über Anforderung des Dekans ausgefolgt werden.
Der Lehrer der Anat. soll einen „Archidiakon" (Referenten) ernennen. Zwischen
zwei Anatomien soll nicht mehr als ein Jahr verlaufen. Der Archidiakon soll die
Auseinandersetzungen des Lehrers nicht widerlegen. Den Dissektor haben die
Barbierchirurgen beizustellen. Vgl. *Sabatier (J. C), Eecherches historiques sur
la facnlte de medecine de Paris. Paris, Montpellier 1835, 8°, 448 pag. ,
2) Reg. rass. de la Fac. t. XI, fol., 119 ro.
''") Riolan war über Vorschlag des Dulaurens (Andree), Prof. d. Anat., Botanik
u. Pharmakopoe geworden (Riolan, Anthropogr. I, 19, *Opera 1649). Vgl. über ihn
* Töply (E. R. V.), Jean Riolan d. J.. in Intern. Klin. Rundschau, Wien, Nr. 42 u.
44, 1894, S.-A., 8<*, 11 S. In meinem Besitze befindet sich eine Quittung vom
13. Nov. 1647, worin Riolan als Prof. der Anat., Botanik u. Pharmakologie sowie
als Dekan den Empfang eines halbjährigen Gehalts von 600 livres bestätigt. Nach
der bis 1796 bestandenen Münzeinheit waren 81 L. toumois = 80 Frank jetziger
Rechnung. Demgemäss betrug das Jahresgehalt des Riolan rund 1185 Franken.
^^) Opera anat. Lut. Paris. 1649, fol., 872 pag. Ausser dieser Gesamt-
ausgabe besitze ich noch einzelne Schriften Eiolans in 14 Exemplaren.
Geschichte der Anatomie. 309
pro extructione theatri anatomici. Haec oratio recitata fait cum capta fait
Eupella, et profligati Britanni. Anthropogr. I. 19, Opera 1649 p. 63 sq.
Danach scheint Eiolan diese Rede ziemlich spät gehalten zu haben, denn die
Eroberung von La ßochelle fällt in das Jahr 1628). Die erste Vorlesung
wurde jedoch durch das Eindringen Bewaffneter unterbrochen. Sie ver-
letzten einige Hörer und schleppten schliesslich die zum Gegenstand der
Vorlesung bestimmte Leiche davon. Die nachträgliche Verurteilung der
Chirurgen als Anstifter des Skandals durch das Parlament bedeutete in
diesem langjährigen Kampf um die Leichen nur einen Waffenstillstand. Den
12. März 1633 erwirkte die Fakultät einen Erlass des obersten Gerichts-
hofs dahin, dass die Lieferung der Leichen nur zum „pilier des Halles"
stattfinden darf und erwirkte gegen den Chirurgen De la Noue eine Geld-
strafe von 60 livres, weil er ohne ihre Bewilligung eine Leiche zergliedert
hatte. Den 23. April 1646 wurde der Chirurg de robe longue Granger,
weil er sich die dem königlichen Arzte Chartier zugesprochene Leiche des
hingerichteten Vigot angeeignet hatte, verurteilt, sie dem Bittsteller aus-
zuliefern, andernfalls man die Kammer, darin die Leiche eingesperrt ist,
von einem Schlosser öffnen lassen würde (Arch. gen.. Collect. Eondonneau,
§ II nr. 511). Den 12. Feb. 1672 war den Chirurgen von Saint-Come
ohne Mitwissen der Fakultät eine Leiche geliefert worden. Den nächsten Tag
verlangte der Dekan durch einen Gerichtsdiener (huissier du parlement) die
Auslieferung. Mauriceau, Vorstand der Chirurgen, verweigerte die OefFnung der
Pforte von Saint-Come, worauf der Gerichtsdiener das Thor von einem Schlosser
aufsperren Hess, die Leiche aber nicht fand. Einige Tage später entsendete
der Dekan Puylon einen Gerichtsdiener mit 6 Häschern. Am 24. drang
dieser ein und fand Mauriceau in Gesellschaft bei der Leichenzergliederung.
Es entbrannte wegen der Rückerstattung ein heftiger Streit, bis weitere
70 Häscher ankamen und die Leiche in die medizinische Schule trugen.
Der Gerichtsvollstrecker erhob gegen die Chirurgen eine Klage, und der
Gerichtshof entschied zu Gunsten der Fakultät, ohne jedoch Mauriceau zu
strafen. Hingegen verurteilte den 13. Apr. 1683 der Polizeileutnant den
Chirurgen des Herzogs von Orleans, De Blegny zur Verbannung aus dem
Königreich, sowie zur Einziehung der Güter zu Gunsten des Königs, und
dessen Mitschuldigen De la Noue zur Stäupung (ä etre battu et fustige
nu des verges aux carrefours et lieux accoutumes), überdies zu einer Geld-
strafe von 30 livres, weil sie von den Söhnen des Totengräbers zu Saint-
Sulpice mehrere ausgegrabene Leichen gekauft hatten. Das Urteil wurde
indes an den in der Conciergerie Gefangenen nicht vollinhaltlich vollstreckt,
der Gerichtshof beschränkte es auf eine Rüge und Geldstrafe.
Das von der Fakultät usurpierte Monopol auf die Anatomie erlitt
einen heftigen Stoss durch die Errichtung des „Jardin Royal des
Plantes Medicinales" (angeregt von Guy de la Brosse, dann Herouard
und Ch. Bouvard. Erster königlicher Erlass über die Errichtung
vom 6. Jan. 1626, Organisationsstatut vom 15. Mai 1635) bezw. durch
den königl. Erlass vom 20. Jan. 1673, welcher die Professoren des
Jardin royal zur Abhaltung chirurgischer Operationen, anatomischer
Sektionen und Demonstrationen befugt und anordnet, dass die erste
Leiche eines Hingerichteten ihnen und in Zukunft abwechselnd ihnen
und der Fakultät auszuliefern ist und dass „die genannten Kurse und
Demonstrationen von den Professoren des genannten königl. Gartens
unentgeltlich und in gewohnter Weise abgehalten werden". Zu diesem
Zweck wurde im Winter 1672 — 73 provisorisch im Jardin roy. eine
310 Robert Bitter von Töply.
„salle des 6coles" erbaut. Die Vorträge lockten täglich 400 — 500
Zuschauer heran.'*) Hier wirkte nun dem Namen nach Cureau de
la Chambre (Frangois, f 1680 29. März),*^) welcher jedoch die Aus-
übung des Amts schon 1672 dem in der Scholastik der alten Fakultät
befangenen Cr esse (Pierre) als theoret. Lehrer und dem Dionis
(Pierre, f 1718 11. Dez.) . als ausübendem Lehrer überliess. Mit
letzterem beginnt die neue physiologische Richtung der Anatomie in
Paris. Sein Handbuch der Anat. wurde bis in die Mitte des 18. Jahrh.
in Frankreich fast ausschliesslich benutzt.") Ihre folgenden Vertreter
sind Duverney (Joseph Guichard, * 1648 5. Aug., f 1730 10. Sept.),'^)
dessen Abhandlung über das Gehörorgan das beste Werk dieser
Gattung im 17. Jahrhundert ist, ^^) Duverneys Schüler Tauvry
(Daniel, * 1669, f 1701 1. März), ^) dann Win slow (Jacques Benigne,
* 1669 2. April, -f 1760 3. April), Gründer eines neuen anat. Theaters
i. J. 174.5 und Verf. eines Handbuchs, das wegen der Fülle des Stoffs,
der übersichtlichen Anordnung sowie der musterhaften Genauigkeit das
des Dionis weit überragt und bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts
massgebend geblieben ist. Winslow ist nicht nur der bedeutendste
Anatom des 18. Jahrhunderts in Frankreich (sowie Riolan der be-
deutendste des 17.), sondern einer der bedeutendsten und einfluss-
reichsten überhaupt.®) Nach ihm erschienen als Sterne 2. Grösse
Verdier (Cesar, * 1685 24. Juni, f 1759 19. März), i«) dessen Schüler
Sue „de la Charite" (Jean Joseph, * 1710 20. April, f 1792
15. Dez.),^^'') Verfasser eines Abrisses der Anat,, eines vortrefflichen
*) Dionis, Vorrede zu seiner Anat.
^) Erster Arzt der Königin, ordinierend. Arzt des Königs.
*) L'anat. de l'liorame, suiv. la circulat. du sang et les dernieres
decouv., Par. 1690 u. öfter bis 1729; *3e ed., Par. 1698, 8», 671. M. Kpf. Meinem
Exemplar ist auch ein vermutlicb nicht zugehöriges Portr. des Dionis beigeheftet u.
dem Titel ein Stich von Thomassin vorgesetzt: „Amphitheatre des Ecoles de St.
Cosme, oü l'on fait l'anatomie de l'homme". — üeb. die Errichtung des Jardin des
plantes *Hamy (M. E.-T.), Les debtits de l'anthropologie et de l'anat. hum. au Jardin
des plantes, M. Cureau de la Chambre et P. Dionis, 1635 — 80. Extr. de L'Anthro-
pol. t. V. an 1894, Par. 1894, S.-A., 8 », 19 p.
'*) Seit 1679 Prof. anat. am Jard. roy. als Nachf. von Dionis.
"'') Traite de l'organe de l'ouie, conten. la structure, les usages et les
maladies des toutes les parties de l'oreille, Paris *1683, 12*>, 210 pag., 16 pl. u.
öfter, auch lat, deutsch, englisch. Deutsch Berl. 1732, 8". — Ouvres anat,
Par. 1761, 4 <>, 2 vol.
•*) 1697 Doct. reg. der Fakult., 1699 Mitgl. der Acad. des sc. Nouv eile anat.
raisonnee . . . suiv. les principes des mechaniques, Par. 1690; 1693; 1698; 1720;
*lat. u. d. T. Nova anat. ratiociniis illustr. ... lat. don. a. Melch. Frid.
Geudero, Ulmae 1694, 8, 472 S. m. 20 Kpft. (in Gurlt-Hirsch' Biogr. Lex. V, 621
nicht angeführt).
") Exposition anat. de la structure du corps hum.. Par. 1732, 4;
Amsterd. 1732, 8: *Nouv. ed. corr. et enrich. de flg., Amsterd., 8", 4 t. u. öfter.
Paris zuletzt 1766. Ueberdies deutsch, engl., holländ., ital., lat, zuletzt Venet. 1776.
— Abhandlungen über das Herz, die halbmondf. Klappen, den Blut-
lauf im Foetus u. s. w. in den Mem. der Akad. der Wiss. Briefe bei Rigels
De fatis chirurgiae, Hafn. 1787, 8, p. 545 sq. — Biogr. in der letztgenannten
venetianer Ausg., bei Portal IV 466 sq. — Abb. des von Winslow errichteten
anat. Theaters bei Corlieu, L'ancienne faculte de med. de Paris, Par. 1877.
'°) In Montpellier Schüler von Nissole u. De Lapeyronie, in Paris von Duverney,
Amand, J. L. Petit, hier maitre en chir. 1724, anat. Prosektor an den Ecoles roy.
de chir. 1725. Abrege d'anat. du c. h., Par. 1725, 2 vol. u. öfter bis 1768;
Brüssel 1752; deutsch Hamb. 1744; engl. Lond. 1750.
""), Maitre en chir. 1751, als Verdiers Nachf. Prof. u. Demonstrator der Anat
an den Ec. roy de chir., schon vorher, dann daneben an der kön. Maler- u. Bildhauer-
f
Geschichte der Anatomie. 311
Handbuchs der anatomischen Technik, üebersetzer der Osteologie von
Monro in einer selten schönen Prachtausgabe,^^'') Siie ,.le jeune"
(Pierre, * 1739 28. Dez., f 1816 28. März),i-) verdient durch mehrere
medizinisch-geschichtliche Arbeiten, darunter die hier einige mal
citierten „Anecdotes historiques", Sue „le fils" (Jean Joseph * 1760
13. Jan., f 1830 21. Aprili,^^^^) Verfasser einer Anat. für Künstler,
üebersetzer der vergl. Anat. von Monro, ^^'') Ferrein (Antoine
* 1692 25. Okt.. 7 J-769 28. Feb.y*) Hunauld (Francois Joseph,
* 1701 24. Feb., f 1742 15. Dez.)/^) Petit (Antoine, * 1718, f 1794
21. Okt.),i«) Demours d. Ae. (Pierre, * 1702, f 1795 26. Juni)i^) und
dessen Gegner Descemet (Jean, * 1732 20. April f 1810 17. Okt.).^»)
beide bekannt durch den 1769 — 71 dauernden Prioritätsstreit um die
innere Basalmembran der Hornhaut, die mit mehr Recht den Namen
des letzeren führt.i^) Vicq-d'Azyr (Felix, * 1748 23. April, f l'?94
20. Juui),"-*^^) besonders durch zootomische und tierärztliche Arbeiten
bekannt,-*^»') Portal (Antoine Baron P., * 1742 5. Jan., f 1^32
akademie Adjunkt von Sarrau 1746 — 72, Prof. tit. d'anat. 72—92, überdies Chirurg.-
major am Hop. de la Charite etc.
^^^) Abrege del'anat. du corps de l'homme 1748. — Anthropotomie
ou l'art d'injecter, de dissequer, d'embaumer et de conserver les
parties du c. h., Par. 1750; *2e ed. Par. 1765, 12", 291p. — *Traite d'osteo-
logie trad. de l'angl. de M. Monro, Par. 1759, fol. max. Eeproduktion daraus
bei Duval et Cuyer a. a. 0. Fig. 87—91.
^*) Maitre en chir. 1736, Prof. d. Anat. an der Ecole prat. in Paris 1787, Prof.
der Therapie das. 1780, Bibliothekar u. Prof. d. Bibliogr. an d. Ecole de sante 1794,
Prof. d. gerichtl. Med. 1808.
^'*) Schüler seines Vaters, maitre en chir. 1781, an der Kunstakad. Adjunkt
seines Vaters 1789-92, Prof. tit. 1792—1830, Vater des bekannten Komanciers.
^"')Elemens d'anat, ä Tusage des peintres, des sculpteurs et
des amateurs, le ed. 1788: 2e ed. 1805. — Essai sur la physiognomie des
Corps vivans, consideree depuis l'homme jusqu'ä la plante 1797. — Traduction
du traite d'anat. comparee de Monro 1786. — Das Biogr. Lex. von Gurlt-
Hirsch V. 578 enthält mehrere Unrichtigkeiten in den Artikeln Sue. Vgl. über die
Familie Duval et Cuyer a. a. 0., daraus folgende genealog. Uebersicht:
Jean Sue Jean- Joseph Sue „de la Charite"
1699—1762 1710-1792
i I
Pierre Sue ,.le jeune'' Jean-Joseph Sue ..le fils"
1739-1816 ' 1760-1830
I
Marie-Joseph-Eugene Sue
1804—1857
") Seit 1741 Anatom bei der Akad. der Wissensch., seit 1742 Prof. d. Med. u.
Iiir. am Coli. roy.
") Schüler von Duvemey u. Winslow, Nachf. des Ersteren am Jard. seit 1730.
**) Xachf. des Ferrein am Jard. du roy bis 1776, Herausgeber der Anat. chir.
des Belgiers Palfijn 1753.
^') 1730 Demonstrator u. Aufseher des naturhist. Kabinets beim Jard. du roy,
2 Jahre später Hilfsarbeiter des Ant. Petit, dann Augenarzt u. kön. Okulist.
^'') Vertrat an der Universität in Paris die Anat. u. Bot.
'») Demo Urs, Lettre ä M. Petit, Par. 1767; Mem. de I'Acad. 1768, pag. 177;
Nouvelles refiexions sur la lame cartilagineuse de la comee, Par. 1770, 8. — Des-
cemet, An sola lens crystallina cataractae sedes? Diss. Par. 1758.
*°") Von Ant. Petit zum Stellvertreter u. Nachf. ausersehen, aber nicht ernannt,
- -it 1788 Nachf. von Buffon.
-*•*•) Traite d'anat. et physiol, Par. 1786, fol., m. kolorierten Abb. Nur
de 1. Teil erschienen. — Oeuvres, Par. 1805, 6 vol., S", 1 vol. 4<*, ed. Moreau
der la Sarthe.
312 Robert Ritter von Töply.
23. Juli),-'") Verfasser einer umfangreichen Geschichte der Anat. und
Chir. von bleibendem Wert.^^*')
Beachtenswert sind auch die Leistungen des Pariser Chirurgen
Mery (Jean, * 1645, f 1722),--) die Arbeiten über das Auge von
Pourfour du Petit (Fran^ois, * 1664 24. Juni, f 1741 18. Juni),-^^^")
dessen Namen der Kanal an der Peripherie der Linse führt (Canalis
Petitii), -'''') die historischen Arbeiten von Astruc (Jean, * 1684
19. März, f 1766 5. Mai),^^) die Schrift über das Herz von Senac
(Jean-Baptiste, * 1693, f 1770 20. Dez.), -^) die „Essais anatomiques"
von Lieutaud (Jos., * 1703 21. Jan., f 1780 11. Dez.),-«'') verewigt
im „Trigonum Lieutaudii". ^^^)
Neben den Grössen von Paris verdienen die von Montpellier'-')
umsomehr einer Erwähnung, als zwischen den medizinischen Schulen
beider Städte jahrhundertelang eine nicht unbegründete Rivalität be-
standen hat. Wenn auch mehrere Aerzte von Montpellier dem Schau-
platze ikrer Hauptthätigkeit gemäss ebensogut zu den Parisern ge-
rechnet werden können (dies trifft schon bei Henri de Mondeville zu),
so beansprucht doch die Hauptstadt des Departement Herault (im
früheren Languedoc) folgende Männer als Anatomen für sich (vgl. die
Uebersicht von Bouisson). Rondelet (Guillaume, * 1507 27. Sept.,
1 1566 30. Juli), Joubert (Laurent, * 1529 6. Nov., f 1582 29. Okt.),
Cabrol (Barthelemy, *?, f ?), Dulaurens (Andre, Andreas Lauren-
tius, *?, 11609; Nachf. von Joubert), Eicher de Belleval (Martin,
*?, t 1644), Ranch in (Frangois, * um 1560—65, f 1641), Pecquet
*^*) Hielt schon in Montpellier unter Laboire anat. Vorlesungen, seit 1766 in
Paris, wurde Prof. d. Anat. des Dauphin, 1769 anatomiste adjoint, 1772 Prof. d.
Anat. am Coli, roy de France, 1776 durch Buffon Nachf. von Ant. Petit am Jard.
du roy, seit 1788 Arzt der Könige.
"•^j *Histoire del'anat. etdela chir., Paris, 6 tom., 1770—73, 8.» Portal
ist kein eigentlicher Geschichtsdarsteller. Er reiht nur Biographien und Bücher-
besprechungen chronologisch aneinander, bringt aber soviel Stoff zusammen, dass
sein Werk für den Geschichtsforscher unentbehrlich ist, während es sonst für Ge-
schichtsfreunde unverdaulich wird.
^-) Mitgl. der Acad. des sc, Chirurgien-major des Invalides, erster Chirurg des
Hotel-Dieu in Paris. — *Oeuvres completes par le Dr. L. H. Petit, Paris 1888,
gr. 8», 557 pag., 3 pl.
23a-) Feldarzt, später Arzt in Paris.
®'"' Lettre, dans laquelle il demontre, que le cristallin est fort
pres de l'uvea, Par. 1729, 4°. Giebt genaue Abmessungen des Auges. Abdr. bei
Haller Disput, chir. V. — Keflexions sur les decouvertes faites sur les
yeux, Par. 1732.
''*) 1706—10 supplierender Prof. in Montpellier, 1711 — 15 Lehrer der Anat. in
Toulouse, 1716—28 in Montp., nach mehreren Reisen in Paris 1731 Prof. als Nachf.
von Geoffroy. Memoires pour servir ä l'hist. de la Faculte de med.
de Montpellier. Revus et publ. par Lorry (Anna Gar.). Par. 1767, 4". M.
Portr. — De morbis venereis libri novem. Ed. altera Lut. Paris 1740, 4*
(wertvollste Ausg. Ueb. die Verlässlichkeit vgl. Proksch in Gurlt-Hirsch' Biogr.
Lex. I 215. Die von Astruc veröffentlichten Statuten der Königin Johanna für
das Bordel in Avignon wurden in letzter Zeit bestimmt als Fälschung erkannt).
^^) Leibarzt Ludwigs XV. seit 1752 als Nachf. von Chicoyneau. — *Traite de
la struct. du coeur, de son action, et de ses maladies, Paris 1749, 4°,
1774, 4°, 2 vol. 504, 694 pag., 17 pL; deutsch Leipz. 1781, 8«.
**") Nachf. Senacs als Leibarzt Ludwigs XV., dann des XVI.
20b) *Essais anat., conten. l'hist. exacte de toutes les parties qui
composent le corps de l'homme, avec la manierede dissequer, Par.
•1742, 8» 724 pag., 6 pl. u. öfter bis 1782; deutsch Leipz. 1782, 8«.
^') *Bouisson (F.), Tableau des progres del'anat. dans l'ecole de Montpellier.
Montp., Par. 1838, 8 », 39 pag.
Geschichte der Anatomie. 313
(Jean, * um 1622, f 1674 im Febr.). Yieussens (Eaymond de. * 1641,
t 1715 0. 16), Chirac (* 1650, j 1732 1. Märzi,"' La Peyronie
(Frangois de, * 1678 15. Jan., j 1747 25. Apr.), Deidier (Antoine,
*?. t 1746), F er rein (Antoine, * 1692 25. Okt., j 1769 28. Feb.),
Fizes (* um 1690, j 1765 14. Ang.), Borden (Theophile de, * 1722
22. Feb., t 1776 23. Xovb.\ Lamure (Francois Bourgignon de Bus-
siere de, * 1717 11. Juli, t 1787 18. März), Barthez (Paul Joseph,
* 1737 11. Dez.. f 1806 15. Okt.), Grimaud (Jean Charles Marguerite
Guillaume de. * 1750, f 1789 5. Aug.), Dumas (Charles Louis, * 1765
8. Feb., 1 1813 28. März), Delpech (Jacques, * 1772, j 1832 28. Okt.),
Lordat (Jacques. * 1773 11. Feb., f 1870 25. Apr.), Delmas (*?,
t?). L allem and (Claude Francois. * 1790 26. Jan., f 1853 23. Juni),
Dubreuil (Joseph Marie, * 1790 14. Aug.. f 1852 19. Nov.). Duges
(Antoine, * 1798. f 1838). Bouisson (Etienne Frederic. * 1813
14. Juni, t 1884 28. März).
Unter den Vertretern des 16. Jahrhunderts ist hervorhebenswert
Eon de 1 et wegen der Errichtung des ersten anatomischen Theaters
(1556, vgl. S. 210 oben) sowie als Lehrer des Dubois, Koyter, Kasp.
Bauhin, Posthius (* 1537, f 1597, Kommentator des Eealdo Colombo,
lebte in "Würzburg und Heidelberg), Rousset (Francois, bekannt durch
seine Schrift über den Kaiserschnitt), Joubert (Herausgeber und Kom-
mentator des Guy de Chauliac), dann als Entdecker der Blinddarm-
klappe (über die Prioritätsfrage Tgl. Bauhin Theatr. anat. 1621
pag. 63) sowie der knorpeligen Rolle für den oberen schrägen Augen-
muskel (Prioritätsnachweis gegenüber Falloppia bei Riolan Animadv.
in Ubr. anat. Adi'. Spigelii. Opera 1649 pag. 740). Cabrol war der
Erste, der die von Henri lY. im J. 1595 geschaffene Stelle eines
„dissecteur" bezw. „anatomiste royal" erhielt (Gehalt 100 ecus = rund
592 Franken. Riolan in Paris bezog 50 Jahre später das Doppelte.
S. oben Anm. 3aj. Dul aureus hat sein Handbuch der Anat. (Vor-
rede von 1599), welches sich auf behördlich zugestandene 4 Schul-
sektionen jährlich stützt (lib. I cap. 9), durch umfangreiche Erörte-
rungen aus dem Gebiete der Physiologie und Pathologie der spekulativen
Richtung der Schule von Montpellier angepasst. Sein Schüler Gelee
(Theophile, *?, f?; medecin ordinaire der Stadt Dieppe) veröffentlichte
eine franz. L^bereetzung der Werke des Meisters, dessen Vorlesungen
aus dem Jahre 1587 u. 88, dann selbständig einen beliebt gewordenen
Abriss der Anat. Nach einer kurzen Verfallszeit stellte Ranchin
das anat. Amphitheater wieder her (1620). Durch die Bemühungen
des Asellio und Harvey um die Lehre vom Kreislauf im Körper an-
geregt entdeckt dann Pecquet bei einem Hunde die Cystenia
chyli und den Ductus thoracicus (1647).-^) Yieussens veröffent-
licht zwei Jahrzehnte nach Willis das bestillustrierte Werk des
17. Jahrhunderts über das Nervensystem (1684). Er macht auf die
Pyi'amiden und Oliven zuerst aufmerksam, und verfolgt unter Anderem
ziemlich genau den Faserverlauf von den Pyramiden bis zum Corpus
striatum. Sein Name ist im „centrum" der Marksubstanz des Gehirns
sowie in der Anatomie des Herzens (limbus foraminis ovalis s. isthmus
'*)Experimenta nova anat., qnibus incognitum hactenus chyli recep-
taculum, et ab eo per thoracem in ramos nsque subclavios vasa lactea detegiintiir etc.
Ed. 1, Harderwyk 1651; *Ed. 2, Paris 1654. Access, de thoracicis lacteis diss., in
qua Jo. Riolani resp. ad eadem experimenta nova anat. refutatur et . . . canalis
Virsnngici demonstratur usus etc. 4«», 252 pag.; auct. ib. 1655: Amst. 1661.
314 Robert Ritter von Töply.
Vieussenii) verewigt.-**) In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
gerät die Schule von Montpellier durch Borden und Barthez in
das Gebiet der noch in L ordat anklingenden vitalistischen Spekulation.
Das Gebiet der exakten anatomischen Forschung bleibt brach.
Nachdem die Kollegien und Fakultäten in Frankreich durch
Dekret vom 17. Sept. 1793 geschlossen worden, schuf das Dekret vom
14. frimaire III für Paris 12 Lehrkanzeln, darunter als erste die der
Anatomie und Physiologie (chaire theorique). Hier wirkten
Antoine Dubois (professeur-adjoint 14. frim. — 2. messid. 111 =
1795), Le Clerc (prof.-adj. 2. messid. III — 9. pluv. IX = 1795—
1801), A. M. C. Dumeril (prof.-adj. 9. pluv. IX — 23. Okt. 1818),
P. A. Beclard (prof.-adj. 6. Nov. 1818 — 21. Nov. 1822). Diese
Lehrkanzel wurde den 2i. Nov. 1822 aufgelassen und den 2. Feb.
1823 eine eigene für „Anatomie" errichtet (chaire theorique). Die
Inhaber waren P. A. Beclard (1823 — 25), Jean Cruveilhier
(1825—35), Breschet (1836— 45), Denonvillier (1846—56), Jar-
javay (1858-67), Sappey (1867—86; sein Vorschlag vom 12. Mai
1881 auf Errichtung einer Lehrkanzel für „normale Anatomie"
fand bei der Fakultät keine Unterstützung), Farabeuf (seit 1886).
Im Zusammenhang mit der Fakultät besteht die „ecole pra-
tique". (Eine solche für Anatomie und Operationsübungen besass
schon das alte College de Chirurgie.) Die Anfänge der alten ecole
pratique gehen auf die der ecole de sante zurück. Sie hat mehrere
Reorganisationen durchgemacht (1823, 1828, 1840, 1865) bis sie 1871
einging. Die neue ecole pratique wurde 1886 in der rue de l'Ecole-
de-Medecine Nr. 15 untergebracht (Grundsteinlegung zum neuen Ge-
bäude 4. Dez. 1878). Sie begreift alle praktischen Uebungen der
Fakultät, darunter in erster Linie die anatomischen Sezierübungen
(geregelt durch Erlässe v. 4. Aug. 1859 und 30. Dez. 1878). Sie
wurden bis 1834 in einem Saal des Franziskanerkonvents (Couvent
des Cordeliers) abgehalten. Seither finden sie in Pavillons statt
(anfangs 5 für je 60 Schüler und einer für Sonderarbeiten, jetzt 9
für je 90 Schüler). Das Personal der praktischen Schule für Anatomie
besteht aus dem Vorstand (chef des traveaux anatomiques), den
Prosektoren, und den Gehilfen (aides d'anatomie). Vorstände waren
Fragornard (seit 29. pluviose III, f im germinal VII), Dumeril
(A. M. C, 13. thermidor VII — 19. ventose IX, dann prof.-adj. der
Anat. und Physiol), Dupuytren (14. germinal X — Feb. 1812, dann
Prof. der operativen Medizin), Pierre Augustin Beclard (7. Juli
***) Arzt am Hop. Saint -Eloy in Montpellier, hat etwa 500 Sektionen vor-
genommen. Später Leibarzt der Prinzessin von Montpenaier in Paris als Nachf. von
Dubelloi, nach deren Tod wieder in der alten Stellung.
2*'*) Neurologia universalis, Lugd 1684, fol., Ulmae 1690, Francof.
1690, 8» (Portal IV 7). Haeser, Gesch. d. Med., 3. Bearb. II 301 setzt noch hin-
zu Lngd. 1716 f., Tolos, 1715, 4°, nennt aber die Ausg. Francof. 1690 nicht 8",
sondern f. Gurlt-Hirsch Biogr. Lex. VI 111 nennt eine Ausg. Lyon 1685, 1761,
Toulouse 1775, keine der drei Stellen aber die folgende: *Neurographia uni-
versalis...Editio nova, Lugd. 1684, fol., 252 pag. m. Portr., Kpftf., die
Nervenstämme sammt Aesten in nat. Gr. — *Novumvasor. corp. hum. systema.,
Amst. 1705, 8", 260 pag. Vortitel in Kupferst. mit Darst. des Verf. bei einer
Leichensektion. — Nouvelles decouvertes sur le coeur, Par. 1706, 12". —
Traite sur la struct. de l'oreille, Toulouse 1714, 4<>. — Die übrigen Schriften
spielen eine Rolle in der Geschichte der Physiol. u. Chemie des Bluts, Entdeckung
einer Säure in dems. (Prioritätsstreit mit Chirac), der fermeutativen Wirkung des
Speichels.
Geschichte der Anatomie. 315
1812—18. dann Prof. d. Anat. und Phvsiol.), Brescliet (30. April
1819 — 21. Nov. 1822, 1823—36, dann Prof. d. Anat), Blaudin
(1837—41, dann Prof. der Chir. und Verbandlehre). Denonvilliers
(1841—46, dann Prof. d. Anat), Gosselin (30. Dez. 1846—52),
Jarjavay (1853—58. dann Prof. d. Anat.), Sappey (10. Ang. 1859 —
68, dann Prof. d. Anat), Marc See (1. Okt 1868—1. Nov. 1878),
Farabeuf (1878— 86, dann Prof. d. Anat), Poirier (19. Okt
1887—98), Rief fei (seit 1. Okt 1898 für 9 Jabre). Das Prosektorat
wurde im Jahre III errichtet (die festgesetzte Zahl der Prosektoren
schwankte seither zwischen 6, 4, 3, 2, 3, 9), das der Gehilfen am
19. frimaire VIII. Vorübergehend (1878 — 79) bestanden überdies 20
..nioniteurs". Das anatomische Museum wurde im Jahre III gegründet.
Es umfasst (zufolge Erl. v. 23. Jan. 1835) Gegenstände der noi-malen
sowie der pathologischen Anatomie, überdies auch die für den Unter-
richt erforderlichen zoologischen Präparate. Daneben besteht seit
1835 das Museum für patholog. Anatomie (Musee Dupuytren), seit
1847 das Museum für vergleichende Anatomie (Musee Orfila), letzteres
nach dem Muster des Hunterian Museum in London. Seit 1823 be-
steht noch das Amt der „agreges". Unter den ersten 20, welche
am 2. Feb. ernannt wurden, war Serres für Anatomie. Seither
werden sie im Konkurswege ernannt, unter ihnen für Anatomie
Dumeril (1844), Aristide Auguste Verneuil, Louis Auguste Se-
gond (1852), Charles Marie Benjamin Rouget (1856 für Anatomie
und Physiologie), Marc See, Liegeois (1860), De Seynes (1863 für
Anat. und Physiol.), Joseph Frangois Benjamin Polaillon, Charles
Perier (1866 f. Anat und Physiol.), Cadiat, Farabeuf (1875 für
Anat und Physiol.), Robert Charles Riebet (1878 ebenso), Auguste
Charles Remy (1880 ebenso). Reynier (1883 ebenso), Edouard
Andre Victor Alfred Quenu, Paul Julien Poirier (1886 ebenso),
Marie Guillaume Honore Pierre Sebileau (1892), Louis Joseph Paul
Thiery (1895), Pierre Emile Launois (1898).=^")
Schweden.
*SacMen (Joh. Fredr.), Sveriges Läkare-Historia. Xykoeping, S°. 1. Äfd.
1822, 920 S.; 2. Äfd. 1. Haft. 182S', 764 S., 2. Haft. 1824, 574 S. — Wistrand
(Eilarion), Briizeliiis (A. J.), Edling (Carl), Sveriges Lakare Historia. Dehn 1,
H, Stockholm 1873, 76, 8°. (Neue Folge des gleichnamigen Werkes von Sackten.)
— HJelt (Otto Edw. Aug.), Svenska och Finska Medicinalverkets Historia (1663 —
1812) I—IIl Helsingfors 1891—93.
HJelt (0. E. A.), Finska LäkaresäUskapet 1835—84 (Gesch. d. Ges. d. fin.
Aerzte), Helsingfors 1885. _ — *Fagerlund (L. W.) och Tigerstedt (Robert),
Medicinens Studium vid Äho Universitet, Helsingfors 1890, 216 S. (Skrifter utg.
af Svemka Literatursällskapet in Finland. XVI). — HJelt (0. E. A.), Natural-
historiens Studium vid Äbo Universitet, Helsingf. 1896.
Hvasser {J.), Olof ßudbeck, Upsala 1846. — Ätterhoni, Minne af Ol.
Rudbeck d. Ae., in Verh. d. schwed. Akad. XXIII, Stockholm 1850. — Tiger-
stedt (Rob.), Om lymfkärlens upptäckt, Helsingfors 1885.
'°) *Sabatier (J.-C), Recherches histor. sur la faculte de med. de Paris.
Par., Montp. 1835, 8°, 448 pag. — *Faculte de med. de Paris, Conferences
lü^^toriques, faites pend. Tann. 1865, Paris 1866, 497 pp., darin Leon Le Fort,
Hi' hm. — A. Corlieu, Centenaire de )a facxilte de med. de Paris (1794—1894).
Paris, Impr. Nat. 1896, fol., 606 pp. — A. Pievost, La facalte de med. de Paris de
1794 ä 1900, Par. 1900, 295 pp. — A. Chereau, Art. „Anatomie (hist.)" in Dict.
Enc. IV.
316 Robert Ritter von Töply.
Bei Beurteilung der älteren Medizin ist hier nicht zu vergessen,
dass die schwedischen Hochschulen bis in das 18. Jahrhundert that-
sächlich nur Vorbereitungsschnlen für das im Auslande fortzusetzende
med. Studium waren. Dies gilt ebenso von Upsala, wo die erste
med. Promotion 1738 feierlichst begangen wurde. Nichtsdestoweniger
waren die Entdeckungen eines Asellio und Harvey auch dort baldigst
bekannt geworden, und harrten nur des offenen Kopfes, in dem sie auf-
keimen sollten. Ein solcher war Rudbeck (Olof d. Ae., * 1630,
f 1702 12. Sept.),^'') Gründer des bot. Gartens und Erbauer eines
neuen Anatomiesaals, Entdecker der Lymphgefässe, welche er schon
im April 1652 in Anwesenheit der Königin Christine demonstrierte,
nachdem er zu den diesbezüglichen Untersuchungen binnen 4 Jahren
400 Tiere verbraucht hatte. Ueberdies fand er unabhängig von der
Entdeckung Pecquets i. J. 1651 die Cisterna chyli und 1652 den
Ductus thorac. Er demonstrierte schon anfangs 1651, dass die serösen
Gefässe der Leber nicht Chylus zur Leber, sondern Serum oder
Lymphe von hier zur Cisterna chyli und weiter zum Herzen führen,
und bestritt schon 1652 die Irrigkeit der galenischen Auffassung der
Leber als Organ der Blutbereitung. In dem zwischen ihm und
Th. Bartholin geführten Prioritätsstreite über das Lymphgefässsystem
gebührt Eudbeck die Ehre der ersten Entdeckung, Bartholin hingegen
die der ersten Veröffentlichung.^^) Dem Einflüsse Rudbecks auf
seinen Schüler Tillandsz ist die Einführung der Anat. in Abo zu
verdanken (s. im Folgenden).
In Stockholm fand die moderne Anat. Eingang durch R e t z i u s
d. Ae. (Anders Adolf, * 1796 18. Okt., f 1860 18. April).-^) Seine
ersten Beiträge zur Anat. der Fische waren Vorläufer der Arbeit von
Joh. Müller. Er erwies 1832 auf anat. Wege den Zusammenhang
zwischen dem spinalen und sympathischen Nervensystem, untersuchte
den Klappenmechanismus des Herzens, die feinere Anatomie der Leber,
begründete das mikroskopische Studium in Schweden und machte
in der Ethnologie den ersten wichtigen Versuch einer Klassifikation
der Menschenrassen nach der Schädelform. 2'') Sein Sohn Retzius
d. J. (Magnus Gust., * 1842 17. Okt.)^'') hat sich auf dem Gebiete
^*) Schüler von Joh. Frank u. Olaus Stenius, stud. später in Leyden, in Ups.
0. Prof. med. 1660 — 90, wegen Streitsucht des Amtes enthoben.
^'') De circulatione sanguinis, 1652 (Dr.-Disp.). — Nova exercitatio
anat. exhib. ductus hepat. aquosos et vasa glandulär, serosa, nunc
primum inventa, aeneisque figuris delineata, Arosiae (Westeräs) 1653.
Aufgenommen in *Hemsterhuis, Messis aurea, L. B. 1654, 12", pag. 238 sq.
^") Stud. in Lund u. Kopenhagen, seit 1824 stellvertretender, 1840—60 o. Prof.
d. Anat. u. Inspektor am Karolinischen Institut.
^^) Ueb. d. Zusammenhang der Pars thorac. u. sympath. mit den
Wurzeln der Spinalnerven, Meckels Aren. 1832. — Bemerkungen über
Anastomosen der Pfortader u. der unt. Hohlader ausserhalb der
Leber, Tiedemanns u. Treviranus' Zeitschr. f. Phys. 1833. — Einige Bemerk,
über d. Scheidewand des Herzens beim Menschen, Müllers Arch. 1835. —
Ueb. d. Mechanismus des Zuschliessens der halbmondf. Klappen,
ib. 1843. — Om lefverns finare bygnad, Verh. d. skand. Naturfvers. 1844. —
Cm rätta tydningen af sidouts kottens pä rygg- och ländkotoma
hos menniskan och dägdjuren, Verh. d. schwed. Ak. d. Wiss. 1848; deutsch
in Müllers Arcb. 1849. — Mikrosk. undersökningar öfver tändernas,
särdeles tandbesets struktur, ib. 1836; deutsch in Müllers Arch. 1837. —
Om formen af Nordboernas kranier 1842. — Ethnol. Schriften von And.
Retzius, Stockh. 1864.
3*) Seit 1877 a. o. Prof. d. Histol. am Karolin. In§t., 1889—90 o. Prof. der
Anat. das.
Geschichte der Anatomie. 317
der vergl. Anat. des Gehörorgans, des Studiums finischer und alt-
schwedischer Schädel, durch biologische Untersuchungen, eine Mono-
graphie über das Menschenhirn, überdies mit Key (E. Axel Heni\,
* 1832, seit 1862 Prof. d. path. Anat. am Karolin. Inst.) durch das
umfangreiche Werk „Studien in der Anatomie des Nervensystems und
des Bindegewebes" einen hervorragenden Platz unter den Anatomen
der 2. Hälfte des 19. Jahrh. gesichert.^*')
F Inland. Das im 12. und 13. Jahrh. von den Schweden er-
oberte, 1808 in das russische Reich einverleibte und 1811 zu einem
Grossfürstentum umgestaltete ^ Finland zählt literargeschichtlich zu
Schweden. Die i. J. 1640 zu Abo gegründete Universität wurde nach
dem Brande i. J. 1827 nach Helsingfors verlegt. Bis dahin ist dort
auf anat. Gebiete kaum Nennenswertes geleistet worden. Der erste,
der die Anatomie dort am Ende des 17. Jahrhunderts einführte, war
Tillandsz (Elias. * 1640. f 1693).*) Die im 18. Jahrh. um das
Fach verdienten Leche (Johann, * 1704 22. Sept, f 1764 17. Juni),^)
und Spöring (Herman Diedrik, * 1710 19. Okt., f 1747 17. Juni)«)
haben nur örtliche Bedeutung. Auch an dem nach Helsingfors
verlegten Studium kam die Anat. zu keiner höheren Blüte, offenbar
deshalb, weil die Professoren hier wie auch in Abo zu vielseitig in
Anspruch genommen waren. Der aus der Prosektur zu Helsingfors
hervorgegangene mannigfach thätige, auch als Historiker verdiente
Hjelt (Otto Edward Aug., * 1823 18. April)') hat das Studium der
patholog. Anat. in Helsingfors begründet, nachdem rund 100 Jahre seit
dem Erscheinen von Morgagnis Monumentalwerk „De sedibus et
causis morborum" vergangen waren. Dem unbefangenen Beobachter
macht es übrigens den Eindruck, dass der Kampf um die nationale
|iind politische Selbstständigkeit die geistigen Kräfte in Finland ähn-
lich wie der der Slaven in Böhmen und Polen zu sehr in Anspruch
[nimmt, um eine ausschlaggebende Entfaltung auf wissenschaftlichem
"rebiete zuzulassen.
Russland.
JRicJiter {W. M.), Gesch. d. Med. in Rnssl, 3 Bde., Moskau 1813 — 17. —
iTschistoH'itsch (Jacob), Gesgh. d. ersten med. Schulen in Russl. {russ.), St. Petersb.
11883. — *Brückner (A.), D. Atrzte in Riissl. bis zum J. 1800, St. Petersb. 1887,
\80 S. — *Sti€da (L.) im Biogr. Lex. von Gurlt u. Hirsch.
Russland ist erst unter der DjTiastie Romanow (1613 — 1762) zur
I Wertschätzung der Anatomie, wenn auch anfangs nur langsam ge-
langt. Im 17. Jahrh. bestand im Volke eine ausgesprochene Vorein-
genommenheit gegen Studien in dieser Richtung. Der i. J. 1626 ein-
gewanderte holländische Arzt Bremburg (Quirinus) wäre wegen
des Besizes eines Skelets beinahe gelyncht worden und musste in-
*") D. Gehörorgan der Knochenfische 1872, der Wir belthiere 1 1$81,
II 1884, Stockholm. — Finska kranier, ib. 1878; Crania suec. antiqua 1899. —
D. Menschenhirn, Studien in d. makrosk. Anat. 1896. — Stud. in d. Anat.
des Nervensyst. u. d. Bindegewebes m. A. Key I, II 1 §tockh. 1875, 76.
*) Schüler von Olaf Rudbäck in Upsala, einziger Prof.^iu Abo seit 1670.
*) 1740 in Lnnd promov., seit 1748 Prof. d. Med. in Abo.
•) Stud. in „Upsala u. Stockholm, 1726 in Harderwiik promov., seit 1728
Prof. d. Med. in Abo.
") Seit 1856 Prosektor der Anat., 1859—85 Prof. der pathol. Anat.
318 Robert Ritter von Töply.
folgedessen das Land verlassen. Noch Olearius bemerkt (1663), dass
die Russen vor aller Anatomie, vor dem Sezieren von Leichen die
grösste Abscheu haben. Unter Peter L (Alleinherrscher 1689—1725)
begann der Aufschwung, anfangs durch Heranziehung von Ausländern
im Interesse des Hofes. Der Czar hatte Holland besucht, seit 1698
mit Fr. Ruysch Umgang gepflogen, anat. Museen, anat. Präparate mit
Enthusiasmus besichtigt, Leichensektionen beigewohnt. Die Folge
davon war die Gründung des Militärhospitals in Moskau i. J. 1706
und damit der ersten mediz.-chirurg. Schule in Russland durch Bidloo
(Nicolaus, * ?, t 1735 23. März),^) dann der Ankauf der Sammlung
anatomischer Präparate von Fred. Ruysch für 30000 fl. i. J. 1717
durch Vermittlung von Blumentrost (Laurentius III, * 1692 29. Okt.,
t 1755 27. März).-) Bald darauf (1725) wurde Duvernoy (Joh.,
* 1691, t 1759)«) für das Fach der Anat. und Physiol. an die
Akademie der Wissenschaften in Petersburg berufen. Mit ihm kam
als „Student der Akademie" Weitbrecht (Josias, * 1702 2. Okt.,
f 1747 8. Feb.). welcher später den Katalog des Museum Ruyschianum
zusammenstellte.^) Der an seiner Stelle zum Mitglied der Akademie
für das Fach der Anat. und Physiol. gewählte Kaau-Boerhaave
(Abraham, * 1715 5. Jan., f 1758 14. Juli) erfreute sich grosser Be-
liebtheit. Ebenso wie Weitbrecht, steht auch Schreiber (Joh.
Friedr., * 1705 26. Mai, f 1760 28. Jan.)ö=*) noch ganz unter der
Nachwirkung von Ruysch. ^^) Der in Strassburg und Leyden ge-
bildete Protassjew (Alexei, * 1724, f 1796 5. Mai)«) gilt in
Russland als bedeutender Anatom. Jedenfalls war er einer der
ersten Russen, die sich mit der Anatomie wissenschaftlich befasst
haben. In Moskau ragen hervor Hildebrandt als Prof. d. Anat.
und Physiol. an der Hospitalschule, sowie dessen Neffe Hildebrandt
(Justus Friedr. Jacob) als einer der angesehensten Professoren an der
i. J. 1755 daselbst gegründeten Universität. Nachdem 1763 ein Medi-
zin al-Kollegium errichtet worden war und 1768 die erste Doktor-
promotion in Russland stattgefunden hatte, kam auch in Wilna i. J.
1776 eine Lehrkanzel für Anat. und zwar durch den Fürstbischof
zu Stande. Der erste Professor war hier der französische Chirurg
Regnier.') Erst 1802 erfolgte die Gründung einer Universität in
Dorpat, später in Kijew, Kasan, Charkow. (Ueber L o d e r, in Moskau
seit 1809, s. Haller.)
Eine ganz neue Richtung schien hier durch das Auftreten der
deutschen Embryologen Wolff, Pander, Baer angebahnt. Wolff
(Kasp. Friedr., * 1733, f 94) *) hat hier seine Untersuchungen über
*) Sohn des Anatomen Govaert B. in Leyden, Inspektor u. Prof. d. Anat. an d.
Schule bis zu seinem Tode.
^) Erster Präsident der unter Katharina I. (1725 — 27) eröffneten Akademie
der Wissensch. zu St. Petersb.
^) Hallers Lehrer in der Anat. zu Tübingen, in Petersb. 1725 — 41.
*) Hauptwerk: Syndesmolog-ia, Petersb. 1741, franz. Par. 1752, deutsch
Strassb. i. E. 1779; „Insigne opus" Haller.
■*") Schüler von Albin, seit 1742 Prof. d. Anat. u. Chir. an d. St. Petersb. Hospital-
schule.
^^) Novae quaed. obss. de ossib. etc. et ratio, qua crescunt,
Amst. 17.S1. — Hist. vitae et merit. Fried. Euyschii, Amst. 1732.
*) Prof. e. 0. d. Anat. in Petersb., seit 1771 o. Akademiker.
') *Sue, Anecd. bist, litter. et crit. sur la med. etc., Amst. et Par. 1785, I,
p. 150; die Sache wird von Brückner a. a. 0. nicht erwähnt.
*) In Petersb. seit 1767 o. Akademiker f. Anat. u. Physiol.
i
Geschichte der Anatomie. 319
die Bildung des Darmkanals veröffentlicht, doch wurden sie weiteren
Kreisen erst durch Meckel zugängig (s. Berlin). Fand er (Heinr.
Christ, * 1794, f 1865)^) hatte schon vorher seine embryologischen
Hauptwerke in Würzburg (1817), seine zoologischen in Bonn (1821)
herausgegeben. „Die Zierde und der Stolz, die Seele der Akademie^
durch mehr als 30 Jahre, der vielseitige Baer (Karl Ernst. * 1792,
f 1876),^**^) fand hier keinen Boden für die Fortsetzung seiner em-
bryologischen Studien, hat dafür jedoch die Kraniologie gepflogen. ^*^^)
Die neueste Aera beginnt mit dem Chirurgen Pirogow (Nikolai
Iwanowitsch. * 1810 10./25. Nov., f 1881 23. Nov./5. Dez.)."*) Er
setzte die Einrichtung eines besonderen anat. Instituts (für prakt.
Anatomie) an der militär-med. Akademie in Petersburg durch und
machte sich auf anat. Gebiete besonders durch seine Arbeiten über
die Arterien und Fascien bekannt."^). Der von ihm als Prosektor
berufene Grub er (Wenzel, 1814—90; in Petersburg seit 1847, 1855 —
88 Direktor der prakt. Anat., s. oben Hyrtl und Bochdalek), verdient
um die Errichtung des neuen anat.-physiol. Instituts und durch die
Gründung eines reichhaltigen Museums, hat 40 Jahre der Varietäten-
forschung gewidmet und so ein Material gesammelt, dessen Verwertung
der vergleichenden Anatomie und Phylogenese zu gute fallt. In
Dorpat hat Raub er (August, * 1841 22. März)i-*) i. J. 1890 in
dem erweiterten anat. Institut einen Studiensaal eingerichtet, wie dies
seinerseits Toldt in Prag gethan, und wie dies auch 1885 im Vesa-
lianum zu Basel geschehen war. ^-^)
Amerika.
Unter den drei grössten Städten der Vereinigten Staaten (New
York, Chicago, Philadelphia) gebührt dem pennsylvanischen Phila-
delphia ein grosses Verdienst um den Aufschwung der Medizin (die
medizinische Schule wurde hier schon 1764 gegründet), insbesondere
der Anatomie.
Zu den älteren hervorragenden Vertretern des P^achs gehören
Wistar und Horner. Wistar (Caspar, * 1761 13. Sept., f 1818
22. Jan.), ^*) ein unermüdlicher Lehrer, Verfasser eines beliebten
Lehrbuchs, gab auch eine neue Beschreibung des Siebbeins. ^^) Nach-
») In Petersburg 1823—27 u. 1842—65, o. Akademiker f. Zoologie 1826—27.
^°') Endgiltig in Petersb. 1834—67 als Akademiker f. Zoologie, 1841—52 Prof.
d. vergl. Anat. an d. med.-chir. Akademie.
^^) Crania selecta, Petrop. 1859. — Ueb. Baer u. Pander Tgl. Würzburg.
"») 1836—40 Prof. d. Chir. in Dorpat, 1840-47 der Hospitalchirurgie an der
militär-med. Akad. in Petersb.
"**) Anat. chir. truncor. arteriar. atque fasciar. fibrosar., Dorpat
u. ßeval, 1837—40, Atlas m. lat. u. deutsch. Text. — Anat. topogr. sectionib.
per corp. hum. congelatum triplici directione ductis illnstr.,
St. Petersb. 1849.
**•) Schüler von Bischoff u. Küdinger in München, später Prosektor von His,
«dt 1886 0. Prof. d. Anat. in Dorpat.
*2b) Lehrb. d. Anat. d. Menschen. 2 Bde., 5. Aufl. 1897, 98. — *Ueb. d.
Einriebt 11 ng von Studiensälen in anat. Instituten. M. phot. Abb., Leipz.
1895, 20 S.
'•) Seit 1792 Adjunkt-Prof. der Anat., Geburtsh. u. Chir. neben Wm. Shippen,
nach Teilung der Lehrkanzeln — 1805 — mit letzterem, u. nach dessen Ableben —
1808 — allein Prof. d. Anat.
""j A System of anat. f or the use of students of med. Philad. 1811,
320 Kobert Ritter vou Töply.
dem sein ausersehener Nachfolger, der Chirurg Dorsey (John Syng,
*1783 23. Dez., f^SlS 12. Nov.) gestorben war, erhielt die Lehr-
kanzel der berühmte Chirurg, aber unbedeutende Anatom Physick
(Philip Syng, *1768 7. Juli, tl837 15. Dez.). -) P^rst dessen Nachfolger
Homer (William Edmonds, *1793 3. Juni, tl853 23. Jan., seit 1816
Prosektor), brachte das Fach zu neuer Blüte. Er entdeckte den sog.
Muse, tensor tarsi, verfasste ein in den medizinischen Schulen all-
gemein eingeführtes Handbuch und errichtete an der Universität mit
Wistar das „Horner and Wistar Museum", eine der bedeutendsten
anatomischen Sammlungen der Welt.**)
Neben der Universität entstanden hier im 19. Jahrhundert
mehrere Privatanstalten für den Betrieb der Anatomie, so 1818 die
des Dr. Parish (Joseph) mit Harlan (Richard) als Lehrer, 1822 die
des Dr. Hewson (Thomas), 1829 die des Dr. McClellan, überdies
eine vierte (Gründer nicht zu erforschen), als bedeutendste aber die
„Philadelphia School of Anatomy" (bestand vom März 1820 bis
März 1875). Sie wurde ursprünglich als „Philadelphia Anato-
mical Rooms" errichtet von Dr. Lawrance (Jason Valentine
O'Brien, *1791, f 1823, August; seit 1822 Assistent von Horner).
Dessen Nachfolger Godman (John D., *1794, f 1830)*) untersuchte
besonders die Verbreitung der Fascien, auch übersetzte er 1824 die
Osteologie von Scarpa. •^^) Ihm folgte 1826 Webster (James, 1830
an die Lehrkanzel für Anatomie am Geneva Med. Coli, berufen) und
diesem Pancoast d. Ae. (Joseph, * 1805, f 1882 7. März), ^) welcher
Joh. Friedr. Lobsteins Abhandlung über den N. sympathicus übersetzte,
Manec's Abhandlungen über das sympathische und Cerebrospinal-
nervensystem, Quains anatomische Tafeln in 4 " sowie Wistars und
Horners Anatomie in einer Umarbeitung herausgab. Sein Nachfolger
Dunott (Justus) verband sich drei Jahre später mit Allen
(Joshua M.). **) Diese Beiden wurden im Jahre 1841 in einer ähn-
lichen aus dem Jahre 1838 stammenden Gründung des Mc-Clintock
(James)') ansässig und benannten ihre Anstalt nun „Philadelphia
2 voU.; 1816; 1822; Neuaufl. von Horner; 5. edit. 1830; 7. edit. by Pancoast
1839. — D. Abbandln g. üb. d. Siebbein in den Transact. of the Coli, of Physic.
2) Schüler von John Hunter, Prof. d. Anat. 1819—1831.
^) A descript. of a muscle connect. w. the eye, lately discovered,
Lond. medic. Repository 1822. — Descr. of a small muscle of the int. com-
missure of the eyelids. Philad. Journ. of Med. and Pbys. Sc, 1824. — An
inquiry into the discov. of the tensor tarsi musc, being an answer
to the objections of Sig. Gaetano Flajani of Roma. Ebenda. — A trea-
tise on the descr. anat. of the hum. body. 2 voll., Philad. 1826; 7. ed. 1846.
*") Er war ein Schüler von Davidge, Prof. d. Anat. a. d. Univ. in Maryland,
wurde 1821 Prof. d. Anat. am Med. College in Ohio, kam 1823 nach Philad., wo er
mit an der anat. Schule zu lesen begann, erhielt 1826 die eben errichtete Lehrkanzel
d. Anat. an Rutgers Medic. College in New- York.
*^) Anatomie. Investigations, comprehend. descriptions of the
Various Fasciae of the Hum. B. (the discov. of the manner in wh. the
pericardium is forraed fr. the superfic. fascia, the capsul. ligament of the shoulder-
joint fr. the brachial-fascia, and the caps. ligam. of the hip-joint fr. the fascia
lata etc.), Philad. 1824.
«*) Am Jefferson Med. Coli. Prof. d. Chir. seit 1838, der Anat. 1847—74; Nach-
folger in letzterer Eigenschaft sein Sohn William, * 1835.
•*) Wurde 1852 Prof. d. Anatomie am Pennsylvan. Med. Coli.
') Wurde 1841 Prof. d. Anat. au der Vermont Academy, nachmals Castleton
Med. Coli., später an der Berkshire Med. Institution, Pittsfield, Massachusetts.'»)
'*) Ueber die Transactionen bei dieser Gründung während der Jahre 1838 —
1847 vgl. den Schlussbericht von Keen p. 12 u. f . (s. unten).
Greschichte der Anatomie. 321
School of Anatom 3"'. Allen hat sie bis 1852 mit viel Erfolg
fortgeführt, später auch eine Anleitung für Seziersaalarbeiten ver-
öffentlicht. ^) Eine ähnliche lieferte sein Nachfolger Agnew (D.
Haj^es). ^) Nachdem dann Garretson (James E.), ^^j Andrews
(James P.). Sutton (R. S.) einander schnell abgelöst hatten, übernahm
die Leitung Keen (William W., *19. Jan. 1837), ii) ein sehr beliebter
Lehrer. Er ist Verfasser einer Skizze der älteren Geschichte der
praktischen Anatomie, Herausgeber von Flowers Diagrams of the
Nerves und Heaths Practical Anatomy. Er schrieb mit Thomson
(William) über die Anatomie des Chiasma n. optici, die Ossifikation
des Atlaswirbels, und lieferte schliesslich eine kurze Skizze seiner
Anstalt, an der er die Anatomie und operative Chirurgie gelehrt und
eine Menge von Schüleni herangebildet hatte. ^-)
1856 errichtete auch Forbes (William S.) eine ähnliche Schule,
hauptsächlich für Sezierübungen der Studenten der Dental Colleges,
und lehrte dort als Professor der Anatomie 12 Jahre.
Zu den ausdauerndsten Lehrern des 19. Jahrhunderts gehört
Ford (Corydon L.. *1812, f 1894), ^^) zu den auch historisch gebildeten
Shepherd (Francis J.), Professor der Anatomie an der Mc-Gill
University, ^^) zu den Vorkämpfern einer vereinfachten anatomischen
Nomenklatur Wilder (Burt C), ^^) zu den bedeutendsten Embryo-
logen Minot (Charles Sedgwick, Prof of Histology and Hum.
Embryology Harvard Medical School Boston), ^"^j
Japan.
Ot-Souki-Shiouzi, Geschichte der abendländischen Wissenschaften in Japan,
Yeddo 1878. Jajxiniich. — *Ardouin (Leon), Aperm siir Vhistoire de la medecine
au Japon, Paris 1884, 8 **, 49 pag.
Nachdem im Jahre 1542 ein portugiesiches Schifft auf dem Wege
von Siam nach China an der Küste von Japan gestrandet war. be-
gann die Invasion portugiesischer Jesuitenmissionäre, ihr folgte 1613
die Ansiedlung der Holländer zu Handelszwecken. JEin gegenseitiger
*) Practica! anatomist or the students guide in the dissectiug room,
Philad. 1856, m. 266 Abb.
*) Hier 1852—1862, dann Demonstrator d. Anat. u. schliesslich Prof. d. Chir.
an d. Universität. Practical anatom}'. A new arrangement of the London
Dissector etc. 1868. — Ein vorbereitetes Werk über die Fascien ist nie erschieaea.
'") Uebemahm 1864 die Lehrkanzel der Chir. am Philad. dental Coli.
") Hielt die Anstalt vom 22. Okt. 1866 — 1. März 1875.
'^) *The history of the Philadelphia School of Anatomy and its
relations to medical teachiug, Philad. 1875, 8''. 32 pp.
") 40 Jahre Prof. d. Anat. an der Universität Michigan, 1. Prosektor beim
medizinischen Departement der Universität Buftalo.
") *Sketch of the early history of anatomy. Reprint, from the
Canada Med. and Surg. Journ. 8 ",' 25 p. (o. J.).
^*) Fissural diagrams of the hum. brain. Macroscop. Vocabulary of
the brain present. to the Assoc. of Araeric. anatomists at Boston. Mass. 29. Dec. 1890.
— The fundamental principles of anatomic. Nomenclature. Med.
News. 19. Decemb. 1891. — American Reports upon Anatomic. Nomen-
' lature. 1889—90, w. Notes by Wilder, Comell University, 5. Feb. 1892.
'*) Lehrb. der Entwicklungsgesch. des Menschen. Deutsche Ausg. von
Kästner (Sandor), ni. 463 Abb. lex. 8», 1894, Leipzig.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 21
322 Robert Ritter von Töply.
literarischer Aifstauscli fand jedoch aus sprachlichen Gründen lange
Zeit hindurch nicht statt, so dass die Medizin in Japan vorderhand
auf dem alten Standpunkt blieb. Der wissenschaftliche Einfluss
Chinas auf Japan hatte sich bekanntlich — wenigstens in medizinischer
Beziehung — nicht unmittelbar, sondern durch die Einfuhr koreanischer
Aerzte, und zwar schon im 5. Jahrh. v. Chr. geltend gemacht. Der
im Jahre 668 berufene koreanische Gelehrte Kicit Siuzi errichtete
hier während der Jahre 697 — 707 öifentliche medizinische Schulen,
welche jedoch schon um 914 in Verfall geraten waren, worauf die
grobe Empirie der Chinesen für Jahrhunderte Platz griff. Die auf
der Insel Desima sässig gewordenen Holländer zogen zwar zum ärzt-
lichen Hilfsdienste in der Faktorei Eingeborene heran und erteilten
ihnen, wenn sie Fortschritte gemacht hatten, sogar Diplome, die vom
Direktor, dem Arzte und noch einem Offizier der Faktorei ausgestellt
waren, ^) ohne damit jedoch mehr erzielt zu haben, als dass ihnen die
Japaner einige praktische Handgriffe abgelauscht hätten, weil die
Regierung jeden anderen als den Handelsverkehr verboten hatte, die
Befolgung misstrauisch überwachte und einen literarischen Austausch
nicht zuliess. Erst unter dem Shogun Yossimoune (1716 — 47) erlangten
drei Dolmetsche zu Nagasaki die Erlaubnis zum Studium des hol-
ländischen Alphabets, womit das Eis wenigstens teilweise gebrochen
war. Durch dieses Ereignis angeregt erwarben im Jahre 1771 die
drei Aerzte Sougita Essai, Arzt des Daimio von Nagatsou,
Mayeda Riotakou (11802) und Nakagara Kiowan (f 1781)
von einem Dolmetsch zu Nakagara mit Unterstützung des Daimio von
Nagatsou für 200 Rios (= 1000 Fr.) eine illustrierte holländische
Anatomie. Nachdem sie sich dann gelegentlich der an einem Ver-
brecher vollzogenen Strafe des Geschundenwerdens von der Richtig-
keit der Abbildungen überzeugt hatten, brachten sie binnen vier
Jahren eine Uebersetzung jenes Werkes bei getreuer Wiedergabe der
Abbildungen zu stände. Bald darauf kam Thunberg als Arzt der
Faktorei zu Desima nach Japan (1775). Er führte einige medizinische
und botanische Werke ein. Beiläufig zur selben Zeit gründete der
Shogun Yehar (1761 — 91) im Viertel Kanda zu Yedo die grosse unter
dem Namen Sei-ziou-kouan bekannte medizinische Schule. Später
bildete Von Siebold (kam 1824 als Arzt der Faktorei zu Desima nach
Japan) eine Reihe von Japan. Aerzten heran. Aber all diese Vorstösse
hatten nur die möglichst schnelle Erreichung praktischer Erfolge be-
zweckt. Erst nachdem um die Mitte des 19. Jahrhunderts einzelne
Vertragshäfen geöffnet wurden, die Russen, Holländer und Engländer
in unmittelbaren Verkehr mit Japan getreten waren, begann hier
eine neue Zeit. Ueber Veranlassung des Shoguns errichtete der
Holländer Dr. Pompe Van Meerderwort im Jahre 1857 zu
Nagasaki die erste europäische medizinische Schule (er war hier
Vorstand von 1857 — 62). Der anatomische Unterricht wurde anfangs
nur an der Hand anatomischer Tafeln betrieben. Erst 1858 (3. Aug.)
gab der Hof zu Yedo die Erlaubnis zur Vornahme von Sektionen an
Verbrecherleichen. Die erste fand den 9. September 1858 bei gleich-
zeitiger Vorweisung der anatomischen Tafeln von Weber statt, die
zweite am 7. November 1859. Die Schule von Nagasaki blühte bis
') Ein solches Diplom vom J. 1668 hat sich erhalten. Ardouin a. a. 0. p. 26.
Gesclüchte der Anatomie. 323
zui* KeTolution von 1868. worauf die Aerzte in die Spitäler zu Kobe,
Niigala, Yedo. Yokohama verteilt wurden und dort auch Unterricht
erteilten. Doch erg-aben sich dort bedeutende sprachliche und sach-
liche Schwierigkeiten. So hatte Dr. Vi dal im Hospital zu Xiigata
(1873 — 74) für den anatomischen Untemcht nur ein Skelet, einen
deutschen anatomischen Atlas und eine schwarze Tafel zur Verfügung
und verkehrte mit seinen Schülern nur mittels Dolmetsch. Nach der
Neugestaltung des Reiches wurde 1871 zu Yedo eine medizinische
Schule errichtet, aber erst 1877 endgütig zusammengestellt. Von
dieser Zeit an macht sich in der Medizin der Einfluss Deutschlands
geltend. Die neueren japanischen Aerzte arbeiten mit bewundenings-
würdiger Selbstlosigkeit und hoher Intelligenz ganz im Sinne der
modernen Wissenschaft, in erster Linie an der Universität zu Tokio. ^)
Dasselbe kommt auch in der Kunst zum Ausdruck. Die völlig
naturalistische Auffassung der genialen Zeichner H o k u s a i (Katsushika)
und K i 0 s a i (Kawanabe) zeugt von einer Feinheit der Xaturbeobachtung,
wie sie europäischen Künstlern, sobald sie auf das anatomische Gebiet
abschweifen, nicht allzu oft eigen ist. ^)
China.
* Lockhart {William), D. ärztl. Missionär in China. Hebers, von Bauer
{Hermann), Würzb. 1863, 8«, 246 S.
Bis zum 19. Jahi'hundert kam China mit der europäischen Medizin
nur wenig in Berührung. Erst durch die Medizinalbeamten der Ost-
indischen Kompagnie lernte das Volk dieselbe praktisch kennen.
Pearson (Alexander) führte 1805 die Kuhpockenimpfung in Kwantung
ein und erzielte noch bevor er das Land verliess (1832) die Errichtung
eines Impfinstituts daselbst. Seine Abhandlung über die Impfung
wui'de von Staunton (G.) in das Chinesische übersetzt. Rev.
*) z. B. Sliibasaburo Kitasato am bakteriologischen Institut der Universität
za Tokio, dann an der Anstalt für Infektionskrankheiten zu Shibata (Provinz
Yechigo), Takaki, Shiga, Moriga, Tatsuhiko Okamura.
^) Sehr lehrreich ist in dieser Beziehung ein Vergleich zwischen Hans Hol-
beins Totentanzbildem in *Les simulachres et historiees faces de la mort (A Lyon,
1538, 4 ". Facs. Reprod. von G. Hirth, Münch. 1884) u. d. Skeletdarstellungen des
Kiosai, wobei das Urteil zu Ungunsten des Ersteren ausfallen muss. Eine be-
sonders mangelhafte Kenntnis des Skelets bekundet Eethel (Alfred) in seinen be-
rühmten Totentanzbildem. In dem Blatte „Der Tod als Würger" geigt dieser statt
auf einer Fiedel auf einem Knochen, dessen eines Ende die obere Epiphyse der
Tibia, das andere die untere des Femur aufweist. Auf dem 6. Blatt der Folge
„Ein Todtentanz a. d. J. 1848^ ist der Reiter in geradezu haarsträubender Weise
dargestellt. Der weitaus längere Radius des rechten Vorderarms artikuliert irgend-
vr. hinten mit dem Humerus, die Fibula des linken Unterschenkels hinten oben
gendwo mit dem Femur, unten mit der Tuberositas calcanei. Etwas mehr Ge-
nauigkeit in anat. Beziehung würde unseren Künstlern ebensowenig schaden als sie
andererseits unsere Bewunderung der japanischen Kunst erregt. Ueber letztere
^2:1. *Stratz (H.), Die Koi-performen in Kunst u. Leben der Japaner. Stuttg. 1902,
", 196 S. m. 112 Abb. u. 4 Taf. — Eine kurze, aber gediegene Einführung in die
esch. des Japan. Holzschnitts ist: *Anderson (W'üliam), Japanese Wood Engravings.
-nd. 1895, 8°, 80 S. m. 6 Taf. u. 37 Abb. im Text. — Die erste Reproduktion
ner Japan, farbigen Abb. von patholog. Interesse (Tumor am Unterkiefer) bei
Heusinger (Carol. Frid.) , Specimen artis japonicae anthropologico-medicum.
;irb. Cattor. 1830, fol., 6 S. m. kolor. Tafel.
21*
324 Robert Ritter von Töply.
D. Morrison und der Wundarzt der Ostind. Komp. Mr. Living-
ston eröffneten 1820 eine von eingeborenen Praktikern geleitete
Heilanstalt, 1828 eröffnete Mr. CoUedge, Wundarzt der Faktorei
der Ostind. Komp., ein Hospital zu Makao, hauptsächlich für Augen-
krankheiten. Auf seine Anregung wurde später China teils von
Amerika teils von England aus von „ärzlichen Missionären" heim-
gesucht, welche von den im Mutterlande bestehenden sowie eigens zu
diesem Zwecke errichteten Gesellschaften (in London unter Aber-
combie), teils von der 1838 in Kwantung sowie von der 1845 in
Hongkong errichteten „ärztlichen Missionsgesellschaft in China" unter-
stützt, während der Jahre 1835—45 in Kwantung (1835), Makao
(1838), zu Tinghai auf der Insel Tschusan (1840), in Hongkong (1843),
Schanghai (1844), später auch anderwärts Hospitäler gründeten mit
dem Zwecke „die Ausübung der Heilkunde als Hilfsmittel bei der
Einführung des Christentums" zu benutzen.^) Unter jenen ersten
ärztlichen Missionären (Rev. Dr. Peter Parker, Mr. William Lockhart,
Dr. B. Hobson) verdient einer besonderen Erwähnung Hobson (B.)
von der Londoner Missionsgesellschaft, welcher 1837 in China ankam
und seit 1850 folgende Schriften in chinesischer Sprache veröffent-
lichte: 1. Anatomie und Physiologie (1850), 2. Naturphilosophie und
Naturgeschichte, 3. Grundsätze und Ausübung der Chirurgie (1857),
4. Praktische Medizin und Heilmittellehre nebst englisch-chinesischem
Wörterbuch, 5. Geburtshilfe und Kinderheilkunde. Die mit vielen
Abbildungen versehene Abhandlung über Anatomie und Ph5^siologie
beginnt, nach einigen allgemeinen Bemerkungen über die Wichtigkeit
des Studiums, mit den Knochen und einer Vergleichung des Skelets
verschiedener Tiere, den Bändern und Muskeln, worauf eine Be-
schreibung des Gehirns, des Rückenmarks und des Nervensj'stems
folgt. Nach einem kurzen Abriss der Optik und Akustik werden die
Sinnesorgane mit Rücksichtnahme auf die vergleichende Anatomie der
niederen Tierklassen abgehandelt. Es folgt die Beschreibung der Ein-
geweide und ihrer Funktionen, des Herzens und seiner Thätigkeit,
der Blutgefässe und Saugadern sowie des Blutkreislaufs, dann Be-
merkungen über die Harn- und Geschlechtswerkzeuge. Das Werk
schliesst mit einem andächtigen Bekenntniss des Schöpfers dieses
wunderbaren Körpers, „welches in sehr klarer Weise das Wesen, die
Weisheit und Güte des allmächtigen Schöpfers nachweist". Die
Schlussseiten sind einer kurzen Angabe über die psjxhologischen
Unterschiede, wie sie sich durch eine Betrachtung des materiellen
Baues der Seelenorgane ergeben, gewidmet. Dieser Band wurde
kurze Zeit nach dem Erscheinen von dem Vizekönig zu Kanton
wieder veröffentlicht. Die Illustrationen wurden neu geschnitten,
separat gedruckt und aufgerollt. Seither sind die verschiedenen
Bände der ganzen Reihenfolge gleich nach dem Erscheinen von den
Chinesen, und nach J^röffnung des Verkehrs mit Japan auch dort
nachgedruckt worden. Doch haben die Japaner alle Beziehungen auf
die christliche Religion oder auf deren europäischen Ursprung weg- |
^) Dies hatte chinesischerseits zu Schanghai i. J. 1845 die Gründung der „An-
stalt für unentgeltliche ärztliche Hilfe" (Schi-i-king-keuh) zur Folge. Aehnliche
Institute daselbst: die Heilanstalt Ting-jin-tang (tun-jin-tang) = Halle der ver-
einigten Wolthätigkeit in Verbindung mit der Poo-yuen-tang = Unterstützungshalle
zur Anschaffung von Särgen auf Kredit, ein Siechenhaus, ein Findelhaus.
Geschichte der Anatomie. 325
gelassen. Die weniger aufrichtigen, dem Transcendentalen sowie allem
Pietismus abgeneigten Chinesen hatten dies nicht gethan. Sie haben
den Einbruch in ihr durch Tradition geheiligtes Wissen anscheinend
ruhig hingenommen. Sie haben aber zum Schluss des Jahrhunderts
der Welt oifen zu verstehen gegeben, dass das Missionswesen die
Schuld an ihren Feindseligkeiten mitträgt, dass sie viel zu auf-
geklärt sind, um sich einer Wissenschah gegenüber entgegen-
kommend zu erweisen, die ihnen mit Kontrebande im Sack auf-
gedrungen wii'd. -)
Türkei. 1)
Der Pufferstaat für die rivalisierenden Grossmächte Europas hat
sich in wissenschaftlicher Beziehung recht langsam entwickelt. Zwar
hatte schon Sultan Mohammed IL (reg. 1451—81), der bekannte Er-
oberer von Konstantinopel, hier eine Medizinschule errichtet, doch
blieb sie ohne Bedeutung, Erst Machmud 11. (reg. 1808 — 39) gründete
1827 im Galata Sserai zu Pera eine Schule zur Ausbildung von
Militär- und Marine-Aerzten, anfangs allerdings nur mit zwei Lehrern.
Der Unterricht in der Anatomie wurde nui* an der Hand der Loderschen
Tafeln erteilt, denn Leichensektionen waren unstatthaft und Präparate
nicht vorhanden. Die erwähnte türkische Anatomie von Schani
Zadeh aus d. J. 1820'-) war als Lehrbuch verboten. Erst ein Trade
vom 8. März 1838 erlaubte (unter Aufrechterhaltung des Verbots,
mohammedanische Leichen zu verwenden) für anatomische Zwecke
die Leichen von Christen und Juden zu sezieren. Ein wesentlicher
Fortschritt vollzog sich unter Abd-ul-Medschid (reg. 1839—68). Der
1. J. 1839 berufene Wiener Arzt Dr. Bernard (f 1844 9. Novemb. in
Konstantinopel) reorganisierte als Direktor der Medizinschule von
Galata Sserai die Anstalt nach den Grundsätzen der Wiener Schule.
Er begründete ein anatomisches Kabinet mit Präparaten von Jos.
Hyrtl. Sein Nachfolger Spitzer (Sigmund, * 1813, f kurz vor Neu-
jahr 1895 in Wien)'^) erreichte schliesslich, dass der türkische Chef-
arzt Tahir Pascha und dessen Adjunkt Abdullah Efendi
einen kaiserlichen Befehl erwirkten, demzufolge die Leichen der in
den Gefängnissen verstorbenen Verbrecher ohne Unterschied der Kon-
fession in die Schule zu Galata Sserai gebracht und seziert werden
sollen. Der Anfang wurde gleich mit der Leiche eines Moham-
medaners gemacht, schon im April 1846 wurden sogar Frauenleichen
*) Um sich ein richtiges Urteil über das "Wesen u. Wissen der Chinesen zu
lüden, darf man nicht die Feuilletons europamüder Globetrotters lesen, sondern man
nss sich in die Werke der Chinesen selbst vertiefen. Daz\i empfiehlt sich z. B.
i^ Studium der Encyklopädie der chinesischen Jugend, des Buches des ewigen
•istes und der ewigen Materie, des buddhistischen Katechismus, der Reden u. Ver-
: ilnungen chinesischer Kaiser an ihr Volk sowie die Reden vornehmer u. berühmter
hinesen an ihre Kaiser, des kleinen philosophischen Werks De-Pe-a, schliesslich
r Abhandlung des Generals T sehe ng-Ki-Tong über China und die Chinesen.
'} *Stern (Bernhard), Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei,
'■rlin 1903, S«, 2 Bde., 437 u. 417 S.
*) Vgl. S. 195 oben; dazu Henschels Janus 1848 III. Bd. S. 370.
') Ebenfalls aus Wien berufen, zuerst Prof. d. Anat., 1844 der medizin. Klinik,
lann Direktor der Schule, später in diplomat. Diensten.
326
Robert Ritter von Töply.
(die zweier moslem. Negerinnen) seziert. Unter Sultan Abd-ul-Aziz
(reg. 1861 — 76) ging das medizinische Studium wider stark zurück,
doch hat es sich unter Abd-ul-HamId II. (reg. seit 1876) wieder ge-
hoben. Die in Haidarpascha im Bau begriflFene Schule dürfte hoffent-
lich den Forderungen gerecht werden, die die Wissenschaft auf Grund
ihrer Entwicklung in dem eben abgelaufenen Jahrhundert allerorten
zu stellen berechtigt ist.
k
jeschichte der Physiologie in ihrer Anwendimg auf die
Medizin bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts.
Yon
Heinrich Boruttan (Göttingen).
Litterarische Vorbemerkungen.
Eine umfassende Darstellung der Geschichte der Physiologie fehlt bis jetzt.
Historisches Material findet sich reichlich in allen grösseren älteren Lehr- und Hand-
büchern der Physiologie, z. B. in Halters Elementa physiologiae. Von neueren Werken
finden sich kurze historische Einleitungen in den Lehrbüchern von Hermann und
von Landois. Eine kurze aber ausgezeichnete, besonders die allgemeinen Gesichts-
punkte berücksichtigende Darstellung der Enitcicklung der biologischen Wissenschaft
hat Verivarn in seiner „allgemeinen Physiologie^ gegeben. Es sei ferner hier gleich
aufmerksam gemacht atif: M. Foster, „Histm-y of physiology in the 16^f 17<J* and
IS»* centuries"', Cambridge 1901, auch auf Franz Carl 3IiUlers „Geschichte der
organischen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert'^, Berlin 1902 (mehr populär).
Eine lose Aneinanderreihung bildgezierter Biographien bildet das von W. Stirling
privat herausgegebene Prachtwerk „Some Apostles of Physiology-, Manchester 1902.
Natürlich findet sich eine reichliche Zahl speziell die Physiologie interessierender
Litteraturangaben in den grösseren Werken über die Geschichte der Medizin, Haeser,
Sprengel, vor allem Pageis trefflicher „Einführung u. s. jc", sowie Biblio- und
Biographisches in Choulant, Paiilys Bibliographie, dem älteren und neueren
..biographischen Lexikon hervorragender Aerzte'^, für die 7ietie8te Zeit umfassend in
Pageis medizinischer Bibliographie.
I.
Altertum und Mittelalter.
Bei den alten asiatischen Kulturvölkern und bei den Mittelmeer-
völkern der vorgriechischen Kulturperiode kann mangels der
allernötigsten anatomischen Kenntnisse auch von Physiologie
nicht dieRede sein. Erst die Gelegenheit, welche sich den Aerzten
der Asklepiadenschulen bot, Opfertiere zu sezieren, das allgemeinere
Interesse für den Bau und die Funktionen des menschlichen Körpers,
welches die gymnastischen Hebungen des klassischen Hellenentums
weckten, der hiermit und mit den grossen Kriegen zusammenhängende
Antrieb zur Vervollkommnung chirurgischer Thätigkeit hob die Ana-
tomie der Griechen auf eine höhere Stufe, als sie noch heutigen
328 Heinrich Boruttau.
Tages bei den Chinesen steht, und gab damit auch die nötige Grund-
lage für die Erforschung der speziellen Funktionen des menschlichen
Organismus. Hierzu kam als zweiter, gewaltig treibender Faktor die
frühzeitige Entwicklung der Philosophie bei diesem hoch-
begabten Volke, d. h. der harmonisch vereinigten Geistes-
und Natur Wissenschaften im weitesten Sinne des Wortes.
Die gegenseitigen Beziehungen zwischen griechischer Philosophie und
Medizin sind bereits im ersten Bande dieses Werkes in vortrefflicher
Weise besprochen worden (S. 170 u. ff.); auch sei hier noch besonders auf
das interessante Werk von E. Chauvet, La Philosophie des Medecins
grecs, Paris 1886, hingewiesen. An angeführter Stelle des ersten
Bandes sind auch zugleich mit den physikalischen und anatomischen
die wichtigsten physiologischen Anschauungen der älteren griechischen
Philosophenschulen kurz beschrieben : Thaies, Anaximenes,
Diogenes von Apollonia (Adern und Puls); Pythagoras und
seine Schule; Alkmaion (Luftröhre, Ohrtrompete, Theorie der Ge-
schlechtsbestimmung) ;Heraklitvon Ephesus (Theorie der Sinnes-
empfindungen) ; Demokrit vonAbdera u. a. Charakteristisch für
diese, wie für jede spätere „Naturphilosophie" ist die Spekulation
über die Ursachen alles Seins, die Grundstoffe und Urkräfte der un-
belebten, wie auch belebten Natur, — „Erklärung des Lebens" — , wie
^ie als Endzweck auch die moderne allgemeine Physiologie, doch ver-
sehen mit dem Eüstzeug des Experiments und der Induktion, erstrebt.
Auch die allgemein- wie speziell-physiologischen Kenntnisse und An-
schauungen der Blütezeit hellenischer Philosophie und
Heilkunde, welche in dem Konvolut der sog. hippokratischen
Schriften niedergelegt sind, haben bereits im ersten Bande dieses
Werkes (S. 236 ff.) eine Darstellung gefunden. Es sei nur hier daran
erinnert, dass bereits Alkmaion (um 580 v. Chr.) und Plato
(429 — 337 v.Chr.) das Geh irn zum Sitz des Denkens, der Ueber-
legung erhoben, während die übrigen Erscheinungen des Seelenlebens
(Leidenschaften, Begierden, Empfindungen) noch nach altem Brauch
ins Herz, auch ins Zwerchfell und in die Baucheingeweide verlegt
wurden.
Die älteste zusammenhängende rein anatomisch - physiologische
Schrift, w^elche wir besitzen, ist wohl des grossen Aristoteles TteQi
Zd)iov fioglcov, eine Anatomie und Physiologie der Tiere,
aber nicht des Menschen, mit welchem er sich nicht beschäftigt zu
haben scheint. Er kennt die vier Elemente der älteren Naturphilo-
sophen — Feuchtes und Trocknes, Warmes und Kaltes, als Urelement
der beiden letzteren, als „quinta essentia" noch den Aether, das be-
lebende Prinzip (ob identisch mit dem Ttvev^ia?). Von ihm rührt die
Unterscheidung der bfxoio(.ieQfi (.wqia und der &vo{.ioiof.i£0l (.löqia her,
der gleichartigen und der ungleichartigen Teile, womit er dasjenige
unterscheidet, was wir jetzt Gewebe einerseits und Organe anderseits
nennen. Der Sitz der Seele ist für ihn das Herz, in welchem das
Blut sich sammelt, der Träger der „eingepflanzten Wärme", e^cpvxov
&€Q^bv, calor innatus. Die eingeatmete Luft dient zur Abkühlung
desselben, doch weiss Aristoteles, dass durch die Atmung die Luft
verdorben, zum Weiterleben ungeeignet wird. Die Bedeutung des
Nervensystems wird völlig ignoriert, ein Eückschritt gegenüber den
Pythagoräern und Plato; das Gehirn ist empfindungslos, schleim-
absondernd (s. spätere Bemerkung auf S. 345). Nevqov heisst die
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 329
Sehne, nicht der Nerv. Auch die Entwicklungsgeschichte hat
Aristoteles bekanntlich behandelt in seinem Buche negl ^wiov
yevioecog. Das neue Individuum entsteht aus der Vereinigung des
männlichen mit dem weiblichen Samen, welche er sich als eine Art
Gerinnung vorstellt; das Festgewordene organisiert sich.
Mehr anatomische als physiologische Fortschritte haben gebracht
die Alexandriner, vorab Herophilus und E r a s i s t r a t u s. Der
erstere verlegt wieder den Sitz der Seele ins Gehirn und unterscheidet
als erster zwischen Bewegungs- und Empfindungsnerven, ebenso
zwischen Arterien und Venen, deren erstere ein Gemisch von Blut und
Pneuma führen sollen. Er wie auch Erasistratus haben bereits
die später vergessenen und erst von Aselli im sechzehnten Jahr-
hundert neuentdeckten Chylusgefässe gesehen und beschrieben,
Erasistratus auch die Gallengänge in der Leber.
Direkt an diejenige der Alexandriner lehnt sich an die Physio-
logie G a 1 e n s (130 — 201 n. Chr.) ; dieser Meister der antiken Medizin
hat geradezu eine „Physiologie des Menschen** geschrieben, die
17 Bücher negl xQ^iag tCov iv ard^QwTvov atoLiaji {.ioquov, „De usu partium
corporis humani" — beste Uebersetzung u. s. w. in den ,.OeuvTes
anatomiques. physiologiques etc., precedees d'une introduction etc.
letztere leider ungedruckt geblieben) von Ch. Daremberg; Paris
1854—57; siehe auch desselben verdienten Medizinhistorikers Disser-
tation, „Exposition des connaissances de Galien sur l'anatomie, la
Physiologie" etc., These de Paris 1841 — . „Ueber den Nutzen der
Teile" u. s. w. lautet die wörtliche und richtige Uebersetzung dieses
Titels der galenischen Physiologie, womit ihr Standpunkt eben auch
charakterisiert ist, als rein teleologisch-dedu zierend: für jedes
Organ wird erklärt, dass es zweckmässigerweise so und so gebaut sei,
damit es so und so funktioniere, nämlich in einer Art und Weise, die
oft der Tradition einfach nachgebetet ist, oft „aus der Luft gegriffen",
doch manchmal auch aus experimenteller Grundlage geschöpft, indem
Galen Tierversuche, anscheinend ziemlich zahlreich, angestellt
hat, gelegentlich auch sie beschreibt und über dieselben berichtet;
auch mit klinischen Erfahrungen belegt er seine physiologischen An-
schauungen. Es ist über dieselben im ersten Bande dieses Werkes
(S. 396 — 398) genügend ausführlich berichtet worden, unter teilweiser
Angabe der Stellen in „De usu partium"; es mag darum gestattet
sein, hier nur auf diejenigen Punkte nochmals hinzuweisen, welche
für die Weiterentwicklung unserer Wissenschaft massgebend sind.
Wie bei Aristoteles, so ist auch für Galen der Geist, 7tvsv(.ia,
>^piritus, die Triebfeder des Lebens, welche überall im Organismus
vorhanden ist, nur je nach dem Ort oder Sitz verschiedenartige
Kräfte, öwdiuig, virtutes äussert; die höchste Funktion besitzt er im
Gehirn als nvsvj.ia i/zü/r/dv, spiritus animalis; eine niedere im Blute
als nvsCfia tioriy.öv, Spiritus vitalis, die niedrigste in der Leber als
:iveCfia ffiai-AÖv, spiritus naturalis, ebenso wie die Seele zwar als
höchststehende „denkende", ifjvxrj ).oyioti/.r^, anima rationalis, ihren
Sitz im Gehirn, dem Ausgangsort der Bewegung und Empfindung
bat, wogegen die Leidenschaften noch im Herzen und die Begierden
in der Leber ihr Organ haben. Die verschiedenen Spiritusarten oder
-Zustände stehen in inniger Beziehung zu den Vorgängen der Er-
nährung und Blutbewegung. Die erste Verdauung, Tieipig, con-
coctio, erfolgt im Magen, der Speisebrei gelangt aus dem Darm in
330 . Heinrich Boruttaii.
die Pfortader, die ihn der Leber zuführt, hier unter Wirkung- des
Spiritus naturalis die zweite „Verdauung", Umwandlung der Nahrung
in „rohes" Blut, nachdem die Milz ihre Unreinigkeiten aufgenommen
und daraus die schwarze Galle, f-ieXayxioUa der Hippokratiker,
bereitet hat. Das rohe Blut gelangt in das rechte Herz und giebt
durch die Lungenarterie, cpXhip äQTriQul)Ö7]g, vena arteriosa, wie sie
Herophilus nannte, Russ, Xiyyvg, fuligo, an die Lunge zur Aus-
atmung ab (dritte Verdauung); so gereinigt vermischt es sich durch
Vermittlung der damals angenommenen Foramina saepti mit dem im
linken Herzen vorhandenen 7tvev(.ia Cwrr/oV, spiritus vitalis. Ueber das
AVesentliche der Blutbewegung ist nun den Büchern Galens eine
feste Vorstellung schwer zu entnehmen, und er hat sicher nicht den
Kreislauf in unserem Sinne gekannt ; es klingt am wahrscheinlichsten,
dass er sowohl in den Arterien als auch in den Venen des Körpers
einerseits und der Lunge andererseits eine wie Ebbe und Flut hin-
und hergehende Bewegung angenommen habe, — wenigstens thaten
dies mit Gewissheit seine mittelalterlichen Nachfolger und Interpreten.^)
Der Ausdruck dieser rhythmischen Flutwelle ist der Puls, dessen
Qualitäten mit einer Fülle von Unterscheidungen Galen genau be-
schreibt und pathologisch verwertet.
Bessere Anschauungen hat Galen über den Mechanismus
der Atmung, deren Zwecke übrigens auch ihm noch die Abkühlung
des durch das im Herzen residierende ei-ifpvTov Osq^öv erhitzten Blutes
ist, — sowie über die Funktionen der Nerven, die er, wie an-
gedeutet, in motorische, und zwar harte, und sensible, und zwar weiche,
unterscheidet; sie entspringen sämtlich aus dem Gehirn, welches für
ihn nicht die schleimbereitende Drüse der Hippokratiker, des
Aristoteles und wieder späterer dunkler Zeiten ist, — zum Teil
unter leitender Vermittlung des Rückenmarks, an welchem Galen
bereits Durchschneidungsver suche angestellt hat, mit Be-
obachtung der konsekutiven Lähmungen u. s. w.
Dieser Bestand an physiologischem Wissen resp. Glauben hat nun
für viele Jahrhunderte, durch schriftliche, übersetzende, kommentierende,
wie durch mündliche Tradition festgehalten und verschlimmbessert,
vorhalten müssen; denn wenn es auch eine bj^zantinische, arabische
und mittelalterliche Medizin giebt, über Fortschritte auf dem Gebiete
von deren wissenschaftlichen Grundlagen, über eine arabische, mittel-
alterliche u. s. w. Physiologie ist so gut me nichts zu berichten!
IL
Renaissance, 16. und 17. Jahrhundert.
Die Fortschritte der Physiologie im Zeitalter der Renaissance
sind zunächst unbedeutend gegenüber denjenigen, welche ihre Vor-
bedingung bilden mussten, den Fortschritten, oder besser gesagt der
Reformation der Anatomie. Ein Hauptantrieb für die letztere lag,
wie es bei der Entwicklung der altgriechischen Medizin der philo-
sophische Geist gewesen war, jetzt unbedingt in der Entwicklung
^) Danach wäre auch das galenische Kreislauf sschema Richets, reproduziert in
Pageis Einführung, S. 125, zu modifizieren: keine Pfeile in bestimmter Richtung!
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 331
des künstlerischen Geistes, welchen die Prunkliebe der all-
mächtig-en Kirche förderte; die Leistungen eines Eaphael und
Michelangelo sind ohne anatomische Studien undenkbar; der viel-
seitige Lionardo da Vinci (1452 — 1519) bethätigte sich auf ana-
tomischem und physiologischem [er kannte den Farbenunterschied
zwischen dem arteriellen und dem venösen Blut und beobachtete die
Sauerstoffzehrung des Blutes], me auf physikalischem und chemischem
Gebiete graphisch darstellend, beobachtend und philosophierend nach
Grundsätzen, welche Veranlassung gegeben haben, das Zeitalter der
exakten Wissenschaften mit ihm beginnen zu lassen. \) Der grosse
Reformator der Anatomie xlndreas Vesalius selbst, welcher die
Alleinherrschaft der fehlerhaften, der Tier- und nicht Menschenleichen-
zergliederung entlehnten anatomischen Lehrsätze Galens brach, wagte
in seiner Jugend nicht und gelangte wahrscheinlich infolge seines
frühen Todes auch später nicht mehr dazu, an die fehlerhafte galenische
Physiologie Hand anzulegen, wenngleich er seinen Zweifeln an den
Angaben des alten Meisters oft genug und unzweideutig genug Aus-
druck verleiht. Auch den durch anatomische Forschungen ausge-
zeichneten Schülern und Zeitgenossen Vesals hat die Physiologie
viele Fortschritte nicht zu verdanken, weder den Galenikern Eustacchi
und Ingrassia, noch Aranzio, Botallo und dem bedeutendsten
Schüler, späteren Gegner und Verbesserer Vesals, dem ausgezeich-
neten Gabriele Falloppio, der jedenfalls auch ein guter Experi-
mentator war (Versuche am lebenden Menschen, s. die fanatischen,
doch zeitgemässen Bemerkungen Jos. Hyrtls in dessen historischer
Einleitung in seinem Lehrbuch der Anatomie).
Derjenige Abschnitt der Physiologie, in welchem der Mangel an
richtiger Erkenntnis seitens der Alten einschliesslich Galens am ver-
hängnisvollsten wirkte und naturgemäss auch die weiteren Fortschritte
auf dem Gesamtgebiete unserer Wissenschaft hindern musste, war und
blieb die Lehre von der Haupternährungsflüssigkeit des Körpers,
dem Blute, und seiner Bewegung in den Ge fassen. Die
bereits beschriebenen Vorstellungen über diese Dinge, an welchen die
mittelalterliche Medizin blind haften geblieben war, wurden auch
noch von Vesal nachgebetet, doch offenbar widerwillig, indem schon
in der ersten Auflage seiner 7 Bücher „De humani corporis fabrica"
1543, und noch deutlicher in der zweiten, späteren Auflage er seinen
Zweifel in sarkastischen Worten durchleuchten lässt, insbesondere hin-
sichtlich des Durchtritts von Blut aus dem rechten Ventrikel durch
das Saeptum hindurch in den linken Ventrikel. Indessen verging
eine lange Zeit, ehe die Forschung zu einer richtigen Erkenntnis des
Kreislaufs kam. Den Lungenkreislauf beschreibt R e a 1 d o
Colombo (Columbus, 1 1559), Vesals eitler und undankbarer Nach-
folger, zwar richtig, ebenso wie der unglückliche theologische Streiter
und Polyhistor Michael Servetus (1509 — 1553) in seiner „Restitutio
Christianismi" ausdrücklich erklärt, dass das Blut aus dem rechten
Herzen nicht durch Löcher im Saeptum sondern durch die Vena
arteriosa (Lungenarterie), durch die Lunge hindurch und durch die
Arteria venosa (Lungenvene) in das linke Herz gelange, sowie dass die
*) Arthur König-Berlin (t) in seiner öifentlichen Vorlesung über die Ge-
schichte der Entwicklung der exakten Wissenschaften. Vgl. einen neuerdings er-
whienenen Artikel von Bottazzi (Archivio per l'Antropologia, vol. 32, 1902) über
L. da Vinci als Physiolog.
332 , Heinrich Boruttau.
Mischung des Blutes mit den Spiritus vitales in der Lunge erfolge
und daselbst das dunkelrote Blut hellfarbig werde !^) Andreas
Caesalpinus (1519 — 1603), Professor der Medizin und Botanik in
Pisa von 1555—1592, später Leibarzt des Papstes Clemens des
Achten in Rom, hat in seinen Quaestiones peripateticae (1571) eine
grosse Zahl von Gegen gründen und Leitsätzen gegen die galenische
Blutbewegungslehre aufgestellt, so, dass kein Luftaustausch zwischen
Lungen und Herz möglich sei, weil der Rhythmus der Erweiterung
und Verengerung bei beiden Organen unabhängig ist, — dass Herz-
schlag und Arterienpuls isorhythmisch sein müssen und die Semilunar-
klappen den Rücktritt des Blutes aus den Arterien in die Ventrikel
verhindern, — und manches andere; doch scheint er das Wesen des
sog. grossen Kreislaufs, den Uebertritt des Arterienblutes in die Körper-
venen und Rückkehr durchdieselben zum rechten Herzen noch nicht
ausdrücklich erkannt zu haben. Fabricius ab Aquapendente
(1537 — 1619), welcher die angeblich von Cannanus schon 1547 be-
obachteten Venenklappen 1574 in seinem Buche „De venarum ostiolis"
beschrieb, hält sie für dazu bestimmt, den Strom des Bluts in den
Venen abwärts (centrifugal !) zu hemmen und zu verhindern, dass die
Extremitäten auf Kosten der oberen Körperteile zu viel Blut erhalten,
ohne ihre Bedeutung für die Erleichterung des Blutstroms zum Herzen
zurück zu erkennen. Auch in seinem späteren Buche 1599 ,.De
respiratione et eins instrumentis" (wesentlich Atembewegungslehre)
zeigt er sich als reiner Galeniker, ebenso in seinen fleissigen Arbeiten
über Entwicklungsgeschichte. Alle bisherigen Bemühungen können
eben nur als Vorläufer^ der eigentlichen Entdeckung des
Kreislaufes gelten, welche erst dem nächsten, 16. Jahrhundert vor-
behalten blieb.
In der hier betrachteten Zeitperiode steckte die Chemie noch
in den Kinderschuhen, oder genauer gesagt als Alchemie im Banne
des aus dem Mittelalter übernommenen Aberglaubens, welcher aus der
Astronomie die Astrologie machte, im traurigen sozialen Niedergange
auch noch späterer Zeiten (dreissigj ähriger Krieg), insbesondere den
grossen Seuchen gegenüber allen medizinischen und naturwissenschaft-
lichen Fortschritten trotzte und Hexenprozesse, Judenverfolgungen
u. s. w. zeitigte. Mehr als von Aerzten und Professoren wurden
chemische Experimente von Handwerkern, Bergleuten, Quacksalbern
und Mönchen betrieben: Berthold Schwarz, Basilius Valen-
tin us. Dem letzteren verdankt die Chemie, wie seinerzeit dem Araber
Geber (AI Giafr) immerhin ernsthafte Fortschritte: als sein be-
geisterter Anhänger erkannte und betonte in einseitiger Weise der
grosse medizinische Mystiker jener Zeiten, der als excentrischer Sonder-
ling und prahlerischer Schwindler einst vielverschrieene, neuerdings in
seinen wirklichen Verdiensten erkannte und rehabilitierte Paracelsus
(Theophrastus Bombast von Hohenheim, 1490—1541) dieBedeutung
der chemischen Vorgänge für die Lebens- und Krank-
heitsprozesse und insbesondere für die therapeutische Beeinflussung
der letzteren, welche für ihn die Hauptsache war, so dass er wohl
mehr als Vater der jetzt so bezeichneten Pharmakologie, denn
*) Es sei hier hier erinnert an die Bemühungen Henri Tollins [Die Ent-
deckung des Blutkreisl., Jena 1875 u. a. v. a. 0.], Servetus die Priorität der Ent-
deckung des Gesamtkreislaufs zu vindizieren.
Geschichte der Physiologie iu ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 333
als Begründer einer wirklichen phj'siologischen Chemie gelten kann.
Valentin US entlehnt er die Annahme dreier „Elemente" oder besser
gesagt chemischen Körperklassen: „Schwefel" = verbrennliche Köi'per;
„Quecksilber" = flüchtige Körper, und „Salze" = feste Rückstände.
Ein während der Dauer des Lebens dem Organismus innewohnendes
Lebensprinzip („Archaeus") lenkt den normalen Gang der den
Funktionen zu gründe liegenden chemischen Vorgänge. Die übrigen,
gleichfalls der neuplatonischen Mystik ähnelnden Grundlehren des
Paracelsus (Krankheitsursachen, Arcana, Signaturen' gehören nicht
hierher. Mochte nun auch dieser Stürmer und Dränger die galenischen
Lehi-en und mit ihnen das Studium der von alters her und auch noch
heute als wesentlich erkannten Grundlagen der wissenschaftlichen
Medizin verwerfen, der Anatomie und Physiologie eigentlich fernstehen,
so mögen seine Lehren doch zur späteren Inangriffnahme der ernst-
haften Erforschung der chemischen Grundlagen der Lebensprozesse
einen wichtigen Anstoss gegeben haben.
Das siebzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert des Be-
freiungskampfes der germanischen Völker gegen die dogmatische
Tyrannei der katholischen Kirche, ist ein Zeitalter gewaltiger Fort-
schritte auf dem Gebiete der Philosophie, Mathematik, Physik und
Chemie, welche naturgemäss auch auf die gleichzeitige und spätere
Entwicklung der physiologischen Wissenschaft von entscheidendem
Einflüsse sein mussten. Der glänzende Geist eines englischen Juristen,
welcher die Stellung eines Grosskanzlers erreichte, aber wegen Amts-
verfehlungen im Alter abgesetzt wurde — eine Schmach, welche auch
seine wirklichen Verdienste in den Augen der Menge vielfach ver-
dunkeln musste — , die kritische Schärfe ßacos von Verulam
(1560 — 1626) war es, welche ihn, der selbst nicht Arzt von Fach, Natur-
forscher nur aus Liebhaberei war, es mit dürren Worten aussprechen
Hess: Gläubige Herleitung neuer Lehrsätze von alten, kritiklos hin-
genommenen Dogmen führt nimmer zum Fortschritt in der Erkennt-
nis; der Anfang alles Wissens ist der Zweifel, die Grund-
lage der Xaturforschung das Experiment. Er verurteilt
die unfruchtbare Teleologie des Galen wie die Humoralpathologie des
Hippokrates; ausschliesslich von der Beobachtung der Krankheits-
symptome, von der von ihm postulierten Untersuchung der krankhaft
veränderten Organe (der nach über 2 Jahrhunderten erst wahrhaft er-
standenen und Bacos Erwartungen über alles Mass erfüllenden patho-
logischen Anatomie) erwartet er wahrhafte Fortschritte der praktischen
Medizin; er ist, wenn auch nicht als der erste geistige Urheber, so
doch als der erste Beachtung findende glänzende rednerische
Fürsprecher der induktiven Methode mit Recht anzusehen.
Gleich grosse, wenn auch z. T. nur indirekte Bedeutung für die
Entwicklung unserer Wissenschaft gebührt dem Manne, welcher die
Philosophie den Banden der Scholastik entriss, dem Begründer der
analytischen Geometrie, Cartesius (Rene Descartes. 1596 — 1650),
dessen Bedeutung speziell für die Entwicklung der Nervenphysiologie
und Psychologie wir weiter unten noch ausführlicher würdigen werden.
Es genügt, die Namen Kepler, Galilei, Newton und Huyghens;
Torricelli, 0. v. Guericke, Mariotte und Boyle zu nennen,
um die Bedeutung der in Rede stehenden Periode für die Entwicklung
der Physik und Chemie zu kennzeichnen.
Wir haben nun zunächst als Wendepunkt in der Geschichte der
334 Heinrich Boruttau.
Physiologie die sog. Entdeckung des Kreislaufs, d. h. den
Nachweis des Körperkreislaufs und die richtige Darstellung des ge-
samten Blutbewegungssystems durch William Harvey.
William Harvey ist am 2. April 1578 in Folkestone an der Südküste
von England geboren, wurde in Gonville and Caius' College zu Oxford auf-
genommen im Jahre 1593, daselbst M. A. (Magister Artium) im J. 1597,
ging 1598 nach Padua um Medizin zu studieren, vorwiegend bei Fabricius
ab Aquapendente, erhielt daselbst 1602 die Doktorwürde, desgleichen noch
im selben Jahre zu Cambridge; 1604 Hess er sich in London nieder und
wurde ins Royal College of Physicians daselbst aufgenommen (F. ß. C. P.)
und 1609 Arzt des St. Bartholomew's Hospital; 1615 wurde er am Royal
College Professor der Anatomie und Physiologie und begann durch seine
Vorlesungen über die Herz- und Blutbewegung Aufsehen zu erregen ; erst
1628 aber erschien sein berühmtes kleines Buch, die Exercitatio de motu
cordis etc. (s. unten). Er wurde Leibarzt der Könige Jacob I. und Karl I.,
folgte letzterem bei Ausbruch der Revolution 1646 nach Oxford, kehrte
nach Beendigung derselben nach London zurück und blieb, durch den Krieg
verarmt, nur noch wissenschaftlich arbeitend, in der Zurückgezogenheit des
Privatlebens bis zu seinem am 3. Juni 1657 erfolgten Tode.
Harveys physiologisch icichtigste Schrift „Exercitatio miatomica de motu cordis
et sanguinis tn animalibus" erschien zuerst Frankfurt a. M. 1628. Die „Exer-
citationes de generatione animalium" — s. später Harveys Bedeutung für die Ent-
icickbmgsgeschichte — London 1651. Sämtliche Werke Harveys, London 1846, auch
ins Englische übersetzt von R. Willis, nebst Biographie, London 1847. Wegen
biograpliischer Litteratur s. den Anhang.
Harveys klassische Schrift „Exercitatio anatomica de motu cordis
et sanguinis in animalibus" ist mustergültig in Bezug auf die tadel-
lose rein experimentell-physiologische Methodik und anatomische Be-
gründung. Sie versetzt so (Vorwort) der galenischen Blutbewegungs-
lehre, welche auf falscher Tradition und wertloser teleologischer
Deduktion beruhend, durch Jahrhunderte aller besseren Einsicht ge-
trotzt hatte, den Todesstoss durch die scharfe Waffe der InduktioiL
Jahrelange Vivisektionen an allen möglichen Tierarten, Kalt- und
Warmblütern, bei letzteren insbesondere die Betrachtung des beim
Absterben immer seltener und langsamer schlagenden Herzens, die^
gründliche anatomische Untersuchung des Klappenapparats, Injektions-
versuche mit Flüssigkeiten an der Leiche führten ihn zu der in diesem j
klassischen kleinen Buche entwickelten Darstellung der Blutbewegung,'
welche in allen wesentlichen Punkten die heutige ist: die thätige
Phase der Herzbewegung ist nicht, wie viele glaubten, die Diastole,]
sondern die Systole, d. h. die durch Anspannung und Verkürzung der!
Muskelfasern der Herzwand erfolgende Verkleinerung des betreffenden
Hohlraums, welche das Blut aus diesem in der Richtung des sich
öffnenden Klappenapparats austreibt ; die Systole der Atrien geht der-
jenigen der Ventrikel voraus und erfolgt synchronisch einerseits bei
beiden Vorhöfen, andererseits bei beiden Ventrikeln. Die systolische
Wandverdickung und -Verhärtung ist es, welche den fühlbaren Herz-
stoss an der Brustwand erzeugt (allein richtige Darstellung schon
hier, bereits 250 Jahre und mehr vor Chauveau und Marey und
Haycraft und Paterson, s. später!). Der Klappenapparat ist der-
artig angeordnet, dass die zwei- und die dreizipflige Vorhofsklappe dem
Blut aus den Vorhöfen während der Diastole der Ventrikel den Ein-
Geschichte der Physiologie iu ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 335
tritt in diese gestatten — diese also während der Diastole sich an-
füllen — dagegen bei deren Systole den Eücktritt des Blutes in die
Vorhöfe und Venen verhindern; dagegen treiben die sich zusammen-
ziehenden Ventrikel dasselbe in die Aorta und in die Vena arteriosa
(Pulmonalarterie) aus, und die Arterienklappen verhindern den Eück-
tritt des Blutes aus den Arterien in das diastolisch erschlaffte Herz.
Das gesamte Blut des rechten Ventrikels wird dabei in und durch
die Lunge getrieben und gelangt durch die Arteriae venosae (Pulmonal-
venen) in den linken Vorhof; von Durchlässigkeit des Saeptums und
Vermischung des Blutes beider Ventrikel ist keine Kede. Dieser
Vollständigkeit des Blutdurchtrittes durch die Lungen entspricht ein
ebenso vollständiger Durchtritt des Blutes durch das „Parenchym"
der Körperorgane hinüber in die Körpervenen, durch welche dasselbe
in rein centripetalem Strome zum rechten Vorhof fliesst, so dass im
ganzen das Blut „eine Bewegung, wie im Kreise" vollführt.
Wohinaus sollte sonst das Blut, welches das linke Herz, eine Portion
bei jedem Schlage, in die Aorta treibt? fragt mit Eecht Harvey die
Galenisten. — und wenn man jede dieser Portionen, — dasjenige also,
was man heutzutage das Schlagvolumen nennt, — auch noch so klein
annimmt! Und wie sollte all das Blut, welches aus den Hohlvenen
in das rechte Herz fliesst, eben erst frisch aus der Nahrung erzeugt
sein? Der Kreislauf des Blutes dagegen erklärt eine Fülle von Ver-
suchsergebnissen, mit denen die alte Anschauung nichts anzufangen
weiss, — so die Entleerung des Herzens nach Unterbindung der Hohl-
venen, das Anschwellen einer Extremität nach Kompression ihrer
Hauptvenen, und ihr Blutleer- und Blasswerden nach Unterbindung
der Arterien, die Möglichkeit der Verblutung des Körpers aus einer
einzigen grossen Vene; die von ihrem Entdecker, dem Lehrmeister
Harveys, Fabricius ab Aquapendente. unverstandene Be-
deutung der Venenklappen wurde mit einemmale klar: sie unterstützen
die Eückkehr des Blutes zum Herzen I Eine Lücke bleibt freilich vor-
läufig noch in dem Gesamtbilde des Blutkreislaufs bestehen, nämlich
der Mangel an genauer Kenntnis der Uebertrittswege des Blutes aus
den Arterien in die Venen; die Existenz solcher vermochte Harvey
schon durch Injektionsversuche mit Flüssigkeiten zu beweisen, ihre
Gestalt und ihr Wesen zu erkennen, blieb der Anwendung des Mikro-
skops vorbehalten, welche, wie wir sehen werden, erst einige Zeit
später erfolgte.
Wie V e s a 1 als Anatom, so hielt auch H a r v e y als Physiologe sich
an das Sichtbare, ohne sich viel um das Unsichtbare und Hypothetische
zu kümmern; die drei Arten von ..Geistern", die Spiritus naturales,
vitales und animales haben in seiner Kreislaufs lehre keinen
Platz, denn in dem einheitlichen Zirkel kreist ein einheitliches Blut.
Es ist hier nicht der Ort, auf die Angriffe einzugehen, welche Harveys,
des „Circulators" [mit boshaftem Doppelsinn für ..Sch^nndler" ge-
braucht], rein auf die Thatsachen gegründete Lehre von seifen zahl-
reicher, an der Ueberlieferung mit gutem oder schlechtem Gewissen
zäh festhaltender Gegner erfuhr: wie schnell sie sich Bahn brach,
rhellt aus der raschen Folge der Entdeckungen, welche das Ver-
iiiittelungswerkzeug z\dschen dem Blute und den Organen, das
Lymphsystem betreffen, und die ohne das richtige Verständnis der
P>lutbewegung kaum gemacht und sicher nicht verstanden werden
^onnten. 1622 beschrieb der Professor der Anatomie in Pavia.
336 Heinrich Boruttau.
Gasparre Aselli aus Cremona, die von ihm bei Gelegenheit einer
am 28. Juli des betr. Jahres ausgeführte Vivisektion zuerst richtig er-
kannten Chylusgefässe (welche von anderen, darunter Harvey,
wohl schon früher gesehen, aber missdeutet worden waren) in der
Schrift „De lacteis venis, quarto vasorum mesaraicorum genere nove
invento Dissertatio" ; er erkannte das Vorhandensein von Klappen in
ihnen und beschrieb das Lymphdrüsenpacket, durch welches der Chylus
zunächst hin durchtritt, als „Pankreas" [P. Asellii], nahm aber irrtüm-
lich an, dass der weitere Weg des Chylus in die Leber führe; erst
1647 entdeckte Jean Pecquet aus Dieppe [1622 — 1674; später Arzt
daselbst und in Paris] als Student in Montpellier den Ductus Thoracicus,
erkannte dann auch, dass in ihm der in der Cysterna Chjii gesammelte
weisse Saft weiter fliesst und sich in dem Jugulariswinkel ins Venen-
blut ergiesst; genau von ihm beschrieben in den 1651 in Paris er-
schienenen „Experimenta nova anatomica". Dieselbe, anscheinend un-
abhängig von Pecquet gemachte Entdeckung veröffentlichte 1652
der Holländer van Hörn.
Ebensowenig wie um dasjenige, was wir jetzt die Zusammen-
setzung und die chemischen Veränderungen des Bluts nennen, kümmerte
sich Harvey um eine exakte mechanische Untersuchung des
Kreislaufs. Eine solche unternahm aber noch um, die Mitte des
siebzehnten Jahrhunderts ein durch die Vielseitigkeit seiner Leistungen
bewundernswerter Mann, der italienische Mathematiker, Phj^siker und
Physiologe Bor eil i.
Giovanni Alfouso Borelli, gebox'en zu Neapel am 28. Januar 1608,
studierte in E,om unter Benedetto Castello Mathematik, war Professor dieser
Wissenschaft in Messina von 1640 — 1656 (mit kurzer Unterbrechung durch
eine Reise nach Florenz 1642, um Galilei zu besuchen, welcher aber noch
in diesem Jahre starb); wurde 1656 durch Ferdinand von Toscana nach
Pisa berufen, wo er mit Redi und Malpighi zusammenwu'kte und 1657 die
Accademia del Cimento mitbegründete; 1668 kehrte er indessen nach
Messina zurück, von wo er 1674 wegen Verdachts der Teilnahme an einem
Aufstande gegen Spanien nach Rom flüchten musste, war dort als Privat-
gelehrter mit Unterstützung der Königin-Witwe Christine von Schweden
thätig, verlor aber 1677 durch Raub sein geringes Besitztum, zog sich 1677
in die Bruderschaft von San Pantaleone m Rom zurück und starb am
31. Dezember 1679.
Physiologisches Hauptwerk ,.De motu animalium", mit Voricwt des Pater
Carlo Giovanni da Gesii zuerst erschienen Leyden 1681. Wegen biogrophischer
Litteratur s. den Nachtrag.
In seinem physiologischen Hauptwerk „De motu animalium",
welches schon 1662 verfasst war, aber erst nach seinem Tode 1680 — 81
erschien, ist die ganze tierische Bewegungslehre bearbeitet; darunter
befinden sich beachtenswerte Ansätze zu einer Hämodynamik,
in welchem neben manchem Irrtümlichen sich viele wichtige Grund-
sätze ^um erstenmal richtig dargestellt oder wenigstens angedeutet
finden, so vor allem die Bedeutung der Elastizität der
Arterienwand für die Gleichmässigkeit der Blutbe-
wegung; dass seine Schätzungen der Herzarbeit u. s. w. zu
unrichtigen Werten führten, kann für jene Zeit kaum Wunder nehmen.
Die notwendige Ergänzung von Harvey s grossem Werk, sowie
die weiteren Fortschritte auf dem Gebiete der vegetativen Physiologie,
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendimg auf die Mediziu etc. 337
blieben, wie schon erwähnt, der Anwendung eines Werkzeugs vor-
behalten, welches durch die Fortschritte in einem anderen Zweige der
Ph3'sik. nämlich der Optik, seine hierzu nötige Vervollkommnung er-
hielt. Die Erfindung des zusammengesetzten Mikroskops
wird den Holländern Cornelius Drebbel il621i und Gebrüder
Janssen (angeblich schon 1608' zugeschrieben, doch benutzte der
grosse autodidaktische Mikroskopiker L e e u w e n h o e k (Anthony van L.
aus Delft 1632—1723) noch einfache stark vergrössernde Linsen, mit
denen er bekanntlich den Bau der KrjstalUinse erkannte, die Infusorien
entdeckte und selbst Bakterien gesehen und richtig gezeichnet hat.
ßecht unvollkommene Instrumente waren es sicher auch noch, mit
welchen die anderen grossen Mikroskopiker jener Zeit afbeiteten, so
vor allem der Entdecker der Blutkörperchen und der
r'apillaren. Malpighi.
Marcello Malpighi, geboren am 10. März 1628 zu Crevalcore bei
Bologna, studierte daselbst von 1645 ab. wurde 1653 Doktor der Medizin
und Philosophie, 1656 Professor der Medizin, ging als solcher noch im
selben Jahre nach Pisa, 1659 wieder nach Bologna zurück, 1662 nach
Messina, 1666 wieder endgültig nach Bologna zurück. Er ging später als
päpstlicher Leibarzt nach Rom, wo er 1694 gestorben ist.
In seinen ,,De pulmonibus observationes anatomicae" vom Jahre
1661 beschreibt Malpighi die Lungenkapillaren, \ne sie die
von ihm genauer erkannten Lungenbläschen, in welchen die sich ver-
zweigenden Bronchien schliesslich endigen, umgeben, und wie der
Blutstrom durch sie hindurch fliesst aus den Verzweigungen
der von ihm bereits als solche bezeichneten Lungenarterie in die-
jenigen der (desgl.) Lungenvenen. Damit war von der dii'ekten „Ver-
mischung" von „Spiritus vitalis" oder Luft mit dem Blute auch nicht
mehr die Rede. 1668 beobachtete auch Leeuwenhoek den Capillar-
kreislauf, zuerst gleichwie Malpighi am Frosche, dann auch an
anderen Amphibien und an Fischen. William Cooper in London,
F.R.C.P. [1666—1709] wies ihn auch bei der Katze nach. Schon
1665 sah Malpighi in den Mesenterialgefassen die Blut kör per,
hielt sie aber für eingewanderte Fettzellen, wogegen der Amsterdamer
likroskopiker Joh. S wammer dam [1637—1680] sie schon 1658
-iim Frosch sah und richtig beschrieb, welche Entdeckung allerdings
ist 1738 in des Autors „Biblia Xaturae~ durch Boerhaave publiziert
wurde.
Malpighi ist auch der Entdecker der Pflanzenzellen,
welche er in seiner Pflanzenphysiologie gleichzeitig mit Robert
Hooke in London (1665) beschrieb und als „utriculi" bezeichnete.
lalpighis weitere Hauptverdienste um die vegetative Physiologie
-ruhen aber auf seinen Arbeiten über die mikroskopische Anatomie
er drüsigen Organe.
Als Drüsen mit Ausführungsgängen sah man noch zu Vesals
Zeiten an die Nieren, welche den wässerigen Anteil des Blutes ab-
heiden sollten, der als Harn sich im Nierenbecken .sammle und durch
•n Harnleiter weitergeführt werde, — ferner die Leber, welche die
lurch die Pfortader und nach Aselli auch durch die Chylusge fasse
iirekt zugeführte Nahrung einer Art Gärung unterziehen sollte (näheres
ehe weiter unten), wodurch aus ihr das Blut gebildet werden, und
-leich dem Schaum und der Hefe bei der ^^'eingärung zwei Arten
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 22
338 Heinrich Boruttau.
Galle entstehen sollten, die gelbe Galle der Hippokratiker, welche
durch die Gallengänge ausgeschieden wird und in der Gallenblase sich
sammelt, sowie die schwarze Galle der Hippokratiker, welche durch
venöse Verbindungen in die dritte angebliche Drüse mit Ausführungs-
gang, die Milz, übergeführt werden sollte; der Ausführungsgang der
letzteren sollte die von ihr veränderte und unschädlich gemachte
schwarze Galle in den Magen führen, wo sie beim Verdauungsgeschäft
mitwirke, dann den Darm passiere und den Kot färbend ausgestossen
werde. Bereits Vesal spottet über diese allen anatomischen That-
sachen zuwiderlaufende physiologische Phantasterei ; indessen hat auch
er noch nicht die Ausführungsgänge der Bauch- und Mundspeichel-
drüsen gekannt. Als Drüsengebilde fasste man damals übrigens nicht
nur die ebenerwähnten, sowie die jetzt vielfach als Blutgefässdrüsen
bezeichneten, eines Ausführungsgangs thatsächlich entbehrenden Ge-
bilde, Brust- und Schilddrüse, sowie die Lymphdrüsen auf, sondern
auch die graue Hirnsubstanz, ja selbst die Zunge und das Herzfleisch
hielten manche für drüsig. Eine wichtige Vorbedingung der weiteren
Fortschritte auf dem Gebiet der Verdauungs- und Absonderungs-
physiologie bildete die anatomische Entdeckung der Ausführungsgäuge
der Speicheldrüsen: desjenigen der Bauchspeicheldrüse beim Menschen
durch den Bayern Joh. Georg Wirsung [1641; Ductus Wir-
sungianus = pankreaticus ; derjenige des Truthahns kurz vorher durch
Wirsungs Studiengenossen Hof mann entdeckt]; desjenigen der
Unterkieferdrüse durch Thomas Wharton aus Yorkshire [1610—73;
Arzt in London; Hauptwerk ,, Adenographia s. glandularum totius
corporis descriptio'' ; Ductus Whartonianus = submaxillaris] ; desjenigen
der ünterzungendrüse durch den jüngeren Bartholin [Caspar
Bartholin US aus Kopenhagen, Sohn des Anatomen Thoraas Bar-
tholin, 1616 — 1680, Autor grosser Sammelwerke über die Lymph-
gefässe; Ductus Bartholinianus = subungualis] ; endlich desjenigen der
Ohrspeicheldrüse durch den berühmten dänischen Forscher Stensen
[näheres über ihn weiter unten; Ductus Stenonianus = parotideus].
Die Einsicht in die Struktur der Drüsen war bereits gefördert
worden durch die Arbeiten Glissons (Francis Glisson, 1597 —
1677, Professor in Cambridge, später Arzt in London) über die Leber
(„Glisson sehe Kapsel"), deren Zusammensetzung aus Läppchen
(lobuli, nicht acini) er mit genauer Berücksichtigung der Gefäss-
verteilung beschrieb, und als deren Funktion er ansah, die abzu-
sondernde Galle von dem Blute abzuscheiden, durch die Wirkung von
verschiedenen Teilen des Parenchyms, welche zu dem einen, beziehent-
lich anderen Safte grössere Verwandtschaft haben, — sowie die ganz
analogen Verdienste von LorenzoBellini (aus Florenz, 1643 — 1704 ;
Professor der Anatomie in Pisa, später Leibarzt Cosimos III. von
Medici), welcher in seinem Buche De structura renum die geraden
Harnkanälchen zuerst richtig beschrieb und als Schüler Boreliis
eine mechanische Filtration des Harns aus dem Blute in
die Harnkanälchen annahm. Auch Schneiders (1614 — 80 Pro- ,
fessor in Wittenberg; „de catarrhis"; Schneid er sehe Membran) '
Nachweis, dass die Lymphgefässe nicht Drüsensekrete führen, war von
bleibender Bedeutung.
Malpighi beschrieb auf Grund mikroskopischer Beobachtung
die Leber acini, das Miteinanderverlaufen der Portalgefässe und
Gallengänge in der Leber und wies nach, dass die Galle nicht, wie
Geschichte der Physiol(^e in ihrer Amreiidung auf die Medizin etc. 339
manche damals behaupteten, in der Gallenblase gebildet werde. Er
sieht sie als Yerdauungssaft an. ohne sich zu vagen Behauptungen
über ihre Funktion im einzelnen versteigen zu wollen. In der Niere
entdeckte er die ja nach ihm als Malpighische Körperchen be-
zeichneten GlomerulL erkannte ihre Struktur und ihren Zusammen-
hang mit der Nierenarterie und schrieb ihnen eine wahi-scheinlich
giosse Bedeutung für die Hanisekretion zu. Auch die Milz unterwarf
er sorgtaltiger mikroskopischer Untersuchung, erkannte die nach ihm
benannten Körperchen und ihren Zusammenhang mit dem Gefässsystem,
sowie die Trabekeln und ihre Kontraktilität. Man kann ohne Üeber-
treibung sagen, dass Malpighi für die Drüsenphysiologie eine histo-
logische Grundlage schuf, welche, abgesehen von einigen Zusätzen
(Injektionen der Nierengefässe durch Kuysch — Amsterdam, 1638 —
1731 ; Gegner Malpighis — Nierenkanaluntersuchungen Ferreins,
1749 u. a.) bis ins neunzehnte Jahrhundert vorgehalten hat. In Be-
zug auf die Erklärung der Drüsen funktionen konnten die
allgemeineren Anschauungen Vesals wie auch Malpighis, die
spezielleren ,.iatrophysischen" Annahmen der Borellischen Schule,
endlich Whartons eigentümliche Behauptung eines Zusammenhangs
der Nerven mit den Drüsen, welche den ^.Succus nerveus" (s. unten)
reinigen, oder etwas zu ihm hinzuthun sollten, kaum genügen: hier
ebenso wie für die V er d a nun gs Vorgänge, welche die Alten durch
die tierische Wärme für genügend erklärt hielten, war die Berück-
sichtigung der Chemie unerlässlich.
In der Würdigung der Bedeutung dieser Wissenschaft für die
Medizin trat in Paracelsus' Fusstapfen der Brüsseler Johann
Baptist van Helmont [geboren 1577 oder 78, studierte in Löwen
Philosophie, dann Jura und Cameralia. wandte sich dann zur Botanik
und schliesslich zm- Medizin, wui'de 1599 Doktor, praktizierte während
der Pest in Antwerpen 1605. später in Brüssel, starb 1644 in Yilvorde] ;
Paracelsist in Bezug auf die mystische, ..neuplatonische" Auffassung
der Lebensprinzipien, legte er besonderes Gewicht auf chemische
Untersuchungen und schuf den Begriff des „Gas", neben
velchem der mystischere des „Blas" dem Archaeus des Para-
e 1 s u s gleichend, der späteren Lebenskraft zu entsprechen scheint
von ihm als Mehrheit unterschieden — Archaeus insitus, körperliche,
egetative Kraft, und Archaeus influus, göttliches, die somatischen
und psychLschen Prozesse regulierendes Prinzip). Sein ,.Gas" ist
übrigens unsere Kohlensäure, nicht Luft; ausser dieser letzteren nimmt
an Helmont als zweites Element nur noch das Wasser an und
alt das ,.Gas" irrtümlich für eine besondere Form des Wassers: er
ncht nachzuweisen, dass die Pflanzen aus Wasser allein bestehen,
1 er einen Baum in 200 Pfd. trockener Erde durch blosses Be-
f-u mit Wasser von 16 Pfd. auf 169 Pfd. wachsen lässt und zum
" ihluss das Gewicht der getrockneten Erde wieder genau gleich
J'X) Pfd. findet : Dererstequantitative. freilich durch die feflende
Berücksichtigung der Kohle und des Sauei-stofFs [und dabei war die
K'ohlensäure das in anderen Versuchen von Helmont schon so richtig
-ewürdigte ..Gas*"!!] mangelhafte „St off Wechsel versuch". Van
Helmont berücksichtigte natürlich besondere die chemische Seite der
V^-r-iauungsvorgänge: Wie schon andere vor ihm, vergleicht er die-
n mit der weingeistigen Gärung: er verwirft die von den Alten
Kommene dreifache Umwandlung — der Nahning in die spiritus
22*
340 Heinrich Boruttau.
naturales (rohes Blut) durch die Leber, dieser in die Spiritus vitales
(arterielles Blut) durch Lungen und Herz, und dieser endlich in die
Spiritus animales durch das Gehirn; an stelle derselben setzt er sechs
„Verdauungs-" oder Gärungsvorgänge: Der erste findet
im Magen statt (er kennt keine Mund Verdauung) durch ein Fer-
ment unter Beihilfe einer Säure, sowie Mitwirkung der Milz;
der Speisebrei wird im Duodenum durch Alkali neutralisiert und
die zweite Verdauung durch ein Ferment der Galle fortgesetzt (Un-
kenntnis des Pankreas); die dritte Verdauung in den Mesenterial-
gefässen, der Leber und der Hohlvene macht aus der Nahrung Blut
(entspricht also dem, was wir jetzt Assimilation nennen), und zwar
durch die Wirkung zweier von der Leber gelieferter Fermente; die
vierte macht aus dem dunklen Blut das helle, die fünfte verwandelt
es in den Lebensgeist des Archaeus, welcher endlich sechstens alles
lebendige Fleisch bildet und schaö"t. Van Helmont kennt nicht
— oder erkennt nicht an — die Harveysche Kreislaufslehre, ihn
kümmert die anatomische Grundlage der Physiologie, gleich Para-
c eis US, viel zu wenig: viel gründlicher in dieser Richtung ist der
dritte in der Reihe und Hauptbegründer der sog. iatro-
chemischen Schule, Sylvius.
FraiiQois de le Boe oder Dubois, lateinisch Franciscus Sylvius, geboren
1614 in Hanau, studierte in Sedan und Basel, wo er 1637 promovierte,
praktizierte in seiner Vaterstadt und in Amsterdam, wurde 1658 Professor
in Leyden, starb dort 1672.
Physiolog. bedeutende Werke: „Exercitationes medicae de primariis corporis
humani functionibus" , Cöln 1675. „Idea praxeos medicae", 1671. Gesamtwerke
zuerst Amsterdam 1679.
Er suchte die chemischen P>fahrungen seiner Zeit mit den gale-
nischen physiologischen Anschauungen, aber auch mit den anatomischen
Fortschritten, insbesondere der Kreislaufslehre Harveys in Einklang
zu bringen; er identifiziert die Verdauungsvorgänge und
„Fermentationen" vollständig mit ein fachen chemischen
Reaktionen, wie dem Aufbrausen und Gasentweichen beim Auf-
giessen von Säure auf Kalk. Er kennt aber schon den Speichel
als Verdauungssaft, und sein Schüler Regner de Graaf aus
Schoonhaven (1641—1673) entdeckt 1664 den Pankreassaft.
Sylvius unterscheidet eine saure und eine alkalische Fermentation
[ebenso auch pathologische Schärfe (acrimonia) im Blute, doch ist
hier nicht der Ort, auf die pathologischen Anschauungen näher ein-
zugehen]. Vieussens (De natura fermentationis, 1688), Graaf u.a.
diskutieren umständlich die Wirkung der Verdauungssäfte, Magensaft,
Galle und Pankreassaft, auf einander, nach Massgabe dessen, was man
sich damals von dem Wesen der „Gärungen" eben vorstellte: die
saure Natur des Magensaftes, die, wie schon angedeutet,
bereits van Helmont so richtig erkannt und gedeutet hatte, wird
wieder bestritten; im Jahre 1677 beschreibt Johann Conrad
Beyer aus Schaff hausen (1653 — 1712) die nach ihm benannten Drüsen-
haufen des Darmes und entscheidet sich dafür, dass sie sekretorischer
Natur (sog. konglomerierte Drüsen) seien, und nicht lymphatischer
(sog. konglobierte Drüsen, — welche Unterscheidung bereis Sylvius
ganz richtig gemacht hatte); nachdem ferner Johann Conrad
Brunn er aus Dieffenhofen (1653—1727, 1687 als Professor nach
I
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 341
Heidelberg berufen) gezeigt hatte (Experimenta nova circa pancreas,
1682), dass Hunde nahezu vollständige Pankreasexstir-
pation überleben können, wurde die Bedeutung des Pankreas
wieder geleugnet und auf das hypothetische Sekret der Pey er sehen
Haufen und der von Brunn er 1687 beschriebenen nach ihm be-
nannten Drüsen oder ^j^pten. den famosen Darmsaft, übertragen.
Auch bei der Magenverdauung wurde bereits von selten B o r e 1 1 i s selbst
und seiner „iatrophysischen" Nachfolger der mechanischen Zer-
kleinerung der Nahrung ein überwiegender Einfluss zu-
gesprochen. Im ganzen vernünftige Ansichten über die Verdauungs-
physiologie, z. T. auf grund fleissiger eigener Untersuchungen, äussert
Joh. Bohn aus Leipzig (1640 — 1718, daselbst Professor; Exer-
citationes physiologicae 1668 — 1677).
Die Aufnahme chemischer Ueberlegungen in die physiologische
Forschung bildet eine Vorbedingung für das richtige Verständnis der
Atmung. Die wirkliche Bedeutung der Aufnahme von Luft in die
Lungen und "Wiederaustreibung derselben durch die Atembewegungen,
als deren Zweck den Alten die Abkühlung des Herzens, beziehungs-
weise des Blutes erschienen war, kam ebenso langsam zum Verständ-
nis der Aerzte, wie der Mechanismus der Atembewegungen selbst.
Zwar kannten schon Galen wie Vesalius die „künstliche
Atmung". — sei es rhythmische Thoraxkompression, sei es Luft-
einblasung in die Lungen vermittelst Blasebalges zum Zwecke der
Wiederbelebung von Tieren, doch zeigte erst 1667 Robert Hooke
(1635 — 1702, Assistent Boyles, später Experimentalkurator der Royal
Society), dass letztere auch bei eröffneter Brusthöhle, ohne
jede Bewegung der Brustwand wirksam ist. Schon der be-
rühmte latrophysiker Santorio Santoro (1561 — 1636. Professor in
Padua und Venedig, Erfinder eines Pulsüogium und anderer künst-
licher medizin-physikalischer Apparate) hatte erkannt, dass das Ge-
wicht der aufgenommenen Speisen und Getränke grösser
sei als dasjenige der Exkremente zusammen mit der
etwaigen Körpergewichtsdifferenz — erste, wenn auch rohe
und falsche Stoffwechselschätzung beim Menschen und
Tier, vgl. das oben bei van Helmont bemerkte — und für den
Unterschied den später soviel umstrittenen Begriff der Perspiratio
insensibilis aufgestellt: Ausscheidung durch die Haut und die
Lungen; die wirkliche Bedeutung dieses letzteren Organs mochte in-
dessen Santoro, gegen dessen Lebensende erst Harveys Ent-
deckung fällt, ebensowenig richtig einschätzen, wie er von der che-
mischen Grundlage der „Ausdünstung" eine Ahnung haben
konnte. Englischen Forschern des siebzehnten Jahrhunderts
blieb der weitere Einblick vorbehalten: Hooke fand weiterhin, dass
auch gleichmässige Durchlüftung der eventuell durchlöcherten Lunge,
ohne rhythmisches Blasen, das Versuchstier am Leben erhielt, und
Lower [Richard, aus Cornwallis, 1631 — 1690, Arzt in London,
Schüler von Willis, verdient durch ausgezeichnete Forschungen über
das Herz (Tuberculum Loweri) und den Kreislauf] machte auf das
Hellrotwerden des Blutes bei der künstlichen Atmung,
und das Dunkelwerden bei deren Unterbrechung ganz be-
sonders aufmerksam. Ein Zusammenhang zwischen Luft und Blut-
farbe war ja allerdings schon länger bekannt (vgl. das früher über
Lionardo da Vinci Bemerkte), und man stritt sich nunmehr darüber,
342 , Heinrich Borattau.
ob das Blut die ganze Luft aufnehme oder nur einen Anteil derselben,
oder ob es etwas an sie abgebe, oder wie es sonst durch dieselbe ver-
ändert werde. Der Wahrheit in wunderbarer Weise nahe kam der
englische Advokat John Mayow [geb. 1643 in London, 1678 F.R.S.,
gestorben 1679], dessen chemische Experimente (berichtet in seinen
Tractatus quinque physico - medici etc., erschien zuerst Oxford 1669)
ihn zu der Erkenntnis brachten, dass in der Luft ein eigentüm-
licher Bestandteil vorhanden sei, der sich auch im Sal-
peter vorfinde und die rasche Verbrennung des Schiesspulvers
verursache; dieser „spiritus nitro-aereus" (auch ,.igneo-aereus") sei
das „Pabulum ignis^ des grossen Boyle, sein Verbrauch, nicht die
Anwesenheit des Rauches, verursache das Verlöschen eines Lichtes in
einer geschlossenen Flasche, sein Mangel das Ausgehen der Flamme
und den Tod des Sperlings im Rezipienten der Luftpumpe in
Guerickes und Boyles Versuchen; dies beweise die Thatsache,
dass in dem zweiten Falle das Verlöschen viel schneller stattfinde, als
in dem ersteren. Dieser Spiritus nitro-aereus verbindet sich
mit jeder „schwefligen" (in des Basilius Valentinus Sinne, d. h.
verbrennlichen) Materie; weil er im Salpeter enthalten sei, verbrenne
ein Gemisch von diesem mit Schwefel auch im luftleeren Räume.
Durch die Verbindung mit ihm wird Antimon, welches
man mit Hilfe des Brennglases an der Luft verbrennt,
nachweislich schwerer. Er ist es aber auch, welcher bei
der Atmung vom Tierkörper verbraucht wird: Tier und
Licht in demselben geschlossenen Raum verkürzen sich gegenseitig
die Lebens- beziehungsweise Brenndauer durch Verbrauch desselben.
In einer wasserabgesperrten Glocke, in welcher ein Licht brennt oder
ein Tier atmet, steigt das Wasser: der verbrauchte Spiritus nitro-
aereus war die elastische Kraft („elater"), welche die Luft verloren
hat. Seine Verbindung mit den verbrennlichen Teilen des Blutes u. s. w.
erzeugt dessen Wärme und die tierische Bewegung. Man sieht, dass
der Spiritus nitro-aereus von Mayow nichts anderes als unser Sauer-
stoff ist, und dass dieser Forscher das Wesen der Verbrennungs-
und Atmungschemie bereits im modernen Sinne völlig richtig erkannt
hat; doch wurde sein Werk vergessen oder wenigstens falsch ver-
standen, und erst hundert Jahre später gelang es Lavoisier. die-
selben Wahrheiten wiederzufinden und durch exakte wägende und
messende Versuche zum dauernden Besitz der Wissenschaft zu machen.
Während nun, wie wir sehen, die Forscher des siebzehnten Jahr-
hunderts auf dem Gebiete der vegetativen Funktionen ent-
schieden bereits viel erreicht haben, kann ein gleiches auf dem Ge-
biete der Bewegungen und Empfindungen, bei der Schwierig-
keit der Forschung auf demselben möchten wir geradezu sagen von
vornherein nicht erwartet werden. Für die Sinnesphysiologie,
insbesondere diejenige des Gesichtssinnes, waren allerdings die
Arbeiten der grossen Physiker des siebzehnten Jahrhunderts von
eminenter Bedeutung, von denen man geradezu sagen kann, dass sie
die physikalische Grundlage der physiologischen Optik
geschafien haben ; auch wichtige Teile dieser selbst entspringen diesem
Zeitabschnitt. Nachdem schon Porta, der Erfinder der Camera
obscura, das Auge mit dieser verglichen hatte, gab Kepler (1571 —
1630) 1602 einen Grundriss der Dioptrik des Auges, erkannte
auch die Notwendigkeit der Akkomodation (1604), das
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 343
Wesen der Eefraktionsanomalien und die Wirkungsweise
der Brillengläser. Der Jesuitenpater Scheiner (1575 — 1650)
zeigte das verkehrte Bild auf der Netzhaut am tierischen
(1609) und menschlichen Auge (1625 1 und gab den nach ihm be-
nannten Versuch über die Zerstreuungskreise an. Huyghens
demonstrierte alle die genannten Dinge an einem künstlichen
Augenmodell; was desselben grossen Forschers, wie auch Newtons
optische Arbeiten im übrigen für die physiologische Optik be-
deuten, braucht hier nicht noch besonders betont zu werden. Es sei
nur daran erinnert, dass Fr. Ruysch in Amsterdam (1638 — 1731)
die Netzhaut entdeckte, an der sehi- bald Leeuwenhoek — der
ausserdem, wie schon erwähnt, den Bau der Kristalllinse eingehend
untersuchte — trotz seiner primitiven Mikroskope die Stäbchen-
schicht deutlich unterscheiden konnte. Wenn auch die gröber-ana-
tomischen Verhältnisse des Gehörapparates durch die verdientesten
Anatomen jener Zeiten (Eustachius, Scarpa, Folius, Glaser,
Rivinus u. viele andere) schon genau erkundet waren, so konnte
indessen bei dem damaligen Stande des betreffenden Gebietes der
Physik und mangels mikroskopischer Kenntnis des eigentlichen nervösen
Aufnahmeapparats von einer physiologischen Akustik in unserem Sinne
damals noch nicht die Rede sein; noch schlimmer stand es um die
sog. niederen Sinne.
Die Kontraktilität, Zusammenziehung der Muskeln, welche
als Ursache aller tierischen Bewegung von alters durchaus nicht klar
erkannt worden war. wurde als solche erst 1652 von de Marchettis
festgestellt, und" zwar an der peristaltisch sich kontrahierenden Darm-
muskulatur; doch hielt man damals die Sehnen und das zähfaserige,
später als intei-stitielles Bindegewebe erkannte Material für das eigent-
lich kontraktile und das rote Muskelfleisch für zur Ernährung des
ei"Steren bestimmt, ein Irrtum, welchen schon Vesal bekämpft hatte,
mit welchem aber erst Steno endgültig aufräumte.
Niels Stensen (Nicolaus Steno) wurde am 10. Januar 1638 in Kopen-
hagen geboren, studierte in seiner Vaterstadt, in Leyden und Amsterdam,
woselbst er den Ausführungsgang der Parotis entdeckte (s. oben), reiste in
Deutschland, Frankreich und Italien, wurde 1666 in Florenz Leibarzt
Ferdinands II. und Cosimos III. von Medici, liess sich 1677 zum katho-
lischen Priester weihen, ging dann als Professor nach seiner Vaterstadt
zurück, wo er aber nur kurze Zeit wirkte; er lebte dann in Hannover und
Schwerin als Asket bis zu seinem 1686 erfolgten Tode.
Physiolog. Werke: „Observationes anafotnicae" etc., Leyden 1662. „De mits-
"lis et glanduUs observationnm spedmen"'. Kopenhagen 1664. „Discours sur l'ana-
>mie du cerveau'-', abgedr. in Winslou:s Exposition anatomique, Paris 1732. „Ele-
t'intoi-um myologiae specimen^, Kopenh. 1667.
Stensen gab das makroskopische Bild von dem Bau des Muskels,
im wesentlichen wie wir es jetzt besitzen; dasselbe A^nirde ange-
:ionimen von Boreil i, welcher in den entsprechenden Kapiteln seines
.:T0ssen Werkes ,.De motu animalium" ^j den ersten wahrhaft
wissenschaftlichen Versuch einer allgemeinen Muskel-
physiologie gab. Die bewegende Wirkung der Muskeln beruht
nach ihm auf ihrer Verkürzung und Verdickung ; doch nahm er, durch
>) Bd. n, Kap. 1—3.
344 Heinrich Boruttau.
oberflächliche Betrachtung des sich kontrahierenden Herzens („Wand-
verdickung und Verkleinerung der Ventrikel bis zum buchstäblichen
Verstreichen ihrer Höhlung") getäuscht, an, dass das Volumen des
Muskels bei der Kontraktion zunehme. Er bekämpft nun
aber weiterhin die Annahme, dass diese Volumzunahme oder „Auf-
blasung" durch hineintretende Luft oder die aus den Nervenröhren
kommenden Spiritus bewirkt werde ; der Impuls vom Nerven her giebt
nach ihm vielmehr nur die Veranlassung, dass chemische Prozesse
(„Fermentationes") im Muskel entstehen, welche die Ursache der
Volumänderung sind.
Die Volum zun ahme des Muskels bei der Thätigkeit wurde
nun aber widerlegt durch Glisson auf grund eines, in seinem
Buche De Ventriculo beschriebenen volumetrisclien Versuchs mit dem
Arm eines lebenden Menschen, welcher ihm eher Volumverminderung
bei der Kontraktion ergab. Er schrieb als erster, in seinem
1672 erschienenen Buche De natura substantiae energetica, dem
Muskelgewebe „Reizbarkeit", Irritabilitas, zu, freilich
nicht in dem spezifischen später von H a 1 1 e r verteidigten Sinne, viel-
mehr war bereits ihm, als Vorläufer der modernen allgemeinen Physio-
logen, die Reizbarkeit eine allgemeine Eigenschaft jedweder
lebendigen Substanz.
Was im Anschlüsse hieran die spezielle Bewegungslehre
betrifft, so ist ihre Ausbildung nach Massgabe der damals vorhandenen
anatomischen, mathematischen und mechanischen Grundlagen ja gerade
die Lebensaufgabe und das ureigenste Verdienst Borellis gewesen.
Die ausführlichen Darstellungen der Mechanik der Skelettmuskulatur,
der Lokomotionsprinzipien bei Mensch und Tieren in seinem Haupt-
werke De motu animalium können heute noch mit Interesse gelesen
werden ; was an ihnen unrichtig sein niusste, ^) konnte, wie wir sehen
werden, erst dem Scharfsinn der Gebrüder Weber und der graphischen
Technik der letzten Jahrzehute weichen.
Die Wirkungsweise der peripherischen Nerven stellt
sich das siebzehnte Jahrhundert meist nicht mehr in der grobsinn-
lichen Weise der Alten als mechanische, wie diejenige von Klingelzügen
vor, sondern sie sind Röhren, in welchen, sei es die Spiritus animales,
sei es ein besonders gearteter Saft, Succus nerveus, Succus spirituosus
fliesst oder wenigstens sich bewegt : denn auch der anatomischen That-
sache, dass eine wirkliche röhrenartige Aushöhlung der Nerven eben
doch nicht zu konstatieren ist, trägt z. B. Borelli Rechnung durch
Annahme einer schwammigen Struktur (analog z. B, dem Hollunder-
mark), welche mit dem Nervensaft durchtränkt sei, der an dem Orte
der Erregung in eine schwingungs- oder stossartig sich fortpflanzende
Bewegung versetzt werde, so dass an dem Erfolgsorte nur einige
Tropfen des „Spiritus" aus der Nervenröhre austreten, welche (durch
chemische Einwirkung gedacht) die Muskelkontraktion in Gang setzen.
Eine derartige Einrichtung vermochte ja auch in genügender Weise
die normalerweise doppelsinnige Leitung zu erklären, welche man
den heute als gemischt erkannten Nerven damals zuschrieb, als von
einer anatomischen Trennung beider Faserarten in ihnen und Ver-
^) So versetzt Borelli die den Körper horizontal vorwärts stemmende Wirkung
der Extensoren beim Gehen ganz in die Zeit, in welcher beide Füsse den Boden be-
rühren ! !
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 345
folgung- ihrer Bahnen in die Centralorgane nicht die Rede sein konnte.^)
Wir gelangen hiermit zu der Geschichte der Physiologie des
Centraine rvensystems in dem in Rede stehenden Jahr-
hundert, mit deren Besprechung diejenige der psychologischen
und allgemein-physiologischen Anschauungen notwendig
verbunden ist.
Nachdem, wie seinerzeit Galen, bereits Vesal über die Funk-
tionen des Centralnervensystems recht vernünftige und uns modern
erscheinende Ansichten geäussert hatte, unter Bewahrung grösster
Reserve hinsichtlich des Zusammenhangs der psychischen Erschei-
nungen mit der Hirnthätigkeit, erscheinen uns die Aeusserungen
Descartes' und van H e 1 m o n t s als verwunderliche, phantastische
Spekulationen. Das Altertum liess aus dem Pneuma oder dem im
linken Herzen mit den Spiritus vitales gesättigten arteriellen Blute,
welches durch die Carotiden zum Kopfe aufsteigt, im Gehirn die
Spiritus animales sich bilden; das Wie? liess Vesal offen; Mal-
pighis unglücklicher histologischer IiTtum, welcher einen drüsigen
Bau des Gehirns nachgewiesen zu haben glaubte, liess das Gehirn
als Drüse [wie den pathologischen Schleim, der durch das Siebbein
als Schnupfen — rheuma ex cerebro, Fluss vom Gehirn — in die
Nase filtrieren sollte, nach dem erst von Schneider beseitigten (s. o.)
hartnäckigen Aberglauben] die Spiritus animales sezernieren;
sie sammeln sich in den Hirnventrikeln und fliessen von hier aus in
die Nerven ! Descartes, welcher von allen diesen Dingen in seinem
Buche „De homine*' eine eingehende, leider eben rein spekulative,
ad hoc ersonnene und jeder anatomischen Grundlage bare Beschreibung
giebt vergleicht das Nervensystem dabei mit einer Wasserkunst mit
Reservoiren und Röhren, deren Spiel von einem centralen Punkte aus
reguliert werden kann; diese Centralstelle verlegt er in die
Zirbeldrüse (Glandula pinealis), welche für ihn der Sitz der
„vernünftigen Seele", anima rationalis, ärae raisonnable, ist,
welche lediglich beim Menschen vorhanden und gött-
lichen Ursprungs, die vollkommene Maschine beherrscht, die im
übrigen der menschliche Körper ebenso gut darstellt, ^vie jeder
tierische, nur dass die Tiere die „vernünftige Seele" eben nicht be-
sitzen. Hierin ist Descartes eben durchaus Dualist, während sein
philosophisches Grundprinzip, dass jede Erklärung von der Erfahrung
unserer Sinne auszugehen hat (cogito, ergo sum) sich in der Erkennt-
nis seiner Richtigkeit von selten der grössten Denker der Neuzeit —
Kant, Schopenhauer, Mach — seine Bedeutung als Grundlage
des modernen „Monismus" erkämpft hat. -) Indem er aber die „Seele"
als Voraussetzung aller „willkürlichen", „bedachten" Handlung dem
Tiere absprach, dessen Centralnervensystem doch auch seine, nach
Descartes „willenlosen", rein maschinenmässigen Handlungen ver-
mittelt, gelangte er zu einer exakten Definition solcher auch beim
*) Speziell Bor eil i unterscheidet von dem der Leitung dienenden Succus
spirituosus einen ernährenden „Succus nerveus nntritivus", welcher in wirklichen
kapillaren Röhren im Innern der Nerven nach den von diesen versorgten Organen
fliesst und für deren Erhaltung ein wesentliches heiträgt (die his heutzutage so eifrig
diskutierte „trophische Nervenwirkung").
*) Verworn (Allg. Physiologie, 3. Aufl., Einleitung S. 15) sieht sich fast zu
der Annahme verführt, dass hereits Descartes im Herzen Monist gewesen sei und
sein Dualismus, resp. die Vindizierung der besonderen unsterblichen Seele für den
Menschen, nur eine Konzession an die damals allmächtige Kirche.
346 Heinrich Boruttaii.
Menschen ohne Eingreifen des Willens — der „vernünftigen Seele" —
stattfindenden Vorgänge, die wir noch heute mit ihm als Reflex-
aktionen bezeichnen, mit einem Bilde, welches ausdrücken soll, dass
der Nervenimpuls, der vom Sinnesorgan dem Centralnervensystem
zugeleitet wurde, wie ein vom Spiegel zurückgeworfener Lichtstrahl,
d. h. nach einem feststehenden Gesetze zur Peripherie zurückkehre
und daselbst das Erfolgsorgan in Thätigkeit versetze. Dass hin- und
rückwärts stets getrennte Bahnen benutzt werden, diese Erkenntnis
blieb, wie wir sehen werden, einer weit späteren Zeit erspart; das
Beispiel indessen, an welchem bereits Descartes den Reflex exempli-
fiziert, nämlich der reflektorische Lidschlag auf Lichteinfall ins Auge,
bietet den Vorteil, in den betreff'enden Hirnnerven direkt makro-
skopisch getrennte Bahnen zu demonstrieren. Aber auch die phan-
tastische Lokalisierung der Seele in der Zirbeldrüse ist nicht ohne
bedeutungsvolle Folgen geblieben: indem man sich später bemühte,
einen „passenderen" Sitz der Seele zu suchen, ward hieraus die Frage
nach dem „lebenswichtigen Teile" des Centralnerven-
system s , in ihrem Gegensatze zu einer „Lokalisation" der psychischen
Funktionen, welche zunächst versucht wurde, und zwar von dem zu
seiner Zeit angesehensten Neurologen (wenn man ihn schon so nennen
darf) des siebzehnten Jahrhunderts, nämlich von Willis.
Thomas Willis aus Great Bedwyn, geb. den 27. Jan. 1621, studierte
in Oxford, wurde 1642 Magister Artiura, beschäftigte sich von 1846 ab mit
Medizin, wurde nach der Wiederherstellung des Königreichs Sedleian Pro-
fessor und Mitbegründer der Royal Society, ging 1666 nach London, wo er
am 11. Nov. 1675 starb. Sein zu seinen Lebzeiten weitverbreiteter und
vielbeneideter Ruhm beruhte anscheinend mehr auf geschickter Benutzung
fremder litterarischer und experimenteller Arbeit (so seines Schülers Lower)
als auf wirklich bedeutenden eigenen Leistungen.
Physiolog. toichUge Werke: ..Diatribae duae, I de fermentatione. II de
febribus^ etc., zuerst Haag 1659. „Cerebri anatome, aii accessit nervorum descriptio
et usus", Lond. 1664. „Affectiomim hysteric. etc. pathologia spasmodica vindicata;
acc. exerc. medico-physicae duae de sanguinis accensione et de motu musculari'^,
Lond. 1670. „De anima brutarum exercitationes duae^, Oxford 1672. Gesamt-
werke zuerst Genf und Lyon 1676.
Willis verdankt die Anatomie des Centralnervensj'Stems ent-
schieden wertvolle Ergebnisse (sein Name erhalten im Circulus
arteriosus Willisii und im Nervus recurrens Willisii); für die Physio-
logie desselben kann er als Vater des Lokalisations-
gedankens bezeichnet werden, d.h. er machte den ersten Versuch,
die Hirnfunktionen zu trennen und in verschiedene Hirnteile zu
verlegen, — nämlich die Sinneswahrnehmung in die Corpora striata,
die Vorstellung in den Balken, das Gedächtnis in die Windungen der
Grosshirnhemisphären ; dieser Lokalisation der Geistesthätigkeit gegen-
über suchte er den Sitz des tierischen Instinkts in den Thalami optici
und Corpora quadrigemina und die Beherrschung der lebenswichtigen
Funktionen (Herz, Atmung, Darmbewegung) im Kleinhirn ! Abgesehen
von der letztgenannten Annahme, zu welcher die bereits bekannt ge-
wordene Tötlichkeit der Durchschneidung der Vagi, deren Ursprung
Willis ins Kleinhirn verlegte, auch pathologische Befunde und rohe
Tierversuche einigermassen zu berechtigen schienen, in welchen zu-
sammen mit dem Kleinhirn auch das verlängerte Mark verletzt
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 347
wurde, — waren Willis' Annahmen auf reine Spekulation gegründet,
so dass es kaum Wunder nimmt, wenn ihr bald andere nicht minder
seltsame Behauptungen gegenübergestellt wurden: Vieussens [Raj—
mond, aus Montpellier, 1641 — 1717, verdient um die Herzanatomie
und Pathologie: Traite des causes des mouvements du coeur; „Ansa
Vieusseni", „Isthmus Yieusseni"] verlegt den Sitz der Seele in
die weisse Substanz der Hemisphären — „Centrum
s emiovale Vieusseni", offenbar auf grund von Sektionsbefunden
bei Apoplexie, wie sie auch von Johann Jakob Wepfer [aus
Schaffhausen, 1620 — 1695], von Willis und eudlich von Lancisi be-
obachtet und in Spezialwerken beschrieben wurden; der letztgenannte
(Giovanni- Maria Lancisi aus Eom, 1654 — 1720, päpstlicher
Leibarzt) sucht den Sitz der Seele [Buch „De sede cogitantis
animae", 1718] im Balken und weist der von Descartes bevor-
zugten Zirbeldrüse eine untergeordnete Stelle zu. Diese Lancisi sehe
Hypothese glaubte der französische Chirurg La Peyronie [1648 —
1747] durch chirurgisch-pathologische Erfahrungen stützen zu können ;
erst die experimentellen Bemühungen des achtzehnten Jahrhunderts
machten all dem Schwindel ein Ende, welcher zuvor seine Höhe er-
reichte in der aus missverstandenen Beobachtungen über die sog.
Pulsation des Gehirns abgeleiteten TheoriePacchionis [Antonio
P., 1665 — 1726. Schüler Malpighis; „De durae matris fabrica et
usu", Rom 1701], dass die Dura aktiv sich bewege und den
Nervensaft im Kreislauf erhalte, so wie das Herz auf das
Blut wirke! Dieser Theorie hatte sich angeschlossen der berühmte
latrophysiker Giorgio Baglivi [aus Ragusa, 1668 — 1 707 ; studierte
in Neapel, von 1696 an Professor in Rom], ein Mann, welcher theoretisch
alle Lebensvorgänge physikalisch deutete oder wenigstens allegorisierte,
alle normalen Bewegungen wie auch pathologischen Vorgänge von dem
Nervensystem abhängen Hess („Nervosismus"), im praktischen ärzt-
lichen Handeln dagegen sich um Theorie überhaupt nicht kümmerte,
sondern rein empirisch verfuhr.
Die Zeugungs lehre und Entwicklungsgeschichte hat
mit den übrigen Fortschritten der Anatomie und Phj'siologie im sieb-
zehnten Jahrhundert durchaus Schritt gehalten. Die alte aristotelische
Anschauung, wonach das Säugetierindividuum sich aus der Vereinigung
des männlichen und des weiblichen „Samens" entwickelt, definitiv
widerlegt zu haben, ist Harveys Verdienst, welcher in seinen, dem
Kreislaufsbuch ebenbürtigen „Exercitationes de generatione Animalium"
iLondon 1651) die Urzeugungslehre bekämpft und feststellt, dass
alle Geschöpfe aus Eiern hervorgehen, „omne vivum ex ovo"! Diese
Eier glaubte bei den Säugetieren zu erkennen Regnier de Graaf
s. oben) in den von ihm entdeckten und jetzt nach ihm benannten
Eierstocksfollikeln. Malpighi beschrieb 1687 (s. oben) in vorzüg-
licher Weise die Entwicklung des Hühnchens, S wammer dam die
Furchung des Froscheies. Dieser, sowie Francesco Redi (aus
Arezzo, 1626 — 1694) bestätigten Harveys Lehre an vielen Beispielen
aus der niederen und höheren Tierwelt. Der Student J o h. Harn aus
Arnheim entdeckte 1677, unter Leeuwenhoeks Leitung arbeitend,
die Spermatozoen, welche in der Folge zunächst als „Samentierchen",
Animalcula seminis, angesprochen wurden. Den Streit, ob aus ihnen
oder aus den Eiern das neue Individuum hervorgehe („Animalculisteu
und Ovisten") entschied Antonio Vallisneri (1662—1730, Pro-
348 - Heinrich Bornttau.
fessor in Padua) in seiner Storia della generazione etc. experimentell
durch Darstellung der Bedeutung des Eies in der Entwicklung.
Anhang:
Kurzer bibliographischer Uini/reig betreffend die Physiologie des
16. und 17. Jahrhunderts.
Varigny, JT, de, La philosophie biologique aux 17 et 18 silcles. Revue scienti-
fique, T. 48; 1888.
Foüter, M., Lectures on the history ofphysiology in the 16"^, 17^^ and 18"* centnries.
Cambridge 1901.
Pinto, G., i fisiologi Olandesi nel 17^» e 18"^o secolo. Boll. delVAccad. med. di
Roma, vol. 19; 1893.
Derselbe, Alfonso Borrelli e la medicina iatromeccanica in Italia nel secolo 17^**o.
Ebenda, vol. 7; 1881.
St.-Gerinain, B. de, Descartes comme physiologiste et comme medecin, Paris 1869.
Baas, Jos. H., William Harvey u. s. iv., Stuttgart 1878.
Paget, J., Zum Andenken an Marcello Malpighi. Deutsche medizinische Wochen'
Schrift, .Jahrg. 1894.
Im übrigen wird durchaus auf die am Eingang dieses Abschnitts genannte
hio- und bibliographische Litteratur verwiesen.
III.
Das achtzehnte Jahrhundert und seine Wende.
In einer verhältnismässig kurzen Spanne Zeit, kaum anderthalb
Jahrhunderten hatten die Natur- und medizinischen Wissenschaften
einerseits eine so vielseitige und detaillierte Bereicherung erfahren,
dass das Bedürfnis nach einer ruhigeren Periode sich geltend machte,
in welcher die erworbenen Schätze festgehalten und systematisch ge-
ordnet werden konnten, und andererseits war der Erfolg der An-
wendung der neu erstandenen Physik und Chemie auf Physiologie und
Pathologie ein so berauschender gewesen, dass mancher sich vermass,
mit rohen und unentwickelten Vorstellungen alles erklären zu können
— die extremen Auswüchse der iatrophysischen und iatrochemischen
Richtungen — und auf so vermessenes Unternehmen schwere Ent-
täuschung und mit ihr die Reaktion, der Rückschlag in eine mehr
weniger extreme Mystik erfolgen musste. Hierher gehört die „Mona-
dologie" Gottfried Wilhelm Leibniz', des gi'ossen deutschen
Philosophen, welcher im übrigen durch seinen Idealismus, seine mathe-
matischen Leistungen (Erfindung der Infinitesimalrechnung) und sein
Interesse für alle naturwissenschaftlichen und medizinischen Arbeiten,
seinen regen Verkehr mit den seinerzeit grössten Vertretern dieser
Gebiete, mittelbar auch für unsere Wissenschaft fruchtbringend ge-
wirkt hat. Hierher gehört aber vor allem das System Stahls, des
Chemikers und Arztes, welcher den drei grossen „Systematikern" der
Medizin zugerechnet wird: Friedrich Hoff mann [aus Halle, 1660 —
1742, daselbst Professor von 1694 ab mit kurzer Unterbrechung bis
an sein Lebensende], Stahl und H e r m a n n B o e r h a a v e [1668—1738,
dauernd in Leyden, daselbst Professor seit 1713].
Georg Ernst Stahl, geboren 1660 zu Ansbach, studierte in Jena, war
Hofarzt in Weimar, wurde gleichzeitig mit HofFmann 1694 Professor in
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 349
Halle, entzweite sich später mit jenem und ging 1716 als preussischer Leib-
arzt nach Berlin, wo er 1734 starb.
Haupticerli : Tlieoria medica vera etc., Halle 1707. Phlogisfontheorie in:
.Zymotechnica fundamentalis s. fermentatioiiis theoria generalis etc.', ebenda 1697.
Stahl nahm an, dass alle, auch die scheinbar einfachsten
phj'sikalischen und chemischen Vorgänge in dem be-
lebten Wesen grundsätzlich andere seien, als in der
leblosen Welt, indem sie von einer „empfindenden Seele",
anima sensitiva, geleitet werden („Animismus"), welche,
gi'undverschieden von der „vernünftigen Seele" des Cartesius, die
eben den Menschen vor dem Tiere auszeichnen sollte, an Hippo-
krates" (pvoiz und Paracelsus' und van Helmonts Archaeus
erinnert ; sie ist überall in allem Lebendigen vorhanden und schändet
daraus mit dem Tode ; sie ist der Vorläufer der späteren „Lebenkraft" ;
Stahl ist nach den Ausschreitungen der latrophysiker und -Chemiker,
der erste „Vitalist". Diese Stellungnahme, welche zunächst, in Reaktion
gegen den herrschenden Materialismus, jede nicht transscendente
Funktionserklärung verwirft, wui'de indessen gerade für die Weiter-
entwicklung der Xervenphysiologie zum befruchtenden Ferment, indem
ihre späteren gemässigteren Anhänger den Bestrebungen, die Seele
oder das Lebensprinzip an einem Punkte des Centralnervensystems zu
lokalisieren, eifrigst entgegentreten und Tierversuche veranlassten,
welche, wie wir sehen werden, für die Entwicklung der Eückenmarks-
physiologie und Eeflexlehre von weittragender Bedeutung waren.
Wenn man Optimist sein will, mag man wohl etwas Aehnliches sagen
von der anderen, gegen früher schon dagewesenes (Mayowi rein
reaktionären Lehre Stahls auf dem Gebiete der Chemie: es
ist dies eine ihm anscheinend von seinem Jenenser Lehrer Johann
Joachim Beccher, dessen Physica subterranea er selbst 1703 mit
Zusätzen herausgab, überkommene Theorie der Verbrennung,
welche besagt, dass alle verbrennlichen Körper einen besonderen
„Feuerstoff", das „Phlogiston" enthalten und ihn bei der Ver-
brennung abgeben, somit leichter werden und nicht schwerer, wie
loch schon Mayow nachgewiesen hatte u. s. w. Es bedurfte über
tines halben Jahrhunderts, bis die Wissenschaft von dieser, alle that-
sächlichen Verhältnisse auf den Kopf stellenden Irrlehre glücklich
befreit wurde.
Des diitten grossen „Systematikers", des liebenswürdigen und er-
folgreichen Praktikers und begeisterten und gelehrten Medizinhistorikers
Hermann Boerhaave würdiger Schüler ist der bedeutendste Ver-
treter unserer Wissenschaft im 18. Jahrhundert, der gemeiniglich mit
Recht als Schöpfer der modernen Experimentalphysiologie angesehene
..grosse" Hall er.
Albrecht von Haller wurde geboren am 18. Oktober 1708 in Bern
als vierter Sohn eines dortigen Rechtsanwalts ; er soll bereits als Kind sehr
begabt gewesen, Beobachtungs-, Sprach- und dichterisches Talent gezeigt
und vor allem grossen Sammeleifer bewiesen haben. Er verlor mit 13 Jahren
seinen Vater, lernte mit fünfzehn bei einem Arzte in Biel, bezog 1723 die
Universität Tübingen, 1725 Leyden, wo er sich an Boerhaave und den
jüngeren Albinus (Anatomen) anschloss, auch den 90 jährigen Ruysch be-
suchte. Er promovierte 1727 auf Grund einer Dissertation gegen Coschwitz,
Professor in Halle, welcher einen neuen Speichelgang entdeckt zu haben
350 Heinrich Boruttau.
fälschlich glaubte. Dann reiste er nach England und Paris, trieb 1728 und
29 in Basel bei Bemouilli Mathematik und vertrat auch den erkranktou
Anatomen Mieg. 1730 nach Bern zurückgekehrt, praktizierte er und trieb
Privatstudien, bis er 1736 durch Georg II. von England, Kurfürsten von
Hannover und Braunschweig, an die neugegründete Universität Göltingeu
als Professor der Anatomie, Botanik, prakt. Medizin und Chirurgie berufen
wurde. Hier begründete er Anatomie, botan, Garten, Entbindungsanstalt u. a.,
beteiligte sich wesentlich an der Gründung der Gesellschaft der Wissen-
schaften, deren Vorsitzender Sekretär er bis an sein Lebensende blieb und
deren „Commentarii" er herausgab. Er lehnte mehrere Berufungen, u. a.
durch Friedrich den Grossen nach Berlin ab, kehrte aber 1753 nach Bern
zurück, teils aus Kränklichkeit, teils aus Heimweh und Ehrgeiz nach Amts-
stellungen in seinem Vaterlande, deren er mehrere bekleidete (Ammann,
Salzwerksdirektor in Roche, Mitglied des grossen Rats u. s. w.). Er starb
am 12. Dezember 1777 in seiner Vaterstadt. Haller war dreimal verheiratet.
Es ist hier nicht der Ort seine Bedeutung als Botaniker, als Volkswirt-
schaftler, endlich als Dichter und Roman- und Reiseschriftsteller näher ein-
zugehen ; doch sei auf seine ausserordentliche Vielseitigkeit, bei der natürlich
manches, insbesondere seine praktisch medizinische und chirurgische Wirk-
samkeit immer mehr zurücktreten musste, noch ganz besonders hingewiesen.
Physiologische Sammehverke A. v. Hallers:
1. Commentarii ad H. Bocrhaave praelectiones acaclemicas et snas rei mcdicae
instittitiones. 4 Bände. Erste Aufl., Gott. 1739 — 1744.
2. Icones anatomicae (Anatom. Atlas in 7 Heften), Gott. 1745 — 1754.
3. Primae lineae Physiologiae (Grundriss der Physiologie), 1. Aufl., Gott. 1747,
oft aufgelegt und in 4 Sprachen übersetzt.
4. Elementa Physiologiae Corporis humani. 8 Bände, Lausanne und Bern
1759—1766.
5. De partium corporis humani fäbrica et functionibus. Unvollendete NcAi-
hearbeitung des vorigen. 6 Bände erschienen, Bern 1777 — 78.
Berühmteste Monographien:
1. De respiratione experimenta anatomica, Pars I und II, Glitt. 1746 u. 1747.'
Auch Französisch. i
2 De motu sanguinis per cor, Gott. 17.^ \ ^^-^^^ ^^^j^ p
3. De motu sanguinis corollaria, Gott. 1754 /
4. De partibus corporis humani sentientibus et irritabilibus. Commenta
Gott. 1753. In 5 Sprachen übersetzt; franz. auch erweiterte Ausgabe mit Versucht
j/rotokollen. Zusätze. Comm., Gott. 1773 u. 1774.
5. De formatione pulli in ovo, Gott. 1757, 1758. Auch Französ.
Sonstige physiol. etwa ivichtige Schriften sind im Text citiert.
H a 1 1 e r ist der grösste medizinische Polyhistor, den es je gegeben
hat und speziell epochemachend durch seine sachlich und litterariscU
erschöpfenden anatomischen und physiologischen Sammelwerke, welche
weiteres Zurückgehen auf die litterarischen Quellen früherer Zeit teils
aufs äusserste erleichtern, teils ganz überflüssig machen. Bei ihm ist
die Physiologie mit der Anatomie noch untrennbar ver-
bunden, die Physiologie ist ihm Anatomia animata, er will von ihrer
Lostrennung nichts wissen (Vorrede zu den Elementa Physiologiae).
und doch ist er der erste gewesen, der sie gewissermassen selb-
ständig gemacht hat durch die ganz besondere Betonung (ebenda)
der Bedeutung des Experiments am lebenden Tier, deren
er zahllose angestellt hat. Darum haben auch seine Elementa Physio-
logiae, das erste, klassische grosse Handbuch unserei' Wissenschaft.
Geschichte der Physiologie in ihrer Auw-eudung aiif die Medizin etc. 351
einen durchaus ..modenien" Charakter, und man findet in ihm alles
auf Grund der anatomischen Untersuchung (auch Histologie, doch war
Mikroskopieren mit stärkeren Vergrösserungen H a 1 1 e r ziemlich fremd),
einfachen Beobachtung und Vivisektion mit Anwendung der damals
vorhandenen Reizmittel u. s. w. Erreichbare in auch heute noch voll-
gültigen "Worten beschrieben, litterarisch belegt und kritisch be-
sprochen. Was bei dem damaligen Stande der Chemie, der Physik
und insbesondere physikalischen Technik (elektrische, optische u. s. w.
Hilfsmittel i nicht besser erkannt werden konnte, ist natürlich unrichtig
oder mangelhaft.
Die Hämodynamik, deren Anfänge wir bei H a r v e y , Bellini
und Borelli gefunden haben, erfuhr eine wesentliche Förderung
durch die Versuche des englischen Geistlichen Stephen Haies
[geb. 1677 zu Bekesbourne in Kent, gest. 1761 in Teddiugton], welcher
auch durch pflanzenphysiologische Arbeiten und hygienische Vorschläge
sich verdient gemacht hat; seine Haemastatics [erschienen 1732 als
zweiter Band der Statical Essays] enthalten die Ergebnisse seines
klassischen Unternehmens, den hydrostatischen Druck des
Blutes durch Einbinden eines gläsernen Steigrohrs in
die Arterie des lebenden Tieres zu bestimmen. Haller
führt in seinen Elementa diese Ergebnisse nicht bei der Besprechung
des arteriellen Seitendrucks, sondern als „Bestimmung der Herzkraft" ^i
an und scheint auch sonst Haies nicht genügend zu würdigen. Er
selbst bespricht ausführlich die Bestimmung der Kreislaufszeit. ') kennt
den Einfluss der Schwerkraft und der Atembewegungen auf den Blut-
strom in den Venen, '•^) widerlegt die behauptete Selbststeuerung des
Coronarkreislaufs [welche Kontroverse sich im 19. Jahrhundert trotz-
dem wiederholte, Hyrtl contra Brücke], stellt die Automatie des
Herzens fest, wovon weiter unten noch die Rede sein wird. Bei der
Besprechung des Herzstosses betont er, anders als H a r v e y ( s. früher)
die Formveränderung des Herzens.
Hai 1er gebührt das Verdienst, die Mechanik der Atem-
bewegungen richtig erkannt zu haben. Einen für ihn höchst
verdriesslichen Streit mit dem Jenaer latromathematiker G. E. H a m -
berger [1697 — 1755], welcher angeblich ursprünglich nach Göttingen
hatte berufen werden sollen und deshalb gegen H a 1 1 e r doppelt miss-
günstig war, entschied er dahin, dass nicht, wie Hamberger und
viele Aelteren fest und steif behaupteten, in dem Pleuraraum zwischen
Lunge und Brustwand Luft enthalten sei und die atmende Lunge sich
selbständig kontrahiere, dass vielmehr der Pleuraraum nur eine
kapillare Spalte sei, die Lunge mit ihrem visceralen Pleuraüberzug
überall der costalen Pleura dicht anliege: es gelang ihm nämlich
dieses letztere unmittelbar vor Augen zu bringen, indem er am lebenden
Tiere die Pleura costalis, ohne sie im geringsten zu verletzen, von
den darüberliegenden Weichteilen so vollständig befreite, dass die
Lunge durchschimmerte;'') er zeigt, dass die Lunge, weil elastisch,
bei der Einatmung sich passiv erweitert, indem sie dem Zuge des
Thorax und Zwerchfells folgt. Diesen letzteren wichtigen Muskel
') Vol. III, S. 453.
*) Vol. II. S. 345.
») ebenda. S. 332, 340.
*) Vol. I. S. 393.
*j De respiratione experimenta anatomica.
352 Heinrich Boruttau.
hat er in seinem anatomischen Baue sehr genau beschrieben, \) ebenso
dürfte er in dem zweiten Streitpunkte gegenüber Ham berger im
Rechte damit geblieben sein, dass alle Intercostalmuskeln inspiratorisch
wirksam sind (wenn überhaupt!). Auch die Physiologie der
Stimme und Sprache, um welche der schon gewürdigte Willis
sich bedeutende Verdienste erworben hatte, ist in seinen Elementa, -)
soweit es der damalige physikalische Standpunkt gestattete, in vorzüg-
licher Weise und selbst mit linguistischen Details abgehandelt. ^) Leider
fehlt ihm die Chemie der Atmung ; in dem Dunkel der Phlogistontheorie
befangen, würdigt er Mayows Buch, das er übrigens citiert, nicht;
„salpetrige" Dünste im Blute können für ihn und seine Zeitgenossen
höchstens krankhafte Verunreinigungen sein ; *) er kennt keine Blutgase
und unterschätzt den Unterschied zwischen arteriellem und venösem
Blut:"*) freilich kennt er den Eisengehalt des Blutes, über
welchen er seinen Schüler Rh a des eine Dissertation schreiben lässt")
und bringt ihn mit der roten Farbe in Zusammenhang. Für ihn verliert
die Luft durch die Atmung ihren „Elater" (ihre Elastizität, s. weiter
oben) und bringt dem Blute beziehungsweise Körper etwas Nützliches
zu, doch was, das weiss er nicht recht. Nicht viel besser geht es
ihm bei der Besprechung der Funktion der Verdauungssäfte, die
übrigens, soweit nicht die mangelhaften chemischen Kenntnisse jener
Zeit stören, vortrefflich ist und gegen früher manchen Fortschritt er-
kennen lässt. Die Thätigkeit der Speicheldrüsen auf Nerveneinfluss (Ge-
schmacks- und Geruchsreize, Stahl, de Borden u. a.) will ihm
nicht recht einleuchten, wenngleich er eine gewisse, in künstlichen
Versuchen schwer konstatierbare „Reizbarkeit" (vgl. unten) dieser
Organe zugiebt ; ') der Speichel ist ihm weder alkalisch noch sauer,
er kennt seine stärkeverdauende Wirkung noch nicht und sieht seine
Funktion nur in der Formung und Schlüpfrigmachung des zu schlucken-
den Bissens.^) Die Drüsen der Magenschleimhaut liefern nach ihm
nui' Schleim ; der Magensaft ist nur eine Art Transsudat der Arterien,
weder alkalisch noch sauer, sondern neutral ; Säure ist es nicht, welche
die Verdauung zu stände bringt, sondern, wenn vorhanden, so stammt
sie aus abnormer Zersetzung des Mageninhalts, auch der Name des
Fermentes passt ihm nicht recht für die Wirkung des Magensaftes,
welche übrigens durch die „zerreibenden" Magenbewegungen sehr
wesentlich unterstützt werden. ^) Als eine der ihm übrigens noch
nicht genügend bekannten verschiedenen Funktionen des Pankreas-
saftes erscheint ihm die Neutralisierung, „Milderung" der Galle, in
welcher er einen speziellfürdieFettebesonders wirksamen
Verdauungssaft erblickt, die sofort emulgiert werden, und was
er dui'ch Gallenausschaltungsversuche noch besonders beweist; die
') De diaphragmate, Gott. 1741.
2) Vol. III, S. 366.
') Auffälligerweise erkennt er nicht die glottisöffuende Funktion des Crico-
arytaenoideus lateralis.
*) Freilich hatte Mayow selbst den Spiritus nitro-aereus in den sauren Fieber-
schweissen zu erkennen geglaubt!
*) Vol. II, S 10.
«) Gott. 1753.
') Elementa, Bd. 6, S. 57.
*) ebenda, S. 61.
«) ebenda, S. 227—239.
Gescliichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 353
Galle ist für ihn kein Exkret. ^) Er betont besonders, dass die Galle
von der Leber erzeugt wird und nicht von der Gallenblase, was die
Gallenproduktion bei Tierarten ohne Gallenblase beweise, eine Gelegen-
heit für ihn, um die Wichtigkeit der vergleichenden Physio-
logie zu betonen, als deren Vater Hall er mit Eecht gelten darf.
Sehr interessant ist seine im Anschluss an die Verdauungslehre ge-
gebene Besprechung der Nahrungsmittel,-) sowie seine litterarisch
urgründliche Darstellung des Baues und der Funktionen der Nieren;
natürlich entspricht das Kapitel über den Harn den mangelhaften
I Kenntnissen jener Zeit. Anatomisch ganz vorzüglich, besser als in
' funktioneller, insbesondere physikalischer Hinsicht, ist in den „Ele-
j menten" die Sinneslehre, obschon Hai 1er selbst hierzu noch am
; wenigsten Neues beigetragen hat. Die Verdienste Hallers um die
i allgemeine Muskelphysiologie sind untrennbar von denjenigen um die
I Physiologie des Nervensystems, indem es sich um die Einführung
eines Begriffs handelt, welchen vor ihm schon Glisson, wenn
auch in ganz anderem, modern-weiterem Sinne aufgestellt hatte (siehe
oben) und zwar hier als ausschliessliche Eigenschaft der
\ Muskeln, nämlich der Reizbarkeit oder ..Irritabilität", im
Gegensatz zum Empfindungsvermögen oder der ,.Sensi-
bilität", welche Haller ausschliesslich den Nerven und
den mit solchen versehenen Organen zuschreibt. Er ge-
langte zu dieser Anschauung durch unzählige Tierversuche, über deren
Ergebnisse er unter dem Titel „De partibus corporis sentientibus et
irritabilibus" (s. oben) der Göttinger Sozietät berichtete, und welche
fast alle in der gleichen einfachen Weise angestellt waren, dass er
das betreffende Organ am lebenden Tier vorsichtig entblösste und
dann, wenn das Tier völlig ruhig geworden war, durch Kneifen, Ein-
stechen eines Skalpells oder chemische Mittel (konzentrierte Säuren,
Antimonbutter) möglichst lokal reizte, so dass benachbarte Partien
nicht mitbetroffen wurden. Er konstatierte so, dass nur die Muskel-
substanz sich aktiv zusammenzieht, was er eben, wie schon erwähnt,
als die „Reizbarkeit" oder „Irritabilität", als eine spezifische vitale
Eigenschaft dieser Substanz bezeichnet, ohne dafür eine bestimmte
Erklärung zu wissen: in dem betreffenden Kapitel der Elementa*^
berichtet er natürlich sorgfältigst über alle älteren „Theorien der
Muskelkontraktion", wie wir jetzt sagen würden. Er betont, dass der
Nerv keinerlei eigene Kontraktilität besitzt noch sich irgendwie aktiv
bewegt, wie immer wieder behauptet worden w^ar, berichtet über aUe
Vorstellungen vom AVesen der Nervenfunktion, wobei er die damals
zuerst auftauchenden elektrischen Hypothesen ablehnt, vielmehr für
ts Fliessen des nervösen Spiritus und zwar in wirklichen Röhren,
■ icht in schwammiger Substanz (nach Borelli s. oben) eintritt*)
fndem er bei seinen Reizversuchen nun auf Schmerzäusserungen und
\bwehrbewegungen der Tiere achtet, findet er, dass die „Sensibilität"
'r einzelnen Organe von ihrem Nervenreichtum abhängt: die ^Muskel-
iiiche besitzen sie auch neben ihrer ..Irritabilität", nicht aber (nach
inen meist chemischen Reizversuchen) die Seimen und Gelenke, nur
ehenda, S. 605.
Bd. 6, S. 188-258.
Bd. 4, S. 532-542.
ebenda, S. 357—388.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. 11. 23
I
354 Heinrich Boruttau.
in geringem Masse das Peritoneum: Die Unvollkommenheit seiner
Methodik bedingte, dass er hier vielfach zu weit ging, so besonders
bei seinen Eeizversuchen an den Hirnhäuten und dem Gehirn. Nach-
dem schon der Engländer Ridley 1703 gezeigt hatte, dass die Hirn-
bewegung auch nach partieller Zerstörung der Meningen fortdauert,
ausser ihm Fantoni (Giovanni, 1675—1758) und Santorini
(Domenico, 1681 — 1737) in Italien gegen das Baglivi-Pac-
chionische Hirngespinst aufgetreten waren, hatte der holländische
Arzt Schlichting um 1750 gezeigt, dass die pulsatorische
Hirnbewegung von dem Einflüsse der Herzthätigkeit
und der Atembewegung herrührt, leider aber sich zur An-
nahme einer anderen Art aktiver Hirnbewegung verführen lassen,
welche erst durch den Pariser Professor Lorry (1725 — 1786) wider-
legt wurde, der hinwiederum aber auch die pulsatorische Hirnbewegung
für pathologisch hielt [über Lorrys Verdienste um die Physiologie
des Kopfmarks siehe weiter unten]. Genauer präzisiert wurde dann
die Entstehung des Hirnpulses durch die venöse Rückwärtsstauung
seitens Hallers ') und in von ihm freilich nicht anerkannter Priorität
durch den Franzosen Lamure. Auf Grund mangelhafter z. T. auch
von seinen Schülern Zinn und Zimmermann mit gleichem Erfolge
angestellter Versuche leugnetHaller aber auch die Sensibilität
derDura mater, ebenso diejenige der grauen Hirnrinde,
von welcher aus er nur in einem einzigen Hunde versuch Krämpfe auf
chemische Reizung eintreten sah; dagegen erhielt er positive Ergeb-
nisse bei jeder Art Reizung der weissen Markmasse, die aber eben so
roh ausgeführt wurde (Einstechen von Nadeln oder säuregetränkten
Holzstäbchen), dass es nicht wunder nehmen kann, wenn er immer
die gleichen Effekte — Hinfallen der Tiere mit Krämpfen und
Schmerzäusserungen = unseren wohlbekannten epileptischen Anfällen
bei zu starker Rindenreizung — erhielt und sich darum gegen jede
Lokalisation der Hirnfunktionen, zu welcher, wie wir oben
sahen, bereits Ansätze vorlagen, aussprach. ^) Er erkannte aber, dass
in vorsichtigen Versuchen das Kleinhirn sich durchaus ebensowenig
als lebenswichtiges Organ zeigt, wie, selbst bei schweren Verletzungen,
das Grosshirn, und gab, auf Lorrys hierüber angestellte wichtige
Versuche, sowie seines eigenen bedeutenden Schülers Joh. Gott fr.
Zinn (1727 — 1759) Drängen hin die Wichtigkeit des ver-
längerten Marks zu, doch stets unter Betonung dessen, dass
eine lebenswichtige Hirnstelle nicht auch „Sitz der
Seele" sein müsse. =^) Es ist ein dieser Bemerkung gleichwertiges
Verdienst Hallers, dass er, wie schon angedeutet, die prinzi-
pielle Unabhängigkeit der Herzthätigkeit vomCentral-
nervensystem strikt nachgewiesen und besonders be-
tont hat, dass die Ursache der durch das ganze Leben hindurch
fortdauernden rhythmischen Thätigkeit in dem Herzen
selbst, dem „reizbarsten" aller tierischen Gebilde, gelegen ist:*)
indem er auf diese Weise einerseits der früher Mode gewesenen
engen Lokalisierung des „Lebensprinzips" entgegentrat, andererseits i
^) Elem., Bd. 4, S. 171.
2) ebenda, S. 338 ff.
') ebenda, S. 349 ff.
Elem., Bd. 1, S. 488 ff.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 355
sich zu den Anhängern der Lehre Stahls in absichtlichen direkten
Gegensatz stellte, denen ein unabhängig von der Anima, vom Central-
nervensystem losgetrennt funktionierendes Organ undenkbar schien, hat
Hall er seine Zeitgenossen und Nachfolger zu eifriger Diskussion
angeregt, in welcher seinem Vorbild entsprechend reichlich und all-
mählich immer vollkommener angestellte Tierversuche schliesslich zu
den Wahrheiten geführt haben, zu denen vorzudringen ihm selbst
nicht gegeben war.
Nachdem die schliesslich noch übrige Würdigung Hallers auf
dem Gebiete der Ent\\icklungsgeschichte wohl der besonderen Be-
arbeitung, welche die Geschichte der inzwischen selbständig gewordenen
embryologischen Wissenschaft in diesem Buche findet, füglich über-
lassen werden darf, haben wir es mit den weiterenFortsch ritten
unserer Wissenschaft im achtzehnten Jahrhundert und
im Beginn des neunzehnten zu thun; und wenn wir hier
zunächst von denjenigen reden wollen, welche auf anatomischer und
einfach experimenteller Basis beruhen, so sind es gerade diejenigen
auf dem Gebiete der Funktion des Nervensystems, bei
welchen wir hier einfach fortfahren können.
Was die Leistungen noch von Zeitgenossen Hall er s auf diesem
Gebiete betrifft, so zeigte der schon erwähnte L o r r y , dass die einzige
Stelle des ganzen Centralnervensystems, von welcher aus sich Krämpfe
mit Sicherheit bei sauberem Experimentieren auslösen lassen, und auf
deren isolierte Verletzung hin plötzlicher Tod eintreten kann, im
verlängerten Marke gelegen ist; es wurde bereits erwähnt, wie
auch Hai 1er hier halb und halb zustimmt, während er ein anderes
zeitgenössisches Verdienst voll und ganz anerkannt hat, nämlich die
anatomische und experimentelle Begründung der kontralateralen
Innervation durch den französischen Ai'zt Pourfour du Petit
[FrauQois, 1664 — 1741], welcher die Pyi-amidenkreuzung nachwies
und auf Eindenläsionen bei auf der einen Seite trepanierten Tieren
gekreuzte Parese genau beobachtete und beschrieb ^) : die physio-
logische Erfüllung eines auf Grund der Sektionsbefunde Apoplektischer
u. s. w. gelegentlich schon von den Alten aufgestellten Postulats. Be-
stätigung brachten auch noch die Versuche des Bologneser Anatomen
P. P. Molinelli (1702— 1764j. Was nun weiterhin die durch den
anregenden Einfluss einerseits der Irritabilitätslehre und andererseits
des St ah Ischen Animismus veranlassten Forschungen betrifft, so
waren es insbesondere der Engländer Robert Whytt (1714 — 1766)
und der Deutsche Unzer (1727—1799), welche die Abhängigkeit der
Irritabilität von der Sensibilität betonten, auf die auffällig zweck-
mässigen Bewegungen geköpfter Frösche hinwiesen, schliess-
lich das „Gefühl" von der wirklich be wussten (dem „Sensorium
commune" zugeleiteten) „Empfindung" unterschieden und so
für das wirkliche Verständnis der Reflexbewegungen und des Rücken-
marks als Vermittler derselben die Wege ebneten. Auch die be-
ginnende Beachtung der Ganglien (R i o 1 a n , W i 1 1 i s , M o r g a g n i u. a.)
denen freilich die abenteuerlichsten Funktionen zugeschrieben wnirden
ohon seit Galen Verstärkung der Nerven erregung, später Hemmung
iiid Unterdrückung derselben) trug hierzu bei: sprach sie der Prager
l'rofessor Prochaska (1749—1820) doch direkt als Reflexvermittler
') Trois lettres d'un medecin etc., Namur 1710.
23-
356 Heinrich Boruttau.
an! (Neuerdings für „sympathische Keflexe" znr Thatsache geworden
— Langley und Sherrington — , nachdem Ganglien und Anasto-
mosen schon damals für die Deutung fabelhafter Vorgänge — „Sym-
pathie", „Somnambulismus" — hatten herhalten müssen). Die Vor-
bedingung zur richtigen Erklärung der Keflexphäno-
mene bildete indessen, wie schon oft .bemerkt, der Nachweis
getrennter motorischer und sensibler Nervenbahnen.
Nachdem derselbe von manchen in mehr oder weniger unvollkommener
Weise vorgeahnt worden war, machte im Jahi-e 1811 Ch. Bell die
erste hierhergehörige experimentelle Beobachtung.
Charles Bell ist 1774 in Doun in Schottland geboren, studierte in
Edinburgh, gab mit seinem älteren Bruder, dem Anatomen John Bell zu-
sammen anatom. Tafeln heraus, wurde 1799 F.B/iC. S., ging 1804 nach
London, dort 1824 Prof. der Anatomie am B.C. S., 1828 der Physiologie
an der London TJniversity auf kurze Zeit, ging 1835 als Chirurgieprofessor
wieder nach Edinburgh, starb 1842 auf der Reise in Worcester.
Physiolog. Ilauptschrifteri: Die tintenerwähnte „Idea etc." 1811; An exposition
of tJie natural System of nerves in human body, London 1824, Zusammenfassung
mehrerer morphophysiol. Publ. in den Philosophical Transactions. Daselbst später
noch zahlreiche Einzelschriften. Animal Mechanics, London 1828 — 29 und andere
mehr popiilär-anat.-physiol. Bücher.
In seiner, nur noch in einem einzigen Druckexemplar im British
Museum existierenden kleinen Schrift „Idea of a new anatomy of the
brain, submitted for the Observation of the author's friends" berichtet
Bell, dass beim Säugetier Rückenmarksreizungen unbestimmt wirkten,
dieDurchschneidungderhintereuRückenmarks wurzeln
keine Bewegungen veranlasste, auf blossen Einstich
der Messerspitze in die vorderen Wurzeln Muskel-
krämpfe auftraten, woraus er schloss, dass die vorderen Wurzeln
Bewegungen vermittelten [resp, durch ihre und der weissen Vorder-
stränge Vermittlung das Grosshirn], während er sich über die Funktion
der hinteren Wurzeln noch nicht bestimmt ausspricht.^) In den
nächsten elf Jahren veröffentlichte Bell, welcher grosse Abneigung. j
gegen die Vivisektion besass, nichts weiter über diese Dinge, und erst ,
als 1822 Magendie Versuche über die verschiedene Funktion der
hinteren und vorderen Wurzeln veröffentlichte, kam Bell darauf
zurück und behauptete auf Grund seiner inzwischen (ebenso wie von
dem Italiener Bellingeri) angestellten Versuche an Hirnnerven —
Erkenntnis der Motilität des Facialis und Sensibilität des Trigeminus —
die Motilität der vorderen und Sensibilität der hintere-n
Wurzeln. Ueber den weiteren Verlauf der Geschichte dieses für
die moderne Nervenphysiologie so durchaus grundlegenden „Beil-
Magen die sehen Gesetzes" (Eckhard, Bickel) wird im nächsten
Abschnitt zu berichten sein. Inzwischen war aber auch auf dem Ge-
biete der Abhängigkeit der vegetativen Funktionen vom
Centralnervensystem weiter gearbeitet worden. Nachdem
Durchschneidungs- und Reizversuche am Vagus, selbst mit der durch
Caldani (1725 — 1813) in die Nervenphysiologie eingeführten Elektri-
1) A. Bickel (Pflügers Archiv Bd. 84, S. 276; 1901) liest heraus, dass Bell
iie mit dem Grosshirn zusammenhängenden vorderen Wurzeln für gemischt-motoriseb-
sensibel, die mit dem Kleinhirn zusammenhängende hinteren Wurzeln für visceral-
trophisch gehalten habe.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizia etc. 357
zität in der damals einzig vorhandenen Anwendungsweise („elektro-
statisch'' im heutigen Sinne) seitens des grossen Feiice Fontana
iTeistlicher in Bologna. 1730 — 1805] und anderer nichts Sicheres über
eine nervöse Beeinflussung der Herzthätigkeit ergeben hatten, war
man in Bezug auf diejenige der Atmung glücklicher: Nachdem schon
Beobachtungen des jüngeren Hunt er (John, 1728—1793, welt-
berühmter Chirurg, Begründer des Londoner H u n t e r sehen Museums),
von Cruikshank (William, 1746 — 1800) und dem grossen Be-
gründer der allgemeinen Anatomie Bichat (siehe später) die Be-
deutung des Halsmarks füi- die normalen Atembewegungen gesichert
hatten, begi'enzte der französische Forscher Legallois (Julien-
Tean-Cesar, 1770 — 1814) das Atemcentrum auf eine circum-
kripte Stelle der Oblongata in Versuchen, welche er in seinen
..Experiences sur le principe de Ja vie". Paris 1812 beschrieben hat:
Eückenmarksdurchschneidung bei der Katze in der Höhe des 7. Hals-
wirbels sistiert die Eippen-, solche in der Höhe des 1. Halswirbels
auch die Zwerchfellatmung; Abtrennung der Oblongata vom übrigen
Gehirn sistiert beim jungen Kaninchen die Atmung nicht; erst wenn
bei ihrer schichtenweisen Abtragung der Vagusursprung mit abge-
tragen wird, geschieht dies und das Tier stirbt. Auch Versuche
über die Beeinflussung der Verdauung, Darmbewegung, tierischen
Wärmeproduktion u. s. w. fallen bereits in jene Zeit. Endlich hat die
Kühnheit der französischen Chirurgen, welche häufige Trepanationen
am Menschen machten und sich durch Tierversuche zu belehren be-
strebt waren, manches Bemerkenswerte gefördert betreffend Hirn-
druck, Nystagmus, besonders aber Anzeichen für eine trotz
Haller und Stahl bestehende Lokalisation der Hirnfunk-
tionen (Saucerotte, Sabourant, Chopart). Gleich direkt ins
äusserste Extrem dieser Eichtung schoss endlich gegen Ende des
achtzehnten Jahrhunderts Franz Joseph Gall [aus Tiefenbrunn
bei Pforzheim. 1758—1828], welcher in öffentlichen Vorträgen zuerst
796 in Wien behauptete, dass jeder Teil des Gehirns Sitz einer be-
'inderen Verstandes- oder Gefühlsäusserung sei, und dass das Vor-
wiegen eines solchen ».Triebes" oder ,.Sinnes" (Zerstörungstrieb,
Pietätssinn, Zahlensinn, Musiktalent u. s. w.) an äusseren Gestaltungs-
merkmalen des Schädels zu erkennen sei. Für diese „Phrenologie"
oder Kranioskopie wurde von ihm seit 1807 von Paris aus zusammen
mit seinem Freunde J. Chr. Spurzheim, einem tüchtigen Anatomen
^1776—1832. gest. in Boston] in allen Ländern, zuletzt auch in Amerika,
'ropaganda gemacht. Diese unwissenschaftliche Lehre hat sich seit-
dem in laienhaftem Unfiig fast völlig ausgetobt; über die litterarische
Hinterlassenschaft von Gall und Spurzheim, die „Anatomie et
l>hysiologie du sj'steme nerveux etc.", Paris 1810—1819, mit ana-
'' »mischen Tafeln, scheinen die Meinungen in jüngster Zeit noch recht
eteilt zu sein. ^)
Die Verdauungsphysiologie wui-de im achtzehnten Jahr-
liundeit weiter gefördert durch den grossen französischen Naturforscher
Eeaumur (1683—1757), welcher zueret beim Vogel und beim Säuge-
tier systematische „Verdauungs versuche" anstellte: seinen Er-
'bnissen entsprechen die obenerwähnten Angaben Ha Hers über die
*) Vgl. die Polemik zwischen Rolle tt und Holländer in Pflügers Archiv
'1. 79 und 80, 1900.
358 , Heinrich Boruttau.
Magenverdaimng. Noch zahlreichere „Verdauung-s versuche" insbe-
sondere auch in vitro mittels durch Verschluckenlassen von an Fäden
gebundenen Schwämmen u. s. w. gewonnenen (auch eigenen) Magen-
saftes stellte an der bedeutende italienische Physiologe Spallanzani
[Lazzaro, geboren 1729 zu Scandiano bei Reggio, Schüler Vallis-
neris in Padua, 1754 Professor der Mathematik in Reggio, 1760 der
Naturwissenschaften in Modena, 1768 in Pavia, wo er 1799 starb].
Er stellte die auflösende Fähigkeit des Magensaftes für
Fleisch u. s. w. — dagegen nicht Stärke u. s. w. — sicher fest,
hielt ihn aber noch für neutral. Endlich bearbeitete dieses Gebiet
auch John Hunt er (s. oben), welcher in vielen Punkten Spallan-
zani bekämpfte, Fäulnis und Verdauung streng trennte und die
fäulnis widrige Wirkung des Magensaftes betonte, den er
gelegentlich sauer reagierend fand ; dass diese Reaktion bei nüchternem
Magen fehle und unmittelbar nach der Fütterung auftrete, fand
Carminati (1750 — 1830) im Jahre 1785;^) doch dauerte es, wie wir
sehen werden, noch lange, ehe die Natur der Säure richtig erkannt
wurde. Noch kann man ja selbst im dritten Viertel des 18. Jahi'-
hunderts nicht von der Existenz einer wirklichen „physiologischen
Chemie" reden; ihr Geburtstag fällt vielmehr zusammen
mit dem Beginne einer wirklichen wissenschaftlichen
Chemie, welche bei der „Scheidung" und Verbindung der Körper
nicht allein fragt „was", sondern „wieviel", deren vornehmstes Rüst-
zeug die Wage ist. Der unsterbliche Ruhm eines Vaters der modernen
wissenschaftlichen Chemie in diesem Sinne, wie auch der physio-
logischen Chemie gebührt einzig Lavoisier, welcher über das Wesen
der Verbrennung und Atmung uns die unverbrüchliche Wahrheit ge-
zeigt hat, nachdem seines Vorläufers Mayow geniale Versuche und
wunderbare Vorahnung des wahren Sachverhaltes in Vergessenheit
geraten waren (s. o.). JosefBlack [1728 — 1799, Professor der Chemie
in Glasgow und Edinburgh] entdeckte 1754 einen mit Kalk, Alkalien
u. s. w. sich leicht verbindenden und aus dieser Verbindung durch
Hitze oder Säuren austreibbaren Bestandteil der gewöhnlichen Luft,
welchen er fixierte Luft nannte, erkannte dessen Identität mit
van Helmonts „Gas" (gas silvestre) und bestätigte dessen Angabe,
dass es sich bei der Verbrennung von Holzkohle und beim Atmen
bilde. Er hielt es zuerst für identisch mit dem das Atmen nicht unter-
haltenden Bestandteil der Atmosphäre, w^elchen Scheele und Ruther-
ford isoliert hatten, liess sich aber 1772 seitens des letztgenannten
von der Unrichtigkeit dieser Voraussetzung überzeugen; Cavendish
und C h a p t a 1 erkannten, dass aus dem letztgenannten Körper durch
elektrische Entladungen Salpetersäure entstehen kann, woher der Name
„Nitrogenium". Endlich entdeckte Josef Priestley [1733—1804,
Geistlicher in Leeds und Birmingham] 1771, dass lebende Pflanzen
durch Feuer oder Atmung „verdorbene" Luft wieder brauchbar machen,
sowie 1774, dass durch Erhitzen mit dem Brennglase roter „Queck-
silberkalk" eine Luftart abgiebt, welche die Verbrennung begünstigt
und Atmung vorzüglich unterhält. Indessen beherrschte Stahls
Phlogistontheorie (s. oben) die Geister dermassen, dass Priestley den
wahren Sachverhalt, den schon der vergessene Mayow erkannt hatte,
ganz verkannte, vielmehr ein Bild von dem Wesen der Verbrennung und
^) Eicerche sulla natura ecc. del succo gastrico, Mailand 1785.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 359
Atmung entwarf, welches die Wahrheit geradezu auf den Kopf stellt:
Der Quecksilberkalk nimmt für ihn in der Sonnenhitze FeuerstofF,
Phlogiston aus der Luft auf, diese wird „dephlogistisiert" und daher
zum Brennen und Atmen geeigneter; dazu ungeeignet wird Luft eben
durch völlige Sättigung mit Phlogiston. Blacks fixe Luft, welche
ausgeatmet zu werden scheine, kommt nach ihm gar nicht aus der
Lunge, sondern entsteht in der Luft durch die zersetzende Wirkung
des abgegebenen Phlogistons! Mit dem Handwerkszeug des modernen
Chemikers, der Wage, wurde es Lavoisier leicht, die auf den Kopf
gestellte Wahrheit aufzui'ichten und gleichzeitig der Ausgeburt
Stahlscher Spekulation für immer den Todesstoss zu versetzen.
Antoine Laurent Lavoisier, geboren am 26. August 1743, studierte in
Paris erst Rechte, dann Naturwissenschaft. In der Domänenverwaltung be-
schäftigt, Hess er sich auch auf grössere Industrieunternehmungen ein, sowie
er den staatlichen Pulverfabriken sein chemisches Wissen zu gute kommen
Hess. 'Seit 1768 Mitglied der Academie des Sciences, wurde er, als dieselbe
während der französischen Revolution verdächtigt und 1793 aufgehoben
wurde, gefangen genommen und starb am 8. Mai 1794 auf dem Schaffot.
Physiologisch bedeutsame Werke: Experiences sur la respiration des animaux etc.,
Mein, de VAcad. des Sciences 1777, T. 185; Memoire sur la Chahtir {mit Laplace),
Art. IV, ebenda 1780; Alterations qu'eprouve l'air respire, in Eecueil de manoires
de Vacad. de Med., t 3 {178o). Sur la respiration des animaux und Sur la trans-
piration des animaux, beide mit Seguin, in Mim. de VAc. des Sciences 1789, p. 185
lt. 1790, p. 77. Rapport sur la nutrition des vegetaux 1793.
1775 bewies Lavoisier, dass verbrennliche Körper bei der Ver-
brennung etwas aus der Luft nehmen und schwerer werden, ebenso
„verkalkende" Metalle bei der Verkalkung, und 1777, dass dieser Stoff
in allen Säuren enthalten sei und schlug für ihn den Namen Oxj-genium
oder „Sauerstoff" vor. Weiterhin zeigte er in demselben Jahre,
dass auch bei der Atmung der Tiere und des Menschen der gleiche
Stoff verbraucht werde, nannte den unbrauchbaren Rückstand Azotum
oder „Stickstoff und wies nach, dass bei der Atmung wie
auch bei der Verbrennung dieselbe fixe Luft entstehe,
welche man aus an der Luft gehaltenem Kalk durch Uebergiessen
mit Säure entbinden könne, und welche selbst sauer reagiere, weshalb
er sie zunächst Kalksäure nannte, und bald [nachdem er schon 1775
gezeigt hatte, dass sie aus Kohle (Diamant) bei der Verbrennung in
Sauerstoff entstehe und eine Verbindung beider darstelle], „Kohlen-
l u r e".
Noch vollkommener wurde der Vergleich zwischen Verbrennung
und Atmung durch die Berücksichtigung der tierischen Wärme.
Nachdem letztere den Alten eigentümlichen, höheren, göttlichen Ur-
sprungs erschienen war (innatus calor, eingeborene Wärme) hatten
allerdings schon die älteren „Fermenttheoretiker", vorab van Hel-
mont, sie auf chemische Prozesse zurückgeführt, in Analogie zu der
bei Gärungen u. s. w. auftretenden Wärme; doch zogen es die latro-
physiker seit Borelli vor, sie durch die Reibung des Blutes in den
Grefässen entstehen zu lassen. Hai 1er betont schon ganz offen, dass
diese Wärmequelle auf keinen Fall allein genügen könne, ^) und durch
die Versuche Crawfords [Adair, 1749—1795], welcher die Blackschen
*J Elem., Bd. 11, S. 286—308.
360 Heinrich Boruttau.
Begriffe des Wärmestoffs, der spezifischen Wärme und Wärmekapazität
in wenn auch absonderlicher Weise auf die tierische Wärme anzu-
wenden bestrebt war, war die Frage erst recht in Fluss geraten. Als
nun der grosse Laplace 1780 die Grundzüge derWärmelehre
gab, wie sie auch heute noch gültig sind, und als erster richtige
Kalorimetermessungen anzustellen lehrte, wandte sein Freund Lavoisier
die neu errungenen physikalischen Fortschritte alsbald auf die Chemie
und Physiologie an, zeigte, dass die völlige Verbrennung einer be-
stimmten Kohlenmenge auch stets dieselbe bestimmte Wärmemenge
giebt und postulierte ein gleiches für die tierische Wärme-
produktion, welche gleichfalls von der Oxydation des
Kohlenstoffs im Tierkörper herrühre, nur dass diese eben
nicht unter Feuererscheinung vor sich geht, weshalb er sie „eine
langsame Verbrennung'' nannte.
Inzwischen hatte Cavendish (1731 — 1810) seine Versuche über
das schon seit Boyle (1672), ja schon länger bekannte „brennbare
Gas" begonnen (1766) und hatte 1781 die Zusammensetzung des
Wassers erkannt, aus Sauerstoff und dem jetzt als Hydrogenium,
„ W assersto ff bezeichneten brennbaren Gase. Lavoisier, welcher
hier, wie bei allen chemischen Prozessen, Mass und Gewichtsverhält-
nisse genau berücksichtigte, publizierte 1785 die Ergebnisse der
ersten „Respirations versuche*', wie wir sie jetzt nennen,
d. h. genauer Bestimmungen der von einem (hier zunächst in abge-
sperrtem Räume gehaltenen) Tiere in bestimmter Zeit produzierten
Kohlensäure und des verbrauchten Sauerstoffs ; er hatte gefunden, dass
des letzteren Menge grösser sei, als die in der produzierten Kohlen-
säure enthaltene Sauerstoffmenge („der respiratorische Quotient -—
ist meist kleiner als 1" sagen wir heutzutage); der üeberschuss,
folgerte Lavoisier ganz richtig, wird verbraucht zur Verbrennung
von im Organismus enthaltenen Wasserstoff zu Wasser. La-
voisier stellte noch weitere, auch die Wasserproduktion berück-
sichtigende Respirationsversuche an zusammen mit dem Physiologen
Seguin (veröffentlicht 1790), welcher ihn wahrscheinlich in der
irrtümlichen Annahme bestärkt hat, dass die tierische Oxydation
in der Lunge selbst vor sich gehe, in welcher die beiden
Forscher einen kohlenwasserstoffähnlichen Körper aus dem Blute aus-
schwitzen Hessen, welcher durch die Atmung oxydiert direkt Kohlen-
säure und Wasser geben sollte. Doch schon 1791 wies Lag ränge
auf die Unwahrscheinlichkeit der Annahme hin, dass die Lunge der
Ort der tierischen Oxydation sein solle, und sein Assistent Hassen-
fratz betonte den Farben Wechsel des Bluts bei Berührung mit Sauer-
stoff resp. Kohlensäure. Man verlegte dann zunächst den Ort der
tierischen Oxydation in das Blut, und wenngleich Spallanzani,
dessen zahlreiche und wertvolle Versuchsergebnisse über die
Atmung (Einfluss physikalischer und physiologischer Bedingungen
aller Art) erst 1803 nach seinem Tode im Druck erschienen,^) den
Gas Wechsel ausgeschnittener „überlebender" Organe
unwiderleglich nachwies, ja selbst zeigte, dass Kaltblüter auch
in einer Wasserstoff- oder Stickstoffatmosphäre weite r-
atmen und Kohlensäure abgeben, so blieb doch die falsche
^) „Memorie siilla respirazione", Mailand 1803.
Geschichte der Physiologie iu ihrer Anwendnng auf die Medizin etc. 361
Lokalisation der tierischen Oxydationsprozesse zunächst vorherrschend,
bis die Beschäftigung mit den Blutgasen (Hassenfratz, Davy,
Schröder v. d. Kolk) und ihre schliessliche genaue Bestimmung
durch Anwendung der Quecksilberluftpumpe (Magnus 1837, Lothar
Meyer, Ludwig, P f 1 ü g e r s. später) sie endgültig beseitigen
konnte.
Die schnellen Fortschritte, welche die allgemeine Chemie im An-
schluss an Lavoisiers grundlegende Thaten machte, kamen auch
der physiologischen Chemie weiterhin zu gute; es seien hier nach-
geholt die grundlegenden Versuche von William Hewson (1739 —
1774) über die Gerinnung des Blutes;^) es sei erinnert an
G. R. Treviranus' [Bruder des Botanikers, s. w. unten] chemische
Arbeiten (Rotfärbung des Speichels mit Eisen; Yerdauungsversuche
u. s. w.), endlich an die grundlegende Erkenntnis der Zusammen-
setzung der tierischen Fette aus Glycerin und Fett-
säuren und des Wesens der ..Verseifung" durch den berühmten
C h e V r e u 1 (M i c h e 1- E u g e n e , 1786—1889, Paris). Wenngleich die
Pflanzenphysiologie eigentlich nicht in den Rahmen dieses Buches
gehört, so darf doch im Anschluss an die obenerwähnte, die Sauei*stoff-
abgabe der Pflanzen betreff'ende Beobachtung Priestleys der in
diese Periode fallende Ausbau der Lehre von der pflanz-
lichen „Assimilation" wegen seiner allgemeinbiologischen Be-
deutung nicht mit Stillschweigen übergangen werden: 1796 wies
Ingenhousz [1730 — 1799] die Kohlensäureaufnahme und Sauerstoff-
abgabe der grünen Pflanzenteile am Tage sicher nach und die daneben
bestehende Kohlensäureproduktion nebst Sauerstoffverbrauch, welche
bei Nacht hervortreten; N. Th. Saussure [1767—1845] zeigte 1804,
dass mit der Zersetzung der Kohlensäure Gewichtszunahme einher-
geht, welche dem zurückgehaltenen Kohlenstoff plus gebundenem
Wasser entspricht (vgl. den früher erwähnten Versuch van Hel-
monts); endlich bewies Senebier [1742 — 1809] die Notwendigkeit
des Lichtes und des grünen Farbstoffs für die ..Assimilation".
Die Verdienste des Physikers Laplace um die Aufklärung der
Ursachen der tierischen Wärme sind bereits gewürdigt worden. Leider
waren die Fortschritte jener Zeit auf einem anderen Gebiete der
Physik für die Physiologie nicht so unmittelbar fruchtbringend,
nämlich auf dem der Elektrizitätslehre, indem man umgekehrt
geradezu sagen kann, dass die Bestrebungen der Physiologen, im
lebenden Körper elektrische Vorgänge nachzuweisen und zur Er-
klärung von Lebenserscheinungen heranzuziehen, ohne hier besonders
viel zu erreichen, die Veranlassung zu den grossartigsten und theoretisch
wie technisch fruchtbringendsten Bereicherungen der physikalischen
Elektrizitätslehre geworden sind : Die Zuckungen der Froschschenkel,
welche im Jahre 1790 der Bologneser Anatora Luigi Galvani
(1737 — 1798) auf Berührung mit einem aus zwei verschiedenartigen
Metallen bestehenden Schliessungsbogen auftreten sah,-) wurden von
dem grossen Physiker in Pavia Alessandro Volta (1745—1827)
auf den Strom zurückgeführt, welcher eben stets in einer Kette aus
zwei verschiedenen Leitern erster und einem zweiter Klasse kreist;
') Hauptwerk : Experimental inquiries into the properties of the blood, London
1771/72; au.sserdem mehrere kleinere Ahh. in den Philos. Transactions.
*) De viribus Electricitatis in motu musculari comraeutarius, Bologna 1791.
362 Heinrich Boruttau.
die Lehre von diesem Strom, welcher voltaisch und nicht galvanisch
heissen sollte, da Galvani seinen rein physikalischen Ursprung nicht
zugeben wollte, ist freilich später die Grundlage aller physio-
logischen Reiztechnik wie des Verständnisses der
tierisch-elektrischen Erscheinungen geworden; zunächst
aber führte der Streit zwischen Galvani und Volta dahin, dass
jener sich Mühe gab, „Zuckungen ohne Metalle" zu erhalten,
was ihm dann schliesslich gelegentlich gelang, als er die Nerven eines
Froschpräparates mit in verschiedenem Zustande befindlichen Muskel-
stellen unbewusst in Berührung brachte. ^) Freilich wollte der durch
Galvanis Verblendung und Aldinis Dreistigkeit, mit welcher die
beiden die rein physikalische Natur der Metall-Flüssigkeitsströme
(Aldini selbst nach Konstruktion der „Säule" durch Volta 1800 2))
leugneten, gereizte Volta von der Zuckung ohne Metalle nicht viel
wissen, und auch als Humboldt u. a. ihre Richtigkeit bestätigten,
blieb diese zuerst entdeckte wirklich tierisch - elektrische Spezial-
erscheinung eine wenig beachtete unverstandene Kuriosität, welche
eben nicht denselben Eindruck machte, wie die viel grossartigere
Erscheinung des Schlages der Zitterfische, dessen Ursache
B 0 r e 1 1 i so gut wie H a 1 1 e r •'^) und seine Zeitgenossen für mechanisch
hielten, während schon Adanson und Gravesande um 1750 ihn
mit demjenigen der eben erfundenen Leydener Flasche verglichen:
bereits 1772 stellte Walsh in La Rochelle die elektrische
Natur des Schlages von Torpedo fest, welche Cavendish
1776 noch weiter sicherte, — also lauter Dinge, welche schon vor
der Entdeckung des Galvanismus erfolgt waren.
Was nun schliesslich die Schicksale der allgemein-biologischen
Vorstellungen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts
betrifft, so haben wir es mit dem von Frankreich ausgegangenen
Bestreben zu thun, an die Stelle von Stahls Anima ein an des in
Montpellier von jeher so sehr verehrten Hippokrates*) q)vaig ge-
mahnendes physiologisches und pathologisches Prinzip zu setzen:
FrauQois de Sauvages [1706—1767], Theophile Borden
[1722—1776], Paul Barthez [1734—1806], alle drei aus Montpellier
sind die Hauptvertreter dieser Richtung, deren letztgenannter als
letzte Ursache allen lebendigen Geschehens das „principe vital"
bezeichnet. Ihnen folgten Philipp Pinel [1755 — 1826], der be-
rühmte Reformator der Irrenheilkunde, welcher die anatomische und
„analytische" Methode der pathologischen Forschung begründete, und
Franz Xaver Bichat [aus Thoirette im Jura, 1771 — 1802, studierte
in Montpellier, Lyon und Paris, Arzt am Hötel-Dieu, eifriger Anatom,
starb jung an der Schwindsucht], welcher in seiner die heutige Ge-
webelehre begründenden „Anatomie generale" und seinen „Recherches
physiologiques sur la vie et la mort" (beide Werke 1801 in Paris er-
schienen), wie schon seine Vorgänger, zu der Ueberzeugung gelangt,
dass Physik und Chemie die Lebensvorgänge nicht ge-
nügend zu erklären vermögen und als deren Causa
*) Trattato dell' uso dell' arco conduttore ecc, Bologna 1794; u. Supplement.
*) Vgl. über alle diese Dinge Abschn. 1, Kap. 1 von du Bois-Reymonds
klassischen Untersuchungen über tier. Elektrizität.
") Elementa Physiol., Bd. 4 S. 484-485.
*) Vgl. noch aus dem J. 1803 Delavauds „Physiologie d'Hippocrate" (Be-
arbeitung von de aere u. s. w.).
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 363
movens die „Lebenskraft" hinstellt. Seinen anatomischen und
pathologischen Verdiensten gerecht zu werden, muss anderen Ab-
schnitten dieses Werkes vorbehalten bleiben.
In Deutschland waren ausgesprochene Anhänger des ..Yitalismus"
unter anderen der berühmte Begründer der wissenschaftlichen ..Anthro-
pologie", der Göttinger Professor Joh. Friedrich Blumenbach
[1752 — 1840] und der Anatom und Kliniker in Halle und Berlin
Joh. Christian Eeil [1759 — 1813; ..Insula Reilii"]. Für unsere
Wissenschaft von ganz besonderer Bedeutung ist übrigens R e i 1 durch
die 1796 durch ihn erfolgte Begründung des ..Archivs für Phj'sio-
logie'', von dessen weiteren Schicksalen noch die Rede sein wird.
Schlimmer als der als Reaktion auf übertriebene Hoffnungen
immerhin erklärliche, wenn nicht damals berechtigte Vitalismus in
Frankreich war in Deutschland die Erniedrigung des geistigen Lebens
nach der ..Sturm- und Drangperiode", nach der Klassiker gewaltigen
Dichtwerken und Kants philosophischer Meisterlehre zu der Natur-
philosophie der Schelling, Hegel und Konsorten. Ueber deren
Wesen und Wirkung, über die damit verbundenen, hier nicht her
gehörigen Dinge, naturhistorisch-parasitäre Pathologie und die anderen
AfterdJsziplinen — Homöopathie. Rademacher sehe Erfahrungsheil-
lehre, über Mesmers tierischen Magnetismus als Vorläufer des
modernen Hypnotismus ist eine treffend-kritische, brillante Darstellung
gegeben worden durch Pagel in seiner Einführung in die Geschichte
der Medizin, zwanzigste Vorlesung, sowie eine mehr populäre, doch
nicht minder lesenswerte von Franz Carl Müller, im einleitenden
Kapitel seiner „Geschichte der organischen Naturwissenschaften im
19. Jahrhundert."
Anhang:
Einige bibliographische Xotizen.
Varigny, H. de, La philosophie biologique atix 17 et 18 siecles. Rexnie scientifique,
T. 43, 1888.
Foster, 31., Tlie History of Physiology in the 16"*, 17*^ and 18"* centttries, Cam-
bridge 1901.
yeuburger, M., Die historische Entwicklung der Gehirn- und Bnckenmarks-
physiologie vor Flourens, Stuttgart 1897.
Maller, Albr. von, Denkschrift, herausgegeben von der beauftragten Kotninission
auf den 12. Dezember 1877., Bern 1877.
Mac KenflHck, J. G., On Spallanzani, a physiologist of the last Century.
British Journal 1892.
Rosenthal, <!., Lavoisier und seine Bedeutung. Biologisches Centralblatt, Er-
langen 1890.
Im übrigen siehe die QueUenzusammensteUung am Beginn des Abschnittes.
IV.
Das Zeitalter Johannes Müllers.
Eine vielfach naturphilosophische Färbung und zähes
Festhalten an der. wie wir gesehen haben, aus Frankreich — Schule
von Montpellier, Bichat — importierten Lehre von der Lebens-
kraft zeichnet die gerade im Anfange des neunzehnten Jahrhundei-ts
sehi- zahlreich erschienenen physiologischen Lehr- und Handbücher
deutscher Autoren aus, so Blumenbachs (1752—1840, Professor
364 Heinrich Bor utt au.
der Medizin in Göttigen, bedeutender Naturforscher, Begünder der
modernen Anthropologie, hielt die ersten Vorlesungen über
vergleichende Anatomie) Institutiones physiologicae (Göttingen 1787),
G. R. Treviranus' [Bremen 1776— 1837 J „Biologie" oder die „Philo-
sophie der lebenden Natur", Gott. 1802—22; letzteres Werk von
grosser Bedeutung für die spätere Entwicklung der allgemeinen Phy-
siologie, resp. des zusammenfassenden Bandes der biologischen Wissen-
schaften, wogegen des Italieners Stefano Gallini (1756—1836,
Professor in Padua) allgemeine Physiologie und Pathologie („Intro-
duzione alla fisica del corpo umano sano ed ammalato", Padua 1802;
„Nuovi elementi della flsica ecc, ebenda 1818) mehr für die Ein-
teilung und Methodologie der Physiologie und insbesondere der allge-
meinen Pathologie grundlegend ist. Das Bestreben einer wenigstens
relativen Objektivität muss immerhin zuerkannt werden dem
„Handbuch der empirischen Physiologie .1. H. Ferdinand
von Anten rieths (Tübingen 1801 — 02), des grossen Tübinger
Anatomen, Physiologen, Pathologen und Klinikers (1772 — 1835),
welcher auch vom 7, bis zum 12. Bande — 1807 — 1814 — an der
Herausgabe von E e i 1 s Archiv (s. oben) teilnahm ; ferner des um die
Entwicklungsgeschichte so verdienten Bayern Ignaz Döllinger
(1770—1841) „Grundriss der Naturlehre des menschlichen
Organismus", Bamberg 1805, und endlich dem unvollendet ge-
bliebenen „Grundriss der Physiologie" (Berlin 1821 — 28)
C. A. Eudolphis [1771—1832, Professor in Rostock und Berlin], des
verdienten Lehrers von Johannes Müller,
Der Ruhm, dem physiologischen Experiment wieder zu der
Bedeutung, welche ihm Harvey und Hall er einst gegeben hatten,
verholfen und es auf die Grundlage absoluter „Voraussetzungslosig-
keit" gestellt zu haben, gebührt zwei Nichtdeutschen, in erster Linie
wohl dem Franzosen Magendie.
Fran^ois Magendie, geb. am 6, Okt, 1783 in Bordeaux, studierte in
Paris, wurde 1801 Interne, dann Prosektor bei dem Anatomen Boyer, 1808
Doktor mit der These „sur les usages du voile du palais et sur la fracture
des cotes", 1826 Arzt an der Salpetriere, 1836 an Recamiers Stelle Pro-
fessor am College de France und Arzt am Hotel-Dieu, sowie Vizepräsident
der Ak. der Wissenschaften, starb am 7. Okt. 1855 in Sannois bei Paris,
Physiologische Hauptwerke: „Precis elementaire de physiologie'^, zuerst Paris
1816. „Anatomie des systemes nerveux des animaux ä vertebres, apj)liquee ä la
Physiologie et ä la Zoologie", Paris zuerst 1821. „Le^ons sur les phenomenes
2)hysiques de la vie", Paris 1835 — .38. „Legons sur les fonctions et les maladies du
Systeme nerveux, redigees par C. James'^, Paris 1839.
Bereits im Jahre nach seiner Promotion trat Magendie in einer
kleinen Schrift „Quelques idees gönerales sur les phenomenes parti-
culiers aux corps vivants", Bulletin des sciences medicales, 1809, T, 2,
aufs energischste gegen die herrschende Lehre von der
Lebenskraft, welcher er vorwarf, dass sie nur ein Wort gebe für
das unbekannte, noch zu erklärende, sowie dass von einer einheit-
lichen Lebenskraft gar nicht die Rede sein könne, dass es vielmehr
sich um eine ganze Reihe von Eigenschaften der verschiedenen Organe
handele (Kontraktitität, Sensibilität u. s. w,), deren Erklärung im ein-
zelnen auf der Grundlage der Physik und Chemie experimentell
erfolgen müsse. Et hat sich in der That von dieser Zeit ab vor-
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 365
wiegend mit T i e r v e rs u c h e n beschäftigt, welche der Phj'siologie,
der Pathologie und der Pharmakologie in gleich hervorragender Weise
zu gute gekommen sind. In Bezug auf die erstrebte Yoraussetzungs-
losigkeit, wie auf das Bestreben, möglichst einfache physikalische
und chemische Erklärungen scheinbar verwickelter Phänomene zu
geben, schoss er freilich oft weit über das Ziel hinaus; er perhorres-
cierte die historische Forschung, kümmerte sich so gut wie gar nicht
um die frühere Litteratur und trat den Anschauungen seiner Zeit-
genossen mit einem bisweilen übertriebenen kritischen Sarkasmus ent-
gegen. Seine im Jahre 1836 im College de France abgehaltenen
..Legons sur les phenomenes physiques de la vie", im Druck erschienen
1839 in Paris, sind in jeder Beziehung charakteristisch für die Vor-
züge wie für die Schwächen dieses grossen Meisters der Experimental-
physiologie. Physiologisches, Pathologisches und Klinisches ist hier
an der Hand des Tierexperimentes wie des gerade verfügbaren klini-
schen und Autopsiematerials in zwangloser Reihenfolge, ja manchmal
buntem Durcheinander besprochen; manches mutet uns jetzt höchst
bedenklich an. Die Besprechung der Resorptionswege, der Haut-
poren und der physikalischen Eigenschaft der „Imbibition" der Ge-
webe führt Magendie zu der Behauptung, dass auch die von ihm
für flüssig gehaltenen Krankheitsvirus durch Imbibition aufgenommen
würden, wogegen die geringe Quellungsfähigkeit der Epidermis
schütze; er leugnet daher die ,.Kontagiosität" der meisten für
ansteckend erklärten Krankheiten, wie Flecktyphus, Cholera, Pest,
Gelbfieber u. s. w., im Sinne der damaligen Vorstellungen mit Recht,
angesichts des wirklichen [heutzutage erkannten] Sachverhalts mit
einer höchst gefährlichen Ueberzeugungstreue ! Auf Grund physika-
lischer Versuche an flüssigkeitsgefüllten Glasröhren mit eingebundenen
Herzklappen leugnet er die Entstehung der Herztöne durch den
Klappenschluss und will sie durch Anschlagen des Herzens an die
Brustwände erklären; daher angeblich ihr Verschwinden bei Hydro-
perikard u. s. w. Andererseits finden wir eine musterhafte experimen-
telle Hämodynamik, unterstützt durch die systematische Anwendung
des von Poiseuille zur Blutdruckmessung eingeführten u-förmigen
Quecksilbermanometers („hemodj-namometre") und die Berücksichti-
gung der ausgezeichneten physikalischen Untersuchungen dieses Ge-
lehrten über die Flüssigkeitsströmung in Röhren.
Jean Louis Poiseuille, Paris 1799 — 1869, promovierte 1828 mit der
These ..Recherches sur la force du coeur aortique", welche ebenso wie seine
„Recherches sur les causes du mouvement du sang dans les veines" (1832)
preisgekrönt wurde. Mitglied der Acad. de medecine seit 1842.
Sonst IC ichtige Schriften: „Recherches sur les causes du mouvement du sang
dans les capillaires" {1829) und „Recherches sur les liquides dans les tubes de petit
diametre" {1844).
Vor allem gross und musterhaft ist Magendie in der experimen-
tellen Untersuchung wie klinischen und pathologischen Belegung der
Funktionen des Nervensystems. Im Jahre 1822 publizierte er
in dem von ihm begründeten ..Journal de Physiologie exp. et pathol."
[11 Bände, 1821 — 1831] ^) die Ergebnisse seiner Versuche an jungen
Hunden, welche ihm zeigten, dass Durchschneidung der vorderen
>) T. 2, 1822, p. 276 u. 366.
366 Heinrich Boruttau.
Wurzeln des Rückenmarks die betreffende Extremität
resp. Körperhälfte bewegungslos, bei erhaltener Empfin-
dung, macht, und Durchschneidung der hinteren Wurzeln
umgekehrt Empfindungslosigkeit, bei erhaltener Be-
weglichkeit auf schmerzhafte Reizung anderer Teile,
erzeugt. Reizversuche waren weniger eindeutig, indem von allen
Stümpfen aus seien es Schmerzäusserungen, seien es Bewegungen zu
erzielen waren. Also ergänzte sich die Bei Ische Entdeckung zu
dem auch heute noch gültigen „B eil- Magendi eschen Gesetz",
dass die vorderen Wurzeln vorwiegend motorische, die hinteren
Wurzeln vorwiegend sensible Funktionen besitzen. Nachdem Fod^ra
[Michele, Italiener, wirkte in Paris], der ältere Beclard [1785 —
1825], Bellingeri, Backer in Utrecht u, a. denselben Gegenstand
mit wechselnden Ergebnissen behandelt hatten, kam im Jahre 1831
Johannes Müller,^) von dessen grundlegenden Verdiensten um
die deutsche Biologie des neunzehnten Jahrhunderts bald die Rede
sein wird, auf Grund von wesentlich an Fröschen angestellten Ver-
suchen (Durchschneidung der hinteren Wurzeln auf der einen und der
vorderen Wurzeln auf der anderen Seite) zu imgeiähr den gleichen
Ergebnissen wie Magendie, doch erschienen ihm die hinteren
Wurzeln in Reizversu^hen als ausschliesslich sensitiv. Erst 1839 ent-
deckte und erklärte Magendie-) die „sensibilite recurrente"
der vorderen Wurzeln durch die Anastomosenbildung; der Verlauf
von vasomotorischen, visceralen, sekretorischen u. s. w. Fasern in jeder
von beiden Wurzelarten konnte erst in viel späteren Zeiten unter-
sucht werden und ist bekanntlich z. T. noch heute streitig.
Zugleich mit Magendies Verdiensten um die Nervenphysiologie
müssen genannt werden diejenigen von Flourens.
M. J. P. Flourens, geb. den 24. April 1794 bei Beziers (Herault)
war bis 1848 Professor der vergleichenden Anatomie in Paris, später
Sekretär der Akad. der Wiss. und Pair von Frankreich, lebte seit 48 als
Privatmann, starb am 5. Dezember 1867. Er ist im übrigen verdient durch
seine embryologischen Arbeiten, speziell Knochenentwicklung, eine Ge-
schichte der Entdeckung des Blutkreislaufs (18.57) und ein Buch über „la
Longevite humaine" 1855.
In seinen zuerst 1824 erschienenen „Recherches experimentales
sur les proprietes et les fonctions du Systeme nerveux dans les animaux
vertebres" (auch deutsch von Becker) und deren 1825 erschienene
Fortsetzung „Experiences sur le Systeme nerveux" ist der Lokalisations-
gedanke der leitende Faden. Flourens sieht in den Grosshirn-
hemisphären das Organ des bewussten Empfindens und Wollens; die
Koordination der Bewegungen dagegen verlegt er auf Grund zahl-
reicher, alle früheren an Exaktheit übertreffenden Tierversuche und
klinischen Beobachtungen indasKleinhirn. Hiermit im Zusammen-
hang steht seine berühmte Entdeckung der lokomotorischen Ko-
ordinationsstörung nachLabyrinthexstirpation bei Tauben
[in den Memoires de l'Acad. des Sciences 1828]. Am bekanntesten
wohl ist aber seine 1837 angestellter Versuch der Lokalisation des
Atemcentrums in der Medulla oblongata, indem er auf Ausstanzung
?
Frorieps Notizen 1831, S. 113.
Lebens sur les fonctions nerveuses, T. 2, p. 153.
I
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 367
einer kleinen Partie an der Spitze des Calamus scriptorius die Atmung
plötzlich sistieren und die Tiere sterben sah, weshalb er diese Stelle
den Lebensknoten („Noeud vital") nannte (veröffentlicht in der
zweiten Ausgabe der „Recherches experim. etc.", Paris 1842, Man
ist, wie wir sehen werden, seitdem von dieser engbegrenzten Lokalisation
wieder abgekommen. Wir haben bereits früher gesehen, wie ältere
Erfahrungen über die zweckmässigen Bewegungen geköpfter Kalt-
blüter u. s. w. zur richtigen Erkenntnis der BedeutungdesRücken-
markesimReflexmechanismus vorbereitet hatten : die definitive
Erkenntnis der Funktion der vorderen und hinteren Wurzeln bildet
eine weitere Brücke hierzu: die endliche Darstellung des Reflex-
mechanismus knüpft sich an den Namen des Engländers Mars hall
Hall [geb. 1790 in Nottinghamshire, studierte und promovierte in
Edinburgh, bereiste Frankreich und Deutschland bis 1815, praktizierte
dann als Arzt in Nottingham, von 1826 ab in London, starb 1857 am
Oesophaguskrebs]. Dieser reichte 1833 der Royal Society eine Ab-
handlung ein „Thereflex functionofthemedullaoblongata
and medulla spinalis", welcher im Jahre 1837 eine zweite folgte
„The true spinal marrow and excitomotory System of nerves", in
welcher er die Ansicht aufstellte, dass es neben den eigentlich sen-
siblen, die Empfindungen zum Gehirn leitenden Nervenfasern noch
eine besondere Art nur bis zum Rückenmark leitender und durch
dessen Vermittlung die Reflexbewegungen erregender — „excito-
motorischer" Fasern gebe, was er später auch auf die Visceral-
bewegung ausdehnte (Sphinktererschlaffung , „diastaltisches Nerven-
system"). Im wesentlichen richtig hat Marshall Hall die Wirkung
des Strychnins auf das Rückenmark dargestellt, wogegen er in
seinen übrigens sehr fruchtbaren Untersuchungen über die Epilepsie
dem Rückenmark eine übertriebene, dem Grosshirn eine nur sekundäre
Bedeutung zuwies und als Gegner nicht nur der G all sehen Phreno-
logie sondern jeden Lokalisationsgedankens, der weiteren
Hirnforschung in diesem Sinn gewissermassen hinderlich geworden ist.
Ohne in den Fehler der Annahme eines besonderen excitomoto-
rischen Nervensystems zu verfallen, und völlig unabhängig von
M a rshall Hall gelangte gleichzeitig zum richtigen Verständ-
nis des Reflexmechanismus und der Bedeutung des
Rückenmarks für denselben unser grosser Johannes Müller*);
auf dessen weitere Verdienste um die Nervenphysiologie (Sympathicusj
soll weiter unten eingegangen werden. Die Vorbedingung für die
weitere genaue Würdigung des Rückenmarks in seiner Doppel-
rolle als Reflexvermittler und als Leitungsapparat zum
und vom Gehirn musste nunmehr die Untersuchung der Funktion der
einzelnen Anteile dieses Organs sein; hierum vor allem hat sich ein
weiterer Forscher französischer Nationalität verdient gemacht, nämlich
L 0 n g e t.
Frangois Achille Longet, geb. 1811 in St. Germain en Laye, 1835 in
Paris promoviert, Dozent für Experimentalphysiologie daselbst, 1844 Mitglied
der medizin. Akademie, starb 1871 in Bordeaux, wohin er geflüchtet.
Dieser wies im Jahre 1841 in seinen „Recherches sur les
proprietes et les fonctions des faisceaux de la moelle
') a. a. 0.
368 Heinrich Boruttau.
6 p i n i e r e" u. s. w. (mit den Monthyon-Preis gekrönt) auf experi-
mentellem Wege, wie auf Grund klinisch-anatomischer Erfahrungen
(Degeneration) nach, dass die weissen Vorderseitenstränge
die willkürliche Bewegung, die Hinterstränge dagegen
die Empfindung vermitteln; später fasste er in einem gleich-
falls preisgekrönten klassisch gewordenen Werke „Anatomie et
Physiologie du Systeme nerveux de l'homme et des animaux vertebres
(2 Bde. und vorzügliche Tafeln, Paris 1843/46) die damaligen Kennt-
nisse über das Nervensystem zusammen, ein Unternehmen, welches
in gleichem Umfange bis auf den heutigen Tag noch nicht wieder-
holt worden ist. Die Unterscheidung der Funktion der vorderen und
hinteren Rückenmarksstränge erfolgte übrigens gleichzeitig und un-
abhängig auch durch van Deen (1804 — 1869, eigentlich Isaak
Abrahamsohn aus ßurgsteinfurt, studierte in Kopenhagen, promo-
vierte in Leyden, seit 1851 Professor der Physiologie in Groningen
und Begründer des dortigen physiolog. Instituts], dem allerdings ihre
isolierte Reizung noch nicht recht glücken wollte; die weitere Ent-
wicklung der Physiologie des Nervensystems von hier ab kann füglich
erst nach Besprechung der Entdeckung der Ganglienzelle und der
Begründung der Zellenlehre erörtert werden, welche die Voraussetzung
für die richtige Deutung dieser Entdeckung und die weitere histo-
logische Bearbeitung dieses Gebietes bildete. Von Longets Arbeiten
sei hier gleich noch erwähnt, dass er in seinen „Recherches sur les
fonctions des muscles et des nerfs du larynx" und anderen Abhand-
lungen unsere modernen Kenntnisse von der Innervation
des Kehlkopfes begründet hat; er arbeitete ferner über die
Klassifikation der Hirnnerven, [deren man bis dahin 9 oder 10 Paare
zählte, der Vago-accessorius war das 8.], über die spezifische Reiz-
barkeit der Muskelsubstanz und vieles andere und gab 1850—52 ein
grösseres französisches Handbuch der Physiologie heraus
(Traite de physiologie, 4. Aufl. 1873, 3 Bde.).
War in Frankreich Magendie als Neubegründer der
Experimentalphysiologie erstanden, so wirkte als erster im
gleichen Sinne auf deutschem Sprachgebiet der Czeche
Purkinje.
Job. Evangelista Purkyne, geb. am 17. Dezember 1787 in Libochowitz
bei Leitmeritz, bereitete ßich erst zum Geistlichen vor, studierte aber dann
in Prag Medizin, wurde anatomiscli-physiologis^cher Assistent daselbst bei
Rottenberger und Ilg, promovierte 1819 mit der Aufsehen erregenden Disser-
tation „Beiträge zur Kenntnis des Sehens in subjektiver Hinsicht", welche
ihm die Freundschaft und Protektion Goethes verschaffte. 1823 wurde er
als ordentlicher Professor der Physiologie und Pathologie nach Breslau be-
rufen, wo er das erste selbständige physiologische Institut begründete und
bis 1849 wirkte. In diesem Jahre Hess er sich, nachdem schon vorher
czechischer Nationalpatriotismus stark bei ihm vorgetreten war, nach Prag
in eine gleiche Stellung berufen, gründete auch hier ein physiologisches
Institut, sowie die czechische naturwissenschaftliche Zeitschrift „Ziva". Er
trat 1867 wegen hohen Alters von der Professur zurück und starb 1869
am 28. Juli.
Physiologisch ivichtige Schriften ausser obiger Dissertation : „De examine phyaio-
logico organi visus et systematis cutanei", Breslau 1823.
„Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der Sinne: Neue Beiträge zur
Kenntnis des Sehens u. s. tt?.", Berlin 1825.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 369
„Beiträge ztir Kenntnis des Schwindels'" 1820. „De plmenomeno etc. motus
ibratorii continui in niembranis etc.", mit Valentin, Breslau 1835. Ausserdem
viele Dissertationen unter seiner Leitung, Mitteilungen in den Krakauer Annalen,
in Müllers Archiv [siehe unten) und anderen Zeitschriften, sowie Artikel in Rudolphi
und Wag7iers Handbüchern u. s. to. Vgl. noch den bibliograph. Anhang.
Purkinjes Verdienst ist die Begründung der experimen-
tellen Erforschung der Sinnesphysiologie, speziell des
Gesichtssinnes, zunächst in subjektiver Richtung: Beobachtung der
nach ihm benannter Aderfigur, der Druck- und galvan. Durch-
strömungsphosphene, des ..Pur kinj eschen Phänomens",
dass zwei verschiedenfarbige mit gleicher Intensität beleuchtete
Flächen verschieden hell erscheinen; — doch auch in objektiver
Hinsicht: die Beschi-eibung der nach ihm benannten Flammen-
bildchen im Auge; auch akustische Beobachtungen (Abhören der
Chladnischen Klangfiguren mit dem Hörrohi') gehören hierher.
Von ihm stammt ein Grundbegriff der allgemeinen Sinnes-, Nerven-
und Muskelphysiologie, die „Reizschwelle". Er entdeckte zu-
sammen mit Valentin (s. unten) 1835 die kontinuierliche Flimmer-
bewegung an Schleimhäuten und wies ihre Unabhängigkeit vom
Centralnervensystem nach. Zahh-eich sind seine Verdienste um die
Entwicklungsgeschichte (Entdeckung des Keimflecks u. a.),
und von phj'siologischer Bedeutung seine mikroskopischen Unter-
suchungen speziell des Nervensystems : Auf der Prager Xaturforscher-
versammlung 1837 teilte er Beobachtungen über den Bau der Nerven-
faser mit und gebrauchte zuerst die Bezeichnung des
,.Achsency linders" für deren centrales Gebilde, welches er für
flüssig hielt (Remaks „Achsen band"), some über die „Ganglien-
körper" oder ,.Ganglienkugeln", wie sie ihr erster Beobachter
Ehrenberg 1833 genannt hatte, und sprach sich für ihre Bedeutung
als Centralorgane aus. Ebendaselbst hatte er auch auf die ,.Kern-
gebilde" als Grundsubstrat („Enchym") aller Drüsen hingewiesen
und deren Analogie mit den Kernen der Pflanzenzellen erwähnt, wes-
halb ihm wohl auch die Priorität vor Schwann als Begründer der
tierischen Zellenlehre zugeschrieben worden ist. ja er selbst die Grund-
idee in einer Besprechung von Schwanns Buch (s. u.) 1839 auch
für sich in Anspruch nahm. Weitere Verdienste Purkinjes um
die Anatomie des sympathischen Systems und die Physiologie der
Verdauung werden noch an entsprechender Stelle erwähnt werden.
Eine „Schule" im eigentlichen Sinne des Wortes hat Purkinje
nicht begründet, indessen hat die Physiologie seinem begabtesten
Schüler und Mitarbeiter Valentin manches zu verdanken.
Gabriel Gustav Valentin, geb. den 8. Juli 1810 in Breslau, promovierte
daselbst 1832 mit der Dissertation „Historiae evolutionis systematis mus-
cularis prolusio", wurde 1836 als ordentlicher Professor der Physiologie
nach Bern berufen, von welchem Amte er infolge Schlaganfalls 1881 zurück-
trat, starb am 24. Mai 1883.
Er schrieb höchst wichtige Bücher zur Entiiicklungsgeschichfe, zahlreiche Einzel-
abhandlungen in den verschiedensten Archiven und Zeitschriften, gab 18.36— 184.H
den ersten selbständigen Jahresbericht, das „Repertorium für Anatomie und Physio-
logie" heraus, 1844 ein grosses Lehrbuch der Physiologie (Braunschw.. 2 Bde.),
2 Jahre späte}' einen ,^Grundriss"^ (ebenda 1846). Von seinen Einzelarbeiten wird
bei Gelegenheit noch die Rede sein.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 24
370 Heinrich Boruttau.
Etwas jünger als M a g e n d i e einerseits und Purkinje anderer-
seits, doch mit ihnen gleichzeitig wirkend tritt uns ein Mann ent-
gegen, dessen geniale, gründliche und vielseitige
Forschung und dessen Beispiel und Lehrthätigkeit
Deutschland den ersten Platz in der Experimental-
physiologie der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
gesichert hat — Johannes Müller.
Johannes Müller wurde als Sohn eines Schuhmachers in Coblenz am
14. Juli 1801 geboren, schon während seiner Schulzeit durch den damaligen
Coblenzer Schulrat und späteren vortragenden Kat im preussischen Kultus-
ministerium Joh. Schultze „entdeckt" und in jeder Weise gefördert, studierte
1819 in Bonn, erwarb sich den Fakultätspreis mit der Arbeit „De
respiratione foetus" (im Druck erschienen 1823), promovierte 1822 mit
der Dissertation „De phoronomia animalium" (unter Benutzung einer in
demselben Jahre in Okens „Isis" veröffentlichten Abhandlung „Beobach-
tungen über die Gesetze und Zahlenverhältnisse der Bewegung in den ver-
schiedenen Tierklassen". Dann ging er mit ministeriellen Unterstützungen
nach Berlin, wo er in nähere Beziehungen zu Rudolph! (s. oben) trat, bei
diesem sich eifrig mit Anatomie und Physiologie beschäftigte und 1824 das
medizinische Staatsexamen ablegte. Noch im selben Jahre habilitierte er
sich in Bonn als Privatdozent, wurde 1826 ausserordentlicher und 1830
ordentlicher Professor. Durch Schultzes Einfluss beständig unterstützt (Er-
holungsreise nach einer Nervenerkrankung infolge Ueberarbeitung 1827),
wagte er nach dem Tode seines Lehrers Eudolphi 1833 in einem Schreiben
an den Minister Altenstein sich selbst zu empfehlen und wurde auch im
selben Jahre ordentl. Prof. der Anatomie und Physiologie, Direktor des
anatom. Theaters und anatom.-zoolog. Museums in Berlin, welche Stellung
er bis zu seinem trotz eingetretener Kränklichkeit ziemlich plötzlichen Tode
am 28. April 1858 bekleidete.
Physiologisch wichtige Schriften ausser den bisher schon erwähnten: „Zur ver-
gleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Tiere'^ u. s. v..
Leipz. 1826. — „ Ud)er die pJmntastischen Gesichtserscheinungen", Coblenz 1826. —
„Gh'undriss der Vorlesungen über Physiologie", Bonn 1827. — „De Glandularuin
secernentium structura 2}cnitiori earumque prima formatione etc.", Leipz. 1830. —
„Bildungsgeschichte der Genitalien" u. s. tu., Düsseldorf 1830. — „Handbuch der
Physiologie des Menschen für Vorlesungen", 1. Band zuerst Coblenz 1833/34, letzte,
4. Aufl. ebenda 1841144; 2. Band einzige Auflage, ebenda 1837 — 1840. Ausserdem
zahllose kleinere Abhandlungen in Handbüchern, Zeitschriften und Archiven.
Joh. Müllers grosse Bedeutung liegt einmal in seinem un be-
irrten Streben nach Objektivität, in welchem er sich anfangs
von den grundlegenden Irrtümern der Naturphilosophie allmählich zu
Besserem bekehren lassen musste (Einfluss R u d o 1 p h i s u. a.) : nach d u
Bois-Reymonds Aeusserung in seiner klassischen Biographie J o h.
Müllers^) das Charakteristikum des wahren Reformators (z. ß.
Luther), weiterhin aber in seiner fast universellenVielseitig-
keit, welche alle Gebiete der gesamten biologischen Wissenschaften
beherrschte und durch eigene Arbeiten förderte; durch diese beiden
Eigenschaften hat er, auch ohne eine oder mehrere bestimmte Ent-
deckungen zu machen, welche auf einem Spezialgebiet selbständig
epochemachend gewirkt hätten, der gesamten biologischen Forschung
bis weit über Deutschlands Grenzen hinaus für alle Zukunft die
^) Abh. der Berl. Ak. d. Wissensch., Jahrg. 1859, hier spez. S. 86. 87.
Geschichte der Physiologie in iht-er Anwendung auf die Medizin etc. 371
richtigen Wege gewiesen. Umfassend wie seine forschende und
lehrende, war auch seine litterarische Thätigkeit; nachdem er schon
vorher für viele Zeitschriften u. s. w. selbständige wie referierende
Beiträge geliefert, solche insbesondere einem bei dieser Gelegenheit
speziell zu erwähnenden, von entschiedenem Streben nach Objektivität
geleiteten, doch aber immer noch nicht von naturphilosophischen
Banden freien Unternehmen zugewendet hatte, nämlich des älteren
B u r d a c h [K a r 1 F r i e d r i c h . 1776 — 1847, Prof. in Dorpat und Königs-
berg] großem Werke „Die Physiologie als Erfahrungswissen -
Schaft'' (6 Bände, Leipzig 1826— 1840), ließ er auf seine kleinen Grund-
risse der Physiologie und der allgemeinen Pathologie (1827 und 1829) sehr
bald sein berühmtes ..Handbuch der Physiologie" folgen,
ein Werk, welches als erstes des Vergleiches mit Hallers
Elementa wiederum würdiges Werk mit Eecht gepriesen
worden ist, wenngleich weder die Vollständigkeit des Inhalts, insbe-
sondere der Litteratur, noch die Form der Darstellung an Haller
heranreichen. Nach dem Tode des grossen vergleichenden Anatomen
.T. F. Meckel des jüngeren [1781 — 1833], welcher als Fortsetzung
des Eeilschen „Archivs für die Physiologie" (die späteren Bänden
mit Autenrieth, vgl. oben) vom Jahre 1815 ab das „deutsche Archiv
für [Anatomie und] Physiologie" herausgegeben hatte, übernahm 1834
Johannes Müller die Weiterführung desselben, welche unter dem
Titel „Archiv für Anatomie, Physiologie und wissen-
schaftliche Medizin" erfolgte und fügte demselben alsbald einen
mit ihm verbunden bleibenden „Jahresbericht über die Fort-
schritte der Anatomie und Physiologie (im Jahre 1833)" bei, nach-
dem er früher für die zwei Jahre 1824 und 25 den Jahresbericht der
schwedischen Akademie der Wissenschaft über die Fortschritte der
Anatomie und Physiologie der Tiere und Pflanzen übersetzt und mit
Zusätzen herausgegeben hatte. In der Einleitung seines Handbuchs
zeigt sich Joh. Müller als unbedingter Anhänger der Lehre
von der „Lebenskraft", welche als gewissermassen personifi-
ziertes Agens mit absoluter Kenntnis der Gesetze der Physik und
Chemie die Lebensfunktionen leiten, mit diesen aber durchaus nicht
zu identifizieren sein sollte. Trotz der von seinen eigenen Schülern
in diese Lehre gelegten Breschen ist M tt 1 1 e r Zeit s e i n e s L e b e n s
Vitalist geblieben: vielleicht war es ein Rest der anfänglich
von ihm betretenen naturphilosophischen Richtung, welcher haften
geblieben war, einer Richtung, die als wertvollere Folge eine im
wahren Sinne des Wortes philosophische, d. h. logisch ver-
bindende und zusammenfassende Behandln ngsweise der bio-
logischen Disziplinen gefördert hatte, sowie auch ein stetes
Interesse für die Avissenschaftliche Psychologie [siehein
seinem Handbuche den Abschnitt über Gehirn und Seelenleben],
deren einzig richtige Grundlage Johannes Müller be-
reits in den Thesen zu seiner Dissertation mit den
klassischen Worten „Nemo psychologus nisi physio-
logus" für alle Zeiten festgelegt hat, — und das zu einer
Zeit, wo er selbst noch die einfache Beobachtung weit über das
Experiment stellte! Es hing wohl mit dieser Jugendrichtung zu-
sammen, dass seine ersten wichtigen Arbeiten grossenteils die
Sinnesphysiologie betreifen, und zwar zunächst das subjektive
(„Phantasmen"), später auch das objektive (vergleichende Physiologie
24*"^
372 Heinrich Boruttau.
des Gesichtssirines) speziell des Gesichtssinnes, doch in so glänzender
Weise bearbeitet, dass diese Untersuchungen zusammen mit den-
jenigen Purkinjes ein würdiges Vorspiel der Glanzleistungen von Helm-
holtz und Hering bilden. Was die Verdienste Müllers um die
Nervenphysiologie betrifft, so ist von der Reflexlehre schon
oben die Rede gewesen ; andere Arbeiten betreffen das sympathische
System und zwar besonders seine Beziehungen zu den Geschlechts-
organen und zur Erektion, \) deren Mechanismus übrigens Müller
durch die Entdeckung der Arteriae helicinae -) aufgeklärt zu haben
glaubte — leider zu früh; auch Untersuchungen über dem Sym-
pathicus analoge Nervengebilde ^) und über die Geschlechtsorgane und
ihre Entwicklung bei verschiedenen Tierarten liegen vor und bilden
nur ein weniges von dem vielen, was Müller auf dem Gebiet der
vergleichenden Physiologie geleistet, und womit er der Er-
forschung des Lebens neue Wege gewiesen : war ihm doch jede
Methode recht, welche zum Ziel führt, und war kein Gebiet
für ihn ohne Interesse. Mangelhaft erscheint uns jetzt die Dar-
stellung der allgemeinen Muskelphysiologie in seinem Handbuch, wo-
gegen er wieder die spezielle bereichert hat durch die Entdeckung
der „Kompensation" bei der Stimmbildung im Kehl-
kopf*) [d. h. der Einstellung der Stärke der Exspiration und der
Stimmbandspannung für jede Note bei verschiedener Lautheit], dessen
physikalische Natur als membranöse Zungenpfeife von
ihm zuerst richtig dargestellt worden ist. Die Zirkulationslehre
hat er durch die Entdeckung der Lymphherzen beim Frosche^)
bereichert; für die Kenntnis der Drüsen und des Sekretions-
vorgangs durch die hier wie sonst bei ihm so erfolgreiche An-
wendung des Mikroskops bahnbrechend gewirkt, indem er („de
glandularum secernentium structura", s. oben) ihnen mit einem Kapillar-
netz umgebene spezifische Wandungen (der Bläschen oder
Schläuche) zuschrieb, mit für jede Drüsenart spezifischer
Fähigkeit bestimmte Stoffe aus dem Blute zu entnehmen;
noch kannte er damals nicht die von seinem Schüler Schwann ent-
deckte tierische Z e 1 1 s t r u k t u r , für weche Entdeckung er übrigens
ebenso gut wie Purkinje zum Vorläufer wurde durch die Be-
schreibung der Knorpelkerne gelegentlich seiner pathologisch-
anatomischen Studien über die Enchondrome und andere Neubildungen,
auf welche hier leider ebensowenig näher eingegangen werden kann,
wie auf seine zahllosen rein zoologischen Arbeiten , welche
beginnend mit seiner vergleichenden Anatomie der Myxinoiden (1834)
in seiner Berliner Zeit immer mehr, in den letzten Jahren ausschliess-
lich in den Vordergrund traten und ihm ausser seiner speziell physio-
logischen Bedeutung noch zu einem der grössten Zoologen, zum Ri-
valen Cuviers gemacht haben. In der Entwicklungsgeschichte
ist sein Name unsterblich geworden durch den „Müll er sehen Gang",
den rudimentären Ovidukt des Mannes. *)
') Physika!. Abh. der Berl. Akad., Jg. 1835, S. 93.
*) Müllers Arch., 1836. S. 202.
3) Verf. der Leop.-Carol. Ak. VI, 1, S. 71 ; 1829.
*) Ueber die Kompensation der physischen Kräfte am menschl, Stimmorgan u. s. w.
Berlin 1839.
•■*) Müllers Archiv, Jahrg. 1834, S. 296 (schon 33 engl, in den Phil. Trans.).
") Bildlingsgeschichte der Genitalien, Düsseld. 1830.
I
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 373
Endlich fehlt es auch nicht an chemischen Arbeiten Müllers,
z.B. mit Schwann über die Verdauung',^) u.v.a., so dass es bei
solcher Vielseitigkeit nicht Wunder nehmen darf, dass im Laufe der
Thätigkeit der vielen bedeutenden Schüler, welche Joh.
Müllers Lehrthätigkeit anzog [u. a. du Bois-Eeymond, Brücke,
Claparede, Häckel, Helmholtz, Henle, Lieberkühn d. j.,
Remak, Schwann, Max Schnitze, Virchow] aus seiner
..Schule" mehrere Schulen oder vielmehr Arbeitsrich-
tungen abzweigten, welche wir fügUch einteilen können in die
histologische, die physikalisch-experimentelle und die
chemische Richtung, eine Spezialisierung der Physiologie um
die Mitte des Jahrhunderts, zu welcher sicher beigetragen hat die
Thätigkeit einiger hervorragender Zeitgenossen Johannes
Müllers, denen wir uns zunächst zuwenden müssen.
Hier sind als Pioniere der physikalischen Physiologie
zunächst die drei Brüder Weber zu nennen, zwei Physiologen
und Anatomen (der älteste und jüngste), ein Physiker (der mittlere),
alle drei Söhne des ,.frommen Biedermannes". Theologieprofessors in
Wittenberg. Michael W^eber (7 1833).
1. Ernst Heinrich Weber, geb. 24. Januar 1795, promovierte
1815 in Wittenberg, habilitierte sich mit den Dissertationen „De systemate
nerveo organico" und „Anatomia comparatu nervi sympathici" 1817 in
Leipzig, wurde 1818 Extraordinarius für vergl. Anatomie daselbst, 1821
Ordinarius für Anatomie und Physiologie, gab letztere 1866, erstere 1871
Alters halber auf, starb am 26. Januar 1878.
Seine physiolog. und anatom. Schriften, meist als Programme erschienen, sind
gesammelt als ,,Annotationes anatomicae et physiolog icae'-', Leipz. 1851; sonst ist zu
criL-ähnen der Artikel „Tastsinn und Genteingefühl" in Rnd. Wagners Handwörter-
hitch (s. später), die Bearbeitung von Hildebrands und von Rosenmüllers Anatomie-
büchern; von seinen Anteilen an der „Wellenlehre'''' loird unten die Rede sein.
2. Wilhelm Ed. Weber, der berühmte Physiker, geb. am 24. Okt.
1804, 1826 promoviert, von 1831 bis 1837 (Absetzung als einer der
-Gröttinger Sieben") und wieder von 1848 bis zu seinem Tode Ordinarius
der Physik in Göttingen, gest. am 25 Juni 1891.
Hier soll nur auf seinen physiJcal.-mathem. Einfiuss au f die Arbeiten der anderen
Brüder, sowie seine Beteiligung an der „Wellenlehre-', mit E. H. Weber, 1825 in
Leipzig erschienen, und an der ,.Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge", mit
Eduard Weber, 1837 in Göttingen erschienen, hingewiesen tcerden.
3. Eduard Fr. Wilh. Weber, geb. 6. März 1806, promovierte in
Halle 1829. praktizierte erst, wurde 1836 Prosektor bei seinem älteren
Bruder in Leipzig, habilitierte sich 1837 mit der später noch zu erwähnen-
den Schrift „Quaestiones physiologicae de phaenomenis galvano-magneticis
in corpore humano observatis", wurde 1847 Extraordinarius, starb am
18. Mai 1871.
Er schrieb den Artikel ,.Muskelbeicegung" in Wagners Handwörterbuch, gab mit
Wilh. Weber die „Mechanik der menschl. Gehwerkzeuge-" heraus u. a. m.
Diesen drei Brüdern gebührt das unsterbliche Ver-
dienst, die moderne, exakte, in allen Teilen mathema-
tisch bearbeitete Physik mit früher ungeahntem Er-
folge auf die differenzierten Funktionen der Organe
') Müllers Arch.. 1836. S. 66.
374 . Heinrich B,orattau.
und Systeme des höheren Organismus angewendet zu
haben. Die „Wellenlehre, begründet auf Experimente," Ernst
Heinrichs und Wilhelms wurde in gleicher Weise grundlegend für
die Hämodynamik — Entstehung und Fortpflanzung der Puls welle als
„Schlauchwelle" — , wie auch für die physiologische Akustik, die Ein-
führung der Elastizitätslehre in die allgemeine Muskel-
physik durch E d u a r d AV e b e r wurde der Anstoss zur exakteren Be-
arbeitung dieses Gebietes, wenngleich mit seiner so fruchtbringenden
Auffassung, dass die Elastizitätsverhältnisse des Muskels bei seiner
Thätigkeit sich ändern, der prinzipielle Fehler der Identifizierung der
elastischen Kraft und der Kontraktionskraft verbunden war, dessen
allmäliche Überwindung später Mühe kostete. Grundlegend durch
ihre exakte Methodik wurden Wilhelm und Eduards gemein-
schaftliche Untersuchungen über die Mechanik dei-
menschlichen Gehwerkzeuge, in welchen sie eine zumal in
Anbetracht der primitiven damaligen Hilfsmittel wunderbar voll-
kommene Erklärung der menschlichen Lokomotion gaben, welche mit
den Borellischen Irrtümern gründlich aufräumte, wenn auch mancher
theoretische Schluss darin (die passive Pendelschwingung des in-
aktiven Beins, das Prinzip der horizontalen Bewegung des Schwer-
punktes u. a. m.) später besserer Erkenntnis hat weichen müssen.
Die inzwischen erfolgte Entdeckung des Elektromag-netismus
[Oersted 1820] und der elektrischen und elektromagnetischen In-
duktion [Faraday 1832] bot, gleichwie sie der Physik und Technik
eine neue Welt erschloss und gerade in Gauss' und Wilh. AVebers
Hand zu der umwälzenden Erfindung des elektromagnetischen Tele-
graphen führte (1833), auch der Physiologie ein neues Hilfsmittel
zu wirklich exakten elektrischen Keizversuchen in Ge-
stalt der Induktionsströme (Pixiis und Stöhrers magnet-
elektrische Maschinen), deren Applikation wieder in den Händen der
Brüder Eduard und Ernst Heinrich Webe r die so überraschend klare
Beantwortung der bis dahin so streitigen Frage nach der Wirkung
der Herznerven brachte :^) Eeizung des Vagus (die Brüder
Weber hielten noch gleichzeitige Reizung beider Vagi für nötig)
bewirkt Verlangsamung oder Stillstand. Reizung des
Sympathicus Beschleunigung der Herzthätigkeit. Gleich-
zeitig und unabhängig machte übrigens Budge die nämliche Ent-
deckung. [Julius L. Budge, geb. 1811 in Frankfurt, 1833 promo-
viert; habilitiert, Extraordinarius und Ordinarius in Bonn, seit 1856
Ordinarius für Anatomie und Physiologie in Greifswald, starb 1888;
von seinen Verdiensten um die Physiologie des Auges, der Leber, des
Sympathicus im allgemeinen wird noch die Rede sein.] Verdienste
der Gebrüder Weber werden uns noch bei mancherlei Gelegenheit
begegnen; als bedeutender Schüler Ernst Heinrich Webers ist
vor allem Volkmann zu nennen [Alfred Wilhelm (von) V o 1 k m a n n .
geb. 1. Juli 1800 in Leipzig, studierte und promovierte daselbst mit einei-
Abhandlung über den tierischen Magnetismus, habilitierte sich ebenda
1828, wurde 1834 Extraordinarius für Zoologie, ging 1837 als Ordi-
narius für Physiologie nach Dorpat, 1843 desgleichen nach Halle,
übernahm 1854 auch die Anatomie, gab 1872 die Physiologie an
Bernstein ab, trat 1876 ganz zurück, starb am 21. April 1877]. auf
*) 1835, Mitteilung auf der Naturforscherversammlung iu Neapel.
Geschichte der Physiologie iu ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 375
dessen Leistungen und Schriften wir bei der Besprechung der Fort-
schritte der Hämodynamik und der Sympathicusphysiologie noch zu
sprechen kommen werden. Hier hätten wir einstweilen noch Her-
mann Nasses [geb. 1807 in Bielefeld, 1831 in Bonn habilitiert, 1837
Ordinarius in Marburg und Direktor des physiologischen Instituts bis
1879, wo er zurücktrat, gestorben 1892] zu gedenken, welcher mit
seinem Vater, dem Bonner Kliniker Christ. Friedr. Nasse (1778 bis
1851) im Jahre 1835—39 die ..Beiträge zur Physiologie und
Pathologie des Bluts" herausgab und auch weiterhin in seinen
Arbeiten ,.Ueber den Einfluss der Nahrung auf das Blut" und ,.Ueber
die Lymphe und deren Bildung" insbesondere die Lehre von der
Resorption und Lymphbildung gefördert hat.
Um die Entwicklung der physiologischen Chemie
hatten sich bereits vor Joh. Müller zwei Männer verdient gemacht,
deren einer gleichzeitig einer der angesehensten Physiologen seiner
Zeit überhaupt war, wenngleich seine nichtchemischen Arbeiten mehr
rein anatomischer und nicht experimenteller Art sind: es ist dies
Tiedemann [Fried rieh, geb. 23. August 1781 in Cassel, promovierte
1804 in Marburg, wurde 1805 ord. Professor der Zoologie und Ana-
tomie in Landshut, 1816 desgl. sowie ausserdem noch Vertreter der
Physiologie in Heidelberg, erbaute das dortige anatomische Theater, trat
infolge des Revolutionsjahi-es 1849 zurück, starb in München am
22. Jan. 1861. Er gab eine unvollendet gebliebene Physiologie des
Menschen heraus d. Bd. 1830. 3. 1836). Auch von physiologischer
Bedeutung sind sein grosses Tafelwerk der menschlichen Arterien
1 1822 ), sowie seine vergleichend anatomischen Arbeiten über das Gehirn,
auf welche wir noch zurückkommen werden] ; der andere, einer alten,
weitverzweigten Gelehrtenfamilie ^) angehörige, ist Leopold Gmelin
[geb. den 2. August 1788 in Göttingen. 1813 promoviert und in
Heidelberg habilitiert, wurde daselbst 1814 Extraordinarius. 1817
Ordinarius für Medizin und Chemie, in welcher Eigenschaft er viele
rein chemische Arbeiten hervorgebracht hat, ausser den gleich zu be-
sprechenden physiologischen; trat 1851 zurück und starb am 13. April
1853]. Diese beiden Forscher vereinigten ihr Wirken
zu einer grossartig erfolgreichen Bearbeitung der ge-
samten Lehre von der Verdauung. Resorption und Assi-
milation; über die letzteren beiden Gebiete erschien bereits 1820
in Heidelberg das Schriftchen ..Versuche über die Wege, auf welchen
Substanzen aus dem Magen und Darmkanal ins Blut gelangen, über
die Verrichtung der Milz und die geheimen Harnwege", in welchem
sie durch schlagende Experimente die Bedeutung des Lymph-
systems für die Resorption aufklärten, den Grund zur Erkennt-
nis der Funktionen der Milz als blutbildenden Organs legten und die
Unhaltbarkeit des immer noch bestehenden Aberglaubens der Existenz
geheimer Harnwege ein für allemal bewiesen. Ein durch systematische
und vergleichende Anwendung der chemischen wie auch experimen-
tellen und mikroskopischen Methodik zustande gebrachtes grosses
Werk von bleibender Bedeutung schufen ferner Tiedemann und
Gmelin in ihrer „Verdauung nach Versuchen" (Heidelbg. u.
Lpz. 1826/27 erschienen, nachdem 1824 das als Preisschrift eingesendete
Manuskript von der französischen Akademie nur einer ehrenvollen Er-
') Stammbaum siehe in Hirschs biogr. Lexikon, Bd. 2, S. 579.
376 Heinrich Boruttavu
wähnung gewürdigt worden war, welche aber die Autoren ablehnten).
In ihr sprechen sie bereits von einer die Nahrungsmittel auflösenden
Wirkung des Speichels,^) welche indessen erst durch (1 F. Leuchs
(aus Nürnberg) 1831 genauer auf dieVer zuckerung der Stärke
präzisiert wurde ; -) sie bestätigten dessen Rhodangehalt, Was die
Magenverdauung betrifft, so fanden sie bereits, dass die Magen-
bewegungen, wie auch die Menge des sezernierten Safts von der Menge
und Verdaulichkeit der eingeführten Stoffe abhängig sind; die von
Prout [William, in London, 1785—1850; 1811 in Edinburgh pro-
moviert, 1829 F. R. C. P., Arzt, Chemiker, Physiker und Metereologej
1824 entdeckte freie Salzsäure, neben welcher sie noch an das
Vorhandensein von Essigsäure im Magensaft glaubten, hielten sie für
dessen wirksames Prinzip ; dagegen erklärte sich J o h a n n e s M ü 1 1 e r,-^)
indem er vielmehr das eigentlich verdauende Prinzip für
„einen noch unbekannten organischen Stoff hielt,
welcher auf dieselbe Weise wirke, wie die Diastase auf
das Stärkemehl". In der That zeigte in seiner im J. 1834 in
Würzbung erschienenen „Physiologie der Verdauung" J. N.
Eberle, dass verdünnte Säuren erst dann die Nahrung „chymifizieren",
wenn ihnen etwas Magenschleim oder ein Stück Magenschleimhaut
zugesetzt wird, glaubte aber, dass auch andere tierische Schleimhäute
ebenso wirken könnten; doch gar bald — 1836 — gelang es
Joh. Müllers grossem Schüler Schwann, den wirksamen
Stoff aus dem Wasserextrakte der Magenschleimhaut und zwar nur
dieser zu isolieren und er nannte ihn „Pepsin"; er wirke eben
nur mit der Salzsäure gemeinschaftlich,*) Wichtige histologische
Untersuchungen über die Magensaftdrüsen und ihr
Epithel veröffentlichte Purkinje in seinem Vortrage auf der
Prager Naturforscherversammlung 1837 „Ueber die Magendrüsen und
die Natur des Verdauens im Magen", während andererseits Prout
schon 1834 in seinem vortrefflichen Bridgewater Treatise „Chemistry,
meteorology and the function of digestion etc." die Entstehungs-
möglichkeit der freien Salzsäure aus den Chloriden
des alkalischen Blutes diskutiert hatte. Im Jahre 1834
stellte endlich auch der amerikanische Arzt Beaumont [William,
1785 — 1853] seine berühmten Beobachtungen und Versuche
an dem canadischen Jäger A. Saint-Martin an, bei
welchem ein Flintenschuss eine Magenfistel erzeugt
hatte; Bassow (1842) und Blondlot (1843) legten an Tieren
die ersten künstlichen Magenfisteln an. Was nun die Pro-
dukte der künstlichen Verdauung speziell der Eiweisskörper
betrifft, so nannte der durch Untersuchungen auf diesem Gebiet be-
sonders verdiente Franzose Mialhe (Louis, geb. 1807, Prof. der Phar-
makologie in Paris, schrieb u. a. eine „Chimie appliquee ä la Physio-
logie et ä la therapeutique", Paris 1852) dieselben „Albuminose". wo-
gegen der Nestor der deutschen physiologischen Chemie,
von dem wir noch öfters reden werden, Carl Gotthelf Lehmann
[geb. 1812 in Leipzig, 1835 Dr. med. mit der Dissertation „De urina
') a. a. 0., 1. Band S. 290.
') Kastners Arch. f. Chemie u. Meteorologie, 1831, 1. Bd. S. 105.
* Handbuch, 1. Bd.. 1. Aufl., S. 530.
Müllers Arch., 1836, S. 90.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung anf die Medizin etc. 377
diabetica". 1837 habilitiert. 1843 Extraordinarius der physiologischen
Chemie daselbst. 1857 Ordinarius der Chemie in Jena, starb dort 1863 ;
Hauptwerke ..Lehrbuch der physiologischen Chemie", Leipz.
1842, 3 Bände; ..Handbuch desgl.''. Ebenda 1854] den Xaraen
Pepton einführte; von den weiteren Untersuchungen dieser
Stoffe wird noch die Rede sein. Schon Tiedemann und Gmelin
erkannten, dass der Chymus in den oberen Darmabschnitten
stets sauer reagiere, erst viel weiter unten alkalisch werde durch
die von ihnen sehr betonte Alkalescenz des Pankreassaftes,
welchem sie im übrigen nicht die nötige Bedeutung zuerkannten, wo-
gegen die von ihnen sehr abfällig beurteilten französischen Forscher
Leuret und Lassa igne, denen die andere ehrenvolle Erwäh-
nung der französischen Akademie zu teil geworden war, ihn sehr
treffend mit dem Mund Speichel vergleichen. Seine fett-
spaltende Wirkung zeigte schon 1836 Purkinje [mit Pappen-
heim, publiziert in Müllers Archiv, 1838 Eberle (s. oben) die
emulsionierende. Valentin 1844 die diastatische, endlich bestätigte
der jüngere Corvisart (Lucian, Neffe des berühmten C, Leibarztes
Napoleons des Ersten, geb. 1824) erst im Jahre 1857 die „tryp tische"
ei weiss verdauende Funktion^) des Pankreassaftes,
welche der grosse Claude Bernard (s. später) bereits im Jahre
1850 behauptet hatte. Viel Mühe gaben sich Tiedemann und
Gmelin mit der Erforschung der Zusammensetzung und Bedeutung
der Galle: sie erkannten deren anregende Wirkung auf die Peristaltik
und brachten die Angabe einer fäulniswidrigen Wirkung auf. Gmelin
beschäftigte sich mit den Eigenschaften der Gallenfarbstoffe
[G nie lins Reaktion mit rauchender Salpetersäure], isolierte das
Cholesterin, einen schwefelhaltigen Stoff (das Taurin) und
erkannte die Unreinheit des von dem grossen Berzelius als Gallen-
stoff [..Bilin"j abgesonderten Prinzips. Die Begründung der heute
als richtig anerkannten Lehre von den beiden, als Natronsalze
(Demaury 1838) in der Galle enthaltenen Säuren (Glyko- und Tauro-
cholsäure] und ihrer Zusammensetzung gab erst viel später Strecker
[1822 — 71. Professor der Chemie in Christiania, Tübingen und Würz-
burg]. Dass die Galle im Darm das vom Magen eingetretene
Pepsin vernichtet, erkannte schon Purkinje [mitgeteilt
auf der Prager Naturforscherversammlung 1837], und Schwann be-
gründete die Lehre, dass die Galle mehr als ein blosses Exkret ist,
dui'ch die Anlegung der ersten künstlichen Gallenfisteln 1844.-)
Alles weitere, auf diesem Gebiet zu Besprechende knüpft sich an die
später zu besprechenden Arbeiten von Bidder und Schmidt und
ihren Schülern. Eine besondere Berücksichtigung fand auch bereits
in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die wissen-
schaftlich-chemische Untersuchung des Harns, der Ex-
kretflüssigkeit, welche man nicht mit Unrecht die Muttersub-
stanz der physiologischen Chemie genannt hat. Zwar waren
mehrere Hauptbestandteile desselben schon im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert entdeckt worden, so der Phosphor, welcher
aus Harn überhaupt zuerst dargestellt wurde durch den Alchy-
') „Sur une fonction peu connue du pancreas, la digestion des aliments azotes''.
Paris 1858.
= 1 Müllers Arch. 1844, S. 127.
378 •• Heinrich Boruttau.
misten Brand in Hamburg um 1676, der Harnstoff, welcher
von dem jüngeren Rouelle (1718—1779) in Jahre 1773 zuei-st als
„seifiges Harnextrakt" beschrieben, dann 1799 von Fourcroy und
Yauquelin rein dargestellt und als Harnstoff (Urea, uree) benannt
wurde, die Harnsäure, welche 1776 von dem grossen Chemiker
Scheele, (1742 — 1786) als „Blasensteinsäure" dargestellt, später von
Fourcroy als Harnsäure bezeichnet wurde. 1800 entdeckte ferner
Yauquelin das A 1 1 a n t o i n in der Allantoisflüssigkeit von Kälbern.
Die nähere Untersuchung aller dieser Körper wurde
nun in der in Rede stehenden Periode zu einer Haupt-
aufgabe der jungen Wissenschaft der „organischen
Chemie", um so mehr als die Mehrzahl ihrer Haupt-
begründer ihre Laufbahn als Mediziner begonnen
hatten, so vor allem Gmelins und Wohl er s grosser Lehrer, der
Altmeister Berzelius [1779—1848, seit 1807 Professor in Stock-
holm, Begründer der elektrochemischen Theorie; gab auch „Vorlesungen
über Tierchemie" (Stockh. 1806—08) heraus] und Wo hl er selbst.
Friedrich Wöhler wurde geboren am 31. Juli 1800 zu Eschersheim
bei Frankfurt a/M., studirte in Marburg und Heidelberg, woselbst er 1823
Dr. med. wurde, arbeitete dann auf den Rat Gmelins, bei welchem er sich
viel mit Chemie beschäftigt hatte, 2 Jahre lang bei Berzelius in Stockholm,
wurde 1825 Gewerbeschullehrer in Berlin, 1831 desgl. in Cassel, 1836 in
Göttingen ord. Prof. der Medizin und Direktor des chemischen Instituts,
als welcher er bis zu seinem am 25. September 1882 erfolgten Tode wirkte.
Seine zahlreichen Arbeiten physiolog.-chem. Bedeutung sind meist in Annalen
und Zeitschriften publiziert.
Wöhler stellte im Jahre 1828 Harnstoff aus cyansaurem
Ammoniak künstlich dar^) und erbrachte damit den
ersten Beweis, dass organische Verbindungen, deren
Entstehung man für gebunden an lebende Organismen,
resp. die Lebenskraft hielt, auch unab hängig von diesen
synthetisch erhalten werden können. Wenig später gab er
zusammen mit seinem Freunde und Mitarbeiter, dem bald zu würdigen-
den grossen Liebig, die exakte Elementaranalyse des
Harnstoffes und 1838 auch der Harnsäure. 1829 erkannte,
untersuchte und benannte Lieb ig die schon von Rouelle d. j.
sowie Vauquelin und Fourcroy erhaltene aber irrtümlich für
Benzoesäure gehaltene Hippursäure, und 1841 wurde von Ure.-)
im Jahre darauf von Keller unter W ö h 1 e r s Leitung ^) konstatiert,
dass dem tierischen Organismus einverleibte Benzoe-
säure als Hippursäure im Harn erscheint, der tierische
Organismus also nicht nur zur Spaltung, sondern auch zur Syn-
these befähigt ist. Was die Chemie des Blutes betrifft, so hatte
Berzelius den, wie wir früher sahen, schon zu Hallers Zeiten be-
kannten Eisengehalt der Blutasche Zweiflern gegenüber sicher-
gestellt; Engelhart^) wies nach, dass derselbe in der That an
den Blutfarbstoff gebunden ist. aus welchem das Eisen durch
') Annaleu der Physik, Bd. 12, S. 53: 15, S. 627.
2) Joum. de pharm. T. 27, p. 646.
2) Anualen der Chemie, Bd. 43. S. 108.
*) Diss. Göttingen, 1825.
Geschichte der Physiologie iu ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 379
Chlor freigemacht werden kann; der grosse Anatom C.B. Reichert
(1811—1883. in Berlin) sah 1847 zum ersten Male den Blut-
farbstoff krystallisiert.
Fast ausschliesslich der klinischen Blut- und Harnchemie widmete
sich ein passend schon hier zu erwähnender Schüler von Wo hl er
und Liebig, Johann Florian Heller [aus Iglau, 1813—1871.
Dozent der pathol, Chemie in Wien], dessen Proben auf Eiweiss und
Blutfarbstoff im Harn noch seinen Namen tragen, und welcher im An-
schluss an Fr. Simons gleichartige, aber nur ein Jahi- bestandene
rnternehmung von 1844 — 1847, sowie von 1852—1854 ein ..Archiv
für physiologische und pathologische Chemie und Mi-
kroskopie" herausgab.
So sehen wir, wie die Untersuchung des Blutes und der Aus-
scheidungen seitens der Mediziner und der medizinisch ausgebildeten
Chemiker allmählich die rein chemische Erkenntnis der
Schlacken und der Bestandteile des Organismusförderte:
von der Aufklärung der Chemie der Fette durch Chevreul ist schon
die Rede gewesen ; auch die elementare Zusammensetzung von Stärke,
Zucker, Gummi u. s. w. ward öfter bestimmt, und es ist C. Schmidt
in Dorpat, von dessen Verdiensten bald die Rede sein wird, welcher
deren Bezeichnung als „Kohlenhydrate" zuerst einführte.^) Am
mangelhaftesten sah es zu dieser Zeit natürlich mit der auch heute
noch so rätselhaften Chemie der Eiweisskörper aus. in welcher
sich übrigens der Holländer Gerardus Johannes Mulder [geb.
27. Nov. 1802 in Utrecht. 1824 Dr. med., 1841 Professor der Chemie,
trat 1867 krankheitshalber zurück, starb am 10. April 1880; Ver-
fasser einer ,.Proeve eener physiologische Scheikunde" u. a.] grosse
Verdienste erwarb; auch führte er den Namen ..Protein" ein.
Grundlegend für die moderne physikalisch-chemische
Richtung in der Physiologie ist die aus jener Zeit stammende Ent-
deckung der Diosmose durch den Franzosen Dutrochet
[Rene Joachim Henri. 1776—1847, 1806 in Paris promo-
viert, Militärarzt später Privatgelehrter, hochverdient auch um die
Pflanzenphysiologie, sammelte seine wichtigsten Schriften unter dem
Titel ..Memoires pour servir ä l'histoire anatomique et physiologique des
vegetaux et des animaux", Paris 1837 ; von seinem Verdiensten um die
Leberphysiologie und als Vorläufer der Zellenlehre wird bald die Rede
sein], welche 1828 veröffentlicht wurde, -) und an welche hier Grahams,
des grossen englischen Chemikers [Thomas Graham aus
Glasgow, 1805 — 1869 Professor daselbst und in London, zuletzt
Direktor der Kgl. Münze] grundlegende Arbeiten über die
Diffusion der Gase und ihre Gesetze,") über die
Diffusion der Flüssigkeiten mit der Unterscheidung
zwischen Kry stalloiden und Colloiden,*) sowie über die
dabei wirksamen „osmotischen Kräfte"*) anzuschliessen sind. —
lauter Dinge von grosser Bedeutung für die weitere Entwicklung
der Biophysik und -Chemie. Im Begriffe, die zu der modernen, im
wesentlichen mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen-
*) Ann. der Chemie u. Pharm., Bd. 51, S. 30; 1844.
-) Nonvelles Recherches snr Tendosraose et l'exosmose etc , Paris n. Lond. 1828.
') On the Law of diffusions of gases. R. Soc. Edinb. Transact. vol. 12. 1834.
*) On tlie difiusion of liquids. Phil. Transact. 185() und 1851.
*) On osmotic force, ebenda 1854.
380 •• Heinrich Boruttau.
fallenden Periode überleitenden epochemachenden P'akta zu besprechen,
haben wir endlich noch eines hochangesehenen und doch vielbe-
kämpften deutschen Physiologen zu gedenken, welcher um die ver-
gleichende Anatomie, Histologie und Nervenphysiologie
sich besondere Verdienste erworben hat, nämlich Kudolf
Wagners.
Rudolf Wagner, geb. am 30. Juli 1805 in Bayreuth, studierte in Er-
langen und Würzburg, wo er 1826 promovierte, arbeitete 1827 bei Cuvier,
bereiste dann zu zoologischen und geognostischen Zwecken das Mittelmeer,
habilitierte sich 1829 in Erlangen mit einer Abhandlung über die Methodik
der anatomischen , physiologischen und pathologischen Forschung , wurde
1832 ausserord., 1833 ord. Professor der Zoologie und 1840 an Blumenbachs
Stelle ordentlicher Professor der Physiologie, vergl. Anatomie und Zoologie
in Göttingen, wo er am 13. Mai 1864 starb.
Physiolog. wichtige Werke, ausser den noch genatier zu citierenden: ^.Icones
physiologicae, Erlihiterungstafeln zur Physiol. und JEnttvicklungsgeschichte", Leipzig
1839 ; neu hearh. von A. Ecker, 1851 — 56. „Lehrbuch der Physiologie" , Leipz. 1839,
später hearh. von Funke, siehe später. „Zur vergleichenden Physiologie des Blutes",
Leipz. 1833, 2. Ausg. mit Nachträgen ebenda 1838.
Stets an Wagners Namen erinnern wird ferner seine Heraus-
gabe des „Handwörterbuchs der Physiologie", Braunschweig
1842 — 53, eines sechsbändigen Werkes, in welchem in alphabetischer
Artikelfolge von ihm und zahlreichen Mitarbeitern die wichtigsten
Gegenstände unserer Wissenschaft bearbeitet wurden, eineindieser
Form bis dahin einzigartige Unternehmung. Hier nicht
näher gewürdigt werden können seine embryologischen Ver-
dienste, von denen nur erwähnt sei, dass er 1835 den Keimfleck
in dem zuvor von Purkinje entdeckten Keimbläschen des Eies ent-
deckt hat; hieran schliessen sich vorzügliche mikroskopische Be-
obachtungen über die Genese der Spermatozoen, gegen deren
„tierische" Natur sich Wagner ebenso wie um dieselbe Zeit Tre-
viranus*) energisch wendete,-) indem er zugleich die Bezeichnung
Samenfäden (statt -tierchen) vorschlug; ein Standpunkt, welcher
später durch Köllikers Arbeiten^) dauernd gerechtfertigt wurde.
Ferner gab er vorzügliche, viele bis dahin bestehende Irrtümer be-
richtigende Beschreibungen und Messungen der Form-
elemente des Blutes und der Lymphe, auch der muskulären und
nervösen Elemente, sowie des Pigmentepithels der Aderhaut und
anderer Bildungen im Auge. Von der von Meissner unter seiner
Leitung gemachten Entdeckung der Tastkörperchen wird noch
später die Rede sein. In seinen späteren Lebensjahren widmete
er sich u. a. der Physiologie des Centralnervensystems
mit Rücksicht auf die Psychologie, und seine hierher-
gehörigen in Göttingen erschienenen Schriften ..Neurologische Untei--
suchungen" 1853/54; „Forschungen über Nervenphysiologie mit Rück-
sicht auf Psychologie" 1854; „Wissen und Glauben" desgl.; „Der
Kampf um die Seele vom Standpunkt der Wissenschaft" 1857, waren
es, deren dualistisch-spiritualistischer Standpunkt ihn in heftige
') Tiedemamis Zeitschr. f. Physiologie. Bd. 5, S. 136; 1835.
^) Müllers Archiv, Jahrg. 1836, S. 226.
^) „Ueber die Bildung der Samenfäden in Bläschen", Würzburg 1846.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 381
Polemiken verwickelte, insbesondere mit dem bekannten Zoologen
Carl Vogt (1817 — 1897), welcher seinem materialistisch - darwi-
nistischen Eifer in der gegen Wagner gerichteten Streitschrift
„Köhlerglaube und Wissenschaft'' 1855 freien Lauf liess, — einer der
vielen Ausdrücke der Wendung zu einer neuen Aera, welche
für die Biologie mit der Mitte des neunzehnten Jahr-
hunderts eintrat. Diese Wendung ist bedingt durch drei
faktische Errungenschaften, welche epochemachend ge-
nannt werden müssen, nämlich die Ausdehnung derZellen-
lehreaufdentierischen Organismus durch Schwann (1839),
die Würdigung des Prinzips der Erhaltung der Materie
in Gestalt von systematischer Bearbeitung des tierischen
und pflanzlichen Stoffwechsels durch Liebig (1840) und
die Formulierung des Gesetzes von der Erhaltung der
Kraft durch Jul. Robert Mayer (1845). Hierzu kommt ferner
noch ais spekulative Leistung die Erweiterung und eigen-
artige Begründung der seit alters her öfter (Empedokles.
L a m a r c k) aufgetauchten ..Descendenztheorie" durch C h. Dar-
win [1809 — 1882] im Jahre 1859 ^) und schon vorher. Epochemachend
sind diese Leistungen sicherlich alle vier für das Gesamtgebiet der
Biologie, wie die allgemein-physiologischen Grundlagen im besonderen :
ist doch die Lehre von der Zelle als genetischer, formativer und
nutritiver-) Organisationseinheit, sowie die Lehre vom Stoffwechsel
und Energiewechsel in ihrer gegenseitigen unlösbaren Verknüpfung
als Grundlage aller biologischen oder Lebenserscheinungen zur
unumstösslichen Wahrheit geworden, gleich den Axiomen der Mathe-
matik; und wenn Darwins Bemühungen um die Abstammung der
Arten und ihre Erklärung durch Hilfshypothesen auch teilweise
als unrichtig sich herausstellen, bestenfalls unbeweisbare Theorien
bleiben werden, so wird doch ein derartig grossartiger Erklärungs-
versuch der Biogenese stets ein historisch bedeutendes Ereignis
bleiben.
Bio- und bibliographische Nachträge.
1. Ueber Purkinjes Werke siehe besonders: Th. Eiselt, Purkinjes Arbeiteti,
eine litterarisch-historische Skizze; Prager Viertcljahrsschrift, 1859, III.
2. Ein Nekrolog auf Joh. Müller, ebendaselbst. 1858.
3. Eine besonders liebevolle Würdigung von Joh. Müllers Wirken in f'erwoi'ns
allg. Physiologie, Uebersieht über die historische Entivicklunq unserer Wissenschaft
(in. Aufl., S. 20 ff.).
4. ralentin: Nekrologe von Forster ti. P. Grützner in Brest, ärztl. Ztschr..
1883, S. 118.
5. In dem im Erscheinen begnff'enen „Dictionnaire de physiologie" von Ch.
Michet sind Lebensdaten, besonders vollständig aber die Werke auch der alten,
speziell allerdings französischen Physiologen axifgeführt.
V.
Die klassische Periode der modernen Physiologie.
Wir können im Anschluss an die soeben angeführten epoche-
machenden Leistungen zurückkehren zu den drei Haupt rich-
^) „On the origin of species by means of natural selection" etc., Lond. 1859.
-) aber nicht immer „funktioneller" 1 1
382 Heinrich Boruttau.
tungen, welche die Schule des grossen Meisters Johannes
Müller gefördert hat und dürfen wohl den Begründer der tieri-
schen Zellenlehre, Schwann, an die Spitze der h istologi-
schen Richtung stellen, wenngleich, wie wir schon erfahren haben,
derselbe um die physikalische und chemische Physiologie gleichfalls
grosse Verdienste erworben hat.
Theodor Schwann, geb. am 7. Dezember 1810 in Neuss, studierte in
Bonn, Würzburg und Berlin, assistierte Job. Müller schon in Bonn, promo-
vierte in Berlin 1834 mit der unter Müllers Leitung gefertigten Dissertation
„De necessitate aeris atmosphaerici ad evolutionem pulli in ovo incubato'*,
wurde Müllers Assistent, bereits 1839 aber als Professor der Anatomie au
die Universität Löwen in Belgien berufen, 1848 für Physiologie und ver-
gleichende Anatomie nach Lüttich, trat 1880 zurück und starb am 11. Januar
1882 an einem Schlaganfall in Cöln.
Seine Arbeiteyi sind meist in Zeitschriften, Frorieps Notizen, Müllers Archiv,
tlen helg. Äkademieberichten u. s. iv. erschienen.
Wir haben bereits gesehen, dass die histologischen Ele-
mente vieler Gewebe und Organe schon vorher von
vielen mikroskopierenden Forschern beobachtet und be-
schrieben worden waren, so die Zellen des Glaskörpers, die Pigment-
zellen der Aderhaut, die Fettzellen; die Kerne im Knorpel Ijeschrieb
Johannes Müller selbst, Purkinje die Zellen der Magendrüsen,
sowie das Keimbläschen, Rud. Wagner hierin den Keimfleck,
Valentin die Kerne in der Epidermis ; Joh. Müllers Lieblings-
schüler, der grosse Anatom Jacob Henle [1809 — 1885, seit
1852 ord. Professor der Anatomie in Göttingen] hatte in seiner
berühmten Berliner Habilitationsschrift ..Symbolae ad
anatomiam villorum intestinalium, imprimis eorum epi-
thelii et vasorum lacteorum" 1837 und weiterhin die ver-
schiedenen Gestalten der Epithelien (Platten-, Cylinder-
epithelien u. s. w. und ihre Verbreitung im Körper be-
schrieben; endlich hatte schon 1835 Joh. Müller auf die Ana-
logie der Gebilde der Chorda dorsalis mit den Pflanzen-
zellen aufmerksam gemacht, ja Raspail und Dutrochet
hatten geradezu den Namen „Zellen" auch für tierische
Gebilde gebraucht; — aber es war erst von M. J. Schieiden
(1804 — 1881, ursprünglich Mediziner, dann Botaniker in Jena und an
anderen Orten, erfolgreicher Streiter gegen dieSchelling-Hegel sehe
Naturphilosophie) im Jahre 1838 in der Schrift „Beiträge zur
Phytogenesis" in Müllers Archiv der Satz ausgesprochen worden,
dass die Pflanzenzelle (in welcher 1831 Brown, Botaniker, 1772
— 1858, den Kern beschrieben hatte) der Ausgangspunkt der
Entwicklung aller, auch später nicht zelliger Teile
des Pflanzenkörpers sei. Dem analog sprach auch 1839
Schwann in seinen berühmten „Mikroskopischen Unter-
suchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur
und dem Wachstum der Tiere und Pflanzen" (Berlin 1839)
sich dafür aus, „dass es ein gemeinsames Entwicklungs-
prinzip für die verschiedensten Elementarteile (auch)
des (tierischen) Organismus giebt und dass die Zellen-
bildung dieses Entwicklungsprinzip ist". Dieser Satz
wurde in der Folge durch eine unabsehbare Reihe grossartiger Ar-
Geschichte der Physiologie in ihrer Auwendung auf die Medizin etc. 383
beiten zahlreicher Forscher erhärtet und erweitert, insbesondere mit
Anwendung auf die spezielle Embryologie und die Pa-
thologie; hierüber kann an dieser Stelle nur soviel erwähnt werden,
dass der von Prevost und Dumas am Froschei 1824 entdeckte und
von C. Ernst v. Baer [1792 — 1876J, dem grossen Entdecker des
wirklichen Säugetiereies [De ovi mammalium et hominis genesi etc.,
Leipz. 1827J weiter studierte Furchungsprozess schon 1842/43
durch Th. L. AV. Bischoff') (s. später) und C. B. Reichert-)
(s. oben) in direkten Zusammenhang mit der Bildung der Embryonal-
zellen gebracht wurde; während um dieselbe Zeit Carl Vogt aus
den Furchungskugeln erst eine strukturlose Substanz und aus dieser
erst die Embryonalzellen entstehen liess,-^) bewies Albert Köllik er
1844 mit Gewissheit den direkten U ebergang der Furchungs-
kugeln in Gewebezellen,^) aber erst die Uebertragung der
Zellenlehre auf die Pathologie durch den grossen Begründer der
,,CeUularpathologie" Eudolf Tirchow sicherte die Erkenntnis
des Prinzips ..omnis cellula e cellula",^) in welchem ja
gleichzeitig die endgültige Verdammung des Glaubens
an die Urzeugung steckt, dessen thatsächliche Widerlegung uns
noch später beschäftigen wird.
Kölliker sowohl wie Virchow*sind Schüler Johannes
Müllers, als solche von dessen allgemein biologisch umfassenden
Geiste durchdrungen, und insbesondere der erstere hat auch die nor-
male Physiologie durch wichtige Spezialarbeiten gefördert, wie wir
z. T. noch sehen werden.
Rudolf Albert Kölliker, geb. in Zürich am 6. Juli 1817, wui-de da-
selbst 1841 Dr. phil., 1842 in Heidelberg Dr. med., nachdem er in Zürich,
Bonn und Berlin studiert hatte, dann Assistent bei Henle damals in Zürich,
habilitierte sich daselbst 1843 als Privatdozent, wurde 1845 Prof. der Physio-
logie und vergleich. Anatomie, ging 1847 in gleicher Stellung nach Würz-
burg, wo er 1866 die Physiologie abgab und seitdem Anatomie, Histologie
und Embryologie lehrte, 1898 die Anatomie abgab und 1901 ganz zurücktrat.
Seine Haupttcerke betreffen sämtlich Anatomie, Histoloyie und Embryologie;
„Erimierungen aus meinem Leben", Leipz. 1899.
Virchow hat das Wesen der allgemeinen Pathologie
als „pathologische Physiologie", entsprechend der pathologi-
schen Anatomie, besonders betont, die Zelle als elementare
Grundlage der Lebenserscheinungen hingestellt, in
deren Veränderung in nutritiver, funktioneller oder
formativer Hinsicht das Wesentliche aller Krankheit
besteht, gegenüber allen früheren Spekulationen von einer mehr oder
weniger personifizierten Krankheit und gegenüber der Humoralpatho-
logie der Alten resp. Krasenlehre der Wiener Schule. Seine biolo-
gische Universalität bethätigte Virchow in seinen anthropologischen
Studien, während er normal-physiologische Leistungen eigentlich nur
insofern aufzuweisen hat, als von pathologischen Prozessen, welche er
') Entwicklungsgesch. der Säuget, u. d. Menschen, Leipz. 1842; desgl. des
Kanincheueies, Braunschweig 1843: desgl. d. Hundeeies, ebenda 1843.
^) Beitr. zur Kenntnis der Entwicklungsgesch. 1843.
'j Entwicklungsgesch. der Geburtshelferkröte 1842.
*) „Entwicklungsgesch. der Cephalopoden", Zürich 1844.
^) „Cellulari)athologie", 1. Aufl., S. 25.
384 Heinrich Borut tau.
untersucht hat, auf ph3'siologische, z. B. von der fettigen Degene-
ration auf die Fettbildung überhaupt geschlossen werden kann.
Rudolf Virchow, geb. am 13. Oktober 1821 zu Schievelbein in Pomraern,
studierte am Friedrich-Wilhelms-Institut in Berlin, promovierte 1844, ward
Assistent Frorieps und 1846 an dessen Stelle Prosektor der Charite, habili-
tierte sich 1847, wurde wegen seiner polit. Rolle 1849 entlassen, aber als
Ordinarius der pathologischen Anatomie nach "Würzburg berufen , kehrte
1856 als ebensolcher (und für allg. Pathol. u. Therapie) nach Berlin zu-
rück, welche Stellung er behielt bis zu seinem am 5. September 1902 er-
folgten Tode.
Seinei' y,Celhilarpathologie''^ erste Auflage erschien Berl. 1858 ; in dem von ihm
von 1847 ab (anfangs zusammen mit Reinhardt) herausgegebenen „Archiv für
patholog. Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin'^
finden sich übrigens auch eine ganze Reihe von JBeiträgen der verschie-
densten Autoren zur normalen Physiologie.
Erst in viel späterer, weiter unten zu behandelnder Zeit gewann
die Zellenlehre wesentlichen Einfluss auf die Histologie
und Physiologie des Nervensystems, welche indes durch
Schüler und Zeitgenossen Johannes Müllers und durch von ihm
ausgegangene histologische Anregungen bedeutend gefördert wurde.
Es sei nur erinnert an die S c h w a n n s c h e Scheide der Nerven-
fasern, an die Purkinjeschen Zellen der Kleinhirnrinde,
sowie an all das viele, was die Neurologie Remak verdankt.
Robert Remak, geb. in Posen am 26. Juli 1815, studierte in Berlin,
promovierte 1838 mit der unter Johannes Müllers Leitung angefertigten
Dissertation „Observationes anatomicae et microscopicae de systematis nervosi
structura", wurde 1843 Assistent des berühmten Klinikers Schönlein,
habilitierte sich 1847, wurde 1859 Extraordinarius, starb am 29. August
1865 in Kissingen.
Er inMizierte zahlreiche anatomische, physiologische, pathologische und klinische
Arbeiten meist in Zeitschriften, Müllers Archiv u.s.w., Hess selbständig erscheinen:
„üeber ein selbst. Darmnervensystem^ {Berlin 1847) und die nntengevannten Werhe
über Elektrotherapie.
Remak, übrigens auch der Entdecker der drei Keim-
blätter und ihre'r Bedeutung für die Entwicklungsge-
schichte (1843) sah zuerst das „Achsen band" (wie schon er-
wähnt, nachher von Purkinje als „Achsencylinder" beschrieben) der
markhaltigen und beschrieb zuerst die marklosen, noch
jetzt n a ch ih m genannten „Remakschen" Nerven fasern; er
gab schon in seiner Dissertation wichtige Aufschlüsse über den
Faserverlauf in Gehirn und Rückenmark, ') worum auch
Valentin (s. früher) in seinem Werke „über den Verlauf und die
letzten Enden der Nerven", Bonn 1836, sich bemüht hatte. Es gehört
in den die Geschichte der Histologie behandelnden Teil dieses Buches,
was auf eben diesem Gebiete von dem, z. T. schon der vorigen
Periode angehörigen grossen Utrecht er Anatomen, Physio-
logen und Psychiater J. L. C. Sehr oe der van der Kolk
(1797—1862), und von Joh. Müllers Schüler Adolf Hannover
(Kopenhagen, 1814 — 1894) geleistet worden ist. Ueber diesen gleichen
') Müllers Archiv, 1841. S. 406.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 385
Gegenstand arbeiteten ferner A. W. Volkmann ('s. früher),)^ Bene-
dikt Stilling (1810 — 1879, Chirurg in Cassel), dessen Namen in den
Stillingschen Kernen erhalten bleibt, in seinen bedeutenden
..Untersuchungen über die Textur des Eückenmarks", zusammen mit
Wallach, Leipz. 1842; desgl. „über die Medulla oblongata", Er-
langen 1843; desgl. „über den Bau des Hirnknotens", Jena 1846, —
von der französischen Akademie gekrönte Arbeit — ; ,.Xeue Unter-
suchung über den Bau des Rückenmarks", mit grossartigem Atlas,
Cassel 1857 — 1859; „Untersuchungen über den Bau des menschlichen
Kleinhirns", 3 Bde., Cassel 1864 — 1878; endlich auch Kölliker,
welcher noch 1850 ununterbrochenen Durchgang der sen-
siblen und motorischen Fasern durch das Eüc kenmark
auf dem Wege von und nach dem CTehirn für das Wahrschein-
licherere hielt, obschon Leuckart und Rud. Wagner bereits
in demselben Jahre den Zusammenhang der Achsencylinder mit multi-
polaren Ganglienzellen in der Substantia ferruginea des menschlichen
Gehirns erkannten und Remak ein gleiches für das Rückenmark
postulierte ;'■') dasEnt springendes Achsency linder fortsatzes
aus der multipolaren Ganglienzelle und seine Unter-
scheidung von den übrigen Fortsätzen wurde erst im
folgenden Jahre durch Wagner. Meissner und Billroth ^) an
den grossen elektrischen Zellen von Torpedo sicherge-
stellt, während der Nachweis des Zusammenhangs der
motorischen Spinalnervenfasern mit den grossen multi-
polaren Vorderhornganglienzellen das Verdienst des
leider zu früh verstorbenen Deiters (Bonn 1834 — 1863) ist;
siehe dessen nach seinem Tode durch Max Schnitze, den grossen
Bonner Histologen (1825 — 1874) herausgegebene „Untersuchungen
über Gehirn und Rückenmark des Menschen und der
Tiere" (Braunschweig 1865). Durch die Arbeiten Max Schnitzes
selbst, Köllikers und anderer moderner Histologen wurde die
Kenntnis des Faserverlaufs im Centralnervensystem weiterhin gefördert,
so dass bald die Vorstellung von die höheren und tieferen Teile des
Rückenmarks verbindenden Faserzügen u. s. w. aufdämmerte: die von
dem älteren Ger lach (Joseph, 1820—1896) 1855 eingeführte
histologische Färbetechnik brachte zunächst die Vor-
stellung eines kontinuierlichen Zusammenhangs aller
letzten nervösen Ausläufer im Centralnervensysteme;
^^ie sich die Anschauungen seitdem verändert haben, und durch welche
in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts eingeführte Methoden
werden wir weiter unten sehen. Hier bleibt noch der anatomischen
und physiologischen Untersuchungen zu gedenken, durch welche der
berühmte Dorpater Physiologe und Schüler J oh. Müllers Heinr.
Friedr. Bidder [geb. 1810 in London, 1834 in Dorpat promoviert,
gleich darauf Extraordinarius, ging auf ein Jahr nach Deutschland
zu seiner Weiterausbildung, vertrat von 1835 ab die Anatomie, später
meist ausschliesslich die Physiologie und Pathologie, trat 1869 zurück,
starb 1894] zusammen mit Volkmann die Kenntnisse des
sympathischen Nervensystems erweiterte: „Die Selbst-
») Ebenda 1838, S. 274.
*) Köllikers mikroskop. Anatomie, 1850, 2. Bd., S. 425 ff.
») Nachr. d. Gott. Societät, 1851, 20. Oktober.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 25
386 • Heinrich Boruttau,
ständigkeit des sympath. Nervensystems, durch anatomische Unter-
suchunj^ nachgewiesen"; Leipzig 1842. Auch die Herznerven-
lehre wurde durch das nach ihm benannte Biddersche Ganglion
des Froschherzens berührt, ebenso wie von Kemak durch den nach
ihm benannten Ganglienzellenhaufen . während von Stannius
[Hermann Friedrich, geb. 1808 in Hamburg, 1831 in Breslau
promoviert, 1833 in Berlin Privatdozent, seit 1837 Professor der
Zoologie, vergleichenden Anatomie und Physiologie in Rostock, trat 1865
zurück, starb 1883], von dessen sonstigen Verdiensten gelegentlich
noch die Rede sein wird, der bekannte Versuch am Frosch-
herzen angestellt wurde, in welchem man auf Absclmürung der
Atrien von dem Hohlvenensinus diesen allein weiterschlagen, das
Herz aber stillstehen, auf eine zweite Abschnürung des Ventrikels
diesen wieder schlagen sieht.
Bidder ist ferner einer der Pioniere in dem um-
fassenden Gebiete der chemischen Physiologie, dessen
erster planmässiger Anbau das unsterbliche Verdienst
des Meisters der deutschen Chemie, des grossen
Liebig ist,
Justus (seit 1845 Frhr. v.) Liebig wurde geboren am 8. Mai 1803 in
Darmstadt, studierte in Bonn, Erlangen und Paris, wurde 1824 ausser-
ordentlicher, 1826 ordentlicher Professor der Chemie in Giessen, wo er das
erste grössere chemische Laboratorium gründete, 1852 nach München be-
rufen, wo er bis zu seinem am 18. April 1873 erfolgten Tode wirkte.
Physiologisch bedeutsame Werke : „Die organische Chemie in ihrer Anwendung
auf Agrikultur und Physiologie^^ erste Aufl. Braunschc. 1840 ; „Die Tierchemie
oder die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie'',
erste Aufl. Braunschweig 1842; „Chemische Briefe-', zuerst als Beilage der Augsb.
allg. Ztg. 1844 erschienen. „ lieber Ursprung und Quelle der Muskelkraft'', Leipzig 1870.
Es ist Liebigs Verdienst, der Chemie den gebühren-
den Platz in der Theorie, wie in der praktischen Behandlung der
Ernährung des Menschen und der übrigen Tiere, wie auch der
Pflanzen zugewiesen zu haben durch die Betonung der
planmässigen Untersuchung des gesamten Stoff-
wechsels, wie auch durch das Bestreben, mittels genauer
Erforschung der einzelnen Zers.etzungsprodukte wie
auch der Bestandteile des Organismus zu einem immer
genaueren Einblick in die in demselben sich abspielen-
den Zersetzungsvorgänge („intermediärer Stoifwechsel) zu
gelangen. Natürlich gab es hier schon Vorläufer; Ernährungs-
versuche an Tieren wie an Patienten in den Spitälern hatten be-
reits Magen die und seine französischen Zeitgenossen zu der Er-
kenntnis, geführt, dass die stickstofffreien Nahrungs-
mittel allein nicht genügen, um das Leben zu fristen,
und dass unter den stickstoffhaltigen der Leim nicht im stände ist,
das Eiweiss zu ersetzen, dass auch für den Ersatz derausge-
schiedenenMineralstoffe gesorgt werden muss („S a 1 z h u n g e r''-
versuche an Tieren), und manches andere. Der berühmte englische
Physiker und Chemiker John Dalton (1766—1844) hatte schon
1832/33 am Menschen es versucht und der französiche Chemiker
Boussingault (1802—1887) unternahm es seit 1839 an allerlei
Tieren (Pferd, Rind, Schwein, Taube), die Summe der St off ein-
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 387
nahmen und der Stoff ausgaben zu bestimmen, worüber er
auch in dem mit Dumas herausgegebenen berühmten Werke „Essai
de statistique chimique des etres organises" (1. Aufl. Paris 1841) be-
richtet hat; indessen war es erst Liebig, welcher mit Nachdruck
auf die Klarstellung desjenigen drang, worauf es bei den Stoffwechsel-
versuchen wesentlich ankommt, und dieses in der Ausscheidung
des Stickstoffs suchte, von welcher er erkannte, dass sie wesent-
lich im Harn und zwar beim Fleischfresser allergrösstenteüs in Ge-
stalt von Harnstoff erfolgt (Liebigs Methode der Harnstoff-
titrierung mit Quecksilberlösung !) ; die Ha r n s ä u r e , das vorwiegende
Ausscheidungsprodukt der niederen Tierklassen, erscheint ihm als
das Produkt unvollkommenerer Oxydation, als der
Harnstoff;^) erunterscheid et die organischen Nahm ngs-
mittel in solche, welche einzig und allein dem Ersätze der zer-
setzten stickstoöhaltigen Körpermaterie dienen können, nämlich die
Eiweisskörper , welche er als „plastische", — und in diejenigen,
welche durch den bei der Atmung aufgenommenen Sauerstoff oxydiert
werden und dabei Wärme bilden, nämlich die Kohlehydrate und Fette,
welche er als „respiratorische" Nährstoffe unterscheidet. ^)
Einzig und allein das Eiweiss erscheint ihm alsQuelle
der Muskelkraft, indembeiden „tierischen Bewegungs-
erscheinungen" die Organe unter der Wirkung der
Lebenskraft, an welcher L i e b i g entsprechend den Ansichten der
zeitgenössischen Schule festhielt, sich nach Massgabe der
Leistung zersetzen. Rätselhaft blieb aber die That-
sache, dass der Organismus mehr Eiweiss zu zersetzen
vermag, als es dem dieser Annahme entsprechenden
jeweiligen Bedürfnis entsprechen würde; der berühmte,
um die chemische Physiologie durch seine „Untersuchungen über die
Galle in physiologischer und pathologischer Beziehung" (Göttingen 1845)
schon hochverdiente Kliniker Fr. Theodor Frerichs (1819—1885)
behauptete darum bereits 1848 in seiner Abhandlung „über das
Mass des Stoffwechsels, sowie über die Verwendung der stickstoff-
haltigen und stickstofffreien Nahrungsstoffe", -^j dass auch das
Eiweiss „respiratorischer" Nährstoff sein könne, und
Bidder und C. Schmidt [geb. 1822 in Mitau, 1844 in Giessen
Dr. phil., 1845 in Göttingen Dr. med., 1846 in Dorpat habilitiert,
ISöOExtraord., 1852 Ordinarius für medizinische Chemie, 1891 emeritiert,
gestorben 1894] machten auf die nämliche Konstatierung hin die An-
nahme, entsprechend einer schon 1844 geäusserten Ansicht C. G. L e h -
manns, dass das „überschüssige", nicht zu Organsubstanz assimilierte
Eiweiss im Blute verbrannt werde: sog. Luxuskonsumption.-*)
Erst 1860 gelangten Bise hoff, welcher diesen Gegenstand schon
1853 zu bearbeiten begonnen hatte („Der Harnstoff als Mass des
Stofi\\'echsels", Giessen 1853) und sein bedeutender Schüler Carl
Voit zu der Erkenntnis, dass der Stickstoffumsatz in
erster Linie abhängig von dem Bestände an „Organ-
eiweiss" ist, dass überschüssig gereichtes Eiweiss in immer ge-
^) Die Organ. Chemie u. s. w., S. 139.
*) a. a. 0., S. 97.
») Müllers Archiv, 1848, S. 469.
*) „Die Verdauungssäfte und der Stoffwechsel", S. 348 ff.
25*
388 Heinrich Boruttau.
ringerem Masse der „Luxiiskonsumption" anheimfällt, vielmehr „ange-
setzt" wird, bis der Bestand der gereichten Menge entspricht und
„Stickstoffgleichgewicht" eintritt, und umgekehrt bei zu geringer
Eiweissdarreichung, Organeiweiss „eingeschmolzen", in „zirkulierendes
Eiweiss" verwandelt und zersetzt wird, bis der Bestand ebenfalls der
dargereichten Menge entspricht und Stickstoffgleichgewicht eintritt:
„Die Gesetze der Ernährung des Fleischfressers, durch
neue Versuche festgestellt," Leipzig 1860.
Theodor Ludwig Wilhelm BischoflF, geb. am 28. Oktober 1807 in
Hannover, wurde 1829 in Bonn Dr. phil., 1832 in Heidelberg Dr. med.,
habilitierte sich 1834 in Bonn, 1835 in Heidelberg, wurde dort 1836 Extra-
ordinarius, 1843 Ordinarius für Anatomie und Physiologie, 1844 dasselbe
in Giessen, 1854 in München, trat 1878 in den Ruhestand und starb An-
fang 1882.
Seine Hauptbedeutung liegt in der Entwicklungsgeschichte {Schriften auf
S. 383 ericähnt); auch bearbeitete, wie schon Tiedemann (s. o.), er die Vergleichung
des Affen- und Menschengehirns, wobei er von Carl Vogt heftig angegriffen wurde.
Die Schwierigkeit eines besseren Verständnisses der
Stoffwechselvorgänge lag grösstenteils daran, dass
man die „Verbrennungsvorgänge" von der „Eiweiss-
zersetzung" der arbeitenden Organe trennte und wenn
auch nicht mehr mit Lavoisier in die Lunge, so doch noch ganz
allgemein mit Lagrange in das Blut verlegte (Liebig,
Frerichs u. s. w.). Hier war es die Extraktion und nähere
Analyse derBlutgase durch Schröder v. der Kolk, Bischoff
1837, Heinrich Gustav Magnus [1802—1870, Professor der
Physik und Technologie in Berlin] 1838, vor allen Lothar Meyer
[geb. 1830], welcher in seinen Abhandlungen „Die Gase des Blutes,"
Göttingen 1857 und „De sanguine oxydo carbonico infecto", Breslau
1858 unsere jetzigen Anschauungen begründete, später
endlich noch durch Ludwig und durch Pflüger (siehe später), —
welche zur Erkenntnis führte, dass das Blut nur Trans-
portmittel des Sauerstoffs von der Lunge nach den
Geweben und der Kohlensäure von den Geweben nach
der Lunge ist. Zwar hatte schon 1804 Karl Friedr. Becker
in einer von der Göttinger Fakultät gekrönten Preisschrift erklärt,
dass bei jeder Art chemischen Vorgangs in den Geweben Wärme
frei werde, doch erst die von Becquerel und Breschet zunächst
auf grund noch fehlerhafter Versuche behaupiete,^) dann von Helm-
holtz 1848 exakt bewiesene Erwärmung des thätigen Mus-
kels und die Untersuchungen der Ludwigschen Schule in
Deutschland, sowie Claude Bernards in Frankreich hierüber,
sowie über die Wärmebildung in den Drüsen — über alle
diese Dinge später Genaueres — im Verein mit obiger Erkennt-
nis der respiratorischen Funktion des Blutes führten
endgültig dazu, den Sitz der „organischen Verbrennung"
in die Gewebe selbst zu verlegen, womit das eigentlich
von vornherein selbstverständliche Postulat verknüpft
war, als vollständigen „Stoffwechselversuch" die quan-
titative Analyse der festen und flüssigen Ingesta
^) Ann. des sc. naturelles, 1839.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 389
einerseits und Exkrete andererseits mit der Bestim-
mung der gasförmigen Einnahmen und Ausgaben zu
verbinden. Derartige Versuche haben in grösserem Massstabe
zuerst Bidder und Schmidt unternommen und in ihrem
klassischen Buche „Die Verdauungssäfte und der Stoff-
wechsel", Leipzig 1852, veröffentlicht, nachdem „Respirations-
versuche" seit Lavoisiers grundlegenden Arbeiten inzwischen
oft genug angestellt worden waren, und zwar unter Verwen-
dung aller drei möglichen Methoden, nämlich des einfachen Ab-
sperrverfahrens durch Berthollet, Legallois u. a., des von
Lavoisier und L a p 1 a c e erfundenen Ventilationsverfahrens
mit Analyse der gesamten abströmenden Luft, welche man durch
Absorptionsgefässe leitet, durch D u 1 o n g und Despretz, Boussin-
gault, vor allen aber Scharling 1843,^) und endlich drittens der
Entfernung der produzierten Kohlensäure aus dem Ab-
sperr räum und des Ersatzes derselben durch neuen
Sauerstoff, welches Prinzip schon von Lavoisier und Seguin
benutzt worden war und seine höchste Ausbildung in den berühmten
Versuchen von Eegnault (dem grossen französischen Physiker und
Chemiker, 1810—1878) und Reiset erhielt, welche 1849 unter dem
Titel „Recherches chimiques sur la respiration des animaux des di-
verses classes" (in den Annales de chimie, vol. (3) 26 und auch selb-
ständig) publiziert wurden. Natürlich beschränkten die tech-
nischen Schwierigkeiten jener Zeit die Grösse der Ver-
suchstiere, und zur Untersuchung des menschlichen Gas-
wechsels verzichtete man auf die Berücksichtigung des
hier ja relativ unbedeutenden Hautgaswechsels und sammelte
und analysierte die durch geeignete Gesichtsmasken o. ä. auf-
gefangene und vermittelst entsprechend angeordneter Ventile von der
Einatmungsluft getrennte Ausatmungsluft der Lungen, so
Andral und Gavarret in ihren „Recherches sur l'acide carbonique
exhale", Paris 1843, Carl Vierordt (siehe später) in seiner berühmten
„Physiologie des Atmens", Heidelberg 1845 („Anthrakometer"), später
Speck und die Zun tz sehe Schule, von deren Verdiensten noch
die Rede sein wird. Durch alle diese Versuche war ein grosser Teil
der Grundgesetze des Gaswechsels bereits richtig fest-
gestellt, so die Abhängigkeit seiner Ges amtintensität
beim Warmblüter von der Körper ober fläche und nicht
vom Körpergewicht, entsprechend der Wärmeabgabe, indem also
kleine Tiere einen relativ intensiveren Gaswechsel haben als grössere;
ferner die auch auf die Oberflächeneinheit berechnete grössere
Gaswechselintensität des Kindes, dessen Gewebe im Wachs-
tum begriffen sind; auch der Unterschied der Kohlensäure-
produktion zwischen beiden Geschlechtern war insbesondere
von Andral und Gavarret festgestellt worden. Von wechselnden
physiologischen Bedingungen war die vermehrende Wirkung der Kälte
auf die Kohlensäureausscheidung der Warmblüter, wenn auch in-
folge technischer Mängel noch nicht sicher genug, konstatiert worden
'Regnault und Reiset); endlich hatten bereits Lavoisier,
>I)äter Scharling und Vierordt die vermehrte Kohlen-
säureproduktion bei Muskelanstrengung konstatiert. Doch
*) Annalen der Chemie, Bd. 44; S. 214.
390 .. Heinrich Boruttau,
nun fehlte noch die Beantwortung der Frage, welche Stoffe
dieser vermehrten Oxydation unterliegen, welcher Nähr-
stoff, wie man zu sagen pflegt, die Quelle der Muskelkraft
ist, eine Beantwortung, die eben nur möglich schien durch gleich-
zeitige Bestimmung aller, der festen, flüssigen und
gasförmigen Einnahmen und Ausgaben. Ihre Unternehmung
ist das gemeinschaftliche Verdienst von Pettenkofer und Voit.
Max (von) Pettenkofer. geb. zu Lichtersheim bei Neuburg a, D. am
3. Dez. 1818, studierte in München, Würzburg und Giessen, promovierte
1843, wurde Assistent an der Münze, 1847 Extraordinarius für „diätetische
Chemie", 1865 der erste Ordinarius für Hygiene, auf deren Gebiet sein
Hauptlebenswerk liegt. Er starb am 10. Februar 1901.
Hier sei nur erinnert an seine „Pettenlwfcrsche Reaktion" auf Gallensäuren
und seine Unters^ichungcn über die Bestimmung der Kohlensäure in Luft und
Wasser, Annalen der Chemie 1844 u. ff. Jahre.
Karl (von) Voit, geb. am 31. Oktober 1831 in Amberg, studierte in
München, Würzburg und Göttingen, promovierte 1854 mit der Dissertation
„Beiträge zum Kreislauf des Stickstoffs im tierischen Organismus", wurde
1856 Biscboffs Assistent, 1857 Privatdozent, 1860 Extraordinarius, 1863
Ordinarius für Physiologie, als welcher er noch jetzt thätig ist. .
Ausser den schon erwähnten, mit Bischoff zusammen 1860 publizierten „Gesetzen
der Ernährung des Fleischfressers" inihlizicrte er noch im nämlichen Jahre seine
„Untersuchungen über den Einfluss des Kochsalzes, des Kaffees und der Muskel-
bewegung auf den Stoffwechsel; über alles Weitere siehe den Text.
Im Jahre 1861 konstruierten diese beiden Forscher kraft der
Munificenz des Königs Maximilian von Bayern einen grossen Re-
spirationsapparat, in dessen Raum ein Mensch oder ein grösseres
Tier sich bequem aufhalten und ernährt werden konnte, nach dem
Grundprinzipe des Ventilationsverfahrens (s. o.) ; da indessen hier nicht
der gesamte durch eine Dampfpumpe abgesogene Luftstrom durch
Absorptionsgefässe gehen konnte, so wurden durch Zweigleitungen
vermittelst kleiner Pumpen Analysenproben durch Schwefelsäure
(zwecks Wasserdampf bestimmung) und durch Barytwasser, welches
nach Pettenkofers kurz zuvor gemachter Erfindung eine so genaue
Kohlensäuretitrierung gestattet, geschickt und Haupt- wie Zweigluft-
ströme durch Gasuhren gemessen. Die vielfache Vergrösserung des
etwaigen Analysenfehlers und der Umstand, dass der Sauerstoff nur
indirekt bestimmt wurde, machte grosse Genauigkeit im Arbeiten nötig.
So fanden Pettenkofer und Voit, dass der Gaswechsel des
Menschen und der Tiere bei der Muskelarbeit gegen-
über der Ruhe (und zwar etwa proportional ihrer Dauer und
Grösse) gesteigert ist, dass dagegen der Stickstoffumsatz,
welchen C. G. Lehmann, Parkes u. a. bei der Arbeit etwas ver-
grössert gefunden hatten, sich durchaus gleich bleibe, Ergeb-
nisse, welche sie 1866 in der soeben gegründeten und von Petten-
kofer, Voit, Radlkofer und Buhl gemeinschaftlich heraus-
gegebenen „Zeitschrift für Biologie" [von 1865 ab 18 Bände, darauf
„neue Folge" von Kühne und Voit] publizierten,^) in welcher weiter-
hin noch eine gewaltige Reihe von Arbeiten besonders Voits und
seiner Mitarbeiter und Schüler Platz gefunden haben, welche wesent-
1) Bd. 2, S. 459; 1866.
Geschichte der Physiologie in ihrer An-wendung: auf die Medizin etc. 391
lieh die Physiologie des Stoffwechsels und der Emähning- betreffen,
so die Ablagerung des Nahrungsfettes, die Fettbildung
aus Kohlenhydrat bei der Mästung der Pflanzenfresser, end-
lich die Fett bil düng aus Ei weiss, welche Pettenkofer und
Voit daraus erschlossen, dass in ihren Versuchen bei vermehrtem
Stickstoffumsatz Kohlenstoff und Wasserstoff als im Körper zurück-
gehalten sich berechneten ; dieselbe erschien in Uebereinstimmung mit
der Ansicht Virchows über den ,.fettigen Zerfall" oder die „fettige
Metamorphose" der Zellen in pathologischen Prozessen^)
und wurden noch durch Untersuchungen über den Stoffumsatz und die
Fettbildung bei der Phosphorvergiftung -) von Bauer (geb. 1845,
jetzt Professor der klin. Medizin in München) und anderen gestützt.
Die theoretischen Folgerungen der Ergebnisse seiner
Stoff Wechsel versuche, welche übrigens von Lieb ig bis zu
dessen Tode bekämpft wurden, bemühte sich Yoit in ausge-
dehntestem Masse für die Ernährungslehre und ihre
wir tschaft liehe Bedeutung praktisch nutzbar zu machen;
es sei hier nur an das von ihm aufgestellte Kostmass für den er-
wachsenen Mann bei mittlerer Muskelarbeit — 118 g Ei weiss, 56 g
Fett, 500 g Kohlenhydrate — , an seine selbständig erschienenen
Schriften: „Ueber die Theorien der Ernährung im tierischen Orga-
nismus" 1868, — ,.Untersuchung der Kost in einigen öffentlichen An-
stalten" 1877, sowie an seine klassische Darstellung der Stoffwechsel-
und Ernährungsphysiologie im sechsten Bande von Hermanns Hand-
buch der Physiologie (s. später) erinnert. Stoff Wechsel versuche
mit Verwendung eines Respirationsapparates nach dem
Systeme von Pettenkofer und Voit an grösseren Tieren,
mit Eücksicht auf die praktischen Bedürfnisse der Landwirtschaft
wurden um diese Zeit noch von Henneberg [in Göttingen, 1825 bis
1890] ausgeführt und ergaben z. T. mit Bezug auf die Fettmast auch
analoge Ergebnisse.^) Inzwischen war auch die noch zu besprechende
Grundlage der modernen Biophysik gelegt worden, die Entdeckung
des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft und die ersten
Bestimmungen des mechanischen Wärmeäquivalentes waren erfolgt
und als Grundlage der nächst der Stoäbilanz nunmehr zu schaffen-
den Energiebilanz des lebendigen Organismus begann man mit
kalorimetrischen Untersuchungen, von denen bald die Rede
sein wird. Durch Untersuchungen von Favre und Silber mann,
sowie des englischen Chemikers Frankland wurden Werte der
Verbrennungs wärme (wie wir sie jetzt als Bruttowärme be-
zeichnen) der wichtigsten Nahrungsmittel erhalten, mit
deren Zugrundelegung Adolf Fick, dessen Verdienste um
die Biophysik wir bald ausführlicher würdigen werden, und der
berühmte Leipziger Chemiker Wislicenus ihre Schlüsse
zogen aus den Ergebnissen ihres berühmten, im Jahre
1865 zusammen angestellten Versuchs:*) sie bestiegen vom
Ufer des Brienzer Sees aus das Faulhorn und vermochten durch Mul-
tiplikation des Körpergewichts mit der erreichten Höhe annähernd die
') Virchows Archiv, Bd. 1, S. 94; 1847, u. a. a. 0.
«) Ztschr. f. Biologie, Bd. 7, 1871.
•) Berichte der Landwirtschaftlichen Versuchsstationen, Bd. 10, S. 457; 1868.
*) Vierteljahrsschrift der Züricher natiirforsch. Gesellsch., Bd. 10, S. 317.
392 Heinrich Boruttau.
geleistete Steigarbeit zu bestimmen; während der Besteigung wie in
der Vor- und Nachperiode sammelten sie die Exkremente und be-
stimmten deren Stickstotfgehalt : so fanden sie ebenfalls keine
wesentliche Steigerung der Eiweisszersetzung infolge
der Muskelanstrengung, ausserdem aber die wichtige That-
sache, dass die Verbrennungswärme des gesamten zer-
setzten Eiweisses nicht entfernt ausreichte, um die als
Muskelarbeit ausgegebene Energie zu bestreiten. Des-
halb, sowie ausgehend von der erfahrunggemässen Bevorzugung von
Speck und Zucker vor Fleischnahrung seitens der einheimischen Berg-
steiger, gingen diese Forscher so weit, gerade umgekehrt wie L i e b i g
die Stickstoff freien Nährstoffe, also Kohlenhydrate und
Fette, als die vorwiegende oder einzige Quelle der
Muskelkraft anzusprechen.
Hand in Hand mit diesen erfolgreichen Bearbeitungen des Ge-
samtstoffwechsels, welche in Pettenkofers und V o i t s Arbeiten zu
vollständigen gutstimmenden Stoffbilanzen führten,^) gingen Unter-
suchungen über den intermediären Stoffwechsel und Be-
reicherungen der physiologischen Chemie durch genauere Er-
forschung und Neuentdeckung wichtiger Bestandteile
der Organe, Körperflüssigkeiten, Se- und Exkrete. Hier sind vor
allem die zum Teil schon gewürdigten Verdienste Wohl er s, ferner
diejenigen von Meissner, endlich die analytischen und synthetischen
Bemühungen von Strecker zu betonen.
Georg Meissner, geb. am 19. November 1829 in Hannover, studierte
in Göttingen, Berlin und München, promovierte 1853 in Göttingen, wurde
in demselben Jahr als Ordinarius der Anatomie und Physiologie nach Basel,
1857 desgl. für Physiologie und Zoologie nach Freiburg berufen und kehrte
1860 als Nachfolger Rudolf Wagners in Bezug auf die Physiologie nach
Göttingen zurück, in welcher Stellung er bis zu seinem 1901 erfolgten
Rücktritt wirkte.
Die Mehrzahl seiner physiolog. Veröffentlichungen sind in Henle und Pfeufers
„Zeitschrift für rationelle Medizin''^ erschienen; seihständig ausser seiften berühmten
„Beiträgen zur An. u. Physiol. der JSatit" und denjenigen „zur Physiol. des Seh-
organs", von denen später noch die Rede sein wird, die „ Untersuchungen über den
Sauerstoff^ , Hannover 1863, und diejenigen „über das Entstehen der Hippursäure"
{mit Shepard), ebenda 1866.
Er gab, als selbständige Beilage zur Zeitschr. für rat. Medizin von 1856 —
1871 mit Henle zusammen den Jahresbericht über die Fortschritte der Ä7iatomie,
Entwicklungsgeschichte und Physiologie heraus, dessen physiologischen Anteil er
allein bearbeitete.
Nahe lag zunächst die Erforschung der unmittelbaren Herkunft
der Hauptbestandteile des Harns; Meissner zeigte, dass Harnstoff,
gegen dessen Bildung in der Niere schon früher Prevost und
Dumas, Segalas und Vauquelin sich ausgesprochen hatten, im
Blute und in der Leber stets vorhanden ist,-) also jedenfalls nicht
von der Niere gebildet wird; dagegen gelang es trotz der
grössten Sorgfalt und der empfindlichsten Methoden (Lieb ig) nicht,
Harnstoff in den Muskeln zu finden; dagegen fesselte das von
Chevreul 1835 zuerst aus Bouillontafeln dargestellte, von Lieb ig
») Ztschr. f. Biologie, Bd. 2, S. 466.
^) Berichte über Versuche, die Urämie betreffend, Ztschr. f. rat. Med., Bd. 26,
S. 225.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin ~etc. 393
in seinen berühmten Untersuchungen über das Fleisch^) als Haupt-
bestandteil des von ihm erfundenen Fleischextraktes näher analysierte,
1868 von Volhard synthetisch dargestellte Kreatin allgemein die
Aufmerksamkeit; man hielt es eine Zeitlang für Arbeitsmaterial des
Muskels, bis Meissner-j und Voit=^) 1868 gleichzeitig fanden, dass
eingenommenes Kreatin alsbald als Kreatinin im Harn erscheint.
Andere Arbeiten von Liebig, Meissner, Schlossberger (1819
— 1860, zuletzt Professor der Chemie in Tül3ingen, schrieb eine Tier-
chemie 1855—57) und Strecker (Adolf, 1822—1871, Professor der
Chemie in Christiania, Tübingen und Würzburg) betrafen weitere
Fleischbestandteile, so die „Fleischbasen", von welchen das
Xanthin 1838 von Wohl er und Liebig aus Harnsteinen, das Hypo-
xanthin von Scher er 1850 aus Milz und Herzmuskeln, das Guanin
1846 von Unger aus Guano dargestellt wurde, und deren chemischer
Zusammenhang („Xanthinbasen", auch die Hierhergeliörigkeit des
Kaffeins und Theobromins) von Strecker näher erforscht wurde; der-
selbe und Lieb ig bearbeiteten die Chemie der Milchsäuren und
das Vorkommen der Inosinsäure, Meissner fand den Muskel-
zucker, Scherer [Johann Josef, 1814—1869. Vorgänger Streckers
in Würzburg] den Inosit, Reaktionen auf denselben sowie auf die
Xanthinkörper. W^as endlich die Harnsäure betrifft, so studierten
V. Baeyer und Strecker die Produkte ihrer oxydativen Spaltung,
Zalesky-*) und Meissner-^) ihre Herkunft speziell im Stoff-
wechsel der Vögel; in Widerlegung Zaleskys stellte Meissner
fest, dass sie hier, wie der Harnstoff der Säugetiere im Blute prä-
formiert ist und nicht erst in der Niere entsteht; als eine Haupt-
bildungsstätte aller beiden erschien ihm die Leber. Da-
gegen fand er in einer mit C. U. Shepard angestellten Untersuchung
„über das Entstehen der Hippursäure im tierischen Organismus"
(Hannover 1866), dass die Synthese der Hippursäure wesent-
lich erst in der Niere erfolgt. Es ist hier ferner der Ort, der
Verdienste Frerichs (s. oben) um die Physiologie der Leber und
Niere zu gedenken,*') und über die weitere Bearbeitung der Ver-
kdauungsprodukte der Eiweisskörper zu berichten, welche
[Meissner mit bedeutendem Erfolge unternahm."^) Nach Abfiltrierung
Ides Neutralisationspräzipitats von dem peptischen Verdauungsgemisch,
welchem er das vom Pankreassaft angreifbare Parapepton, das
_ [etapepton und das unlösliche Dyspepton unterscliied, vermochte er
im Filtrat drei Körper zu unterscheiden, die er als a-, ß-, y-Pepton
■)ezeichnete, je nachdem sie noch durch Salpetersäure, durch Ferro-
[■cyankalium und Essigsäure, oder durch keins von beiden Reagentien
fällbar waren. Weitere Versuche über das Pepton wurden angestellt
von Maly, Adamkiewicz u^a., welche grösstenteils wieder ver-
lassene Ansichten über seine Natur äusserten, endlich von Kühne,
^) Annalen der Ch., Bd. 70, S. 343.
2) a. a. 0., Bd. 24, S. 100, Bd. 26. S. 225.
=») Ztschr. f. Biologie, Bd. 4, S. 111.
*) Untersuchungen über den urämischen Prozess und die Funktion der Nieren,
Tübingen 1865.
"^j Beiträge zur Kenntnis des Stoffwechsels u. s. w., Ztschr. f. rat. Med., Bd. 31,
S. 144; 1868.
*) Die Brightsche Nierenkrankheit u. s. w., Braunschw. 1851 : Klin. der Leber-
krankheiten, ebenda 1858.
') Ztschr. f. rationelle Medizin, Bd. 7—14; 1858—63.
394 Heinrich Boruttau.
welcher 1883^) zuerst den Namen Albumosen für Zwischenstufen
zwischen dem Ursprungseiweiss und dem nur noch schwierig fällbaren
Endprodukt, dem „genuinen Pepton" einführte, Stoffe (a- und
/J-Pepton Meissners), welclie andere wohl als Propeptone be-
zeichneten, welche Kühne und Chittenden in ihren fast sämtlich
in der Zeitschrift für Biologie erschienenen Arbeiten in Proto- und
Deuteroalbumosen (jetzt „primäre und sekundäre Proteosen") unter-
schieden, von denen sie das Antialbumid, die Hetero- und die Dys-
albumose abtrennten, nachdem Kühne-) von vornherein für alle Zer-
setzungsstufen die Unterscheidung in Hemikörper, welche vom
Pankreassaft leicht weiter „zersetzt" werden, und in Antikörper,
welche dem Trypsin widerstehen sollen, stipuliert hatte, eine Unter-
scheidung, welche wie gar vieles Neuere auf diesem Gebiete sich
immer weniger hat aufrecht halten können; näheres später.
Schon in jener früheren Zeit gab Kühne, dessen Lebensgang,
myologische und sinnesphysiologische Arbeiten weiter unten behandelt
werden, ein „Lehrbuch der physiologischen Chemie [Leipzig 1866—
68] heraus.
Gross waren endlich die Fortschritte in derselben auf dem Gebiete
der Chemie des Blutes; sie sind untrennbar verknüpft mit dem
des Meisters der modernen physiologischen Chemie, Hoppe-Seyler.
E. Felix J. Hoppe[-Seyler], geb. zu. Freyburg a. d. ünstrut am 26. De-
zember 1825, studierte in Halle, Leipzig, Berlin, Prag u. "Wien, promovierte
1850 in Berlin mit der Dissertation „De cartilaginum structura et chon-
drino", Avurde 1854 Prosektor und Privatdozent in Greifswald, ging 1856
nach Berlin zurück, wo er die chemischen Arbeiten in Yii-chows Institut
leitete und 1860 Extraordinarius wurde, wurde 1864 als Ordinarius für
angewandte Chemie nach Tübingen und 1872 als Ordinarius für physio-
logische Chemie — erster und einziger selbständiger Lehrstuhl im deutschen
Reich für dieselbe ! — nach Strassburg berufen, wo er bis zu seinem, am
10. August 1895 erfolgten Tode wirkte.
Selbständig erschienene Schriften: „Handbuch der physiologisch- und pathologisch-
chemischen Analyse'^, Berlin, erste Aufl. 1858, letzte 6. 1893 ; „Physiologische Chemie",
4 Abbildungen, Berlin 1877 — 81. „Medizinisch-chemische Untersuchungen'^, 4 Hefte,
Tübingen, 1866 — 71. Einzelarbeiten und die Ztschr. f. physiol. Ch. siehe im Text.
Von grundlegender Wichtigkeit sind Hoppe-Seyler s
Untersuchungen über die Blutfarbstoffe;^) er stellt zu-
erst die Oxyhämoglobinkrystalle rein dar und bewies ihre Identität
mit den natürlichen arteriellen Blutfarbstoffen; er untersuchte das
spektrale Verhalten der Blutfarbstoffe und ihrer Zer-
setzungsprodukte, welche er rein darstellte und benannte [„Hämatin"
und „Hämochromogen"], studierte die Eisenabspaltung aus den-
selben [„Hämatoporphyrin"] und den Zusammenhang mit den
Gallenfarbstoffen. Auch die Lehre von den Blutgasen er-
fuhr durch seine und Sertolis Arbeiten wichtige Bereicherungen,
durch welche der Chemismus der respiratorischen Funktion des Hämo-
globins, der Alkalien und Eiweisskörper des Blutes aufgeklärt wurde.
Er wies die Gegenwart von Lecithin, Plösz unter seiner Leitung
•1) Kühne und Chittenden, Zeitschr. f. Biologie, Bd. 19, N. F. 1, S. 159.
2) Verh. des nat.-med. Vereins in Heidelberg, N. F. Bd. 1, S. 236.
') Virchows Archiv, Bd. 23, S. 446: 1862; Bd. 29, S. 233, 597; 1864; Medi-
zinisch-chem. Untersuchungen, S. 169 ff.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 395
diejenige von Xuklein (s. u.) in den Blutkörperchen nach, wie er
überhaupt, und das ist sein zweites Hauptverdienst, die allgemeine
physiologische Chemie, die Chemie der Zelle und der Gewebe
begründet hat. dank der Anregung und Förderung Virchows.
Hier bereicherte er die physikalische Chemie durch klassische Unter-
suchungen über Diffusion und Osmose,^) sowie über die Gärungs-
vorgänge und die Mechanik der tierischen Oxydation:
so kam er dazu, den Chemismus des lebenden Protoplasmas mit der
Thätigkeit der Fermente zu \'ergleichen,-) bei welchen (z. B. Butter-
säuregärung) Eeduktionsvorgänge und Auftreten von nascierendem
Wasserstoff erfolgen ; letzterer sollte, wie Hoppe-Seyler an
einem mit Wasserstoff beladenen Palladiumblech zeigte, den Luft-
sauerstoff aktivieren und so dasjenige fertigbringen, zu dessen Er-
klärung man vergebens nach dem von Schönbein imJ. 1839 ent-
deckten Ozon im Blut u. s. w. gesucht hatte. Diese „Ferraent-
theorie" ist in klassischer Weise dargestellt im ersten Bande seiner
gi'ossartigen ..physiologischen Chemie", welcher eine Darstellung der
allgemeinen Physiologie und physiologischen Chemie bildet, deren
Form zum wenigsten unerreicht, und deren Inhalt für alle Zeiten
wertvoll bleibt. Und aus den 3 speziellen Teilen desselben Werkes
ist ersichtlich, dass fast kein Gebiet der physiologischen Chemie von
Hoppe-Seyler unbearbeitet gelassen wurde; vor allem aber
zog er füi' diese Fülle der Aufgaben eine reiche Zahl von
Schülern heran, deren Leistungen noch später berücksichtigt werden
sollen; er gab in seinem „Handbuch der ph3^siologisch- und
pathologisch- chemischen Analyse" eine unentbehrliche
Methodik für jede Art medizinisch - chemischer Arbeit und be-
gründete endlich im Jahre 1877 die „Zeitschrift -für physio-
logische Chemie", von der bis jetzt im ganzen 35 Bände er-
schienen sind, indem sie seit seinem Tode von Kossei fortgesetzt
wird. Hoppe-Seyler verdankt die physiologische
Chemie ihre heutige Stellung als selbständige Wissen-
schaft, die vielleicht von ihm und besonders neueren Vertretern
dieses Gebietes etwas mehr betont worden ist, als der Einheit unseres
Faches dienlich wäre.^) Von ihm zeitgenössischen Arbeiten, ins-
besondere solchen, welche auch von Hoppe-Seyler gepflegte
Themata behandeln, sei erinnert an Vierordts ,,Anwendung
des Spektralapparats" u. s. w., Tübingen 1871 u. 73, sowie
„Quantitative Spektralanalyse in ihi-er Anwendung auf Physiologie,
Chemie und Technologie", ebenda 1876; die von ihm eingefülu-te
„Spektrophotometrie" wurde dann weiter ausgebüdet dui-ch
Hoppe-Seyler s Nachfolger als Chemieprofessor in Tübingen,
C. G. Hüfner (geb. 13. Mai 1840), welcher auch die Sauerstoff-
kapazität des Blutes, die Harnstoffbestimmung u. s. w.
bearbeitet hat. Alexander Schmidt [geb. 1831, in Dorpat 1858
promoviert und 1862 habilitiert, 1869 Ord. d. Physiol. als Nachfolger
ßidders, starb am 22. April 1894J bearbeitiete unter Hoppe-
Seylers Leitung die Gerinnung des Blutes. 1862 und
*) Med.-chem. Untersuchungen, S. 1 ff.
*) Ueber die Prozesse der Gärungen und ihre Beziehungen zum Leben der
Organismen. Pflügers Archiv, Bd. 12, S. 1.
*) Vgl. Pflügers Abwehrrede „Wasen und Aufgaben der Physiologie",
Pflügers Archiv, Bd. 18, S. 427; 1878.
396 - Heinrich Bornttau.
1866—67.^) Die Gallenfarbstoffe erfuhren eine gi-ündliche Er-
forschung durch S t ä d e 1 e r und M a 1 y [Richard, 1839— 91 , Chemie-
professor in Graz], welcher letzere 1872 den „Jahresbericht für Tier-
chemie" begründete, an welchem sich später Nencki (s. weiter unten)
und Andreasch beteiligten, welcher letztere ihn jetzt herausgiebt.
Endlich muss gegenüber der Sauerstoffaktivierungstheorie Hoppe-
Seylers die Bedeutung erwähnt werden, welche der Berliner
Chemiker Moriz Traube [gest. 1894, Bruder des grossen Klinikers
Ludwig T raube] der von Schönbein entdeckten und von B u n s e n
näher gewürdigten Katalyse-) sowohl für die Fermentwirkung als
für die Lebenserscheinungen beimass, ein Standpunkt, welcher, wie
wir sehen werden, in neuester Zeit wichtige Stützen gefunden hat.
Die Grundfeste der modernen Physik, und damit der
Biophysik oder physikalischen Physiologie bildet das
Gesetz von der Erhaltung der Energie, und doppelt
ehrenvoll ist es für die deutsche physiologische For-
schung, dass zwei deutsche Aerzte und Physiologen
seine Begründer sind«: Julius Robert Mayer und Her-
mann Helmholtz.
Julius Robert (von) Mayer, geb. am 25, November 1814 in Heilbronn,
studierte in Tübingen und München,, woselbst er 1838 promovierte, ging
1838 auf Reisen in die Tropen, kehrte 1841 zurück, wurde später als
Amtsarzt in seiner Vaterstadt angestellt, aber da Verkennung seiner
Leistungen und die 48er Ereignisse ihn sehr alterierten, 1852 — 54 als
geisteskrank in Göppingen interniert, später gewürdigt, prämiiert und ge-
adelt. Er starb am 20. März 1878.
Schriften s. unten.
Die Beobachtung der heller roten Farbe des arteriellen Blutes
in den Tropen, welche wir jetzt als Zeichen der verminderten Wärme-
produktion in heisser Umgebung ohne weiteres verstehen, brachte
Mayer auf den Gedanken, die tierische Wärmeökonomie überhaupt
und in der Folge auch die Kraftökonomie in der unbelebten Natur
zu untersuchen; die Ergebnisse dieser Studien veröffentlichte er in
den „Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur"
in den Annalen der Chemie 1842, sowie in dem Buche „Die orga-
nische Bewegung in ihrem Zusammenhang mit dem
Stoffwechsel", Heilbronn 1845, worin das Prinzip der ün-
zerstörbarkeit der Energie und der Aequivalenz ge-
wisser Mengen der verschiedenen Energieformen deut-
lich, wenn auch noch nicht in der späteren Exaktheit ausgesprochen
ist; Seine 1848 erschienenen „Beiträge zur Dynamik des Himmels"
enthielten die kosmische Verallgemeinerung dieses Prinzips. Nach-
dem inzwischen 1847 Helmholtz' Schrift „Ueber die Erhaltung der
Kraft" erschienen war und seit 1843 der Engländer Joule die ersten
experimentellen Bestimmungen des mechanischen Wärmeäquivalents
ausgeführt hatte, erschien Mayers Prioritätsreklamation
„Bemerkungen über das mechanische Aequivalent der
Wärm e", (Heilbronn 1851), an welche sich später verschiedene Vor-
träge und die „Gesammelten Schriften über die Mechanik
der Wärme", Stuttgart 1867, anschlössen. Die vonMayer aus-
^) „Hämatolog. Studien", 1865; „Lehre v. den fermentat. Gerinnungsersch.", 1876.
2) Gesamm. Abh., Berlin 1899.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 397
gesprochene Notwendigkeit des Energiekreislaufs als
Begleiter des Stoffkreislaufs brachte erst das wirkliche
Verständnis der tierischen Energieausgaben —
tierische Wärme, Bewegung u. s. w. — als Ausdruck
des überwiegend in „exothermischen Reaktionen" ver-
laufenden tierischen Stoffwechsels, — welches schliesslich,
wie wir später sehen werden, bis zur Aufstellung von für die schwierige
Technik bewunderungswürdig genauen „Energiebilanzen" neben
den Stoifbilanzen geführt hat, nachdem die experimentelle und physi-
kalische Physiologie es bis zu genügenden dynamometrischen
und kalorimetrischen Methoden gebracht hatte: hierfür
die ersten bahnbrechenden Schritte unternommen zu
haben ist eins der unsterblichen Verdienste von
Helmholtz.
Hermann L. F. (von) Helmholtz wurde geboren in Potsdam am 31. August
1821, studierte als Eleve des Berliner medizin.-chirurg. Friedrich- Wilhelms-
institnts, promovierte 1842 mit der Dissertation „De fabrica systematis ner-
vosi evertebratorum", war von 1843 ab zunächst Militärarzt in Potsdam,
1848 anatom. Assistent in Berlin unter Joh. Müller, wurde 1849 als
Prof. der Physiologie und allg. Pathologie nach Königsberg berufen, 1855
als Ordinarius der Anatomie und Physiologie nach Bonn versetzt, ging
1858 nach Heidelberg als Physiologe, 1871 nach Berlin als Ordinarius der
Physik, trat 1888 krankheitshalber zurück und wurde Präsident der physikal.-
technischen Eeichsanstalt in Charlottenbnrg, welche Stellung er behielt bis
zu seinem Tode am 8. September 1894.
Ueber seine physiolog. bedeutenden Schiften siehe den Text.
Indem er damit begann, nach den chemischen Verände-
rungen des Muskels bei seiner Thätigkeit zu suchen,
fand Helmholtz 1845,^) dass in der That dabei sein Wasserextrakt
an Menge ab-, sein Alkoholextrakt zunimmt. Den nächsten Schritt
bildete 1848 -) der exakte Nachweis der Erwärmung ver-
mittelst der th e r moel ektris eben Methode beim thätigen
ausgeschnittenen Froschmuskel, bei welchem die in der
vermehrten Durchströmung mit dem höher temperierten Blut liegende
Fehlerquelle ausgeschaltet war, welche die früheren gleichlautenden
Ergebnisse von Becquerel und Bresche t am Warmblütermuskel
unsicher gelassen hatte. Den dritten Schritt bildete die A n we n d u n g
der 1847 von Ludwig in die Physiologie eingeführten
graphischen Methode (s. später) zur Aufzeichnung des
zeitlichenVerlaufs der Muskelzuckun g, ,,M3'ographie, Myo-
graphion", im Jahre 1850, ^) durch welche das Latenzstadium (welches
als längerer Zwischenraum zwischen Beginn der Reizung und der
Kontraktion bei den glatten Muskeln längst bekannt war), das
Stadium der „steigenden" und dasjenige der „sinkenden" Energie am
quergestreiften Muskel kenntlich gemacht wurde; dieses neue Rüst-
zeug, sowie das von ihm erfundene Ueberlastungsverfahren in Ver-
bindung mit der Pouilletschen zeitmessenden Methode benutzte
Helmholtz alsbald zur Messung der Fortpflanzungs-
geschwindigkeit im motorischen Froschnerven — als
1) Müllers Archiv, 1845, S. 72.
«) Ebenda, 1848. S. 144.
») Ebenda, 1850,' S. 276.
398 • Heinrich Boruttau.
,,Differenz der Latenzzeiten, dividiert durch die Diflerenz der Wege",
d. h. der Entfernung zwischen einer dem Muskel näheren und einer
von ihm entfernteren Reizstelle — ; dieselbe ergab sich, nachdem
noch Joh. Müller sie für un messbar gross hielt, als von einer
unerwartet niedrigen Grössenordnung, kaum 30 Metern
in der Sekunde; Hei mholtz entdeckte auch alsbald ihre Herab-
setzung durch Temperaturerniedrigung und verbesserte
weiterhin das solchen exakten Untersuchungen dienende Myographien. ^)
Er fand ferner die Superposition der Muskelzuckungen, ^)
bewies die diskontinuierliche Natur des bereits von Weber
untersuchten und durch frequente Induktionsströme künstlich erzeugten
Muskeltetanus und beschäftigte sich mit dem Verhalten des von
W 0 1 1 a s 1 0 n 1800 entdeckten „M u s k e 1 1 o n s" oder „-geräusche s".^)
Er konstruierte zur Erzeugung von besser nivellierten Wechselströmen
vermittelst des von du Bois-Reymond angegebenen „Schlitten-
induktoriums" die nach ihm benannte Modifikation des Neef-
Wagnerschenünterbrechersu. a. Die Bearbeitung des Muskel-
tons hängt bereits zusammen mit seinen akustischen Arbeiten,
welche ebenso wie die optischen für die Physiologie der
Sinne epochemachend geworden sind, ihn selbst aber immer
mehr von der Physiologie ab- und der reinen Physik zugewendet haben.
Einer der ersten Erfolge seiner optischen Arbeiten wurde gleichzeitig zum
umwälzenden Ereignis für das praktisch-medizinische Fach der Augen-
heilkunde, nämlich die Entdeckung des Augenspiegels. Die
Erkenntnis, dass die Pupille des beobachteten Auges deshalb schwarz
erscheint, w^eil der Beobachter selbst den Eintritt des Lichtes in das
Augeninnere absperrt, existierte bereits seitCumming und Brück es
Beobachtung des sogenannten „Augenleuchtens" (1847); die Bemühungen,
den Augenhintergrund in genügender Weise künstlich zu erleuchten,
waren indes fehlgeschlagen, bis 1851 Helmholtz die Aufgabe in ein-
fachster Weise löste*) durch Anwendung einer Schicht mehrerer,
das Licht einer Lampe in das beobachtete Auge hinein total reflektierender
Glasplatten, welche, schräg vor das Auge des Beobachters gehalten,
diesem den Durchblick ermöglichten; man ersetzte sie später durch
einen in der Mitte durchbohrten schwach gekrümmten Hohlspiegel.
Eine ausführliche und vollendete Darstellung der Lehre vom Gesichts-
sinn gab Helmholtz in seinem klassischen „Handbuch der
physiologischen Optik". Leipzig 1861, in welchem auch Ge-
schichte und Litteratur eingehend berücksichtigt sind, so dass an der
Hand desselben die Entwicklung der Hauptabschnitte der physio-
logischen Optik, soweit sie noch nicht behandelt wurde, hier nachgeholt
werden kann. Für die Dioptrik des Auges Avurden die mathe-
matischen Arbeiten von Eni er und Gauss, sowie die Experimente
Volkmanns (1836) von höchster Bedeutung, auch muss der Messungen
und Berechnungen Listings in Göttingen ^) gedacht werden. Um die
Messung der brechenden Kraft der Augenmedien machten sich
verdient Th. Young (1801), Brewster (1819), später Quesnel
1) Ebenda, 1852, S. 199.
2) Monatsber. d. Berl. Akad., 1854, S. 328.
8) Ebenda, 1864, S. 307, u. a. a. 0.
*) Beschreibung eines Augenspiegels u. s. w., Berlin 1851.
^) Beitr. z. Dioptrik des Auges, Gott. 1845; Artikel „Auge" in Wagners Hand-
wörterbuch.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 399
und AVilh. Krause; die Messung der Krümmungsradien der
Trennungsflächen erhielt die grösste Genauigkeit durch die An-
wendung der Purk inj eschen Spiegelbilder in Helmholtz' Ophthal-
mometer;^) die Accomodation des Auges, welche wie früher
von de 1 a H i r e und H a 1 1 e r , so noch von M a g e n d i e , R i t te r u. a.
gänzlich bestritten worden war, war durch Hu eck (1826), Yolk-
mann, Mayer und Gramer sichergestellt, doch bis auf Helmholtz
auf verschiedene, von einander sehr abweichende Weisen erklärt
worden — Krümmungsänderung der Hornhaut, Home, R a m s d e n u. a. ;
Verschiebung der Linse, Brewster,Joh. Müller; Formveränderung
der Linse, Th. Young. Purkinje, Hueck; Form Veränderung des
Augapfels, Meckel. Arnold, Heule, Listing — ; Helmholtz-)
gab die heute allgemein angenommene Erklärung, nach welcher die
Linse dicker, insbesondere ihre Vorderfläche stärker gekrümmt wird,
und zwar infolge der Entspannung der Zonula Zinnii bei der Kon-
traktion des Ciliarmuskels und kraft ihrer eigenen, im Ruhezustand
dauernd in Anspruch genommenen Elastizität. Untersuchungen des
normalen regelmässigen Astigmatismus des Auges stammen von
Th. Youn g, von dem später zu würdigenden holländischen Physiologen
Donders,^) von Knapp und von Helmholtz. Die Bewegungen
der Iris und ihre Innervation („Centrum ciliospinale" u. s. w.) erfuhren
eine vortreifliche Bearbeitung durch den früher schon bei der Be-
sprechung des Herzvagus gewürdigten Forscher Budge.^) Was die
in Helmholtz Buch den zweiten Hauptabschnitt bildende Lehre
von den Gesichtsempfindungen betrifft, so war die Grösse des
bekanntlich von dem französischen Physiker Mariotte (1620 — 1681)
entdeckten blinden Flecks und die Genauigkeit des Sehens schon früh
zu messen versucht worden. Die Entdeckung der Stäbchen und
Zapfen der Netzhaut, ihre Messungen u. s. w. brachten hier neue
Aufklärung; die Purkinje sehe Aderfigur und die Struktur des
blinden Flecks liess schon 1851 Helmholtz den Satz von der
Unempfindlichkeit der Optikusfaserschicht für den
Lichtreiz aussprechen; Hermann Müller (.,Müllersche Stütz-
fasern*") erbrachte endlich 1855-^) den experimentellen Beweis dafür,
dass die Stäbchen und Zapfen die eigentlichen lichtperzipierenden Ele-
mente sind. Die physiologische Farbenlehre (^Lehre von den
farbigen Lichtempfindungen) wurde, nachdem die physikalische Farben-
lehre (Lehre von den verschiedenfarbigen Lichtarten) durch Newton,
Huyghens Und Euler trotz Goethes u. a. Einwendungen ein für
allemal festgelegt war, insbesondere durch Thomas Young*)
(1773 — 1829, berühmter englischer Arzt und Physiker) begründet,
dessen Annahme dreier verschiedener farbenempfinden-
der Elemente in der Netzhaut (1807) dann 1852 von Helm-
holtz') und 1855 von Maxwell wiederaufgenommen und bearbeitet
wurde. Von grosser Bedeutung waren hier die Beobachtungen über
') Graefes Archiv f. Ophthalmologie, Bd. U, 2, S. 52.
«) Ebenda, S. 1-71.
*) Astigmatismus, Berlin 1862.
*) Ueber die Bewegungen der Iris, 1855.
*) Verh. d. physikal.-medizin. Gesellsch. in Würzburg, Bd. 4 und 5.
*) Lectures on natural philosophy, London 1807.
') Müllers Arch., 1852, S. 461; Ann. der Physik, Bd. 87. S. 45. Bd. 94. S. 1.
1853; u. vieles andere.
400 ' Heinrich Boruttau.
Farbenblindheit, insbesondere von John Dalton, welcher selbst
rot[grün]blind war („Daltonismus"'), und später von dem schwe-
dischen Forscher Fritjof Holmgren (s. weiter unten). Von den
Arbeiten Purkinjes über subjektive und Joh. Müllers über
phantastische Gesichtserscheinungen ist schon die Rede gewesen;
Nachbilder undKontrastersche in ungen, insbesondere farbige
(Goethe) waren schon länger bekannt; die Irradiation erklärte
seiner Zeit Descartes aus nervöser Miterregung, später V o 1 k m a n n
aus mangelhafter Accomodation ; die stroboskopischen Erschei-
nungen wurden von 1829 an besonders durch den verdienten
belgischen Physiker Plateau (1801—1883) untersucht — 1832 er-
fand Stampfer in Wien die stroboskopische Scheibe — ; doch erst
durch A. Fick 1863,^) später durch Exner u. a. wurde der Ein-
fluss der Ermüdung auf den zeitlichen Verlauf der
Netzhauterregung genauer untersucht. Die Augen-
bewegungen behandelte bereits Joh. Müller 1826 in seiner er-
wähnten „vergleich. Physiologie des Gesichtssinns"; er wie Volk-
mann, Hueck u. a. blieben in IiTtümern betreffend den Drehpunkt
des Auges und das Vorkommen von Achsendrehung. Listing stellte,
ohne es selbst zu publizieren, 1850 ein Raddrehungsgesetz auf, welches
von Meissner-) geprüft und im wesentlichen richtig befunden,
später von Helmholtz nachuntersucht wurde, während Fick und
AVundt in anderer Weise denselben Gegenstand bearbeiteten. Das
erste Augendrehungs modeil („Ophthalmotrop") konstruierte
Ruete 1857; die von Aquilonius 1613 begründete Lehre vom
Horopter wurde besonders von Joh. Müller, Meissner, Helm-
holtz und Volkmann gefördert. 1833 konstruierte der englische
Physiker Wheatstone (1802 — 1875) das Spiegelstereoskop,
1843 ßre WS t er (1781— 1868) das Prismenstereoskop, 1850 sah
Dove den „stereoskopischen Glanz". Die allgemeinen Fragen der
Wahrnehmungen des Gesichtssinns, zahlreiche Details betr. Aufrecht-
sehen, Einfachsehen mit beiden Augen, optische Täuschungen u. s. w.
sind von Helmholtz eingehend bearbeitet worden, durchwegs im Sinne
der „empiristischen" Theorie; der gegenteilige „nativistische Stand-
punkt" Herings wie auch die Verdienste dieses Forschers und anderer
neuerer um die Sinnesphysiologie werden weiter unten gewürdigt.
Nachdem die physikalische Schalllehre duixh die bahnbrechenden
Arbeiten Chladnis, durch die Web er sehe Wellenlehre (vergL
oben) u. a. mächtig gefördert worden war, erfolgte für die physio-
logische Akustik der grundlegende Schritt durch die Entdeckung
und Beschreibung des nervösen Aufuahmeapparates in der Schnecke
durch den Wiener Anatomen Corti im Jahre 1846, — des „Cor ti-
schen Organs", auf dessen Bau Helmholtz seine be-
rühmte Resonatorentheorie der Klanganalyse durch
das Ohr begründete. Helmholtz machte sich ferner auf diesem
Gebiete durch Untersuchungen über das Trommelfell und die Me-
chanik der Gehörknöchelchen^) verdient, sowie durch Versuche über
die Analyse und Synthese der Vokalklänge der menschlichen Stimme,
welche ihn erst zu der „Theorie vom relativen Moment" führten,
1) Müllers Arch., 1863, S. 764.
^) ,.Beitr. zur Physiologie des Sehorgans", Leipz. 1854.
8) Pflügers Archiv, Bd. 1, 1868.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 401
wonach die Vokale gewissermassen transponierbare Accorde wären,
während er sich später für das ..absolute Moment", d. h. die feste
Lage gewisser Partialtöne der Vokalklänge entschied. Eine zu-
sammenfassende Darstellung des ganzen Gebietes gab
Helmhol tz bereits 1862 in seiner „Lehre von den Ton-
empfindungen als physiologische Grundlage für die
Theorie der Musik", welche letztere in der That physikalisch,
physiologisch, historisch und ästhetisch darin in musterhafter Weise be-
rücksichtigt ist ; das Buch erschien später noch in zahlreichen Auflagen.
Ein beweisender Vei-such dafür, dass der Geruchssinn nur
durch Gase und Dämpfe erregt wird, rührt von E. H. Weber^) her
1834; messende Versuche über die Schärfe des Geruchssinns
von Valentin und von dem französischen Parfümeur Passy; die
Natur der Geschmacksknospen als Sinnesaufnahmeapparat stellte
Schwalbe -j 1867 fest ; weitere Versuche über die E m p f i n d u n g s -
qualitäten dieses Sinnes stellten u. a. der italienische Physiologe
L US Sana [1820 — 1898, Schüler des älteren Panizza, Professor in
Parma und Padua] und der Oesterreicher v. Vintschgau [1832 —
1902. Professor in Padua, Prag und Innsbruck] an.
Was endlich die Hautsinnesgebiete u. s. w. betrifft, so sei
erinnert an die Entdeckung der Vater-Pacini sehen Körperchen
1?41, sowie an die berühmte von Meissner zusammen mit
Rud. Wagner 1852 gemachte Entdeckung der eigent-
lichen Tastkörperchen.^) Bereits vor der letzteren hatte
Ernst Heinrich W^eber in seinen Annotationes anatomicae et
physiologicae 1834 seine klassischen Versuche über den Tast-
sinn und die Empfindungkreise, den Temperatursinn
u. s.w. veröffentlicht und den Satz von der Vergröberung der
Differenz empfindlichkeit mit dem Anwachsen des
Reizes ausgesprochen: — das sogenannte „Webersche Gesetz",
aus welchem später Gustav Fechner [1801 — 1887, Prof. in Leip-
zig] folgern zu können glaubte, dass die Empfindungen selbst wie die
Logarithmen der Reize wachsen, eine von den späteren Psycho-
phj-sikern (s. weiter unten) viel umstrittene Frage.
Die gewaltigen Fortschritte der ersten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts auf dem Gebiete der (physikalischen) Elek-
trizitätslehre haben in gleicher Weise, wie schon früher er-
wähnt, die Anwendung der Elektrizität zu Reizzwecken
gefördert, und weiterhin eine eingehende Erforschung der
tierisch-elektrischen Erscheinungen ermöglicht.
Für die Existenz einer tierischen Elektrizität im
Sinne Galvanis, gegen V o 1 1 a s lange absolut negierenden Stand-
punkt hatte sich, wie schon früher angedeutet, der unsterbliche
Alexander vonHumboldt (1769 — 1859) ausgesprochen, und ihre
wahrscheinliche Bedeutung für die Funktion der Nerven und Mus-
keln betont in seiner berühmten Schrift „Ueber die gereizte
Muskel- und Nervenfaser" u. s. w., Berlin 1797—1799. Um
jene Zeit wirkte auch Johann AVilhelm Ritter [geb. am 16.
Dezember 1776 zu Samitz bei Hainau in Schlesien, Pharmazeut und
^1 Annotationes, 1. Band.
Arch. f. uiikroskop. Anat., 3. Bd., S. 404.
^j Beiträge zur Anatomie und Physiologie der Haut, Leipzig 1853.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 26
402 Heinrich Boruttau.
Mediziner, lebte in Jena, Gotha und Weimar als Privatgelehrter,
seit 1804 als Akademiemitglied in München, starb daselbst am 23.
Januar 1810], dessen wichtigste Arbeiten in den Schriften niedergelegt
sind: „Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprozess
im Tierreich begleitet", Weimar 1798; — „Beiträge zur Kenntnis
des Galvanismus", Jena 1800; „Neue Beiträge desgl.", Tübingen
1808; — „Ueber den Einfluss des Galvanismus auf die Erregbarkeit
tierischer Teile", in den Denkschriften der Münchener Akademie
1809. Ritter verfocht nicht nur die Existenz und Be-
deutung einereigenen tierischenElektrizität, sondern
unterzog auch die Wirkungsweise des „galvanischen"
Stroms der Hydrokette (Voltaschen Säule) auf die er-
regbaren tierischen Gebilde einer sorgfältigen Unter-
suchung; er erkannte, dass die Oeffnung und Schliessung
Zuckungen macht, dass während der Dauer der Durch-
strömung Veränderungen der Erregbarkeit im Nerven
auftreten und entdeckte den nach Oeffnung des länger
im Nerven geschlossen gewesenen Stroms auftretenden
Muskeltetanus — „Ritter scher Tetanus"; endlich war er
mit Erfolg bemüht, die gesetzmässige Abhängigkeit des Eintretens
der Zuckungen von der Richtung und Stärke des dem Nerven zu-
geleiteten Stromes zu erkunden — „Zuckungsgesetz", — wobei er
freilich in Statuierung eines prinzipiell gegensätzlichen
Verhaltens der Beuge- und Streckmuskeln zu weit ging;
er studierte endlich auch die Wirkung des Stromes auf die
Sinnesapparate: Lichtwahrnehmungen des elektrisch durch-
strömten Auges, „elektrischer Geschmack und Geruch", allgemeine
Elektrosensibilität u. s. w. Weiter durchforscht wurde dieses Gebiet von
dem hochverdienten Pfaff [Christoph Heinrich, 1773 — 1858,
Professor in Kiel, schrieb eine allg. Physiologie], von Bellingeri,
Marianini, doch konnte es erst die Entdeckung des Elektromagne-
tismus sein, welche einerseits, wie schon oben S. 374 erwähnt, die Reiz-
technik durch Einführung der Induktionsströme vervollkommnete,
andererseits in der Wirkung des Stromes auf die Magnetnadel
ein einwandfreies und empfindliches Prüfungsmittel auf
das Vorhandensein elektrischer Kräfte darbot. Der Mann,
welcher dem von Schweigger 1822 erfundenen „Multiplikator" durch
Anwendung des Ampere sehen astatischen Nadelpaares zu bedeutend
vergrösserter Empfindlichkeit verhalf (1825), nämlich Nobili [Leo-
polde, 1784—1835, aus Reggio, Artilleriekapitän, später Professor
der Physik in Florenz], entdeckte 1827 ^) eine in konstanter Richtung
und dauernd im lebenden Froschkörper vorhandene elektromotorische
Kraft; dieser „Frosch ström" wurde zum Ausgangspunkte
aller weiteren Untersuchungen über das elektrische
Verhalten tierischer Teile. Dieses Arbeitsgebiet betrat zuerst
der Italiener Matteucci [Carlo, geb. am 20. Juni 1811 in Forli,
studierte in Bologna — promoviert 1829 — und Paris, weiterhin
Professor der Physik in Bologna, Ravenna und Pisa, später italie-
nischer Senator, General-Telegraphendirektor und Unterrichtsminister,
gestorben im Juni 1868J. Er entdeckte bereits im Jahre 1841 die
*) Ann. de cbimie et de phys., T. 38, p. 225; 1828.
Greschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 403
..sekundäre Zuckung",^) welche er aber später nicht mehr als
das gelten lassen wollte, wofür er sie anfangs selbst ansah und was
sie wirklich ist, nämlich als Ausdruck einer elektrischen
Veränderung des thätigen Muskels [wofür sie auch Bec-
querel ansah, unter Vergleichung mit dem Schlag der Zitterfische].
Er entdeckte ferner den elektromotorischen Gegensatz
..zwischen der Muskeloberfläche und dem Muskelinnern",
wie er es ansah, und konstruierte aus Froschmuskeln tierisch- elek-
trische Säulen; alle diese Dinge behandelte er ausführlich in seinem
Traite des phenomenes electrophysiologiques , zuerst Paris 1844 er-
schienen, später als Cours d'electrophysiologie erweitert; im selben
Jahre bearbeitete er auch mit Longe t die Frage des Zuckungs-
gesetzes. Endlich veröffentlichte er 1847 seine Lecons sur les pheno-
menes physiques des corps vivauts. in welchen insbesondere wich-
tige Untersuchungen über die Diffusions Vorgänge ent-
halten sind. Zu einem grossen Gebiete exakten Wissens wurde
immerhin die „Elektrophysiologie" erst durch die un-
vergleichlich sorgfältige Forschung eines der bedeu-
tendsten Schüler Johannes Müllers, nämlich du Bois-
Reymond.
Emil du Bois-Reymond ist als Sohn eines Xeuchäteler Uhrmachers am
7. November 1818 in Berlin geboren, studierte daselbst und in Bonn, wurde
Assistent Johannes Müllers, promovierte 1842 mit der Dissertation »Quae
apud veteres de piscibus electricis exstant argumenta", wurde 1858 als
Nachfolger Job. MüUers ordentlicher Professor der Physiologie in Berlin,
1867 ständiger Sekretär der preuss. Akademie, wirkte bis zu seinem am
26. Dezember 1896 erfolgten Tode.
Von seinen Schriften ist unten im Text die Rede.
1841 von Johannes Müller auf den Froschstrom und Mat-
teuccis Essai darüber hingewiesen, publizierte du Bois-Rey-
mond bereits 1842 eine Arbeit über dieses Thema und machte weiter-
hin die Erforschung der tierisch - elektrischen Er-
scheinungen zu seiner Lebensaufgabe. Er schuf eine
exakte Methodik für die Beobachtung der Erscheinungen selbst
wie für die Anwendung der Elektrizität zum Reizen u. s. w.: Bau
empfindlichster Multiplikatoren; unpolarisierbare
und gleichartige Elektroden [Regnaulds amalg. Zink-
Zinksulfatkombination]; Rheochord; runder Kompensator;
Schlitteninduktorium u. s, w.; er gab dem allgemeinen
Erregungsgesetz die bestimmte Form, wonach die Reizstärke
der Steilheit der Dichteschwankung entspricht ; er präzisierte die
Erscheinungsweise aller grundlegenden tierisch-elek-
trischen Erscheinungen: Längsquerschnitt-, von ihm sog.
Ruhestrom; „negative Schwankung" desselben als elektrischer
Ausdruck der Thätigkeit, beides beim Muskel wie beim Nerven, an
letzterem endlich die extrapolaren elektrotonischen Ströme
bei konstanter Durchströmung; er wies die Wege zur denkbar sorg-
faltigsten Ausschliessung aller Fehlerquellen auf diesem
so schwierigen Gebiet (unipolare Abgleichungen u. s, w.) und suchte
aUe Erscheinungen durch seine, der Faraday sehen Theorie des
*) Mitteilung an die Pariser Acad. des sciences vom 28. Febr. 1842.
26*
404 Heinrich Boruttau.
Magnetismus nachgebildete M o 1 e k u 1 a r t li e o r i e zu erklären. Diese
Leistungen sind niedergelegt in seinen berühmten „Unter-
suchungen über tierische Elektrizität", deren erster Band
Berlin 1848 erschien, 1849 die erste Hälfte, 1860 die zweite Hälfte
des zweiten Bandes, in welchem letzteren wichtige Aufschlüsse über
die elektrischen Fische enthalten sind (Richtung des Schlages,
Immunität der Tiere gegen den eigenen Schlag u. s. w.); letzteres
Spezialgebiet wurde weiter bearbeitet von du Bois-Reymonds
Schüler Carl Sachs, dessen „Untersuchungen am Zitteraal nach
dessen frühem Tode der Meister selbst herausgab [Leipzig 1881],
besonders in anatomischer Hinsicht durch Gustav Fritsch [geb.
1838, jetzt noch Abteilungsvorsteher am Berliner Institut] und später
wieder durch duBois-Reymond selbst. Zahlreiche in Zeitschriften
und Archiven niedergelegte Einzelarbeiten du Bois' gab er später
selbst zusammen heraus als „Gesammelte Abhandlungen zur
Muskel- und Nervenphysik", Berlin 1875/77. Andere Gebiete
der Physiologie hat du Bois-Rej^mond kaum bearbeitet, indessen
wirkte er hier durch Fortführung von Müllers Archiv für Anatomie
und Physiologie nach dessen Tode gemeinschaftlich mit Reichert
von 1859 — 1877, in welchem Jahre eine Trennung erfolgte, nach
welcher H i s und Braune die anatomische Abteilung und d u B o i s -
Reymond die physiologische weiter redigierten.
Bedeutendes dagegen hat duBois-Reymond geleistet für die
allgemeine wissenschaftliche Bildung und philo-
sophische Denkreife des deutschen Volkes durch seine,
meist in der Akademie der Wissenschaften gehaltenen Reden von
stilistischer Vollendung, die freilich oft des Schwulstes nicht ent-
behren; sie erschienen gesammelt in zwei Bänden 1886—87; hier sei
nur erinnert an: Leibniz'sche Gedanken in der neuen Naturwissen-
schaft" 1871; „Darwin versus Galiani" 1876; „Der physiologische
Unterricht sonst und jetzt", 1878, zur Eröffnung des von du Bois-
Reymond eingerichteten Berliner Muster-Instituts mit seinen einzelnen
Abteilungen; „Ueber die Grenzen des Naturerkennens," 1882, enthält
das berühmte „Ignorabimus"; „Ueber Neovitalismus", 1894. Seine
Stellung ist diejenige des Materialismus, von dessen Entstehung
und Beziehungen zu unserer „klassischen Periode der Naturwissen-
schaften" bald die Rede sein soll. Die durch du Bois-Reymond
geschaffene exakte elektrophysiologische Methodik gestattete auch
eine genauere Untersuchung der Dauerwirkungen des kon-
stanten Stomes, als sie Ritter und seinerzeit möglich gewesen
war: die erregbarkeitsändernden Wirkungen des Stromes auf die
Nerven, der sog. „Elektrotonus" erfuhr eine genaue Untersuchung
durch Eckhard (siehe weiter unten) und Pflüger (siehe weiter
unten), w^elcher letztere in seiner „Physiologie des Elektro-
tonus", Berlin 1856, die gesteigerte Erregbarkeit im Bereiche der
Kathode, die verminderte im Bereiche der Anode, die Aufhebung der
Leitungsfähigkeit bei starker Durchströmung u. s. w. in den feinsten
Einzelheiten exakt darstellte, ferner das von Ritter geahnte „po-
lare Erregungsgesetz" aussprach und in dem Sinne deutete,
dass „Erregung eintrete durch Entstehen des Katelektrotonus und
Verschwinden des Anelektrotonus", endlich mit den Thatsachen des
Elektrotonus und den Erregungsgesetzen das von ihm richtig auf-
gestellte [„Pflüg er sehe"] Zuckungsgesetz für den Frosch-
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 405
nerven in Einklang brachte. Endlich gestattete die verbesserte
Methodik auch eine wissenschaftliche Ausbildung der Elektrö-
diagnostik und Elektrotherapie, zu welcher insbesondere
der schon früher von uns gewürdigte Eobert Remak Bedeuten-
des beitrug : „Ueber methodische Elektrisierung gelähmter Muskeln",
Berlin 1855; „Galvanotherapie der Nerven- und Muskel-
krankheiten", ebenda 1858. Ferner verdient um dieses sonst
hier nicht weiter hergehörige Gebiet machte sich der Franzose
G. B. Duchenne [aus Boiüogne. geb. 1806J, welcher übrigens seine
lokalisierte [„polare", „unipolare"] Faradisierung [De Telec-
trisation localisee etc., Paris 1855] für die Erforschung der
Funktionen der einzelnen Gesichts- und Skelettmuskeln
dienstbar machte: „Mecanisme de la ph^^sionomie humaine",
Paris 1862 ; ..Physiologie des mouvements", ebenda 1867, deutsch von
C. Wernicke 1881.
Haben wir bis jetzt die Förderung der Physiologie nach den
drei Einzelrichtungen der mikroskopischen, chemischen und physi-
kalischen Forschung durch die Schüler Johannes Müllers kennen
gelernt, von denen insbesondere Helmhol tz und du Bois-Rey-
mond etwas einseitig die Sinnes-, allgemeine Muskel- und Nerven-
physiologie bevorzugten, so haben wir jetzt noch einiger Männer
zu gedenken, welche wie Joh. Müller selbst in weiter-
gehendem Masse den Satz des grossen Meisters be-
stätigten, dass jede Methode recht ist, welche zum
Ziele führt, und die bemüht w aren, in gleicher Weise
alle Zweige der Physiologie experimentell zu fördern.
Hier steht in erster Linie, Joh. Müller ebenbürtig und als Haupt
einer über die ganze Welt verbreiteten modernen
Physiologenschule, Karl Ludwig.
Karl Friedrich "Wilhelm Ludwig wurde am 29. Dezember 1816 zu
Witzenhausen a. d. Werra in Hessen geboren, studierte in Marburg und
Erlangen, promovierte 1839 in Marburg, wurde dort 1841 zweiter Prosektor,
habilitiei-te sich 1842 für Physiologie, wurde 1846 Extraordinarius für
vergleich. Anatomie ; 1849 wurde er als Ordinarius für Anatomie und
Physiologie nach Zürich, 1855 als ebensolcher für Physiologie und Zoologie
nach Wien ans Josephinum berufen; 1865 ging er als ord. Prof. der Physio-
logie nach Leipzig, in welcher Stellung er bis zu seinem am 24. April 1895
erfolgten Tode wirkte.
Werke siehe den Text.
Es giebt kaum ein Spezialgebiet der Physiologie, welches Ludwig
nicht bearbeitet hätte, unter Heranziehung aller Methoden, welche
positive Ergebnisse versprachen im Sinne dessen, was er als End-
zweck der Experimentalphysiologie betrachtete, — nämlich
Zurückführung der normalen, wie auch pathologischen
Funktionen des Organismus aufGesetze derPhysik und
Chemie, so dass sie, wenn möglich, mathematisch bestimmbar seien :
wenngleich er selbst selten exakter Formeln sich in seinen Arbeiten
bediente, so sprach er doch gelegentlich einmal direkt als Beispiel
einer Idealleistung der naturwissenschaftlichen ^ledizin aus „die
mathematische Definition eines Geschwürs". Auf diese Weise wurde
er zu einem der erfolgreichsten Kämpfer gegen die
„Lebenskraft", wenngleich er diesen Namen in seinen Schriften
406 ' Heinrich Boruttau.
kaum je nennt. Durch lange Thätigkeit als Prosektor geschulter
Anatom, ward Ludwig der Meister der „Vivisektion", die er
aufs äusserste verfeinerte und niemals nutzlos und übertrieben hand-
habte.^) Nach Leipzig berufen, Hess er die erste grössere und
für alle Arbeitsrichtungen der Physiologie reich aus-
gerüstete „physiologische Anstalt" in Europa bauen, welche
1869 eröffnet, wie seinerzeit das erste physiologische Institut über-
haupt (Purkinje in Breslau) epochemachend und das Vor-
bild aller modernen grösseren physiologischen Institute
(so des schon erwähnten von du Bois-Reymond eingerichteten
Berliner Instituts) geworden ist. Zu dieser Zeit hatte Ludwig
seine bedeutendsten von ihm selbst veröffentlichten Arbeiten bereits
gemacht, auch sein berühmtes „Lehrbuch der Physiologie des
Menschen" — 2 Bde., Leipzig 1852/1856; 2. Aufl. 1858/1861 —
längst publiziert und ist von da an unter seinem eigenen Namen
kaum mehr viel erschienen: doch zeigte er hier um so mächtiger
seine gewaltige Fähigkeit und sein eifriges Bestreben,
Schüler auszubilden, welche seinen Namen in alle Welt tragen
sollten, unter seiner Leitung als grosser „Unternehmer" [Henke]
Untersuchungen anstellten, welche eigentlich auf seine Rechnung
kamen, die er oft genug, besonders für Ausländer, selbst ganz aus-
gearbeitet und nur unter des jeweiligen Schülers Namen veröffent-
licht hat: diese Arbeiten sind teils in Zeitschriften und Archiven
veröffentlicht, teils auch als „Arbeiten aus der Leipziger
physiologischen Anstalt" gesammelt selbständig und in den
Berichten der Leipziger Akademie erschienen. Ueber 200 Mit-
arbeiter und Schüler hat Ludwig auf diese Weise beschäftigt,
Angehörige aller Nationen, welche die Herrschaft der deutschen
Experimental Physiologie in alle Länder, ausgenommen Frankreich,
trugen und von denen viele in Deutschland, mehr noch im
Ausland, physiologische Lehrstühle erhielten und In-
stitute leiteten bezw. noch leiten.
Vor allem anderen untrennbar verknüpft bleibt L u d w i g s Name
mit der modernen Physiologie des Kreislaufs und der Aus-
scheidungen. 1847 führte er die in der Physik und Astro-
nomie längst heimische graphische Methode in die
Physiologie ein, indem er auf die Quecksilberkuppe im offenen
Schenkel von Poiseulles Blutdruckmanometer (s. früher) einen
Schwimmer aufsetzte, dessen aus dem Manometerrohr herausragendes
Ende eine Schreibfeder trägt, welche auf einem mit Papier über-
zogenen Registriercylinder die „Blutdruckkurve" aufschreibt. -j Dieser
so einfache Apparat, das „Kymographion" („Wellenzeichner")
wurde das unentbehrlichste Rüstzeug nicht nur für die
Physiologie, sondern auch die experimentelle Patho-
logie und Pharmakologie, wie zahlreiche Untersuchungen des
grossen Klinikers Ludwig Traube [1818—1876] — Traube-
Heringsche Wellen und vieles andere, siehe seine „Gesammelten
Beiträge", Bd. 1, Berlin 1871 — sowie des Pharmakologen Schmiede-
^) Siehe seinen gegen die damals beginnende „Bekämpfung der Vivisektion"
gerichteten Vortrag „über die Thätigkeit in wissenschaftl. Instituten". Leipz. 1879,
in welchem er auch die rohen Hirnversuche der Alten mit dem Bestrehen vergleicht,
eine Taschenuhr durch Pistolenschüsse zu zergliedern.
«) Müllers Arch., 1847, S. 261.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 407
"berg [geb. 1838, jetzt Prof. in Strassburg] zeigen, von hundert anderen
nicht zu reden. Ludwigs Arbeit mit J. Stefan ,,Ueber den Druck,
den das fliessende Wasser senkrecht zu einer Stromrichtung ausübt" ^)
förderte weiterhin die Hämodynamik, die durch die Messung
der Stromstärke, resp. Geschwindigkeit vermittelst
Notierung der zur Füllung eines Umweges von genau
bekannter Kapazität nötigen Zeit ergänzt wurde: „Hämo-
dromometer" von A. W. Voikmann [dessen „Hämodynamik",
S. 185 ff.. 1850], ,.Stromuhr'' von Ludwig und Dogiel-j; die
Messung der ..K r e i s 1 a u f s z e i t" war bereits durch EduardHering
[Tierarzt in Stuttgart, 1799 — 1881] 1829-') unternommen worden, so
dass Bestimmungen des ..Schlag Volumens'' und der Herzarbeit
vorlagen, welche eben Yolkmann in seiner vortrefflichen
..H a e m 0 d y n a m i k" niederlegte. Eingehender Bearbeitung unterzog
Ludwig die Funktionen des Herzens, indem er den Spitzen-
stoss von der Formänderung herleitete,*) mit Dogiel die
Beteiligung des Muskeltons am ersten Herzton fest-
stellte,^) mit Coats das ausgeschnittene Froschherz in einem
künstlichen Kreislauf arbeiten Hess,*) — eine Methode,
die Funktionen „überlebender" Organe zu untersuchen,
welche in seinen und seiner Schüler Händen [v. Frey. s. unten,
Schmiedeberg und Bunge, v. Schröder] für die Physiologie
und Pharmakologie gleich bedeutungsvoll geworden ist. Voia grund-
legender Wichtigkeit für die ganze Kreislaufslehre und Physiologie
überhaupt waren Ludwigs und seiner Schüler Arbeiten ilber die
centrale Gefässinnervation, von welcher weiter unten im An-
schluss an Claude Bernards Entdeckung der Gefässnerven die
Eede sein soll.
Was die Sekretionsphysiologie betrifft, so gab er schon in
seiner Marburger Habilitationsschrift 1842 „Beiträge zur Lehre vom
Mechanismus der Harnabsonderung", seine berühmte physikalische
Theorie der Nieren funktion, welche Entstehung eines stark-
verdünnten Harns durch Filtrations- und Diffusionsvorgänge in den
Glomerulis (unter Mitwirkung des Blutdrucks) annimmt, der dann in
den Harnkanälchen durch Resorption von Wasser seitens der Niere
konzentrierter werden soll. Die physikalischen Grundlagen dieser
Theorie bearbeitete er näher in der Arbeit über Endosmose. "Ö
Wahrhaft epochemachend wurden Ludwigs 1851 publizierte*)
..Neue Versuche über die Beihülfe der Nerven zur
Speichelabsonderung", in welchen er zeigte, dass die Reizung
besonderer zur Drüse führender Nervenfasern (bei dem Versuchsobjekt,
der Submaxillardrüse , Chordafasem) unabhängig vom Blutdruck
Speichelsekretion hervorruft, so dass der Druck des durch eine in
den Ausführungsgang eingebundene Kanüle in eine Steigi-öhre ge-
leiteten Speichels den Aortendruck übersteigen kann: Entdeckung
der „Sekretionsnerven".
*) Sitzungsber. der "Wiener Akad., 1858.
2) Ber. der Leipz. Ak., 1867, S. 199.
») Treviranus' Ztschr. f. Phjsiol., Bd. 3, S. 85: 1829; Bd. 5, S. 58, 1833.
*) Zeitschr. f. ration. Medizin, Bd. 7, S. 191; 1848.
») Ber. der Leipz. Akademie, 1868, S. 69.
«) Ebenda, 1869, S. 362.
") Ztschr. f. rat. Med., Bd. 8; 1849.
*) Ztschr. f. ration. Med., N. F., Bd. 1, S. 259.
408 . Heinrich Boruttau.
Viele Untersuchungen Ludwigs und seiner Schüler kamen auch
der allgemeinen Muskel- und Nervenphysiologie zu gute,
insbesondere in Bezug auf den Stoffumsatz der Muskeln und
anderer Organe, speziell den Gaswechsel, dessen Untersuchung
Ludwig durch eine eigene Konstruktion der Blutgaspumpe ^)
förderte: er konstatierte mit Czelkow und mit Alexander
Schmidt^) die Steigerung des Gaswechsels bei der Thätigkeit sowie
noch ein spezielles weiter unten zu würdigendes Verhalten des „re-
spiratorischen Quotienten", — ebenso wie später unter seiner Leitung
Meade-Smith die Wärmeproduktion des thätigen Warm-
blütermuskels unter Vermeidung der früheren Fehlerquellen ein-
wandfrei nachwies '^). Die Verdauungs-, Resorptionslehre und
die Kenntnis der Lymphbewegung erfuhr durch Ludwig und
seine Schüler Schweigger-Seidl, Dybkowsky und viele andere
Ende der 60er Jahre wertvolle Bereicherung; ebenso förderte er
chemische Arbeiten, wie sie über den Inosit, die Harnsäure u. s. w.
schon in Wien unter seiner Leitung der spätere bedeutende Pathologe
und Pharmakologe Gl o ett a (1828 — 1890, Professor in Zürich) ausführte.
Eifrig gepflegte Freundschaftsbeziehungen verbanden
besonders in späteren Lebensjahren Ludwig, du Bois-Reymond,
Helmholtz und endlich den hier noch zu würdigenden- Brücke,
welcher, wenn auch nicht nach Zahl, so doch an Vielseitigkeit
seiner Arbeiten, Ludwig ähnelt.
Ernst Wilhelm (Ritter von) Brücke ist geb. in Berlin am 6. Juni 1819
als Sohn eines Malers, studierte in Berlin und Heidelberg, promovierte 1842,
habilitierte sich 1844 für Physiologie, als Assistent Johannes Müllers, -svurde
1848 Prof. ext. der Physiologie in Königsberg, 1849 ord. Professor der
Physiologie und „höheren Anatomie" an der AViener Universität, in welcher
Stellung er bis zu seiner Altersemeritierung 1890 wirkte ; er starb am
7. Januar 1892.
Grössere Werke: „Grundzüge der Physiologie und Systematik der Sprach-
laute", Wien 1856, 2. Auf.. 1876; „Neue Methoden der phonetischen Transskription".,
Wien 1863 ; „Physiologie der Farben für die Zwecke der Kunstgewerbe bearbeitet",
Leipzig 1866; „Vorlesungen über Physiologie", 2 Bde., Wien 1873174; 3. Aufl. 1881;
„Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt", Berl. 1891.
Brück es Verdienste betreffen vor allem die Sinnesphysio-
logie: In seiner „anatomischen Beschreibung des menschlichen Aug-
apfels" haben wir eine gen aue Würdigung des Ciliar muskels als
Accommodationsmuskel und vieles andere; vom „Augen -
leuchten", als Grundlage der Erfindung des Augenspiegels war
schon die Rede; viele Untersuchungen Brück es betreffen die
Farbenlehre, andere die Dioptrik des Auges; die Stimm-
physiologie und Phonetik hat Brücke gewissermassen als
Rivale L. Merkels (1812 — 1876, „Anthropophonik") bereichert und
so Helmholtz' akustische Arbeiten ergänzt. Mikroskopische Ar-
beiten Brück es betreffen die Blutkörperchen,*) die Struktur der
I
^) Ber. der Leipz. Akad., 1867, S. 30. -
^) Sltzgsber. der Wien. Ak., Bd. 45, S. 171 xmd Arbb. aus der Leipz. physioL
Anst., Bd. 3, S. 1, 1868.
') du Bois-Eeymonds Archiv, 1881, S. 105.
Sitzgsber. der Wiener Akad., Bd. 56, S. 79.
Geschichte der Physiologie iu ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 409
Muskelfaser^) (1857), dieGallencapillaren; auch die elektrische
Eeizung der Muskeln und Nerven wurde von ihm bearbeitet.
Epochemachend sind Brückes Leistungen für die Physiologie
der Verdauung, Resorption und Assimilation; es sei nur
erinnert an den bekannten „Dreigläserversuch" über die peptische
Verdauung, an seine Arbeiten über die Fettverdauung und -Re-
sorption-) (Bedeutung der Fett Spaltung und -Emul-
gierung, der Beweglichkeit der Darmzotten und der
Peristaltik) und die Assimilation : speziell wegen des Glykogens
siehe weiter unten. Auch zur Blutger in nun gs lehre und andern
physiologisch-chemischen Fragen hat Brücke reichlich beigetragen
(normaler Harnzuckergehalt u. a.). Diese Vielseitigkeit war nun
endlich gepaart mit einer grossen Formvollendung in der Dar-
stellung und einem hohen ästhetischen Geiste, welcher ihn,
den Sohn des Malers, insbesondere seine sinnesphysiologischen Ar-
beiten für die Förderung der Künste nutzbar machen hiess und
wertvolle Beiträge zur ästhetischen Volksbildung lieferte, wie die
oben gegebene üeb ersieht seiner grösseren Werke erkennen lässt.
Wesentlich der „klassischen Periode" angehörig sind die
Leistungen noch einiger anderer L^ntersucher : Hierher gehören vor
allem die um Ludwigs Laboratorium sich gruppierenden Arbeiten
über die Herznerven, an welchen auch der früh verstorbene
Bezold [Albert von Bezold, geb. 1836 in Ansbach, studierte
in Würzburg und Berlin, woselbst er in du Bois-Reymonds
Laboratorium durch seine Arbeiten derartige Aufmerksamkeit erregte,
dass er noch vor der Promotion 1859 Extraordinarius in Jena, 1865
Ordinarius in Würzburg wurde, woselbst er leider bereits 1868 starb]
teilnahm : „Untersuchungen über die Innervation des Herzens" ; doch
wurde die sympathische Xatur und der anatomische Verlauf des
„Accelerans cordis" erst durch Ludwigs Schüler Cyon (siehe
später) ^) u n d S c h m i e d e b e r g (s. oben) ^) sicher festgestellt. Andere
wichtige Sympathicusfunktionen, insbesondere sekre-
torischer Natur — Speichel-, Milch- und Harnsekretion — sowie
die Geschlechtsfunktionen betreffend (Nervus erigens),
fand Eckard, der erste Assistent des grossen Ludwig in Mar-
burg, und sammelte diese und andere Arbeiten in nicht weniger als
12 Bänden „Beiträge zur Anatomie und Physiologie".
Konrad Eckhard, geb. 1. März 1822 in Hessen, studierte in Mar-
burg und Berlin, war Assistent und Prosektor in Marburg und Giessen,
woselbst er (unter Bischoff) sich 1850 habilitierte ; wurde dann dort Extra-
ordinarius und später Ordinarius für Anatomie und Physiologie, wovon er
die Anatomie 1891 an Bonnett abgab, die Physiologie aber noch jetzt
vertritt.
Bedeutendere Werke ausser obigen „Beiträgen'^ : Viele Abhandlungen in Müllers
Archiv, so über die Vagustoirkung, thermische und chemische Reizung der motorischen
Nerven, Beflexbeicegungen beim Frosch; „Experimentalphysiologie des Nerven-
systems^, Giessen 1867 ; Bearbeitung des Centralnervensystems in Hermanns Hand-
buch (8. später), 2. Band, 2. Hälfte, Berl. 1880. Vieles kleinere.
^) Denkschr. der Wiener Akad., Bd. 15, 1857.
*) Berichte der Wiener Akad., Bd. 61, 63 n. s. w. an vielen Orten.
") Reichert u. du Bois' Archiv, 1867, S. 389.
*) Ber. der Leipz. Akademie, 1870, S. 135, 1871, S. 148.
410 - Heinrich Boruttau.
Bereits vielfacli erwähnt und gewürdigt haben wir, z. B. bei
Besprechung der Gas wechsellehre die Verdienste Vierordts.
Karl (von) Vierordt ist am 1. Juli 1818 zu Lahr geboren, studierte
in Heidelberg, Göttingen und Berlin (auch ein Schüler Job. Müllers), be-
stand 1840 das Staatsexamen und promovierte 1841 in Heidelberg, prakti-
zierte dort bis 1849, wo ihm seine physiol. und patholog. Arbeiten einen
Ruf als Extraordinarius der experimentellen Medizin (allg. Pathol. u. Therapie,
Materia medica) und Geschichte der Medizin nach Tübingen eintrugen.
Nach Arnolds Abgang 1853 erhielt er die Physiologie und wurde 1855
ord. Professor und Direktor des von ihm neugegründeten physiologischen
Instituts. Er starb am 22. November 1883.
Grössere physiolog. Werke, soweit nicht bereits erwählt: „Grundriss der
Physiologie", zuerst 1860, 5. Aujfl.. Tübingen 1877 ; ^^Physiologie des Kindesalters"^
in Gerhardts grossem Handbuch der Kinderkrankh., 1877. Posthum: „Die Schall-
und Tonstärke und das Sclmlllcitungsvermögen der Körper", Tübingen 1885.
Ausser seinen schon gewürdigten Arbeiten über die Chemie
der Atmung hat Vierordt vortreffliche Arbeiten über Blut-
körperchenzählung und -Volummessung in dem von 1850 bis
1856 von ihm fortgeiührte Grie sing er sehen „Archiv für physio-
logische Heilkunde" veröffentlicht und die von Vo 1 k m a n n undLud w i g
begründete deutsche Hämodynamik durch den ersten, wenn auch
noch unvollkommenen Pulszeichner, „Sphygmographen"
[demonstriert auf der Tübinger Naturforscherversammlung 1853 und
näher behandelt in. seiner ,. Lehre vom Arterienpuls" u. s. w., Braun-
schweig 1855], sowie durch seine „Erscheinungen undGesetze
der Stromgeschwindigkeiten des Blutes nach Ver-
suchen", Frankfurt 1858 [Einführung des Strompendels zur Ge-
schwindigkeitsmessung, „Hämotachometer"] bereichert. Von seiner
„Spektrophotometrie" war schon die Rede.
Als seine Zeitgenossen seien hier gleich erwähnt Otto Funke
[geb. in Chemnitz 1828, 1851 in Leipzig mit einer Dissertation „de
sanguine lienis" promoviert, 1853 Extraordinarius in Leipzig, 1860 als
Ordinarius der Physiologie nach Freiburg berufen, starb daselbst
1879 am Krebs], welcher u. a. eine vortreffliche Untersuchung über
die Muskelermüdung lieferte,^) einen klassischen „Atlas
der physiologischen Chemie", Leipz. 1853, 2. Aufl. 1858,
herausgab und Rudolf Wagners Lehrbuch der Physiologie neu
bearbeitete (Leipz. 1858, 4. Aufl. 1863). — sowie Wilhelm von
Witt ich [geb. 1821 in Königsberg, promovierte 1845 in Halle,
1850 unter Helmholtz in Königsberg habilitiert, 1854 Extraordinarius
und nach Helmholtz Abberufung Ordinarius der Physiologie daselbst,
starb 1882], welcher die Physiologie der Verdauung, Resorption
und Assimilation mit zahlreichen Arbeiten über Enzyme, speziell
Pepsin,-) über Glykogen, über Lymph herzen und Haut-
resorption u. s. w, bereichert, auch den entsprechenden Abschnitt
in Hermanns Handbuch bearbeitet hat, aber auch zur Nierensekretions-
innervation ^) und zur Muskelphysik bemerkenswerte Beiträge ge-
liefert hat.
1) Pflügers Archiv, Bd. 8, S. 213, 1874.
2) Pflügers Arch. Bd. 2, S. 193, 1869: Bd. 3, S. 339, 1870.
=') Königsb. med. Jahrbücher, Bd. 3, S. 52, 1860.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 411
SchonzurmodernstenPeriodeuuser er Wissenschaft
— deren Begründer, wenngleich ein grosser Teil ihres
Wirkens noch in die jetzt inEede stehende ..klassische
Zeit" hineinfällt, erst später gewürdigt werden
sollen — , leitet über das Wirken des genialen, beson-
ders um die physikalische Phj^siologie hochverdienten
Fick.
Adolf Fick, geboren am 5. September 1829 zu Kassel, studierte in
Marburg und Berlin, promovierte 1851 in Marburg mit der Dissertation
-Tractatus de errore optico", ging 1852 mit Ludwig als Prosektor nach
Zürich, wurde 1861 dort Ordinarius für Physiologie, 1868 das gleiche in
Würzburg, trat 1899 zurück und starb am 21. August 1901.
Grössere Werke: „Die Medizinische Physik^, Braunsclmeig 1856, 3. Aufl. 1885;
^Compendium der Physiologie mit Einschliiss der Entwicklungsgeschichte', Wien
1860, 3. Auflage 1882: „Beiträge zur Physiologie der irrifabehi Substanzen^, Braun-
schw. 1863; „Lehrbuch der Anatomie und Physiologie der Sinnesorgane", Lahr 1864;
^Arbeiten aus dem physiol. Listitut der Züricher Hoclischule-" . 1. Heft, ^Sl.en 1869,
und desgl. aus der Würzburger Rochschule, 4 Hefte, Würzb. 1872—78; „Mechanische
Arbeit und Wärmeentwicklung bei der Muskelthätigkeit"^ , in der „hiternat. iciss.
Bibliotliek", Leipz. 1882.
Fick begann von vornherein seine Forscherlaufbahn mit phy-
sikalisch-physiologischen Untersuchungen, speziell zur Bewegungs-
lehre, indem er die statischen Momente der Ober schenkel-
muskeln untersuchte,') das Sattelgelenk einer Betrachtung
unterzogt) u, a., eine Eichtung, der er auch später treu blieb; er
bearbeitete die Lokomotionslehre in Hermanns Handbuch (1879).
Doch ebensosehi- wie die spezielle hat er die allgemeineMuskel-
und auch Nervenphysiologie gefördert: Es sei" nui- au das
Ficksche MyographioD, an die schon erwähnte berühmte F a u 1 -
hornbesteigungmitWislicenuszur Erforschung der .. Quelle der
Muskelkraft" erinnert; ganz besonders aber fesselte ihn die Wärme-
bildung im Muskel, welche er zuerst 1863 in einer Arbeit mit
Billroth über die Temperaturen bei Tetanus förderte; weiterhin
stellte er ebenso wie vor ihm Helmholtz und Heidenhain
( s. später) zahlreiche .. myoth er mische Untersuchungen" an,
welche er 1889 auch gesammelt herausgegeben hat, zu deren wichtigsten
Ergebnissen die Bestätigung des mechanischen Wärme-
äquivalents am Muskel gehört, indem er vermittelst des von
ihm erfundenen ,. A r b e i t s a m m 1 e r s " den Muskel das eine Mal
nutzbare Arbeit leisten Hess, das andere Mal nur Wärme produzieren,
und das Mehr an Wärmeproduktion im letzteren Falle sehr an-
nähernd dem Wärmeäquivalent der im ersten Falle geleisteten Arbeit
gleichkam. Durch den Verkehr mit Clausius und die eifrige Be-
schäftigung mit der Wärmemechanik kam er zu der Ueberzeugung,
dass der Muskel mit seinem grossen ..Nutzeffekt" (nach
Helmholtz ^|^ — Vs, nach Fick und seinen Schülern Blix und
Danilewsky bis zu ^'c,) keine thermodynamische Maschine
sei, wie 2. B. unsere Dampfmaschinen, sondern vielmehr in ihm die
chemische Energie direkt in mechanische Arbeit umgewandelt werde.
Zahlreiche Arbeiten über „elektrische Nervenreizung", über
») Ztschr. f. ration. Medizin, Bd. 9, 1849.
*) Ebenda, N. F., Bd. 4, 1854.
412 • ffeinrich Boruttan.
„übermaxiraale Zuckungen" und „Lücke" (Tiegel in Strassburg),
über Reflexbewegungen und direkte Rückenmarks-
reizung zeigen ihn als Meister des Experiments wie der Kritik;
die Hämodynamik bereicherte er durch die Einführung der elas-
tischen Manometer (1864 resp. 1877), die Ableitung der
Geschwindigkeitskurve des Arterienpulses, eine eigen-
artige Berechnung des Schlagvolumens des Herzens u. a. m.
Der Sinnesphysiologie galt schon seine Inauguraldissertation, welcher
viele weitere Beiträge zur physiologischen Optik und die
Bearbeitung der Dioptrik des Auges im Hermanns Handbuch (1879)
folgten. Auch einige phj'siologisch-chemische Beiträge liefert Fick
und richtete in seinem neuen Würzburger Institute (1888) reichliche
chemische Arbeitsgelegenheit ein; doch blieb sein Hauptgebiet stets
das physikalische, das er auch schon früh durch rein physikalische
[Diffusionsgesetz, 1855 — 56] und philosophische [„Ursache und
Wirkung", 1882 u. a.] Leistungen bereicherte, und es krystallisierte
gewissermassen sein Lebenswerk in der schon im Jahre 1856 zum
erstenmal erschienenen, stets einzig in ihrer Art gebliebenen
„Medizinischen Physik".
Aehnlich wie Fick um die physiologische Optik und auch über-
haupt um die Experimentalphysiologie, mit vorwiegend physikalischer
Arbeitsrichtung, hochverdient ist ein ausländischer Zeitgenosse der
klassischen Periode unserer deutschen Physiologie, nämlich der Hol-
länger Donders.
Frans Cornelis Donders, geb. am 27. Mai 1818 in Tilburg, studierte
in Utrecht als Zögling der militärärztlichen Reichsschule, an welcher er
auch nach seiner zu Leiden 1842 erfolgten Promotion Lektor der Anatomie
und Physiologie war, dann 1848 Extraordinarius an der Utrechter Universität,
1852 Ordinarius für Ophthalmologie, 1862 für Physiologie, als welcher er
1866 ein neues physiologisches Laboratorium einrichtete; er trat 1888 zu-
rück und starb am 24. März 1889.
Schon 1844 hielt Donders einen Vortrag über Stoffwechsel
und W^ärmebildung im Tierkörper, in welchem er das Prinzip
der Erhaltung der Kraft, sowie die Rolle der Haut für die Wärme-
regulierung vorausgeahnt resp. angedeutet hat; von 1846 ab gab er
mit van Deen (s. früher) und Moleschott (s. unten) die „hol-
ländischen Beiträge zur Physiologie und Anatomie"
heraus, in denen, sowie in v. Gräfes Archiv f. Ophthalmologie zahl-
reiche wichtige Beiträge zur physiologischen Optik er-
schienen sind: es sei nur erinnert an seine Mitarbeit an der Ent-
wickelung der Accomodationslehre und Refraktionsbe-
stimmungsmethodik, an der Pathogenie des Schielens, an das
„Donderssche Gesetz" der Abhängigkeit des Raddrehungs-
winkels.^) Auch die Physiologie der Stimme und Sprache hat er
mit Arbeiten über die Vokalklänge ■) u. s. w. bereichert. Klassisch J
sind ferner seine Arbeiten über die „Reaktionszeit",^) an welche
z. B. viele Messungen der Leitungsgeschwindigkeit im
sensibeln Nerven des Menschen anknüpften. Schliesslich
») HoU. Beitr.. Bd. 1, 1848.
«) Ebenda, 1862.
*) Dissertation von deJaager, Utrecht 1865; Die Schnelligkeit psychischer
Prozesse, Reichert u. du Bois' Archiv, 1868.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 413
sei auch der Donderssche Versuch zur Bestimmung des
,,neg:ativen Drucks'' in der Pleuraspaltes) nicht vergessen.
Was Donders für Holland, ist für Dänemark Panum ge-
wesen,
Peter Ludwig Panum ist geboren am 19. Dezember 1820 auf Born-
holm, studierte in Kopenhagen, war Militär- und Choleraarzt, promovierte
1851 in Kiel mit einer berühmten Dissertation über Fibrin und Blut-
gerinnung, machte eine Studienreise und war zeitweise in Paris Assistent
von Claude Bernard; wurde 1853 Extraordinarius, 1858 Ordinarius in Kiel
(damals dänisch!), 1863 desgleichen in Kopenhagen; an beiden Orten
richtete er physiologische Laboratorien ein. Er erwarb sich viele Verdienste
um die medizinische Bildung in Dänemark, begründete mit Axel Key in
Stockholm das Nordisk medic. Arkiv u. s. w. Er starb am 2. Mai 1885.
Wichtige Untersuchungen Panum s betreffen die „Physiologie
und Pathologie der Embolie, Transfusion und Blut-
menge", in Virchows Archiv. Bd. 27 bis 29, 1857; ferner die Er-
nährung (Salzhunger u. a.), die Atmung u. s.w. Auch arbeitete
er ein dänisches Handbuch der Physiologie des Menschen aus (Kopen-
hagen 1865—72).
Zeitlich zusammenfallend mit dem Wirken unserer grossen deutschen
Physiologen aus Joh. Müllers Schule hat auch Frankreich
eine „klassische Periode" der Physiologie erlebt,
welche, man kann geradezu sagen an den Namen eines
einzelnen grossen, vielseitigen Forschers anknüpft,
nämlich Claude Bernard.
Claude Bernard ist am 12. Juli 1813 in St.-Julien bei Vülefranche bei
Lyon geboren, war erst Apotheker, studierte später Medizin," promovierte
1843; seit 1841 Assistent von Magendie , wurde er nach dessen Tod
sein Nachfolger am College de France, Professor an der Sorbonne und Mit-
glied der Academia des sciences, 1868 desgl. der Academie fran^aise und
Professor am Museum. Er erkrankte infolge der feuchten Kellerluft seines
mangelhaften Laboratoriums und starb am 10. Februar 1878 an chronischer
Nephritis.
Werke in Buchform: 1. Cours du College de France: „Legons de physiologie
experirnentale appliquee ä la medecine", 2 Bde., 1854 — 55; — „Legons sur les effets
des suhstances toxiques et medicamenteuses^, 1857; — „Legons stir la physiologie et
la Pathologie du Systeme nerveux^^, 2 Bde., 1858 ; — „Legons sur les proprietes physio-
logiques et les alterations pathologiques des Liquides de V organisme^' , 2 Bde. 1859;
— „Lego)is de pathologie experimentale" , 1871; — „Legons sicr les anesthesiques et
Vasphyxie, 1874; — „Legons sur la chaleur animale", 1876; — „Legons stir le dia-
bete et la glycogenese animale", 1877.
2. Cours de la faculte des sciences: „Legons sur les proprietes des tissus
vivants", 1866.
3. Cours du Museum : „Legons de physiologie operatoire'\ 1874: — „Legons sur
les phenomenes de la vie communs aux animaux et aux vegetaux", 1878—79, 2 Bde.
4. „Introdiiction ä la medecine experirnentale'^ 1865 ; „Rapport sur la, physio-
logie generale^' für die Pariser Weltausstellung 1867 ; — „La science experimentale"\
Vortragssammlung 1878.
Ausserdem äusserst zahlreiche Einzelarheiten in den Comptes rendus de
Vacademie de sciences, den Comptes rendus de la Societe de biologie, den Archives
gSnerales de medecine u. v. a.
*) Ztschr. f. ration. Med., N. F., Bd. 3, S. 287.
414 Heinrich Boruttau.
Claude Bernard ist für Frankreich der Begründer
der modernen Physiologie nicht allein, sondern auch
experimentellen Pathologie, Pharmakologie und Toxi-
kologie. Er hat geholfen, gegenüber allen naturphilosophischen
Spekulationen der experimentellen Richtung in den organischen Natur-
wissenschaften, wie auch in der praktischen Medizin zu dauerndem
Siege zu verhelfen, ohne, wie Magen die die „Voraussetzungslosigkeit"
durch Nichtachtung historischer Forschung und Verzicht auf jede
Hypothese auf die Spitze zu treiben und durch solche extreme Eichtung
Irrtümer zu befestigen; er hat durch richtige Begrenzung
des Verhältnisses der Hypothese zu den experimentell
begründeten Thats achen die Induktion („Determinismus")
als Grundlage der biologischen Forschung betont, wie
kaum irgend ein anderer. Mit nicht frühreifer Genialität ausgestattet
und durch Magen dies Lehre in einer Experiraentierkunst gefördert,
welche es verstand mit den damaligen unzulänglichen Mitteln, und
in noch elenderen, unzulänglichen Räumen Grosses zu schaffen, hat
er nicht nur selbst die Physiologie um zwei grosse Ge-
biete bereichert, sondern auch ein klassisches Lehrbuch
der Methodik [Le^ons de Physiologie operatoire] geschaffen, das
erste und noch bis jetzt einzige in seiner Art.
Nachdem Claude Bernard schon Ende der vierziger Jahre
in zahlreichen kleineren Arbeiten die Chemie derGalle und des
Harns bereichert, sowie wertvolle Beobachtungen über Diabetes,
Zuckerassimilation, Pankreasatrophie gemacht hatte, ver-
öffentlichte er im Beginn des Jahres 1850 eine Arbeit^) über die
eiweissverdauende Rolle des Pankreassaftes [welche, wie
wir sehen, von Tiedemann und Gmelin, Eberle u. a. nicht er-
kannt worden war], die ihm den für die Jahre 1847/48 nicht erteilt
gewesenen Akademiepreis nachträglich eintrug. Ende desselben Jahres
folgte dann die berühmte Arbeit „Sur une nouvelle fonction
du foie etc.",-) in welcher aus der Entdeckung der
Zuckerbildung in der herausgeschnittenen überleben-
den Leber auf eine beständige „glykogene Funktion"
der Leber geschlossen wurde, eine Theorie, welche 1855^) in
dem Befunde eines Zuckergehaltes in den Lebervenen, der grösser
ist als derjenige in der Pfortader, ihre Hauptstütze fand; ferner ent-
deckte Bernard hiermit im Zusammenhang als zuckerbildende Sub-
stanz der Leber die tierische Stärke oder das „Glykogen"^),
welches er 1859 auch in den Muskeln und embryonalen
Geweben wiederfand und dessen Verbrauch bei der Muskel-
thätigkeit er beim Pferd zuerst konstatiert hat; nachdem
auch in Deutschland das Glykogen von Hensen beschrieben und
Brücke seine Bestimmungsmethode des Glykogens vermittelst
Eiweisställung durch Jodquecksilberjodkalium und Salzsäure publiziert
hatte, wurde die zuletzt erwähnte Thatsache auch durch diesen Forscher
im Verein mit Weiss ^) bestätigt, und auch die Anwendung der späteren
angeblich exakteren Methoden z.B. von Külz hat immer wieder
^) Comptes Eend., Bd. 30, S. 210, 228.
2) Ebenda, Bd. 31, S. 571 und 34, S. 416; Arch. gen. de med., Bd. 24, S. 363.
") Comptes rendus, Bd. 40; Jonrn. de pharm., Bd. 28.
Gazette medicale, 28. März 1857.
Sitzgsber. der Wiener Akademie, Bd. 64, 1871.
i]
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 415
den Glykog-enverbrauch bei der Muskelanstreno:ung be-
stätigt und damit das Wesen der s. Z. von Helmholtz ge-
fundenen Abnahme des Wasserextraktes des Muskels
näher definiert. Cl. Bernard wendete die von ihm geschaffene
Vorstellung der ..animalen Glykogenie" ferner an auf die D e u t u n g des
Zustandekommens des Diabetes durch einen erhöhten Blut-
zuckergehalt infolge verstärkter Leberthätigkeit, die hinwiederum auf
nervösen Störungen beruhen kann, wie ihm die Entdeckung der
..Piqüre diabetique", des sogenannten Zuckerstichs — Glykosurie
beim Tier auf Einstich in den Calaraus scriptorius — es zu beweisen schien.
Thatsächliche Einzelheiten und auch die ganze Theorie der Leb er-
glykogenie sind seitdem oft bestritten worden,') und es stellt
die letztere jetzt eine in Deutschland weit weniger als in
Frankreich verbreitete Lehre dar; indessen bleibt Claude
Bernard das Verdienst, die Bedeutung der Leber als
Assimilationsorgan speziell der Kohlenhydrate zuerst
erkannt und mit der Assimilationsprodukte ins Blut setzenden
Funktion der Leber , die so wichtige moderne Lehre von der
.,inner*en Sekretion der Drüsen" und der metakeras-
tischen Bedeutung der Organe überhaupt begründet
zu haben, — und das zu einer Zeit, wo man ganz allgemein noch
die Oxydationsprozesse und meisten Stoffwechsel Vorgänge in das Blut
selbst zu verlegen geneigt war!
Das zweite, vielleicht noch grössere Verdienst
Claude Bernards bildet die Entdeckung der Gefässnerven,
die mit der Konstat ierung der Blutfülle und Temperatur-
erhöhung der betr. Kopfhälfte nach Durchs chneidung des
Halssympathikus und des Erblassens aufReizung seines
peripherischen Stumpfes ihren Anfang nahm-) (1851/52).
Bernard hat selbst die Bedeutung der Gefässnerven für die
Sekretion, speziell der Speicheldrüsen^), die Verbreitung der Vaso-
motoren *), die Unabhängigkeit der sympathischen Pupillenerweiterung
von den Gefässen ^) und vieles andere hierher gehörige bearbeitet ;
die systematische Durchbildung der Physiologie des
vasomotorischen Systems, speziell seiner Centren und
deren reflektorischer Erregung ist indessen das Verdienst
Ludwigs und seiner Schule: Es sei nur erinnert an die von
ihm mit dem früh verstorbenen L. Thiry (vorher Meissners
Assistent) 1864 veröffentlichte Arbeit ") „Ueber denEinfluss des
Halsmarkes auf den Blutstrom", an Dittmars (jetzt Irren-
anstaltsdirektor in Saargemünd) genauer bestimmte „Lage des
sog. Gefässzentrums" ') 1873, an Mossos Plethysmographie
der Niere 1874, die Versuche über den Splanchnicus von Asp und
anderen; endlich an Cyons [der auch Claude Bernards Schüler
war] mit Ludwig gemacht« Entdeckung des N. depressor,
^) Durch PaTy in England, Meissner und Büttner hei uns u. s. w.
») Comptes rend. de le soc. de hiol, 1851, p. 163; ebenda, 1852, S. 155, 168;
Comptes Rendus de l'ac. des sc, Bd. 34, S. 472; Arch. gen. de med., Bd. 28, S. 1852.
') Comptes rendus de la soc. de biol., 1859, p. 49.
*) Brown-Sequards Journal de la physiologie, vol. 5, p. 383, 1862,
^) Comptes Rendus de l'ac des sc, Bd. 55, 1862.
*) Sitzungsberichte der Wiener Akad., math.-physik. Kl., 1864.
') Ber. der Leipz. Akad., 1873.
416 Heinrich Bornttan.
welcher auf Erregung vom sensibeln Herzen her durch reflektorische
Gefässerweiterung den Blutdruck herabsetzt und das Herz entlastet.^)
Claude Bernard hat auch die allgemeine Muskel- und
Nervenphysiologie durch zahlreiche Studien bereichert, so über
die elektrische Reizung und über das Curare, dessen spezifische
Wirkungsweise auf die unteren Nervenendungen er ebenso wie
Kölliker und Müller-) durch den berühmten Unterbindungsversuch
bewies, =') ferner sich um die Lehre von der tierischen Wärme
im höchsten Masse verdient gemacht, indem er die Rolle der gefass-
erweiternden und gefässverengenden Nerven der Haut bei demjenigen
was wir jetzt die physikalische Wärmeregulierung nennen, richtig
erkannte, den Tod durch Ueberhitzung beim Warmblüter näher
untersuchte u. s. w.
Nicht genug betont werden kann endlich Bernards Ver-
dienst um das Gesamtgebiet der Biologie durch eine im
besten Sinne des Wortes philosophische, d. h. induktive
Betrachtung und ausgiebige Anwendung der verglei-
chendenMethode (vergleichende Betrachtung der Glykogene, der
Harnzusammensetzung, der osmotischen Vorgänge bei verschiedenen
Tierarten; Narkose der Pflanzen u. s. w.), und seine berühmten
Legons sur les phenomenes de la vie communs aux ani-
maux et aux vegetaux stellen, fast dreissig Jahre nach
Rudolf Hermann Lotzes [1817—1881] philosophischer „Allge-
meinen Physiologie des körperlichen Lebens" (Leipzig 1851) er-
schienen, das erste Lehrbuch der allgemeinen Physiologie
im modernen vergleichenden und elementaranalysieren-
den Sinne vor, in welchem die elementaren Lebens-
erscheinungen meisterhaft präzisiert und auf die Er-
scheinungen des Aufbaus [„Plastik, organische Synthese"] und
Abbaus [funktionelle Zerstörungs Vorgänge"] zurückgeführt sind.
Als jüngere Zeitgenossen Claude Bernards, deren ältere
Arbeiten durchaus der klassischen Periode angehören und grund-
legend geworden sind, speziell für die Kreislaufs-
physiologie, wären zu nennen Chauveau und Marey.
J.-B. Auguste Chauveau, geboren am 25. November 1827 in Villeneuve-
le Guyard (Dep. Yonne), studierte in Alfort (Tierarzneischule), Paris und
Lyon, ging dann ins Ausland, war Direktor der Tierarzneischule in Lyon
und ist jetzt Professor der vergleichenden Anatomie am Museum und
Generalinspektor der französischen Tierarzneischulen. Er schrieb eine ver-
gleichende Anatomie der Haussäugetiere, früher viele interessante patho-
logische, meist Virus und Contagium betreffende Arbeiten; Erwähnung
seiner wichtigsten physiologischen Leistungen im Text.
Etienne Jules Marey, geboren am 5. März 1830 in Beaume (Dep.
C6te d'or), studierte und promovierte 1859 in Paris mit der These
„Recherches sur la circulation du sang etc.", las über den Kreislauf und
errichtete 1864 ein Privatlaboratorium, wurde aber 1867 als Nachfolger von
riourens Professor am College de France, 1878 Mitglied der Akademie der
Wissenschaften und wirkt noch in diesen Stellungen.
1) Ber. der Leipz. Akad., 1866, S. 307.
«) Virchows Arch., Bd. 10, S. 3, 1856,
»J Comptes Rend., Bd. 31, S. 533, 1850.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 417
Hauptsächliche Werke in Buchform: „Physiologie medicale de la circulation
du sang etc.^', 1863; — „Dm Mouvement dans Ics fonctions de la vie", 1868; —
,,ZyO methode graphique et ses applications en physiologie', 1878, mit Supplement
über die Fhotographie 1884: — „La machine animale, Locomotion terrestre et
aerienne", 1874; — .,Le vol des oiseaux^', 1891; — „Le mouvement^' (gemeinver-
ständliche Zusammenfassung aller früheren Leistungen), 1894.
An Mareys Namen knüpft sich das Verdienst einer
ganz ausserordentlichen Verfeinerung- und vielseitigen
Anwendung der physiologischen Graphik, besonders
für die Physiologie des Kreislaufs: sie begann 1860 mit der
Konstruktion eines dem Vierordtschen (s. oben) bei weitem über-
legenen Sphygmographen/) bei welchem die Arterie ein (wie
bei Vi er or dt) direkt zeichendes, sehr leichtes und schleuderungs-
freies Hebelwerk bewegt, worauf bald die Einführung der graphischen
Registrierung vermittelst Luft Übertragung folgte, indem z. ß.
der auf die ^ Aufnahmekapsel" (tambour explorateur) wirkende Herz-
stoss auf diese Weise den Schreibhebel der früher schon von
üpham ersonnenen, jetzt gewöhnlich als Mareysche Kapsel (tam-
bour enregistreur) bezeichneten Vorrichtung in Bewegung setzt:
Transmissions-Kardiograph, „Kardiographie", Kardiogramm.-)
Bevor noch dui'ch F i c k und G a d die später auch von M a r e y an-
gewendeten Metallmanometer (s. oben) aufkamen, erzielten Chauveau
und Marey genaue Aufzeichnungen des zeitlichen Druck-
verlaufes im Inneren der Gefässe und der einzelnen
Herzabteilungen, indem sie beim Pferde ihre „Sondes cardio-
graphiques" durch die Carotis, resp. Vena subcla\ia bis in das Herz-
innere einführten, — hohle, an ihrem zui- Einführung bestimmten
unteren Ende mit dem elastischen Apparat (gummiüberzogener Draht-
korb) versehene Röhren, deren Inneres mit den Schreibk-apseln ver-
bunden wurde;^) in den so erhaltenen Kurven ist alles
Detail der Herzmechanik enthalten, — so dass bis auf
den heutigen Tag nichts prinzipiell Neues hat hinzu-
kommen können — , und auch grösstenteils von ihnen
richtig beschrieben: die Anspannungszeit, das „systo-
lische Plateau"^ der Moment des Vorhofklappenschlusses
und die Entstehung der „Rückstosselevation" der Puls-
kurve, richtige Deutung des Herzstosses u. s. w. Gleich-
zeitig mit dem Sphygmogi-aphen Mareys erfand Chauveau auch
einen die Geschwindigkeitskurve direkt aufzeichnenden ,.Hämo-
dromographen", dessen Leistungen er zusammen mit L ort et,
Bertholus und Leroyenne publizierte. Chauveau hat auch
]\lessungen der NervenleitungsgeschTsindigkeit angestellt, Marey
zweckmässige Myographenkonstruktionen angegeben und Wich-
tiges zui- Lehre vom Muskeltetanus u. a. m. beigetragen. Von den
neueren epochemachenden Leistungen Mareys auf dem
Gebiete der photographischen Registrierung und den
Beiträgen Chauveaus zur Energetik des Organismus wird noch in
dem letzten Abschnitt dieser Darstellung die Rede sein müssen.
^) Recherches sur le pouls etc., von Marey in den Comptes rendus 1860.
') Chauveau und Marey, „Appareils et experiences cardiographiques",
Memoires de Tacademie de medecine, 1863, Bd. 25, S. 268 und schon Etudes physio-
logiques sur le caractere graphique des hattements du coeur etc., 1860.
») a. a. 0.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 27
418 Heinrich Boruttau.
Wir können die französischen Leistungen in der klassischen
Periode nicht verlassen, ohne schliesslich noch des FrankQ-Ameri-
kaners Brown - S6quard zu gedenken [Charles Edouard,
als Sohn des Edward Brown und einer Französin Namens Se-
quard 1818 in Philadelphia geboren, studierte und promovierte 1840
in Paris, arbeitete physiologisch und praktizierte als Nervenarzt, ging
1863 nach Amerika zurück um Vorlesungen zu halten, war dann
Spitalarzt in London bis 1868, wo er nach Paris zurückgekehrt
agrege und 1878 Claude Bernards Nachfolger am College de
France wurde; er starb am 2. April 1894J, — eines vielbekämpften
Mannes, dessen Verdienste insbesondere auf dem Gebiet der Nerven-
physiologie indessen nicht zu leugnen sind: Er hat zuerst auf
die Erhöhung der Reflexerregbarkeit unterhalb einer
Quertrennung des Rückenmarks hingewiesen, sich sehr um
den Verlauf der Leitungsbahnen in demselben bemüht und die Be-
teiligung der grauen Substanz an der Leitung der
sensibeln Impulse festgestellt, ferner die spinale Atem-
innervation behauptet und vieles andere. Von seinen vegetativ-physio-
logischen Untersuchungen — Blut, Atmung, tierische Wärme — seien
nur diejenigen über Giftigkeit der Exspirationsluft erwähnt; von
seinen Hodenextraktinjektionen als Ausgangspunkt der
Lehre von der „innern Sekretion" und der modernen
„Organotherapie" wird noch unten die Rede sein. Ausser seinen
Buchwerken: „Course of lectures on the phj^siology and pathology of
the central nervous System", London 1858, 2. Aufl. Philadelphia 1860,
und „Legons sur les nerfs vasomoteurs, l'epilepsie etc., Paris 1872 er-
warb er sich ein hohes litterarisches Verdienst durch die Herausgabe
des Journal de la Physiologie de l'homme et des animaux,
6 Bände, 1858 — 1863, als Fortsetzung von Magendies Journal de
Physiologie, — sowie nach seiner Rückkehr aus dem Auslande durch
die 1868 erfolgte Neubegründung der „Archives de Physio-
logie normale et pathologique"; bis zum 1898 erfolgten Ein-
gehen nach Brown-Sequards Tode im ganzen 30 Bände er-
schienen.
Die Titel dieser Zeitschrift, wie auch die Arbeiten der soeben
gewürdigten Forscher lassen erkennen, dass die „klassische Periode"
in Frankreich nicht wie in Deutschland zur absoluten
Selbständigmachung der Physiologie, und noch weniger
zur Abspaltung besonderer Spezialarbeitsrichtungen
geführt hat; vielmehr sind die Physiologen daneben oft ver-
gleichende Anatomen, meist auch experimentelle Pathologen, häufig
Pharmakologen u. s. w. In noch geringerem Masse entwickelte solche
Selbständigkeit die Physiologie in England: so war die ana-
tomische und physiologische Forschung, allerdings in vorzüglichster
Weise vereinigt in den Händen Sir William BoAvmans, und zwar
auch nur in seinen jüngeren Jahren und zusammen mit chirurgischer
Thätigkeit: später widmete er sich fast ausschliesslich der Augen-
heilkunde [er ist geboren 1816 in Nantwich, studierte in Birmingham
und London, wurde hier Prosektor, dann Professor der Anatomie und
Physiologie am King's College, ging aber von 1855 ab ganz zur Praxis
über, starb 1892]. An seine wichtigen Arbeiten über die Struktur
der quergestreiften Muskelfasern erinnert die Bezeichnung der Bow-
m an sehen Scheiben (disc's); ferner untersuchte er genauer die
Geschichte der Physiologie in ihrer Anweudimg auf die Medizin etc. 419
Struktur und Funktion des Nervengewebes, insbesondere der
Malpighischen Glomeruli und stellte eine eigenartige, später
von Heiden liain wieder aufgenommene und experimentell gestützte
Theorie der Harnsekretion auf;^) grossartig ist endlich die
von ihm zusammen mit R. BentleyTodd (1809 — 1860) herausgegebene
„Physiological anatomy and physiology of man" (1845 — 1856,
5 Bände). Der grosse Carpen t er [William Benjamin, geboren
1813, studierte in Bristol, London und Edinburgh, wurde 1844
FuUerian professor of physiology an der Royal Institution, 1845
F. R. S., war aber auch Professor der gerichtlichen Medizin am Uni-
versity College ; er trat schon 1856 von seiner Lehrthätigkeit zurück,
wurde Registrar der London University, starb 1885 infolge eines
Unfalls (Verbrennung)] war, wie Johannes Müller, ein univer-
seller Forscher auf allen biologischen Gebieten, welcher
vor allem die Bedeutung der vergleichenden Anatomie und Physio-
logie erkannte und betonte, insbesondere in seiner vorbildlichen all-
gemeinen Physiologie: „The Principles of General and Comparative
Physiology", zuerst in London 1839 erschienen, welcher später (zu-
erst 1846) ein „Manual of Physiology" folgte. Obwohl er danach noch
Schriften über die „Lebenskraft",^) über die Anwendung des Gesetzes
der Erhaltung der Kraft, über physiologische Psychologie, insbesondere
zur Volksaufklärung gegenüber Kurpfuscherei und Mesmerismus, auch
gegen den Alkoholismus verfasst hat, widmete er seine spätere
Thätigkeit doch, ebenso wie Johannes Müller, fast ausschliesslich
der Zoologie, veranstaltete seine berühmten Tiefseeexpeditionen
und machte auch Untersuchungen zur Pflanzenhistologie. Salter
(Henry Hyde, 1821 — 1871, anatom. Prosektor am King's College in
London) und Gilchrist [William, in Edinburgh, machte Studien-
reisen, war Arzt in Torquay, starb 1867], welche beide frühzeitig an
der Lungenschwindsucht starben, haben unserer Wissenschaft mehr
durch Referate, Essays und Encyklopädie-Artikel als durch viele
Originalarbeiten gedient. Rolleston [George, geb. 1829, promo-
vierte in Oxford, 1859 F. R. C. P., war Arzt in Smyrna im Krimkrieg,
wurde 1860 erster Linacre Professor für Anatomie und Physiologie
in Oxford, starb 1881] vereinigte auch noch die beiden biologischen
Disziplinen in seiner Hand, bearbeitete die vergleichende Ana-
tomie besonders in einem Buch über die Unterschiede zwischen
Menschen- und Affengehirn (1862) und schrieb 1870 das vortreffliche
Werk: „The forms of animal life." Auch Alfred Henry Garrod
(1846 — 1879), der früh verstorbene Sohn des durch seine Unter-
suchungen über die Gicht berühmten, noch lebenden Klinikers, 1874
Fullerian Professor als Carpenters Nachfolger, machte neben physio-
logischen Untersuchungen über Sphygmographie und Nervenphysik
(meist im Journal of Anatomy and Physiology, welches seit 1867 von
Humphr y, Turner, Mc. Kendrick u. a. herausgegeben erscheint)
zahlreiche zoologische und vergleichend-anatomische Arbeiten ; Fran-
cis Maitland Balfour endlich [1851—1882, Fellow des Trinity
t!ollege in Cambridge, zuletzt Professor für vergleichende Anatomie
daselbst] war bei manchen die spezielle Physiologie betreffenden
^) „On the strnctnre and use of the Malphigian bodies of the Kidney with ob-
■ervations on the circulation through that gland", Philos. Transact. 1842.
») Philosophical Transact. 1850.
27*
420 Heinrich Boruttau.
Leistungen vorwiegend Embryologe. Als Physiologe und Pathologe
verdankte besonders viel dem Auslande der ältere Waller
[Augustus Volnay, geboren 21. Dezember 1816 in Elverton Farm
bei Faversham in Kent, studierte in Paris, promovierte daselbst 1840,
praktizierte in der Heimat, wurde F. E. S. 1851, ging dann nach
Bonn und arbeitete mit Budge (s. früher), erhielt 1852 und 1856
den Prix Monthyon der französischen Akademie, ging 1856 nach Paris
zu Flourens, wurde 1858 Physiologie-Professor in Birmingham, ging
aber bald herzkrank zur Erholung erst nach Brügge, dann in die
Schweiz, starb am 18. September 1870 in Genf]. Aeltere selbständige
Forschungen Wallers betreffen die „Diapedese" der roten
Blutkörperchen [Philosophical Magazine 1846]; ferner beteiligte
er sich an Budges Untersuchungen über das Centrum cilio-
spinale (siehe früher) und machte in dessen Laboratorium die Ent-
deckung der Abhängigkeit der Ernährung der Nerven-
fasern von dem Zusammenhang mit der Ganglienzelle
als „trophischem Centrum"; sog. „Waller sehe Degeneration".
Noch andere bedeutende Arbeiten betreffen wieder pathologische Dinge,
Direkt dem Auslande entlehnt hat seine bedeutenderen Physiologen
in der in Eede stehenden Periode Italien, früher das klassische
Land der grossen Biologen. Zwar wirkten um diese Zeit noch der
ältere Panizza [Bartolommeo, 1785 — 1876, Prof. der Anat. u.
Physiol. in Pavia], der schon erwähnte Filippo Lussana [1820
bis 1898, Professor in Padua und Parma], verdient durch seine Unter-
suchungen über das Kleinhirn, den Schwindel, durch ein Lehr-
buch der Physiologie, der Chemiker und Toxikologe Francesco
Selmi [1817 — 1881, Professor in Bologna], Entdecker der „Pto-
maine" und gar mancher andere bescheidene und darum vielleicht
nicht genügend gewürdigte italienische Forscher; doch die inter-
nationale Aufmerksamkeit auf sich zu lenken verstanden besser die
eingewanderten Physiologen Schiff und Moleschott.
Moritz Schiff, geb. 1823 in Frankfurt a. M., studierte in Heidelberg,
Berlin und Göttingen, wo er 1844 promovierte, ging dann nach Paris zu
Magendie und Longet, machte ornithologische Studien am Museum, wurde
nach Frankfurt zurückgekehrt, am Senckenberg. Museum angestellt, machte
das Jahr 1848 als Arzt des ßevolutionsheeres mit, wurde aus Göttingen,
wo er sich habilitieren wollte, ausgewiesen, dafür in Bern 1854 als Professor
der vergleichenden Anatomie angestellt, 1863 als Professor der Physiologie
ans Istituto di studi superiori nach Florenz berufen, ging 1876 in gleicher
Eigenschaft an die Universität Genf, wo er bis zu seinem am 6. Oktober «
1896 erfolgten Tode wirkte.
Werke in Buchform: De vi motoria baseos encepJmli, Diss., Bockenheim 1845;
— Untersuchungen zur Physiologie des Nervensystems, Bd. I, Frkft. 1855; — Lehr-
buch der Physiologie des Menschen, 1 . Bd., Muskel- und Nervenphysiologie, Lahr
1859; — LeQons sur la physiologie de la digestion, 1868, 2 Bde.; daneben viele
andere Spezialschriften und kleinere Aufsätze in Archiven xmd Zeitschriften, 1894 — 96
von ihm und (nach seinem Tode der 4. Band) von A. Herzen neu herausgegeben
als „Schiffs gesammelte Beiträge zur Physiologie", Lausanne. *
Schiff hat sich entschieden grosse Verdienste um alle Zweige"
der Physiologie erworben, indem er als Experimentator, speziell Vivi-
sektor, dessen unermüdlicher Fleiss geradezu beispiellos ist, jede nur ;
irgend aufkommende und zeitgemässe Frage einer sofortigen Be-
arbeitung unterzog und in der That viele neue Thatsachen als erster
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 421
ans Licht gezogen hat, wenn auch oft in unvollkommener Form und
vielfach unverstandener Weise: der Enthusiasmus übertraf nur zu
oft sein kritisches Vermögen und liess ihn wohl auch öfter in Wahr-
heit nicht vorhandene Dinge sehen ; dazu kam eine entschiedene
Neigung auf allen Gebieten, für viele Einzelbeobachtungeu sich selbst
die Priorität zuzuschreiben, — wie oft Unberechtigtermassen, ist schwer
zu entscheiden. Aber es muss wiederholt werden: alle diese Eigen-
tümlichkeiten hindern nicht, Schiff in die erste Eeihe der Forscher
zu stellen und seine vielen wirklich bedeutenden Entdeckungen voll-
auf zu würdigen.
Auf dem Gebiete der Yerdauungsphysiologie zog er die Auf-
merksamkeit auf sich durch seine ..Ladungstheorie" der Magen-
verdauung, ^) welche ganz neuerdings in Pawlows Unterscheidung der
pepsinogenen Xahrungsstoffe wieder aufgelebt ist; von einer von ihm
behaupteten ähnlichen Wirkung der Milz auf die Trypsinbildung
wird noch später die Rede sein, desgleichen von seiner Entdeckung
der schädlichen Fol gend er Schilddrüsenexstirpation und
deren Besserung durch Schilddrüsenfütterung u. s. w. Sein Haupt-
arbeitsgebiet aber bildet die Physiologie des Nerven-
systems, und zwar die allgemeine — Degeneration, Elektrophysio-
logie — wie die spezielle: er,-) wie auch Gianuzzi und Mole-
s c h 0 1 1 ^) beobachteten öfter auf peripherische Vagusreizung Be-
schleunigung statt Verlangsamung der Herzthätigkeit, weshalb er den
Vagus (wie manche Aelteren) für den motorischen Nerv des
Herzens und die Hemmung nur für eine Ermüdungswirkung er-
klärte, — eine Anschauung, welche er nach langjährigem Streite
schliesslich selbst aufgeben musste; ebenso unrichtigerweise er-
klärte er die Lungenentzündung nach beiderseitiger
Vagusdurch schneidung, die Magendie und Longet auf
Ausfall einer „trophischen Wirkung" bezogen hatten, durch Ausfall
vasomotorischer Fasern, die gar nicht im Vagus verlaufen, — gegen-
über L. Traubes Deutung als Schluckpneumonie. welche durch die
späteren Untersuchungen von 0. Frey u. a. im wesentlichen als
richtig sich herausstellte.^) Glücklicher war er mit seinen Unter-
suchungen über dieZungenbewegungen, die Peristaltik U.S.W.
Mit seiner auf Grund erfolgloser Reizversuche an den Rückenmarks-
strängen aufgestellten Unterscheidung einer „ä s t h e s o d i s c h e n*'
und -kinesodischen" Substanz war er weniger glücklich als
mit manchen scharfsinnig gedeuteten Durchschneidungsver-
suchen am Rückenmark; wertvoll bleiben jedenfalls seine For-
schungen über die Funktionen derHirnbasis und des Klein-
hirns, mit welchen er seit seiner Erstlingsschrift sich viel beschäf-
tigte — s. sein Buch: Sul Sistema nervoso encefalico, Florenz 1865;
2. Aufl. 1873.
Weit weniger universeller Experimentator war der nach Italien
berufene Holländer Moleschott [Jakob, geb. den 9. August 1822 in
Herzogenbusch, studierte in Heidelberg, promovierte dort 1845 mit
*) LeQons sur la physiolo^e de la digestion, p. 188.
') Arch. f. phvsiolog. Heük., Bd. 8, S. 209, 442; Moleschotts Untersuchungen,
Bd. 6, S. 201; 10:S. 98. ^
») Ebenda, Bd. 7, S. 401; 8, S. 52, 572, 601.
*) Vgl. des Verfassers Arbeit in Pflügers Arch., Bd. 61, S. 39, 1895.
422 , Heinrich Boruttau.
der Dissertation „De Malpighianis pulmonum reticulis", arbeitete bei
Mulder, habilitierte sich 1847 in Heidelberg, kam 1856 als Physio-
logieprofessor nach Zürich, 1861 nach Turin, 1879 nach Eom, wo er
bis zu seinem am 20. Mai 1893 erfolgten Tode wirkte, als Italiener
nationalisiert, 1876 Senator. Er gab die „Untersuchungen zur
Naturlehredes Menschen" heraus; 13 Bde., Giessen 1857 — 85].
Moleschott hat mancherlei physiologisch-chemische xA.rbeiten ge-
macht durch kritische Schriften („Kritische Betrachtung von Liebigs
Theorie der Ernährung der Pflanzen", Haarleml845; „Physiologie der
Nahrungsmittel", Darmstadt 1850; „Physiologie des Stoffwechsels in
Pflanzen und Tieren", Erlangen 1851) die Stoffwechsellehre ge-
fördert, vor allem aber diese Dinge durch gemeinverständliche Schriften
popularisiert, so durch seine „Lehre der Nahrungsmittel",
Erlangen 1850; mehrere Auflagen, in viele Sprachen übersetzt, und
seinen „Kreislauf des Lebens", 1. Aufl. Mainz 1852, welches be-
sonders in seinen neueren Auflagen (5. 1885) zum Kanon des
naturwissenschaftlichen Materialismus geworden ist, —
neben Ludwig Büchners (1824—1899, Arzt und Schriftsteller
in Darmstadt) bekannter Schrift „Kraft und Stoff, Frank-
furt a. M. 1855, 17. Aufl. 1892. Beide Bücher bilden zu sehr über-
schwengliche Aeusserungen einer an sich berechtigten
Eichtung, in welcher wir das Triumphgefühl der sieg-
reichen Bestrebungen erblicken können, die Lebens-
erscheinungen auf physikalische und chemische, in
letzter Linie mechanische Gesetze zurückzuführen.
Dasselbe Gefühl war es auch, welches die von dem grossen Charles
Darwin (1809 — 1882) ins Feld geführten, so verlockenden
Stützhypothesen der Descendenztheorie mit gar zu
weit getriebenem Enthusiasmus hinnahm und gewisser-
massen im Rausche ^) gar die natürlichen, der menschlichen
Erkenntnis gesetzten Grenzen ganz vergass. Die be-
ginnende Ernüchterung beginnt sich bereits zu zeigen in
Heinrich Czolbes (1819 — 1873) „Grenzen und Ursprung der
menschlichen Erkenntnis" (1865), erst recht aber in dem
schon erwähnten „Ignorabimus" du Bois-Reymonds (1882),
welches überleitet zu der philosophischen Reaktion, die die
nun zu besprechende neueste Periode der modernen Biologie
kennzeichnet. —
Bio- und bibliographische Nachträge:
1. V. Helniholtz, Gedenkrede auf ihn von v. Bezold, Berlin 1895, desgleichen
von du Bois-Reymond, ebenda 1897.
2. E. Brücke, desgleicJien, ebenda 1892.
3. Wegen der biographischen Daten siehe übrigens den alljährlichen medizinisch-
naturwissenschaftlichen Nekrolog in Virchoivs Archiv, die Uebersicht ,,Die Toten
des Jahres" in den Registern der „Deutschen medizinischen Wochenschrift", im
übrigen die Nekrologe in dieser Zeitschrift, ferner in der „Münchener medizinischen
Wochenschrift", hier meistens mit Bilderbeilagen („Gallerie berühmter Naturforscher
und Aerzte"), in der Wiener Min. W. und zahlreichen anderen medizinischoi Zeit-
schriften, auch Archiven und Akademieschriften, insdesondere :
4. In dem itn Erscheinen begriffenen ,.Dictionnaire de physiologie" von Ch.
Hiehet sind Lebensdaten, besonders vollständig aber die Werke der meisten be-
deutenden, speziell allerdings der französischen Physiologen aufgeführt.
^) Vgl. allerdings Pagel in seiner „Einführung", S. 349!
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 423
5. Mudolf Heidenhain, ^) Zum Andenken an ihn, von P. Griitzner, Pflügers
Arch., Bd. 72, S. 221, 1898.
6. Adolf Fick, Zum Andenken an ihn, von Fr. Schenck, ebenda, Bd. 90
S. 313, 1902.
VI.
Die Weiterentwicklung der Physiologie bis zum Ende des
19. Jahrhunderts.
Die „klassische Periode" der Physiologie schuf ein
wohlgefüg-tes Lehrgebäude, dessen Ecksteine, experimentell erwiesene
Grundthatsachen , ein ewiges Besitztum menschlicher Erkenntnis
bleiben dürften; sie schuf Methoden, deren fortgesetzte Anwendung
und immer feinere Ausbildung in den letzten Jahrzehnten des jüngst
abgelaufenen Jahrhunderts, dank dem Fleisse einer immer grösser
werdenden Zahl jüngerer Forscher eine kaum mehr übersehbare
Zahl neuer Detailergebnisse dem vorhandenen Grundstock hin-
zufügte. An dieser Arbeit beteiligten sich Angehörige aller Nationen,
indem schliesslich in fast allen Kulturländern die Physiologie als
selbständige Wissenschaft und Grundlage des medizinischen Studiums
anerkannt, besondere Lehrstühle, die vielfach mit Schülern Carl
Ludwigs und anderer bedeutender deutscher Physiologen besetzt
■wurden, und eigene, wohl nach deutschem Muster eingerichtete
Institute erhielt ; am wenigsten ausgesprochen ist, wie schon oben für
die klassische Periode erörtert, diese „funktionelle Selbständigkeit"
unserer Disziplin auch heute noch in Frankreich, wo viele Physio-
logen nebenbei Praxis treiben, fast alle sich auch mit Pharmakologie,
experimenteller Pathologie, Bakteriologie, Lnmunitätslehre u. s. w. be-
schäftigen, viele Laboratorien dementsprechend mehreren Fächern
gleichzeitig dienen, ja sogar zur Zeit nicht eine einzige, rein physio-
logische Zeitschrift mehr existiert: vielmehr trat an die Stelle der,
auch schon die Pathologie stark berücksichtigenden „Archives de
Physiologie normale et pathologique" Brown -Sequar ds (s. oben)
1899 das von Bouchard und Chauveau herausgegebene Journal
de Physiologie et de pathologie generale, neben welchem das 1864
von dem Histologen Ch. P. Eobin (1821—1885) gegründete, jetzt
von Mathias Duval u. a. herausgegebene Journal de l'anatomie
et de la Physiologie ebenfalls gemischten Inhalt bietet. Soweit solche
Vereinigung biologischer, resp. medizinischer Wissenszweige in dem
genialen und energischen Wirken eines einzigen Forschers nach dem
leuchtenden Beispiel Hallers, Joh. Müllers, Ludwigs und
Cl. Bernards heutzutage bei der fortschreitenden, die Arbeits-
teilung gebieterisch fordernde Spezialisierung der einzelnen Arbeits-,
richtungen und Erscheinungsgebiete überhaupt noch möglich ist, kann
kein Zweifel herrschen, dass sie das letzteZiel physiologischer
Forschung, die Erklärung des Lebens, am meisten fördern
wird; auch ist es gerade solche Gesamtbeherrschung und zusammen-
fassende Benutzung der Methoden, welche auch in der letzten Periode
die allgemein physiologischen Kenntnisse am meisten gefördert hat:
indessen droht dem Unterfangen einer solchen immer schwieriger
*) Sein Lebensgang s. S. 109.
424 . Heinrich Boruttau.
werdenden Universalität die grosse Gefahr des Verfallens in eine be-
denkliche Oberflächlichkeit, wie sie sich in der nachklassischen
französischen Physiologie zum Teil in kopfschüttelnerregender Weise
geäussert hat; und endlich werden wir sehen, wie gerade die besten
und fruchtbarsten allgemeinphysiologischen Anschauungen aus ganz
speziellen Arbeitsrichtungen, aus der Untersuchung ganz einseitig
differenzierter Funktionen einzelner Organe hervorgegangen und erst
nebenbei durch vergleichende und verallgemeinernde Methodik ge-
stützt worden sind.
Ein klassisches Beispiel dieser Art bietet die Weiterentwicklung
der von Helmholtz und du Bois-Reymond auf exakt-physika-
lische Grundlage gestellten allgemeinen Muskel- und Nerven-
physiologie. Noch in die klassische Periode fallen die Anfänge
der Entmcivlung der wichtigen Lehre von der wellenförmigen
Fortpflanzung der Erregung; ihre Aeusserung an der querge-
streiften Muskelfaser als „Kontraktionswelle" und die Messung ihrer
Geschwindigkeit geht zurück auf die Untersuchungen von Chr. Th.
Aeby [1835—1885, Prof. der Anatomie in Bern] in den Jahren
1860/62, von Bezold 1861 und von Marey 1867, die in neuerer
Zeit durch die mikroskopischen Beobachtungen von R o 1 1 e 1 1 (s. weiter
unten) an Insektenmuskeln und anderen ergänzt worden sind. Zu-
gleich mit einer eigenen Methode der Geschwindigkeitsmessung der
Kontraktionswelle erfolgte ein wichtiger weiterer Schritt durch
Bernstein [Julius, geb. 8. Dezember 1839, Schüler du Bois-
Reymonds, promovierte 1862 in Berlin, war Assistent von Helm-
holtz in Heidelberg und ist seit 1872 ordentlicher Professor der
Physiologie in Halle a. S.], welcher einen von seinem Lehrer
du Bois-Reymond angeregten Plan zur Untersuchung des zeit-
lichen Verlaufs der „negativen Schwankung" technisch ausführte und
mit Hilfe des so entstandenen „Differentialrheotoms"^) und
des inzwischen von Meissner und Meyer st ein in die Elektro-
physiologie eingeführten, auch von du Bois-Reymond benutzten
Spiegelgalvanometers erkannte, dass in der Muskel- wie
inder Nervenfasereine elektromotorische Veränderung
(„Negativität" im Sinne des Zinkpols im galvanischen Elemente) von
der Reizstelle aus sich wellenförmig fortpflanzt, und
zwar beim Muskel mit gleicher Geschwindigkeit wie die Kontraktions-
welle, dieser vorauseilend, beim Nerven mit gleicher Geschwindigkeit
wie die durch Helmholtz myographisch u. s. w, gefundene Leitungs-
geschwindigkeit, als einziger äusserer Ausdruck der Nerventhätigkeit.
Diese Entdeckungen, sowie eine Theorie der sog. Anfangszuckung und
der „Empfindungskreise" gab Bernstein zusammen heraus unter
dem Titel „Untersuchungen über den Erregungs Vorgang im Nerven-
und Muskelsystem", Heidelberg 1871. Bedeutend gefördert wurden
die thatsächlichen Kenntnisse von der „Erregungs welle" durch
die Arbeiten über die „Aktionsströme" von L. Hermann,^) dessen
Gesamtverdienste bald gewürdigt werden sollen, sowie neuestens durch
die Anwendung des von Helmholtz' Schüler Lippmann (jetzt in
Paris) 1872 erfundenen Capillarelektrometers , dessen Bewegungen
photographisch zu registrieren zuerst Marey unternahm, eine Technik,
1) Pflügers Archiv, Bd. 1, S. 173, 1868.
2) Ehenda, Bd. 16, 18, 24.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 425
um welche sich J. Burdon Sanderson [geb. 21. Dez. 1828 in
Newcastle, jetzt Professor der Physiologie in Oxford] und seine Mit-
arbeiter Page,FrancisGotch [Professor in Oxford] und G. B u r c h
besonders verdient gemacht haben. ^) Diese genaue Erforschung des
elektrischen Ausdrucks der „Erregungswelle", sowie die schon 1863
von Matteucci zur Erklärung der elektrotonischen Ströme angezogenen,
später von L. Hermann und anderen weiter ausgebildeten Ver-
suche an sog. Kernleitermodellen mit polarisierbarer Grenzfläche
haben neuestens die Möglichkeit näher gerückt, die Erscheinungen
der Erregungsleitung auf Grund der konzentrisch fibrillären
Struktur und der physikalisch-chemischen Eigenschaften der erregungs-
leitenden Gebilde zu erklären;-) hier ist auch Bernsteins Ver-
dienst zu erwähnen, dass er zuerst die relative Unermüdbarkeit
der Nervenfasern nachwies,^) welche ausser anderen insbesondere
durch P. Bowditch [Professor der Physiologie an der Harvard
medical School in Boston, schon älterer hochverdienter amerikanischer
Physiologe] bestätigt und in ihrer Bedeutung gewürdigt worden ist.*)
Wenn nun die L e i t u n g der Erregung die ganz besonders diiferenzierte
Funktion der Nerven, Muskelfasern und üljerhaupt fibrillären Gebilde
ist, so war die Reizbarkeit als eine nicht mehr im Ha 11 er sehen
Sinne von der Sensibilität zu trennende elementare Lebenseigenschaft
jeglichen Protoplasmas seit den Zeiten des fanatischen Brown (siehe
früher) immer mehr anerkannt worden ; doch immer noch bot der für
Haller allein reizbare Muskel mit der Trias seiner sinnfälligen
Reizerfolge : Kontraktion, elektrische Veränderung und
ErwärmungdasnächstliegendeMaterialzurErgründung
des Wesens der elementaren Lebenserscheinungen, der
Fundamen talgesetze des cellulären Stoff- und Kraft -
wechseis. Hier die ersten, weiteres Verständnis anbahnenden
Schritte gethan zu haben, ist das bedeutende Verdienst L. Her-
manns.
Ludimar Hermann, geb. am 21. Oktober 1838 in Berlin, studierte da-
selbst und promovierte 1859, habilitierte sich 1865 ebenda für Physiologie,
wurde 1868 als Ordinarius nach Zürich, 1884 desgleichen als Nachfolger
Wittichs nach Königsberg berufen.
Er verfasste 1863 einen Grundriss der Physiologie, icelcher später zum „Lehr-
buch" timgeivandelt, zuletzt 1899 in 12. Auflage erschienen, ferner 1874 ein „Lehr-
buch der experimentellen Toxikologie", beide in Berlin erschienen, endlich ein
„Praktikum", Leipzig 1898. Er gab von 1862 ab mit Kühne, v. Reckling-
hausen u. a. das „Centralblatt für medizinische Wissenschaften" heraus, welches
1868 an Rosenthal und Senator überging, jetzt von letzterem mit J. Munk
und M. Bernhardt geleitet tcird. Das bedeutendste litterarische Unternehmen
Hermanns ist aber sein noch zu würdigendes grosses „Handbuch der Physiologie'^
in 6 Bänden {Leipzig 1879—1882), von icelchem er selbst die allgemeine Muskel-
und Nervenphysiologie bearbeitet Jiat, ivährend an der Ausarbeitung der übrigen Teile
zahlreiche, z. T. schon erwähnte Forsclier mitgewirkt haben.
Im Jahre 1867 gab Hermann (als erstes Heft seiner „Unter-
suchungen zur Physiologie der Muskeln und Nerven", Berlin 1867/68)
„Untersuchungen über den Stoffwechsel der Muskeln,
^) Siehe das „Journal of Physiology", Bd. 11 und von Band 18 ab.
') Vgl. des Verfassers Sammelreferat im 1. Bande der Ztschr. f. allg. Physio-
logie, 1901.
») Pflügers Arch., Bd. 15, S. 289, 1877.
*) du Bois' Arch., 1890, S. 505.
426 . Heinrich Boruttau.
ausgehend vom Gaswechsel derselben" heraus, in welchem,
ähnlich wie ihn schon seinerzeit Spallanzani konstatiert hatte,
der Gaswechsel überlebender Froschmuskeln untersucht, mit Bezug
auf sein Verhalten im Ruhezustande und im Tetanus verglichen und
unter anderem gefunden wurde, dass ein Muskel, welcher keinen
auspumpbaren Sauerstoff mehr enthält, im Vacuum
oder in einer Wasserstoffatmosphäre noch sich kontra-
hieren kann und dabei Kohlensäure produziert: hieraus
schloss Hermann, dass der dem Freiwerden der Kontrak-
tionsenergie zu Grunde liegende chemische Prozess
keine einfache Oxydation sein könne, sondern ein
Spaltungsprozess sein müsse, bei welcher bereits vorher ge-
bundener Sauerstoff in Gestalt von Kohlensäure entweiche: die Auf-,
nähme des Sauerstoffs in das Molekül ist ein „assimilato-
rischer" Vorgang, welcher zur Bildung einer leicht, unter Frei-
werden von Energie wie ein Sprengstoff zerfallenden „inogenen
Substanz" führt, deren Spaltung oder „Dissimilation" der
Muskelkontraktion zu Grunde liegt. Wie Hermann und
später Hering diese Anschauung von den zwei Phasen des Stofi-
und Kraftwechsels, auf die organisch-elektrischen Erscheinungen, die
Sinnesphj^siologie u. s. w. spezieller angewendet haben, wird weiter
unten erörtert werden; hier sei nur erwähnt, dass Hermann fast
alle Gebiete der Physiologie durch ausgezeichnete, vielfach gemein-
schaftlich mit Schülern, wie dem zu früh verstorbenen Balthasar
Luchsin ger [1849 — 1886, Professor in BernJ ausgeführte Experi-
mental arbeiten bereichert hat, deren viele noch werden erwähnt werden.
Zu ähnlichen Schlüssen wie Hermann führten analoge
Versuche, in denen indessen ein ganzer Frosch bei niedriger Tempe-
ratur in einer reinen Wasserstoffatmosphäre lebte und Kohlensäure
produzierte, einen Forscher, welcher gleichfalls auf dem Gebiete der
Elektrophysiologie — durch die schon erwähnten grundlegenden Unter-
suchungen über den Elektrotonus und das Zuckungsgesetz — sich seine
wissenschaftlichen Sporen verdient hatte, nämlich E d u a r d Pflüger.
Eduard Friedrich Wilhelm Pflüger, geb. am 7. Juni 1829 in Hanau,
promovierte 1855 in Berlin, habilitierte sich ebenda 1858, und wurde 1859
als ordentlicher Professor der Physiologie nach Bonn berufen, wo er 1878
ein neues physiologisches Institut errichtete und noch jetzt wirkt.
Von selbständig erschienenen Schriften sind ausser der schon erwähnten Physio-
logie des Elektrotonus noch anzuführen: „lieber die Eierstöcke der Säugetiere tmd
des Menschen", Leipz. 1863, — hier die „Pflüg er sehen Schläuche" — ; „Unter-
suchungen aus dem physiolog. Labor, in Bonn, Berlin 1865, u. a. m.
Nachdem Pflüger bereits durch seine schon früher angedeuteten,
unten nochmals zu erwähnenden Arbeiten über die Gase des Blutes
sowie über Ort und Gesetze der Oxydationsprozesse im
Körper in grundlegender Weise vorgearbeitet hatte, Hess er 1875
im 10. Bande des von ihm 1868 gegründeten, bis heute auf über
90 Bände angewachsenen „Archivs für die gesamte Physio-
logie des Menschen und der Tiere" seine berühmte Abhand-
lung „über die physiologische Verbrennung in den
lebendigenOrganismen" (daselbst S. 251) erscheinen, in welcher
aus dem schon erwähnten Versuchsergebnisse, sowie zahlreichen
anderen sinnreichen Experimenten und Betrachtungen der Schluss
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 427
gezogen wird, dass die Reizbarkeit auf der „intramole-
kularen" Bindung des Sauerstoffes in einem höchst
labilen Molekül beruht, aus welcher er beim Zerfall desselben
in die viel stabilere Bindung an Kohlenstoff und Wasserstoff über-
geht und als Kohlensäure und Wasser austritt; durch erneute intra-
molekulare Bindung neuen Sauerstoffs ist die Reizbarkeit wieder-
herstellbar resp. das „lebendige Eiweissmolekül" regenerier-
bar, welches nach Pflügers Annahme sich von dem „toten Ei-
weiss" dadurch unterscheiden sollte, dass der Kohlenstoff mit dem
Stickstoff zum Cyanradikal locker verbunden, und nicht in Amidform
vorhanden sei, ferner aber durch den intramolekularen Sauerstoff: „Der
Lebensprozess ist die intramolekulare Wärme höchst
zersetzbarer und durch Dissociation, wesentlich unter
Bildung von Kohlensäure, Wasser und amidartigen
Körpern, sich zersetzender, in der Zellsubstanz ge-
bildeter Eiweissmoleküle, welche sich fortwährend re-
generieren und auch durch Polymerisation wachsen".
Die assimilatorische Aufspeicherung des Sauerstoffs erhellte auch aus
den vergleichenden Gasanalysen des zuströmenden Arterienbluts und
abströmenden Yenenbluts, welche Ludwig und Czelkow (s. früher)
an dem — das einemal ruhenden, das anderemal arbeitenden —
Muskel des lebenden Tieres ausgeführt hatten, mit dem Ergebnisse,
dass während der Ruhe weit mehr Sauerstoff aufgenommen wird, als
der gleichzeitig abgegebenen Kohlensäuremenge entspricht, der re-
CO.
spiratorische Quotient des Muskels -^- also sehr klein ist, und dass
während der Arbeit umgekehrt mehr Kohlensäure abgegeben wird,
als dem gleichzeitig aufgenommenen Sauerstoff entspricht, der re-
spiratorische Quotient des Muskels also grösser als 1 wird. Diese
Thatsache wurde weiterhin bestätigt durch die analogen Versuche
von Ludwig und Schmidt (s. früher), sowie unter Ludwigs
Leitung von M. v. Frey [geb. 1852, jetzt ord. Professor der Physio-
logie in Würzburg als Nachfolger F i c k s] 1885 ^) an ausgeschnittenen
und künstlich durchbluteten Muskeln, sowie diejenigen von Chauveau
und Kaufmann 1886/87, =^) welche letztere (am Masseter des lebenden
Pferdes) auch den Zuckergehalt des Blutes bestimmten und eine
Zuckeraufspeicherung während der Ruhe behaupteten.^) Dass auch
verbrennliche Reservestoöe „intramolekular" assimiliert werden können,
darauf wiesen die chemischen Untersuchungen zahlreicher Forscher
(s. später) über die zusammengesetzten Eiweisskörper, die von Hoppe-
Seyler so genannten „Proteide" hin. Die auf diese Weise ge-
schaffenen Anschauungen über Chemismus des lebenden
„Protoplasmas"*) wurden auf Grund interessanter Arbeiten über
die Affinität gewisser Farbstoffe zu verschiedenen Organen in ver-
schiedenem Zustande derselben besonders scharf ausgesprochen von
Paul Ehrlich [geb. 1854, 1889 Privatdozent f. innere Medizin, 1890
Mitarbeiter Kochs, 1891 Extraordinarius, ist seit 1896 Direktor des
Seruminstituts, früher in Steglitz, jetzt in Frankfurt a. M.] in seiner
») du Bois' Archiv, 1885, S. 519.
*) Comptes Eendus, T. 103 u. 104.
*) Ihre Ano^aben sind neuerdings von Seegen als wenig genau hingestellt
worden.
*) Ursprünglich rein morphologische Bezeichnung! (Mohl 1844.)
428 Heinrich Boruttau.
Schrift „Das Sauerstoffbedürfnis des Organismus", Berlin
1885: Das lebendige Eiweissmolekül — neuestens von Verworn
(s. später) als „Biogen" bezeichnet^) — besteht aus einem stick-
stoifhaltigen „Leistungskern" mit verbrennlichen Seitenketten und
locker gebundenem „intramolekularen" Sauerstoff, welcher durch die
„Atmung" aufgenommen wurde. Der Zerfall desselben (Dissimilation)
erfolgt ähnlich wie derjenige eines Nitro-Sprengstoffmoleküls (Nitro-
glycerin, Pikrinsäure) in der Weise, dass der Sauerstoff die lockere
Bindung an den stickstoffhaltigen Leistungskern aufgiebt und in eine
festere tritt, indem er die „verbrennlichen Seitenketten" oxydiert. Die
Oxydationsprodukte, vornehmlich Kohlensäure und Wasser, werden
ausgestossen, und der Leistungskern kann durch Aufnahme neuer ver-
brennlicher Seitenketten aus der Nahrung und neuen Sauerstoffs
(Assimilation) regeneriert werden.
Wenn sich so die modernen Anschauungen über den Lebens-
chemismus im allgemeinen von Untersuchungen über den Gaswechsel
des Muskels herleiten, so wurden die letzteren auch fruchtbar für die
Weiterentwickelung der Muskelphysik selbst, zunächst
der Elektrophysiologie: in Fortsetzung seiner Untersuchungen
zur Physiologie der Muskeln und Nerven wies Ludimar Hermann
1867 die Stromlosigkeit unverletzter Muskeln nach und ersetzte die
als immer weniger haltbar sich erweisende „ Molekular theorie" du
Bois - Reymonds durch seine „Alterationtheorie" (1868),,
welche die „negativ" elektromotorische Wirksamkeit des Querschnitts
wie auch den (von ihm und Schiff so genannten) „Aktions ström"
auf die verstärkte Dissimilation absterbender, resp.
thätiger Muskel- und Nervenstellen gegenüber den leben-
den resp. ruhenden zurückführt. Diese Vorstellung ist dann von
Hering (s. später), einer von Hermann selbst wieder fallen ge-
lassenen Erklärung des Elektrotonus entsprechend, um eine „positiv"
elektromotorische Wirksamkeit der gesteigerten Assimilation erweitert
worden, und es ist in der Folge die „Alterationstheorie" von der
Mehrzahl der Elektrophysiologen angenommen worden, so von Wilh.
Biedermann [geb. 1854, jetzt ord. Professor der Physiologie in Jena],
welcher z. T. zusammen mit Hering das in Rede stehende Gebiet durch
viele wertvolle Arbeiten, speziell über Haut- und Sekretions-
ströme bereichert und unsere Kenntnisse auf demselben in seiner vor-
treiflichen „Elektrophysiologie", Jena 1895, zusammengefasst
hat. Von modernen ausländischen Forschern auf diesem Gebiete sei
hier A. D. Wallers, des Sohnes des älteren Augustus Waller
(s. oben) gedacht, welcher durch die Erkenntnis der Gesetze des
Elektrotonus am Lebenden („virtuelle Elektroden") zusammen
mit de Watteville-) der Elektrodiagnostik eine solidere Grund-
lage gegeben, sowie weiterhin durch Untersuchungen über die Aktions-
ströme des Herzens, sowie der Wirkung der Kohlensäure und Narkotika
auf den Nerven wichtige Fortschritte angebahnt hat, — ferner der
Russen Wedensky (in Petersburg) und Werigo (ebenda). Speziell
der Untersuchung der sekundären Zuckung und den Gesetzen
des Muskelaktionsstroms sind wichtige Arbeiten Kühnes
gewidmet.
') In dessen ., allgemeiner Physiologie" (s. später); siehe auch: „Die Biogen-
hypothese", Jena 1903.
^) „On the influence" etc., Philosoph. Transact., London 1882.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 429
Willy Kühne, geboren am 28. März 1837 in Hamburg, studierte in
G-öttingen, Jena, Berlin, Paris und "Wien, in der Physiologie Schüler von
Gl. Bernard, Ludwig, Brücke und du Bois-Reymond, promovierte als
Dr. phil. 1856, wurde 1862 Dr. med. h. c, 1868 ord. Professor der Physio-
logie in Amsterdam, 1871 desgleichen in Heidelberg, woselbst er bis zu
seinem am 11. Juni 1900 erfolgten Tode wirkte.
Schriften ausser der schon erirähnten physiolog. Chemie: „Myologische Unter-
suchungen", Leipz. 1860; „Untersuchungen über das Protoplasma und die Contrac-
tilität'\ ebenda 1864; vor allem die „Untersuchungen aus dem physiolog. Institut zu
Heidelberg", in 4 Bänden erschienen 1877—1882, endlich die Bearbeitung der Physio-
logie der Netzhaut in Hermanns Handbuch; ausserdem zahlreiche Ablmndlungen in
Archiven und der von ihm mit herausgegebenen Zeitschrift für Biologie {s. oben).
Schon vorher hatte Kühne in seiner Schrift „über die peri-
pherischen Endorgane der motorischen Nerven" (Leipzig
1862) deren Struktur näher untersucht und die „elektrische Ent-
ladungshypothese" für ihre Wirkungsweise aufgestellt, welche
neuestens, trotz gewisser, z. T. in der 1882 von Bernstein ent-
deckten spezifischen Erregungsdauer derselben liegenden Bedenken,
wieder an Wahrscheinlichkeit gewonnen hat durch die schon ange-
deuteten neuen Ergebnisse über die Rhythmik der Entladungs-
schläge der Zitterfische [Untersuchungen von Marey, Schön-
lein, Gotch mit Rheotom, Telephon und CapillarelektrometerJ.
Die Kenntnis der mechanischen Eigenschaften des
Muskels wurde besonders gefördert durch die Bemühungen Ficks
(s. früher) und seiner Schule: Gad [Johannes, geb. am 30. Juni
1842 in Posen, erst Offizier, studierte dann Medizin, assistierte du
Bois-Reymond, dann Fick, wurde 1885 Leiter der experimentell-
physiologischen Abteilung des Berliner Instituts, 1895 ordentlicher
Professor der Physiologie an der deutschen Universität in Prag],
welcher mit Hey maus (J. F., jetzt Professor der Pharmakologie in
Gent) zusammen eine vcn der französischen Akagemie preisgeki'önte
Arbeit über die Einwirkung der Temperatur auf den Contraktions-
ablauf publizierte,') Fritz Schenck [geb. 1862, Assistent erst
Pflügers dann Ficks, seit 1901 ordentlicher Professor in Marburg)
u. a., sowie durch Schüler Ludw^igs, wie M. v. Frey (siehe oben),
und Joh. V. Kries [geb. 1853. Schüler von Helmholtz und
Ludwig, 1880 in Leipzig habilitiert, seit 1884 Ordinarius in Frei-
burg i. B.], welche den Einfluss der Belastung, Unterstützung u. s. w.,
sowie der Reizstärke und Reizfrequenz auf die Muskelzusammenziehung
mit immer mehr verfeinerten Methoden untersuchten. Gleichfalls
Ludwigs Schüler auf diesem Gebiet ist Robert Tiger stedt
[geb. 1853 in Helsingfors, daselbst 1881 promoviert, arbeitete 1881
und 1883/84 in Leipzig, 1884 stellvertretender und 1886 ordentlicher
Professor der Physiologie am Carolin, medico-chiurg. Institut in Stock-
holm, 1900 desgleichen an der Universität Helsingfors], welcher bereits
in seiner Heimat mit einer vortrefi'lichen Arbeit über mechanische
Nerven reizung (Helsingfors 1880) promovierte und namentlich das
Latenzstadium der Muskelzuckung bearbeitete ; ^) von seinen be-
deutenden Verdiensten auf anderen Gebieten wird später noch die
Rede sein. Noch ein anderer nordischer Forscher, Magnus Blix
^) du Bois' Arch., 1890, Suppl., S. 59.
«) du Bois' Archiv, 1885, Suppl., S. 111.
430 Heinrich Boruttau.
(jetzt Professor in Lund) erwarb sich bedeutende Verdienste ins-
besondere um die Lehre von der Muskelelastizität und, wie
schon erwähnt, von der Wärraebildung des thätigen Muskels: hier
wäre nachzutragen, dass die letztere nach H e 1 m h o 1 1 z' grundlegender
Arbeit und vor dem Eintreten F i c k s in dieses Gebiet einer vorzüg-
lichen, viele Hauptthatsachen enthüllenden Bearbeitung noch in der
klassischen Periode unterworfen wurde ') seitens des grossen Physio-
logen Heidenhain, dessen Pionierarbeit zur modernen Entwicklung
eines anderen Gebietes bald gewürdigt werden wird.
Von des Engländers Bowman, sowie Brücke s Verdiensten
um die mikroskopische Untersuchung des quergestreif-
ten Muskels ist oben schon die Rede gewesen; einen wichtigen
Fortschritt insbesondere für das theoretische Verständnis der Muskel-
aktion bedeutete der in Engelmanns bedeutenden Untersuchungen
über diesen Gegenstand-) erbrachte Nachweis, dass die doppel-
brechende Substanz bei der Kontraktion an Volumen zunimmt auf
Kosten der einfachbrechenden, was er als Quellung deutete, und wo-
rauf er eine „Quellungstheorie" der Muskelkraft gründete,^) in
welcher gegenüber Fick (s. oben) der mögliche Charakter des Muskels
als thermodynamische Maschine aufrecht erhalten wird.
Theodor Wilhelm Engelmann, geb. am 14. November 1843 in Leipzig,
studierte ausser dortselbst noch in Jena, Heidelberg und Göttingen, promo-
vierte 1867 in Leipzig mit einer Dissertation „über die Hornhaut des Auges",
ging dann als Assistent von Donders nach Utrecht, wurde nach dessen Tode
sein Nachfolger (seit 1871 Professor) und 1897 Nachfolger du Bois-Rey-
monds in Berlin.
Selbständige Schriften ausser den im Texte genannten: „Zur Naturgeschichte
der Infusiotistiere''' , Leipzig 1862; „Tafeln und Tabellen zur Darstellung der Er-
gebnisse spektroskopischer und spektrophotometrischer Beobachtungen"' , Leipz. 1897.
Beteiligung mit Donders und später selbständige Herausgabe der „Onderzoekingen
gedaan in hei physiologisch laboratorium der Utrechtsche Iloegeschool" , Utrecht seit
1872, viele Bände.
Indem Engelmanns Beiträge zur Herz- und Sinnesphysiologie
noch später erwähnt werden sollen, sei hier nur seiner elektro-
physiologischen Arbeiten (Begrenzung der „Demarkation" am
Ran vier sehen Schnürring, Hautströme, rhythmisches Polyrheotom
u. s. w.), besonders aber sein Verdienst um die Protoplasma- und
Flimmerbewegung erwähnt, welche letztere er auch für Her-
manns Handbuch bearbeitet hat.
Nur angedeutet werden können hier Einzelforschungen am Muskel
z. B. über die Ermüdung zuerst von R a n k e, dann von Hugo Krön -
ecker [geb. 1839, Schüler von Traube, Kühne und Ludwig,
1872 in Leipzig habilitiert, 1877 Vorsteher der speziell-physiologischen
Abteilung des Berliner Instituts, seit 1885 Ordinarius f Physiologie
in Bern] in seiner Berliner Dissertation 1863 und einer grösseren
Schrift 1871,*) später, wie schon erwähnt, von Funke, neuestens von
Rollett bearbeitet, in deren Theorie dann die Milchsäurebüdung
^) Mechanische Arbeit, "Wärmeentwicklung und Stoffumsatz bei der Muskel-
thätigkeit, Leipzig 1864.
■') Pflügers Arch., Bd. 7, S. 174; Bd. ll, S. 432; Bd. 18, S. 1.
^) Ueber den Ursprung der Muskelkraft, Leipz. 1892.
*) Ber. der Leipz. Akad., 1871, S. 718.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 431
(Preyer u. a.) eine ebenso vorüberg-ehende Rolle gespielt hat, wie
die Gerinnung (durch Vergleich mit der Starre, Hermann) in der Kon-
traktionstheorie ; ebenso ephemer waren in der Nervenphysik manche
Arbeiten von Fleischl [Ernst Fl. v. Marxow, geb. 1846, Assistent
Brück es, 1880 Extraordinarius, gestorben 1891; heuristisch wert-
voll sein ..Rh eonom*'] und von Grünhagen [Alfred, geb. 1842, von
1872 — 1894 Extraordinarius für medizinische Physik in Königsberg],
wogegen als wertvolle Beiträge zu diesem Gebiete die Arbeiten
Paul Grützners ^) (s, später) zu erwähnen sind, welche neuestens,
ebenso wie viele Aeusserungen Herings, sich übrigens gegen die
hergebrachte Lehre von der Identität des Thätigkeits-
vorganges in allen Arten von Nervenfasern richten.
Die spezielleBewegungslehre erfuhr, wie schon angedeutet,
nächst den klassischen Arbeiten der Gebrüder Weber, sowie von
Adolf Fick und Herman von Meyer [geb. 1815, von 1856 — 1889
ordentlicher Professor der Anatomie in Zürich, starb 1892] — „Statik
und Mechanik des menschlichen Knochengerüstes*' und andere wich-
tige Arbeiten — besondere Förderung durch die Ausbildung der
serienweisen Momentphotographie; diese von dem Ameri-
kaner Muybridge begründete, in Deutschland besonders durch
Ottomar Anschütz aus Lissa gepflegte Technik wurde von Marey
(s. früher) und seinem Mitarbeiter Demeny derart ausgebildet, dass
die Stellung der wichtigsten Punkte des Körpers in vielen rasch auf-
einanderfolgenden Phasen auf ein und dieselbe Platte gebracht und
so die Bahnkurve jedes Punktes im Raum ermittelt und aus ihr
mittelbar der Arbeitsaufwand der Muskeln erschlossen werden kann:
in allerexaktester Weise ist neuestens diese Art Untersuchung der
Dynamik der menschlichen Lokomotion unternommen worden -) durch
den verstorbenen Leipziger Anatomen Ludwig Braune [1831 — 1892]
gemeinschaftlich mit Otto Fischer [geb. 1861, ursprünglich Mathe-
mathiklehrer, jetzt Extraordinarius für medizinische Physik in Leipzig],
welcher diese Untersuchungen zur Zeit allein fortsetzt.
Während, wie wir gesehen haben, die Erforschung der Muskel-
chemie die allgemeinen Anschauungen über den Chemismus der or-
ganisierten Materie sehr gefördert hat, ist der Gesamtstoffwechsel
gerade in Hinsicht auf die Frage nach der Quelle der Muskel-
kraft wieder zum Tummelplatz der Kontroversen geworden,
indem Pflüger in einer Reihe seit 1892 erschienener Arbeiten^)
Fehler in den schon erwähnten Untersuchungen von Pettenkofer
und Yoit nachzuweisen sich bemüht hat und deren Lehre von der
eiweisssparenden Wirkung der Fette und Kohlenhydrate angegriffen,
vielmehr wieder das Eiweiss als die einzige „Quelle der Muskelkraft"
hingestellt hat, nachdem sein Schüler Argutinsky eine bedeutende
Vermehrung des Stickstoffumsatzes bei der Arbeit, er selbst eine be-
deutende Steigerung der Arbeitsfähigkeit bei reichlicher Eiweissfntte-
rung an Hunden konstatiert hatte. Ferner leugnet Pflüger, wohl
mit Recht, die Fettbildung aus Eiweiss. Wenn nun auch so die Frage
aufgeworfen ist, welcher Nährstoff bei gesteigertem Umsatz vom Orga-
nismus bevorzugt wird, — so kann doch die Thatsache, dass es der
^) Meist in Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie.
*) Abhandlungen der Leipz. Akademie, vom 20. Bande ab.
*) Sein Archiv von Bd. 50 ab.
432 Heinrich Boruttau.
Kohlenstoff und Wasserstoff aller drei Hauptklassen von Nährstoffen
ist, dessen Verbrennung die tierische Energieäusserung bedingt, um
so weniger geleugnet werden, seitdem MaxRubner [geb. am 2. Juni
1854 in München, Schüler Ludwigs und "Voits, 1883 in München
für Physiologie habilitiert, 1885 Extraordinarius und 1887 Ordinarius
für Hygiene in Marburg, 1891 desgleichen als Nachfolger R. Kochs
in Berlin] in seinen vorzüglichen Arbeiten „lieber die Verbrennungs-
werte der organischen Nahrungsstoffe 'V) „Untersuchungen kalori-
metrischen Inhalts", „Ueber isodyname Mengen Ei weiss und Fett",
„Biologische Gesetze", „Die Quelle der tierischen Wärme", und anderen,
meist in der Zeitschrift für Biologie, neuerdings auch im Archiv für
Hygiene erfolgten Veröffentlichungen den Nachweis geliefert hat,
dass Eiweiss, Fett und Kohlenhydrat sich nach Mass-
gabe ihrer Verbrennungswerte, — in „isodynamen"
Mengen — gegenseitig ersetzen können: nach der allge-
meinen Anschauung, wofern nur das „Erhaltungsei weiss"
gereicht wird, dessen Menge sich freilich als in praxi oft genug
weit niedriger als die Voitschen 118 Gramm inzwischen erwiesen
hat. Es gelang Rubner, durch Verbesserung der kalorimetrischen
Methodik", der „Stoffbilanz" entsprechend, eine den technischen
Schwierigkeiten entsprechend genau stimmende „Energiebilanz"
beim Tier zu erhalten, ein Gebiet, welches auch J. Rosenthal (s.
später) in seinen neuesten Arbeiten mit Erfolg betreten hat,-) während
die kalorimetrischen Arbeiten der Franzosen (Riebet, d'A r s o n v a 1 ,
Laulanie, Lefevre) von dem Vorwurf der gar zu geringen Ge-
nauigkeit nicht freizusprechen sind. Was die Wärmeregulierung
betrifft, so wurden die schon bekannten Beobachtungen über die
Steigerung des Gaswechsels in der Kälte und Herab-
setzung desselben in der Wärme durch die vortreff-
lichen Versuche von Pflüger '^j mit Röhr ig, Colasanti,
Finkler und Zuntz, sowie seitens zahlreicher anderer üntersucher
bestätigt; die von dieser „chemischen Regulierung" zu unterscheidende
„physikalische Regulierung" durch die reflektorische Verän-
derung der Blutfülle der Haut, welche, wie wir sehen, bereits Claude
Bernard, der Entdecker der Gefässnerven, erkannte, aber nicht ge-
nügend von jener anderen trennte, wurde von zahlreichen anderen
Forschern näher untersucht, mit besonderer Rücksicht auf ihre Ab-
hängigkeit von den einzelnen Abschnitten desCentral-
nervensystems; hierhergehörige speziell auch die Pathologie der
Wärmeregulierung (Fieber) betreffende Verdienste erwarben sich die
Kliniker Lieber meister [Karl, 1838 — 1902, zuletzt Professor in Tü-
bingen; „Handbuch der Pathologie und Therapie des Fiebers", Leipz.
1875J und Senator [Hermann, geb. 1834, Schüler Job. Müllers,
seit 1875 Extraordinarius in Berlin ; „Untersuchungen über den fieber-
haften Prozess", Berlin 1873] ; ferner Schreiber, Riebet [Charles,
geb. am 26. August 1850 in Paris, seit 1887 Professor der Physio-
logie an der dortigen medizinischen Fakultät: „La chaleur animale",
Paris 1889; wegen sonstiger Werke siehe später], endlich in Zuntz'
Berliner Laboratorium (s. u.) Aronsohn und Sachs.*) Die Mög-
1) Ztschr. f. Biol., Bd. 19, S. 313.
*) Du Bois' Archiv, 1889, S. 1 ; Monatsberichte der Berl. Akademie, 1892, S. 363.
») Pflügers Arch., Bd. 4, S. 57, 1871; Bd. 12, S. 282, 1877 u. a. m.
*) Sog. Wärmestich, Pflügers Arch., Bd. 37, S. 232, 1885.
Geschichte der Phj'siologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 433
lichkeit ,.künstlicher Kaltblütigmachung" von Warmblütern,
welche seit Bernards Versuchen mit Eückenmarkdurchschneidung
und tiefer Narkose viel diskutiert wurde, erweckte auch neues In-
teresse für die Herabsetzung des Stotf- und Kraftwechsels der
Winter schlafenden Tiere, deren Funktionen besonders von Va-
lentin, Marey u. a. studiert worden waren, Dinge, welche neuer-
lich der französische Zoologe EaphaelDubois (Professor in Lyon )
in einer Monographie über das Murmeltier (Paris 1895) einer vSammel-
bearbeitung unterworfen hat.
Nicht nur wichtige theoretische Aufklärungen über den tierischen
Stolf- und Kraftwechsel, sondern auch bedeutungsvolle Anwen-
dungen auf das praktische Leben haben die Bestrebungen
erreicht, die Stoifwechsel-, speziell Gaswechseluntersuchung mit der
Kalorimetrie oder aber mit der Messung der geleisteten mechanischen
Arbeit zu kombinieren, während die Verbindung dieser beiden letzt-
genannten Messungsarten, welche nach Hirns verunglückten Be-
strebungen (Paris 1858 u. 1873), z. B. mit Stoffwechseluntersuchungen
kombiniert, neuestens Chauveau wieder aufgenommen hat, nicht
mehr zu ergeben scheint, als was wir aus den schon gewürdigten myo-
thermischen Untersuchungen von Heidenhain, Fick und seiner
Schule schon wissen. Das „Respirationskalorimeter" zur Voll-
kommenheit zu bringen, ist neuestens Rosenthal (s. unten) emsig
bemüht, während die Verbindung der Respirations- und der
A r b e i t s m e s s u n g glänzende Resultate ergeben hat in den Händen
von Zuntz und seinen Schülern.
Nathan Zuntz ist geboren am 6. Oktober 1847 in Bonn, promovierte
dort 1868 mit der Dissertation ^.Beiträge zur Physiologie des Blutes", war
dann Assistent Pflügers, Privatdozent, Extraordinarius und Prosektor da-
selbst, ist seit 1881 Prof. der Physiologie und Direktor des tierphysiolog.
Instituts der landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin.
Zuntz hat das Kapitel „Blutgase und respiratorischer Gaswechsel" in Hermanns
Handbuch (s. oben) bearbeitet; wegen sonstiger wichtiger Schriften s. den Text.
Indem Zuntz in dem ihm unterstellten tierphysiologischen
Laboratorium der Berliner landwirtschaftlichen Hochschule muster-
hafte Einrichtungen für Respirations versuche und Arbeitsmessungen
(Tretbahnen u. s. w.) an Tieren, speziell an dem wirtschaftlich und
militärisch so wichtigen Pferde schuf, gelangte er in langjährigen
Arbeiten zusammen mit C. Lehmann und 0. H a g e m a n n zu wich-
tigen Ergebnissen betreffend den Stoffumsatz, welcher einer bestimmten
Arbeitsleistung dieses Tieres unter den verschiedensten Bedingungen
entspricht, Ergebnisse, welche als „Untersuchungen über den Stoff-
wechsel des Pferdes bei der Ruhe und Arbeit" in den landwirtschait-
lichen Jahrbüchern von 1889 — 1898, z. T. auch monographisch er-
schienen sind. Ihnen entsprachen analoge Untersuchungen am Hunde
und an anderen Tieren, insbesondere aber auch am Menschen,
welche weiterhin von Zuntz' Schüler G. Katzenstein ^) fortgesetzt
und nachdem gewisse Konstanten — „kalorischer AVert" des ver-
brauchten Sauerstoffs ; Umsatz für 1 m Geh- oder Steigarbeit u. s. w. —
festgelegt waren, unter den verschiedensten praktisch wichtigen Ver-
suchsbedingungen wiederholt wurden: so entstand in zahlreichen von
') Pflügers Archiv, Bd. 49, S. 330, 1891.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 28
434 Heinrich Boruttau.
Zuntz mit Stabsarzt Schumburg ausgeführten Versuchen die
„Physiologie des Marsches", Berlin 1901, mit einer Anzahl
wichtiger Ergebnisse, so die von N. Zuntz' Sohn Leo Zuntz aus-
geführten „Versuche über den Gas Wechsel des Rad fahr er s*',
(Berlin 1900) und viele andere: natürlich mussten in solchen Ver-
suchen mehr weniger transportableApparate verwendet werden,
welche nur die Analyse der Lungenatmungsluft gestatten, und wie
sie nächst den früher erwähnten Forschern fS. 63) auch schon der
geniale Carl Speck [geb. 1828, Arzt und Physikus in Dillenburg
a Lahn in Hessen-Nassau] in vielen grundlegenden Versuchen ^) an-
gewendet hatte; um diese Technik machte sich auch Zuntz' Mit-
arbeiter Geppert [August Julius, geb. 1856 in Berlin, jetzt
Ordinarius für Pharmakologie in Giessen] verdient.-) Doch auch die
Respirationsapparate zur Bestimmung des Gesamtgas-
wechsels speziell beim Menschen haben vielfache Verbesserung
erfahren, indem z. B. die direkte Bestimmung des verbrauchten Sauer-
stoffs neben der produzierten Kohlensäure nach dem Regnault-
Reisetschen Prinzip ausgeführt wurde bei dem Apparate von
Hoppe-Seyler und Vahlen,'^) ebenso bei der im übrigen nach
dem Ventilationsprinzip getroffenen grossartigen Einrichtung von
Sonden und Tigerstedt.*)
Besondere Aufmerksamkeit hat von jeher die Veränderung
des Atmungsprozesses und der sonstigen wichtigsten
Körperfunktionen durch Aenderungen des Luftdrucks,
resp. des Partiardrucks des atmosphärischen Sauer-
stoffs erweckt, zumal in Anbetracht der praktischen Anwendung
auf das Verhalten bei Bergbesteigungen und Ballonfahrten:
nachdem hier bereits die Arbeiten G. v. Liebigs [Neffe Justus
Liebigs, geb. 1827, Dozent in München, im Sommer Badearzt in
Reichenhall], welcher 1866 in Reichenhall das erste „pneumatische
Kabinett" einrichtete, bahnbrechend gewirkt hatten, war es der
Franzose Paul Bert [geb. 1830 in Auxerre im Departement Yonne,
erst Jurist, dann Mediziner, promovierte 1863 mit der These „De la
greffe animale" — „Rattenschwanzversuch" als angeblicher Beweis
des doppelsinnigen Leitungsvermögens der Nerven — , war Assistent
Cl. Bernards, schrieb als solcher eine Physiologie comparee de la
respiration, wurde 1872 Professor an der Sorbonne, ging 1886 als
Generalresident nach Tonking, wo er an der Dysenterie starb],
welcher ausgedehnte Untersuchungen über den Gaswechsel in ver-
dünnter und verdichteter Luft anstellte, die Wirkung von Sauerstoff
unter hohem Druck untersuchte und deletär für alle lebendige Subsstanz
fand u. a. : diese Arbeiten sind zusammengestellt in dem umfangreichen
Buche „La pression barometrique", Paris 1878. Manches da-
von ist zumal in Anbetracht des unglücklichen Ausganges der be-
kannten Luftfahrt von Sivel und Croce-Spinelli, welche er mit
ungenügenden Sauerstoffbehältern ausgerüstet hatte, neuerdings an-
gefeindet worden, scheint aber z. B. in Hinsicht auf die Theorie der
Dekompressionswirkungen (Caissonkrankheit) nach neueren Arbeiten
^) Untersuchungen über Sauerstoffverbrauch und Kohlensäureausatmung des
Menschen, Cassel 1871.
-) Die Gasanalvse und ihre physiolog. Anwendung, Berlin 1885.
*) Ztschr. f. physiol. Chemie. Bd. 19, S. 574, 590, 1894.
*) Skand. Arch. f. Physiol., Bd. 7, S. 29, 1897.
Geschichte der Physiologie in ihrer Äuwendung auf die Medizin etc. 435
(Mager, Heller und Schrötter) sich dennoch zu bestätigen. Speziell
der Gaswechsel in verdünnter Luft und auf dem Hochgebirge,
die Ursachen der Bergkrankheit u. s. w. sind von der Zuntz-
schen Schule (Fränkel, Zuntz und Ad. Loewy — in Berlin,
geb. 1862 — ) sowie von Angelo Mosso [geb. 31. Mai 1846 in Turin,
Schüler von Mole seh Ott, Schiff und Ludwig, seit 1880 Professor
in Turin; schrieb zahlreiche, z. T. populäre physiologische "Werke in
anregender Form und blumenreicher Sprache; der ..fisiologo poeta"]
ausführlich untersucht worden, wofür zuletzt ein stehendes La-
boratorium auf dem Monte Rosa errichtet worden ist: die in
Loewy s Schrift „Untersuchungen über die Respii-ation und Zirku-
lation bei Aenderungen des Drucks und des Sauerstoffs der Luft",
I Berlin 1895, sowie Mossos Buch „Der Mensch in den Hochalpen",
Deutsch Leipzig 1899, zusammengefassten Ergebnisse lassen erkennen,
I dass für die "Wirkung des Hochgebirgsklimas ausser der Luftver-
I dünnung noch andere wichtige, z. T. noch nicht genügend erkannte
I Faktoren mitwirken. Die Erscheinungsweise und Theorie der Respi-
rationsstörung durch das Kohlenoxyd ist durch höchst interessante
Versuche von Haidane ^) und Dreser, sowie durch A. und U.
Mossos Versuche über das Zustandekommen der Kohlenoxyd Ver-
giftung des Personals der mit schlechten Kohlen gespeisten italienischen
Lokomotiven in den Eisenbahntunnels -) gefordert worden. Eine
grundsätzlich wichtige Frage auf dem in Rede stehenden Gebiete ist
endlich diejenige, ob der Gasaustausch zwischen Lungenluft und -Blut
lediglich durch Diffusion oder ausserdem auch durch eine sekretions-
artige Wirkung der Lungenepithelien zustande kommt:
nachdem die Bemühungen Pflügers [mit Nussbaum, Wolffberg,
Strassburg u.a.; „Lungenkathetery^) „Aerotonometer" zur- genauen
Bestimmung der Blutgasspannungen*)] die Frage im ersteren Sinne
entschieden zu haben schienen, hat Bohr [Christian, geb. 1855,
Schüler von Panum und Ludwig, seit 1886 als Nachfolger
Panums Professor der Physiologie in Kopenhagen] durch viele sinn-
reiche Versuche (verbesserte Absorptiometer u. s. w.) es immer wahr-
scheinlicher gemacht,^) dass auch hier die Epithelzellen sich in
■'Mer spezifischen Weise beteiligen, ähnlich wie sie für die
zernierende Funktion der Drüsen und die Resorp-
iionsthätigkeit des Darmes heutzutage feststeht, dank der an
•Toll. Müllers Drüsenwerk und Bowmans Theorie der Xieren-
>^kretion (s. früher) anschliessenden Pionierarbeit Heidenhains.
Rudolf Heidenhain ist am 29. Januar 1834 in Marienwerder geboren,
.dierte in Königsberg, Halle und Berlin als Schüler von Volkmann und
«iu Bois-Reymond, promovierte 1854 mit der Dissertation „De nervis orga-
nisque centralibus cordis cordiumque ranae lymphaticorum" , habilitierte sich
1857 in Halle mit der Schrift „Disquisitiones criticae et experimentales de
quantitate sanguinis in corpore mammalium exstantis", wurde aber schon
1859 als Ordinarius für Physiologie und Histologie nach Breslau berufen,
*) Joum. of physiol., Bd. 18, S. 201, 1895.
*) -La respirazione nelle gallerie", ecc, Mailand 1900.
^ Pflügers Arch., Bd. 5, S. 465; 6, S. 23; 7, S. 296.
*) Ebenda, Bd. 6, S. 65.
») Skand. Arch. f. Physiol., Bd. 2, S. 236, 1891, auch Comptes Eendus u.
Atehives de physiol. an versch. 0.
28*
436 Heinrich Boruttau,
in welcher Stellung er bis zu seinem am 13. Oktober 1897 ei-folgten
Tode wirkte.
Wichtige Werke: „Studien des physiologischen Instituts in Breslau", 4 Bände,
Leipzig 1861 — 68, darunter die schon erwähnte Schrift: „Mechan. Leistung, Wärme-
entwicklung xmd Stoffumsatz hei der Muskelthätigkeit", 1864; Bearbeitung der
„Physiologie der Absonderungsvorgänge" in Hermanns Handbuch; „Die Vivisektion
im Dienste der Heilkunde", Leipzig 1879, desgleichen auf Veranlassung des Kultus-
ministeriums 1884 {gegen die Vivisektionsgegner) ; ,.Der sog. tierische Magnetismus",
Leipzig 1880. Sehr zahlreiche Abhandlungen in Pflügers Archiv und in La Valettes
Archiv f. mikroskop. Anatomie, von denen z. T. im Texte die Rede ist.
Heidenhains Arbeiten zur Drüsenphysiologie be-
gannen mit der Bestätigung der Thatsachen, dass die Speichel -
Sekretion von dem Blutstrom unabhängig ist, indem sie
durch Atropin gelähmt wird, während der letztere, be-
sonders bei Nervreizung, verstärkt ist,^) sowie der Unterscheidung
zweier Arten von Speichelsekretionsnerven; hierauf folgten Unter-
suchungen über die Magen drüsen, z. T. zusammen mit Ebstein
[Wilhelm, geb. 1836, jetzt Professor der med. Klinik in Göttingen]
und Grützner [Paul (von), geb. 1847 in Festenberg i. Schi, studierte
in Breslau, Würzburg und Berlin, war langjähriger Assistent Heiden-
hains, wurde 1881 Ordinarius der Physiologie in Bern, 1884 des-
gleichen in Tübingen], welche ebenso, wie die histologischen Arbeiten
Eolletts^) zur Unterscheidung zweier verschiedener Zellarten an
den Fundusdrüsenschläuchen führten, von denen möglicherweise die
eine kleinere, das Pepsin, die andere grössere die Salzsäure sezer-
niert.^) Heide nhain gelang dann auch die operative Isolierung
eines Magenstücks zum Fistelsack, wie dies Thiry (s. früher) mit
einem Dünndarmstück gethan hatte *) — neuerdings von V e 1 1 a ver-
besserte Methode: dieses Prinzip zum Studium der Magenfunktionen
ist neuestens besonders von dem Russen P a w 1 o w (I w a n , in Peters-
burg, Direktor des grossartig ausgestatteten Instituts für experimen-
telle Medizin) und seinen Mitarbeitern weiter ausgebildet und es sind
damit wichtige Aufklärungen über die Magenfunktion des Vagus, die
sekretionsanregende Wirkung verschiedener Stolfe (s. schon bei Be-
sprechung der Arbeiten Schiffs) erhalten worden.
Auch die Physiologie der Leber in Bezug auf das mikro-
skopische Aussehen je nach Glykogengehalt, sowie auf Gallenbildung
(gallen treibende und gallenstopfende Mittel) hat Heidenhain, z. T.
zusammen mit Afanasieff "') untersucht, desgleichen die sezernierende
Funktion des Pankreas wie auch der Mundspeicheldrüsen in
Bezug auf die Veränderung der Epithelzellen bei der
Thätigkeit studiert, ^) endlich auch zusammen mit Bartsch falsche
Ansichten über die Funktion der Milchdrüse berichtigt. Am be-
rühmtesten aber ist Heidenhains Bearbeitung der Nieren-
sekretion geworden, indem er auf Grund sinnreicher Versuche mit
Injektion von Indigkarmin und anderen Farbstoffen ins Blut, die be-
reits vor Jahren von Bowman verfochtene Vorstellung experimen-
>) Pflü^ers Archiv, Bd. 5, S. 309, 1875.
*) Med. Centralbl. 1870 u. Unters, aus d. physiol. Inst. Graz, 1871.
») Arch. f. mikroskop. Anat., Bd. 6, S. 371, 521, 1870; Pflügers Archiv, Bd. f^,
S. 1, 1872; Bd. 18, S. 169, 1878; Bd. 19, S. 118; 20, S. 411, 1879.
*) Ber. der Wiener Akademie, Bd. 50, S. 77.
6) Studien des Bresl. physiol. Inst., Heft 2 u. 4; Pflügers Arch., Bd. .^0, 383, 18^3
«) Ebenda, Bd. 10, S. 557, 1875.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 437
teil begründete, dass in den Glomerulis nur Wasser und Salze des
Harns durchgepresst . und erst durch spezifische („elektive")
Thätigkeit der Epithelzellen vorwiegend der gewun-
denen Harnkanälchen die „spezifischen Harnbestand-
teile" sezerniert werden^) — gegenüber Ludwigs rein physi-
kalischer Harnbildungstheorie. In den letzten Lebensjahren bemühte
sich Heiden hain, die AYichtigkeit des cellulären Ge-
schehens auch für die Resorption im Dünndarm -) und für
die Bildung der Lymphe (Art Sekretionsthätigkeit der Capillar-
endothelien) '^) zu erweisen, womit er der üebertreibung resp. falschen
Anwendung des Bestrebens entgegentrat, die Errungen scha ften
der modernen Molekularphysik oder sog. theoretischen oder
physikalischen Chemie in weitem Masse auf die Biologie an-
zuwenden; waren es doch Biologen, welche eben auf diesem an und
für sich „anorganischen" Gebiete sich als Pioniere hervorthaten :
Pasteur (Louis, 1822 — 1895) als Begründer der später von L e B e 1
und van t' Hoff ausgebildeten Stereochemie, sowie de Vries
[geb. 1848, Prof. der Botanik in Amsterdam] und Pfeffer [geb. 1845,
seit 1887 ord. Prof. der Botanik in Leipzig] als Begründer der Lehre
vom osmotischen Druck und der modernen Theorie der
Lösungen [neben Clausius u. a.]. welche dann durch die Ein-
führung der Begriffe der hydrolytischen und elektrolytischen Dis-
sociation auf den jetzigen Stand gebracht wurde, welcher zu vielen
in der That wichtigen Untersuchungen der organischen Flüssigkeiten
auf osmotische Spannung [D res er, Winter, Hamburger,
Koeppe u. a.], elektrische Leitfähigkeit [Sjöqvist, Koran yi und
Vas u. a.] und innere Reibung [.,yiscosität", Fano und Bottazzi,
Hürthle u. a.], sowie eben zu theoretischen Anwendungen auf die
Erscheinungen der Sekretion, Lymphbildung und Resorption, ins-
besondere aber auf die Physiologie des Blutes geführt hat:*) und
wenn es sich hier grossenteils um vielumstrittene Dinge handelt, so
kann doch kein Zweifel walten, dass die grossen praktischen Fort-
schritte, welche die modernen Theorien auf dem Gebiete der reinen
Chemie gebracht haben, ^) damit auch der physiologischen
Chemie sehr wesentlich zu gute gekommen sind.
Von den vielen neuen Einzelarbeiten auf diesem, wie schon er-
örtert, gross und selbständig gewordenen Arbeitsgebiete auch nur die
wichtigsten zu nennen ist in diesem Rahmen unmöglich; wir müssen
uns darauf beschränken die Hauptleistungen nur der her-
vorragendsten hier thätigen Forscher ganz kurz zu
würdigen. Von älteren Schülern des grossen Hoppe-Sej^ler seien
genannt zunächst sein Nachfolger im Berliner pathologischen Institut
Ernst Salkowski (geb. 1844 in Königsberg), welcher sehr früh
Fragen des Eiweissstoffwechsels, speziell die Harnstoff- und Schwefel-
säurebildung bearbeitete, zuerst die Wirkung und das Schicksal des
gewöhnlichen Phenols im Tierkörper untersuchte*) und später die
1) Pflügers Archiv, Bd. 9, S. 26, 1875; Arch. f. mikr. Anat., Bd. 10, S. 4.
«) Pflügers Arch., Bd. 43, Supplement, 1888.
») Ebenda, Bd. 49, S, 209, 1891 ; Bd. 56, S. 632, 1894.
*) Siehe hierüber die Bücher von Hans Koeppe (Giessen), „Die physikal.
Chemie in der Medizin", Wien 1900, von Hamburger (Utrecht), „Osmotischer Druck
und loneulehre in den medizin. Wissenschaften", Würzb. 1902, u. a. m.
■^) Siehe Lothar Meyers ., Moderne Chemie".
«) Pflügers Archiv, Bd. 5, 1871.
438 Heinrich Boruttau.
P r 0 d u k t e d e r E i w e i s s f ä u 1 n i s , die Hefewirkung, neuentdeckte,
insbesondere oxydierende Fermente studierte, die „P e n t o s u r i e" ent-
deckte, zusammen mit Ernst Ludwig (Prof. der medizin. Chemie
in Wien, geb. 1842) eine genaue Harnsäurebestimmungs-
methode ausarbeitete und vieles andere, — sowie der zu früh ver-
storbene Eugen Baumann [geb. 1846 in Cannstatt, 1877 Ab-
teilungsvorsteher am Berliner physiolog. Institut, 1883 Ordinarius für
physiolog. Chemie in Freiburg i. B., starb 1896], welcher das Schick-
sal der aromatischen Verbindungen im Tierkörper, ins-
besondere die Synthese derAetherschwefelsäuren, den A b -
bau des Ty rosin s u. a. ausführlich bearbeitete, z. T. mit Preusse,
Herter und anderen, ein Gebiet, auf welchem ebenfalls der Italiener
Giacosa [Pietro, geb. 1853, Professor der Pharmakologie in TurinJ
und der Eusse Marcel Nencki [1847 geb., Ordinarius der physio-
logischen Chemie in Bern, dann Leiter eines bakteriolog. Instituts in
Petersburg, starb 1901], arbeiteten, welcher letztere, ebenso wie
Ludwig ßrieger [geb. 1849, jetzt Prof. der allgemeinen Therapie in
Berlin] und der Franzose Armand Gautier [Professor der Chemie
in Paris an der medizin. Fakultät] den Produkten der Eiweiss-
fäulnis sein besonderes Interesse zuwandte: Indol, Skatol, die von
Selmi (s. früher) zuerst bearbeiteten Ptomaine und „Toxine'', teils
bakteriellen Ursprungs. Bau mann gleich zu stellen ist und gleich
ihm mitten aus vollem Schaffen durch den Tod gerissen wurde Ed-
mund D rechsei [geb. 1843 in Leipzig, Schüler Kolb es, seit 1872
chemischer Assistent Ludwigs, 1878 Extraordinarius, 1882 als Nach-
folger Nenckis zum Ordinarius für medizin. Chemie nach Bern be-
rufen, starb 1897 in Neapel], welcher die Produkte künstlicher
Ei Weissspaltung genauer untersuchte, darin dem Vorgange von
Hlasiwetz [geb. 1825, Prof. der Chemie in Wien] und Haber-
mann, sowie des verdienten Schützenberger in Paris (1827 — 1899)
folgend. Die Eigenschaften der nativen Eiweisskörper
wurden, wie schon früher von Heynsius [1831 — 1898, Prof. der
Physiol. in Amsterdam und Leiden] so neuerdings besonders in ihren
Beziehungen zu den Salzen untersucht von dem Schweden Olaf
Hammarsten [geb. 1841 in Norrköping, Professor in Upsala], welcher
auch durch Arbeiten über Blutgase und Atmung, Galle, Labgerinnung
u. a. sich hochverdient gemacht und ein treffliches Lehrbuch der
physiologischen Chemie — 4. Aufl. Wiesbaden 1899 — geschrieben
hat, sowie von dem Engländer W. D. Halliburton (in London,
gleichfalls Verfasser eines Lehrbuchs). W^esentliche Verdienste um
die Eiweisschemie haben sich ferner erworben Albrecht Kossei
[geb. 1853 in Rostock, Assistent Hoppe-Seylers in Strassburg,
1883 als Baumanns Nachfolger Abteilungsvorsteher am Berliner
physiolog. Institut, 1895 Ordinarius der Physiologie in Marburg als
Nachfolger von K ü 1 z , s. unten ; 1901 desgl. in Heidelberg als Nach-
folger Kühnes], welcher ausser den Peptonen besonders die Chemie
der Nukleine, speziell der von FriedrichMiescher-Rüsch [1844 —
1895, Professor der Physiologie in Basel] zuerst aus Fischsperma
erhaltenen Nukleinsäure, sowie der Protamine bearbeitet hat, und
Franz Hofmeister [geb. 1850 in Prag, Schüler von Hup per t und
von Schmiedeberg, Pharmakologe in Prag, 1896 als Nachfolger
Hoppe-Seylers Ordinarius für ehem. Physiologie in Strassburg.
giebt jetzt „Beiträge zur ehem. Physiologie und Pathologie" in
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 439
zwanglosen Heften heraus] insbesondere durch Untersuchungen über
dieAuiidosäuren, Eegeneration von Pepton zu E i w e i s s , krystalli-
sierte Albumine u. a. m. Dem von weitem her lockenden Ziele, der
Aufklärung der Konstitution der Eiweisskörper entgegenzuarbeiten
hat endlich neuestens auch einer der grössten lebenden Vertreter der
reinen Chemie unternommen, nämlich Emil Fischer.
Emil Fischer ist geboren am 9. Oktober 1852 zu Euskirchen im Rhein-
land, studierte in Bonn und Strassburg, habilitierte sich 1878 in München
für Chemie, wurde 1879 Extraordinarius, 1882 als Ordinarius für Chemie
nach Erlangen, 1885 desgleichen nach Würzburg, 1892 desgleichen als
Nachfolger A. W. Hofmanns nach Berlin berufen.
Seine Publikationen findeti sich fast ausschliesslich in den „Berichten der
deutschen chemischen Gesellschaft''; ausserdem gab er eine kleine „Anleitung zier
Darstellung organischer Präparate'^, Würzburg 1887, mehrere Beden ti. s. lo. heraus.
Eine nur mit Wöhlers Harnstoffsynthese zu vergleichende
epochemachende Leistung gerade in Rücksicht auf die biologische
Chemie bildet Fischers Synthese der einfachen Zucker-
arten (1887), welche, basierend auf seinen Arbeiten über die Hydra-
zine und einer scharfsinnigen Durchführung der stereochemischen
Betrachtung, bald alle Monosaccharide, ihre Oxydationsprodukte u. s. w.
in ein übersichtliches Sj^stem einzuordnen und nach Belieben noch
unbekannte hierhergehörige Verbindungen (Zuckerarten mit mehr als
6 Kohlenstoffatomen) aufzubauen gestattete.^) Fischer hat sich
weiterhin der Hypothese von v. Baeyer, Loew u. a., wonach die
Pflanze bei der Assimilation erst Formaldehyd und durch
Polymerisation des letzteren Zucker u. s. w. bilden soll, angeschlossen
und die Bedeutung der Stereochemie für die Theorie der
Ferment Wirkungen und des Stoffwechsels, der leben-
digen Substanz diskutiert in seiner bekannten Rede „Die Chemie
der Kohlenhydrate und ihre Bedeutung für die Physiologie", Berlin 1894,
Es kann von demjenigen, was z. B. die landwirtschaftliche Chemie
für die Kenntnis der Kohlenhydrate gethan hat, hier unmöglich aus-
führlicher die Rede sein ; -) dagegen sei hier der Verdienste gedacht,
welche sich Eduard Külz [geb. 1845, seit 1879 Ordinarius der
Physiologie in Marburg, starb am 13. Jan. 1895] um die Physiologie
des Glykogens und die chemische Untersuchung der Pathologie des
Diabetes mellitus erworben hat.^)
Ein weiteres Verdienst Emil Fischers um die biologische
Chemie bildet die definitive Feststellung der Konstitution der Harn-
säure und der sog. Xanthin- oder Alloxurbasen und Zurückführung
ihrer sämtlich auf eine hypothetische grundlegende Atomgruppierung,
das „Purin" („Purinkörper").
Die Ausscheidungswege der stickstoffhaltigen, wie auch
aromatischen Eiweissspaltlinge studierten vermittelst derLud-
w i g 'sehen Durchströmungsmethode Schmiedeberg und G. v, B u ng e
[geb. am 19. Januar 1844 in Dorpat, daselbst Schüler C.Schmidts.
1874 Dr, der Chemie, 1882 Dr, der Medizin in Leipzig, seit 1885
') Berichte det deutschen ehem. Gesellschaft, Bd. 24, S. 526, 3625; 25, S. 1031,
1247; 27, S. 3189.
^) Siehe: Tollens, Die Kohlenhydrate, Handbuch in 2 Bänden, 1895/98.
') Beitr. z. Kenntnis des Glykogens, Marburg 1890; Beitr. zur Pathol. xmd
Therapie des Diabetes mellitus, 2 Bde., Marburg 1874/75, u. vieles andere.
440 Heinrich Boruttau.
Professor der Physiologie in Basel neben RudolfMetzner, gleichfalls
einem Schüler Ludwigs und langjährigen Assistenten v. Kries'],
welcher letztere ausserdem durch wichtige Untersuchungen über die
anorganischen Salze des Organismus, das Eisen des
Blutes und der Milch sich ausgezeichnet, ja auf fast jedem Ge-
biete der chemischen Physiologie Detailarbeiten veröflfentlicht und ein
„Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie" (zuerst
Leipzig 1887) geschrieben hat, welches dank seiner Originalität (von
seinem „neovitalistischen" Standpunkte später) viele Auflagen erlebte,
zuletzt als IL Band eines „Lehrbuchs der Physiologie des Menschen*'
von demselben Autor. Es sei hier endlich noch gedacht der Leistungen
des um die Harnchemie und -Pharmakologie (Jaffe'sche Indikan-
reaktion, Urethan im Harn und vieles andere) hochverdienten
Max Jaffe [geb. 1841 in Grünberg in Schlesien, 1862 in Berlin
promoviert, 1867 in Königsberg habilitiert, daselbst 1872 Extra-
ordinarius für medizinische Chemie, seit 1873 Ordinarius für Pharma-
kologie], von M. Siegfried in Leipzig (Vorsteher der chemischen Ab-
teilung am physiologischen Institut), von H. Thierfelder jun. (jetzt
Abteilungsvorsteher in Berlin), von Roehmann (Franz, geb. 1856,
Extraordinarius in Breslau), Crem er (München), Arthus (Lyon) u.a.
Hier seien noch die Verdienste nachgetragen, welche sich v. Frey
durch seine Untersuchungen über die Verteilung des Fettes im Chylus,
Radziejewski^) durch solche über Seifenresorption,, endlich
Immanuel Munk [Bruder Hermann Munks, s. unten, geb. 1852
in Posen, 1873 in Berlin promoviert, 1883 habilitiert, seit 1895 als
Nachfolger Gads Abteilungsvorsteher am physiologischen Institut,
seit 1899 Extraordinarius, Verfasser eines vielverbreiteten Lehrbuchs
der Physiologie, 5. Aufl. 1899J, ein schon durch viele Arbeiten zur
Ernährungsphysiologie verdienter Forscher,^) sich um die Resorption
der Fette erworben haben; trotzdem scheint, den allerneuesten Pole-
miken nach zu schliessen, dieses schwierige Kapitel immer noch
nichts weniger als geklärt zu sein. An die Namen des schon ge-
würdigten grossen Alexander Schmidt, von Hammarsten
(s. oben), Wooldridge (f), Pekelharing (f), Arthus und Pages
und anderen knüpfen sich moderne wichtige Arbeiten über die
Gerinnung des Blutes und der Milch, welche indessen immer
noch nicht zu einer sicheren Kenntnis des Wesens dieses
Vorganges geführt haben, vielmehr, besonders nach Entdeckung der
merkwürdigen gerinnungs verhindernden Wirkung der in die Gefäss-
bahn gebrachten Peptone (S c h m i d t -Mülheim , Fano, s. später),
Nukleoproteide (Wooldridge) und Schlangengifte (Martin) ihn
äusserst kompliziert erscheinen lassen: dasselbe gilt ja auch für die
neuerdings biologisch, wie medizinisch ein so brennendes Interesse
erweckenden toxischen, antitoxischen, bakteriziden, hämo-
lytischen, agglutinierenden u. s. W.Wirkungen des Blut-
serums, mit welchen sich Paul Ehrlichs (s. oben) undMetsch-
nikoffs Arbeiten beschäftigen; Dinge auf die hier ebensowenig
näher eingegangen werden kann wie auf die zahlreichen Arbeiten zur
Genese (E. Neu mann, P. Flemming u. v. a.) und Morphologie
(P. Ehrlich u. s. w.) der Blutkörperchen — „Häma tologie".
^) Virchows Arch., Bd. 43, 1868; Bd. 56, 1872.
«) Virchows Arch., Bd. 80, 95, 123; du Bois' Arch., 1883, 1890.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 441
Doch muss an dieser Stelle nocli nachträglich der zum Teil schon
älteren Verdienste Rolletts, dessen Arbeiten über die Magensaft-
drüsen schon erwähnt wurden, um die Kenntnis der Blutkörper, des
Blutfarbstoffs u. s. w. (Hämoglobinkrystalle , Lackfarbigmachen des
Blutes durch elektrische Schläge) gedacht werden.
Alexander Rollett ist am 14. Juli 1834 in Baden bei Wien geboren,
promovierte 1858, war Assistent Brückes und wurde 1863 als ordentl.
Professor nach Graz berufen, in welcher Stellung er noch thätig ist.
Fiiblikationen meist in den Zeitschriften und Archiven.
Eollett hat auch den Abschnitt ,.BIut" und „Blutbewegung*- für
Hermanns Handbuch bearbeitet; auf seine Verdienste um die
Sinnesphysiologie werden wir noch zurückkommen.
Nachdem Blut und Ljuiphe als Transportmittel der eingeführten
Nährstoffe wie der Umsatzprodukte der Gewebe längst erkannt waren,
hat neuestens die Anschauung, dass gewisse Organe drüsiger
Natur vorwiegend oder ausschliesslich die Funktion
besitzen, notwendige Stoffe zu erzeugen und in das
Blut zu bringen, oder schädliche Stoffe aus dem Blut
zu entfernen und so die Zusammensetzung des Blutes zu ändern
(.,metakerastische'' Wirkung, G a d) , besonderes Interesse erweckt und
zahlreiche wichtige Arbeiten veranlasst. Waren die blutbildende
Funktion der Lymphdrüsen, der Milz und des Knochenmarks, die
assimilatorische resp. „glykogene" der Leber, der von Schiff angege-
bene Einfluss der Milz auf die Pankreassekretion schon Beispiele der
Art, so war es die Behauptung Brown-Sequards, dass subkutane
Injektion von Hodenextrakt Hebung der geschlechtlichen Potenz und
Steigerung der allgemeinen Leistungsfähigkeit zur Folge habe (1889),
welche, durch angebliche therapeutische Erfolge vou Brown-Se-
quards Mitarbeitern d'Arsonval [geb. 1851, Präparator Gl.
Bernards. jetzt Professor für biologische Physik in Paris, verdient
durch physikaKsche Leistungen — Galvanometer, hochfrequente
Wechselströme u. s. w.] und anderen gestützt, eine kritiklose An-
wendung der, oft nur zu sehr an die mittelalterliche Dreckapotheke
erinnernden „Organotherapie" zeitigte, auf Grund einer Erweite-
rung des Prinzips der „inneren Sekretion", auf deren Ersatz
Brown-Sequard eben seine Hoden extraktwirkung zurückgeführt
hatte: indessen gab dies den Anstoss zu vortrefflichen Arbeiten
über die Blutgefässdrüsen, deren thatsächliche Ergebnisse
eine äusserst wichtige Bereicherung unserer Wissenschaft bilden.
Bereits im Jahre 1884 war Kochers Bericht über die Folgen der
Kropfexstirpation beim Menschen — „Kachexia strumipriva" — und
Schiffs Experimentalarbeit über dieSchilddrüsenexstirpation
bei Tieren erschienen: eine sichere Entscheidung über die chemische
Hauptfunktion der Schilddrüse. — ob eine „innere Sekretion", ob eine
..entgiftende" Wirkung ist bis heute nicht erbracht, trotz Baumanns
Entdeckung des „Jodothyrins"' und der angeblichen Beziehungen
dieses Organs zur Herzinnervation (C y o n) ; noch unsicherer steht
die Beantwortung der Frage nach der Funktion der Hypophysis
cerebri, wogegen die Funktion der Nebennieren, deren Zu-
sammenhang mit dem sympathischen Nervensystem und einer chromo-
genen Funktion (Krukenberg, ..Addison 'sehe Krankheit")
ohnehin ziemlich feststand, eine neue schlagende Beleuchtung erfuhr
442 Heinrich Bor ut tau.
durch die Entdeckungen von A b e 1 o u s und Langlois[Paul, Agreg6
für Physiologie an der Pariser medizin. Fakultät], einerseits, dass
Nebennierenexstirpation bei Kaltblütern leichtere Erschöpfbarkeit
der Muskulatur infolge Ansammlung von Ermüdungsprodukten er-
zeugt,') und diejenige von Oliver und Schäfer [E. A., Professor
am London University College, jetzt Ordinarius der Physiologie in
Edinburgh als Nachfolger von Rutherford) andererseits, dass intra-
venöse Injektion von Extrakten des Nebennierenmarks enorme Vaso-
konstriktion peripherischen Ursprungs, Verstärkung der Herzthätig-
keit, sowie jeder Muskelaktion erzeugt-); letztere Beobachtungen
wurden durch N. Cybulskis [Ordinarius der Physiologie in Krakau,
bekannt durch sein „Photohämotachometer"] Fund^) ergänzt,
dass das Blut der Nebennierenvenen die blutdrucksteigernde Wirkung
der Nebennierenextrakte (chemisch definiert durch Moore, v. Fürth,
Abel u. a.) teilt; somit scheinen in der That die Nebennieren eine
für das gesamte motorische und vasomotorische System tonisch
wirkende innere Sekretion zur Funktion zu haben.
Die Mechanik des Kreislaufs wurde insbesondere durch
Karl Hürthles [geb. 1860, langjähriger Assistent von Vi er or dt.
Henke, Grützner und Heiden hain, seit 1895 des letzteren
Nachfolger als Ordinarius der Physiologie in Breslau] exakte Kritik
des hämodynamischen Istrumentariums und vorzügliche
Verbesserung insbesondere der elastischen Manometer bereichert,
während die Untersuchung des Pulses schon vorher durch
Leonard Landois [geb. 1837 zu Münstei- i. W., 1861 in Greifswald
promoviert, 1863 habilitiert, seit 1872 daselbst Ordinarius für Physio-
logie, t 1902, weltberühmt durch sein, wesentlich kompilatorisches,
in alle Sprachen übersetztes Lehrbuch der Physiologie], später durch
V. Frey und Krehl,*) die Blutdruckmessung am Lebenden durch
V. Basch [Samuel, geb. 1837, Extraordinarius für experimentelle
Pathologie in Wien], Mos so (s. oben) und Gärtner [Gustav,
geb. 1855, in gleicher Stellung wie v. Basch in Wien] wesentliche
Förderung erfahren haben. Die von Kronecker, Mosso u. a. ge-
pflegte Plethysmographie, welche v. Kries zu dem inter-
essanten, auf Ad. Ficks schon erwähnter Ableitung basierenden
Verfahren der Flamm entachographie benutzte, wurde von
englischen Autoren auf die Untersuchung der Volumschwankungen
innerer Organe (Niere, Darm) ausgedehnt, als sog. Onkographie
[C. S. Roy, geb. 1854, seit 1884 Prof. der Pathologie in Cambridge,
starb 1897] und ergab in deren Händen, ebenso wie in denjenigen
von Ch. Fran^ois-Franck [Professor der exp. Pathologie in Paris]
und seinen Schülern Hallion u. a. ausserordentlich wichtige
Aufschlüsse über die Topographie der Ge fässin ner-
vation, — ein Gebiet, welches übrigens in der grossartigen syste-
matischen Bearbeitung der Physiologie des sympathischen Systems
durch L angle y und seine Mitarbeiter (s. später) mit enthalten ist;
auch der Amerikaner Ho well und Hunt Bemühungen müssen hier
erwähnt werden.
*) Archives de Physiologie, (5). 5, p. 720.
2) Journal of physiology, Bd. 16, 1894, Bd. 18, S. 230, 1895.
3) Anz. d. Krak. Akad., Febr.-März 1895.
*) Die Untersuchung des Pulses, Leipzig 1892.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 443
Die Entstehung der automatischen und rhythmischen
Thätigkeit des Herzens, sowie die Leitung der Erregung
innerhalb desselben ist, nachdem für die Rolle des intra- und
extracardialen nervösen Mechanismus insbesondere Kronecker
(s. früher) und neuerdings wieder C y o n [Elias, geb. 1843 in Telsch
im russ. Gouv-ernement Kowno, 1864 in Berlin und 1865 in Peters-
burg, 1868 in Paris promoviert. Schüler und Mitarbeiter von Cl. Bernard
und C.Ludwig, 1872 ordentlicher Professor an der Petersb. militär-
medizinischen Akademie, demissionierte 1877, nachher finanzpolitischer
Agent Russlands in Frankreich, 1894 aus seiner Heimat ausgewiesen,
lebt in Territet am Genfer See] eingetreten sind, neuerdings insbe-
sondere durch Engelmann (siehe früher) auf die Eigenschaften
der Herzmuskelfaser selbst (,.myogene Theorie") zurück-
geführt worden, eine Anschauung, deren Anfänge auf den Engländer
Gaskell [f, in Cambridge] zurückzuführen sind, und welche auch
sonst für die vergleichende Betrachtung der Herz-, Gefäss- und
aUer glatten Muskulatur — Fano [Giulio, Schüler Ludwigs, jetzt
Ordinarius der Phj^siologie in Florenz] und Bottazzi, sog. ..Tonus-
schwankungen" — fruchtbar geworden ist. Höchst erwähnenswert ist
auch das Verfahren, das isolierte Warmblüterherz gleich dem-
jenigen der Kaltblüter durch künstliche Speisung mit Blut
oder anderen Xährflüssigkeiten am Leben und in Thätigkeit
zuerh alten [New eil Martini, TownsendPorter — in Boston
an der Harvard medical School. Langendorff — Oskar, geb. 1853.
von 1875 an Assistent des Königsberger Instituts, seit 1892 Ordinarius
in Rostock — , Locke in London u. a. m.].
Das Interesse an der Innervation der Atmung datiert von
den Zeiten her, wo Flourens (s. früher) das ,. Atemcentrum" der
Medulla oblongata zu isolieren bestrebt war, sowie Magendie,
L 0 n g e t , Traube u. v. a. sich mit der Veränderung des Atem-
rhythmus nach doppelseitiger Vagotomie, sowie auch
Lewinsohn, Burkart u. a. mit der Veränderung desselben
bei elektrischer Reizung des centralen Vagusstumpfes
befassten. Eine, wenigstens scheinbare, Epoche machten auf diesem
Gebiete die Untersuchungen ..üeber die Ätembewegungen und ihre Be-
ziehungen zum Nervus vagus", Berlin 1862. als deren Ergebnis
Isidor Rosenthal [geb. 1836 in Laboschin, Schüler du Bois-
R e y m 0 n d s , 1859 promoviert, 1862 habilitiert. 1867 Extraordinarius
in Berlin, seit 1872 Ordinarius der Physiologie in Erlangen; seine
Verdienste um die Kalorimetrie u. s. w. "wurden bereits erwähnt] die
ausschliesslich inspirationsanregende Wirkung der künstlichen Vagus-
reizung behauptetete: Ewald Hering (s. unten) und Breuer
stellten bald darauf^) die Theorie von der Selbststeuerung
der Atembewegungen durch die Vermittlung der Nn.
Vagi auf, wonach jede Inspiration durch Vagusreflex atemhemmend,
jede Exspiration dagegen atemanregend wirkt; nach den fundamentalen
Untersuchungen von Gad (s. früher),''; Loewy und anderen scheint
sich indessen die regulierende Wirkung der Vagi auf Exspirations-
hemmung durch die Sensibilität der Lungen fiir die Dehnung zu
beschränken, ebenso wie auch die strenge Unterscheidung Rosen-
») Sitzgsher. der Wiener Akad., Bd. 57, S. 672; Bd. 58, S. 909, 1868.
«) du Bois' Archiv, 1880, S. 1.
444 Heinrich Boruttau.
thals zwischen Apnoe, Eupnoe und Dyspnoe nicht mehr aufrecht zu
erhalten ist: es bleibt nur die fötale Apnoe, deren Unterbrechung
nach des berühmten Hermann Schwartz [1821 — 1890, seit 1862
Ordinarius der Geburtshilfe in Göttingen] Untersuchungen zusammen
mit der gesteigerten Erregbarkeit das Atemcentrum die Ursache des
ersten Atemzugs ist. Die zahlreichen neueren Detailarbeiten über
Atemcentrum und Regulierung der Atembewegung ^) dürften durch ver-
gleichend-physiologische Bearbeitung in ihren scheinbar wider-
sprechenden Ergebnissen der Aufklärung näher rücken.
Die sonstigen Erfolge der Lokalisationsbestrebungen
bilden den augenfälligsten Fortschritt der modernen Physio-
logie des Centralnervensystems. Nachdem die Franzosen
Bouillaud und Dax, besonders aber Broca [Paul, 1824 — 1880,
berühmter Anatom, Chirurg und Anthropologe, begründete 1860 die
Societe d'anthropologie, auch Hygieniker und Medizinalstatistiker] die
Läsion der dritten linken Stirnwindung (insula Keilii, operculum) als
regelmässigen Sektionsbefund bei (motorischer) Aphasie kennen gelernt
hatten-) — „Sprachcentrum" — , überraschten Anfang der sieb-
ziger Jahre Gustav Fritsch fs. S. 404) und Eduard Hitzig
[geb. 1838 in Berlin, daselbst 1862 promoviert, 1875 Ordinarius der
Psychiatrie in Zürich, seit 1879 desgl. in Halle] die wissenschaftliche
Welt mit der Entdeckung, dass durch lokalisierte Reizung
gewisser Stellen des Parietallappens der Grosshirn-
rinde sich lokalisierte klonische Bewegungen be-
stimmter Muskelgruppen (gekreuzte vordere, hintere Extremität^
Nacken u. s. w.) auslösen lassen. Viel weiter ging Hermann
Munk [geb. 3. Febr. 1839 in Posen, 1859 in Berlin promoviert, seit
1876 Prof. der Physiologie an der tierärztl. Hochschule daselbst, seit
1869 Extraordinarius, seit 1897 ord. Honorarius an der dortigen
Universität], ein bedeutender Schüler Joh. Müllers und du Bois-
Reymonds, welcher bereits die Elekropliysiologie durch seine be-
kannten „Abhandlungen zur allgemeinen Nervenphysiologie" in
Müllers Archiv, seine „Untersuchungen über das Wesen der Nerven-
erregung", Leipzig 1868, und seine „Elektrischen und Bewegungs-
erscheinungen am Blatte der Dionaea muscipula" bereichert hatte. In-
dem dieser Forscher systematische lokalisierte Rinden-
exstirpationen bei Tieren vornahm und deren Verhalten be-
obachtete, auch klinisches und pathologisches Material geschickt ver-
wendete, gelangte er in seinen „Gesammelten Mitteilungen über
die Funktionen der Grosshirnrinde", Berlin 1881, 2. Aufl.
1890, zu dem Ergebnisse, dass entsprechend den „motorischen
Rindenfeldern" von Fritsch und Hitzig „sensorische
Rindenfelder" zu konstatieren seinen für den Gesichtssinn im Hinter-
hauptslappen, für den Gehörssinn im Schläfenlappen u. a. m., nach
deren Exstirpation die Tiere „seelenblind" (bei nur einseitiger Ex-
stirpation und partieller Sehnervenkreuzung — eine lange Zeit aufs
lebhafteste diskutierte Frage — „hemianopisch"), resp. „seelentaub"
werden sollten. Diese falscheLokalisation des psychischen
Vorganges selbst beim Bewusstwerden der Sinnesempfindungen,
^) Siehe des Verfassers Referat in A s h e r und S p i r o s Ergebnissen der Physio-
logie, Bd. 1, 2. Hälfte, 1903.
*) Bulletin de la Soc. anatomique de Paris, 1861 — 63.
Greschichte der Physiologie iu ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 445
resp. bei der willkürlichen Innervation fand vielfachen Anklang, —
man sprach geradezu von ..psychomotorischen" und ..psychosensorischen"
Einden-..Centren". — zumal da sie mit der von dem grossen Wiener
Psychiater Theodor Meynert [1833— 1892J schon seit 1865 ge-
machten Unterscheidung der Fasersysteme in Projektions- und
Associationsfasern in bestem Einklang zu stehen schien. Gegen
diese Uebertreibungen wendete sich energisch Friedrich
Leopold Goltz [1834—1902, studierte und war Prosektor in Königs-
berg, seit 1870 in Halle, seit 1872 in Strassburg Ordinarius für
Physiologie], welcher bereits durch wichtige Arbeiten über die
Eeflexfunktion des Froschrückenmarks („Beiträge zur Lehre
von den Funktionen der Xervencentren des Frosches, Berlin 1869, darin
der berühmte ,.Klopf- oder Quarrversuch"') sich ausgezeichnet hatte
und mit Eecht auf die Bedeutung der Hemmungserscheinungen (s.
unten) ein Hauptgewicht legte. In zahlreichen Terölfentlichungen in
P f 1 ü g e r s Archiv (auch gesammelt als ,. A b h a n d 1 u n g e n über die
Yerichtungen des Grosshirns", Bonn 1881) erklärte sich Goltz
gegen jede Lokalisation der mit psychischen Erscheinungen verknüpften
Funktion der Grosshirnrinde, ging freilich in der Unterschätzung der
letzteren bei der Beurteilung seiner berühmten Experimente mit dem
„Hunde ohne Grosshirn" ^) seinerseits wieder zu weit. Immerhin bleiben
seine Versuche, welche die weitgehende Unabhängigkeit der
visceralen und speziell genitalen Funktionen vom Ge-
hirn nachweisen, sowie die neuesten, die bedeutende Selbständigkeit
der sympathischen Yisceralinnervation treffend illustrierenden Rücken -
marksexstirpationen. welche Goltz zusammen mit Jul.
Eichard Ewald [geb. 1855 in Berlin, seit 1880 Goltz' Assistent.
1886 Extraordinarius, jetzt Ordinarius als Goltz' Nachfolger] an-
stellte, ■-) entschieden epochemachend. Ausser Goltz' Versuchen, welche
das vielfache ..vikariierende Eintreten" von Eindehteilen für ein-
ander zeigten und analogen klinischen Beobachtungen, waren es auch die
Eeizschwellen- und Latenzzeitversuche von Hermann, Fran^ois-
Franck und Pitres u. a., welche die Berechtigung der
Eindenlokalisation bald darauf beschränkten, dass die
betreffenden Eindenfelder die Hauptein- und Austritts-
orte der betr. „Projektionsfasersysteme" oder richtiger
centrifugaler und centripetaler Leitungsbahnen sind und dement-
sprechend die Läsionsfolgen wesentlich Leitungsstörungen sind, welche
durch vikariierende „Bahnung" anderer Leitungen eventuell
ausgeglichen werden können. Den wichtigen Begriff der ,.Balmung"
in die Physiologie des Centralnervensystems eingeführt zu haben, ist
wesentlich das Verdienst S i g m. E x n e r s [geb. 1846 in "Wien, Schüler
von Brücke und Helm hol tz, Brückes Assistent seit 1871, Extra-
ordinarius in Wien seit 1875, seit 1891 Ordinarius als Nachfolger
Brückes], welcher 1881 eine Arbeit über „Die Lokalisation der
Funktionen in Grosshirnrinde des Menschen" herausgab, auch dieses
Gebiet in Hermanns Handbuch bearbeitete. Von ebenso grosser
Bedeutung wurde die Ausdehnung des Begriffes der cen-
tralen Hemmung, welcher für die Abschwächung oder Unter-
drückung von Eückenmarksreflexen bereits länger bekannt war —
') Pflügers Arch., Bd. 51, S. 570, 1892.
«) Pflügers Arch., Bd. 63, S. 362, 1896.
446 Heinrich Boruttau.
Versuche von Goltz und Setschenow [Professor der Physiologie in
Moskau, jetzt emeritiert], siehe dessen „Physiologische Studien über
den Hemmungsmechanismus", Berlin 1863 -^ auf die Vorgänge im
Gehirn durch die Ergebnisse der berühmten A r bei t von
Bubnoff und Heidenhain ^) „lieber Erregungs- und Hemmungs-
vorgänge innerhalb der motorischen Hirncentren", die freilich von
Munk ebensowenig anerkannt wurden, wie die Polemik zwischen
diesem Forscher und Goltz über die Rindenlokalisation zum Nach-
geben einer von beiden streitenden Parteien geführt hat/'^) Immer-
hin behält aucli in dem beschränkteren anatomisch-physiologischen
Umfange die Rindenlokalisation ihre Bedeutung, zumal nach
ihrer bedeutenden Verfeinerung und detaillierten Aus-
arbeitung besonders durch englische Forscher — VictorHorsley
[berühmter Chirurg in London] zusammen mitBeevor, Gotch u.a.,
David Ferrier [Psychiater und Hospitalarzt in London, F. R. S.
u. s. w.j zusammen mit Turner u. a., siehe seine „Functions of the
brain" 1876 und seine Gulstonian (1878) und Croonian (1890) Lectures
über cerebrale Lokalisation — , auch durch den Russen Bechterew
[geb. 1857, Schüler Flechsigs und Charcots, seit 1893 Professor
der Psj^chiatrie in Petersburg]: Fortschritte, welche zu einer
wichtigen praktischen Anwendung in Gestalt der
modernen Hirnchirurgie [E. v. Bergmann, „Die chirurgische
Behandlung bei Hirnkrankheiten", 3; Aufl. Berlin 1899] führten.
Für die Förderung der Erkenntnis des Faser Verlaufs im
Cent ra Ine rvensystem wurde grundlegend Karl Weigert s
[geb. 1845, seit 1884 pathologischer Anatom am Senckenbergianum in
Frankfurt a. M.] Markscheidenfärbung [1882—1885], welche
angewendet wurde in zwei, das einfache Studium der Reiz- und Aus-
fallserscheinungen höchst erfolgreich ergänzenden Methoden, nämlich
der Degenerationsmethode [Gudden, geb. 1824, seit 1872
Ordinarius der Psychiatrie in München, ertrank 1886 mit dem geistes-
kranken König Ludwig IL zusammen], welche wesentlich auf Budge
und Wallers grundlegenden Leistungen (s. früher) beruht, aber in-
zwischen zu ganz neuen Wahrheiten — „rückläufige Degeneration"
U.S. w^ — geführt hat; — und der embryologischen Methode,
welche die Schöpfung Paul Flechsigs [geb. 1847, seit 1884 Ordi-
narius der Psychiatrie in Leipzig] ist: „Die Leitungsbahnen im Ge-
hirn und Rückenmark des Menschen auf Grund entwicklungsgeschicht-
licher Untersuchungen dargestellt", Leipzig 1876, — welche übrigens
auch mit der Degenerationsmethode kombiniert weitere
wichtige Ergebnisse geliefert hat. Für die Untersuchungen der Be-
ziehungen der Elemente des gesamten Nervensystems zu einander
wurde hinwiederum die Färbungs- oder richtiger Metallimpräg-
nationsmethode epochemachend, welche der Italiener Camillo
Golgi [geb. 1844, seit 1876 ord. Professor der Histologie, seit 1881
der allg. Pathologie in Pavia] in seinen preisgekrönten „Studii sulla
fina anatomia degli organi centrali", 1883, einführte. ^) Die durch sie
herbeigeführten Fortschritte in der Kenntnis des Faserverlaufs im
1) Pflügers Arch., Bd. 26, S. 137.
^) S. M u n k s spätere Arbeiten in du Bois-Engelmanns Archiv und den Sitzgsher.
der Berl. Akademie, seit 1892.
*) Landois schreibt sich die Priorität dieser Methode zu.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung anf die Medizin etc. 447
Rückenmark und Gehirn, zu welchen besonders die „Collateralen-
bildung" der sensibeln Spinalfasern [S. Ramon y Cajal, geb.
1852, Prof. der Anatomie in Madrid] gehört, sind zusammenfassend
dargestellt worden in einer Vortragsserie von W. Wald eye r^) sowie
ausführlich in Kolli kers neuester Auflage seiner Gewebelehre: sie
basieren auf der Anschauung, wonach das ganze Central ner ven-
system aufgebaut ist aus morphologisch, genetisch und
funktionell einheitlichen Elementargebilden, den Neu-
ronen (Neurodendren), deren jedes aus der Ganglienzelle mit ihren
Fortsätzen bestellt, deren einer, der von früher her so genannte
Achsencylinderfortsatz oder „Neurif, sich in ein „Endbäumchen"' auf-
teilt, welches, soweit ihm nicht eine besondere morphologische oder
funktionelle Differenzierung an der Pheripherie (z. B. motorische „End-
geweihe") zukommt, in den Centralorganen zu den „Dendriten" [fr.
sogen. Protoplasmafortsätze] eines anderen Neurons in funktionelle
Beziehungen tritt, deren Grundlage aber nicht die Kontinuität,
im Sinne etwa des Ger lach sehen Fasersystems, sondern die blosse
Kontiguität sein sollte. In den letzten Jahren des scheidenden
Jahrhunderts indessen haben Forschungenjünger er Kräfte [des
Ungarn St. Apäthy in Klausenburg, Alb recht Bethes in Strass-
burg] in Bestätigung und Erweiterung früherer Beobachtungen über
die fibrilläre Struktur des Achsencylinders [M. Schnitze,
V. Kupffer] die Existenz eines kontinuierlichen Fibrillen-
systems im ganzen Nervensystem wahrscheinlich ge-
macht, ausserdem manche Thatsachen beigebracht, welche die Be-
deutung der Neuronen als, wenn auch nicht genetische und nutritive,
so doch als morphologische und funktionelle Einheiten sehr in Frage
stellen. Es handelt sich aber bei allem, was das Wesen der
Funktionen der Centralorgane betrifft, offenbar noch um
erste Anfänge: hierher gehören die Untersuchungen Mossos
über deren Stoffwechsel [Die Temperatur des Gehirns, deutsch
Leipzig 1894], die Beobachtungen von Beck und anderen über
elektromotorische Erscheinungen an denselben , die Erfah-
rungen über den Rhythmus der centralen Innervation [Oscil-
lationsfrequenz des willkürlichen und Strychnintetanus u. a. m.], end-
lich die histologischen Untersuchungen an ermüdeten und
narkotisierten Ganglienzellen [Altersveränderungen, Mann und Hodge,
Varikositäten der Fortsätze, angebliche „Plastizität", d. h. Kontrak-
tilität der Neuronen, van der Stricht, Demoor- Brüssel; Ver-
änderungen der N i s s 1 sehen Granulationen u. a. m.] ; indessen scheinen
die mit dem neuen Jahrhundert begonnenen Weiterarbeiten auf diesem
Gebiete, auf w^elche hier nicht mehr einzugehen ist, zu grossen Hoff-
nungen zu berechtigen.
Bedeutende Erweiterung erfuhren unsere Kenntnisse vom
sympathischen Nervensystem, sowohl durch histologische
[neuere Arbeiten v. Köllikers -)], als auch durch experimentell-
physiologische Arbeiten; in letzterer Beziehung besonders
haben jüngere englische Forscher, vorab J. N. Langley in
Cambridge und seine Mitarbeiter, Dickinson, Anderson und be-
sonders C. S, Sherrington in Liverpool, — letzterer auch durch
') Deutsche medizin. Wochenschrift, 1891, Nr. 44 ff.
*) Med.-physikal. Ges., Würzhurg 1894; Neueste Aufl. seiner Gewebelehre.
448 Heinrich Boruttau.
vielfältige andere Arbeiten zur Nervenpliysiologie (z. T. zusammen
mit dem jüngeren Hering in Prag) verdient — , geradezu Be-
wunderungswürdiges geleistet.
Nicht minder rastlos als in der Physiologie der Centralorgane ist
in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts in der
Sinnesphysiologie gearbeitet worden : die Hautsinneslehre erfuhr
eine wichtige Neuerung durch die Entdeckung der getrennten „Sinnes-
punkte": Druck, Wärme-, Kälte- und Schmerzpunkte seitens Blix und
Goldscheide r [Alfred, geb. 1858, Zögling der Berliner Kaiser-
Wilhelms Akademie und Militärarzt daselbst, seit 1894 dirig. Arzt am
Krankenhaus Moabit, seit 1898 Extraord. an der Universität] und
weitere Bearbeitung derselben durch v. Frey u. a. Wenn ferner schon
1860 Brondgeest in seiner Utrechter Dissertation die reflek-
torische Natur des Muskeltonus erkannt, Isidor Cohnstein
,.^,..,1863 die Beteiligung der Hautsensibilität daran nachgewiesen, so war
i*^if"it>6s das Verdienst des Russen T seh iriew (sonst durch minderwertige
'. elektrophysiologische Arbeiten weniger vorteilhaft bekannt), besonders
aber Gold seh eiders, die Hauptrolle der Sensibilität der Muskeln
selbst — sog. „Muskel sinn" — , der Sehnen und Gelenke bei der
Regulierung des Muskeltonus je nach Lagerung und Spannung der
Körperteile klar gemacht zu haben. Die Versuche Cyons und anderer
Forscher über die Wirkungen der Durchschneidung der hinteren Rücken-
markswurzeln einerseits und die Erkenntnis, dass bei allen patho-
logischen „Ataxie"-Erscheinungen Sensibilitäts- resp. sensible Leitungs-
störungen zu Grunde liegen, speziell die Sklerose der Rückenmarks-
hinterstränge bei der Tabes dorsalis (Leyden u. a.), andererseits,
viele Erfahrungen von Schiff und anderen Nervenphysiologen u. s. w.
Hessen die Bedeutung der Sensibilität und ihrer Lokali-
sierung für die Koordination der willkürlichen Be-
wegungen immer deutlicher hervortreten; dass für sie, resp. den mit
ihr korrespondierenden psychologischen Begriff der „Orientierung" die
optische Lokalisation gleichfalls von Wichtigkeit ist, leuchtet ohne
weiteres ein; indessen lenkten die schon früher erwähnten alten Be-
obachtungen Flourens' über das Verhalten von Tauben nach LabjTinth-
exstirpation und gewisse neuere über das Fehlen von Drehschwindel bei
Taubstummen u. s. w, das Interesse auf einen wahrscheinlichen Zu-
sammenhang des Ohrlabyrinths mit der Koordination: als
erster erklärte Goltz 1870^) die Bogengänge als besonderes „stati-
sches" Sinnesorgan zur Wahrnehmung der Körperstellung, entsprechend
ihrer Orientierung nach drei zu einander senkrecht stehenden Ebenen ;
Cyon (1878) wollte sie direkt zur Grundlage unserer Raumvorstellung
machen, während Mach (s. später) und Breuer (in Wien) 1873/75
ihnen die Wahrnehmung der Bewegungs r i c h t u n g des Körpers zu-
schreiben; neuerdings in Fluss kam die Frage durch die verfeinerten
Labyrinthexstirpationen Rieh. Ewalds, welcher in seinem 1892 er-
schienenen Buche „Ueber das Endorgan des Nervus octavus" geradezu
das ganze Labyrinth für die Regulierung der Muskelspannung in An-
spruch nahm („Tonuslabyrinth") und die Hörfunktion dem Nerven-
stamm selbst zuweisen wollte. Heftige Polemiken zwischen den oben
erwähnten und den weiterhin noch in die Diskussion eingetretenen
Autoren (Bernstein, Strehl, Kreidl u. s. w.) haben natürlich
») Pflügers Arch., Bd. 3, S. 172.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 449
nicht Nachgeben eines derselben bewii'kt, indessen die Situation so-
weit geklärt, dass der Vestibularapparat (im Gegensatz zur Schnecke)
wohl als bewegungsrichtungempfindendes Organ gelten kann, welches
die anderen Sinnesorgane bei dem einen Tier mehr, bei dem anderen, so
beim Menschen weniger unterstützt in ihrer Bedeutung für die Orien-
tierung und Koordination der Bewegungen. Immer deutlicher trat
auch die Bedeutung des Kleinhirns als Centralorgan
dieser koordinatorischen Funktionen hervor; den schon er-
wähnten älteren Beobachtungen von Longet, Lussana [Filippo,
1820—1898, s. früher] und Morgan ti u. s. w. treten insbesondere
die neueren Arbeiten von Schiff, Luciani [Luigi, geb. 1842 in
Ascoli-Piceno, ord. Professor der Physiologie 1880 in Siena, 1882 in
Florenz, seit 1894 in Rom; Schüler L u d w i g s , bekannt besonders
durch die Luciani sehe „Treppe" des Froschherzens — 1873, und
seine Untersuchungen über das Hungern], Ferrier u. a.: neuestes
vortreffliches Werk von dem Franzosen Thomas ,.Le cervelet",
Paris 1897.
Die Geschmacksphysiologie ist durch einige Versuche zur
Erklärung des ..elektrischen Geschmacks" (s. früher), sowie zur Be-
stimmung der den Geschmacksqualitäten zu Grunde liegenden chemi-
schen Konstitutionen nur wenig, die Geruchsphysiologie durch
die vortrefflichen Arbeiten (Olfaktometrie u. s. w.), welche Zwaarde-
maker [P., in Utrecht, jetzt Ordinarius für Physiologie als Nach-
folger Engelmanns] in seiner ,.Physiologie des Geruchs", Leipzig
1895. wiedergegeben hat, recht bedeutend gefördert worden.
In der physiologischen Akustik bleibt die Erklärung
der Klang analyse durch das menschliche Ohr nach wie vor die
Hauptfrage; eine geistreiche Hypothese, die „Schallbildtheorie-,
welche den Schwierigkeiten, die bei der Erklärung der Kombinations-
töne der Helmholtzschen Resonatorentheorie erwachsen, nicht unter-
worfen sein soll, hat Richard Ewald aufgestellt^) und es haben
auch die experimentellen Psychologen (s. unten), insbesondere Schüler
Stumpfs sich mit Hörtheorien u. s. w. versucht, auf welche
näher einzugehen hier keine Veranlassung vorliegt.
Die grösste neuere Leistung in der Physiologie derStimme
und Sprache stellen Hermanns „phonophotographische
Untersuchungen"-) dar, welche das Ueberwiegen des absoluten
Moments im Vokalklang (..Formanten" theorie) bestätigten und
von Hermann neuestens auch auf die Konsonanten ausgedehnt
worden sind : doch schwebt auch auf diesem Gebiete noch eine Kontro-
verse, in welcher der um die physiologische Akustik bereits in früheren
Jahren sehr verdiente Hensen, sowie L. Pipping Hermanns
Gegner sind.
Viktor Hensen, geb. in Schleswig am 10. Februar 1835, 1851 promo-
viert, ist seit 1868 Ordinarius der Physiologie in Kiel.
Er bearbeitete die Physiologie des Gehörs und die Physiologie der Zeugung in
Hermanns Handbuch, hat sich an der Entdeckung des Glykogens beteiligt, grosse
Verdienste um die Histologie der Sinnesorgane und um die Embryologie erworben,
besonders aber durch die Direktion der Planktonexpedition der Humboldtstiftung u. a.
die Tiefseeforschung mächtig gefördert.
') Eine neue Hörtheorie, Pflügers Arch., Bd. 76, S. 147, 1899.
») Pflügers Archiv, Bd. 45—49, 53, 56, 58, 1889—1894.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 29
450 Heinrich Bbrtittaü. ■
Auf dem Gebiete der Physiologie des Gesichtssinnes ist
die Zahl der Forscher und der Ergebnisse in der in Rede stehenden
neuesten Periode so gross, dass eine selbst knappe historische Dar-
stellung kaum in einem starken Bande Platz finden könnte ; vieles ist
in der epochemachenden 2. Auflage von Helmholtz' physio-
logischer Optik (Leipz. und Hamburg 1896) gewürdigt; hier kann
kaum einiges vom wichtigsten angedeutet werden. Auf dem Gebiete der
Dioptrik des Auges haben neuerdings mehrere Forscher, so Tscher-
ning und Schön, die Helmholtzsche Accomodationslehre zu be-
kämpfen versucht, ohne dass indessen die von ihnen an deren Stelle
gesetzten Theorien die Vergleichsprobe ausgehalten hätten. Aeusserst
wertvolle, wegen ihres Umfanges, ihrer Vollständigkeit und Sorgfalt
gleich bemerkensw^erte Arbeiten zur vergleichenden Physio-
logie der Accomodation bei allen Tieren mit einfachen diop-
trischen Augen hat Th. Beer (Privatdozent in Wien) geliefert.^)
Die Methodik der Refraktion s- und Sehschärfebestimmung ist meist
durch Augenärzte bearbeitet und verbessert worden.
Für die Erkenntnis der materiellen Vorgänge bei der
Netzhauterregung sind hier zu erwähnen die Entdeckung des
sogenannten Sehpurpurs-) durch du Bois-Reymonds begabten,
frühverstorbenen Schüler Chr. Boll (1849 — 1879, zuletzt Professor
in Rom), die weiteren Untersuchungen über das Ausbleichen dieses
von ihm als Rhodopsin bezeichneten Stoffes und sonstige Netzhaut-
pigmente durch Kühne, ^) die Untersuchungen von Boll, von
Engelmann und van Genderen-Stoort, sowie von Heger
(Professor am Solvay-Institut in Brüssel) und Pergens über Be-
wegungserscheinungen an den Netz- und Aderhaut-
elementen bei der Belichtung, endlich die Netzhaut-Aktionsströme
oder sogenannten photoelektrischen Schwankungen bei Be-
lichtung, welche von Ho Imgren (s. unten) entdeckt, von Kühne
und Steiner*) [J., Verfasser eines bekannten Grundrisses der Phy-
siologie, jetzt Kliniker in Köln] sowie neuerdings durch Sigmund
Fuchs in Wien bearbeitet worden sind. Leider haben alle diese
merkwürdigen Beobachtungen kaum etwas zur Aufklärung des Wesens
der Erregungsvorgänge in der Netzhaut, am wenigsten aber ihrer
verschiedenen spezifischen Energien je nach der Art des Reizes, d. h.
nach der verschiedenen Wellenlänge des Lichts, beigetragen. Hier,
also rücksichtlich der Theorie der Farben empfindungen er-
wuchs der Young-Helmholtzschen Theorie bereits in der klassi-
schen Periode eine Rivalin in der von Ewald Hering aufgestellten
Kontrasttheorie.
Ewald Hering, geb. 1834 in Alt-Gersdorf in Sachsen, habilitierte sich
1862 in Leipzig für Physiologie, wurde 1865 als Nachfolger Ludwigs ans
Josephinum nach Wien berufen, 1870 als Purkinjes Nachfolger und Ordi-
narius für Physiologie nach Prag, 1895 wieder als Nachfolger des inzwischen
verstorbenen Ludwig nach Leipzig.
Selbständig erschienen seine Beiträge zur Physiologie {5 Hefte), Leipz. 1861 — 6i;
seine „Lehre vom binokularen Sehen", ebenda 1868; — „lieber das Gedächtnis als
1) Pflügers Arch., Bd. 53, 58, 67, 69, 73, 1892—99.
2) Monatsber. der Berl. Akad., 1876 u. 77.
In den Untersuchungen aus dem Heidelb. physiolog. Institut.
Ebenda.
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 451
eine allgemeine Funktion der organisierten Materie^, Wien 1876, neuere Reden und
Gelegenheitsschriften u. s. ic. Hering bearbeitete den „Temperatursinn'^ , sowie
..Raumsinn und Atigenbeivegungen" für Hermanns Handbuch.
Hering nimmt nur zwei Arten von farbenempfindenden Netz-
hautelementen an, deren jede durch eine bestimmte Lichtart, — rot
resp. blau — dissimilatorisch und durch die andere — grün resp.
gelb assimilatorisch erregt werden soll: daher die Kontrasterschei-
nuDgen zwischen den sogenannten ..Komplementärfarben". Ausser-
dem giebt es noch nur intensitäts-, nicht qualitätsunterscheidende
Elemente, deren dissimilatorische Erregung die Helligkeits-, deren
assimilatorische die Dunkelheitsempfindung bestimmt: rot-grün-,
blau -gelb-, seh warz-weissemp find ende Elemente. Die
Notwendigkeit der selbständigen Existenz der letztgenannten Kategorie
ging hervor aus den Untersuchungen über die Erregbarkeit
der Netzhautperipherie (in Verbindung mit solchen über die
Grösse des Gesichtsfeldes = Perimetrie im weiteren Sinne; Perimeter
von Aubert und Förster u. a.) und die sogenannte Dunkel-
adaptation, ein Gebiet, auf welchem schon früher sich insbesondere
Hermann Aubert [geb. 1826 in Frankfurt a. 0., seit 1865 bis zu
seinem 1892 erfolgten Tode ordentlicher Professor der Physiologie in
Eostock; schrieb eine ..Physiologie der Netzhaut", und ..Grundzüge
der physiologischen Optik", bearbeitete ferner die ..Innervation der
Kreislaufsorgane'' für Hermanns Handbuch] verdient gemacht hatte,
und welches jetzt besonders von J. v. Kries und seinen Schülern,
so Wilibald Nagel [jetzt Abteilungsvorsteher in Berlin, auch ver-
gleichender Physiologe] kultiviert wird. Einen Prüfstein für die
Richtigkeit einer der beiden Theorien scheint das Gebiet der
Farbenblindheit — partielle und totale, — natürliche und (durch
Ermüdung erzeugte, Burch u. a.) künstliche — zu sein, welches s. Zt.
durch Fritjof Holmgren [1831 — 1897, Schüler von Brücke,
Ludwig, du ßois-Reymond und Helmholtz, seit 1864 Pro-
fessor in Upsala, Begründer des „Skandinavischen Archivs für Phy-
siologie", — bis jetzt 13 Bände in deutscher Sprache erschienen]
genauer untersucht und besonders, zur Verhütung von Eisenbahn-
und Schiffsunfällen durch Untersuchung der Beamten, welche mit
optischen Signalen zu thun haben, praktisch gewürdigt worden ist,
neuerlich theoretisch besonders durch v. Kries, Arthur König
[f in Berlin als Vorsteher der physikalischen Abteilung des physio-
logischen Instituts] mit Abelsdorf f u. a., Hering, H e s s (Ophthal-
molog, jetzt in Würzburg) gepflegt wurde; eine sichere Entscheidung
erscheint allerdings auch heute noch nicht erbracht. Auch das Ge-
biet der Augenbewegungen und des Horopters sind durch die
Heringsche Schule, die Pathologie des Schielens durch Ophthal-
mologen (Bielschowsky u. a.) bedeutend gefördert worden.
Besonders wichtig ist auch Herings Standpunkt im subjektiven
Teil der Lehre vom Gesichtssinn, indem er gegenüber Helmholtz
und der empiristischen Schule das nativistische Prinzip
verfolgte, womit er auch die jetzt herrschende Richtung der soge-
nannten physiologischen Psychologie mit angeben half.
Seit den Tagen Lotzes, welcher, obwohl noch durchaus Meta-
physiken stets die experimentell-kritische Richtung vor der Spekulation
bevorzugt hatte, und Fechners. welcher mit seinem Bestreben, über-
all zu messen und zn rechnen, den Begriff der „Psychophysik"'
29«
452 Heinrich Boruttau.
(sein „psycliophysisches Gesetz") schuf, hatte sich die physiologische
resp. „experimentelle" Psychologie allmählich Ansehen und Selb-
ständigkeit verschafft, einerseits dank dem Umstände, dass wie schon
ihre ebenerwähnten Begründer, so weiterhin ihre Hauptstützen,
wie vor allem Wundt [Wilhelm, geb. 1832 in Neckarau, 1857 für
Physiologie in Heidelberg habilitiert, 1864 Extraordinarius daselbst,
1874 als Ordinarius der Philosophie nach Zürich, 1875 desgleichen
nach Leipzig berufen, wo er noch jetzt wirkt; er verfasste ein Lehr-
buch der Phj^siolügie, 1878 in 4. Aufl. erschienen, „Grundzüge der
physiologischen Psychologie", zuerst Leipz. 1874 erschienen, oft auf-
gelegt, einige physiologische und viele philosophische kleinere Schriften]
und Hering voll ausgebildete Mediziner undPhysiologen
waren, entsprechend Joh. Müllers Postulat: Nemo psychologus,
niti physiologus. Es wurden besondere experimentell-psycho-
logische Laboratorien (so in Leipzig, Berlin, Göttingen) ein-
gerichtet, aus welchen, der Natur der Sache entsprechend, meist ent-
weder Arbeiten zur Physiologie des Centralnerven-
systems — zeitmessende Versuche, Veränderung der Reaktionszeit
durch „psychische" Faktoren; Ermüdungsversuche, speziell mit
dem von Mosso erfundenen, Muskel- und Nervenermüdung konfun-
dierenden sogenannten „Ergographen" (s. „Die Ermüdung", deutsch
Leipzig 1892), — oder aber solche zur Sinnesphysiologie hervor-
gingen: Publikationsstelle solcher Arbeiten wurde die seit 1891 von
Arthur König in Berlin und Herrn. Ebbinghaus herausgegebene
„Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane", in
welcher besonders v. Kries in Freiburg, sowie Georg Elias
Müller in Göttingen (Nichtarzt, doch Leipziger Dr. med. hon. c,
schrieb auch den 1. Band einer „Theorie der Muskelkontraktion" —
pyroelektrisch) und deren Schüler viele vortreffliche Beiträge ver-
öffentlicht haben. Mehr von den Fachphysiologen, sowie den Neuro-
pathologen und Psychiatern bevorzugt wurde das neuerstandene Ge-
biet des „Hypnotismus" und der „Suggestion", dessen Thatsachen-
kreis insbesondere Heidenhain und Grützner aus den Dar-
bietungen wandernder Nachfolger M e s m e r s (s. früher) — „Magnetiseur"
Hansen u. a. — herauszuschälen verstanden hatten. Besonders
eifrig bemühte sich um die Physiologie des Hypnotismus von deutschen
Forschern unseres Faches WilhelmPreyer [geb. 1841 in Manchester,
1862 Dr. phil., 1866 Dr. med., 1865 in Bonn habilitiert, 1869 Ordinarius
für Physiologie in Jena, 1888 zurückgetreten, in Berlin wieder als
Privatdozent habilitiert, wegen Kränklichkeit wieder zurückgetreten,
1897 in Wiesbaden verstorben; er begann seine wissenschaftlichen
Arbeiten mit vortrefflichen Studien über den Blutfarbstoff' und die
Blausäure, suchte später ein „myophysisches Gesetz" entsprechend
dem „psychophysischen" zu erweisen, den Schlaf auf Milchsäureproduktion
zurückzuführen, „Der Schlaf", Stuttgart 1877 u. a. m. ; verdient machte
er sich durch populär-psycho- und biologische Schriften, worunter
am bekanntesten: „Die Seele des Kindes", 4. Aufl. 1895;
„Elemente der allgemeinen Physiologie", Leipzig 1883;
„Naturforschung und Schule", Stuttgart 1887 u. a.]; doch Hess sich
dieser geniale und temperamentvolle, aber unkritische Beobachter zu
Missgriffen verleiten, welche ihn insbesondere als Sachverständigen
in einigen Prozessen arg blosstellten und in Gefahr brachten, in seinen
Leistungen mit den teils psychopathischen, teils schwindelhaften Be-
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 453
strebuD gen des modernen ,.Spiritismus" und „Occultismus" (du Prel f,
in München) verwechselt zu werden. Diese und ähnliche Dinge, so-
wie insbesondere die Neigung populärer Schriftsteller auf
bio- und psychologischem Gebiet (L. Büchner, Ernst
Krause, pseud. Carus Sterne), die Identifizierung der
psychischen Erscheinungen mit dem materiellen Ge-
schehen im Centralnervensystem offen zu verkünden,
lenkte die Aufmerksamkeit der Fachphilosophen auf die auch bei ernst
zu nehmenden Physiologen und Experimentalpsychologen bestehende
Neigung zur Vernachlässigung der erkenntnistheore-
tischen Grundlagen, wie sie längst durch Kant, Herbart und
Schopenhauer geschaffen worden waren, und welche die eben an-
gedeutete letzte Konsequenz aus dem naturwissenschaftlichen Ma-
terialismus vernünftigerweise verbieten, nämlich die Möglichkeit,
psychische Erscheinungen physiologisch wirklich er-
klären zu wollen: ein Bestreben, welches zuletzt verfolgt worden
ist in einem, in Bezug auf das Thatsächliche — bei Beiseitelassung
der erkenntnistheoretischen Fragen — äusserst verdienstvollen Werke
Sigm. Exners (..Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der
psychischen Erscheinungen", 1. Bd. Wien, 1894). Während der erwähnte
Fehler inzwischen von Wundt und insbesondere Ziehen [Theodor,
geb. 1862 in Frankfurt, 1887 in Jena habilitiert, 1892 Extraordinarius
ebda, 1902 Ordinarius für Psychiatrie in Leyden] in seiner vortreff-
lichen ..Physiologischen Psychologie" (Jena 1891, seitdem oft
aufgelegt) und ..PsychophysiologischenErkenntnistheorie"
(ebenda 1898) durchaus vermieden worden ist, hat die Avenarius-
sche Philosophenschule auf den Subjektivismus als Grundlage aller
wissenschaftlichen Forschung, d. h. das Ausgehen von der eige-
nen Empfindung als einziger Erfahrung, als einzig
Realem, beinahe mehr Ge\\icht gelegt, als für ein gedeihliches
Weiterarbeiten in den anorganischen wie organischen Naturwissen-
schaften absolut nötig wäre: die Folgen davon lassen sich wohl darin
spüren, dass in E. Machs, des berühmten Wiener Physikers ,. Ana-
lyse der Empfindungen" (4. Aufl. Stuttg. 1902) so^vie in der
..Naturphilosophie" W. Ostwalds, des berühmten Leipziger
Physikochemikers, welcher das ja an sich richtige Postulat stellte,
die Materie als solche zu negieren und nur durch ihre energetischen
Eigenschaften zu definieren (und diese natürlich empiristisch durch
unsere Empfindungen) doch just mehr Negation die Hauptrolle
spielt, als für ein gedeihliches und nicht „resigniertes" experimentelles
Weiterarbeiten zuträglich wäre. Speziell die bereits von Bunge in
der berühmten Einleitung zu seiner „Physiologischen Chemie" (s. oben)
geforderte x\pplikation der Erkenntnistheorie auf die
physiologische Forschung hat nach dieses Forschers naraen-
gebendem Vorgange (..Mechanismus und Vitalismus*') zu einem
neuen Schlagworte, dem ..Neovitalismus" (Rindfleisch
auf der Lübecker Naturforscherversammlung 1895) geführt, dessen
Inhalt, wie schon erwähnt, selbst du Bois-Reymond noch kurz
vor seinem Tode in einer Rede bekämpfen zu müssen geglaubt hat:
und wenn auch heutzutage kaum ein ernster Forscher mehr die
Identität der in der organischen und anorganischen Welt wirksamen
Naturkräfte leugnet, so muss doch entschieden der erkenntnis-
kritische und resignative Zug. welcher durch die bio-
454 Heinrich Boruttau.
logische Forschung an der letzten Jahrhundertwende
geht, diese Eeaktion auf die Uebertreibungen des Materialismus,
wenn auch Ost walds „Naturphilosophie" tausendmal grundverschieden
ist von jener älteren, doch in etwas an die 100 Jahre früher herr-
schende Stimmung erinnern, und es bleibt nur zu wünschen, dass der
unentwegte Fleiss der experimentellen Forschung in gleicher Weise
wie damals, im neuen Jahrhundert zu gleich grossartiger Bereicherung
unserer thatsächlichen Kenntnisse führen möge.
In dieser Beziehung ist die Bevorzugung allgemein physiologischer
Fragen durch die jüngeren Kräfte charakteristisch, in welcher Be-
ziehung für Deutschland die Führerrolle übernommen worden ist durch
Verworn [Max, geb. 1863 in Berlin, seit 1895 Extraordinarius in
Jena, seit 1901 Ordinarius in Göttingen als Nachfolger Meissners;
machte Forschungsreisen an der Küste des Roten Meeres ; führte sich
mit Arbeiten „Ueber die Bewegung der lebendigen Substanz", Jena
1892; „Psychophysiologische Protistenstudien", ebenda 1891; über die
Bedeutung des Zellkerns, die polare Erregung der lebendigen Sub-
stanz u. a. m. ein] ; in seiner zuerst 1895 in Jena erschienenen „A 1 1 -
gemeinen Physiologie" — einem rasch bekannt gewordenen
Buche, hat dieser Forscher die Forderung aufgestellt, dass die all-
gemeine Phj'siologie notwendig eine „Cellularphysiologie" sein
müsse und als solche, nachdem Virchows Cellularpathologie schon
40 Jahre existiere, mehr in Angriff genommen w^erden müsse, als die
nach ihm in ihren wesentlichen Zügen abgeschlossene Organphj^siologie ;
eine Ansicht, welcher freilich besonders gerade bei den Fachphysio-
logen lebhaft widersprochen ist, insofern die Voraussetzung, dass die
einzelnen Lebensfunktionen sich nach Verworn s Vorgang an ein-
zelligen Organismen besser untersuchen lassen als an dafür speziell
differenzierten Geweben und Einzelorganen höherer Organismen, zum
mindesten zweifelhaft sei. Die elementaren Lebenserschei-
nungen sucht Verworn auf den Stoffwechsel des Pflüger-
Ehrlichschen regenerierbaren „lebendigen Eiweissmoleküls"
— von ihm, wie schon erwähnt, „Biogen" genannt — zurückzuführen,
unter ausgiebiger Verwendung und Weiterbildung der von Ewald
Hering von jeher seinen sinnesphj^siologischen und elektrophj'sio-
logischen Theorien unterlegten und 1888 ^) ausführlicher diskutierten
Begriffe: der „Assimilation", „Dissimilation", „auf- und
absteigenden" „allonomen" Modifikationen, der „assimilatorischen und
dissimilatorischen Erregung und do. Lähmung",-) des „Biotonus"
(Verhältnis zwischen Assimilations- und Dissimilationsintensität) u. s. w.
Endlich vertritt V e r w o r n die Anwendung der modernen erkenntnis-
theoretischen Prinzipien der Zurückführung alles scheinbar Objektiven
auf das Subjektive als selbstverständliche Grundlage aller
wissenschaftlichen Forschung.
Von sonstigen deutschen Vertretern der allgemeinen Physiologie
seien v. Uexküll [Schüler Kühnes, jetzt Abteilungsvorsteher an
der zoolog. Station in Neapel], welcher zusammen mit Beer in Wien
und Bethe in Strassburg die vergleichende Richtung vertritt,
und Loeb [Jacques, früher Assistent Ficks in Würzburg, jetzt
Professor in Chicago], welcher vor allem die physikalische
*) „Lotos", Prager naturwiss. Zeitschrift, 1888.
*) Siehe auch Verworns Vortrag über „Erregung und Lähmung" auf der
Frankf. Naturforschervers. 1895.
I
Geschichte der Physiologie in ihrer Anwendung auf die Medizin etc. 455
Chemie auf allgemein-pliysiologische Probleme anzuwenden bestrebt
ist, genannt ; es verstellt sich von selbst, dass diese Richtung sich mit
den Bestrebungen anderer, besonders neuerer biologischer Disziplinen,
wie der Zoologie und Embryologie, speziell ..Zell- und Entwicklungs-
mechanik" vereinigen muss, von denen hier nicht die Rede sein kann,
da keine Geschichtsdarstellung der gesamten Biologie beabsichtigt ist.
Auch die Darstellung der schliesslich siegreichen Bestrebungen zur
Widerlegung der Möglichkeit einer Urzeugung (P asten r. Meissner
und Rosenbach), welche zur Entwicklung der modernen Bak-
teriologie und Infektionslehre, sowie deren praktischen An-
wendungen geführt haben, muss der Bearbeitung jenes Abschnitts
überlassen bleiben, da hier nur die Geschichte der Physiologie
als medizinischer Grundwissenschaft dargestellt werden
sollte. Dafür, dass sie das bleibe, war von jeher ihre Behandlung
als Unterrichtsgegenstand der Medizinstudierenden
von gi^osser Bedeutung, und es kann darum die dui^ch die neue ärzt-
liche Prüfungsordnung für das Deutsche Reich eingeführte Obli-
gatorischmachung praktischer physiologischer Kurse
nur dankbar begrüsst werden.
Bei dieser Gelegenheit seien ^) die Jahreszahlen zusammen-
gestellt, welche der Trennung der Anatomie und Physiologie und der
Einrichtung selbständiger physiologischer Institute
an den Universitäten des Deutschen Reiches entsprechen:
Breslau
1811
München 1863
Marburg
1848 (als Extraord.
schon 1837)
Leipzig 1865
Königsberg
1849
Rostock 1865
Tübingen
1853
Würzburg 1865
Kiel
1855
Freibm-g 1867
Heidelberg
1857
HaUe •■ 1870
Berlin
1858
Erlangen 1872
Bonn
1859
Greifswald 1872
Jena
1860
Strassburg 1872
Göttingen
1861
Giessen 1891
Wenn nun gelegentlich in Deutschland mehr als andei-swo über
die Lockerung der Beziehungen der Physiologie zur
praktischen Medizin geklagt wird, so mag dies ja zum Teil
daran liegen, dass von der immer mehr ins Detail gehenden Massen-
arbeit in unserer Wissenschaft naturgemäss nur weniges mehr direkt
den praktischen Disziplinen zu gute kommen kann, zum Teil aber auch
an dem leider völligen Mangel an experimentell-patho-
logischen Instituten und Lehrstühlen, welcher in
Deutschland herrscht, im Gegensatz zu fast allen anderen
Ländern: experimentelle Pathologie wird bei uns teils in physio-
logischen, teils in pharmakologischen und hygienischen Instituten, selten
in den sog. pathologischen, meist rein pathologisch-anatomischen und
histologischen Instituten getrieben; und dafür dass notw^endigerweise
wie die pathologische Anatomie und Histologie die Brücke von der
normalen Anatomie und Histologie, so eine „pathologische
Physiologie" die Brücke von der normalen Physiologie
zu den klinischen Fächern bilden muss, soll, wenn ein Zeug-
*) Nach Hermann, „Physiologie" in dem offiziellen Berichte über die deutschen
Universitäten für die Weltausstellung in Chicago 1893.
466 Heinrich Boruttaiu
nis hier überhaupt noch nötig, so dasjenige des um die normale, wie
pathologische Physiologie gleich verdienten, leider zu früh verstorbenen
Knoll [Philipp, geb. 1841 in Karlsbad, Assistent Eckhards,
1870 in Prag habilitiert, seit 1879 Ordinarius für exp. PathoL, 1898
desgl. in Wien, starb im Januar 1900] in Gestalt seiner Wiener An-
trittsrede angeführt werden.
Für regelmässigeBerichterstattung über die heutzutage
schier unübersehbar gewordene physiologische Litteratur ist neben
dem im Anschluss an den Henle-Meissnerschen und Hofmann-
Schwalb eschen Jahresbericht durch Hermann fortgeführten
„Jahresbericht über die Fortschritte der Physiologie*'
Sorge getragen durch das von Gad 1887 begründete, jetzt von
J. Munk und S. Fuchs redigierte „Centralblatt für Physio-
logie", — neben anderen nicht ausschliesslich der physiologischen
Berichterstattung dienenden Stellen.
Von Hilfsmitteln für die experimentell-physio-
logische Technik ist weiter oben Gl. Bernards Buch „Legons
de phj'siologie operatoire" genannt worden, neben welchem Livons
„Manuel de vivisections" (Paris 1882) für Frankreich massgebend
geworden ist. Wesentlich das Instrumentarium der deutschen
Institute, insbesondere des C. Ludwigschen in Leipzig, berück-
sichtigte Cyons mit einem vortrefflichen Atlas ausgestatte „Metho-
dik der physiologischen Experimente und Vivisektionen",
Giessen und Petersburg 1876, während des zu früh verstorbenen
Eichard Gscheidlen [in Breslau 1842—1889] „Physiologische
Methodik" leider unvollendet geblieben ist. In neuerer Zeit sind in
Deutschland wie auch im Auslande zahlreiche für die praktische
Ausbildung der Studenten bestimmte Leitfäden der
physiologischen Technik, besonders aber Anleitungen
zum physiologisch-chemischen Arbeiten erschienen, welche
hier ebensowenig einzeln angeführt werden können, wie etwa sämt-
liche Lehrbücher, Leitfäden und Repetitorien der Physio-
logie. Was grössere Handbücher betrifft, so ist auf L. Her-
manns epochemachendes Handbuch (in 6 Bänden, Leipzig 1879 —
1882) in Deutschland bis zur Stunde noch kein gleichartiges Unter-
nehmen gefolgt; dem öfter erwähnten älteren Wagner sehen Hand-
wörterbuch in Bezug auf die alphabetische Artikelfolge analog, doch
viel grossartiger angelegt ist das bis jetzt noch nicht vollendete
„Dictionnaire de physiologie", welches Ch. Eichet in Paris
1897 herauszugeben begonnen hat; kürzer, doch den Charakter eines
ausführlichen Handbuchs tragend, ist das mehrbändige auch noch
nicht ganz abgeschlossene Werk von Doyon und Morat in Lyon.
Innerhalb der hier betrachteten Zeit bereits fertig erschienen ist
das von E. A. Schäfer (s. früher) herausgegebene, von zahlreichen
tüchtigen englischen Physiologen bearbeitete „Textbook of Phy-
siology" (London 1898 — 1900), in dessen zwei starken Bänden eine
Fülle Inhalts in übersichtlicher Form und gediegener Darstellung
enthalten ist; wer denselben mit demjenigen älterer Werke, etwa der
ja viel umfangreicheren Elementa Hallers vergleicht, wird ohne
Mühe die gewaltigen Fortschritte erkennen, welche gerade in dem
vergangenen Jahrhundert unsere Wissenschaft gemacht hat, — und
zwar besser erkennen, als mir in dieser kurzen Darstellung zu zeigen
gelungen ist.
Medizinische Chemie.
Von
Georg: Kom (Berlin).
I
Litteratur.
S. Kopp, Geschichte der Chemie, Braunschweig 1843. — Derselbe^ Beiträge
zur Geschichte der Chemie, Brattnschiceig 1875, und: Die Enticicklung der Chemie
in der neueren Zeit, München 1873. — E. v. Mex/er^ Geschichte der Chemie,
2. Aufl., Leipzig 1895. — A. Lndenburg, Vorträge über die Entxcicldungsgeschichte
der Chemie in den letzten hundert Jahren, 2. Aufl.. Braunschxceig, 1887, und: Die
Entwicklung der Chemie in den letzten 20 Jahren, Stuttgart 1900. -^ »T. JET. van't
Hojf, Ueber die EnticicMung der exakten Xatunci.f.senschafteyi im 19. Jahrhundert,
Hamburg und Leipzig 1900. — O. Wallach, Die Chemie in: Lexis, Die deutschen
Universitäten, Berl. 1893. Bd. IL — S. Günther, Geschieht« der anorganischen
Wissenschaften im 19. Jahrhundert, Berl. 1901. — Berichte der Deutschen Chemischen
Gesellschaft, Berlin 1869 ff. — Ed. Hoppe-SeyJer, Die EntwicMung der physio-
logischen Chemie, Strassburg 1883 tind: Physiologische Chemie. Berl. 1877—81. —
Bunge, Lehrbuch der physiologischen u. pathologischen Chemie, 4. Aufl., Leipzig 1898.
Bis zum Be^n der Neuzeit kann man von einer wissenschaft-
lichen Chemie nicht reden. Die dürftigen chemischen Einzelkenntnisse
standen im Dienste des Aberglaubens, der Älchymie. Länger als
ein Jahrtausend, vom vierten bis ins sechzehnte Jahrhundert der
christlichen Zeitrechnung, war die einzige Aufgabe des Chemikers
und AlchjTnisten, den Stein der Weisen zu finden, der es ermög-
lichte, unedle Metalle in Gold und Silber zu verwandeln und zugleich
als Allheilmittel galt das die Menschen zu verjüngen und das Leben
zu verlangen! im stände wäre. Bei dem blinden Autoritätsglauben
des Mittelalters vererbte sich dieser Wahn von Geschlecht zu Geschlecht.
Man hielt alle Metalle für Körper, die aus zwei Bestandteilen, Schwefel
und Quecksilber, zusammengesetzt seien und dachte sich die Beschaff'en-
heit der Metalle abhängig von den Mengenverhältnissen und der
Eeinheit dieser Bestandteile.
Gold sollte viel Quecksilber und wenig Schwefel enthalten, Süber
umgekehrt viel Schwefel und wenig Quecksilber. Der Stein der
Weisen hatte die Aufgabe, das Verhältnis zwischen Schwefel und
Quecksilber günstig zu gestalten, die beiden zu reinigen und ent-
458 Georg Korn.
sprechend festzuhalten. In dieser „Goldmacherei" ging alles chemische
Forschen auf.
Die ersten Andeutungen einer chemischen Analyse finden wir in
den Schriften von Basilius Valentinus, der als Mönch um 1413
in Erfurt lebte und u. a. die Gewinnung der Antimonpräparate be-
schrieb. Aber erst die gewaltige Erschütterung aller Autoritäten und
das Bauen lediglich auf gesicherte Erfahrungen anderer und eigene
Forschung, wie sie auf allen Gebieten des geistigen Lebens den Be-
ginn der Neuzeit bezeichnen, drängten auch die Alchymie in den
Hintergrund. Der revolutionäre Feuerkopf Paracelsus (f 1541)
war es, der die Chemie aus den Händen der Alchymisten befreite und
sie zu Heilzwecken nutzbar machte; er gab dadurch den Anstoss zum
wissenschaftlichen Betrieb der Chemie und zur Begründung der
medizinischen Chemie.
Ihm galt lebendige Erfahrung alles, Autoritäten nichts. Wie er
die bekannten chemischen Präparate auf ihre Heilwirkung untersuchte,
vielfach neue mineralische Heilmittel einführte, selbst gefährliche
Gifte unter Umständen als Heilmittel erkannte und die wirksame
„Quintessenz" den Arzneipflanzen entnahm, so verglich er auch die
Vorgänge im menschlichen Körper mit chemischen Erscheinungen und
nahm Aenderungen in der chemischen Beschaffenheit der Organe als
Ursachen von Krankheiten an. . Er bestritt die Säftetheorie der Alten
und ihre Lehre, dass das Herz der Sitz der Wärme sei; viel-
mehr trage jeder Körperteil seine Wärmequelle in sich. Beson-
deren Wert legte er auf seine Lehre vom Tartarus. Darunter ver-
steht er die Niederschläge von Bestandteilen des menschlichen
Körpers, die er in gesundem Zustande gelöst enthält. Der Tartarus
erzeugt nach Paracelsus je nach dem Ort der Ablagerung Steinleiden
oder Podagra. Durch Paracelsus wurde auch die Chemie zum medi-
zinischen Unterrichtsgegenstand und seinem Einfluss war es zu danken,
dass an den Universitäten besondere Lehrstühle für Chemie errichtet
wurden. So wurde die Chemie für lange Zeit eine unselbständige
Magd der Medizin, die erst im Laufe des 18. Jahrhunderts sich zur
selbständigen Wissenschaft erheben und eigene Wege wandeln konnte.
Zunächst wurde durch den von Paracelsus herbeigeführten Bund
der Chemie mit der Medizin die Arzneimittellehre vielfach bereichert.
Aber auch die Chemie selbst erfuhr durch die Aerzte bedeutende Be-
reicherung. So erfand der Arzt Andreas Libavius aus Halle (zu-
letzt Direktor des Gymnasiums in Koburg) die Bereitung der Schwefel-
säure aus Schwefel und Salpeter und wies ihre Identität mit derjenigen
nach, die sich aus Vitriol und Alaun bildet. Die Färbung der Glas-
flüsse durch Zusatz von Gold war ihm ebenso bekannt wie die Her-
stellung des Doppelt-Chlorzinns durch Destillation des Quecksilber-
sublimats mit Zinn.
Angeregt durch die Lehren des Paracelsus war auch Johann
Baptist van Helmont, das Haupt der latrochemiker oder
Chemiatriker (1578—1644), ein belgischer Edelmann, einer der
hervorragendsten Chemiker seines Zeitalters. Er verwarf zuerst die
vier Elemente des Aristoteles, erfand das Wasserglas, entdeckte die
Kohlensäure und führte den Namen und Begriif der Gase für Luft-
arten, die nicht mit der atmosphärischen Luft übereinstimmen, in die
Chemie ein. Er stellte die später so wichtig gewordenen Sätze auf,
dass kein Stoflf aus einer Flüssigkeit abgeschieden werden könne, der
Medizinische Chemie. 459
niclit schon vorher darin war (ein Todesurteil für die Goldmacherkunst
der Alchymisten !) und ferner, dass ein Stoff in zahlreiche verschieden-
artig^e Verbindungen übergeführt werden könne, aus denen er sich
wieder in der vorherigen Form ausscheiden lasse. Im Geiste der
exakten Eichtung des 16. Jahrhunderts sind seine experimentellen
Forschungen, um den Anteil des Bodens, des Wassers und der Luft
an der Ernährung der Pflanzen zu studieren.
Sein medizinisches System ist durch religiöse Schwärmerei stark
beeinflusst, Lebensgeister (Archei) beherrschen die Lebensvorgänge
und vermittelst der „Fermente" die Veränderungen der festen und
flüssigen Gebilde. Das belebende Prinzip des Blutes ist der „Latex
sanguinis" ; die Körperwärme ist das Produkt, nicht die Ursache des
Lebens. Pflanzentinkturen und mineralische Heilmittel , auch die
Heilquellen, in denen er vielfach Kohlensäure und Alkalien nachwies,
sind für die Behandlung am wichtigsten, doch glaubt er auch an ein
Allheilmittel.
Ein frischer Aufschwung belebte im 16. und 17. Jahrhundert die
Natur\\-issenschaften ; stolz auf ihre Errungenschaften wollten die
Aerzte vielfach Physik oder Chemie zur Grundlage medizinischer
Theorien und ärztlichen Handelns machen, indem die einen, die
„latrophysiker" ^vorzugsweise die Physik, die „latrochemiker"
die Chemie als die Grundlage der Physiologie und der Heilkunde be-
trachteten. Als erste Versuche exakter Bearbeitung der Medizin, die
wenig von der Spekulation, alles von der Erforschung der Thatsachen,
von Beobachtung und Experiment erwartet, waren diese Anläufe
geTsiss rühmlich, aber die Physik und Chemie jener Zeit war noch viel
zu wenig entwickelt und zu arm an feststehenden Thatsachen, um
einen sicheren Unterbau für die Medizin zu gewähren. Die Jatro-
chemiker sahen in allem organischen Geschehen Gärungs- und Zer-
setzungsvorgänge und wollten die meisten Aeusserungen des gesunden
und kranken Körpers durch chemische Vorgänge erklären, vor allem
die den Gesundheitszustand der einzelnen Organe bedingenden und
auf diese wirkenden Bestandteile ermitteln. Hatte man anfangs dafür
die drei Stoffe Salz, Schwefel und Quecksilber angesehen, so stellt
sich sehr bald durch gesteigerte Beobachtung das Falsche dieser An-
sicht heraus, und es traten an die Stelle dieser Fundamentalstoffe
nunmehr Säuren und Laugensalze.
Die Gegensätze zwischen latrophysikern und latrochemikern
traten z. B. sehr stark in ihren Ansichten über Verdauung, Blut-
bereitung und Ernährung hervor. Während die latrophysiker alle
Vorgänge auf mechanische Wirkungen zurückführten, betrachteten die
latrochemiker die Verdauung als eine Form der „Fermentation",
d. h. als einen durch den Speichel, dessen Fermentwirkung bereits
Vieussens kannte, den pankreatischen Saft und besonders die Galle
bewirkten molekularen Vorgang. Auch die Bildung des Chylus und
des Blutes, sowie die Ernährung sind für sie chemische, von dem be-
lebenden Einflüsse der Spiritus vitales unterstützte Vorgänge.
Sehr einflussreich wurde von latrochemikern Franz de le Boe
Sylvius (t 1672 zu Leyden), der zugleich die Fortschritte der
Anatomie und Physiologie für die Heilkunde nutzbar zu machen suchte.
Nach ihm beruht die Verdauung auf einer „Fermentation" (blanda
resolutio), einer unmerklichen chemischen Umsetzung der Nahrungs-
mittel durch den Mundspeichel, den Magensaft, den Succus pancreaticus,
460 Georg Korn.
die Galle, besonders aber durch ein von der Milz bereitetes feines
„Ferment". Das Atmen hat die Bestimmung, die durch die einge-
pflanzte Wärme des Herzens und die Beimischung der Galle bewirkte
„Eflfervescenz" des Blutes zu massigen. Dies geschieht vermöge eines
in der atmosphärischen Luft enthaltenen einfachen und reinen Salzes,
das besonders reichlich im Salpeter vorhanden ist. Die wichtigsten
Erkrankungen bewirken die Anomalien der Fermente, also des Mund-
und Bauchspeichels, der Lymphe, namentlich die saure und laugen-
hafte Schärfe der Galle. Die Lehre vom Fieber wird ganz besonders
durch die chemischen Erklärungen beherrscht; es wird erklärt als
Folge einer „Eifervescenz" des Herzblutes durch Beimischung krank-
haft veränderter, namentlich eine abnorme Säure enthaltender Grund-
flüssigkeiten. Die Fieber zerfallen hiernach in „biliosae", „pancre-
aticae", „lymphaticae", salivales".
Sylvius' Lehren fanden in Deutschland und in den Niederlanden
reiche Verbreitung. Einer seiner Anhänger, der holländische Leibarzt
des grossen Kurfürsten, Coroelis Bontekoe (eigentlich Dekker, f 1685)
zog als Heilmittel auch die jüngst eingeführten Genussmittel, das
„königliche Kraut", den Tabak und den Thee heran, um Magen und
Pankreas zu reinigen und das Blut vor Stockung zn bewahren, ausser
dem reichlichen Genuss von kaltem und noch mehr von warmem
Wasser; vom Thee empfahl er nicht weniger als täglich 50 Tassen
und mehr. Von den englischen Jatrochemikern ist namentlich Francis
Willis zu nennen, der auf den süssen Geschmack des diabetischen
Harns zuerst (1663) aufmerksam machte. Aber auch gewichtige
Gegner fehlten den Jatrochemikern nicht; der Philologe Bohn in
Leipzig Avies die Unhaltbarkeit ihrer Gruudlehre von den sauren
Fermenten des Magens, des Pankreas und der Galle nach, Brunn er
exstirpierte den Pankreas bei Hunden ohne schwere Folgen. Am ver-
hängnisvollsten aber wurde ihrer Lehre die Wirksamkeit des grossen
Praktikers Thomas Sydenham (f 1689), der alle verfrühten
Theorien und pseudowissenschaftliche Systeme verschmähend, auf den
festen Boden der Beobachtung und der gesicherten Thatsachen zurück-
ging. Die Chemie galt ihm wenig mehr als ein Zweig der Apotheker-
kunst.
Ein Zeitgenosse Sydenhams war Robert Boyle (1627— 1691)^
dessen Wirksamkeit den Beginn einer selbständigen chemischen Wissen-
schaft, der neueren Chemie, einleitete. Er betrachtete das Experiment
als Ausgangspunkt aller exakten Forschung und wurde der Begründer
der Verwandtschaftslehre. Er war der erste Chemiker, der den Unter-
schied zwischen einfachen Körpern und Verbindungen aussprach. Da-
durch wurde es möglich, die Zusammensetzung von Körpern durch
Synthese und Analyse zu ermitteln, allerdings zunächst nur bei un-
organischen Stoffen.
Schon vor Boyle hatte der Arzt Glaub er (f 1668), der u. a. das
schwefelsaure Natron („Glaubersalz") genauer erforschte, eine gewisse
Vorahnung der Lehre vor der chemischen Verwandtschaft, aber eigent-
lich begründet wurde sie durch Boyles Corpusculartheorie, wo er die
Auflösung chemischer Verbindungen in ihre Bestandteile und deren
Vereinigung mit denjenigen anderer chemischer Verbindungen durch
die Anziehung und Abstossung, die sie aufeinander ausüben, zu er-
klären sucht. Seit Boyle begann man die Chemie um ihrer selbst
willen zu studieren, nicht lediglich als Hilfsmittel der Alchymisten
Medizinische Chemie. 461
oder um neue Arzneien darzustellen, wie die von ihm bekämpften
Jatrochemiker. Abgesehen von einer ßeihe wichtiger Entdeckungen,
hatte er für die analytische und technische Chemie grundlegende Be-
deutung. In seinem Sinne wirkten Kunkel, der Entdecker des
Phosphors, und Becher (f 1682), der Begründer der phlogistischen
Theorie, die später von Stahl weiter ausgebildet wurde und über ein
volles Jahrhundert in Geltung blieb.
In dieser Periode waren es zunächst nur die qualitativen Er-
scheinungen, die Art der Stoffe und ihrer Verbindung, welche man
sich bemühte zu erklären und in Zusammenhang zu bringen, während
erst später die quantitativen Verhältnisse und ihre Erforschung in den
Vordergrund traten. Bei jener Erklärung der chemischen Vorgänge
nahm man zu willkürlichen, hypothetischen Stoffen seine Zuflucht, welche
durch ihr Hinzutreten oder Entweichen gewisse Prozesse bewirken
sollten, ohne dass man sich jedoch bemühte, die Natur solcher Stoffe
zu ermitteln. So entstand die Lehre vom Phlogiston, deren An-
hänger man Phlogistiker nannte. Das Phlogiston war erfunden worden,
um die Verbrennung erklären zu können ; viele Jahrzehnte lang glaubten
die Chemiker an das Vorhandensein dieses Stoffes, mit dessen speziellen
Eigenschaften sich bekannt zu machen jedoch keinem von ihnen in den
Sinn kam, namentlich nachdem Georg Ernst Stahl (1660 — 1734)
die Lehre von dem Phlogiston mit vielem Scharfsinn so zurecht gelegt
hatte, dass alle noch unerklärten Erscheinungen durch diese Theorie
sich scheinbar ungezwungen erklären Hessen. Man glaubte, dass bei
einer Verbrennung oder beim Oxydieren (Rosten) grössere oder ge-
ringere Mengen Phlogiston entweichen mussten. Wollte man aus Eisen-
rost Eisen darstellen, so musste ihm wieder Phlogiston zugeführt
werden, was durch Erhitzen mit einem daran reichen Körper, z. B.
mit Kohle, die dabei verbrannte und so ihr Phlogiston. an das Eisen
übertrug, erreicht werden konnte. Nach Analogie des Phlogiston legte
man den Säuren einen sauern Stoff, die sogenannte Ursäure, und den
kaustischen Alkalien einen kaustischen Stoff zu Grunde. Immerhin
führte das phlogistische System trotz seines Grundirrtums eine grosse
Zahl der wichtigsten Vorgänge auf eine Grundursache zurück.
Die Medizin wurde indessen durch die Chemie während der phlo-
gistischen Periode wenig beeinflusst. Stahl selbst versagte in seinem
System der Chemie, um die er sich sonst grosse Verdienste erwarb,
jede Anwendung auf die Erklärung der Lebensvorgänge, die er auf
die Wirkung einer etwas unklaren „Seele" zurückführte. Immerhin
blieb die chemische Forschung meist in den Händen von Aerzten und
Apothekern. So wurde durch Friedrich Hoffmann (11742), den
wissenschaftlichen Gegner Stahls, die chemische Untersuchung der
Mineralquellen gefördert und z. B. im Seidlitzer Mineralwasser das
Bittersalz aufgefunden, der Stralsunder Apotheker Scheele (f 1786)
entdeckte gleichzeitig mit Priestley den Sauerstoff, ferner den Stick-
stoff, die Wolframsäure, viele organische Säuren, wie die Weinsäure.
Aepfelsäure. Citronensäure, Oxalsäure, Harnsäure, und das Glycerin.
Er war wohl der letzte bedeutende Verfechter der phlogistischen Theorie.
Nach und nach jedoch wurden Beobachtungen in grösserer Menge
gemacht, bei denen das Phlogiston zur Erklärung nicht mehr ausreichen
wollte; aus dem roten Quecksilberoxyd konnte man z. B. metallisches
Quecksilber herstellen, ohne dass damit ein Phlogiston abgebender
Körper in Beruhigung gebracht wui'de. Diese und ähnliche Thatsachen
462 Georg Korn.
erschütterten das Vertrauen auf die herrschende Ansicht sehr. Ganz
besonders haben die drei englischen Chemiker Black (er beschrieb
zuerst die Eigenschaften der Kohlensäure und fand die Theorie der
latenten Wärme; 11799), Oavendish (der freilich das Wasserstoff-
gas für das gesuchte Phlogiston hielt) und Priestley (1733—1804)
zum Sturz der phlogistischen Theorie beigetragen. Sie haben sich
namentlich um ein bis dahin noch sehr mangelhaft bebautes Gebiet,
die Abscheidung und Beschreibung der Eigenschaften der Gasarten,
grosse Verdienste erworben. Im Jahre 1774 fand Priestley den Sauer-
stoff, indem er rotes Quecksilber zum Erhitzen brachte und regte damit
den Sturz der phlogistischen Lehre an, den Lavoisier zum Abschluss
brachte.
Erst dieser Forscher (1743—1794) erkannte die volle Bedeutung der
neuen Entdeckung. Er hatte schon 1772 experimentell erwiesen, dass
bei der Verkalkung (Oxydation) der Metalle und bei der Verbrennung
von Phosphor und Schwefel eine Gewichtszunahme erfolgt die auf der
Absorption von Luft beruht und der phlogistischen Theorie wider-
spricht. Nach Priestleys Entdeckung konnte er durch zahlreiche Ver-
suche nachweisen, dass sich nur ein Fünftel der atmosphärischen Luft
an der Verbrennung beteiligt, und dass die Luft aus einem Teile Sauer-
stoff und vier Teilen eines Glases besteht, welches weder zur Ver-
brennung, noch zur Atmung geeignet ist. So entwickelte Lavoisier
seine noch heute gültige Verbrennungstheorie und führte zugleich den
allgemeinen Gebrauch der Wage in der Chemie, die quantitative
Analyse ein. Es beginnt mit ihm eine neue, glänzende Epoche der
Chemie.
Da Lavoisier in allen Säuren, die er untersuchte, Sauerstoff fand,
erklärte er diesen für den diesen Körpern gemeinsamen Bestandteil,
setzte ihn also an die Stelle der früheren „Ursäure" ; zugleich betonte
er die Bedeutung, welche der Sauerstoff für die Oxydation oder, wie
man den Vorgang bisher bezeichnet hatte, „Verkalkung" der Metalle
hat. Ferner setzte er die Rolle des Sauerstoffs bei der Atmung und
Blutbereitung auseinander und gab damit den Anstoss zur völligen
Umgestaltung der physiologischen Anschauungen über diese Vorgänge.
Auch auf die Pathologie und Therapie übte die Entdeckung des
Sauerstoffs und die damit erweiterte Kenntnis von den fundamentalsten
Vorgängen des tierischen Lebens einen grossen Einfluss aus. Hatte
doch auch Scheele gleichzeitig die Zusammensetzung der atmosphärischen
Luft aus „Feuerluft" und „verdorbener Luft" (Stickgas) und die Ent-
stehung von „fixer Luft" (Kohlensäure) durch das Atmen nachge-
wiesen. Priestley selbst, ein genialer Laie, rühmte den Sauerstoff nach
Versuchen an sich selbst als eine Panacee zur Verlängerung des
Lebens und zur Heilung von Krankheiten. Was lag für die damaligen
Aerzte, die in der Aufstellung von Systemen die eigentliche Wissen-
schaft sahen, näher, als schleunigst den Sauerstoff für ein neues System
nutzbar zu machen. Sie sahen in ihm die Lebensluft, auf der die Ge-
sundheit beruhe und glaubten, dass bestimmte Krankheiten in dem
Ueberschuss oder Mangel von Sauerstoff ihren Grund hätten. So ver-
wandte Thomas Beddoes in Bristol in Verbindung mit James
Watt, den Erfinder der Dampfmaschine, den Sauerstoff zu Heilzwecken,
ferner der berühmte Chemiker Fourcroyin Paris, der die medizinische
Chemie eifrig pflegte, in Gemeinschaft mit seinem Schüler Rollo, der
alle Arzneien in oxydierende und desoxydierende einteilte, Baumes,
Medizinische Chemie. 463
der alle Krankheiten auf Missverhältnisse des Sauerstoffs, Wasserstoffs,
Stickstoffs, des Phosphors und des „Wärmestoffs" zurückführte, G. Chr.
Reich in Berlin, welcher das Fieber der Vermehrung des „positiven''
(Stickstoff) und Verminderung des „negativen" Lebenselements (Sauer-
stoff) zuschreibt, und andere mehr. Diese neue iatrochemische Schule
ging freilich noch früher wie die alte an ihrer Einseitigkeit zu Grunde.
Naturgemäss fand Lavoisiers Lehre zunächst in Frankreich eifrige
Anhänger, wie Guyton de Morveau, Fourcroy, Berthollet. In Deutsch-
land war Martin Heinrich Klaproth in Berlin (f 1817) der Erste,
welcher für Lavoisiers neue Theorie eintrat.
Die weitere Entwicklung der chemischen Theorien und der Chemie
im allgemeinen kann hier nur andeutungsweise berührt werden. Im
Anfang des 19. Jahrhunderts fand J. L. Proust das Gesetz, dass die
chemischen Verbindungen stets eine bestimmte Constanz ihrer Zusammen-
setzung zeigen. Im Jahre 1805 fand Gay-Lussac in Gemeinschaft
mit Alexander von Humboldt, dass sich das Wasser aus 1 Volumen
Sauerstoff und 2 Volumen Wasserstoff zusammensetzt. Durch spätere
Untersuchungen erwies er, dass die Bestandteile von Verbindungen,
sobald sie in gasartigem Zustande sind, auch in einem bestimmten
Raum Verhältnis zu einander stehen und begründete damit die Volumen-
theorie. John Dal ton (1766 — 1844) erklärte die Konstanz der
chemischen Verbindungen durch die atomistische Theorie, indem er an-
nahm, dass sich die Atome verschiedener Elemente in einem bestimmten,
von ihrem Gewicht abhängigen Verhältnis vereinigen; dabei fand er
das Gesetz der multiplen Proportionen. Durch Wenzel und Richter
wurde die Lehre von den Gewichtsverhältnissen, in welchen die Körper
sich vereinigen, die Stöchiometrie, ausgebaut. Aus den Schluss-
folgerungen, zu denen die von Richter mit unsäglicher Mühe und Aus-
dauer bestimmten stöchiometrischen Tabellen Veranlassung gaben, ent-
standen wichtige Gesichtspunkte für die Bestimmung der Elemente, die
Gruppierung der Atome der zusammengesetzten Stoffe und die Art ihrer
Konstitution. Humphrey Davy (f 1829) und Faraday (f 1867)
(begründeten und förderten die Elektrochemie, Jakob Berzelius
i779 — 1848) begründete die Verwandtschaftslehre und bereicherte alle
Richtungen der Chemie; aus seiner Schule gingen eine grosse Zahl
hervorragende Chemiker hervor, wie die beiden Rose, Chr. Gmelin,
Mitscherlich, Wöhler, Magnus u. a. Die organische Chemie
trat dann namentlich durch Liebig (1803 — 1873) in den Vordergrund.
Die technischen Apparate der analytischen Chemie und die gesamte
chemische Technik erreichte einen ungeahnten Grad der Vollkommen-
heit. Die Chemie erwuchs zu einem der mächtigsten Faktoren des
wirtschaftlichen Lebens; grosse Weltindustrien entstanden auf Grund
der wissenschaftlichen Forschung, Technik und Landwirtschaft, viele
Gewerbe und Handwerke gestaltete sie um. Auch die Heilkunde,
lange Zeit nur durch die Pharmakologie und Toxikologie in Zusammen-
hang mit der Chemie, fand in ihr nun ein wichtiges Förderungsmittel
der Physiologie und Pathologie, der gericlichen Medizin und neuer-
dings auch der Bakteriologie. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert
hinein gingen die chemischen Forscher in Deutschland meist aus den
Aerzten hervor, wie Gmelin, Tiederaann, Wöhler u. s. w^, oder aus den
Apothekern, wie Liebig.
Die ersten bedeutenden Arbeiten auf dem Gebiete der physio-
logischen Chemie schlössen sich an Lavoisiers Forschungen an.
464 Georg Korn.
Proust entdeckte den Harnstoff, Fourcroy und Vauquelin stellten
eine ganze Reihe wichtiger Untersuchungen an, von deren Popularität
ein bekanntes Scherzwort über die chemische Zusammensetzung der
Thräne zeugt, Prevost machte namentlich das Blut zum Gegenstande
seiner Arbeiten. Fourcroy betonte dabei gegenüber den neuen
Chemiatrikern, wie Baumes u. s. w., in einem Briefe an A. v. Hum-
boldt, dass die neuesten chemischen Entdeckungen für die Erklärung
der Vorgänge im tierischen Organismus vielversprechend seien, dass
es aber vorläufig gewagt sei, aus ihnen Schlüsse auf die Natur der
Krankheiten zu ziehen, dass es verkehrt sei, aus ihnen allgemeine
Theorien zu entwickeln und die Lücken im Wissen mit Witz und
Phantasie auszufüllen. In Deutschland war die erste grundlegende
Arbeit der neuen physiologischen Chemie das Werk von T lede-
rn an n und Gmelin, „Ueber die Verdauung" (1826—27). Noch
Spallanzani, der nach dem Vorgange von Reaumur und Hunter
experimentelle Untersuchungen über die Verdauung angestellt hatte,
musste (1783) den Aerzten zurufen: „Ils ont plus cherche ä diviner la
maniere dont la digestion s'opöre qu'ä chercher ä la decouvrir." Jetzt
stellten die beiden deutschen Forscher an Säugetieren, Vögeln, Fischen
und Amphibien umfangreiche Untersuchungen an, wie sie mit den
Hilfsmitteln der Chemie, Physik und Mikroskopie sich nur irgend er-
möglichen Hessen. Ein meisterhaftes Bild der Verdauungsvorgänge,
das für alle Nachfolger grundlegend blieb, war das Resultat ihrer
Forschungen. Die chemischen und mikroskopischen Eigenschaften der
einzelnen Verdauungssäfte, des Speichels, des Magen- und Pankreas-
saftes und der Galle, dann die experimentell nachgewiesenen Ver-
änderungen der Nahrungsstoffe unter der Einwirkung dieser Säfte
von ihrer Aufnahme in den Körper bis zur Chylusbildung und Aus-
scheidung der unverdauten Stoffe fanden hier eine klassische Schilde-
rung, die im wesentlichen zwei Jahrzehnte lang bis zu Frerichs'
Arbeiten über die Verdauung 1846 unübertroffen und unüberholt blieb.
Die chemische Zusammensetzung des Blutes wurde zu gleicher
Zeit eifrig erforscht. Lecanu führte den Nachweis von dem Hämatin-
und Globulingehalt der farbigen Blutkörperchen, welche jedoch diesen
Namen (früher „Blutkügelchen" genannt) erst durch Johannes
Müller erhielten, der ihr Verhalten zu reinem und salzigem Wasser
untersuchte. Den beständigen Gehalt des Blutes an Eisen hatte
Berzelius, nachdem Vauquelin und Brandt ihn in Zweifel ge-
zogen hatten, in der Blutasche sicher nachgewiesen; Eisenhart
konnte (1825) zeigen, dass das Eisen ausschliesslich an den Blutfarb-
stoff gebunden ist. Spät dagegen erst wurden die Fragen der Ge-
winnung des Blutes, der Febrine und des Eiweissgehaltes des Blutes
gelöst; Mulders Arbeiten über die Proteinkörper, die Forschungen
Bruckes und Virchows gaben die Grundlage für die berühmte Arbeit
von Alexander Schmidt (1862), welche volle Klarheit schaffte. Die
Blutgase, die schon am Ende des 17. Jahrhunderts John Mayow be-
obachtet hatte, wurden (1836) durch van Enschut, später von
G. Magnus und Th. Bischoff (1837) untersucht; erst Lothar
Meyers Arbeit „Die Gase des Blutes" (1857) und eine Reihe weiterer
Forschungen gaben hier die gewünschten Aufschlüsse.
Die chemischen Vorgänge bei der Atmung (den „Chemismus der
Respiration") prüften am Anfang des 19. Jahrhunderts bereits Pf äff,
Creve und F. Nasse experimentell, aber sie blieben ziemlich ver-
Medizinische Chemie. 465
einzelt und stark befehdet. Magnus untersuchte dann genauer (1835)
die Kohlensäurebildung im Organismus und die Kohlensäureausscheidung,
auch Johannes Müller und Th. Bischoff (1838) wandten diesem
Gebiet ihre Aufmerksamkeit zu, das dann in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts völlig neu gestaltet wurde.
Lavoisiers Theorie von der Wärmeentwicklung im tierischen
Körper fand in Deutschland zuerst durch K. F. Becker (1804) Ver-
tretung. Seine Göttinger Preisschrift „Von den Wirkungen der äusseren
Wärme und Kälte auf den lebenden menschlichen Körper" will dar-
thun, dass aus allen chemischen Veränderungen im tierischen Körper,
wobei die Stoife neue Form und Qualität annehmen, Wärme frei wird;
im Organismus müssten Vorrichtungen zur Eegelung der Wärme be-
stehen, da sie bei normalem Verhalten stets auf einer bestimmten
Höhe erhalten wird. Becquerel und Bre sehet wiesen später
nach, dass bei der Muskelbewegung durch Oxydation der Gewebe
Wärme frei wird. Die Frage der Wärmebilanz wurde in den vierziger
Jahren dann durch Liebig, Nasse und Heimholtz einer erneuten
und wissenschaftlich vertieften Untersuchung unterzogen.
Die Rolle des Pankreas bei der Verdauung der Fette und des
Amylum stellte J. N. Eberle (f 1834) in Würzburg fest. Auch sonst
wurde die physiologische Chemie des Verdauungsapparates ausser
durch Tiedemann und Gmelin in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts namentlich durch Purkinje und Johannes Müller und
ihre Schüler gefördert und trug viel zum Ausbau der Physiologie des
Stoffwechsels bei. An Müllers und Bischoffs Untersuchungen über die
Magendrüsen reihte sich Wassmanns Nachweis (1839), dass von den
beiden im Magen vorkommenden drüsigen Organen zwei verschieden
wirkende Flüssigkeiten abgeschieden werden, der Magenschleim und
das verdauende Sekret, Purkinje und seine Schüler Valentin und
Pappenheim erläuterten den feineren Bau der Magenschleimhaut
(1837) und die Thätigkeit des Magensaftes, Wassmann stellte durch
Digestion der Magenschleimhaut das Pepsin her. Die fäulniswidrige
Wirkung der Galle wiesen Tiedemann und Gmelin nach, während die
Rolle der Verdauungssäfte im tierischen Organismus erst durch B i d d e r
und Schmidt („Verdauungssäfte und Stoffwechsel" 1852) klar-
gestellt wurde.
Epochemachend wirkten Wohl er s Veröffentlichungen (1828) über
die künstliche Bildung des Harnstoffes; es war der erste gelungene
Versuch, organische Körper auf synthetischem Wege künstlich darzu-
stellen. Wöhlers Untersuchungen betreffen die chemische Zusammen-
setzung des Harns, die Bildung von Harnstoff und Harnsäure und den
Uebergang von Materien in den Harn.
Auch die Frage der Gärung beschäftige in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts die Forscher lebhaft und gewann schliesslich für
Physiologie und Pathologie ausschlaggebende Bedeutung. Thomas
Willis fasste zuerst die Fermentation als einen chemisch-mechanischen
Akt auf und erklärte, dass Gärung dann erfolgt, wenn das in einer
inneren (chemischen) Bewegung befindliche Ferment auf einen gährungs-
fähigen Körper in der Weise einwirkt, dass es ihm diese seine Be-
wegung mitteilt. Die hervorragenden Aerzte und Chemiker des
18. Jahrhunderts äusserten sich ähnlich. Nach Lavoisiers Auftreten
schloss sich Mitsc herlich Willis' Theorie an, ebenso Berzelius,
der die Wirkung, welche das Ferment auf den gärungsfähigen Stoff'
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 30
466 Georg Korn.
ausübt, eine „kataly tische" nennt, ferner Lieb ig, der (1839) annahm,
dass das Ferment durch Bewegung oder Erschütterung wirkt, indem
es eine Mischung, deren Bestandteile nur scliwach miteinander ge-
bunden sind, die in ihm stattfindende Zersetzung mitteilt. Die Be-
zeichnung der Infektionskrankheiten als „zymotische" beruht auf dieser
Anschauung ; namentlich englische Aerzte nahmen an, dass die Krank-
heitserreger organische, in Zersetzung begriffene Stoffe seien, die in
den menschlichen Körper eingedrungen als Fermente auf das Blut
wirken.
Gleichzeitig und unabhängig von einander fanden nun 1837
Th. Schwann und Cagniard- Latour die organisierte Natur der
Hefe. Schwann schloss daraus, dass die Hefezellen der gärungs-
fähigen Substanz die für Fortpflanzung und Wachstum ihr nötigen
Stoffe entziehen und die aus dem Nährboden übrig bleibenden Sub-
stanzen das Material für das Gärungsprodukt abgeben. Schwann
und seine Nachfolger stellten die Wirkung der organisierten Gärungs-
organe auf die Flüssigkeit als eine physiologische oder parasitäre hin.
Liebig u. a. dagegen als eine chemische, auf Kontakt beruhende (kata-
ly tische). Diese Streitfrage wurde dann durch Pasteurs Forschungen
(1857) entschieden. Danach sind zwei Formen von Gärungserregern
zu unterscheiden, geformte (organisierte), deren Wirkung eine physio-
logische ist und ungeformte tierische oder pflanzliche Stoffe (Enzyme),
welche eine chemische Wirkung äussern. Welche ^veittragende Folgen
die Erkenntnis von den Gährungsvorgängen für die Pathologie, Bak-
teriologie und Hj^giene gehabt hat, braucht hier nicht näher aus-
geführt werden. E. B u c h n e r hat übrigens neuerdings den Hefezellen
einen chemischen Stoff entnommen, der wirkliche Gärung hervorruft.
Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen Lehr-
bücher der physiologischen Chemie, zuerst von F. Hünefeld (Physio-
logische Chemie" 1826 und „Chemismus im tierischen Organismus"
1840). Berzelius widmete ihr den 9. Band seines Lehrbuchs der
Chemie in der 3. Auflage von 1840; dann kam Justus Liebig („Die
Chemie in ihrer Anw^endung auf Agrikultur und Physiologie" 1840
und „Die Tierchemie oder organische Chemie in ihrer Anwendung auf
Physiologie und Pathologie" 1842), K. G. Lehmann („Lehrbuch der
physiologischen Chemie" 1842), Marchand („Lehrbuch der physio-
logischen Chemie" 1844), J. J. Scher er („Chemische Untersuchungen
u. s. w." 1843), denen sich dann die neueren Werke von Gorup-
Besanez, W. Kühne und Hoppe-Seyler anschliessen, in neuester
Zeit die Lehrbücher von Hamraarsten, Salkowski, Neumeister,
Ludwig und anderer Autoren. Als Zeitschrift erschienen zuerst 1843
„Beiträge zur physiologischen und pathologischen Chemie" von F. Simon
und als Fortsetzung 1844 — 45 und 1852—53 das „Archiv für physio-
logische und pathologische Chemie", von J. F. Heller herausgegeben
und dann eingegangen.
Von grösster Tragweite für die Entwicklung der medizinischen
Chemie und das Eindringen chemischen Denkens, sowie die Verwertung
chemischer Fortschritte in der Medizin wurde die Wirksamkeit von
Justus von Liebig (1803 — 1873). Es war sein eifriges Streben,
durch die chemische Umgestaltung der Physiologie auf die praktische
Heilkunst zu wirken. Als direkten Zweck seiner eben genannten
Werke will er eine nützliche AuAvendung der dort entwickelten Re-
sultate. Die Aerzte mahnt er, sich chemisch zu unterrichten, um
Medizinische Chemie. 467
klarere Vorstellungen über YerdauuDgs- und Sekretionsvorgänge zu
erhalten: ..wie ganz anders würde dann die Behandlung der Krank-
heiten sein". Er hält es (1852) für erwiesen. ..dass es durch die
Chemie möglich ist, zu sicheren Heilmethoden zu gelangen". Die
Arzneimitteilehre dankt ihm wesentliche Bereicherung und neue
Methoden. Vorahnungen der neuesten chemischen Therapie finden
sich in seinen Schriften vielfach, so der Ausspruch, dass die Arznei-
mittel nicht anders auf die Zellen wirken, als die Nahrungsmittel. Die
moderne Ernährungstherapie ruht auf Liebigs Schultern, der die
Physiologie der Ernährung zum grossen Teil erst schuf, die dann in
[München durch V o i t und dessen Schule reich ausgebaut wurde. Ueberholt
ist neuerdings manches von Liebigs Theorie, so seine Einteilung der
Nahrungsmittel, seine Ueberschätzung des Eiweisses, seine Unter-
schätzung der stick stoßfreien Nahrungsmittel u. s. w., aber Petten-
k 0 f e r sagte mit Eecht : ..Es ist zum Staunen, wieviel sich bestätigt
hat." Liebig selbst hat auch praktische Vorschläge in der Ernährungs-
therapie gemacht : In Fällen von grossem Blutreichtum, bei denen der
Aderlass üblich war. rät er, die Stoffe in der Nahrung auszuschliessen,
welche die Fähigkeit besitzen, zu Blut zu werden: man gebe aus-
schliesslich oder vorzugsweise stickstofffreie Nahrung, welche den
Atmungsprozess unterhält, sowie Obst und Teile von Vegetabilien,
welche die zu den Sekreten nötigen Alkalien enthalten.
Liebig gab auch den Anstoss zur Heretellung anregender oder
leicht verdaulicher Nährmittel für Kranke. Sein Fleischextrakt hat
sich als Geuussmittel von wohlthätiger Wirkung auf Nervensystem
und gesamten Stoffwechsel eingebürgert, sein „extractum carnis frigide
paratum", eine Art Fleischsaft aus Fleisch durch schwache Salzsäure-
einwirkung bereitet, wurde zum Vorbilde zahlloser Nährpräparate, die
zur Ernährung Kranker und Schwacher dienen, ebenso seine Kinder-
malzsuppe in der Säuglingsernährung. Seiner Anregung verdanken
die physiologischen und klinischen Stoffwechselversuche, die von den
Münchener medizinischen Arbeitsstätten ausgingen, und ihre Ergeb-
nisse für die Krankenemährung ihr Dasein.
Auch auf die Therapie der einzelnen Krankheiten hat Liebig einen
fördernden Einfluss gehabt ; durch seine Untersuchungen über Gärung
und Fäulnis, die bei vielen Magenkrankheiten bedeutungsvoll hervor-
treten und durch geeignete Diät zu bekämpfen sind, und durch die
Verbesserung der chemischen Diagnostik hat er die Behandlung der
Magenleiden, durch die Einsicht in die endosmotische Wirksamkeit der
salinischen Laxantien, die auch für die Entfernung pathologischer
Flüssigkeitsansammlungen von Wichtigkeit ist, die Therapie der Darm-
leiden gefordert. Die Aufklärungen, die er über die Bedingungen der
Reaktion des Harns gab, sind zur Grundlage der prophylaktischen Be-
handlung der sauren und alkalischen Nierensteine geworden. Liebigs
Lehi'en über die Fettbildung gaben die wissenschaftliche Begründung
der heute üblichen Entfettungskuren; auch die Thatsache, dass im
heissen Bade Köq^erfett zersetzt w^ird, hat er theoretisch begründet.
Er zeigte ferner, dass Harnsäure leicht zu Harnstoff oxj'diert werden
kann und hat damit die Behandlung der Gicht in sichere Bahnen ge-
leitet, die davon ausgeht, dass die Hanisäure eine Vorstufe der Ox}'-
dation ist, deren Endprodukt der Harnstoff darstellt, und demgemäss
die Oxydation im Körper zu vermehren sucht, um die Hamsäure-
stauung zu verhindern. Selbst die Therapie des Diabetes hat Liebig
30*
468 Georg Korn.
beeinflusst, ohne sich mit diesem Leiden direkt zu beschäftigten , da die
entscheidende Auswahl der erlaubten Nahrungsmittel auf der Grund-
lage der von ihm geschaffenen Ernährungsphysiologie beruht.
Auch die grossen Fortschritte der öffentlichen Hygiene, die an
Pettenkofers Münchener Thätigkeit sich anknüpfen, sind von Liebig-
schen Gedanken beeinflusst. Liebig erkannte die aufsaugende Fähig-
keit der Erdscholle für alle wasserlöslichen Stoffe und sagte die Ver-
wendung der Erde zur Klärung und Reinigung von Abwässern voraus,
die in der neueren Gesundheitspolitik der Grossstädte eine grosse
Rolle spielt und wesentlich zur Verminderung der Epidemien bei-
trägt. ^)
Von Liebigs Schülern waren C. Schmidt, Mulder, Scherer,
Stricker u. a., denen Frerichs, Gorup-Besanez, Heitz,
Schlossberger, Städeler sich anschlössen, auf dem Gebiet der
physiologischen Chemie erfolgreich thätig; ihre Arbeiten und ihre
Methodik folgten den Spuren des Meisters.
Nach Liebigs Tode gewann die physiologische Chemie jedoch in
Felix Hoppe-Seyler (seit 1872 in Strassburg, f 1895) ihren hervor-
ragendsten Vertreter; auf allen Gebieten dieser Wissenschaft hat er
grundlegend und bahnbrechend gearbeitet und die Kenntnisse von der
Zusammensetzung der Gewebe und den chemischen Vorgängen im Tier-
körper gewaltig vermehrt. Als er seine wissenschaftliche Thätigkeit
begann (R. Virchow erschloss dem Europamüden 1856 durch seine
Berufung ins Berliner pathologische Institut die Möglichkeit, seinen
wissenschaftlichen Neigungen zu folgen), krankte die physiologisch-
chemische Forschung an der ünzuverlässigkeit der Methoden für ana-
lytische Untersuchungen. Freilich hatten Liebig und seine Schüler
hier wertvolle Vorarbeiten geliefert, aber bald wurde das Interesse
der Chemiker von der physiologischen Chemie durch die interessanten
Probleme der aufblühenden organischen Chemie für lange Jahre ab-
gezogen.
Der Methodik seiner Wissenschaft wandte sich Hoppe-Seyler von
Anfang an eifrig zu ; die Untersucliungsmethoden der Milch, des Blutes,
der Galle, der serösen Flüssigkeiten, des Harns, der Differenzierung
der Eiweisskörper sind durch ihn teils nur begründet, teils wesentlich
vervollkommnet worden. Er bürgerte die physikalischen üntersuchungs-
methoden der Circumpolarisation , der Spektralanalyse, der durch
Bunsen vervollkommneten Gasanalyse, der später von Vierordt und
Hüfner weiter ausgebildeten Calorimetrie in der physiologischen
Chemie ein. Sein Handbuch der physiologisch- und pathologisch-
chemischen Analyse, das im Jahre 1858 zum ersten Male erschien und
vielfache Auflagen erlebte, trug wesentlich dazu bei, die medizinische
Chemie in den Kreisen der Studenten und der Aerzte populär zu
machen ; nicht minder bedeutungsvoll war sein grosses Werk „Physio-
logische Chemie" (1877 — 1881). Der ,.Begründer der neueren phj^sio-
logischen Chemie", wie ihn Rudolf Virchow nach seinem Hingang
ehrend nannte, hatte noch die Genugthuung, 1883 in das erste ledig-
lich den Zwecken medizinisch-chemischer Forschung bestimmte Institut
an einer deutscheu Hochschule, in das ganz nach seinen Plänen ge-
>) G. Klemperer, Justus v. Liebig u. die Medizin, Berl. 1899. — Ferner die
älteren Nekrologe u. s. w. von Pettenkofer, Th. Bischoff, Neumeister.
A. W. Hof mann.
Medizinische Chemie. 469
baute Gebäude in der Spital wallstrasse in Strassburg einzuziehen und
als gefeierter Lehrer zu den alten eine ßeihe neuer Schülergenerationen
mit der Methode seiner Forschung auszurüsten. Als Sammelpunkt für
die Ergebnisse seiner Wissenschaft hatte er 1877 mit einer Anzahl
Fachgenossen die „Zeitschrift für physiologische Chemie" begründet
und bis zu seinem Tode geleitet.
Seine Arbeiten galten in erster Reihe dem Blutfarbstoff und dem
Blut; seine ersten Arbeiten auf diesem Gebiete knüpfen 1857 an die
Giftwirkung des Kohlenoxyds an, die gleichzeitig und unabhängig von
ihm Claude Bernard untersuchte. Er prüfte das rein dargestellte
Hämoglobin auf seine Zusammensetzung und seine spektroskopischen
Eigenschaften im sauerstoffhaltigen, wie im sauerstcffreien Zustande,
erkannte die Verbindung des Hämoglobins mit Kohlenoxyd, entdeckte
ihre Derivate teils, teils stellte er sie genauer fest im Methämoglobin.
Siüfmethämoglobin, Hämochromogen. Hämatin und begründete damit
die als Proteide benannte Gruppe der Eiweisskörper : er würdigte zu-
erst die Bedeutung des Hämoglobins als Sauerstoffträger und für die
inaere oder Gewebsatmung und seine Beziehungen zu den sonstigen
tierischen Farbstoffen, besonders dem GallenfarbstoÖ'. Wesentlich ihm
und Pflüger sind die Beweise dafür zu danken, dass die Oxydations-
prozesse in die Gewebe und nicht in das Blut zu verlegen sind. Kurz,
die weit überwiegende Mehrzahl der den Blutfarbstoff" betreffenden
Funde und die Methode zur quantitativen Analyse des Gesamtblutes
und der Blut körperchen stammt von Hoppe, der u. a. auch Methoden
zur Trennung der Blutkörperchen vom Serum und zur gesonderten
Analyse der ersteren angab und den Nachweis von Xuclein in den
weissen Blutkörperchen und in den Eiterzellen, von Lecithin in den
roten Blutkörperchen lieferte.
Ferner stammen aus seiner Berliner Zeit die Untersuchungen über
Milch und die quantitative Milchanalyse, aus der Strassburger wichtige
Veröffentlichungen über Gärungsprozesse, über Cellulosegärung, die
Theorie der Oxydationsvorgänge, das Chlorophyll, die Huminsubstanzen,
die Aenderung der Lebensvorgänge bei Sauerstoffmangel, über einen
von ihm hergestellten, gegen den bekannten P et tenko ferschen
sehr verbesserten Respirationsapparat für Menschen u. a. m. Er hat
zuerst gezeigt, dass gewisse Stoffe in allen entwicklungsfähigen Zellen
sich finden und damit auf die Einheitlichkeit bestimmter chemischer
Vorgänge in der ganzen organisierten Welt hingewiesen; von ihm rührt
die erste und mit unwesentlichen Abänderungen noch heute gültige
Einteilung der Eiweisskörper her. — Die heutigen Vertreter der
physiologischen Chemie innerhalb wie ausserhalb Deutschlands sind
zum grossen Teile in Hoppe-Seylers Laboratorien herangebildet worden. ')
Sie verbreiteten in immer steigendem blasse unter den Aerzten die
Ueberzeugung von der grossen Bedeutung der Chemie für die erfolg-
reiche Weiterführung der medizinischen Forschung und der Notwendig-
keit gründlicher chemischer Kenntnisse für das Verständnis der
Lebensvorgänge.
Auch die Arbeitsstätten, die für physiologische und pathologische
') Nekrologe für Hoppe-Sevler von E. Baunianu u. A. Kossei in den „Berichten
der Dentsch. Chem. Ges." 28. 4 (1895), von Thierfelder. „Berl. Klin. Woch." 1895,
S. 928. von Mtmk, „Deutsch. Med. Woch." 1895, S. 563, von R. Virchow, ..Archiv"
Bd. 142, S. 386.
470 Georg Kor u.
Chemie ausschliesslich bestimmt waren, haben sich seit dem Vorbild
des Strassburger Baues im In- und Auslande allmählich gemehrt und
der Forschung neues Rüstzeug zur Verfügung gestellt.
Neben diesen grossen Forschern waren eine Reihe anderer her-
vorragender Kräfte für den Ausbau der medizinischen Chemie thätig,
so Claude Bernard (1813—1878), dessen erste Untersuchungen die
Rolle der verschiedenen Absonderungen im Magen- und Darmkanal
betrafen und sie als chemische Vorgänge nachwiesen. Es folgten dann
andere Arbeiten über den Speichel, den Darmsaft und über die Ein-
wirkung der Nerven auf die Verdauung, den Atmungsprozess und den
Blutumlauf Er bewies, dass der Bauchspeichel die Verdauung der
Fette bewirkt, entdeckte die zuckerbereitende Thätigkeit der Leber
(das Glycogen) und die künstliche Hervorrufung von Diabetes bei
Verletzung des vierten Ventrikels, endlich die sekretorischen Funktionen
der Chorda tj-mpani. Carl Ludwig (1816-1895), der Entdecker der
sekretorischen Nerven und Begründer des Selbstregistrierungsverfahrens
in der Physiologie und Medizin, lörderte die Chemie der Blutgase, der
Verdauung und des Speichels wesentlich. Das Ferment des letzteren,
das Ptj^alin hatte bereits Leuchs 1831 entdeckt und seine Fähig-
keit nachgewiesen. Stärke und Zucker zu verwandeln.
Die Chemie der Knochen fand in Bibra, Mulder, Fremyund
Heintz ihre Bearbeiter, welche die wirkliche Zusammensetzung der
Bestandteile feststellten, während Schmiedeberg die in den Knorpel-
geweben enthaltenen Körper näher erforschte. Sehr zahlreich waren
die Arbeiten über die Eiweissstoife, die freilich ihr letztes Ziel, die
Erkenntnis der wahren Konstitution dieser Körper, noch nicht erreicht
haben. Brücke, W. Kühne, A. Schmidt, Nencki und eine
Reihe anderer namhafter Forscher untersuchten die Frage, wie sich
die Eiweissstoffe im Tierkörper verhalten, welche Wandlungen sie
durchmachen. Der sichere Nachweis von Zucker, Eiweissstotfen u. s. w.
im menschlichen Körper, insbesondere im Harn, wurde durch sichere
und einfache Methoden erleichtert und bürgerte sich als ein unent-
behrliches Hilfsmittel der Aerzte für die Diagnostik am Kranken-
bett ein.
Die Untersuchung des Magensaftes hatte durch Beaumonts be-
kannten Kanadier, dem eine Magenfistel angelegt war, und die be-
reits oben genannten Arbeiten vielfache Aufklärung ergeben. D. Schmidt,
Frerichs, Lehmann, v. Wittich u. a. stellten die eigentümliche Natur
des Pepsins fest, dessen wichtige Rolle bei der Verdauung von Eiweiss-
stoffen, welche dadurch in Peptone übergehen, wesentlich durch Hof-
meister, Neu meiste r, Kühne und Chitt enden erforscht und
aufgeklärt wurde. Die Chemie der Galle, die durch Streckers
Arbeiten über die Gallensäuren und deren Spaltungsprodukte begründet
wurde, fand durch Städeler, Frerichs, Gorup-Besanez,
Maly u. a. weiteren Ausbau.
Auch die Milch wurde neuerdings eifrig chemisch durchforscht,
namentlich der Vorgang der Gerinnung, die Veränderungen der Milch
im Organismus, die Natur der in ihr enthaltenen verschiedenen Eiweiss-
stoflFe u. s. w. durch Lehmann, Soxhlet, Hammarsten u. a.
untersucht. Das Fleisch, das durch Liebig und seine Schüler auf
seine chemische Zusammensetzung vielfach geprüft war, wurde dann
von Helmholtz, Ranke, Brücke nach einer besonderen Richtung
erforscht: der Einfluss der Muskelarbeit auf die chemischen Vorgänge,
Medizinische Chemie. 471
welche sich in den Muskeln abspielen, trat in den Vordergrund. Der
Gesamtstoffwechsel und die Ernährung, wie sie gleichfalls Liebig zum
Gegenstand chemischer Untersuchung gemacht hatte, während die nam-
haften Physiologen seinerzeit wie Tiedemann und Burdach sich
gegen die neue chemische Richtung abwehrend verhielten, insbesondere
die Eigenschaften und Wirkungen einzelner Nahrungsstoffe im Tier-
körper wurden durch Voit und Pettenkofer und ihre Schüler, wie
Ranke, Forster, Rubner, F. Hof mann. Renk in ausgiebiger
Weise chemisch untersucht. Die Annahme der Münchener Forscher,
dass Fett aus Eiweissstoffen gebildet werde, wurde von Pflüger be-
stritten: er stellte den Satz auf, dass nicht die Kohlenhydrate und
Fette, sondern Eiweiss die Quelle der Muskelkraft sei.
Ganz neue Ausblicke eröffnete der medizinischen Chemie am Ende
des 19. Jahrhunderts (1894) Baumanns Nachweis von Jod im mensch-
lichen Körper (Jodothyrin in der Schilddrüse). Armand Gautiers
späterer Fund von Arsenik als normalem Bestandteil des menschlichen
Körpers kann zur Zeit noch nicht als wissenschaftlich sicher erwiesen
betrachtet werden.
Die F ä u 1 n i s erscheinungen gewannen für die Physiologie und
Medizin ein erhöhtes Interesse durch die Beobachtung, dass sie mit
eigenartigen Organismen im nächsten Zusammenhange stehen. Die
chemische Erforschung der Fäulnisprodukte, wie sie von P a s t e u r an-
gebahnt, von Nencki, Hoppe - Seyler, Otto, Husemann,
Kobert, B rieger, Gautier u. a. weiter geführt wurde, ergab
wichtige Resultate. Die stickstoffhaltigen Verbindungen, welche der
Zersetzung tierischer Eiweissstoffe durch Fäulnis ihre Entstehung ver-
danken, wurden genauer untersucht und verschiedene Amidosäuren,
das Jodol u. s. w., namentlich aber die Ptoraaine. Ihren- Namen ver-
danken die letzteren dem italienischen Toxikologen S e 1 m i , der zuerst
die wichtige Rolle dieser Fäulnisbasen für die gerichtliche Medizin und
Chemie erkannte. Diese starken Gifte, wegen ihrer Aehnlichkeit mit
den Pflanzenalkaloiden auch als Leichenalkaloide bezeichnet, sind
von grosser praktischer Bedeutung, da infolge der ähnlichen Re-
aktionen leicht Verwechslungen der Ptomaine mit wahren Alkaloiden
vorkommen können. Um die chemische Charakterisierung verschiedener
Ptomaine machte sich namentlich Brieger verdient; die Konstitution
einiger wurde neuerdings festgestellt, so gelang die Synthese des Cada-
verins und des Putrescins.
Wie die chemische Erforschung der Fäulniserscheinungen der
Pathologie zu gute kommt, so ist in noch höherem Masse die Bak-
teriologie der Chemie zu Dank verpflichtet; bereits gehört der
Chemismus der Bakterien und ihrer Produkte, der Toxine und Anti-
toxine zu den Aufgaben eines besonderen Wissenszweiges, der Mikro-
chemie. Da es sich hier jedoch um das Gebiet der Bakteriologie
handelt, so kann auf Methodik, Ergebnisse und Aufgaben dieses
jüngsten Zweiges der chemischen Forschung an dieser Stelle nicht
eingegangen werden. Auch die moderne Hygiene hat die Ergebnisse
der modernen chemischen Forschung und Technik in ihren Dienst ge-
stellt und beruht wesentlich auf ihnen; ihre wertvollsten Hilfsmittel
entnimmt sie der Chemie, die auch die Ausbildung der wichtigen
Analyse der Nahrungs- und Genussmittel durch ihre immer mehr ver-
vollkommnete Methodik ermöglicht und fördert. Bezeichnend für die
umfassende und weittragende Bedeutung der modernen Chemie ist die
472 Georg Korn.
Thatsache, dass die Begründer der modernen Bakteriologie und der
experimentellen Hygiene, Pasteur und Pettenkofer, beide ur-
sprünglich von chemischen Arbeiten ausgegangen sind. Die bedeutungs-
vollen Forschungen über die Schutzstoffe des Blutes u. s. w., wie sie
namentlich durch P. Ehrlich, B u c h n e r u. a. betrieben wurden, ge-
hören bereits der unmittelbaren Gegenwart an und entziehen sich des-
halb noch der geschichtlichen Würdigung. Auch die vielfachen Ver-
besserungen der pathologisch-chemischen Technik, der Färbemethoden
und der chemischen Diagnostik, wie sie die jüngste Vergangenheit
brachte, können aus demselben Grunde hier nicht näher erörtert werden.
Der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart gehören auch
die verheissungsvollen Anfänge der physikalischen Chemie in
ihrer Anwendung auf die Medizin an, welcher durch die Ionen lehre
neue Aufgaben erwachsen. Ihre Eolle in der Heilkunde leitet sie von
der Thatsache her, dass der menschliche Körper aus halbfesten Ele-
menten, den Zellen und umgebender Flüssigkeit, dem Blut und der
Lymphe, besteht. Beide stehen in einem Wecliselaustausch gelöster
organischer und anorganischer Bestandteile. Dieser Wechselaustausch
wird teils durch rein physikalische Kräfte, teils durch die den Zellen
innewohnenden vitalen Eigenschaften geregelt. Diese Kraftäusserungen
sind ein Massstab der physiologischen Zellfunktionen. Für diese Aus-
tauschvorgänge im Körper sind am wichtigsten die Gesetze der Os-
mose und Diffusion. Diese Gesetze aber sind erst recht verständ-
lich geworden durch zwei Errungenschaften der modernen physikali-
schen Chemie, die Theorie der Lösungen von van't Hoff und
die Theorie der elektrischen Dissociation von S van he
Arrhenius.
Aus diesen Theorien ergiebt sich der durch die Thatsachen be-
stätigte Satz, dass gewisse Eigenschaften einer Lösung, wozu der bei
den Austauschvorgängen im Körper überall wirksam osmotische
Druck gehört, nicht von der Art, sondern von der Konzentration der
gelösten Moleküle allein abhängen, und dass die Bestandteile, in welche
die Elektrolyse in Lösung zerfallen, die Ionen, den Molekülen in
dieser Hinsicht gleichartig sind. Die Anwendung dieser Theorie hat
bereits wichtige Aufschlüsse über die Austauschvorgänge im mensch-
lichen Körper gegeben, wenn auch bisher nur von einer allgemeinen
Orientierung die Rede sein kann. Für die Zukunft erwartet man von
dieser lonentheorie, die z. B. auf der Hamburger Naturforscherver-
sammlung 1901 im Vordergrunde des wissenschaftlichen Interesses
stand, eine starke Förderung der physiologischen Chemie und der
klinischen Medizin. ^)
^) Paul, Die Bedeutung der lonentheorie für die physiologische Chemie,
Tübingen 1901. — W. His jun., Die Bedeutung der lonentheorie für die klinische
Medizin, 1901.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen.
Von
H. Chiari (Prag).
I
Einleitung.
Insofern man unter pathologischer Anatomie des Menschen die
Wissenschaft von dem anatomischen Baue des kranken mensch-
lichen Körpers versteht, jene Wissenschaft also, welche es sich zur
Aufgabe stellt, nicht bloss das anatomische Substrat jeder wie immer
gearteten Funktionsstörung zu erkennen, sondern auch die Ursachen
und die Entwicklung sowie den Ablauf der pathologischen Verände-
rungen zu erforschen und die Wesenheit der überhaupt vorkommenden
Formen pathologischer Prozesse festzustellen, ist die pathologische
Anatomie eine sehr junge Wissenschaft zu nennen, die erst aus dem
19. Jahrhunderte datiert. Erst in dieser Zeit begann man, die ein-
zelnen anatomischen Befunde pathologischer Veränderungen mit einander
in Verbindung zu setzen, aus ihnen auf induktivem Wege allgemeinere
Schlussfolgerungen zu ziehen und so die Gesetze abzuleiten, nach
welchen sich pathologische Veränderungen überhaupt ausbilden, während
man früher sich damit begnügte, pathologisch-anatomische Befunde
einfach zu registrieren und namentlich besondere Kuriosa festzustellen.
Dabei fehlte auch naturgemäss zumeist noch die Möglichkeit, die ein-
zelnen pathologisch-anatomischen Veränderungen bis in ihr Detail
richtig zu erkennen, da die normale Anatomie, die normale Histologie
und die Embryologie noch viel zu wenig entwickelt waren, und hinderte
weiter die Befangenheit in oft ganz mei'kwürdigen, heutzutage schwer
fassbaren, einseitigen Theorien und Systemen an der objektiven Be-
obachtung und Beurteilung. Erst mit dem Aufschwünge der ge-
samten Naturwissenschaften zu Anfang des 19. Jahrhunderts begann
auch für die pathologische Anatomie eine Zeit der unaufhaltsamen
Entwicklung, durch welche sie zu einer eigentlichen Wissenschaft
wurde und zwar zu jener Wissenschaft, welche die Hauptgrundlage
der Pathologie überhaupt bildet. Durch sie wurde die spekulative
Richtung der früheren Medizin am wirksamsten bekämpft und an die
Stelle der Dogmen dieser oder jener Schule die nüchterne Xatur-
beobachtung gesetzt, welche gerade in der Medizin gegenwärtig ihre
schönsten Triumphe feiert.
474 , H. Chiar
Dem entsprechend ist in den ältesten und älteren Zeiten der
Medizin bezüglich der pathologischen Anatomie sehr wenig zu finden
und die wissenschaftlich ausgebildete pathologische Anatomie sozusagen
eine Errungenschaft der Gegenwart.
Wie sie im wesentlichen aus der klinischen Medizin hervor-
gegangen ist, so hat sie auch, nachdem sie eine selbständige Wissen-
schaft geworden war, doch nie die Fühlung mit der Klinik verloren.
Vielfach sind die Anregungen, die sie fort und fort von der klinischen
Medizin empfängt und vielseitig ist der Nutzen, welchen sie der
klinischen Medizin gewährt, so dass sie ganz mit Recht auch jetzt
nicht bloss von den pathologischen Anatomen von Fach sondern
wenigstens in speziellen Richtungen auch von den Klinikern be-
trieben wird.
Die Geschichte ihrer Entwicklung fällt naturgemäss vielfach zu-
zusammen mit der Geschichte der Medizin überhaupt und der normalen
Anatomie und Physiologie so wie der praktischen Medizin im be-
sonderen und kann nur in Hinblick auf diese verstanden werden.
Litteratur der Geschichte der pathologischen Anatomie.
Wenn auch in den Werken über die GeschicJde der Medizin überhaupt begreif-
licherweise vielfach Bemerkungen über die Entwicklung der pathologischen Anatomie
enthalten sind, wie namentlich bei
Kurt Polykarp Joachim Sprengel, Versuch einer pragmatischen Ge-
schichte der Arzneikunde, Halle 1792—1799; 1800—1802; 1821-1828; franz.
Paris 1815 — 1820; Fortsetzung für das erste Lustrum des 19. Jahrhunderts durch
Elble und v. Feuchter sieben, Wien 1837 — 1840,
Carl Reinhold August Wunderlich, Geschichte der Medicin, Stuttgart 1859,
Heini'ich Haeser, Lehrbuch der Geschichte der Medicin und der epide-
mischen Krankheiten, 3. Bearbeitung, .Jena, I. Bd. 1875, LI. Bd. 1881,
Theodor Puachtnann, Die Medicin in Wien tcährend der letzten 100 Jahre,
Wien 1884,
Theodor PHSChtnann, Geschichte des niedicinischen Unterrichtes von den
ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Leipzig 1889 und
Julius Pagel, Einfülirnng in die Geschichte der Medicin, Berlin 1898
und iceiter die mediziniscli-hiographischen Lexika icie das biographische Lexikon der
hervorragenden Aerzte aller Zeiten und Völker von A. Wernich, E. Gurlt und
A. Hirsch, Wien und Leipzig 1884 — 1888 und das biograjyhische Lexikon hervor-
ragender Aerzte des 19. Jahrhimderts von Julius Paget, Berlin und Wien 1901.
reichliche Notizen über die Thätigkeit zahlreicher Aerzte nuf xmthologisch-anatomischem
Gebiete bringen, so ist doch die spezielle Litteratur der Geschichte der pathologischen
Anatomie eine ziemlich kleine.
Ln den Einleitungen zu den Lehr- und Handhüchern der pathologischen Ana-
tomie finden sich des öfteren historische Skizzen, so besonders bei Criovanni
Battista Morgagni, De sedibus et causis morborum per anatomen indagatis,
Tomus LL., Venedig 1761,
bei Herrmann Lebend, Traite d'anatomie pathologique generale et speciale,
Paris 1857—1861,
bei August Förster, Handbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie,
2. Auf,., Leipzig 1865,
und bei E. Lanceraux, Traite d'anatomie pathologique, Paris 1875 — 1877.
Selbständige Publikationen auf diesem Gebiete wurdeyi geliefert von
August Friedrich Hecker, Einleitung zum Magazin für die pathologische
Anatomie und Physiologie, I. Heft, Altona 1796,
Pierre Francois Olive Bayer, Sommaire d'une histoire abregee de Vana-
tomie pathologique, These de Paris 1815,
Carl Friedrich v. Heusinger, Apergu historique sur Vanatomie patho-
logique suivi d'un essai d'une nouvelle Classification des tissus accidentels, Journal
complementaire du dictionnaire des sciences medicales, T. XX, Paris 1824,
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 475
Jean Eugene Dezehneris, Mtmoire sm- la question suivante: Dontier nn
aper^H rapide des decouvertes faites en anatomie pathologique durant les freute
dernieres annees, Arch. gen. de medecine T. XX, XXL XXII, Paris 1829 — 1830,
JBenigno Juan Isidoro liisiieno d'Aniador, De rinfluence que l'ana-
tomie pathologique a exercee sur les progres de la medecine depuis Morgagni jusqu'ä
nos jours, Mem. de VAcademie Royale de medecine, T. VI, Paris 1837,
Antoine Constant Saiicerotte, De rinfluence de lanatomie pathologique
sur les progres de la medecine, ibidem, T. VI 1837,
Jean Baptiste dniveilhier, Histoire de Vanatomie pathologique, Annales
de Vanatomie et physiologie pathologiques (par Pigne), T. I, 1846,
Joseph Franrois Jacques Augiistin Uelioux (1e Savignac, Origine,
esprit et avenir de Vanatomie pathologique, Gaz. med. de Paris 1858,
Carl Otto Weher, Die Bedeutung der pathologischen Anatomie für die
medicinischen Wissenschaften und Praxis, Deutsche Klinik 1860, und Die Anfänge
der pathologischen Anatomie, Die Grenzboten 1862, 21. Jahrgang,
Leon Marcq, Coup d'oeil sur Vhistoire de Vanatomie pathologique, Joum. de
med., de chir. et de pharmac. de ßruxelles 1862, 34. Vol.,
Engen Boeckel, Anatomie pathologique. Historique, Nouveau dictionnaire
de medecine et de Chirurgie pratiques, Paris 1865, T. IL
Jean Baptiste Barths Article: Anatomie pathologique, Dictionnaire encyclop.
des Sciences medicales 1876 T. IV,
Budolf Virchow in Lexis, Die deutschen Universitäten, Berlin 1893, und
Hundert Jahre allgemeiner Pathologie in der Festschrift zur 100 j. Stiftungsfeier
des medicinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelm-Institutes, Berlin 1895
und Hanns Chiari, Die pathologische Anatomie im 19. Jahrhundert und
ihr Einfluss auf die äussere iledicin, Vortrag gehalten bei der 72. Versammlung
deutscher Naturforscher und Aerzte zu Aachen 1900.
Hugo Bibbert, Die Lehren vom Wesen der Kratikheiten in ihrer geschicht-
lichen Entwicklung, Bonn 1899.
Etwas reichlicher sind jene Schriften, welche sich mit der Wichtigkeit der
pathologischen Anatomie befassen. Auf diese Schriften wird im Laufe der folgenden
Auseinandersetzungen gegebenen Ortes hingewiesen icerden.
Einteilung der Geschichte der pathologischen Anatomie.
Am zweckmässigsten dürfte es sein, bei der Einteilung des Stoffes der Ge-
schichte der pathologischen Anatomie so vorzugehen, tcie dies Förster in dem
bereits erwähnten, von der Geschichte der pathologischen Anatomie ha)idelnden Ab-
schnitte seines Handbuches der allgemeinen path. Anatomie gethan hat, i. e. die
Entwicklung der pathologischen Anatomie nach den grossen Perioden der mensch-
lichen Kultur überhaupt zu untersuchen, zuerst ihren Spuren bei den alten orien-
talischen Kidturvölkern, dann bei den Griechen und Römern und im Mittelalter
imchzugehen, hierauf ihre Anfänge in den ersten Jahrhunderten da' Neuzeit zu ver-
folgen und zuletzt ihre Entfaltung im 19. Jahrhunderte zu studieren.
Ich werde also der Eiyiteilung Försters folgen und auch sonst vielfach an
seine Darstellungen mich anlehnen.
Die pathologische Anatomie bei den alten orientalischen
Kulturvölkern.
Bei den Chinesen, Indern, Persern, Babyloniern, Assyriern,
Phöniciern, Israeliten und Aegyptern finden sich keine sicheren
Anzeichen für das Bestehen pathologisch- anatomischer Kenntnisse
innerer Organe, wenn auch die indischen, persischen und ägyptischen
Wundärzte gewisse von aussen wahrzunehmende pathologische Ver-
änderungen recht wohl kannten. Es erklärt sich das aus den religiösen
Anschauungen dieser Völker, nach welchen die Leiche im allgemeinen
als unverletzlich galt.
476 H. Chiari.
Ja selbst bei den Aegyptern, bei denen doch der allgemeine
Brauch des Einbalsamierens bestand und zu diesem Zwecke die Leichen
von eigens hierzu bestellten Individuen, den Paraschisten, nach be-
stimmten Vorschriften geöifnet wurden, kam es nicht zur Konstatierung
normal-anatomischer oder pathologisch-anatomischer Sektionsbefunde.
Es wurde das Einbalsamieren lediglich als Geschäft betrieben und nie
eine Leichenöffnung zum Zwecke des Studiums vorgenommen, ja es
war Sitte, dass der Paraschistes, nachdem er die Leiche durch einen
Einschnitt auf der linken Seite des Unterleibes, durch welchen die
Eingeweide entfernt wurden, geöffnet hatte, die Flucht ergriff, weil er
von den Verwandten und Freunden des Verstorbenen mit Steinen be-
worfen wurde (Puschmann 1889 p. 19, Haeser L Bd. p. 55). Aus
dem in neuester Zeit bekannt gewordenen Papyrus Ebers will Scheut-
h a u e r erkennen, dass die Aegypter den Dochmius duodenalis und die
durch ihn bedingten Darm Veränderungen kannten, indem sie diesen
Parasiten, den sie „heltu" nannten, bei der jetzt sogenannten Chlorosis
aegyptiaca gelegentlich der bei gewissen Balsamierungsarten vorge-
nommenen Eeinigung des aus der Leiche entfernten Darmes häufig
fanden. Es würde das allerdings sozusagen einen vereinzelten gelegent-
lichen pathologisch-anatomischen Sektionsbefund darstellen.
Gustav Scheuthauer, Beiträge zur Erklärung de»'Papyrus Ebers, Virch.
Arch. 85. Bd. 1881.
Nur bezügjich der talmüdischen Aerzte steht es nach Israels
und Wunderbar fest, dass sie ab und zu Sektionen machten und
dass auf Verlangen des Rabbinen und jüdischen Gerichtshofes zuweilen
gerichtsärztliche Leichenöffnungen stattfanden. Doch ist nichts Näheres
darüber bekannt.
In einer sehr interessanten Schrift über die normale und patho-
logische Anatomie des Talmud behauptet neuestens Katzenelson,
dass den jüdischen Aerzten das Sezieren von Leichen durchaus nicht
verboten war und dass sie namentlich menschliche Embryonen und
Föten des öfteren anatomisch untersuchten. Er erwähnt auch, dass
die Schüler des Rabbi Ismail (Ende des 1. und Anfang des 2. Jahr-
hunderts p. Chr.) sich einst die Leiche einer zum Tode verurteilten
Prostituierten ausbaten, um an derselben die überlieferten Angaben
über die Anzahl der Knochen in Bezug auf ihre Richtigkeit zu prüfen.
Die, wie Katzenelson meint, nicht so geringen pathologisch-ana-
tomischen Kenntnisse der Juden stammten trotzdem nur von der Unter-
suchung von Tierleichen, die behufs Beurteilung der Reinheit oder
Unreinheit vorgenommen wurden.
Abraham Hartog Israels, Tentamen historico-medicum exhihens collectanea
gynaecologica ex Talmude Babylonico. Diss. inaug. Groningen 1845.
Wuntlerbar, Biblisch- Talmudische Medicin. Riga und Leipzig 1850.
L, Katenelson, Die normale und pathologische Anatomie des Talmud.
Aus dem russischen Original (Diss. inaug. St. Petersburg) ins Deutsche übersetzt
von Hirschberg. Roberts historische Studien aus dem pharmakologischen Institute
in Dorpat, V, 1896 Halle.
Die pathologische Anatomie bei den Griechen und Römern.
Auffallend gering waren auch die pathologisch-anatomischen Kennt-
nisse der Griechen und Römer, welche doch sonst auf so vielen Ge-
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 477
bieten der menschlichen Kultur Grossartiges leisteten und auch zahl-
reiche hervorragende Aerzte unter sich zählten. Es war eben auch
bei ihnen die Unverletzlichkeit der menschlichen Leiche durch die
Religion normiert und somit eine pathologisch-anatomische Forschung
am Menschen geradezu unmöglich.
So kommt es. dass wir in den Schiüften der HippokratLsehen
Sammlung zwar die Beurteilung der Symptome am Krankenbette, die
Beschreibung der von aussen wahrnehmbaren pathologischen Ver-
änderungen — so einzelner Missbildungen. Entzündungen. Ulcerationen,
Neoplasmen, Knochenerkrankungen. Hauterkrankungen. Erkrankungen
der Mund-, Rachen- und Nasenhöhle, des Rectums und der äusseren
Genitalien-, die Schilderung des Krankheitsverlaufes, die Schaffung
von heute noch verwendeten Krankheitsbezeichnungen — Scirrhus,
Carciuom. Polypen, Empyema — und die oft mit grossem Scharfsinne
durchgeführte^ Therapie zumal die chirurgische Therapie bewundern
müssen, doch aber überall der Mangel nur durch das Secieren zu ge-
winnender anatomischer Erkenntnisse der materiellen Verhältnisse bei
den Erkrankungen der inneren Organe des Menschen hervortritt. Es
fehlte eben die eigene Anschauung, an ihre Stelle trat vielfach üppige
Spekulation und einseitige Deduktion.
Sehr interessant ist in dieser Hinsicht die Habilitationsschrift von
August Hirsch als ordentlicher Professor der Medizin in Berlin:
De collectionis Hippocraticae auctorum anatomia. qualis fuerit et quan-
tum ad pathologiam eorum valuerit, Berlin 1864, worin alle auf nor-
male und pathologische Anatomie bezüglichen Stellen zusammengetragen
erscheinen.
Das gleiche gilt von Aristoteles, der noch mehr als Hippo-
krates tierische Leichen anatomierte und hierbei auch auf patho-
logisch-anatomische Befunde so auf Cysticerken beim Schweine, Rotz
beim Esel und Pferde. Lungen- und Lebererkrankungen bei verschiedenen
Tieren stiess. Er zog diese Erfahrungen auch des öfteren zur Er-
klärung der Erkrankungen des Menschen heran, dass er aber je mensch-
liche Leichen zergliedert hätte, ist durch nichts erwiesen.
Eine Ausnahmsstellung bezüglich der menschlichen Anatomie und
menschlichen pathologischen Anatomie nahm bei den Griechen nur die
Alexaudriuisehe Schule ein. deren Blüte in das 4. und 3. Jahrhundert
a. Chr. fiel. In dieser Schule wurde der Grund zur uomialen Anatomie
des Menschen gelegt, indem hier menschliche Leichen zergliedert und
angeblich selbst Vinsektionen an Verbrechern aasgeführt wurden.
Gleichzeitig wurden aber auch schon einzelne pathologisch-anatomische
Befunde erhoben.
Zwei Namen sind es, die aus der grossen Zahl von Aerzten respek-
tive Lehrern dieser Schule für immer hervorragen : Herophilus (um
300 a. Chr.) und Erasistratusi gest 280 a. Chr. ). Beide diese Männer
machten zahlreiche Entdeckungen auf dem Gebiete der normalen
menschlichen Anatomie und bemühten sich auch, die anatomischen
Grundlagen der Erkrankungen des Menschen zu erkennen. Leider
sind die Schriften derselben fast sämtlich verloren gegangen und sind
wir nur auf Ueberlieferungen aus denselben bei späteren Schriftstellern
angewiesen. Aber auch daraus geht hervor, dass sie über pathologisch -
anatomische Erfahrungen verfügten, so wenn Herophilus erwähnt,
dass bei den Luxationen des Oberschenkels das Ligamentum teres
femoris zerrissen gefunden werde (Hall er, Bibliotheca anatomica,
478 H- Chiari.
Tomus I., Zürich 1774, p. 60) oder wenn Erasistratus bemerkt,
dass er bei Wassersüchtigen die Leber von steinartiger Härte traf.
Leider dauerte aber diese anatomische Riclitung der medizinischen
Schule in Alexandrien nicht lange. Schon unter den Nachfolgern von
Herophilus und Erasistratus trat die Anatomie immer mehr
zurück und wurde endlich vollkommen beiseite gelassen.
Bei den Römern kam es überhaupt erst zur Entstehung einer
eigentlichen Medizin nach der Einverleibung Griechenlands in das
römische Reich, indem jetzt die griechische Medizin nach Rom importiert
wurde. Die ersten hervorragenden Aerzte der Römer waren Griechen,
so Asklepiades von Bithynien (im L Jahrhunderte a.Chr. Arzt
in Rom) und auch spätere berühmte römische Aerzte wie Themison
von Laodicea (im 1. Jahrhunderte p. Chr. Arzt in Rom), Aretaeus
von Cappadocien (in der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts p. Chr.
Arzt in Alexandrien und wahrscheinlich auch in Syrien und Italien),
Soranus von Ephesus (zur Zeit Trajans und Hadrians Arzt in
Rom) und Claudius Galenus von Pergamos (zur Zeit Marc
Aureis und des Kaisers Commodus Arzt in Rom) waren griechischer
Abstammung. Erst gegen das Ende der vorchristlichen Zeitrechnung
begannen Römer selbst als Aerzte hervorzutreten, so vor allem Aulus
Cornelius Celsus (25 — 30 a. Chr. — 45—50 p. Chr.), welcher, ob-
wohl nur Dilettant und Arzt aus Liebhaberei, denn doch in vorzüglicher
klarer und kritischer Weise viele von aussen wahrnehmbare patho-
logische Veränderungen — Nasenpolypen, Caries der Nasenknochen,
Vergrösserung der Tonsillen, Carcinom des Mundes, Inguinalhernien —
beschrieb und in seinen kompilatorischen Schriften den damaligen
Stand der Medizin sehr gut darzulegen wusste, so dass dieselben für
die Geschichte der Medizin überhaupt von der grössten Wichtig-
keit sind.
Anatomisch forschte in ausgedehnterem Masse sicher nur Galenus.
Er anatomierte sehr viele Tiere, zumal Affen, und förderte dadurch
bei gleichzeitiger Benützung des Experimentes reiche Erkenntnisse
auf dem Gebiete der normalen Anatomie und Physiologie zu Tage, in
pathologischer Hinsicht war er aber von meist ganz einseitigen An-
schauungen präokkupiert, so dass er auf diesem Gebiete nichts Wesent-
liches leistete. Dass er überhaupt menschliche Leichen sezierte, ist
durch nichts erwiesen, ebensowenig wie das von Aretaeus behauptet
werden kann, der sich in seinen pathologisch-anatomischen Angaben
wahrscheinlich nur auf Schriften der Alexandrinischen Schule stützte,
wenn auch manche wie Weber, Lanceraux und Barth meinen,
dass er selbst viel pathologisch-anatomisch gearbeitet habe.
Menschliche und zwar weibliche Leichen dürfte ab und zu Soranus
untersucht haben, wie das aus seinem berühmten Werke über Gynä-
kologie erschlossen werden kann.
Asklepiades von Bithynien, Asklepiadis Bithyni fragmenta, Weimar 1794,
von Gumpert.
Themison von Laodicea. Seine Lehren in den Werken des Soranus be-
ziehungsweise in Bearbeitungen derselben durch Caelius Aurelianus (im 5. Jahr-
hunderte p. Chr. Arzt in Rom).
Aretaeus von Cappadocien, ITepl ahtcSr xal orjfisimv oieojv xal XQOvioyv
TTa&oJv, 4 Bücher j IIsqI i^e^aTisias o^ecov xal yoovUov nnd'viv, 4 Bücher; Erste
lateinische Uebersetzung von Crassus, Venedig 1552; deutsch von Dewez, Wien
1790 und 1802 und von Mann, Halle 1858; ausserdem noch viele andere Axis-
gaben.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 479
Soranus von Ephesus, ITs^l ywaiysicov ^aO^aiv, das griechische Original
von Dietz 1838 gefunden und veröffentlicht: deutsch von Lüneburg und Hub er,
München 1894.
Claudius Galenits von Perganios. Gesammelte Schriften von C. G.
Kühn 1821—1833, 20 Bände.
Aldus Cornelius Celsus. 8 Bücher über Medizin in klassischem Latein.
Aeltester Druck Florenz 1778; deutsch von Khüffner, Mainz 1531 und von
Scheller, Bramischiceig 1846.
Die pathologische Anatomie im Mittelalter.
Im Mittelalter verfiel die anatomische Forschung immer mehr, da
die christliche Beli^ion zunächst einer Entwicklung selbständiger
wissenschaftlicher Thätigkeit nicht förderlich war und alles in Dogmen
starr festgesetzt war.
Im wesentlichen hielt man sich in der Anatomie an die Traditionen
der heidnisch-klassischen Kulturperiode. Selbst im byzautinischen
Kaiserreiche, das doch in anderen Zweigen des menschlichen
Wissens wenigstens temporär grosse Fortschritte zu verzeichnen hatte,
beschäftigten sich die medizinischen Schriftsteller eigentlich nur mit
der Wiedergabe der Werke früherer Autoren, w'as allerdings für die
Kenntnis dieser Werke von grosser Bedeutung war, da die Originale
vielfach in Verlust geraten sind. In dieser Hinsicht haben sich be-
sondere Verdienste erworben Oribasius (326 — 403 kaiserlicher Leib-
arzt in Byzanzj, Aetius (Mitte des 6. Jahrhunderts Arzt in Byzanz),
Alexander von Tralles (525 — 605 zuletzt Arzt in Rom), Theo-
philus Protospatharius (7. Jahrhundert, Leibarzt des Kaisers
Heraklius) und Paulus von Aegina (7. Jahrhundert, Ai'zt in
Alexandrien, später in Griechenland).
Oribasius, Ewaycoyni Imoiy.ai. Sammlung der Schriften: Oeuvres d'Oribase,
texte grec, en gründe partie inedits etc., Daremberg et Bussemaker, Paris 1851 — 1876.
Aetius, Btß'f.iu iaroiy.a e.y.y.aid'sxa.
Alexander von Tralles. Ausgabe seiner Schriften von Ptischmann, Wien
1878—1879, 2 Bde.
Theaphilus Protospatharius, Ueol iTs tov dvd-^c6:iov y.araoy.evr^s. Neueste
Ausgabe von Greenhill, Oxford 1842.
Paulus von Aegina, 'Enno/urjg Imoiyris ßißlia iy.Ta. Erster Druck griechisch,
Venedig 1528; englisch von Adams, Londan 1834.
Auch die Araber, die namentlich in Spanien die Wissenschaften
eifrigst pflegten und zahlreiche höhere Lehranstalten gründeten, an
denen auch Medizin tradiert wurde, hielten sich strenge an die Lehren
der altgriechischen Medizin und machten wenigstens auf dem Gebiete
der Anatomie keinerlei selbständige Forschungen, wozu besonders der
Umstand beitrug, dass der Koran nicht blos die Leiche für unverletz-
lich erklärte, sondern auch sogar anatomische Abbildungen strengstens
untersagte.
Unter den christlicilen Tölkern des Abendlandes kam es im
Mittelalter erst durch die Entstehung der Universitäten zu einer
wissenschaftlichen Behandlung der Medizin. Allerdings beschränkte
sich dieselbe auch hier zumeist nur auf die Wiedergabe der Werke
der griechischen medizinischen Klassiker und wurde auf dem Gebiete
der Anatomie und pathologischen Anatomie nur sehr Dürftiges geleistet.
Immerhin wurde aber doch an einzelnen Universitäten, so z. B. an der
ältesten Universität, der in Salerno, schon frühzeitig Anatomie prak-
480 H. Chiari.
tisch betrieben und existiert eine wahrscheinlich aus dem 11. Jahr-
hunderte stammende von Copho dem Aelteren in Salerno verfasste
Schrift „Anatomia porci" (gedruckt Hagenau 1532). in welcher auch
von „Stoffablagerungen" im Herzbeutel und im Pleurasäcke die Rede ist.
In den letzten Jahrhunderten des Mittelalters versank dann aber
die Medizin vollkommen in der Scholastik und erst im 13. Jahrhunderte
begann eine Wiedergeburt der eigentlichen Naturforschung, angeregt
durch Roger Baco in England und Arnald von Villanova in
Spanien, welche die Rückkehr zur direkten Naturbeobachtung empfahlen.
Den italienischen Universitäten gebührt hierbei der Ruhm der end-
lichen Wiederbelebung der Anatomie und wurden nach A. Corradi
(Dello studio e dell' insegnamento dell' anatomia in Italia nel medio evo
ed in parte del Cinquecento, Mailand 1873} in Italien schon im 13. und
ebenso im 14. Jahrhunderte pathologisch-anatomische Sektionen zum
Zwecke der Belehrung über die Natur der Krankheiten zumal bei
Epidemien unternommen. Im Jahre 1302 wurde auf Befehl des
Richters in Bologna sogar eine gerichtsärztliche Sektion ausgeführt,
da der Verdacht vorlag, dass das betreffende Individuum vergiftet
worden sei. Aus dem gleichen Grunde soll Guilelmo Salicetti
(13. Jahrhundert) den Leichnam des Neffen des Marchese Pallavicini
seziert haben. Weiter berichtet Corradi. dass der Minoritenmönch
Salimberti erzählte, dass während einer Seuche in Italien 1286 ein
Arzt viele Leichen öffnete, um die Ursache der Seuche zu ergründen
(Buschmann 1889 p. 205).
Italienischen Ursprunges ist auch das erste Werk über Anatomie,
welches seit der Zeit der Alexandrinischen Schule auf der anatomischen
Untersuchung menschlicher Leichen basierte, nämlich die „Anathomia"
von Mondino de Liucci (Mundinus) (1275 — 1327, aus Bologna,
Professor daselbst) handschriftlich verfasst 1310, zum erstenmal ge-
druckt 1478 in Venedig, in der jüngsten Ausgabe gedruckt 1580 eben-
daselbst, worin auf Grund der 1315 in Bologna ausgeführten Sektion
zweier weiblicher Leichen eine kurze anatomische Beschreibung der
einzelnen Körperteile und eine Darstellung ihrer Funktionen enthalten
ist und auch pathologische Veränderungen berührt werden. Ganz im
Geiste Mondinos arbeitete sein Schüler und Nachfolger Bertuccio
(gest. 1347), indem er bei seinen anatomischen Untersuchungen auch
die pathologischen Zwecke im Auge behielt.
JBertucciOf Collectorium artis medicae tarn practicae quam speculativae. Ge-
druckt Lyon 1509, 1518; Köln 1537.
Dem Beispiele der italienischen Universitäten in Salerno, Bologna
und Padua folgten dann auch hinsichtlich der Anatomie andere Uni-
versitäten wie die in Montpellier, Paris, Prag und Wien. In patho-
logisch-anatomischer Richtung wurde dabei aber gewiss nur in ganz
untergeordnetem Grade geforscht und gelehrt.
Von den Chirurgen undAerzten dieser Zeit interessierten
sich nur einzelne auch für die pathologische Anatomie der Krankheiten
und führten auch gelegentlich pathologisch-anatomische Sektionen aus.
so Guy de Chauliac (Guido de Coliaco) (um 1300 geb. Arzt in
Lyon, dann päpstlicher Leibarzt in Avignon), der die Hernien nach ihren
Bruchpforten unterschied und von den Hernien die Varicocele, Hydro-
cele und Sarcocele trennte, Bartolomeo Montag nana (gest. um
1460, Professor der Medizin in Padua), der sich rühmte, 14 menschliche
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 481
Leichen seziert zu haben und Fälle von Herzaffektionen und Harn-
röhrenstrikturen beschrieb, Antonio Guainerio (gest. 1440, Pro-
fessor der Medizin in Pa^ia und Chieri), der zahlreiche Monographien
über die Krankheiten verschiedener Organe lieferte und Befunde von
Darmsteinen und Magenveränderungen mitteilte, Michele Savona-
rola (gest. um 1462, Professor der Medizin in Padua und Ferrara),
der so wie Giovanni Arcolani (gest. zwischen 1460 und 1480,
Professor der Medizin in Bologna) vereinzelte kurze Berichte über
pathologische Leichenbefunde schrieb.
€riiy de Chauliac, CoUectorium artis chirurgicalis medicinae. Sandschrift-
lieh verfasst 1363; 1. Druck Venedig 1490; Lyon 1585.
Baiiolonieo Jlontagnana, Selectiorum operiim iyi quibiis consilia, variique
tractatus alii. tum proprii tum ascititii cantinentur Über unus et alter, Venedig 1497;
Xürnberg 1652.
Antonio CritaineHo, Opus praeclariim ad praximnonmediocriter necessarittm,
Favia 1518; Lyon 1525.
Michele Savonarola, Practica de aegritudinibus a capite tisque ad pedes,
Coline 1479; Venedig 1560.
Giovanni Arcolani, Practica medica, Venedig 1483; Basel 1540.
Von Spanien berichtet Ant. Hern. Morejon (1773—1836, Pro-
fessor der medizinischen Klinik in Madrid) in seiner Bibliogräfica de la
medicina espauola (Madrid 1842 — 1852), dass in dem mit dem Kloster za
Guadeloupe (1322) verbundenen Hospitale, in welchem auch klinischer
Unterricht erteilt wurde, eine pathologisch-anatomische Schule begründet
wurde, indem man fleissig Sektionen machte und diese zur Erforschung
der krankhaften Veränderungen und zur Demonstration derselben be-
nützte. Genaueres ist jedoch darüber bis jetzt nicht bekannt ge-
worden.
Die pathologische Anatomie im 16. Jahrhunderte.
Im 16. Jahrhunderte erhielt die pathologisch-anatomische Forschung
einen sehr wesentlichen Impuls durch die in diesem Jahrhunderte zu-
mal durch Andreas Vesal erfolgte eigentliche Begründung der nor-
malen Anatomie des Menschen. Die meisten der damaligen Ana-
tomen brachten nämlich in ihren Werken auch einzelne patho-
logisch-anatomische Befunde.
Alessandro Benedetti (um 1460 — 1525 Professor der Ana-
tomie in Padua, Gründer des anatomischen Theaters daselbst) berichtete
über Gallensteine und Apoplexien.
Singulis corporum morbis a capite ad calcem generatim membratimque
remedia, causas eonimque signa XXXI libris complexa, praeterea historiae
corporis humani libros V, de pestilentia librum I et collectionum medi-
cinalium libellum, Basel 1508; Venedig 1533, 1535; Basel 1539, 1549,
1572.
Giacomo Berengario de Carpi (1470 — 1530 Professor der
Chirurgie in Bologna) rühmte sich, mehr als 100 Leichen seziert zu
haben und beschrieb auch einzelne pathologische Veränderungen.
Commentaria cum amplissimis additionihus super anathomiam Mondini una
cum textu ejus in pristinum et verum nitorem redacto, Bologna 1521, 1552; engl.
London 1664.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd II. 31
482 H. Chiari.
Andreas Vesal (1514—1565, lehrte Anatomie in Löwen, Padua,
Bologna, Pisa, Basel und Madrid) machte oft pathologische Sektionen
und wollte diese für sich veröffentlichen. Es geschah das aber nicht ^)
und so sind von ihm leider nur die da und dort in seiner grossen
Anatomie eingestreuten pathologisch-anatomischen Notizen bekannt.
So besprach er bei der Schilderung der normalen Anatomie der Milz
auch die wichtigsten pathologisch-anatomischen Veränderungen dieses
Organes.
De hutnani corporis fahrica libri VII, 1. Ausgabe Basel 1543.
Giovanni Filippo Ingrassia (1510—1580 Professor der Me-
dizin und Anatomie in Neapel) beschrieb pathologische Veränderungen
von Knochen, so besonders die Schiefheit des Schädels infolge von
Naht-Syuostose.
Commentaria in Galeni librum de ossibus, Palermo 1603.
Realdo Colombo (gest. 1559, Professor der Anatomie in Padua,
Pisa und Rom) erwähnte einzelne Befunde morbider Veränderungen
innerer Organe und auch Missbildungen; einmal fand er Defekt des
Pericards.
De re anatomica libri XV, Venedig 1559; deutsch Frankfurt 1609.
Bartolomeo Eustacchi (gest. 1574, Professor der Anatomie
in Rom) erzählte in der Vorrede zu seinen von Lancisi 1714 heraus-
gegebenen Tabulae anatomicae, dass er der Erste war, welcher in Rom
pathologische Sektionen gemacht habe und dass er dabei ein ziemlich
reiches Material sammeln konnte. Darüber hat aber Eustacchi nie
publiziert.
Volcher Coiter (1534 — 1600 lehrte eine Zeitlang Anatomie in
Bologna, später Arzt in Nürnberg) sammelte ein bedeutendes patho-
logisch-anatomisches Material, so über Ankylosen und über Exsudationen
im Gehirne und Rückenmarke.
Externarum et internarum principalium humani corporis partium tabulae
atque anatomicae exercitationes abservationesque variae novis ac artificiosissimis
figuris illustratae, Nürnberg 1572; 1573; Löwen 1653.
Giulio Cesare Aranzi (1530 — 1589 Professor der Medizin und
Anatomie in Bologna) brachte in seinen Werken ziemlich reichliche
pathologisch- anatomische Notizen, so namentlich über Geschwülste.
De tumoribus praeter naturam secundum locos affectos über, Bologna 1579;
Venedig 1587.
Ubservationes anatomicae, Basel 1579; Venedig 1587.
Felix Platter (1536—1614 Professor der Anatomie in Basel)
sezierte in 50 Jahren mehr als 300 Leichen und machte auch zahl-
reiche zum Teile recht wertvolle pathologisch-anatomische Beobachtungen
(Steinbildung unter der Zunge, Riesenwuchs).
De partium corporis humani structura et usu libri III, Basel 1583, 1603.
Observationum in hominis ajfeetibus plerisque libri III, Basel 1614, 1641.
1) Nach Schenck v. Grafenberg dürfte das betreffende Werk in Spanien
vielleicht noch vorhanden sein (Vorrede zu den Obaervationes).
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 483
Caspar Bauhin (1560 — 1624. Professor der Anatomie in Basel)
beschrieb in seinem Theatrum anatomicum vielfach die pathologischen
Veränderungen.
Theatrum anatomicum infinitis locis atictum ad morbos accammodatum, Basel
1592; Frankfurt 1621.
Weiter teilten aber auch viele Praktiker pathologisch-
anatomische Beobachtungen mit, so
Antonio Benivieni (gest. 1502, Arzt in Florenz), welcher zahl-
reiche pathologisch-anatomische Befunde über Missbildungen und Herz-
krankheiten beschrieb und auch zuerst Steine in der Gallenblase fand.
Wenn auch seine Schilderungen ziemlich kurz und flüchtig sind, so ist
doch darin ein relativ grosses pathologisch-anatomisches Material ge-
sammelt. Benivieni führte als erster eigentliche pathologische Sektionen
aus und wird daher z. B. von Heck er der Vater der pathologischen
Anatomie genannt.
De abolitis nonmdlis et mirandis morbarum et sanationum catisis, Florenz
1502, 1504, 1506; Basel 1528; Leyden 1585.
Francisco Valles (gest. 1592, Professor der Medizin in Alcala,
später Leibarzt Philipp IL), einer der frühesten Bearbeiter der patho-
logischen Anatomie.
Galeni de locis affectis lihri VI cum scholiis Fr. Vallesii, Lyon 1551.
Jacques Houillier (Hollerius) (1498 — 1562, Professor der
Medizin in Paris).
De morbis internis libri duo autoris scholiis et observationibus illustrati,
Paris 1555: 1611. Zahlreiche pathologisch-anatomische Befunde innerer Organe.
AmatusLusitanus (1511 geb., Arzt in Portugal, . zuletzt in
Salonichi, eine Zeitlang auch Professor der Medizin in Ferrara), ein
Kliniker, der sich auch viel mit pathologischer Anatomie beschäftigte.
Curationum medicinalium centuriae TU, Florenz 1-551 : Basel 1556 : Venedig 1557.
Joost van Lom (Jodocus Lommius) (1500 - 1563, Arzt in
Tournay und Brüssel und Leibarzt Philipp H.).
Observationum medicinalium libri III quibus notae morborum omnium et
praesagia judicio proponuntur, Antwerpen 1560.
Johann Kentmann (1518 — 1574, Arzt in Torgau) beschrieb die
im Menschen überhaupt vorkommenden Steinbildungen (Gallen-,
Speichel-, Darmsteine).
Calculorum qui in corpore ac membris hominum innascuntur genera duodecim
eorumqxw descriptio ac figtira, Zürich 1565.
Johann Weyer (Wierus) (1515 — 1588, Arzt des Herzogs
Wilhelm IV. von Jülich- Cleve-Berg), der in seinen Observationes wert-
volle pathologisch-anatomische Befunde der Gesclilechtsteile beschrieb.
Opera omnia, Amsterdam 1661.
Louis Duret (1527—1586, Professor der Medizin in Paris, Leib-
arzt Karl IX. und Heinrich HL).
Adversaria s. scholia in Hollerii libros de morbis internis, Paris 1571.
FrauQois Valeriola (geb. um 1504 — 1580, Professor der
Medizin in Turin).
Observationum medicinalium libri VI, Lyon 1573.
Enarratiomtm medicinalitim libri VI, responsionum Über I, Lyon 1554.
31*
484 H. Chiari.
CornelisGemma (1534—1579, Professor der Medizin in Löwen)
der eine genaue Beschreibung der Pest gab.
De natitrae divinis characterismis, Antwerpen 1575.
Ambroise Pare (1517—1590, Chirurg in Paris, erster Chirurg
Karl IX. und Heinrich III.).
Les Oeuvres de Monsieur Ambroise Pare avec les figures et portraits tant de
l'anatomie qtie des instrnments de Chirurgie et de plusieurs monstres, Paris 1575;
neueste Ausgabe von Malgaigne 1840 — 1841.
Rembert Dodoens (Dodonaeus) (1517—1585, Leibarzt
Maximilian II. und Rudolph II.) machte zahlreiche gute Beobachtungen
am Sektionstische und beschrieb Fälle von Pneumonie, Magen-
geschwüren, Bauchmuskelentzündungen, Aneurysmen der Coronararterien
des Magens, steinigen Konkretionen der Lungen, Vereiterung der
Ureteren und Nieren und Ergotismus.
Observationum medicinalium exempla rara, Cöln 1581.
Praxis medica, Amsterdam 1616.
Schenck von Grafenberg (1530 — 1598, Stadtarzt in Frei-
burg i. Br.), welcher eine ziemlich vollständige Zusammenstellung der
wichtigsten seit Hippokrates veröffentlichten Beobachtungen über die
Krankheiten der einzelnen Organe mit besonderer Berücksichtigung
der pathologischen Anatomie publizierte und dabei vielfach auch teils
eigene, teils von seinen Freunden gewonnene pathologisch-anatomische
Befunde beschrieb.
Observationum medicarum rararum novarum admirabilium et monstrosarum
libri VII. Lib. I. Basel 1584, libri II.— VII. Freiburg 1594—1597; letzte Ausgabe
Frankfurt 1665.
Pierre Salio Diverso (in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts
Arzt in Faenza) machte pathologisch-anatomische Beobachtungen von
Encephalitis und Mediastinitis.
De febri pestilenti tractatiis et curationes quorundarum particularium mor-
borum, Bologna 1584.
Marcello Donato (in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts Arzt
in Mantua) sammelte eine Anzahl guter pathologisch-anatomischer Be-
obachtungen und pries in begeisterten Worten den Wert der patho-
logischen Sektionen.
De medicina historia mirabili libri VI, Mantua 1586; Frankfurt 1613 ed.
Greg. Horst c. add. libr. VII.
Wilhelm Fabry (Fabricius) van Hilden (Hildanus)
(1560—1634, zuletzt Stadt- und Kantonalarzt in Bern), der sehr wert-
volle pathologisch- anatomische Befunde mitteilte und auch eine Schrift
über den Nutzen der Anatomie veröffentlichte.
Observationum et curationum chirurgicarum centuriae VI, I. Bassel 1606:
IL Genf 1611; III. Basel 1614; IV. Basel 1619; V. Frankfurt 1627; VI. Lyon 1641.
Kurze Beschreibung der Fürtrefflichkeit Nutz- und Nothwendigkeit der Ana-
tomie, Bern 1624.
Pieter van Foreest (Pietrus Forestus) (1522—1597, Arzt
in Delft) ein ausgezeichneter Arzt, der namentlich die pathologisch-
anatomischen Verhältnisse der gewöhnlichen Krankheiten berück-
sichtigte. Seine Beobachtungen betrugen mehr als 1000.
Observationum et curationum medicinalium libri XXXII, Leyden 1587 — 1610;
Frankfurt 1602—1634; Frankfurt 1660.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 485
Observationum et curationum chirurgicarum libri XI, Leyden 1610.
Opera omnia, Frankfurt 1623; 1660—1661.
MartinWeinrich (Arzt in Breslau) schrieb über Missbildimgen.
De ortu monstrorum commentatio, 1595.
Reinert Solenander (1525—1596, Leibarzt des Herzogs
Wilhelm zu Cleve).
Consiliorum medicinalium sectioties V, Frankfurt 1596.
Ippolito Boschi (1540 — 1609 Arzt in Ferrara).
De facuUate anatomica per breves lectiones cum quibusdam Observation ibtis,
Ferrara 1600.
Alle diese pathologisch-anatomischen Befunde waren aber nur ge-
legentliche und entbehrten, abgesehen von den naturgemässen anatomi-
schen und physiologischen Mängelu. der systematischen Tendenz. Sieht
man z. B. in dieser Richtung das Werk von Schenck von Grafen-
berg, welches als das umfänglichste und beste dieser Zeit bezeichnet
werden muss, durch, so erkennt man auch hier, wie der sehr gelehrte
und sicherlich gewissenhafte Verfasser über die Anfänge einer wissen-
schaftlichen Klassifikation der Krankheiten noch kaum hinausgekommen
ist. In den 7 Bücheni, in denen die Krankheiten des Kopfes, der
Thoraxorgane, der Unterleibsorgane, der Genitalien und der äusseren
Teile, die Fieber und Infektionskrankheiten und die Gifte behandelt
werden, sind die sehr zahlreichen Beobachtungen teils nach der Ursache
der Erkrankung, teils nach den wesentlichsten Symptomen, mitunter
aber auch regellos angeführt. Dann war auch dieser Autor vielfach
noch von den abergläubischen Vorstellungen seiner Zeit beherrscht.
Immerhin trat doch in der Sammlung von Thatsachenmaterial das
Bestreben hervor, sich von den alten Ueberlieferungen und der
Scholastik frei zu machen und selbst zu beobachten und selbst zu
untersuchen.
I
Die pathologische Anatomie im 17. Jahrhunderte.
Im 17. Jahrhunderte wirkte in ähnlicher Weise fördernd auf die
athologische Anatomie wie im 16. Jahrhunderte die Begi'ündung der
Anatomie so jetzt die Begründung der Physiologie diu'ch William
Harvey (1578—1657, Arzt in London), dessen berühmte, die Ent-
deckung des Blutkreislaufes enthaltende Schrift : Exercitatio anatomica
de motu cordis et sanguinis in animalibus in Frankfurt a M. 1628 er-
schien (neueste Ausgabe Edinburgh 1824) und dessen nicht minder
bedeutungsvolles Werk: Exercitationes de generatione animalium
(London 1651, zuletzt Amsterdam 1674) durch den Nachweis des
Satzes: Omne vivum ex ovo die Grundlage der Embryologie wurde.
Weiter war von der grössten Bedeutung die Verwendung des
Mikroskopes für anatomische Zwecke durch Marcello Malpighi
(1628 — 1694. Professor der Medizin in Bologna, zuletzt päpstlicher
Leibarzt in Rom) und Anton van Leeuwenhoeck (1632 — 1723,
Privatgelehrter in Delft). Ersterer beobachtete 1661 zum erstenmal
den kapillaren Blutkreislauf an der Lunge und Harnblase des Frosches
und entdeckte 1665 die roten Blutkörperchen, letzterer entdeckte 1675
die Infusorien und die von ihm als Tiere angesehenen Bakterien. Beide
beschrieben ausserdem zahlreiche histologische Detailbefunde.
486 H. Chiari.
Marcello Malpighi, Opera, Land. 1686; Leyden 1687.
Opera posthuma, London 1697 ; Amsterdam 1698.
Anton van Leeuwenhoeckf Opera omnia 8. Arcana naturae ope exactissi-
morum microscopiorum detecta, Leyden 1722.
Es wurden immer mehr pathologisch-anatomische Be-
obachtungen gesammelt und zwar sowohl von den Anatomen
als von den Praktikern einschliesslich der Chirurgen.
Man wies auch schon von verschiedenen Seiten auf den Wert
pathologisch-anatomischer Untersuchungen hin und forderte geradezu
die Vornahme pathologischer Sektionen, so Francis Bacon de
Verulam (1561—1626, englischer Staatsmann und Philosoph) in
seinem Werke: De dignitate et augmentis scientiarum 1623, Jean
van Helmont (1577 — 1644, Arzt in Vilvorde bei Brüssel) in seinem
Ortus medicinae, i. e. initia phj^sicae inaudita. Progressus medicinae
novus, in morborum ultionem ad vitam longam, Amsterdam 1648 und
und namentlich Thomas Bartholinus (1616 — 1680, Professor der
Anatomie in Kopenhagen) in der Schrift De anatome practica ex cada-
veribus morbosis adornanda consilium, Kopenhagen 1674.
Von den Anatomen lieferten in ihren Werken pathologisch-
anatomische Beiträge
Pieter Pauw (Pavius) (1564 — 1617, Professor der Anatomie
in Lej^den).
Observationes anatoniicae selectiones, Kopenhagen 1617.
Jean Riolan filius (1580 — 1657, Professor der Anatomie in
Paris).
Anthropographia seu Anatomia, Paris 1626.
Encheiridium anatomicum et pathologicum, Paris 1648.
Adriaan van den Spieghel (Spigelius) 1578 — 1625 Pro-
fessor der Anatomie und Chirurgie in Padua).
De semitertiana lihri IV, Frankfurt 1624.
Opera quae extant omnia (ex rec. van den Linden), Amsterdam 1645.
Nlcolaas Tulp (1593—1674, Lektor der Anatomie in Amster-
dam).
Observationum medicarum libri IV, Amsterdam 1641.
Epistola de calculis in Beverwyck'' s Exercitationes in Hippocratis aphoris-
mos de calculo aufgenommen.
Johann von Beverwyck (1594 — 1647, Lehrer der Anatomie
in Dordrecht).
De calculo renum et vesicae, Leyden 1638.
Schat der ongezondheit ofte geneeskonst van de ziehten, Dordrecht 1641.
Domenico Panaroli (gest. 1657, Professor der Botanik und
Anatomie in Eom).
latrologismorum seu medicinalium observationum pentecostae quinque utilibus
praeceptis refertae, Rom 1652; Hanau 1654.
Thomas Bartholinus (bereits erwähnt).
Historiarum anatomicarum rariorum cent. I. et IL, Kopenhagen 1654; HI. et
IV. ibidem 1657; V. et VI ibidem 1661.
Cista medica Hafniensis, Kopenhagen 1662.
Epistolurum medicinalium cent. IV, Kopenhagen 1663 — 1667.
CasparBartholinusjun. (1655—1738, Professor der Anatomie
in Kopenhagen).
Observationes anatomicae et epistolae medicinales, Kopenhagen 1664.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 487
JohannVesling (1598 — 1649, Professor der Anatomie, Chirurgie
und Botanik in Padua).
Ohservationes anatomicae , Kopenhagen 1664: Idem et episfolae 7nedica,
Haag 1740.
Antonio Moline tti (gest. 1673, Professor der Anatomie und
Chirurgie in Padua).
Dissertationes anatomico-pathologicae, qtiibus humani corporis partes accura-
fissime describuntur, Venedig 1675.
Isbrand van Diemerbroeck (1609 — 1674, Professor der
Anatomie und Medizin in Utrecht).
Ohservationes et ciirationes medicinales, Utrecht 1685 (JEdidit filius).
Marcello Malpighi L c,
FredrikEuysch (1638 — 1731, Professor der Anatomie, Chirurgie
und Botanik in Amsterdam).
Ohservationum anatomico-chirurgicarum centuria, Amsterdam 1691: 1721; 1737.
Thesaurus anatomicus, Amsterdam 1701—1715.
Adversariorum anatomicorum medicorum et chirurgieorum decades III 1717
bis 1723.
Philippe Verheyen (1648 — 1710, Professor der Anatomie und
Chirurgie in Löwen).
Compendia theoriae practicae in IV partes distributa. Löwen 1688.
De febribus, Löwen 1692.
Anatomia corporis humani, Löwen 1693; Leipzig 1699; Brüssel 1710; 1726;
Leipzig 1731; Amsterdam 1731.
Guichard Joseph Du Verney (1648 — 1730, Professor der
Anatomie in Paris).
Traite de l'organe de l'ouie, contenant la structure, les usages et les maladies
de toutes les parties de Toreille, Paris 1683; 1718; Leyden 1731.
Traite des maladies des os, Paris 1751.
Unter den Praktikern sind in dieser Hinsicht besonders zu
nennen
JanvanHeurne (1543 — 1601, Professor der Medizin in Leyden).
De morbis pectoris, ed. fil. Otto Heumius, Lyon 1602.
Giulio Cesare Claudini (gest. 1618. Professor der Medizin
in Bologna).
Responsiones et consultationes medicinales, Venedig 1606; 1607; 1646; 1690;
Frankfurt 1608; Turin 1628.
Laelius Fönte (Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts
Arzt in Rom und Venedig).
Consultationes medicinales, Venedig 1608.
Jean Chifflet (gest. 1610, Arzt in Besangon).
Singulares ex curationibus et cadaverum sectionibus observationes, ed. fil. Jean
Chifflet, Paris 1612.
Henri Smet (1537 — 1614, Professor der praktischen Medizin in
Heidelberg).
Miscellaneorum medicorum libri XU, Frankfurt 1611.
Epifanio Ferdinandi (1569—1638).
Cenium historiae seu observationes et casus medici, omnes fere medicinae
partes cunctosque corporis humani morbos continentes, Venedig 1621.
488 H- Chiari.
Valerio Balduzio.
Tumorum curandorum methodus, Venedig 1612.
Pierre de la Poterie (Poterius) (Ende des 16., Anfang des
17. Jahrhunderts Arzt in Paris und dann in Bologna).
Observationum et curationum insignium centuriae HL Venedig 1615; Gent
1622; 1625; Bologna 1622.
Guiliölme Loyseau.
Obset-vations medicales et chirurgicales, Bordeaux 1617.
Charles Lepois (Carolus Piso) (1563—1633, Professor der
Medizin in Pont ä Mousson).
Selectiortim observationum et consiliorum de praeteritis hactenus morbis praeter
naturam ah aqua seu serosa colluvie ortis Über 1, Pont ä Mousson 1618; 1714;
Amsterdam 1768.
Antoine Saporta (gest. 1573, Professor in Montpellier).
De tumoribus praeter naturam libri V, Lyon 1624.
Philipp Hoechstetter (Ende des 16. und Anfang des 17. Jahr-
hunderts, Arzt in Augsburg).
Rariorum observationum medicinalium decades VL, Wien 1624 — 1627; Neue
Ausgabe von Johann PhHipp Hochstetter durch 4 weitere Decaden vermehrt, Frank-
furt und Leipzig 1674.
Gregor Horst (1578—1636, Professor der Medizin in Witten-
berg und Giessen, später Arzt in Ulm, genannt der „Deutsche
Aeskulap").
Observationum medicarum singularium libri IV, Ulm 1625; Nürenberg 1652.
Observationum medicarum singularium libri IV posteriores, Ulm 1628; Frank-
furt 166L
Daniel Senne rt (1572-— 1637, Professor der Medizin in Witten-
berg).
Medicinae practicae libri VI, Wittenberg 1628 — 1635.
Marco Aurelio Severino (1580 — 1656, Professor der Medizin
in Neapel).
De recondita abscessuum natura libri VIII, Neapel 1632; Frankfurt 1643;
1688; Fadua 1651; 1668; Leyden 1724; 1729.
Francesco Fabricio Bartoletti (1576—1630, Professor in
Bologna und Mantua).
Methodus in dyspnoeam s. de respirationibus libri IV cum synopsibus,
Bologna 1633.
Giovanni Battista C ort esi (1554— 1636, Professor der Ana-
tomie und Chirurgie in Bologna und Messina).
In universam chirurgiam institutio, Messina 1633.
Nicolaas Fonteyn (Fontanus) (erste Hälfte des 17. Jahr-
hunderts, Arzt in Amsterdam).
Responsionum et curationum medicinalium über I, Amsterdam 1637.
Philipp Salmuth (zweite Hälfte des 16. und erste Hälfte des
17. Jahrhunderts, Arzt in Dessau und Zerbst).
Observationum medicarum centuriae III, Braunschweig 1648.
Johann Peter Lotichius (1598— 1669, Professor der Medizin
in Einteln, Marburg und Herborn).
Consiliorum et observationum medicinalium libri VI, Ulm 1644; 1658.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 489
Abraham Zacuto (Zacutus Lusitanus) (1575 — 1642, Arzt
in Lissabon und Amsterdam).
Praxis medica admiranda, in qua exempla nova mirabilia circa morborum
caiisas et curationes continentur, Amsterdam 1634; 1636; 1639; Lyon 1643.
Epistola de calculo qui gignitur in cavitatibus renum non in substantia,
Leyden 1638.
Arnold Boot (1606—1653, Arzt in London).
Observationes medicae de affectihus omissis, London 1649: Sehnst. 1664.
Pierre ßorel (1620—1689, Arzt in Paris).
Historiarum et observationum medico-physic. centuriae IV, Cartres 1652;
Frankfurt 1670.
Francis Glisson (1597—1677, Arzt in London).
Anatomia hepatis, London 1654.
De rachitide, London 1656.
Cristopher Bennet (1617 — 1655, Arzt in London).
Tabidoriim theatrum s. phthiseos, atrophiae et hecticae xenodochium, London
1654 utid öfter.
Johann Daniel Horst (1616—1685, Arzt in Frankfurt a/M.).
Decas obsen'ationum et epistolarum anatomicarum, Frankfurt 1656.
Johann Rhode (1587 — 1659, Arzt in Padua).
Observationum medicinalium centuriae III, Padua 1657 ; Frankf. 1679.
Mantissa anatomica ad Th. Bartholinum, Kopenhagen 1661.
Johann Jacob Wepfer (1620 — 1695, Arzt in Schaflfhausen).
Observationes anatomicae ex cadaveribus eorum, quos sustulit apoplexia cum
exercitatione de loco ejus adfecto, Schaffhausen 1658: 1675; Amsterdam 1681;
1710; 1724.
Observationes medico-pi'acticae de affectibus capitis internis et externis, Schaff-
hausen 1727: Zürich 1745.
Historia anatomica de pueUa sine cerebro nata, Schaffhausen 1665.
Jacob de Bondt (Jacobus Bontius) (1598 — 1631, Arzt in
Batavia).
Observationes selectae ex dissectione cadaverum ac autopsia descriptae, Amster-
dam 1658.
Paul Barbette (gest. 1666, Arzt in Amsterdam).
Anatomia practica, Amsterdam 1659.
ConradVictorSchneider (1614 — 1680. Professor der Medizin
in Wittenberg).
De catarrhis lihri Y, Wittemherg 1660; 1662.
Walter Charlton (1619—1707, Arzt in London).
Exercitationes pathologicae ; in quibus morborum pene omnium natura, generatio
et causae ex novis anatojnicorum inventis sedulo inquiruniur, London 1660.
Baldassar Timaeus von Gyldenklee (gest. 1667, preussi-
scher Leibarzt).
Casus medicinales et observationes practicae 36 annorum, Leipzig 1662.
Pietro de Marchetti (1593 — 1673, Professor der Chirurgie
in Padua).
Observationum medico-chirurgicarum rariorum sylloge, Padua 1664; Amster-
dam 1665; 1675; London 1729.
Heinrich von Moinichen (um die Mitte des 17. Jahrhunderts,
Arzt in Kopenhagen).
490 H. Chiari.
Ohsei-vationes medico-chirurgicae, Kopenhagen 1665; 1678; Frankfurt 1679;
Dresdeyi 1091.
Thomas Willis (1622—1675, Arzt in London).
Pathologia cerehri et nervosi generis, in qua agitur de mortis convuhivis et
de scorbuto, Oxford 1667; Amsterdam 1608; 1070; Leyden 1071; London 1078.
Job Janszoon van Meek'ren (gest. 1666, Arzt (Chirurg) in
Amsterdam).
Heel-en geneeskonstige aanmerkingen, Amsterdam 1008; Haag 1673; deutsch
Nürnberg 1675; latein. Amsterdam 1682; Rotterdam 1730.
Eichard Lower (1631 — 1691, Arzt in London).
Tractatus de corde item de motu et calore sanguinis et chyli in eum transitu,
London 1669 und öfter.
JohannRudolfSalzmann (1573 — 1656, Professor der Medizin
in Strassburg).
Varia observata anatomica, ed. Th. Wynands, Amsterdam 1669.
Eaimondo Giovanni Forti (1603 — 1678, Professor der Me-
dizin in Venedig).
Consultationum et responsionum medicinalium centuriae IV, Padua 1669;
1678; Genf 1677.
Nicolas Chesneau (geb. 1601, Arzt in Marseille).
Observationum medicinalium libri V, Paris 1671.
Thomas Burnet (Arzt in London).
Thesaurus medicinae practicae ex praestantissimorum medicorum obse7'vationi-
bus collectus, London 1672 und öfter.
Friedrich Loss (in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts Arzt
in Dorchester).
Observationum medicinalium libri IV, London 1672.
Consiliorum sive de morborum curationibus Über posthumus, London 1684;
Leipzig 1685.
Johann Nicolaus Binninger (geb. 1628, Professor der
Medizin in Mumpelgard).
Observationum et curationum medicinalium centuriae V, Mumpelgard 1673.
Justus Schrader (geb. 1646, Arzt in Amsterdam).
Quatuor decades observationum anatomico-medicinarum, Amsterdam 1674.
Wolfgang Hoefer (1614 — 1681, Arzt in Straubing, Linz, Raab
und Wien).
Herculis medici sive locorum communium medicorum tomus I, Wien 1657;
1664; Nürnberg 1666; 1675.
Gerhard Blaes (Blasius) (gest. 1682, Professor der Medizin
in Amsterdam).
Observata anatomico-practica in homine et brutis variis. Acc. Extraordinaria
in homine reperta, Leyden 1672.
Observationes medicae rariores, Amsterdam 1677.
Reinier de Graaf (1641—1673, Arzt in Delft).
Opera omnia, Leyden 1674; London 1678; Amsterdam 1701; 1705; deutsch
Leipzig 1752.
Johann Conrad Peyer (1653 — 1712, Arzt in Schaffhausen).
Methodus historiarum anatomico-medicarum, Paris 1678.
Parerga anatomica et medica, Genf 1681.
Greschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 491
Franz de le Boe Sylvius (1614 — 1672. Professor der Medizin
in Leyden).
Casus meäici ed. Joach. Merclinus, Utrecht 1679.
Opera omnia, Amsterdam 1679; zuletzt Venedig 1736.
Eberhard Gockel (1636—1703, Stadtarzt in Ulm).
Consiliorum et observationum medieinalium decades VI, Wien 1682.
Gallicinium medico-practicum s. observationum et curatiomim novarum cen-
turiae II, Ulm 1700; 1702; 1722.
Francesco Redi (1626—1694, Professor der Medizin in Pisa).
Osservazioni intorno agli animali viventi, che si trovano negli animali viventi,
Florenz 1684.
Osservazioni intonno alle vipere, Florenz 1664; Paris 1666; Florenz 1686.
Raymond de Vieussens (1641 — 1716, Arzt in Montpellier
und Paris).
Novum vasorum corporis humani systema, Amsterdam 1705.
Nouvelles decouvertes sur le coeur, Toulouse 1706.
Traite nouveau de la strukture et des causes du mouvemetit du coeur,
Toulouse 1715.
Histoire des maladies internes, Toulouse 1774 — 1775, 4 '^ol.
Samuel Collins (1618—1710, Arzt in London).
A System of anatomy treating of the body of man, beasts, birds, fishes, insects
and plants with its diseases, cases and eures, London 1685, 2 Vol.
Johann Jacob Härder (1656 — 1711, Professor der Medizin
in Basel).
Apiariuyn observatianibus medicis centum ac physicis experimentis refertum,
Basel 1687.
Paeonis (Härder) et Pythagorae (Peyer) exercitationes anatomicae et medicae
familiäres bis quinquaginta, Basel 1687.
Cornelis Stalpart van der Wiel (1620—1687, Arzt in
Haag).
Observationes rariores medicae, anatomicae et chirurgicae, 2 Vol., Leyden
holländ. 1682 und 1686; latein. 1687; 1727.
Johannes von Muralt (1645 — 1733, Arzt in Zürich).
Anatomisches Collegium, in welchem alle Theile des Leibes zusammt den Krank-
heiten, welchen sie unterworfen, beschrieben werden, Nürnberg 1687.
Curationes medicae observationihus et experimentis anatomicis mixtae, Amster-
dam 1688.
Eichard Morton (1635 — 1698, Arzt in London).
Phthisiologia seu exercitationes de phthisi libri III, London 1689; Frank-
furt und Leipzig 1691; Genf 1696; Ulm 1714; engl. London 1694: 1720: deutsch
Helmstädt 1780.
Veit Ri edlin (1628—1668, Ai-zt in Ulm).
Observationum medicarum centuriae tres, Wien 1691.
Veit Riedlin filius (1656—1724, Arzt in Augsburg).
Observationum medicarum centuria L, Wien 1682 ; IL, Ulm 1721.
Patavinarum observationum medicarum centuriae III, Wien 1691.
Johannes Nicolaas Pechlin (1644 — 1706, Professor der
Medizin in Kiel).
Observationum physico-medicarum libri tres, Hamburg 1691.
Martin Lister (1638 — 1711, Arzt zu York und London, Leib-
arzt der Königin Anna;.
492 ' H. Chiari.
Exercitationes medicinales sex de morbis quibusdam chronicis, London 1694;
Frankfurt 1696; Genf 1696.
William Cowper (1666—1709, Arzt in London).
Anatomy of human body with figures drawn öfter the life, Oxford 1697;
Leyden 1787) lat. Leyden 1739.
Rosinus Linsenbahrt (Lentilius) (1657 — 1733, Leibarzt
des Markgrafen von Baden-Durlach).
Miscellanea medico-practica, Ulm 1698.
Ehren fr iedHagendorn (1640—1692, Arzt in Görlitz).
Observationum et historiarum medico-practicarum rariorum centuriae tres,
Rudolstadt 1698; Görlitz 1698.
Guiseppe Lanzoni (1665 — 1730, Professor der Medizin in
Ferrara).
Animadversmies variae ad medicinam, anatomiam et ckirurgiam maxime
facientes, Ferrara 1688.
Giovanni Battista Fantoni (1652 — 1692, Professor der
Medizin in Turin und Leibarzt des Herzogs Victor Amadeus IL von
Savoyen). •
Observationes anatomico-medicae selectiones, Turin 1699; Venedig 1713.
Aus diesem Jahrhunderte besitzen wir auch bereits eine ziemliche
Zahl von Spicilegien, die überwiegend oder fast ausschliesslich
der pathologischen Anatomie gewidmet sind.
Als solche sind zu nennen:
die Sylloge curationum et observationum medicinaliuni centurias VI com-
plectens cum notis ejusdem et episagmatiim centuria I, Ulm 1668 von Georg
Hieronymus Welsch (1624 — 1677, Arzt in Augsburg), der nebst anderem auch
eine Abhandlung über den Medinaivurm schrieb. Exercitatio de vena medinensi,
Augsburg 1674,
das Spicilegiuni anatomicum, continens observationum anatomicarum rariorum
cenfuriam unam nee non osteogenesin foetuum, in qua quid cuique ossiculo singulis
accedat mensibus, quidque decedat et in eo per varia immutetur tempora, accura-
tissime oculis subjicitur, Amsterdam 1670; 1673 von Theodorus Kerckring
(1640 — 1693, Arzt in Amsterdam),
das Sepulchretum anatomicum sive anatomia piractica, ex cadaveribits niorbo
denatis proponens historias et observationes omnium pene humani corporis affectuum,
ipsorumque causas reconditas revelans, quo nomine tam pathologiae genuinae quam
nosocomiae orthodoxae fundatrix imo medicinae veteris ac novae jjromptuarium dici
meretur, 2 Bände, Genf 1679; 1700 (ed. Hanget); Leyden 1709 (ed. Hanget) von
TJieopJiüe Bonet (1620 — 1689 Leibarzt des Herzogs von Longueville und Fürsten
von Neufchätel),
die Anatomia practica rationalis seu variorum cadaverum morbis denatorum
anatomica inspectio, Amsterdam 1688 von Steven Blankaart (1650—1702 Arzt
in Amsterdam) und
die Bibliotheca medico-practica sive rerum medicarum thesaurus cumulatissimus,
quo omnes prorsus humani corporis niorbosae a/fectiones tum artem medicam in
genere tum chirurgiam in specie spectantes ordine alphabetico explicantur et per
curationes, consilia, observationes ac cadaverum inspectiones anatomicas tam hinc
inde proprias, quam a variis iisque praestantissimis authoribus, veteribus et recen-
tioribus petitas abunde imo et curiose tractantur, 4 Vol., Genf 1695 — 1697 von
Jean Jacques Manget (1652 — 1742 Arzt in Genf).
Es wurde auch schon von Giovanni Guglielmo Riva (1627 —
1677, Arzt in Rom und päpstlicher Leibarzt) in Rom eine Gesellschaft
für pathologische Anatomie gegründet und im Ospedale della con-
solazione ein pathologisch-anatomisches Museum aufgestellt.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 493
Leistungen auf dem Gebiete der pathologischen Anatomie
im 17. Jahrhunderte.
Dieselben beschränkten sich auch in diesem Jahrhunderte ganz
und gar auf die Sammlung von pathologisch-anatomischen Beobach-
tungen, von denen manche recht bedeutungsvoll waren, viele aber
irrig oder höchst abenteuerlich genannt werden müssen.
Zu den ersteren gehören die pathologisch - anatomischen Be-
merkungen über In t er mit tens- Veränderungen von van den
Spieghel. über Rachitis von Boot und Glisson, über Krank-
heiten des Herzbeutels (Verwachsungen. Hydrops und Pericarditis)
von de Vieussens. über Lunge nphthise (Ableitung derselben
von dem Zerfalle von Tiiberkelherden in der Lunge) von de le Boe-
Sylvius, die erste Angabe über den Croup von Bennet, der erste
Nachweis der Vernarbung apoplektischer Hirnherde von
Wepfer, die erste Beschreibung des Kretinismus von Hoefer,
die Zurückführung der Scabies auf Parasiten von Redi und die
ungemein wichtige Feststellung der Thatsache, dass der Schleim bei
Katarrhen der Nase nicht vom Gehirn stamme, wie man bis dahin
geglaubt hatte, sondern von der Nasenschleimhaut secerniert wird,
durch Schneider.
Irrig war die Lehre von der Serosa colluvies von Lepois,
der in der bei Sektionen häufig gefundenen serösen Flüssigkeits-
ansammlung in den Körperhöhlen die Ursache vieler Krankheiten ent-
deckt zu haben glaubte und höchst abenteuerlich die astrologische
Verwertung von Sektionsbefunden durch Chifflet.
Die Spicilegien bedeuteten jedenfalls einen Fortschritt, indem
damit die systematische Zusammenstellung einer grösseren Zahl von
pathologisch - anatomischen Sektionsbefunden allgemeiner eingeführt
wurde. Von geringer Bedeutung ist das von Welsch, der 600 Be-
obachtungen von Marcellus Cumanus, Jeremias Martins, Achilles Gasser,
Joannes üdalricus Rumler und Hieronymus Reusner sammelte und
über 100 eigene Krankheitsfälle berichtete, wichtiger sind die von
Ke rekring und Blankaar t, sehr bedeutungsvoll müssen die von
Bon et und Manget genannt werden.
Kerckring sammelte an 100 eigene anatomische Beobachtungen
teils normal-anatomischer, teils pathologisch-anatomischer Natur. In
den ersteren werden die Valvulae conniventes des Dünndarmes und
die Valvulae venarum sowie die Osteogenese, in den letzteren der
Verschluss des Pylorus durch eine Münze, ein Fall von Cranio-Rhachi-
schisis, ein angeborener Herzfehler und die ganz richtig als Leichen-
erscheinung aufgefassten „Herzpolypen" beschrieben.
Blankaart publizierte 200 durchwegs aus seiner eigenen Be-
obachtung stammende Sektionsbefunde mit den zugehörigen Kranken-
geschichten und Epikrisen. Manches, wie z. B. zahlreiche Verletzungen,
Tuberkulose der Lungen, Carcinoma uteri und Dermoidcysten des
Ovariums sind dabei ganz anschaulich geschildert, stellenweise findet
sich aber auch Unrichtiges und Abenteuerliches.
Das Sepulchretum von Bonet brachte eine vollständige Samm-
lung des vom 16. Jahrhunderte an publizierten pathologisch-ana-
tomischen Materiales und werden darin 470 Autoren erwähnt. Die
Anordnung der Beobachtungen erfolgte nach den Symptomenkomplexen
494 H. Chiari.
und nicht nach den anatomischen Veränderungen. Im ersten Buche
werden die Krankheiten des Kopfes, im zweiten die des Thorax, im
dritten die des Unterleibes und im vierten verschiedene sonstige
Krankheiten wie die Fieber, Geschwülste, Verletzungen, Arthritis,
Lues etc. abgehandelt. Ihre Gesamtzahl beträgt 2934, von denen
jedoch nur sehr wenige von Bon et selbst stammen. Häufig wurden
normale Befunde als etwas Pathologisches angesehen und umgekehrt
und wurde auch vielfach falschen Theorien gehuldigt. Nichtsdesto-
weniger ist das Sepulchretum sehr wertvoll, weil es, wie schon H a 1 1 e r
bemerkte, für sich eine Art Bibliothek auf pathologisch-anatomischem
Gebiete darstellt.
Bonet publizierte dann noch ähnliche Sammlungen unter dem
Titel: Medicina septentrionalis collatitia, 2 Bände, Genf 1684 — 1686
und Polyalthes sive Thesaurus medico-practicus, Genf 1690; 1691.
Das Werk von Hanget bringt auf 4397 Grossfolioseiten in
alphabetischer Reihenfolge eine Abhandlung über sämtliche Krank-
heiten und zwar in der Art, dass für dieselben ausser klinischen und
therapeutischen Erörterungen auch Observationes angeführt werden,
welche vielfach pathologisch-anatomische Befunde enthalten. Die Fälle
stammen teils aus der Litteratur, teils von Manget selbst. Allge-
meinere Gesichtspunkte werden auch hier vollkommen vermisst.
Die pathologische Anatomie im 18. Jahrhunderte.
Im 18. Jahrhunderte begann die pathologische Anatomie ein
grosses und wichtiges Fach der Medizin zu werden und eine ihr aus-
schliesslich zukommende Litteratur zu besitzen. Es erwachte immer-
mehr das Bestreben, durch fleissige pathologisch-anatomische Unter-
suchungen das wesentliche Substrat der während des Lebens be-
obachteten Krankheitsvorgänge zu erkennen. Wenn auch zwischen
den einzelnen pathologisch-anatomischen Befunden vielfach noch keine
rechte Verbindung bestand, so wurde doch ihre Erforschung zu einer
wichtigen Grundlage der praktischen ärztlichen Thätigkeit.
Eine ganze Reihe von Autoren beschäftigte sich mit der Frage
der Bedeutung der pathologischen Anatomie für die praktische Medizin
häufig unter Hinweis auf die bei dieser Art der Forschung zu be-
achtenden Kautelen, so:
Friedrich Hoff mann (1660 — 1742, Professor der Medizin in
Halle).
De a^mtomes in praxi medica usu, Halle 1707.
Christian Bernard Albinus (1696—1752, Professor der
Medizin in Utrecht).
De anatome errores detegente in medicina oratio, Utrecht 1723.
Abraham Vater (1684—1751, Professor der Anatomie in
Wittenberg).
De anatomes utilitate in eruendis causis occultis morborum vel mortis subi-
taneae 1723.
Gerhard Andreas Müller (1718 — 1762, Professor in Giessen).
De utilitate anatomiae practicae, Giessen 1753.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 495
Carlo Gianella (geb. zu Anfang des 18. Jahrhunderts, Pro-
fessor der Medizin in Padua).
Non semper ex cadaverum sectione colligi potest, rectene aut perperam sit
curatio morhorum instituta, Padua 1755.
Paul S'Graeuwen.
Oratio de anatomiae pKithologicae utüitate et necessitate, Groningen 1771.
Eduard Saudi fort (1742 — 1814, Professor der Anatomie und
Chirurgie in Leyden).
Oratio de circumspecto cadaverum examine, optimo practicae medicinae ad-
miniculo, Leyden 1772.
Christoph Salomon Schinz(1764 — 1847, Arzt und Professor
der Physik in Zürich.)
De cauto sectionum cadaverum usu ad dijudicandas morhorum causas,
Göttingen 1786.
Daniel Gottlieb Silbermann.
De promovendis anatomiae pathologicae administrationibus, Malle 1790.
Es entstand eine spezifisch pathologisch-anatomische
Litte ratur, an welcher sich hauptsächlich die Italiener, Franzosen
und Niederländer beteiligten.
Unter den Italienern war es namentlich Giovanni Battista
Morgagni (1682 — 1771, Professor der Anatomie in Padua), der durch
sein berühmtes Werk: De sedibus et causis morborum per anatomen
indagatis libri Y, Venedig 1761 und öfter; bequemste Ausgabe Leipzig
ed. Justus Eadius 1827 — 1829, 6 Vol. der eigentliche Begründer der
pathologischen Anatomie des Menschen wurde. Morgagni stellte
es sich darin zur Aufgabe, durch sorgfältige Vergleichung der während
des Lebens beobachteten Krankheitserscheinungen mit den anatomischen
Befunden ein möglichst vollständiges Bild der krankhaften Vorgänge
zu gewinnen. Die Anordnung der Beobachtungen geschah nach den
Symptomen. Jedes der 5 Bücher zerfällt in eine Reihe von Briefen
und jeder Brief wieder in einzelne Artikel. In dem 1. Buche (1. — 14.
Brief) werden die Krankheiten des Kopfes, in dem 2. Buche (15. — 27.
Brief) die Krankheiten des Thorax, in dem 3. Buche (28. — 48. Brief)
die Krankheiten des Bauches und in dem 4. Buche (49.-59. Brief)
allgemeine und chirurgische Krankheiten, Fieber, Geschwülste, chirur-
gische Zufälle, Syphilis nud Vergiftungen abgehandelt. Das 5. Buch
(60. — 70. Brief) enthält Zusätze zu den früheren Büchern. Stets werden
die Symptomenkomplexe an die Spitze gestellt, diesen folgen Kranken-
geschichten mit Sektionsberichten und den Sctiluss bildet eine kritische
Besprechung mit Berücksichtigung der Litteratur. Eine zusammen-
hängende Darstellung der einzelnen pathologisch-anatomischen Ver-
änderungen wird aber nicht gegeben.
Das Werk Morgagnis ist daher kein Handbuch der pathologischen
Anatomie im modernen Sinne, sondern wie Ha es er (IL Bd. p. 625)
ganz richtig sagt, ein „Repertorium von pathologisch-anatomischen Er-
läuterungen der medizinischen Symptomatologie". Die Beobachtungen
rühren teils von Valsalva und anderen mit Morgagni befreundeten
Aerzten, zum grössten Teil aber von Morgagni selbst her. Wenn
auch gewiss die Arbeit Morgagnis ungemein verdienstvoll war und
durch ihn der anatomische Sitz der Krankheiten zur Anerkennung ge-
bracht wurde, so gelangte er doch bezüglich der Ursachen und des
496 H. Chiari
Wesens der Krankheiten zu relativ geringen Erkenntnissen. Vielfach
verwechselte er auch noch Leichenerscheinungen mit pathologischen
Veränderungen und verfügte auch nicht über eine systematische
Sektionstechnik.
Litteratur über Morgagni:
Falk, Die pathologische Anatomie und Physiologie des Johann Baptist
Morgagni, Berlin 1887.
Rudolf Virchow, Rede auf dem internationalen medicinischen Congresse in
Rom 1884.
Unter den Franzosen beschäftigten sich besonders mit patho-
logischer Anatomie Pierre ßarrere, Joseph Lieutaud und
Felix Vicq d'Azyr.
Pierre Barrere (gest. 1755, Arzt in Cayenne, dann Professor
der Medizin in Perpignan).
Derselbe teilte in seiner Schrift:
Observntions anatomiques, tirees des ouvertures d'un grand nombre des cadavres,
propres ä decouvrir les causes de maladies et leurs remedes, Perpignan 1751; 1771,
eine grosse Zahl von pathologisch-anatomischen Befunden in von ihm
klinisch beobachteten Fällen mit, die aber vielfach sehr unvollkommen
geschildert und unrichtig gedeutet wurden. Auch verwechselte er
häufig postmortale Veränderungen mit pathologischen Zuständen.
Ziemlich gut sind seine Beschreibungen von Lungenemphysem, granu-
lärer Lungentuberkulose und grüner Eiterung.
Joseph Lieutaud (1703—1780, Leibarzt Ludwig XV, und
Ludwig XVI.) veröffentlichte auf Grund der Untersuchung von 1200
im Krankenhause zu Versailles ausgeführten Sektionen und zahlreicher
Litteraturangaben seine
Historia anatomico-medica, sistens numerosissima cadaverum humanorum extis-
picia quibus in apriciim venit genuina morborum sedes, horumque reserantur caussae
vel patent effectus, Paris 1767 (ed. Portal); Gotha und Langensalza 1787 — 1803
(ed. Schlegel),
in welcher die pathologisch-anatomischen Veränderungen des mensch-
lichen Körpers zum erstenmal nicht nach den Symptomenkomplexen
sondern nach den Organen geordnet erscheinen. Dieses Werk reicht
aber bei weitem nicht heran an das von Morgagni, da die
Schilderungen vielfach als höchst ungenau bezeichnet werden müssen.
Felix Vicq d'Azyr (1748 — 1794, Leibarzt der Königin Marie
Antoinette) schrieb in der von ihm herausgegebenen medizinischen
Encyclopedie methodique 1789 eine ziemlich umfassende Anatomie
pathologique.
Unter den Niederländern nimmt die erste Stelle ein Eduard
Sandifort (1742 — 1814, Professor der Anatomie und Chirurgie in
Leyden).
Seine Werke:
Observationes anatomico-pathologicae, Leyden 1777 — 1784, IV Libri,
Exercitationes anatomico-academicae, II Libri, Leyden 1783—1785 und
Museum anatomicum Academiae Lugduno-Batavae descriptum, Leyden 1793 —
1835^ IV Volum. (IIL et IV. Vol. ed. Gerard Sandifort)
enthalten eine grosse Zahl sorgfältiger pathologisch-anatomischer Be-
obachtungen mit zum Teile recht guten Abbildungen und gehören zu
den bedeutendsten Erscheinungen auf dem Gebiete der pathologischen
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 497
Anatomie im 18. Jahrhunderte. Cruveilhier nennt Eduard
Sandifort den Vater der pathologischen Ikonographie.
Gute pathologisch-anatomische Beobachtungen machten auch
Peter Camper (1722 — 1789, Professor der Anatomie und
Chirurgie in Franeker, Amsterdam und Groningen).
Demonstrationum anutomico-pathologicarum libri 11, Amsterdam 1760 — 1762,
namentlich wichtig für die Lehre von den Hernien (Erste Beobachtung
der Hernia ischiadicaj und die beiden van Doeveren, Vater und
Sohn.
Walther van Doeveren (1730 — 1783, Professor der Medizin,
Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe in Groningen und Leyden).
Specimen ohservationum academicarum ad monstrorum historiam, anatomen.
pathologiam et artem ohstetriciae praedpue spectantiimi, Gh-oningen und Leyden 1765.
Antonie Jacob van Doeveren (1763 — 1805, Arzt in
Groningen).
Observationes pathologico-anatomicae, Leyden 1789.
Bei den Engländern enthielten die einschlägigen Schriften von
Samuel Glossy
Observations on some of the diseases of human body, cliiefly taken from the
dissections of morbid bodies, London 1763
und Richard Browne Cheston (Arzt in Glocester)
Pathological observations and inquiries in surgery from the dissection of
■morbid bodies, Glocester 1766
nur vereinzelte zum Teile gut geschilderte und richtig aufgefasste
pathologisch-anatomische Befunde und trat erst zum Ende des 18. Jahr-
hunderts ein allerdings sehr hervorragender Forscher auf dem Gebiete
der pathologischen Anatomie hervor, nämlich M a t h e w B a i 1 1 i e , ein
Schüler John Hunters (1761 — 1823, Ai"zt in London und Leibarzt
des Königs).
Auf gründliche Kenntnisse in der normalen Anatomie gestützt,
verlegte er sich mit grösstem Erfolge auf die pathologische Anatomie
und sammelte ein reichhaltiges pathologisch - anatomisches Museum,
welches er kurz vor seinem Tode samt 400 Pfund zur Erhaltung
desselben dem College of Physicians in London vermachte. Viele
Jahre hindurch hielt er auch sehr frequentierte anatomische Vor-
lesungen, in w^elchen er die pathologische Anatomie besonders berück-
sichtigte.
Seine Werke sind:
The morbid anatomy of some of the most important parts of the human body,
London 1793; 1807; 1812; 1815; 1818; deutsch von Sömmering, Berlin 1794; 1815: 1818
und A series of engravings, accompanied icith explanations, ichich are intended
to illustrate the morbid anatomy of some of the most important parts of the human
body, London 1799—1802, 10 Fase; 1812, 10 Fase.
In Deutschland wurde die pathologische Anatomie weit weniger
getrieben. Immerhin erschienen in Deutschland in diesem Jahrhunderte
ausser den der pathologischen Anatomie gewidmeten, auf der Sektion
von 50 im • Armenhause zu Wien verstorbenen Individuen basierenden
Observationes medicae incisionibus cadaverum anatomicis illustratae, Frei-
burg 1762
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 32
498 H. Chiari.
von Joseph Lambert Baader (Mitte des 18. Jahrhunderts, Pro-
fessor der Materia medica, Botanik und Chemie in Freiburg i/Br.)
und den
Obsercationes anatomo-pathologicae, Königsberg 1787
von Johann Daniel Metzger (geb. 1739, Professor der Medizin
in Königsberg) das erste Kompendium der pathologischen Anatomie
von Johann Moritz Hofmann (1653 — 1727, Professor der Ana-
tomie, Chemie und Botanik in Altdorf)
Disquisitio corporis humani anatomico-pathologica rationibus et observationibua
veterum et recentiorum singulari studio collectis confirmata, Altdorf 1713,
dann 1785 das erste Lehrbuch der pathologischen Anatomie, in welchem
in gedrängter Kürze die pathologisch-anatomischen Veränderungen der
einzelnen Organe auf Grund von Litteraturan gaben der Reihe nach
beschrieben werden, von Christian Friedrich Ludwig (1751 —
1823, Professor der Medizin in Leipzig)
Primae lineae anatomiae pathologicae, Leipzig 1785
und 1796 ein Handbuch der pathologischen Anatomie in deutscher
Sprache von Georg Christoph Conradi(1767 — 1798, Stadtarzt in
Nordheim)
Handbuch der pathologischen Anatomie, Hannover 1796.
Diese Werke sind aber im wesentlichen nur Kompilationen und
wurde durch sie keine neue Richtung gegeben.
1791 — 1792 publizierte dann noch Johann Leonhard Fischer
(1760 — 1833, Professor der Anatomie und Chirurgie in Kiel) eine An-
weisung zur praktischen Zergliederungskunst, 2 Teile. Leipzig, in
welcher auch die Bedürfnisse der pathologischen Anatomie berück-
sichtigt werden und die Anfertigung pathologisch-anatomischer Prä-
parate berührt wird.
Ungemein zahlreich sind dann in diesem Jahrhunderte die patho-
logisch - a n a t o m i s c h e n B e fu n d e , welche sich in denAVerken
der Anatomen und der Praktiker vorfinden.
Die Anatomen, die sich ja zumeist auch in der praktischen
Medizin bethätigten, teilten einerseits gelegentlich auch pathologisch-
anatomische Beobachtungen mit, andererseits arbeiteten sie speziell
auf einzelnen Gebieten in pathologisch-anatomischer Richtung.
Zu den ersteren gehörten:
Govert Bidloo (1649 — 1713, zuerst Lektor der Anatomie und
Chirurgie, dann Professor der Medizin und Chirurgie in Leyden).
Exercitationum anatomico-chirurgicariim decades III, Leyden 1/04 — 1708.
Antonio Maria Valsalva (1666 — 1723, Professor der Ana-
tomie in Bologna).
De aure hunmno tractatus, in quo integra ejusdem fabrica multis novis in-
ventis et iconismis ilhistrata describitur, Bolog^m 170.5; Utrecht 1707.
Johann Salzmann (1672 — 1738, Professor der Anatomie,
Chirurgie und Pathologie in Strassburg).
Specimen anatomiae curiosae et utilis, Strassburg 1709.
De ossificationibus p^-aeternaturalibus, ibidem 1720.
Observationum decas, ibidem 1725.
Johannes Palfyn (1650—1730, Professor der Anatomie und
Chirurgie in Gent).
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 499
Heelkonstige ontleeding van's menschen lichaam, Leyden 1710 ; franz. Paris 1726 ;
deutsch Leipzig 1717 ; Frankfurt und Leipzig 1760.
Adam Brendel (gest. 1719, Professor der Anatomie und Medizin
in Wittenberg).
Observationum anatomicarum decades III, Wittenberg 1715 — 1718.
Giovanni Battista Bianchi (1681 — 1761. Professor der
Anatomie, Chemie und Medizin in Turin).
Historia hepatica seu de hepatis structura usibiis et niorbis, opus anatomicum,
physiologicum et pathologicum, Turin 1710: 1716; Genf 1725.
De naturali in humano corpore vitiosa morbosaque generatione historia,
Turin 176L
Lorenz Heister (1683 — 1758, Professor der Anatomie und
Botanik in Altdorf, dann Professor der Chirurgie und Botanik in
Helmstädt).
Chirurgie, Xürnberg 1718 und öfters; auch vielfach übersetzt.
Medicinisch-chirurgische tmd anatomische Wahrnehmungen, Rostock 1759; 1770.
Giovanni Domenico Santorini (1681 — 1737, Professor der
Anatomie in Venedig).
Observationes anatomicae, Venedig 1724.
Heinrich Bass (1690 — 1754, Professor der Anatomie und
Chirurgie in Halle).
Observationes anatomico-chirtirgico-medicae, Halle 1731.
Antonio Yallisnieri (1661 — 1730, Professor der Anatomie
in Padua).
Opere fisico mediche, ed. filius, Venedig 1733.
Giovanni Fantoni (1675 — 1758, Professor der Anatomie und
[edizin in Turin).
Opuscula medica et physiologica, Genua 1738.
Philipp Conrad Fabricius (1714 — 1774, Professor der Ana-
)niie, Physiologie und Pharmacie in Helmstädt).
Idea anatomiae practicae exhibens modum cadavera humana rite secanda,
Wetzlar 1741; Halle 1774; deutsch Kopenhagen 1776.
Sylloge observationum anatomicarum, Helmstädt 1759.
Theodor Gerhard Timmermann (1727 — 1792, Professor der
latomie in Rinteln).
De notandis circa naturae in humana machina lusv^, Duisburg 1750.
Philipp Adolf Böhmer (1717 — 1789, Professor der Anatomie
Berlinj.
Observationum anatomicarum rariorum fascictilus 1. et IL, Halle 1752 — 1756.
Pietro Tabarrani (1702—1780, Professor der Anatomie in
iena).
Observationes anatomicae, Lucca 1753.
Albrecht von Haller (1708 — 1777, Professor der Anatomie,
Botanik und Chirurgie in Göttingen).
Opuscula pathologica, Venedig, Lausanne, Neapel 1755; Lausanne 1768.
Johann Jacob Huber (1707 — 1778, Professor der Anatomie
und Chirurgie in Cassel).
Observationes anatomicae^ Cassel 1760.
Aninuidversiones anatomicae, Cassel 1763.
32*
600 . H. Chiari.
Carl Caspar von Siebold (1736—1807, Professor der Ana-
tomie, Chirurgie und Geburtshilfe in Würzburg).
Collectio observationnm medico-chirurgicarum, Bamberg 1769.
Christoph Theophil Büttner (1708—1776, Professor der
Anatomie in Königsberg).
In vielen Jahren gesammelte anatomische Wahrnehmungen, Königsberg 1769.
Christian Gottlieb Ludwig (1709—1773, Professor der
Anatomie, Chirurgie und praktischen Medizin in Leipzig).
Adversaria medico-practica, Leipzig 1769 — 1772, 3 Vol.
Johann Gottlieb Walter (1734—1818, Professor der Ana-
tomie in Berlin).
Observationes anatomicae, Berlin 1775; deutsch Berlin 1782.
Paul Christian Friedrich Werner (1751 — 1785, Prosektor
der Anatomie in Leipzig).
Observata quaedam in morbis et sectionibus cadaverum humanorum. Leipzig 1776.
Verminum intestinaliiim brevis expositio, Leipzig 1782 — 1788 ed. Fischer.
GeorgProchaska (1749 — 1820, Professor der Anatomie, Augen-
heilkunde und Physiologie in Prag und Wien).
Adnotationes academicae continentes abservationes et descriptiones anatomicas,
Prag 1780—1784, 3 Fase.
Opera minoria anatomici, physiologici et pathologici argumenti, . Wien 1800,
2 Vol. (im 2. Bande eine 2. Ausgabe der Adnotationes),
Johann Christian Andreas Mayer (1747 — 1801, Professor
der Anatomie und Botanik in Berlin).
Beschreibung des ganzen menschlichen Körpers, Berlin und Leipzig 1783 — 1794,
8 Theile.
Heinrich August Wrisberg (1739 — 1808, Professor der
Anatomie und Geburtshilfe in Göttingen).
De systemate vasorum absorbente morboso vicissim et sanante. Comment. soc.
reg., Göttingen 1789.
Giacomo Rezia (1745 — 1825, Professor der Anatomie und
Chirurgie, später der Physiologie und allgemeinen Pathologie in Pavia).
Specimen observationum anatomicarum et pathologicarum, Pavia 1784.
William Hunter (1718 — 1783, Professor der Anatomie und
Arzt in London).
William Hunter's medicinische Beobachtungen ges. von Kühn, Leipzig 1784 —
1785, 2 Bde.
Anatomy of the human gravid uterus, Birmingham 1774.
Giovanni Battista Monteggia (1762 — 1815, Professor der
Anatomie und Chirurgie in Mailand).
Fasciculi pathologici, Mailand 1780; Turin 1793.
Jacopo Penada (1748 — 1828, Prosektor der Anatomie inPadua).
Saggi d'osservazioni e memorie patologiche-anatomiche, Padua, 3 Vol., 1793 —
1804.
John Bell (1762—1820, Professor der Anatomie, Chirurgie und
Geburtshilfe in Edinburgh).
Discourses on the nature and eure of wounds, Edinburgh 1795; 1800; 1807 :
1812; deutsch Leipzig 1798; franz. Paris 1825.
The principles of surgery, London 1801; 1806; 1808; 1826—1828.
1
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 501
Christoph Elias Heinrich Knackstaedt (1749—1799,
Professor der Anatomie und Chirurgie in St. Petersburg).
Descriptio praeparatorum maximam partem osteologicorum rarissimorum,
Braunschiveig 1785.
Anatomische und chirurgische Beobachtungen, Gotha 1797.
Charles Bell (1774 — 1842, Professor der Anatomie, Physiologie
und Chirurgie in London und Edinburgh).
A System of dissectings explaining the anatomy of the human bodg, the manner
of dis2)laying the parts and their varieties in diseases, 2 Vol., Edinburgh und
London 1798; 1800: 1809; 1816; Baltimore 1814; deutsch Leipzig 1800; letzte Aus-
gabe 1817; franz. London 1809; 1812.
Surgical observations, London 1816 — 1818, 2 Vol.
Ueber Krankheiten des Gehirns, des Herzens und der
Ge fasse arbeitete anatomisch Giovanni Maria Lancisi (1654 —
1720, Professor der Anatomie in Rom).
De subitaneis mortibus libri II, Rom 1707; Lucca 1707; Livorno 1707;
Venedig 1708: Leipzig 1709; Genf 1718; deutsch Leipzig 1790.
De mortu cordis et aneurysmatibus, Born 1728; 1735 ; Neapel 1738; Leyden
1740; Rom 1745,
Über Erweiterung des Gefässsysteras Johann Friedrich
Meckel I (1714 — 1774, Professor der Anatomie, Botanik und Geburts-
hilfe in Berlin)
Physiologische und anatomische Abhandlungen von ungewöhnlicher Erweiterung
des Herzens iind der Spannadern des Gesichtes, Berlin 1775,
Über Krankheiten des Oesophagus Jan Bleuland (1756 —
1838, Professor der Anatomie und verschiedener anderer Fächer in
Harderwyk und Utrecht)
Observationes anafomico-medicae de sana et morbosa oesophagi structura,
Leyden 1785,
Über die typhöse Darmaffektion Johann Georg Roederer
(1726 — 1763, Professor der Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe in
Göttingen)
De morbo miicoso über singtdaris, Göttingen 1762 (ed. Roederer et Wagler);
1783 (ed. Wrisberg),
Über Krankheiten des Bauchfells und Hirnblutungen der
schon erwähnte Johann Gottlieb Walter
Von den Krankheiten des Bauchfells und dem Schlagflusse, Berlin 1785,
Über Krankheiten des Gehirns Francesco Gennari
De peculiari stru^tura cerebri nonnullisque ejus morbis, Parma 1782,
Über Hernien Alexis Littre (1658 — 1726, Dozent für Anatomie
in Paris)
Observation sur une nouvelle espece de hernie. Meni. de VAcademie de chir. 1700
und Just US Gottfried Günz (1714 — 1751, Professor der Physio-
logie, Anatomie und Chirurgie in Leipzig)
Observationum anatomico-chirurgicarum de herniis libellus, Leipzig 1744,
über Krankheiten der Knochen und über Hernien Andreas
Bonn (1738 — 1818, Professor der Anatomie und Chirurgie in Amster-
dam)
Descriptio thesauri ossium morbosorum Hoviani. Adnexa est dissertatio de
callo, Amsterdam 1783,
Tabulae ossium morbosorum praecique thesauri Hoviani, Amsterdam 1785 — 1788,
Ö02 H. Chiari.
Tahulae anatomico-ckirurgicae doctrinam hemiarum illustrantes, Leyden 1828
(ed. Sandifort),
Über dieselben Themata und über Aneurysmen Antonio Scarpa
(1752 — 1832, Professor der Anatomie und Chirurgie in Modena und
Pavia)
De penitiori ossium structura commentarius, Leipzig 1799; deutsch Leipzig
1800; neue Ausgabe unter dem Titel: De anatome et pathologia ossium commentarii,
JPavia 1827 ; engl. London 18.30,
Süll ernie memorie anatomico-chirurgiche, Mailand 1809; deutsch Halle 1813,
Memorie sull ernie del perineo, Pavia 1821; deutsch Weimar 1822,
SulV aneurisma, reflessioni cd osservazioni anatomico-chirurgiche, Pavia 1804;
deutsch Zürich 1808,
Über verschiedene pathologische Themata Samuel Thomas
von Sömmering (1755—1830, Professor der Anatomie und Chirurgie
in Cassel, Professor der Anatomie und Physiologie in Mainz, praktischer
Arzt in München und Frankfurt).
lieber die Wirkung der Schnürbrüste, Leipzig 1788; 1793,
Abbildung und Beschreibung einiger Missgeburten, Mainz 1791,
Bemerkungen über Bruch und Verrenkung des Rückgrathes, Berlin 1793,
De morbis vasorum absorbentium, Mainz 1795 und
lieber die schnell und langsam tödtlichen Krankheiten der Harnblase und
Harnröhre bei Männern im hohen Alter, Frankfurt 1809; 1822; franz. 1824:
holl. 1823.
Auch die Praktiker, welche nicht gleichzeitig Anatomie
tradierten, schenkten jetzt noch mehr als früher den pathologisch-
anatomischen Untersuchungen ihre Aufmerksamkeit. In den Werken
vieler derselben finden sich eingestreute, zum Teile sehr wertvolle
pathologisch-anatomische Befunde und erfuhren auch die einzelnen
Kapitel der allgemeinen und speziellen pathologischen Anatomie von
ihrer Seite eine wesentliche Förderung.
Kasuistische pathologisch-anatomische Befunde mitunter in reich-
licher Zahl brachten in ihren Werken:
Barthelemy Saviard (1656—1702, Chirurg am Hotel Dieu
in Paris)
Nouveau r ecueil d'observations chirurgicales, Paris 1702; 1782,
Henry Ridley (Anfang des 18. Jahrhunderts, Arzt in London)
Observationes quaedam medico-practicae et physiologicae, inter quos aliquanto
fusius agitur de asthmate et hydrophobia, London 1703; Leyden 1738,
Johann Christian Wolf (1673— 1723, Chirurg in Oldenburg)
Observationum chirurgico-medicarum libri IV cum scholiis et variis inter-
spersis historiis medicis, Quedlinburg 1704 (aut. Ivo Wolf [patre] ed. Johann
Christian Wolf),
Hermann Boerhaave (1668 — 1738, Professor der Medizin in
Leyden)
Aphorismi de cognoscendis et curandis morbis in u^um doctrinae medicae,
Leyden 1709; und noch 10 Ausgaben, eine englische und 2 französische Ueber-
setzungen,
Patrick Blair (Ende des 17. und 1. Hälfte des 18. Jahr-
hunderts, Arzt in Dondee in Schottland)
Miscellaneous observations in the practice of physic, anatomy and surgery,
London 1718,
Friedrich Hoff mann (1660—1742, Professor der Medizin in
Halle)
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 503
Medicina rationalis sysiematica, Halle 1718 — 1740, 9 Volum.: franz. Paris
1739—1743,
Medicina consxdtatoria, Halle 1721 — 1739, 12 Volum.,
Martin Schurig (gest. 1733, Arzt in Dresden)
Spermatologia, Frankfurt 1720.
Sialologia, Dresden 1723,
Chylologia, ibidem 1725,
Grynaecologia, ibidem 1730,
Christian Gottfried Stenzel
Anthropologia ad pathologiam applicata, praejudiciis liberata, Wittenberg 1728,
Henri-FranQois LeDran (1685 — 1770, Chirurg in Paris)
■ Observations de Chirurgie avec des reflexions, Paris 1731; engl. 1739; deutsch
Xürnberg 1740,
Traite des Operations de Chirurgie, Paris 1742; Brüssel 1745; engl. 1749,
Consultations sur la plupart des maladies qui sont du ressort de la Chirurgie
1763; deutsch Leipzig 1773,
Gerard van Swieten (1700—1772, Leibarzt der Kaiserin
Maria-Theresia, Neubegründer der Wiener medizinischen Schule)
Commentaria in H. Boerhaavii aphorismos de cognoscendis et curandis mwlm,
Leyden 1741—1742; 1766—1776; Würzbiirg 1787—1791; Tübingen 1791; franz.
Paris 1747 : 1753 ; engl. London 1754: hoUänd. Leyden 1760 — 1776; Amsterdam
1776—1791,
Cornelis Trioen (1686—1746, Arzt in Leyden)
Observationes medico-chirurgicae, Leyden 1741,
Giovanni Targioni-Tozetti (1712—1784, Professor der
Botanik und Arzt in Florenz)
Raccolta di osservazioni mediche, Florenz 1751,
Raccolta die opuscoli medico-practici, Florenz 1773,
Raccolti di opuscoli fisico-medid, Florenz 1780,
Johann Ludwig Leberecht Loeseke (1724—1757. Pro-
fessor der Medizin in Berlin)
Observationes anatomico-chirurgico-medicae novae et rariores, Berlin 1754:
deutsch Berlin und Stralsund 1767,
Anton de Haen (1704 — 1776, Professor der Medizin in Wien)
Ratio medendi in nosocomio practico, Wien 1758 — 1779: 18 Vohim.; deutsch
Leipzig 1779-1785,
Anton Freiherr von Stoerck (1731 — 1803, Professor der
Medizin in Wien)
Annus medicus I. et IL. quo sistuntur observationes circa morbos acutos et
chronicos. Wien 1760 — 1762; deutsch 1774,
John Huxham (1694—1768, Arzt in Plyraouth)
Opera physico-medica. Gesam mtausgabe der Publicatione7i Huxham's, Leipzig
1764; 1773 (ed. Reichel); Leipzig 1829 (ed. Haenel),
Heinrich Joseph Collin (1731—1784, Professor der Medizin
in Wien)
Observationes medicae s. Stoerck Annus medicus IIL, Wien 1764,
Observationum circa morbos acutos et chronicos factarum pars IL — VI., Wien
1772—1781.
Giuseppe Benvenuti (geb. 1728, Chirurg in Lucca)
Observationes medicae, quae anatomia superstructae sunt, Lucca 1764,
504 H. Chiari.
Lebereclit Friedrich Benjamin Lentin (1736 — 1804,
praktischer Arzt, zuletzt in Hannover)
Observationum medicarum Fase. I. et IL, Leipzig 1764 — 1770,
Sir John Pringle (1707—1782, Militärarzt und Arzt am Hofe
in London)
Observations on the diseases of an army in camp and in garnison, London
1752 und öfter ; franz. Paris 1755 ; 1771; deutsch Altenburg 1772,
FranQois Boissier de Sauvages de Lacroix (1706 — 1767,
Professor der Botanik und Medizin in Montpellier)
Nosologia methodica sistens morborum classes juxta Sydenhami mentem et
botaniconim ordinem, Leyden 1760; Genf 1763; Amsterdam 1768 ; Leipzig 1790 —
1797; franz. Paris 1771,
Christian Ehrenfried Eschenbach (1712 — 1788, Professor
der Chirurgie in Rostock)
Observata quuedam anatomico-chirurgico-medica rariora, Rostock 1753; Contin.
1769,
Ernst Anton Nicolai (1722—1802, Professor der Medizin und
Chii'urgie in Halle und Jena)
Pathologie oder Wissenschaft von den Krankheiten, 6 Bde., Halle 1769 — 1779;
Fortsetzung 3 Bde., Halle 1781^1784,
Francesco Biumi (Arzt in Mailand)
Observationes anatomicae, scholiis illustratae, Mailand 1765,
Jakob Friedrich Isenflamm (1726 — 1793, Professor der
Medizin in Erlangen)
De difficili in observationum anatomicarum epicrisi commentationes VIII,
Erlangen 1771—1792,
Johann Christian Anton Theden (1714— 1797, preussischer
Militärchirurg)
Neue Bemerkungen und Erfahrungen zur Bereicherung der Wundarzneikunde
und Arzneigelehrsamkeit, Berlin und Stettin 1771 — 1795, 2 Theile,
Richard de Hautesierk (französischer Militärzt)
Recueil d' observations de medecine des hopitaux militaires, Paris 1766 — 1772,
2 Vol.,
Maximilian Stoll (1742—1787, Professor der Medizin in Wien)
Ratio medendi in nosocomio practica Vindobonensi, Wien 1779 — 1790, VII ^
Partes; deutsch Breslau 1787—1795, 5 Bde., i
Francis Home (Professor der Materia medica in Edinburgh)
Clinical experiments, histories and dissections, Edinburgh 1780; London 1782;
deutsch Leipzig 1781,
Christian Friedrich Daniel (1714—1771, Arzt in Halle)
Systema aegritudinum, Leipzig 1781,
Christian Gottlieb Seile (1748—1800, Hofarzt in Berlin)
Neue Beiträge zur Natur- und Arzneitvissenschaft, Berlin 1782 — 1786, 3 Bde.;
franz. (von Coray) Paris 1796,
Joseph von Plencziz (1751—1785, Professor der praktischen
Medizin in Prag)
Observationum medicarum decas I, Wien 1778,
Acta et observata medica, Prag 1780,
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 505
Christian Gottlieb Eschenbacli (1753 — 1831. Professor der
Chemie in Leipzig)
Vennischte medichiische und chirurgische Bemerkungen nebst Nachrichten von
merhcürdigen Leichenöffnungen, Leipzig 1784 — 1786, 3 Bde.,
Giovanni Battista Borsieri de Kanifeld (1725 — 1785,
Professor der Medizin in Pavia)
Institutiones medicinae practicae, quae auditorihus suis praelegebat Borserius
de Kanifeld. Mailand 1781—1788, 4 Vol: und öfter; deutsch Marburg 1783—1789;
Leipzig 1787: 1798; Berlin 1823; Italien. Padua 1820; Florenz 1837; engl. Edin-
burgh' 1800— 1801,
Johann Peter Frank (1745 — 1821. Professor der Medizin in
Göttingen. Pavia, Wien. Wilna nnd St. Petersburg)
De curandis hominum morhis epitome, praelectionibus academicis dicata,
Mannheim. Stuttgart. Wien 1792 — 1821, 6 Vol.; deutsch neueste Ausgabe Berlin
1835, 4 Bde.; auch sonst vielfache Uebersetzungen,
Nicolas Chambon de Montaux (geb. 1748. Arzt in Paris)
Observationes clinicae. curationes morborum periculosiorum et rariorum, auf
phanomena ipsorum, in cadaveribus indagata referentes. Paris 1789; deutsch Leip-
zig 1791,
Johann Christian Reil (1759 — 1813, Professor der Medizin
in Halle und Berlin)
Memorabilia clinica medico-practica, III Fase, Halle 1790 — 1793,
Johann Ernst Greding (1718 — 1775, Arzt in Zeitz und
Waldheim)
Sämmtliche tnedicinische Schriften, Greiz 1790 — 1791 (ed. Carl Wilhelm Greding),
Jean Emanuel Gilibert (1741 — 1814, Professor der Botanik
und Naturwissenschaften in Grodno, Wilna und Lyon)
Adversaria medico-pratica jyrima, seu annotationes clinicae, Lyon 1791; deutsch
Leipzig 1792,
Le medecin naturaliste, ou observaiions de medecine et d'histoire naturelle,
Lyon 1800; deutsch Xürnberg 1807,
Johann Ernst Wichmann (1740 — 1802, Arzt in Hannover)
Ideen zur Diagnostik, Hannover 1794—1802, 3 Bde.; 4. Bd. 1821,
Samuel von Benkö (1743 — 1825, Arzt in Miskolcz)
Ephemerides nieteorologico-medicinae, Wien 1794,
Philippe Pinel (1755 — 1826, Professor der Medizin in Paris)
Nosographie philosophique, ou la niethode de Vanalyse appliqiiee ä la medecine,
Pans 1789; 6. Ed. 1818; deutsch letzte Ausgabe Kassel 1829—1830,
Pierre Joseph Desault (1744 — 1795, Professor der Chirurgie
in Paris)
Oeuvres chinirgicales (ed. Bichat), Paris 1798—1803: 1813: 1830; deutsch
Göttingen 1799—1800: engl. Philadelphia 1814,
Frangois Chopart (1743 — 1795, Professor der Chirurgie und
Physiologie in Paris)
Tratte des maladies chinirgicales et des Operations, qui hur conviennent (mit
Desault), 2 Vol., Paris 1780; deutsch Leipzig 1783; Wien 1784,
Traite des maladies des voies urinaires, 2 Vol., Paris 1791; 1821.
Für die Lehre von den Missbil düngen ist wichtig die Publi-
kation von Johann Carl Insfeldt De lusibus naturae. Leyden 1772,
für die Lehre von der Regeneration sind bedeutungsvoll die
Versuche über die Regeneration an lebenden Tieren, Göttingen 1787,
506 H. Chiari.
2 Bde. von Justus Annemanu (1763—1806, Professor der Medizin
in Göttingen),
für die Lehre von der Entzündung und Ulceration das
System of surgery, Edinburgh 1783—1787 ; 7. ed. 1801 ; deutsch Leip-
zig 1791—1798; 1804—1810; franz. 1796 von Benjamin Bell
(1749- 1806, Professor der Chirurgie in Edinburgh) und das Werk: On
the nature of the blood. inflammation and gunshot wounds, London 1794;
deutsch Leipzig 1797— 1800 von John Hunt er (1728— 1793, Chirurg
in London),
für die Kenntnis der Diphtherie die Works, London 1781 — 1783;
1784; deutsch Altenburg 1785 von John Fothergill (1712—1780,
Arzt in London),
für die pathologische Anatomie der Tuberkulose die Unter-
suchungen von William Stark (1742 — 1771, Arzt in London), ab-
gedruckt in Thomas Reid, An essay on the nature and care of the
phthisis pulmonalis, 2. Ed., London 1785,
für die Lehre von den Geschwülsten der Traite des tumeurs
et des ulceres, Paris 1759, von Jean Astruc (1684 — 1766, Professor
der Medizin in Montpellier und Paris), das Novum systema tumorum,
quo hi morbi in sua genera et species rediguntur, Wien 1767 ; deutsch
Dresden 1769; 1776 von Joseph Jakob von Plenck (1738—1807,
Professor der Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe in Tyrnau und
Ofen und der Chemie und Botanik in Wien), die Schrift lieber. Natur
und Heilung der verschiedenen Arten von Geschwülsten; deutsch Leip-
zig 1786 von David van Gescher (1736—1810, Lehrer der
Chirurgie in Amsterdam), das Werk über die Geschwülste, deutsch
Leipzig 1788 von Giovanni Ambrogio Bertrandi (1723 — 1765,
Professor der Chirurgie in Turin) und die Surgical observations on
tumours, London 1804; 1811 von John Abernethey (1764 — 1831,
Chirurg in London),
für die Lehre von den Eingeweidewürmern die Abhandlung
von der Erzeugung der Eingeweidewürmer und den Mitteln wider die-
selben, Berlin 1782, von Marcus Elieser Bloch (1723—1799, Arzt
in Berlin) und die Arbeiten von Johann August Ephraim Goeze
(1731—1793, Geistlicher in Quedlinburg) Versuch einer Naturgeschichte
der Eingeweidewürmer, Blankenburg 1782; nebst Nachtrag heraus-
gegeben von Zeder 1800,
für die pathologische Anatomie der Knochen der Traite des
maladies des os, dans lequel on a represente les appareils et les machines
qui conviennent ä leur guerison, Paris 1723; 1736; 1759; deutsch
Berlin 1725; 1743 von Jean Louis Petit (1674-1760, Chirurg in
Paris), die Osteographia or anatomy of the bones, London 1733, von
William Cheselden (1688—1752, Chirurg in London), die Arbeiten
von Michele Troja (1747 — 1827, Professor der Chirurgie in Neapel)
De novorum ossium in integris aut maxime ob morbos deperditionibus
regeneratione experimenta, Paris 1775; deutsch 1780, und Neue Be-
obachtungen und Versuche über die Knochen, deutsch Erlangen 1828,
die Chirurgical works, London 1771 und öfters; deutsch Berlin 1787 —
1788; franz. 1777; 1792; Italien. 1794 von Percival Pott (1713—
1788, Chirurg in London), die Schrift: De necrosi ossium, Frankfurt
1793; deutsch Leipzig 1796; franz. Paris 1801 von Johann Peter
Weidmann (1751 — 1819, Professor der Chirurgie und Geburtshilfe
in Mainz), die Dissertatio inauguralis: De osteogenesi praeternaturali,
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 507
Leyden 1797 und die Beiträge über verschiedene Gegenstände aus
der Lehre von der pathologischen Knochenbildung, Breslau 1803 von
Jan van Heekeren (1774 — 1803, Arzt in Amsterdam^
für die pathologische Anatomie des Herzens und der
Gefässe die im Jahre 1726 verfassten aber erst 1748 in den Ab-
handlungen der Akademie in Bologna publizierten Animadversiones
super quibusdam difficilis respirationis vitiis a laesa cordis et praecor-
diorum structura pendentibus von Ippolito Francesco Albe rtini
(1662 — 1746, Professor der 3Iedizin in Bologna) und der Traite de la
structure du coeur. de son action et de ses maladies, Paris 1749; 1774;
deutsch 1781 von Jean Baptiste Senac (1693—1770, Leibarzt
Ludwig XV. in Paris),
für die pathologische Anatomie des Gehirns ausser den
schon erwähnten ^yorks von JohnFothergill das Werk : De morbis
cerebri ex structura ejus anatomica deducendis, 1741 von Andreas
Elias Büchner (1701—1769, Professor der Medizin in Erfurt und
Halle),
fiir die pathologische Anatomie der Hernien der Traite
des hernies ou descentes, 1749 von Georg Arnaud de Ronsil
(gest. 1774, Arzt in London), die Abhandlung von den Brüchen,
Göttingen 1777—1779; 1785; franz. 1787 von August Gottlieb
Ei cht er (1742 — 1812. Professor der Chirurgie in Göttingen), die
Schrift: Nuovo metodo de operar en la hernia crural, Madrid 1793 (viel-
fach übersetzt) von Don Antonio de Gimbernat (in den letzten
Dezennien des 18. Jahrhunderts Leibchirurg des Königs von Spanien),
für die pathologische Anatomie desDigestionstraktus
mehrere Dissertationen des bereits erwähnten FriedrichHoffmann:
De inflammatione ventriculi. Halle 1706.
De duodeno multonun morhonim sede, Halle 1708,
De pancreaüs tnorbis, Halle 1713,
De morbis oesophagi, Halle 1722,
De morbis hepatis ex anatome detegendis, Halle 1726,
für die Krankheiten des Mastdarms die bereits erwähnten
Chirurgical works von Percival Pott.
für die pathologische Anatomie des Hodens das Treatise
on the hydrocele, on sarcocele. on Cancer and otlier diseases of the
testis, Edinburgh 1794; Leipzig 1795 von Benjamin Bell und die
bereits erwähnten Chirurgical works von Percival Pott,
für die pathologische Anatomie der Hautkrankheiten
das AVerk: Description and treatment of cutaneous diseases, London
1798—1807; 1815; deutsch Breslau 1799— 1806 von RobertWillan
(1757—1812, Arzt in London),
für die pathologische Anatomie der venerischen
Krankheiten das Treatise on gonorrhoea virulenta and lues venerea,
Edinburgh 1793; deutsch Leipzig 1794 von Benjamin Bell und das
Treatise on the venereal disease, London 1786; deutsch Leipzig 1787
von John Hunter.
Erwähnenswert ist endlich das 1726 in Paris erschienene Systeme
d'un medecin anglais sur les causes de toutes les especes de maladies,
avec les surprenantes configurations de diiferentes especes de petits
insectes, qu'on voit par le moyen d'un bon microscope dans le sang et
dans les urines des differents malades et meme de tous ceux, qui
508 • .. H. Chiari.
doivent les devenir, receuilli par M.A.C.D. als ein Versuch, alle Krank-
heiten auf mikroskopische Parasiten zurückzuführen.
An vielen Orten wurden in diesem Jahrhunderte in den ana-
tomischen Museen auch reichliche pathologisch- anatomische Präparate
aufgestellt, so in Leyden von Walter van Doeveren und
Eduard Sandifort, beschrieben von Eduard Sandifort in dem
Museum anatomicum Academiae Lugduno-Batavae descriptum, Leyden
1793—1835, IV Volum. (III. et IV. Vol. ed. Gerard Sandifort),
in London von Joh. Hunter in seinem dem College of Surgeons
in London vermachten grossartigen Museum (Catalogue of the Hunterian
coUection in the museum of the Eoyal College of Surgeons, London
1830 ; deutsch Erlangen 1835 ; Descriptive catalogue of the pathological
specimens contained in the Museum of the Eoyal College of Surgeons
of England, London 1846—1849; Catalogue of the calculs, London
1842—1845; Supplement I 1863; Supplement II 1864; Descriptive
Catalogue of the dermatological specimens, London 1870; Descriptive
Catalogue of the teratological series, London 1872),
in London von William Hunter in seinem später in den
Besitz der Universität Glasgow übergegangenen anatomischen Museum,
in Edinburgh von Charles Bell,
in Pavia von Giacomo Rezia,
in Wittenberg von Abraham Vater in dem von ihm ange-
legten anatomischen Museum (Abraham Vater Museum anatomicum
proprium, Helmstädt 1750),
in Berlin von Johann Gottlieb Walter in dem von ihm
gegründeten anatomischen Museum, das von der Regierung für die
Berliner Universität angekauft wurde. (Anatomisches Museum ge-
sammelt von Johann Gottlieb Walter, beschrieben von Friedrich August
Walter [1764—1826, Professor der Anatomie in Berlin], Berlin 1796),
in Jena in dem von Justus Christian Loder (1753 — 1832,
Professor der Anatomie und Chirurgie in Jena, Halle und Moskau)
gegründeten anatomischen Museum (Johann Valentin Heinrich
Koehler, Beschreibung der physiologischen und pathologischen Prä-
parate, welche in der Sammlung des Herrn Hofrates Loder in Jena
enthalten sind, Jena 1794),
in Würzburg von Carl Caspar von Siebold und
in Prag in dem von Georg Prochaska gegründeten ana-
tomischen Museum.
Ein ausschliesslich pathologische Objekte enthaltendes Museum
von mehr als 1000 Nummern gründete Mathew Baillie in London
und vermachte dasselbe dem College of Physicians in London.
Ein ebenfalls rein pathologisch-anatomisches Museum sammelte l
Andreas Bonn in Amsterdam. Dasselbe wurde dann von der Uni- ^'
versität Leyden angekauft.
Alle medizinischen Journale brachten in diesem Jahrhunderte
reichliche Aufsätze pathologisch- anatomischen Inhaltes, die pathologische
Anatomie im Titel enthielt das von August Friedrich Hecker
(1763—1811, Professor der Medizin in Erfurt und Berlin) 1796 in
Alton a herausgegebene Magazin für die pathologische Anatomie und
Physiologie.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 509
Fortschritte der pathologischen Anatomie im 18. Jahrhunderte.
Die pathologisch-anatomischen Kenntnisse waren in diesem Jahr-
hunderte bereits sehr viel reichlicher als früher.
Immer mehr pathologisch-anatomische Veränderungen in den ver-
schiedensten Organen wurden genauer bekannt und zahlreiche neue
Funde gemacht. Eine besondere Entwicklung erfuhr die pathologische
Anatomie der Hernien durch die Untersuchungen von Haller. John
Hunt er und Sandifort über die Hernia inguinalis congenita, von
Littre über dis Darmwandbrüche, von Camper und de Gimber-
nat über die Hernia ischiadica, von Scarpa über die Hernia peri-
nealis und von A r n a u d über die Hernia obturatoria sowie durch die
allgemeinen Arbeiten auf herniologischem Gebiete von Günz. Richter,
Scarpa und Bonn, die zum Teile mit guten Abbildungen versehen
waren, der Knochen im allgemeinen durch Cheselden, Troja,
Knackstaedt, Weidmann, van Heekeren und Scarpa, der
Callusbildung durch Troja und Bonn, der Brüche und Verrenkungen
der "Wirbelsäule durch Sömmering, der Entzündungen der Wirbel-
säule durch Pott, der Frakturen und Luxationen und der Osteo-
myelitis durch Petit, der Aneurysmen durch Lancisi, der zum
erstenmal den Unterschied zwischen dem Aneurysma legitimum und
spurium feststellte und als die hauptsächlichsten Ursachen der Aneu-
rysmen mechanische Einwü'kungen und die Syphilis erkannte, durch
William Hunter. der zuerst das Aneurysma varicosum unter-
scheiden lehrte, weiter durch Meckel I. und Scarpa, des Gehirns
durch Le Dran, Büchner, Fothergill.Gennari und Greding,
der Hirnblutungen durch Hoff mann, der zuei-st dieselben von Zer-
reissung von Blutgefässen ableitete und durch Walter, weiter aber
auch der Helminthen diu'ch Werner, Bloch und Goeze, des
Herzens und Herzbeutels durch Senac, des lymphatischen Systems
durch Wrisberg und Sömmering, des Larynx und der Trachea
durch Borsieri, der Lungen durch St oll, des Oesophagus durch
Hoff mann und Bleuland, der Leber durch Ho ff mann und
Bianchi, des Bauchfells durch Walter, des Magens, Darms und
Pankreas durch Hoffmann, des Rectums durch Pott, der Harn-
wege durch Chopart und Sömmering, der Hoden durch Pott
und Benjamin Bell, der venerischen Krankheiten durch den
letzteren und JohnHunter. des Uterus durch William Hunter,
der Haut durch Will an, und des Gehörorganes dui-ch Valsalva.
Geringere Bedeutung hatten die reichlichen Mitteilungen über Ge-
schwülste von Astruc, Plenck, van Gescher, Bertrandi und
Abernethey. Sehr wichtig waren hingegen die anatomischen Unter-
suchungen über die Darmveränderungen beim Typhus abdominalis
von Roederer und die von Fothergill über die Diphtherie. Be-
sonderes Interesse beanspruchen noch heute die Arbeiten über Ent-
zündung und Ulceration von Benjamin Bell und John Hunter.
von Arnemann über Regeneration und von Stark über die
Trennung von Tuberkeln und Skropheln.
Es wurde auch schon der Weg des pathologischen Experimentes
betreten, so von Albertini, der Experimente über die Unterbindung
von Blutgeiässen anstellte, und von John Hunter, der die Ver-
einigung getrennter Sehnen bei Tieren untersuchte.
510 . H. Chiari.
Der Kliniker de Haen in Wien führte zuerst regelmässige Sek-
tionen in das klinische Studium ein, indem er die Leichen der auf
seiner Klinik verstorbenen Patienten vor den Studenten sezierte und
daran dann eine Epikrise anschloss, in der auch der Wert und Nutzen
der eingeschlagenen Therapie besprochen wurde.
Die pathologisch - anatomischen Spicilegien dieses Jahrhunderts
zeichneten sich durch die Fülle eigener Beobachtungen aus und sind
darum die Werke von Morgagni, Lieutaud und Sandifort
wertvolle Repertorien, unter denen namentlich das von Morgagni
durch die sehr grosse Zahl der Beobachtungen, durch enormen Fleiss
hinsichtlich der Litteraturangabeu und die Genauigkeit der Unter-
suchungen und das von Sandifort durch die naturgetreuen Ab-
bildungen hervorragt.
Ziemlich mangelhaft waren hingegen die in diesem Jahrhunderte
entstandenen ersten Kompendien der pathologischen Anatomie von
Hof mann und Ludwig sowie das erste Handbuch der patho-
logischen Anatomie von C o n r a d i , indem dieselben zumeist nur Kom-
pilationen aus der Litteratur darstellten.
Eine sehr verdienstliche Leistung bildete aber die zum Schlüsse
des Jahrhunderts erschienene spezielle pathologische Anatomie von
Baillie, gefolgt von dem ersten Atlas der pathologischen Anatomie
des menschlichen Körpers. Dieselbe war fast ausschliesslich auf eigene
Beobachtungen aufgebaut und mit grosser Gewissenhaftigkeit ge-
arbeitet, Sie bezieht sich auf die Organe der Brust, des Bauches, die
Zeugungsteile und den Kopf und finden sich darin manche noch heute
anzuerkennende Beschreibungen einzelner pathologischer Veränderungen
z. B. der Cirrhosis hepatis, des Emphj^sema pulmonum, der Obliteration
von Blutgefässen im Bereiche tuberkulöser Cavernen der Lungen und
der Hypoplasie der Nebennieren bei Defektbildungen des Gehirns.
Sehr wertvoll sind auch die der deutschen üebersetzung der patho-
logischen Anatomie beigegebenen Zusätze von Sömmering. Die Ab-
bildungen im Atlas sind mit wenigen Ausnahmen vorzüglich zu nennen.
Die pathologische Anatomie im 19. Jahrhunderte.
Im 19. Jahrhunderte erlangte endlich die pathologische Anatomie
ihre volle Entfaltung und wurde zu einer eigentlichen AVissenschaft.
Es war jetzt nicht mehr lediglich die Aufgabe zu erfüllen, das ana-
tomische Substrat der einzelnen Funktionsstörungen zu erkennen,
sondern es galt auch die Entwicklungsgeschichte und Aetiologie der
krankhaften Veränderungen zu erforschen und im allgemeinen die Natur
der überhaupt vorkommenden Abweichungen vom Normalen festzu-
stellen.
Die Zeit vor Rokitansky und Virchow.
Ausser der Verallgemeinerung der exakten Forschungsmethoden
in allen Naturwissenschaften und der allmählichen Lossagung von
präjudizierenden Systemen trug zur Entwicklung der pathologischen
Anatomie schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem bei die
Begründung der allgemeinen Anatomie resp. Histologie
durch Marie Frangois Xaver Bichat (1771—1802, Arzt am
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 511
Hotel Dieu in Paris, woselbst er auch Privatkurse über Anatomie,
Physiologie, Chirurgie und pathologische Anatomie hielt). Mit seinen
Werken: Traite des membranes en general et de diverses membranes
en particulier, Paris 1800; 1827; deutsch Tübingen 1802 und Ana-
tomie generale appliquee ä la physiologie et ä la medecine. Paris 1801 ;
1813; 1819; 1821; 1831; 1900; deutsch Leipzig 1802—1803 (hierzu
Additions ä l'anatomie generale de Xaver Bichat von F. A. Beclard,
Paris 1821; Leipzig 1823) schuf er die Gewebelehre. Zum erstenmal
wurden die Morphologie, die physikalischen und physiologischen Eigen-
schaften aller Gewebe des menschlichen Körpers, wenn auch vielfach
mit primitiven Methoden, so doch sehr eingehend dargestellt unter
steter Berücksichtigung ihres Verhaltens in den verschiedenen Lebens-
altern. Dadurch wurde ein gewaltiger Impuls auf das Studium der
pathologischen Veränderungen ausgeübt, welche man nunmehr von all-
gemeineren Gesichtspunkten aus betrachtete. Bichat sah das selbst
ganz richtig voraus, indem er in seiner Anatomie generale sagt: „II
me semble que nous sommes ä une epoque, ou l'anatomie pathologique
doit prendre un nouveau essor." ^) Bichat schenkte übrigens in den
beiden genannten Werken selbst schon den pathologischen Verände-
rungen entsprechende Aufmerksamkeit und erwähnte da und dort bei
den einzelnen Geweben ihre wichtigsten pathologischen Zustände.
Seine pathologisch-anatomischen Vorträge wurden von F. G. Boisseau
unter dem Titel: Anatomie pathologique, dernier cours de Xaver
Bichat, Paris 1825 herausgegeben. Eine deutsche Uebersetziing er-
schien 1827 in Leipzig von A. W. P e s t e 1. Bichat versuchte darin
einen gedrängten üeberblick über die Erkrankungsformen der ein-
zelnen Gewebssysteme im allgemeinen und weiter auch einzelner
Organe im speziellen zu geben. Leider war es ihm aber nicht mehr
gegönnt, seine Arbeitsziele hinsichtlich der pathologischen Anatomie
des weiteren zu verfolgen, da er bereits im 31. Lebensjahre seiner
angestrengten Berufsthätigkeit zum Opfer fiel.
Nicht minder wichtig war in den ersten Dezennien des 19. Jahr-
hunderts der neue grossartige Aufschwung der Phj^siologie
durch Männer wie Francois Magen die und Pierre Flourens
in Frankreich, Charles Bell und Marshall Hall in England,
Johannes Purkinje, Asmund Rudolph i und Johannes
Müller in Deutschland und Oesterreich.
FrauQois Magen die fl783 — 1855, Professor der Physiologie
und allgemeinen Pathologie in Paris) war es, welcher dem Experi-
mente in der Phj^siologie und Pathologie die weitestgehende An-
wendung verschaffte.
Marie Jean Pierre Flourens (1794—1867, Professor der
vergleichenden Anatomie in Paris), berühmt durch seine Arbeiten über
Entwicklung, die Funktionen des Nervensystems, die Blutzirkulation
und Ernährung der Knochen.
Charles Bell (bereits früher erwähnt) und Marshall Hall
(1790 — 1857, Arzt in Nottingham und London), berühmt durch ihre
Arbeiten auf dem Gebiete der Physiologie des Nervensystems, der
erstere der Entdecker der verschiedenen Bedeutung der vorderen und
hinteren Spinalwurzeln, der letztere der Entdecker der Reflex-
bewegungen.
^) Cit. nach Haeser II p. 834.
512 , H. Chiari.
Johannes Evangelista Purkinje [1181 — 1869, Professor
der Physiologie in Breslau und Prag-), der fast auf allen Gebieten der
Physiologie mit dem grössten Erfolge arbeitete, das Keimbläschen im
Vogeleie und die Flimmerbewegung (letztere zusammen mit Valentin)
entdeckte und bereits die Zellentheorie des Aufbaues der Gewebe
aussprach.
Carl Asmund Rudolphi (1771 — 1832, Professor der Medizin
in Greifswald, dann Professor der Anatomie in Berlin), der so wie
Johannes Müller (1801 — 1858, Professor der Anatomie und Physio-
logie in Bonn und Berlin) in Form eines Lehrbuches die gesamten
damaligen Kenntnisse in der Physiologie zusammenfasste und so der
ärztlichen Welt übermittelte.
Weiter waren von der grössten Bedeutung die in diese Zeit
fallende Begründung der physiologischen Chemie durch
Friedrich Tiedemann (1781 — 1861, Professor der Zoologie und
Anatomie in Landshut und der Physiologie in Heidelberg) und Leo-
pold Gmelin (1788 — 1853, Professor der Medizin und Chemie in
Heidelberg),
die gewaltige Entwicklung der von Caspar Friedrich
Wolff (1733 — 1794, Mitglied für Anatomie und Physiologie an der
Akademie der Wissenschaften in. St. Petersburg) begründeten Embryo-
logie durch Heinrich Christian von Pander (1794 — 1865,
Akademiker für Zoologie in St. Petersburg), Carl Ernst von Baer
(1792 — 1876, Professor der Zoologie in Königsberg, dann Akademiker
für Zoologie, Anatomie und Physiologie in St. Petersburg), dem Ent-
decker des Säugetiereies, und Theodor Ludwig Wilhelm
Bisch off (1807 — 1882, Professor der Anatomie und Physiologie in
Heidelberg, Giessen und München) und
die Verbesserung der physikalischen Forschungs-
mittel zumal des Mikroskops durch die Einführung der von
Jan und Herrmann van Deyl zuerst angefertigten, von Fraun-
hofer wesentlich verbesserten achromatischen Linsen, durch die Kon-
struktion zusammengesetzter Objektive von Chevalier und Amici
und durch die Erfindung der Immersion von Amici.
Dadurch fand das Mikroskop eine viel ausgedehntere Verwendung
im Dienste der Naturwissenschaften und kam es zu der epochalen
Entdeckung der Zusammensetzung der Pflanzen und Tiere aus Zellen
durch Mathias Jacob Schieiden (1804 — 1881, Professor der
Botanik in Jena und Dorpat) und Theodor Schwann (1810—1882,
Professor der Anatomie in Löwen und der Physiologie und vergleichen-
den Anatomie in Lüttich) und zu den für die Medizin so bedeutungs-
vollen Entdeckungen Christian Gottfried Ehren bergs (1795 —
1876, Professor der Geschichte der Medizin in Berlin) über die Mikro-
organismen.
Bei dieser Sachlage musste auch in der Pathologie die Erkennt-
nis der Wichtigkeit der direkten anatomischen Anschauung immer
mehr Platz greifen und wurde in dieser Zeit wieder von verschiedenen
Seiten ausdrücklich auf den Wert der pathologischen Anatomie für
die medizinische Forschung hingewiesen, so von
J. Smith
Dissertatio de utüitate morborum naturam cadaveribus dissectis explorandif
Edinburgh 1812,
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 513
Carl Guyot in seiner Dissertatio inaug-uralis :
De cadaverum sectionihus patJiologicis et recto ex Ulis ferenda jiidicio, Gro-
ningen 1818,
LadevezeetMontfalcon
Memoire sur la question: Determiner Vinfiuence de Vanatomie pathohgique sur
les progres de la medecine en general et en particulier mir le diagnostic et le traite-
ment des maladies internes. Journal complementaire du dictionnaire des sciences
medicales T. XI, XIY, XVI 1821—1823,
Luigi Torello Pacini (geboren 1784, Professor der Anatomie
in Lucca)
Intwno la necessitä dello studio delV anatomia patologica, Lucca 1827,
Jacob Ludwig Conrad Schröder van der Kolk (1797—^
1862, Professor der Anatomie und Physiologie in Utrecht)
De anatomiae pathologicae praecipue subtilioris studio utilissimo, Utrecht 1827,
Leonard Stewart (Arzt in London)
Modern medecine influenced hy morbid anatomy, London 1830,
Leon Eostan (1790 — 1866, Professor der medizinischen Klinik
in Paris)
Jusqti'ä quel point Vanatomie pathologique peut-elle eclairer la therapeutiqne
des maladies? Paris 1833,
Guillaume
De Vinfiuence de Vanatomie pathologique sur les progres de la medecine, 1834,
AmedeeJoux
De Vinfiuence que Vanatomie pathologique a exercee sur les progres de la
medecine, Paris 1835,
Fran^ois Ribes (1800—1864, Professor der Hygiene in Mont-
pellier)
Quelques reflexions sur Vanatomie pathologique, Diss. inaug., Montpellier 1824,
Magnus Huss (1807 — 1890. Professor der Medizin in Stockholm)
JJeher das Verhältniss der pathologischen Anatomie zur Medicin, Hygiea Stock-
holm 1839 u. SchmidVs Jahrb. 26. Bd. 1839,
Franz Joseph Mezler von Andelberg (1787 — 1858, öster-
reichischer Militärarzt)
Ueber den Einfluss der pathologischen Anatomie auf die praktische 3Iedicin,
Prag 1841
und P. Clausure
De Vinfiuence de Vanatomie pathologique sur la pathologie chirurgicale, An-
gouleme 1843.
Die pathologische Anatomie begann sich nunmehr in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts gewaltig zu entwickeln und fällt in diese
Zeit auch die erste Erstehung eigener Lehrkanzeln für dieselbe.
In Frankreich wurden durch die Anregungen seitens Bichats
in erster Linie die medizinischen Kliniker veranlasst, die pathologisch-
anatomische Forschung zum Zwecke der physikalisch-anatomischen
Diagnostik intensiv zu betreiben, und entstand so die berühmte physi-
kalisch-anatomische Schule, als deren Vorläufer P. A. Prost (gest.
1832, Arzt in Paris), MarcAntoine Petit (1760—1840. Arzt in
Paris) und Etienne Renaud Augustin Serres (1787 — 1868,
Professor der Anatomie und Spitalsarzt in Paris) und als deren Gründer
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 33
514 ' H. Chiari.
Jean Nicolas Corvisart des Märest (1755— 1821, Professorder
Medizin in Paris) und Rene Theopliile Hyacinthe Laennec
(1781—1826, Professor der Medizin in Paris) anzusehen sind.
P. A. Prost >
Medecine eclairee par V Observation ei V Ouvertüre des corps, 2 Vol., Paris 1804;
1809; 1817
Marc Antoine Petit et Etienne Renaud Augustin
Serres
Traite de la fievre entero-mesenterique ohservee, reconnue et signalee publique-
ment ä Vhopital Dieu, Paris 1814.
Jean Nicolas Corvisart des Märest
Essai sur les maladies et les lesions organiques du coeur et des gros vaisseaux,
Paris 1806; 1811; 1818.
Rene Theophile Hyacinthe Laennec
Note sur Vanatomie pathologiqiie, Journ, de Med. Chir. et Pharm., T. IX, 1804,
Anatomie pathologique, Dict. des scienc. med.,
Enceplialoide, ibidem,
De V auscultation mediate ou traite du diagnostic des maladies des poumons et
du coeur fonde principalement sur ce nouveau moyen d'exploration, Paris 1819;
1826; 1831; 1837; deutsch 1822; 1823; 1832.
Im Sinne dieser Schule arbeiteten dann noch
Gaspard Laurent Bayle (1774 — 1816, Arzt an der Charite
in Paris)
Recherches sur la phthisie pulmonaire, Paris 1810,
Traite des maladies cancereuses, Paris 1834,
Jean Louis d' Alibert (1766— 1837, Arzt am Höpital St. Louis
und Professor der Therapie in Paris)
Description des maladies de la peau observees ä Vhopital St. Louis, Paris
1806 — 1825 ; 1833 (unter dem Titel: Traite complet des maladies de la peau),
Andral (Auguste?) Frangois Chomel (um 1788 — 1858,
Professor der Medizin in Paris)
Elements de pathologie generale, Paris 1817 ; 5. Ed. 1863,
Legons de clinique medicale, Paris 1834,
Leon Rostan (1790—1866, Professor der medizinischen Klinik
in Paris)
Recherches sur une maladie encore peu connue, qui a regu le nom de ramol-
lissement du cerveau, Paris 1820; 1823; deutsch Leipzig 1824,
Jacques Barthelemy Poilroux (geb. 1799)
Nouvelles recherches sur les maladies chroniques et principalement sur les
affections organiques et les maladies hereditaires, Paris 1823,
Charles Michel Billard (1800—1832, Kinderarzt in Paris)
De la membrane muqueuse gastro-intestinale dans Vetat sain et dans l'etat
inflammatoire, Paris. 1825,
Traite des maladies des enfants nouveaux nes et ä la mamelle avec un atlas
d'anatomie pathologique pour servir ä Vhistoire des maladies des enfants, Paris 1828,
Pierre Frangois Olive Rayer (1793—1867, Arzt und Pro-
fessor der vergleichenden Medizin in Paris)
Traite theoretique et pratique des maladies de la peau, Paris und London
1826—1827, 2 Vol. avec atlas; 1835; Bruxelles 1840; deutsch Weimar 1827; ital.
Mailand 1830,
Traite des maladies des reins et des alterations de la secretion, Paris 1839 —
1841, 3 Vol. et atlas; deutsch Cassel und Leipzig 1839,
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 515
Pierre Bretonneau (1778—1862, Arzt in Tours)
Des inflammations speciales du tissu muqueux et en particidier de la diph-
therite ou inflammation pelliculaire, connue sous le nom de croup d'angine maligne,
d'angine gangreneuse, Paris 1826,
Addition suppUmentaire ou traite de la diphtherite, Paris 1827,
Augustin Nicolas Gendrin (geb. 1796, Arzt in Paris)
Histoire anatomique des inflammatio7is. Paris 1826 — 1827. 2 Vol.; 1829; deutsch
Leipzig 1828—1829,
Pierre Charles Alexandre Louis (1787—1872, Arzt in
Paris)
Recherches anatomiques pathologiques et therapeutiques sur la phthisie, Paris
1825; 1843: deutsch Leipzig 1827; engl. 1835; 1844; 1846,
Becherches anatomiques pathologiques et therapeutiques sur la maladie connue
sous les noms de fievre typhoide, putride, adynamique, ataxique, bilieuse, muqueuse,
enter ite folliculeuse, gastroenterite, dothienenterite, Paris 1829; 1841; deutsch Würz-
burg 1830; Leipzig 1842; engl. Boston 1836,
Delestre
Iconographie pathologique ou collection de faits rares et interessants, Paris 1827.
Einen ganz eigenen Standpunkt nahmen ein Victor Broussais
und seine Schüler, welche mehr weniger alle Krankheiten auf Irri-
tation resp. Entzündung zurückführten und in dieser Theorie befangen
und viel zu weit gehend, den anatomischen Befunden häufig eine falsche
Deutung gaben.
Fran^ois Joseph Victor Broussais (1772 — 1838, Professor
der allgemeinen Pathologie in Paris)
Histoire des phlegmasies ou inflammations chroniques, fondee sur de nouvelles
observations de clinique et d'anatomie pathologique. Paris 1802, 2 Vol.: 1816: 1838.
Examen de la doctrine medicale generalement adoptee, Paris 1816: deutsch
Bern 1820,
Examen des doctrines medicales et des systemes de nosologie, Paris 1821;
3. ed. 1829—1831,
Cours de pathologie et de therapeutique generales professe ä la faculte de
medecine de Paris, Paris 1835, 5 Vol.,
Charles Frangois Tacheron (geb. um 1790, Arzt in Paris
und Brüssel)
Becherches anatomo-pathologiques sur la medecine pratique ou recueil d'obser-
itions f altes ä la clinique des hopitaux de Paris, Paris 1823, 3 Vol.,
Jean BaptisteBouillaud (1796—1881, Professor der medi-
zinischen Klinik in Paris)
Traite clinique et experimental des fievres dites intermittentes pretendues essen-
tielles, Paris 1826,
Traite clinique des maladies du coeur, Paris 1835; 1841; deutsch Leipzig
1836—1837,
Traite clinique du rhumatisme articulaire et de la loi de coincidence des in-
flammations du coeur avec cette maladie, Paris 1840.
Von grossem Einflüsse auf die Entwicklung der pathologischen
Anatomie in Frankreich war in dieser Zeit dann noch Gabriel
Andral (1797 — 1876, Professor der allgemeinen Pathologie und
Therapie in Paris), der ein systematisches Handbuch der pathologischen
Anatomie einschliesslich der allgemeinen Pathologie herausgab, in seiner
Clinique medicale eine reiche Menge pathologisch-anatomischer Be-
funde publizierte und zusammen mit dem Chemiker Gavarret der
Humoralpathologie durch anatomische Untersuchungen eine feste Stütze
zu geben suchte.
33*
516 ' H. Chiari.
Clinique medicale, Paris 1823—1827, 5 Vol.; letzte Ausgabe 1848; deutsch
1842 — 1845 ; ausserdem noch öfters einzelne Theile,
Precis d^anatomie pathologique, Paris 1829, 3 Vol.; deutsch Leipzig 1829— 1830,
avec Gavarret, Becherches sur les modifications de proportion de quelques prin-
cipes du sang dans les maladies, Paris 1842; deutsch Nördlingen 1842,
Essai d'hematologie pathologique, Paris 1843.
Auch die französischen Chirurgen dieser Zeit leisteten sehr viel
für die pathologische Anatomie, so namentlich
Jacques Delpech (1772—1832, Professor der Chirurgie in
Montpellier)
Reflexions sur les causes de Vanevrisme spontane, Paris 1813,
Memoire sur la complication des plaies et des ulceres connues sous le nom de
pourriture d'hopital, Paris 1815,
De l'orthomorphie, Paris 1828 — 1829, 2 Vol. avec Atlas,
Alexis Baron Boyer (1757 — 1833, Professor der Chirurgie in
Paris)
Traite des maladies chirurgicales et des Operations qui leur conviennent, Paris
1814—1826, 11 Vol.; 3. Ed. 1844—1853. deutsch Würzburg 1818— 1827 ; 1834—1841:
engl. New -York 1815—1828,
Guillaume Baron Dupuytren (1778—1835, Professor der
Chirurgie in Paris), der auch Kurse über pathologische Anatomie gab
Propositions sur quelques points d'anatomie, de physiologie et d'anatomie patho-
logique, Paris 1803,
LcQons orales de clinique chirurgicale faites ä l'Hotel Dieu de Paris reo. et
publ. par une societe de medecins, Paris 1830 — 1834; par Brierre de Boismont et
Marx, Paris 1839; deutsch Leipzig 1832 — 1835; Quedlinburg 1840—1846; engl.
Neio-York und Boston 1833; ital. Venedig 1834; dän. Kopenhagen 1835,
LeQons sur les itranglements des hernies, Paris 1832,
Jules Germain Cloqu et (1790— 1883, Professor der Chirurgie
in Paris)
Becherches sur les causes et Vanatomie des hernies abdominales, Paris 1819,
4 Vol.,
Anatomie des vers intestinaux: Ascaride lombricoide et Echinorhynque geant,
Paris 1824,
Auguste Theodore Vidal de Cassis (1803 — 1856, Chirurg
in Paris)
Traite de pathologie externe et de medecine operatoire, Paris 1838 — 1841;
5. Ed. 1860; deutsch Berlin 1851 — 1859 und öfters (von Bardeleben),
Traite sur les maladies veneriennes, Paris 1852; 3. Ed. 1859,
Alfred Armand Louis Marie Velpeau (1795 — 1867, Pro-
fessor der Chirurgie in Paris)
Legons orales de clinique chirurgicale publ. par Jeanseime et Pavillon, Paris
1840—1841, 3 Vol.; deutsch Leipzig 1840—1842,
Traite des maladies du sein et de la region mammaire, Paris 1853; 1858
und Louis Joseph Bauchet (1826—1865, Hospitalchirurg in
Paris)
Du panaris et du phlegmon de la main, Paris 1857; 1859,
Anatomie pathologique des kystes de Vovaire, Mem. de VAc. des med. 1859,
Hypertrophie de la parotide, ibidem 1863.
Unter den französischen Anatomen förderten die pathologische
Anatomie namentlich
Antoine Baron Portal (1742 — 1832, Professor der Anatomie
in Paris und königlicher Leibarzt)
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 517
Cours d'anatomie medicale, Paris 1803, 5 Vol.: spanisch Madrid 1808,
Memoires sur la nature et le traitement de plusieurs maladies. Avec le precis
des experiences sur les animaux vivants, dhin cours de physiologie pathologique,
Paris 1800—1824, 5 Vol.,
Gilbert Breschet (1784 — 1845, Professor der Anatomie in Paris)
Essai sur les veines du rackis; recherches sur la formation du cal; conside-
rations et observations anatomiques et pathologiques, Paris 1819,
Memoire sur l'ectopie du coeur, Paris 1826,
Histoire des phlegmasies de vaisseaux ou de Vangite, Paris 1829,
Etudes anatomiques, physiologiques et pathologiques de l'oeuf dans Vespece
humain et dans quelques unes des principales familles des animaux vertebres, Paris
und London 1833,
Traite des maladies des enfants, Paris 1833, 2 Vol.,
Memoires chirurgicaux sur differentes especes d'anetirysmes, Paris 1834,
Le Systeme lymphatique considere sous les rapports anatomique, physiologique
et pathologique, Paris 1836,
Etienne Geoffroy St. Hilaire (1771 — 1844, vergleichender
Anatom in Paris)
Philosophie anatomique. Monstruosites humaines, Paris 1822,
Isidore Geoffroy St. Hilaire (1805—1861, Professor der
Zoologie in Paris)
Histoire generale et particuliere des anomalies de V Organisation chez l'homme
et les animaux des monstruosites ou traite de teratologie. Avec Atlas, Paris 1832 —
1836, 3 Vol.
und Charles Pierre Denonvilliers (1808 — 1872, Professor
der Anatomie in Paris)
Descrlption des os malades du musee Dupuytren, Paris 1842, mit Atlas.
So war denn die pathologische Anatomie in Frankreich allgemein
als ein sehr wichtiger Teil der Medizin anerkannt und führte dies
dazu, dass schon im Jahre 1819 in Frankreich die erste Lehrkanzel
für pathologische Anatomie errichtet wurde und zwar in Strassburg,
woselbst Johann Georg Christian Friedrich Martin Lob-
stein im genannten Jahre auf Cuviers Verwendung zum Professor
der pathologischen Anatomie ernannt wurde. Lobstein, 1777 in
Giessen geboren, war schon 1796 Prosektor in Strassburg, promovierte
daselbst 1803. wurde 1804 Chef des travaux anatomiques und 1805
Medecin-accoucheur en chef und Professor an der Hebammenschule.
1819 erhielt er die Professur für pathologische Anatomie und bald
darauf auch die für interne Medizin. Alle diese 3 Professuren be-
sorgte Lobstein in der hervorragendsten Weise bis zu seinem am
7. März 1835 erfolgten Tode. In Bezug auf die pathologische Anatomie
ist von Wichtigkeit sein von einem Atlas begleiteter Traite d'anatomie
pathologique, Paris und Strassburg 1829-1833; deutsch Stuttgart
1834 — 1835, der reich an Eigenbeobachtungen ist, leider aber unvoll-
endet geblieben ist. Lobstein teilte den Stoff der pathologischen
Anatomie zum erstenmal nach dem anatomischen Charakter der Ver-
änderungen in streng systematischer Weise, indem er 6 grosse Klassen
unterschied :
1. Die Verändemngen der Gestalt und Grösse,
2. die Veränderungen der Lage und Verbindung der Teile,
3. die Veränderungen durch Auflockerung der Gewebe (durch
Gasentwicklung, durch Ansammlung seröser Flüssigkeit, durch
Blutergiessung, durch Säftezuströmung, durch Entzündung),
4. die Entwicklung neuer analoger Gewebe,
518 H. Chiari.
5. die Entwicklung neuer heterologer Gewebe und
6. die Concremente und Parasiten.
Früher schon hatte Lobstein einen Comte rendu sur les travaux
anatomiques executes ä Tamphitheätre pendant les annees 1821 — 1823,
Strassburg 1824 veröffentlicht. Lobstein ist auch der Gründer des
pathologisch-anatomischen Museums in Strassburg, das er selbst be-
schrieb (Compte rendu sur l'etat de son musee anatomique, Strass-
burg 1820).
Sein Nachfolger im Lehramte der pathologischen Anatomie war
der Professor der normalen Anatomie Carl Heinrich Ehr mann
(1792 — 1878), der bis 1867 gleichzeitig auch die pathologische Ana-
tomie tradierte. Von ihm stammen 2 Serien von Observations d'ana-
tomie pathologique, Strassburg 1847 und 1862 und Musealbeschreibungen :
Mus^e anatomique de la faculte de medecine de Strasbourg, Strassburg 1837,
Nouveau catalogue, ibidem 1843,
Notice sur les accroissemetits du musee 1846.
Eine zweite Lehrkanzel für pathologische Anatomie in Frankreich
wurde dann 1836 in Paris errichtet und zwar veranlasst durch ein Ver-
mächtniss von 200 000 Fr., welches GuillaumeBaron Dupuytren
für diesen Zweck testamentarisch bestimmt hatte. Als erster Professor
der pathologischen Anatomie fungierte daselbst Leon Jean Bat-
tiste Cruveilhier (1791 — 1874) aus Limoges. Zuerst der Theologie
zugewandt, widmete er sich dann unter dem Einflüsse seines Vaters
der Medizin, wurde 1816 Doktor in Paris mit dem Essai sur l'ana-
tomie pathologique en general et sur les transformations organiques
en particulier, 2 Vol., worin er im wesentlichen nach Dupuytren sein
System der pathologisch-anatomischen Veränderungen entwickelte,
wurde 1824 Professor der Chirurgie in Montpellier, 1825 Professor
der deskriptiven Anatomie in Paris und 1836 Professor der patho-
logischen Anatomie ebendaselbst. In der letztgenannten Eigenschaft
war er durch mehr als 30 Jahre thätig.
Seine für die pathologische Anatomie wichtigen Werke sind ausser
dem schon erwähnten Essai:
Medecine pratique eclairee par l'anatomie et la physiologie pathologiques, Paris
1821 (unvollständig),
Anatomie pathologique du corps humain ou descriptions avec figures litho-
graphiees et colorees des diverses alterations morbides, Paris, T. I 1829 — 1835, T. II
1835—1842,
wie Förster mit Eecht sagt eine der grossartigsten Erscheinungen der
pathologisch-anatomischen Wissenschaft. 230 getreu nach der Natur
aufgenommene und künstlerisch reproduzierte Tafeln bringen die
wichtigsten pathologisch-anatomischen Veränderungen der verschiedenen
Organe des menschlichen Körpers mit Krankengeschichten und Sektions-
befunden. Dieses W^erk ist heute noch als pathologisch-anatomisches
Casuisticum von hohem Werte. Dann der
Tratte d^anatomie pathologique generale, Paris 1849 — 1864,
ein grosses systematisches Handbuch der allgemeinen pathologischen
Anatomie. Der 5. Band dieses letzteren Werkes wurde von Charles
Nicolas Houel (1815 — 1881, Direktor des Musee Dupuj^tren in
Paris) ediert, der auch selbst ein Manuel d'anatomie pathologique
generale et applique contenant la description et le catalogue du Musee
Dupuytren, Paris 1857, 2. Ausgabe 1862 verfasste und später 1877 —
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 519
1880 einen mit photographischen Tafeln versehenen 5 bändigen Katalog
der Präparate des Museum Dupuytren, sowie 1881 einen Katalog des
Museum Orfila publizierte.
In England war es in dieser Zeit zunächst die Schule Baillies,
die die pathologische Anatomie wesentlich förderte. Die medizinischen
Kliniker und die praktischen Aerzte beschäftigten sich vielfach mit
pathologischer Anatomie, so
William Heberden (1710 — 1801, Arzt in Cambridge und London)
Commentarii de morborum historia et curatione, London 1802 ; deutsch Leip-
zig 1805; Nürnberg 1840 (Opera medica, Ed. Friedländer, Leipzig 1831),
Christie Robert Pemberton (1765 — 1822, Arzt in London)
A practical treadise of varions diseases ofthe abdominal viscera, London 1806:
1814; deutsch Bremen 1817: Gotha 1818; Berlin 1836,
Thomas Bateman (1778—1821, Arzt in London)
A practical Synopsis of cutaneous diseases according to the aiTangement of
Dr. Willan, London 1813: 8. Ed. 1836; detitsch Halle 1815: Leipzig 1835 und 1841
(hierzu Atlas von Thomson, London 1840),
Delineations of cutaneous diseases comprised the classificatian of the late
Dr. Willan, London 1815—1817; deutsch Weimar 1829—1838,
John Richard Farre (1774 — 1862, Arzt in Glasgow, Aberdeen
und London)
The morbid anatomy of the liver, London 1812 — 1815 (Tumoren),
Pathological resenrches in medecine and surgery, London 1814 (Herz),
Journal of morbid anatomy or researches physiol., pathol. and therapeut.,
London 1828
(Farre legte auch eine pathologisch- anatomische Sammlung an,
die dann in den Besitz des St. Bartholomew's Hospital überging und
1846 — 1862 unter dem Titel Catalogue of the auatomical museum of
St. Bartholomew's Hospital, London, 3 Vol. von Edward Stanley, Sir
James Paget und William Scovell Savory beschrieben wurde),
Joseph Hodgson (1788—1869, Arzt in Cheapside und Bir-
mingham)
Treatise on the diseases of the arter ies and veins, London 1815: 1822; deutsch
Hannover 1817; franz. Paris 1819; ital. Maikind 1823.
Engravings intended to illustrate some ofthe diseases ofthe arteries, London 1815,
CalebHillierParry (1755—1822, Arzt in London)
Elements of pathology and therapeutics. illustrated by numerous cases and
ffissections, London 1815 ; 1825 (ed. Charles Henry Barry fii),
John Howship (gestorben 1841, Arzt in London)
On the natural and diseased State of the bones, London 1820; deutsch Leip-
zig 1823,
Practical observations in surgery and morbid anatomy, illustrated by cases
mith dissections and engravings, London 1816; deutsch Halberstadt 1819,
Practical observations on the diseases of the urinary Organs. London 1816; 1823,
Practical observations on the Symptoms, discrimination and treatment of some
of the most important diseases of the lower intestines and the amis, London 1830,
Sir John Forbes (1787—1861, Arzt in London)
Original cases with dissections and observations illiistrating the use of the
stethoscope and percussion in the diagnosis of diseases of the ehest, London 1824,
Robert Hooper (gestorben 1835, Arzt in London)
Tlie morbid anatomy of the human brain. London 1826,
The morbid anatomy of the human uterus and its appendages, London 1832,
520 H. Chiari.
Richard Bright (1789—1858, Arzt in London)
Reports of medical cases selected with a view to illustrate the Symptoms and
eure of diseases by a reference to morbid anatomy, London 1827 — 1831, 2 Vol.
15 PL,
Clinieal memoirs on abdominal tumours and intumescenee, London 1861.
Ed. Barlow,
James Annesley (geboren gegen Ende des 18. Jahrhunderts,
Arzt in Madras und St. George)
Sketches of the most prevalent diseases, comprising a treatise on the epidemic
Cholera of the east, London 1825,
Researches into the causes, nature and treatment of the more prevalent diseases
of India and of warm climats in general, London 1828, 2 Vol.,
John Abercrombie (1781 — 1844, Arzt in Edinburgh)
Pathological and practical researches on the diseases of the stomach and intes-
tines and the liver, Edinburgh 1820: 1880; deutsch Bonn 1822; Bremen 1843,
Pathological and practical researches on the diseases of the brain and the
spinal cord, Edinburgh 1827; 1829; 1834,
Thomas Hodgkin (1798—1866, Arzt in London, Dozent für
pathologische Anatomie am Guy's Hospital und dann Dozent für prak-
tische Medizin am St. Thomas Hospital)
Lectures on the morbid anatomy oftheserous and mucous membranes, London
1836—1837; deutsch Leipzig 1843,
A catalogue of the preparations in the anatomical museum of Guy's Hospital,
London 1829; Neue Ausgabe von Samuel Wilks, London 1863,
William Stokes (1804—1878, Professor der Medizin in Dublin)
Treatise on the diagnosis and treatment of diseases of the ehest, Dublin 1837 ;
deutsch Bremen 1838,
The diseases of the heart and the aorta, Dublin 1854; deutsch München 1855:
franz. Paris 1864,
Golding Bird (1815—1854, Arzt in London und Dozent am
Guy's Hospital)
Urinary deposits, their diagnosis, pathology and therapeutical indications,
London und Philadelphia 1845.
Viele englische Chirurgen dieser Zeit wandten der pathologischen
Anatomie besonderes Interesse zu wie namentlich
Sir Astley Paston Cooper (1768 — 1841, Professor der Ana-
tomie und Chirurg am Guy's und St. Thomas Hospital in London)
TJie anatomy and surgical treatment of inguinal and congenital hernia, London
1804; 1827; deutsch Breslau 1809; Weimar 1833,
Anatomy and surgical treatment of crural and umbilical hernia, London 1807 ^
deutsch Breslau 1809,
Tfie anatomy and treatment of abdominal hernia, London 1817,
Lectures on the principles and practice of surgery, London 1824— 1827 ; deutsch
Weimar 1825—1828; Kassel 1851,
Illustrations of the diseases of the breast, London 1829: 1840; deutsch
Weimar 1836,
Observations on the structure and diseases of testis, London 1830 ; deutsch
Weimar 1832,
The anatomy of the thymus gland, London 1832 ; franz. 1832,
John Thomson (1765—1846, Professor der Chirurgie in London)
Lectures on inflummation exhibiting a view of the general doctrines patho-
logical and practical of medical surgery, Edinburgh 1813; 1818; 1823; deutsch
Halle 1820; ital. Pavia 1823; franz. Paris und London 1827,
Geschichte der patholos:ischen Anatomie des Menschen. 521
Robert Allan (1778—1826, Chirurg in Edinburgh)
A System of pathological and operative surgery. founded on anatomy, Edin-
burgh 1819—1821, 3 Vol.,
William Wadd (gestorben 1829. Chirurg des Königs in London)
Observations in surgery and morbid anatomy, London 1817 — 1818,
Illusfrations of morbid anatomy. London 1824,
Anatomico-pathological dratcings, London 1826,
Robert William Smith (gestorben 1873, Professor der
Chirurgie in Dublin)
Treatise on fractures in the vicinity of joints and on certain forms of
Occidental and congenital dislocations, Dublin 1845,
A treatise on the pathology diagnosis and treatment ofneuroma, Dublin 1849.
Unter den Geburtshelfern von Fach war es besonders Robert
Lee (1793—1877, Professor der Geburtshilfe in London), der patho-
logisch-anatomische Studien auf geburtshilflichem Gebiete sehr eifrig
betrieb.
The morbid anatomy of the uterus and its appendages, London 1838,
Pathological observations on the diseases of the uterus, London 1840 — 1849.
Unter den Theoretikern nahmen Rücksicht auf die pathologische
Anatomie
Alexander Monro (tertius) (1773 — 1859, Professor der Ana-
tomie und Chirurgie in Edinburgh), der auch viel in pathologischer
Anatomie arbeitete
The morbid anatomy of the human gullet, stomach and intestins, Edinburgh
1811: 1830,
Outlines of the anatomy of the human body in its sound and diseased State,
Edinburgh 1813—1825, 4 Vol.
und Robert Bentley Todd (1809— 1860, Professor der Physio-
logie und pathologischen Anatomie in London), Herausgeber der
Cyclopaedia of anatomy and physiology, Londoti 1839 — 1859, 6 Vol.,
Treatise on gout and rheumatism, London 1843; deutsch Leipzig 1844.
Es entstanden auch in England Lehrbücher und Atlanten der
pathologischen Anatomie-, so von
Herbert Mayo (gestorben 1852, Professor der Chirurgie und
Pathologie in London)
Outlines of human pathology, London 1826; Philadelphia 1839 : deutsch Darm-
stadt 1838—1839.
David Craigie (1793—1866, Arzt in Edinburgh und Lehrer
der Anatomie und klinischen Medizin)
Elements of general and pathological anatomy adapted to the present statt of
knowledge in that science, Edinburgh 1828; 1848,
W. Money
A vademecum of morbid anatomy, medical and chirurgical, London 1830; 1831,
James Hope (1801 — 1841, Arzt in London)
Principles and illustrations of morbid anatomy adapted to the Clements of
M. Andral and to the cyclopaedia of practical medecine. With plates from Origi-
nals by the author, Lotidon 1834; deutsch Berlin 1836; russ. St. Petersburg 1837,
von dem auch ein für die pathologische Anatomie des Cirkulations-
apparates wertvolles Werk herrührt
522 ^ H. Chiari.
A treatise on the diseases of the heart and gredt vessels comprising a neto
view of the physioloqy of the heart's action, according ichich the physical signs are
explained, London 1832—1833; 1835; 1839; 1848; deutsch Berlin 1833,
John Armstrong (1784 — 1829, Arzt am Fieberhospital in
London)
Lectures on the morbid anatomy, nature and treatment of acute and chronic
diseases, London 1834 ed. Rix
und Sir Robert Carswell (1793 — 1857, Professor der patho-
logischen Anatomie am University College in London)
Pathological anatomy; Illustrations of the elementary form» of diseases
London 1833—1838, 48 PI.
Endlich seien hier noch 2 amerikanische Forscher erwähnt
William Edmonds Horner (1793—1853, Professor der Ana-
tomie in Philadelphia)
A treatise of pathological anatomy, Philadelphia 1829,
On the anatomical characters of asiatic cholera ivith remarks on the structure
of the mucous coat of the alimentary canal, Philadelphia 1835
und Samuel D. Gross (1805—1884, Professor der pathologischen
Anatomie in Cincinnati, woselbst er den ersten Kurs über pathologische
Anatomie in den Vereinigten Staaten hielt, dann Professor der Chirurgie
in Louisville und Philadelphia)
Elements of pathological anatomy, 2 Vol., Philadelphia 1839; 1845,
The anatomy physiology and diseases of the bones and joints, Philadelphia 1830.
In Deutschland und Oesterreich stand die Medizin in den
ersten Decennien des 19. Jahrhunderts noch sehr stark unter der
Herrschaft einseitiger Theorien und wurde dadurch der Fortschritt in
der pathologischen Anatomie einigermassen gehemmt. Immerhin ent-
standen hier in dieser Zeit doch eine ganze Reihe von zum Teile wert-
vollen einschlägigen Lehr- und Handbüchern und Atlanten, welche
jedoch im allgemeinen keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte
brachten.
Die betreffenden Autoren waren:
Alois Rudolf Vetter (1765—1806, zuerst pathologischer Pro-
sektor in Wien, dann Professor der Anatomie und Physiologie in
Krakau)
Aphorismen aus der pathologischen Anatomie, Wien 1803. Ein kurzes Lehr-
buch der allgemeinen und speziellen pathologischen Anatomie auf zahlreiche Leichen-
öffnungen basiert mit einer allerdings nicht glücklichen allgemeinen tabellarischen
Systematik aller pathologischer Veränderungen.
(Der von Vetter angekündigte 2. Band, der die Ki-ankheiten
der Zeugungs- und Sinneswerkzeuge und der gemeinschaftlichen Teile
des Körpers behandeln sollte, ist nicht erschienen.)
Friedrich Gotthilf Voigtel (1790—1813, Arzt in Eisleben)
Handbuch der pathologischen Anatomie. Mit Zusätzen von P. F. Meckel,
3 Bde., Halle 1804 —1805. Sehr fleissiges Kompenditim der pathologisch-anatomischen
Kasuistik der verschiedensten Autoren.
Johann Friedrich Meckel (der Enkel) (1781-1833, Pro-
fessor der Anatomie und Physiologie in Halle)
Handbuch der pathologischen Anatomie, 2 Bde., Leizip 1812—1818. Grosses
Handbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie, icelches hauptsächlich die an-
geborenen und erworbenen Fehler der Form, aber auch die sonstigen Anomalien wie
Entzündungen, Neoplasmen, Parasiten und Konkretionen behandelt, sehr viel Litteratur
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 523
bringt und auch eigene Beobachtungen enthält. Demselben reiht sich icürdig an der
leider unvollendet gebliebene Atlas : Tabulae anatomico-pathologicae, 4 Fase. Leipzig
1817—1826.
Adolph Wilhelm Otto (1786—1845, Professor der Anatomie
in Breslau)
Handbuch der pathologischen Anatomie des Menschen und der Thiere, Breslau
1814. Kurze Aufzählung der pathologischen Veränderungen beim Menschen und den
Tieren mit Citaten.
Lehrbuch der pathologischen Anatomie des Menschen und der Thiere, Berlin
1830: engl. London 1831. Dasselbe tcar gedacht als zweite Auflage des Handbuches.
Es ersshien aber nur der erste Band. Otto giebt zuerst eine allgemeine Auseinander-
setzung der überhaupt vorkommenden Formen von regelwidrigem Verhalten und be-
spricht dann die pathologische Anatomie verschiedener Gewebssysteme.
Die pathologisch - anatomischen Veränderungen teilt Otto nach
den physikalischen Verhältnissen in 10 Klassen ein:
1. Fehler in Ansehung der Zahl, 2. der Grösse, 3. der Gestalt,
4. der Lage, 5. der Verbindung, 6. der Farbe, 7. der Konsistenz, 8. der
Kontinuität, 9. der Textur und 10. des Inhaltes.
Von besonderer Wichtigkeit war dann sein grosses teratologisches
Werk:
Monstrum sexcentorum descriptio anatomica, Würzbttrg 1841.
Georg Wilhelm Christoph Consbruch (geboren 1764, Arzt
in Herford und Bielefeld)
Taschenbuch der pathologischen Anatomie für Aerzte und Wundärzte, Leipzig
1820. Eine kurze spezielle pathologische Anatomie kompilatorischen Charakters.
Johann Friedrich Herrmann Albers (1805—1867, Pro-
fessor der Medizin in Bonn)
Atlas der pathologischen Anatomie für praktische Aerzte, 4 Bde., Bonn 1832 —
1867^ enthält ausser Kopien auch viele eigene Abbildungen.
Allgemeine Pathologie, 2 Bde., 1842 — 1844.
Johann Wilhelm Arnold (1801—1873, Professor der Ana-
tomie in Zürich, dann praktischer Arzt in Heidelberg)
Lehrbuch der pathologischen Physiologie des Menschen, Zürich 1837 — 1839.
Julius Vogel (1814 — 1880, Professor der Medizin in Halle)
Icones histologiae pathologicae, Leipzig 1843: der erste Atlas der pathologischen
Histologie,
Pathologische Anatomie des menschlichen Körpers. Allgemeiner Theil, Leipzig
1845, besonders icichtig für die pathologische Histologie.
Viel bedeutender als der Atlas und das Lehrbuch waren aber die
Untersuchungen Vogels über Eiterung, Blutmischung und Harn-
analyse :
Physiologisch -pathologische Untersuchungen über Eiter und Eiterung, Er-
langen 1838,
Die Störungen der Blutmischung in Virchoics Hdb. d. spec. Path. u. Ther.,
Erlangen 1854,
mit Neubauer , Anleitung der qualitativen und quantitativen Analyse des
Harns, Wiesbaden 1854. 10. Auflage 1898, bearbeitet von Huppert,
Franz Ludwig Fick (1813 — 1858, Professor der Anatomie in
Göttingen)
Abriss der pathologischen Anatomie, Cassel 1839. Ein ganz kurzes Kompendium.
Carl Ewald Hasse (geboren 1810, Professor extraordiuarius
der pathologischen Anatomie in Leipzig, dann Professor der medi-
zinischen Klinik in Zürich, Heidelberg und Göttingen)
524 H. Chiari.
Specielk pathologische Anatomie. I. Bd. Anatomische Beschreibung der Krank-
heiten der Circulations- und Respirationsorgane, Leipzig 1841. Dieses gross ange-
legte Werk wurde nicht fortgesetzt.
Eine ganz exceptionelle Stellung nimmt aber ein das
Handbuch der rationellen Pathologie, 2 Bde., Braunschweig 1846 — 1853
von Friedrich Gustav Jacob Henle (1809 — 1885, Professorder
Anatomie in Zürich, Heidelberg und Göttingen), indem Henle hier
mit grossartigem Scharfsinne seine zum grossen Teile ganz neuen
Theorien entwickelte und wie schon früher in seinen „pathologischen
Untersuchungen" (Berlin 1840) geradezu divinatorisch für die parasitäre
Natur der miasmatisch-contagiösen Krankheiten eintrat.
Eine kurze Sektionstechnik für pathologische Sektionen publizierte
Joseph Anton Oechy (gest. 1810, Prosektor am anatomischen
Theater in Prag)
Antveisung zur zweckmässigen zierlichen Leicheneröffnung und Untersuchung,
Prag 1802.
Es erfolgten auch Mitteilungen pathologisch-anatomischer Befunde
von Seite der Praktiker, Internisten wie Chirurgen und auch von
Seite einzelner Anatomen und zwar teils selbständig, teils in ihren
sonstigen Werken:
Jakob Conrad Flachisland (1758—1825, Arzt in Karlsruhe)
Observationes pathologico-anatomicae, Rastatt 1800,
Johann Moriz David Herold (1790—1862)
Dissertatio exhibens observata quaedam ad corporis humani partium structuram
et conditionem abnormem, Marburg 1812,
Johann Friedrich Blumenbach (1752—1840, Professorder
Medizin in Göttingen)
De anomalis et vitiosis quibusdam 7iisus formationis aberrationibus commen-
tatio, Göttingen 1813,
Wilhelm Gottlieb Kelch (1776— 1813, Professor der Medizin
in Königsberg)
Beiträge zur pathologischen Anatomie, Berlin 1813,
Anton Ferdinand Fowe
Dissertatio sistens animaäversiones in anatomiam pathologicam, Berlin 1815,
Friedrich Tiedemann (1781 — 1861, Professor der Zoologie
und Anatomie in Landshut, später auch der Physiologie in Heidelberg)
Anatomie der kopflosen Missgeburten, Landshut 1813,
Von der Verengerung urd Verschliessung der Pulsadern in Krankheiten, Heidel-
berg 1843,
Gottfried Fleischmann (1777— 1850, Professor der Anatomie
in Erlangen)
Leichenöffmmgen, Erlangen 1815,
Carl Friedrich Burdach (1776—1847, Professor der Ana-
tomie und Physiologie in Dorpat und Königsberg)
Berichte von der königlichen anatomischen Anstalt zu Königsberg, Leipzig
1818—1823,
Carl Friedrich Heusinger v. Waldegg (1792—1883, Pro-
fessor der Anatomie und Physiologie in Würzburg, dann Professor der
medizinischen Klinik in Marburg)
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 525
Befrachtungen und Erfahrungen über die Entzündung und Vergrösserung der
Milz, Eisenach 1820;
Nachträge hierzu, Eisenach 1823,
Physiologisch-pathologische Untersuchungen, Eisenach 1823,
Milzbrandkranliheiten der Thiere und des Menschen, Erlnngen 1830.
Christian Friedrich Nasse (1778 — 1851, Professor der
Medizin in Halle und Bonn)
Leichenöffnungen zur Diagnostik und pathologischen Anatomie, Bonn 1821,
I. Reihe,
Heinrieh Friedrich Isenflamm (1771 — 1828, Professorder
Anatomie und Physiologie in Dorpat)
Anatomische Untersuchungen, Erlangen 1822,
Maximilian Joseph v. Chelius (1794 — 1876, Professor der
Chirurgie in Heidelberg)
Handbuch der Chirurgie, Heidelberg 1822—1823, 2 Bde.: 8. Auflage 1858; in
11 Sprachen übersetzt.
Zur Lehre von den schicammigen Ausicüchsen der harten Hirnhaut und der
Schädelknochen, Heidelberg 1831,
Conrad Johann Martin Langenbeck (1776 — 1851, Pro-
fessor der Anatomie und Chirurgie in Göttingen)
Nosologie und Therapie der chirurgischen Krankheiten, Göttingen 1822 — 1850,
Abhandlung von den Leistenbrüchen und Schenkelbrüchen, enthaltend die ana-
tomische Beschreibung und die Behandlung derselben, Göttingen 1821, mit 11 Tafeln,
Heinrich Helmerich Spitta (1799—1860, Professor der
Medizin in Rostock)
Die Leichenöffnung in Bezug auf Pathologie und Diagnostik, Stendal 1826,
Carl Heller (Arzt in Stuttgart)
Beiträge zur pathologischen Anatomie, Stuttgart 1835,
Johann Lucas Schoenlein (1793 — 1864, zuerst Privatdozent
für pathologische Anatomie in Würzburg, dann Professor der medi-
zinischen Klinik in Würzburg, Zürich und Berlin, der Begründer der
„naturhistorischen" Schule in Deutschland)
Ueber Krystalle im Darmcanal bei Typhus abdominalis, J. Müllers Arch. f.
Anat. 1836,
Zur Pathogenie der Impetigines, ibidem 1839,
Klinische Vorträge in der Charite, Berlin 1842, ed. Güterbock,
Bernhard Mohr
Beiträge zur pathologischen Anatomie, 1. Tli. Stuttgart 1838; IL TJi. Kitzingen
Friedrich Peter Ludwig Cerutti (1789—1858, Professor
der Medizin in Leipzig)
Collectanea quaedam de phthisi pulmonum tuberculosa, Leipzig 1839,
David Gruby (geboren 1814, Arzt in Wien, später in Paris)
Observationes microscopicae ad morphologiam pafhologicam spectantes, Wien 1840,
Carl Herrich (1808—1854, Arzt in Regensburg) und
Carl Popp (1812—1875, Arzt in Regensburg)
Ueher bösartige Fremdbildtmgen des menschlichen Körpers, Regensburg 1841,
Ueber den plötzlichen Tod aus inneren Ursachen, Regensburg 1848; 2. Aufl.
von Popp mit neuen Beobachtungen, Regensburg 1854,
Popp, Untersuchungen über die Beschaffenheit des menschliche7i Blutes in
verschiedenen Krankheiten, Leipzig 1843,
526 ^ H. Chiari.
Carl von Basedow (1799 — 1854, Arzt in Merseburg)
Exophthalmus durch Hypertrophie des Zellgetvebes in der Äugenhöhle, Casper's
Wach. 1840.
Weiter wurden einzelne pathologiscli-anatomisclie Veränderungen
speziell bearbeitet, so
die Thrombose der Blutgefässe von Benedict Stilling
(1810—1879, Arzt in Cassel)
Die Bildung und Metamorphose des Blutpfropfes oder Thrombus in verletzten
Blutgefässen, Eisenach 1834,
die Missbildungen von Friedrich August v. Ammon
(1799 — 1861, Professor an der chirurgisch-medizinischen Akademie in
Dresden)
Die angeborenen Krankheiten des Menschen in Abbildungen dargestellt, Berlin 1842
und Hans Carl Leopold Barkow (1798- 1873, Professor der
Anatomie in Breslau)
De monstris duplicibus verticibus inter se junctis, Berlin 1821, D. i.,
Monstra animalium duplicia per anatomen indagata, Leipzig 1828,
Beiträge zur pathologischen Entwicklungsgeschichte, Breslau 1854 — 1871,
lieber Pseudacormus, Breslau 1854,
die Geschwülste von Franz Julius Ferdinand Meyen
(t 1840)
Untersuchungen über die Natur parasitischer Geschwülste, Berlin 1828
und Johannes Müller (1801—1858, Professor der Anatomie
und Physiologie in Bonn und Berlin)
TJeher den feineren Bau der krankhaften Geschivülste, Berlin 1838 (durch
dieses Werk wurde die pathologische Histologie zur eigentlichen Geltung gebracht),
die Hernien von Franz Caspar Hesselbach (1759-1816,
Prosektor und Chirurg in Würzburg)
Anatomisch-chirurgische Abhandlung über den Ursprung der Leistenbrüche,
Würzburg 1806,
Neueste pathologisch-anatomische Untersuchung über den Ursprung und das
Fortschreiten der Leistenbrüche, Würzburg 1814
und Adam Caspar Hesselbach (1788—1856, Prosektor in
Würzburg, dann Professor der Chirurgie in Bamberg)
Die Lehre von den Eingeweidebrüchen, Würzburg 1829 — 1830,
Die Erkenntniss und Behandlung der Eingeweidebrüche, durch naturgetreue
Abbildungen erläutert, Nürnberg 1840 — 1841,
die Hautkrankheiten von Conrad Heinrich Fuchs
(1803—1855, Professor der Medizin in Würzburg und Göttingen)
Die krankhaften Veränderungen der Haut und ihrer Anhänge in nosologischer
und therapeutischer Beziehung, Göttingen 1840 — 1841
und die Helminthologie durch Carl Asmund Rudolphi
(1771—1832, Professor der Medizin in Greifswald und Berlin)
Entozoorum siv vermium intestinalium historia naturalis, Amsterdam 1808 —
1810,
Entozoorum Synopsis, Berlin 1819,
Johann Georg Bremser (gestorben 1827, Konservator am
naturgeschichtlichen Museum in Wien)
Ueber lebende Würmer im lebenden Menschen, Wien 1819,
Icones helminthum syst. Rudolphii entozool. cum illustr., 3 Vol., Wien 1823
I
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 527
und Carl Moritz Diesing- ("1800 — 1867, 1. Gustos- Adjunkt am
naturgeschichtlichen Museum in Wien)
Systema helminthum, Wien 1850 — 1851, 2 Bde.
An mehreren Universitäten entstanden besondere Lehrkanzeln für
pathologische Anatomie. So wurde in Wien im Jahre 1821 der patho-
logische Prosektor des k. k. allgemeinen Krankenhauses Biermayer.
seit 1811 in der genannten Eigenschaft thätig als Nachfolger Vetters,
der von 1796 — 1803 der erste pathologische Prosektor in Wien ge-
wesen war und in dem unter dem Einflüsse von Peter Frank ge-
gründeten pathologisch-anatomischen Museum 400 pathologisch-ana-
tomische Präparate gesammelt hatte, zum ausserordentlichen Professor
der pathologischen Anatomie ernannt mit der Verpflichtung, unent-
geltliche Vorlesungen über pathologische Anatomie zu halten. Sein
Nachfolger war Johannes Wagner (1800 — 1832), der trotz seines
frühzeitigen Todes eine Eeihe wertvoller Arbeiten lieferte:
Dissertatio inauguralis sistens mutationes intestinorum villosae in phthisi
tuberculosa et febri nervosa, Wien 1824.
4 Fälle von Hydrophobie durch Obductionsberichte bekgt, Oest. med. Jahrb. 1827,
Einige Formen von Darmgeschwüren pathologisch-anatomisch betrachtet, ibidem.
Einige Bemerkungen über die Choleraepidemie in Wien aus dem pathologisch-
anatomischen Gesichtspunkte, ibidem 1832,
lieber innere Brüche, Med. Jahrb. d. k. k. öst. Staates 1833.
Nach ihm wurde dann zum pathologischen Prosektor und ausser-
ordentlichen Professor für pathologische Anatomie CarlEokitansky
ernannt und 1844 ein Ordinariat für pathologische Anatomie, das erste
in Oesterreich, geschaifen.
In Berlin entstand zunächst nur eine pathologische Prosektur in
der Charite im Jahre 1831. Der erste Prosektor war Philipp
Phöbus (1804—1880, 1831—1832 pathologischer Prosektor in Berlin,
dann Professor der Pharmakologie in Giessen). An pathologisch-ana-
tomischen Arbeiten veröffentlichte er:
De concrementis venarum osseis et calculosis, Berlin 1832,
lieber den Leichenbefund bei der asiatischen Cholera, Berlin 1838.
Ihm folgte 1833 Robert Froriep (1804-1861, Professor der
chirurgischen Anatomie), der bis zum Jahre 1846 als Prosektor und
Konservator des pathologischen Museums fungierte und sich durch
seine Illustrationswerke grosse Verdienste erwarb.
Chirurgische Kupfertafeln, Weimar 1820 — 1848,
Klinische Kupfertafeln, Weimar 1820 — 1837.
1846— 1849 war Rudolf Virchow, 1849—1852 Benno Ernst
Friedrich Reinhardt (1820—1852), 1852—1856 Heinrich
Meckel ab Hemsbach (1821 — 1856) pathologischer Prosektor.
Diese Prosektoren hielten, wie namentlich Virchow, Kurse über
pathologische Anatomie und publizierten zahlreiche pathologisch-ana-
tomische Arbeiten, unter denen besonders hervorzuheben sind
die pathologisch-anatomischen Untersvichungen von Reinhardt, Berlin 1852,
Ed. Leiibuscher, welche eigentlich ein kurzgefasstes Lehrbuch der allgemeinen patho-
logiscJien Anatomie darstellen und
die Mikrogeologie (lieber die Concremente im thierischen Körper) von Meckel,
Berlin 1856, ed. Billroth, mit von Meckel selbst gezeichneten schönen Abbildungen.
Die Professur für pathologische Anatomie war aber wie die für
Physiologie mit der Lehrkanzel für normale Anatomie vereint und
528 H. Chiari.
erst im Jahre 1856 wurde über Antrag von Johannes Müller eine
selbständige Lehrkanzel für pathologische Anatomie in Berlin errichtet
und für dieselbe Rudolf Virchow aus Würzburg berufen.
Das erste Ordinariat in Deutschland für pathologische Anatomie
wurde 1849 für Rudolf Virchow in Würzburg creiert.
Beschreibungen pathologisch-anatomischer Musealpräparate lieferten
Friedrich Benjamin Oslander (1759—1822, Professor der
Medizin und Entbindungskunst in Göttingen)
Epigrammata in complures musei anatomici res, Göttingen 1807 ; 2. Aus-
gabe 1814,
Friedrich Peter Ludwig Cerutti
Beschreibung der pathologischen Präparate des anatomischen Museums zu
Leipzig, Leipzig 1819,
Pathologisch-anatomisches Museum, Leipzig 1821 — 1824,
Biermayer
Museum anatomico-pathologicum nosocomii tmiversalis Vindobonensis, Wien 1816
Adam Caspar Hesselbach
Beschreibung der pathologischen Präparate, welche in der k. anatomischen
Sammlung zu Würzburg aufbewahrt werden, Giessen 1824,
Adolph Wilhelm Otto
Verzeichniss der anatomischen Präparatensammlung des k. Anatomie-Institutes
in Breslau, Breslau 1826,
Carl Friedrich Heusinger v. Waldegg
Bericht von der kgl. anatomischen Anstalt zu Würzburg, Würzburg 1826,
August Franz Joseph Carl Mayer (1787—1865, Professor
der Anatomie in Bern und Bonn)
Systematischer Katalog der Präparate des anatomischen Museums der Uni-
versität zu Bonn, Bonn 1830,
Carl Wilhelm Wutzer (1789—1863, Direktor der Chirurgen-
schule in Münster, dann Professor der Chirurgie in Halle und Bonn)
und Caspar Theobald Tourtual (1802 — 1865, Lehrer der
Anatomie und Chirurgie in Münster)
Bericht über die anatomische Anstalt in Münster
I. Bericht (Wutzer), Münster 1831,
IL Bericht (Tourtual), Münster 1833,
und AntonRömer (geb. Ende des 18. Jahrhunderts, Professor
der Anatomie an der medizinisch-chirurgischen Josephsakademie in
Wien)
Specielles Verzeichniss der Präparate der medidnisch- chirurgischen Josephs-
Akademie, Wien 1837.
In Belgien und Holland wurde in den ersten Decennien des
19. Jahrhunderts relativ wenig für pathologische Anatomie geleistet.
Zusammenstellungen pathologisch-anatomischer Befunde veröffent-
lichte
Jacob Ludwig Conrad Schröder van der Kolk (1797 —
1862, Professor der Anatomie und Physiologie in Utrecht)
Observationes anatomico-pathologici et practici argumenti, Amsterdam 1826.
Diesem Forscher verdankt die Pathologie auch wichtige Unter-
suchungen in der pathologischen Anatomie des Nervensystems
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 529
Hei fijnere samenstel en de iverking van het ruggemerg en het verlengde merg.
Amsterdam 1855 — 1858; deutsch Braunschweig 1859
und die EntdeckuDg der elastischen Fasern im Sputum der Phthisiker
Over de aanvezigheid van elastiche vezels in de Sputa van teringlyders als
teeken eener vomica, Utrecht 1845; franz. Aachen 1850; engl. 1857.
In der gleichen Weise war Jacob Cornelis Broers (1795 —
1847, Professor der Chirurgie und Geburtshilfe in Leyden) thätig
Observationes anatomico-pathologicae, Leyden 1839.
Am meisten förderte aber die pathologische Anatomie, zumal die
pathologische Histologie, Gottlieb Ginge (1812 — 1898, Professor
der Physiologie und Pathologie in Brüssel)
Anatomisch -mikroskopische Untersuchungen zur allgemeinen und speciellen
Pathologie, I. H. Minden und Leipzig 1889; IL. R. Jena 1841,
Abhandlungen zur Physiologie und Pathologie, Jena 1841,
Atlas der pathologischen Anatomie, Jena 184^i — 1850. (Der Atlas der patho-
logischen Histologie auch als besonderer Abdruck, Jena 1850.)
Für die Lehre von den Missbildungen waren sehr wichtig die
Arbeiten von Willem Vrolik (1801 — 1863, Professor der Anatomie
und Physiologie in Groningen, der Anatomie und Chirurgie in Amsterdam)
Handboek der ziektekundige ontleedkunde, Amsterdam 1840 — 1842,
Tabulae ad illustrandam embryogenesin hominis et mammalium tarn normalem
quam abnormen, Amsterdam 1849,
Teratology 1847 in Todd's Cyclopaedie.
Vrolik vermehrte auch das von seinem Vater Gerardus
Vrolik angelegte Musee Vrolik, das später Eigentum der Universität
Amsterdam wurde, sehr vielseitig.
Catalogue de la collection d'anatomie humaine comparee et pathologique du
musee Vrolik, Amsterdam 1865, von Justus Lodewyk Dusseau.
Beschreibungen pathologisch -anatomischer Präparate aus dem
anatomischen Museum in Utrecht lieferte der schon erwähnte Jan
B 1 e u 1 a n d
Descriptio musei anatomici academiae Rheno-Trajectensis, Utrecht 1826,
Lcones anatomico-pathologicae partium corpcn'is humani, quae in descriptione
musei inveniuntur. Utrecht 1827.
Auch in Italien war das Interesse für die pathologische Ana-
tomie zunächst ein geringes.
Pathologisch-anatomische Sektionsbefunde publizierten
Floriano Caldani (Arzt in Bologna)
Osservazioifii anatomico-patologiche, Modemi 1806,
Stefano Delle-Chiaje (geb. 1794, Professor der Anatomie in
Neapel)
Dissertazioni anatomico-patologiche, Neapel 1840,
Folchi
Exercitatio pathologica seti multwum morborum historia per anatomen illu-
ftrata, Rom 1841—1843.
Für die pathologische Anatomie der chirurgischen Krankheiten
waren von Wichtigkeit die Arbeiten von
Michele Vincenzo Malacarne (1744 — 1816, Professor der
Anatomie in Acqui, der Chirurgie und Geburtshilfe in Pavia und der
Chirurgie in Padua)
Ricordi della anatomia chirurgica raccolti, Padua 1801 — 1802, 3 Vol.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 34
530 , H. Chiari.
und Giovanni Battista Palletta (1747—1832, Chirurg in
Mailand)
Exercitationes pathologicae, Mailand 1820 — 1826, 2 Vol.
Pathologisch - anatomische Präparate aus dem Museum in Padua
beschrieb
Francesco Luigi Fanzago (1770—1832, Professor der Patho-
logie und Hygiene in Padua)
Memorie sopra alcuni pezzi morbosi conservati nel gabinetto patologico deW
Universitä di Padova, Padua 1820.
Von den Slawen ist in dieser Zeit zu erwähnen Paul Nara-
nowitsch (1801—1874, Dozent für pathologische Anatomie, dann
Professor der pathologisch-chirurgischen Anatomie in St. PetÄ-sburg),
der bereits seit 1839 Vorlesungen über pathologische Anatomie hielt
und eine Eeihe pathologisch-anatomischer Abhandlungen publizierte,
deren erste 1836 als Dissertatio inauguralis erschien:
Tractatus de herniis, St. Petersburg 1836.
Pathologisch-anatomische Präparate aus der anatomischen Samm-
lung in Moskau beschrieb der von Deutschland dahin berufene Pro-
fessor der Anatomie Justus Christian v. Loder
Index praeparatorum, quae in museo Universitatis Mosquensis servantur,
Moskau 1823.
Fortschritte der pathologischen Anatomie in dieser
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Sehr wichtig war in dieser Zeit das Erscheinen zahlreicher L e h r -
und Handbücher und Atlanten der pathologischen Ana-
tomie, welche nicht bloss die spezielle, sondern auch die allgemeine
pathologische Anatomie behandelten, also sich bemühten, in diese
Wissenschaft eine systematische Ordnung zu bringen. Manche dieser
Werke wie z. B. die von Lobstein, Cruveilhier, Hope, Cars-
well, Meckel, Otto (die erste vergleichende pathologische Ana-
tomie), Albers, Vogel, Hasse, Ginge und vor allem das unver-
gängliche Werk von Heule haben noch heute Bedeutung und ist ihr
Studium dem Fachmanne dringend zu empfehlen.
Nicht minder bedeutend waren aber auch die Leistungen der
pathologischen Anatomie in einzelnen Richtungen. Man lernte
jetzt immer mehr die Leichenveränderungen verstehen und wich
dadurch vielfachen Irrtümern früherer Zeit aus. Billard zeigte
speziell, dass die bei den Sektionen häufig gefundene Rötung der
Mucosa des Magens und Darms oft nichts anderes sei als eine post-
mortale Erscheinung.
Die Missbildungen des Menschen wurden sehr zahlreich unter-
sucht und auch Versuche ihrer Klassifizierung gemacht (Etienne
und Isidore Geoffroy St. Hilaire, Tiedemann, Ammon,
Vrolik und Barkow).
Man bemühte sich, das Wesen der Entzündungen im allge-
meinen zu erkennen (Gendrin, Thomson, Vogel, Heule).
Es wurde der Begriif des Tuberkels pathologisch-anatomisch
festgestellt (Laennec) und der Nachweis der Identität des Tuberkels
in den verschiedensten Organen erbracht (Bayle).
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 531
Die Neoplasmen wurden in ausgedehntem Masse studiert und
klassifiziert (Laennec, Bayle. Johannes Müller),
Auf dem Gebiete der Herz- und Gefässerkrankungen
wurden Dank der physikalisch-anatomischen Schule in Frankreich
allenthalben reiche pathologisch - anatomische Erfahrungen erzielt
(Corvisart, Farre, Hodgson, Stokes. Hope). es wurde der
Zusammenhang zwischen Herzkrankheiten und Eheumatismus erkannt
(Bouillaud), es wurden die Aneurysmen sehr eingehend studiert
(Delpech, Breschet), die Gefässthrombose bearbeitet (Still in g)
und von Basedow der Begriff der nach ihm benannten Krankheit
aufgestellt.
Eine sehr wesentliche Förderung erfuhr die pathologische Ana-
tomie der Lungenkrankheiten, besonders der Phthise (Laennec,
Bayle, Louis, Stokes, Schröder van der Kolk) und der
Pneumonie (Chomel) und der Gehirnkrankheiten (Hooper,
Abercrombie, Schröder van der Kolk) und wurde die Ence-
phalomalacie als eigene Erkrankung erkannt (Eos tan).
Zugleich waren die pathologisch- anatomischen Erkenntnisse hin-
sichtlich der Erkrankungen des Magens und Darmes (Vetter,
Abercrombie, Monro III), des Typhus abdominalis (Petit
und Serres. Chomel, Bretonneau, Louis, Broussais), der
Hernien (Dupuytren, Cloquet, Cooper, Langenbeck,
Hesselbach Vater und Sohn, Wagner), der Lebergeschwülste
(Farre) und Milzkrankheiten (Heusinger).
Bezüglich der Nierenkrankheiten wurde die Häufigkeit und
Bedeutung der Entzündung der Nieren erkannt (Bright, Eayer),
die Harnsteine wurden von Bird studiert.
Eingehende anatomische Untersuchungen erfuhren die Krank-
heiten der Hoden (Cooper), der Ovarien (Bauchet), der
Mammae (Velpeau, Cooper) und des Uterus (Hooper, Lee),
der Lymphdrüsen (Breschet) und der Thymus (Cooper),
der Knochen (Dupuytren, Howship, Chelius) und der
Gelenke (Smith) sowie der Gicht (Todd).
Grosse Fortschritte machte auch die pathologische Anatomie der
Hautkrankheiten (Alibert, Eayer, Bateman, Fuchs) und
der Kinderkrankheiten (Billard) und beschrieb Bretonneau
^ehr eingehend die Angina diphtheritica.
Die tropischen Krankheiten studierte Annesly.
Die menschlichen Helminthen wurden eingehend bearbeitet
(Eudolphi, Bremser, Diesing) und fällt in diese Zeit auch die
Entdeckung der Trichina spiralis (Hilton und Owen), der Haar-
sackmilbe des Menschen (Simon und He nie), sowie mehrerer Phyto-
parasiten des Menschen, des Favuspilzes (Schönlein), des Tricho-
phyton tonsurans (Gruby) und des Soorpilzes (Vogel).
Rokitansky und Virchow.
Eine neue und wohl die glanzvollste Epoche der pathologischen
Anatomie wurde dann durch das Auftreten von Carl Eokitansky
und Eudolf Virchow bedingt, welche beiden Männer sich in der
glücklichsten Weise ergänzten, so dass Eokitansky sozusagen den
34*
532 H. Chiari.
Unterbau schuf, auf welchem hierauf Virchow sein grossartiges Ge-
bäude aufführte.
Carl Freiherr von Rokitansky wurde 1804 in Königgrätz
in Böhmen geboren am 19. Februar, studierte das Gymnasium in König-
grätz und Leitmeritz, die Medizin in Prag und Wien, wurde 1828
Doktor in Wien, 1828 Assistent des Professor Wagner daselbst, 1832
nach dem Tode Wagners Supplent der Custodie des pathologisch-
anatomischen Museums, des pathologischen und gerichtlichen Prosek-
torates und der ausserordentlichen Professur für pathologische Ana-
tomie an der Universität Wien, 1834 wirklicher Vertreter dieser
Stellen und 1844 ordentlicher Professor der pathologischen Anatomie
und zugleich gerichtlicher Anatom für sämtliche von gerichtswegen in
Wien vorzunehmende Leichenöffnungen. 1875 trat Rokitansky
reich an Ehren vom Lehramte zurück und starb am 23. Juli 1878.
Die erste Anregung zur pathologischen Anatomie empfing Roki-
tansky als Student der Medizin durch das Stadium der Werke von
Johann Friedrich Meckel, Martin Lobstein und Gabriel
A n d r a 1. Es brachte ihn das auch in nähere Berührung mit Professor
Wagner, durch dessen Vermittlung Rokitansky schon 1827 unter
dem Titel „C. R. ad museum pathologico-anatomicum Vindobonense
practicans non stipendiatus" unbesoldeter Praktikant am Wiener patho-
logisch-anatomischen Museum und 1828 besoldeter Assistent bei der
pathologischen Prosektur wurde. Von da an hatte Rokitansky nun
Gelegenheit, an dem selten grossen Leichenmateriale dieses Kranken-
hauses mit seiner hervorragenden Begabung, seinem ungeheuren Fleisse
und seiner seltenen Geschicklichkeit und Gründlichkeit in der ana-
tomischen Untersuchung bald die reichsten Erfahrungen zu sammeln,
so dass es ganz begreiflich ist, dass er nach dem Tode Wagners,
obwohl erst 28 Jahre alt, dessen Nachfolger wurde. Das erste von
Rokitanskys Hand geschriebene Sektionsprotokoll stammt vom
23. Oktober 1827, im März 1866 feierte Rokitansky seine 30000.
Sektion.
Rokitanskys Ziel ging dahin, die Entwicklungsgeschichte der
pathologischen Veränderungen und den Ablauf derselben zu studieren
und so eine wirklich wissenschaftliche Grundlage der klinischen Me-
dizin und die Basis einer pathologischen Physiologie zu schafien. Dies
gelang ihm auch in ungeahnter Weise. Im Vereine mit Skoda
arbeitete er in der Richtung der französischen physikalisch-anatomischen
Schule und gründete so die „neue Wiener Schule", welche die
französische Schule durch die noch viel innigere Verbindung zwischen
physikalischer Diagnostik und pathologischer Anatomie weit überholte
und die pathologische Anatomie mit einem Schlage zu einer modernen .
Wissenschaft machte. Von allen Seiten strömten die Aerzte nach
Wien, um unter Rokitansky und Skoda die neue Lehre kennen
zu lernen und gegenüber der Scholastik und Dogmatik die Pathologie
vom Standpunkte der Naturforschung betreiben zu lernen.
Rokitansky schuf eigentlich die wissenschaftliche pathologische
Anatomie ganz neu. . Seine ausgezeichneten und heute noch vielfach
unübertroffenen Darstellungen der makroskopischen anatomischen Ver-
änderungen des kranken Körpers, gewonnen durch eine ungeheure
Zahl nach einer exakten Methode vorgenommener pathologischer Sek-
tionen, führte zur Aufstellung anatomischer Krankheitstypen gegen-
über den früher beliebten symptomatischen Krankheitsbildern.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 533
Vielfach vertiefte Rokitansky diese seine makroskopischen Unter-
suchungen durofe mikroskopische Forschungen, wenn er auch relativ
spät, nämlich erst 1839, überhaupt zu mikroskopieren begann. Diese
Feststellung der Krankheitstypen vom anatomischen Standpunkte aus
sozusagen die Schaffung einer „anatomischen Pathologie"
(Wunderlich) bleibt sein unsterbliches Verdienst und rief seine
Thätigkeit insofern eine förmliche Revolution in der Medizin hervor.
Daher ist es nicht unpassend, wenn Rokitansky mit einem
Kopernikus oder einem Linne verglichen wird. Sein Genie hatte
eben darin ganz richtig das eigentlich Wesentliche und Notwendige
erkannt und. was auch später in der pathologischen Anatomie noch
geleistet wurde, dieses von Rokitansky der pathologischen Anatomie
aufgedi'ückte Gepräge blieb für immer bestehen.
Bei einer solchen grundlegenden Art der Thätigkeit Roki-
tanskys ist es ganz natürlich, dass er auch vielfach zu nicht
richtigen Anschauungen geraten musste und hatte Virchow gewiss
Recht, wenn er in seiner berühmt gewordenen Kritik des 1846 er-
schienenen I. Bandes des Handbuches der pathologischen Anatomie
i.e. der allgemeinen pathologischen Anatomie Rokitanskys die all-
gemeinen Thesen als viel zu wenig begründet bezeichnete. Roki-
tansky hatte auf einem fast ganz unbebauten Felde zu arbeiten be-
gonnen und zunächst so vieles im einzelnen festzustellen und so viel
mit irrigen allgemeinen Vorstellungen bei sich selbst zu kämpfen, dass
er naturgemäss in vielen generellen Fragen nicht das Richtige treffen
konnte. Er war der „erste wahre deskriptive pathologische
Anatom", wie Virchow treffend sagte. Darin lag seine Grösse
und darum ist seine spezielle pathologische Anatomie um so unendlich
viel mehr wert als seine allgemeine pathologische Anatomie.
Die mit der Zeit unaufhaltsam fortschreitende pathologisch-ana-
tomische Forschung hat klar bewiesen, dass Rokitanskys Krasen-
lehre, seine Anwendung der Schwann sehen Blastemlehre auf die
pathologische Anatomie, seine Lehre von den Ausschliessungen etc.
unhaltbar waren. Das thut aber der grossen Bedeutung Roki-
tanskys sicherlich keinen Abbruch. Rokitansky selbst aner-
kannte bereitwilligst die bessere Erkenntnis anderer und war das
gewiss einer seiner glänzendsten Charaktereigenschaften. Vergleicht
man in dieser Richtung die 3. Auflage seines Handbuches mit der
1. Auflage, so sieht man leicht den gewaltigen Unterschied.
Das Resultat der Thätigkeit Rokitanskys kann nicht besser
zusammengefasst werden als durch seine eigenen Worte in seiner Ab-
-chiedsrede im Jahre 1875 anlässlich seines Rücktrittes vom Lehramte
Wien. med. Jahrb. 1875):
-Ich habe einem Bedürfnisse meiner Zeit gemäss die pathologische
Anatomie vor allem im Geiste einer die klinische Medizin befruchtenden
Forschung betrieben und ihr auf deutschem Boden jene Bedeutung errungen,
dass ich dieselbe meinen Zuhörern als das eigentliche Fundament einer
uathologischen Physiologie und als die elementare Doktrin für Naturforschung
auf dem Gebiete der Medizin bezeichnen konnte. Wie sie das klinische
Wissen fester begründet, erweitert und ergänzt hat, so hat sie, nachdem sie
sich zur pathologischen Histologie vertieft, eine pathologische Chemie ange-
bahnt, eine Experimentalpathologie ins Leben gerufen, um sich selbst durch
die Forschung im lebenden Tiere zu ergänzen. Sie hat in dem innigen
534 ' H. Chiari.
Yerkehre mit allen medizinischen Doktrinen nicht nur Licht am Kranken-
bette gemacht und vielfaches Heil gebracht, sondern auch '-die "Wissenschaft
vom Leben überhaupt und damit das E,eich der Naturwissenschaften er-
weitert. Sie klärt durch ihre Nachweise ebensowohl täglich Krankheit und
Tod ihren Umrissen nach auf, als sie zur histologischen Forschung vertieft,
dieselben in bestimmten Zuständen der Elemente der erkrankten organisierten
Materie begründet und hier, vor weitere Fragen gestellt, auf das abstruse
Oebiet der Krankheitsvorgänge und ihrer Bedingungen hinleitet. Sie hat
dadurch auch den Laien gezeigt, welche Erfolge die materielle Forschung
erzielt, und es ist unzweifelhaft ihr zum grossen Teile zu danken, dass das
Zutrauen zur materiellen Forschung, zum Studium der Natur, zu den Natur-
wissenschaften in den weitesten Kreisen gestärkt und gesteigert worden ist;
dass das auf diesem Wege geschaffene Wissen Aufnahme und Geltung er-
langt hat ; dass Denken und Urteil auf würdige Objekte gewiesen, in natur-
gemässe Bahnen geleitet worden sind."
Die wissenschaftlichen Publikationen Rokitanskys sind geradezu
klassisch zu nennen. Schon seine ersten Arbeiten
Leistungen der pathologisch-anatomischen Lehranstalt an der Wiener Univer-
sität während der Schuljahre 183112 — WSSjö, Med. Jahrb. d. öst. Staates XVII^XIX.,
XXII—XXIIL Bd.,
lieber innere Darmeinschnürungen, ibidem XIX. Bd. und
lieber Darmeinschnürung, ibidem XXIII. Bd.
zeigten von seiner gewaltigen Kraft, seiner klaren Auffassung und ge-
diegenen Gründlichkeit.
1842 erschienen der 2. und 3. Band seines Handbuches der patho-
logischen Anatomie i. e. die spezielle pathologische Anatomie (Wien)
und 1846 der 1. Band, die allgemeine pathologische Anatomie; 3. Auf-
lage unter dem Titel:
Lehrbuch der pathologischen Anatomie 1. Bd. 1845; 2. Bd. 1856; 3. Bd. 1861,
Wien.
Es ist dieses Werk das Fundamental werk Rokitanskys, das in
seinem 2. u. 3. Bande für immer vom grössten Werte bleiben wird.
In der Einteilung der pathologischen Anatomie folgte Roki-
tansky dem Vorgange Ottos, indem er die gleichen 10 physikalischen
Gruppen der pathologischen Veränderungen unterschied. Diese Ein-
teilung musste für die damalige Zeit in der That zweckmässig ge-
nannt werden, da es sich darum handelte, überhaupt erst die bei den
Sektionen in Erscheinung tretenden Abweichungen von der Norm im
allgemeinen festzuhalten und in objektiver Weise zu gruppieren.
Die speziellen Arbeiten Rokitanskys erschienen zum grössten
Teile in den med. Jahrb. d. öst. Staates
lieber die Knochenneubildung auf der inneren Schädelfläche Schwangerer,
XXIV. Bd.,
lieber spontane Zerreissungen der Aorta, XXV. Bd.,
lieber die divertikelähnliche Erweiterung des Luftröhrencanales, XXV. Bd.,
lieber die sogenannten Verdoppelungen des Uterus, XXVI. Bd.,
Ueber Combination und wechselseitige Ausschliessung verschiedener Krankheits-
prozesse nach Beobachlxmgen an der Leiche, XXVI. u. XXVIII. Bd.,
Ueber das perforirende Magengeschwür, XX VII. Bd ,
Ueber Stricturen des Darmcanals und andere der Obstipation und dem Ileus
zu Grunde liegende Krankheitszustände, XXVIII. Bd..
Zur Kenntniss der Rückgratsverkrümmungen und der mit denselben zusammen-
treffenden Abweichungen des Brustkorbs und Beckens, XXV III. Bd.,
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 535
Beitrag zur Charakteristik dyskrasischer Entzündung und Vereite)-ung am
macerirten Knochen, XXVIII. Bd.,
Der dysenterische Process auf dem Dickdarme nnd der ihm gleiche am Uterus,
vom anatomischen Gesichtspunkte beleuchtet, XXIX. Bd.,
Skizze der Grössen- und Formabweichungen der Leber, XXIX. Bd.,
Drei merkwürdige Fälle von Erkrankung des Pharynx und Oesophagus,
XXX. Bd.,
Bemerkungen und Zusätze betreffend die faserstoffigen Gerinnungen in den
Herzhöhlen, die Verknöcherung der Klappen und die fettige Entartung des Herz-
fleisches, XXXIIL Bd..
teils in der Zeitschrift der Gesellschaft der Aerzte in Wien
Beiträge zur Kenntniss der Verknöcherungsprocesse, 1848,
Pathologisch-anatomische Beobachtungen, 1848,
Ueber die dendritischen Vegetationen auf Synovialhänten, 1851,
teils in den Denkschriften und Sitzungsberichten der mathematisch-
naturwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften in
Wien
Zur Anatomie des Kropfes, Denkschr. 1849,
Ueber die Cyste, Denkschr. 1849,
Ueber einige der wichtigsten Krankheiten der Arterien, Denkschr. 1851,
Ueber die Entu-icklung der Krebsgtrüste mit Hinblick auf das Wesen und die
Entivicklung anderrr Maschemverke, Sitz.-Ber. 1852,
Ueber den Zottenkrebs, Sitz.-Ber. 1852,
Ueber den Gallertkrebs mit Hinblick auf die gutartigen Gallertgeschwülste,
Sitz.-Ber. 1852,
Ueber die pathologische Neubildung von Brustdrüsentextur und ihre Beziehung
zum Cystosarkom. Sitz.-Ber. 1852,
Ueber das Ausu-achsen der Bindegewebssubstanzen und die Beziehung desselben
zur Entzündung. Sitz.-Ber. 1854,
Ueber Bindegeicebstcucherung im Nervensystem, Sitz.-Ber. 1857.
Selbständig erschien noch im Jahre 1875 das hervorragende Werk
Die Defecte der Scheidewände des Herzens, Wien.
Weiter publizierte Rokitansky noch eine grosse Zahl von
kleineren Artikeln in medizinischen Wochenschriften zumeist in der
Allgemeinen Wiener medizinischen Zeitung.
Ausser seinen hervorragenden Leistungen auf fachlichem Gebiete
entfaltete Rokitansky aber auch eine sehr fruchtbringende Thätig-
keit als Referent für medizinische Studienangelegenheiten bei der
obersten ünterrichtsverwaltung in Wien und als Philosoph.
In diesen Richtungen sind von grossem Interesse eine Reihe seiner
bei verschiedenen Gelegenheiten gehaltenen Reden:
Zur Orientirung über Medicin. Feierlicher Vortrag in der Akademie der
Wissenschaften, Wien 1858,
Die Conformität der Universitäten mit Rücksicht auf gegenwärtige öster-
reichische Zustände, Wien 1868,
Zeitfragen betreffend die Universität mit besonderer Beziehung auf die Medicin,
Wien 181)8,
Der selbständige Werth des Wissens. Feierlicher Vortrag in der Akademie
der Wissenschaften, Wien 1867,
Die Solidarität alles Thierlebens. Feierlicher Vortrag in der Akademie der
Wissenschaften, Wien 1869.
Als Lehrer war Rokitansky ungemein gewissenhaft, als Pro-
sektor unübertrefflich. Seine Arbeitsstätte waren anfangs ganz elende
Räume im allgemeinen Krankenhause in Wien und erst nach langen
Jahren erreichte Rokitansky den Bau eines eigenen pathologisch-
anatomischen Institutes. Dabei zeigte sich der weite Gesichtskreis
536 ' H. Chiari.
Rokitanskys, indem er sofort auch für die pathologische Chemie
und experimentelle Pathologie vorsorgte.
Litteratur über Rokitansky:
Carl August Wunderlich, Wien und Paris; Ein Beitrag zur Geschichte
?*. Beurtheilung der gegemvärtigen Heilkunde in Deutschland und Frankreich, Stutt-
gart 1841,
Rudolf Virchoiv, Kritik des 1. Bandes des Rokitansky' sehen Handbuches
der pathologischen Anatomie, Med. Zeitung d. Vereines f. Heilkunde in Preussen
1846 Nr. 48 und 50,
Die neue Auflage von Rokitansky's allgemeiner pathologischer Anatomie, Wien,
med. WocJi. 1855 Ar. 26,
Richard Hesclü, Carl Rokitansky und die Grundlagen der wissenschaftlichen
Medicin, Wien. med. Wach. 1874 Nr. 7,
Anonymus mit dem Motto Vitam impendere vero, Rokitansky, Wien 1874,
Richard HescJil, Rokitansky und seine Bedeutung für die medicinische
Wissenschaft, Die Gegenwart 1878 Nr. 44 und 46,
Theodor Meynert, Rokitansky. Vortrag gehalten in der Sitzung des Ver-
eines für Psychiatrie in Wien am 27. November 1878,
Richard Heschl, Aus dem Leben Rokitansky^s. Skizzen mitgetheilt bei der
Enthüllung der Gedenktafel an seinem Geburtshause zu Königgrätz am 3. August 1879,
Gustav Scheuthauer, Rokitansky, Gurlt-Hirsch Biogr. Lexikon der hervor-
ragenden Aerzte 1888,
Anton Weicliselhaunif Rede auf Rokitansky, gehalten bei Enthüllung des
Denkmales Rokitansky^s im Arkadenhofe der Wiener Universität am 5. Juni 1898,
Neue Freie Presse Wien 6. Juni 1898.
Rudolf Virchow wurde am 13. Oktober X821 in Schivelbein
in Pommern geboren, studierte das Gymnasium in Cöslin, die Medizin
am Friedrich -Wilhelm -Institute in Berlin, wurde 1843 Doktor in
Berlin mit der Dissertation: De rheumate praesertim corneae, 1844
Assistent an Robert Frorieps Prosektur an der Charite in Berlin
und 1846 Nachfolger Frorieps. 1847 habilitierte sich Virchow
als Privatdozent an der Berliner Universität, 1849 wurde er als Ordi-
narius für pathologische Anatomie nach Würzburg berufen, von wo er
1856 in der gleichen Eigenschaft nach Berlin zurückkehrte.
Entschieden von der grössten Bedeutung für Virchow s Ent-
wicklung Avar der Einfluss, welchen zur Zeit seines medizinischen
Studiums in Berlin Johannes Müller, der damals am Friedrich-
Wilhelm-Institute spezielle pathologische und vergleichende Anatomie
und Physiologie lehrte und Johann Lucas Schönlein, welcher
ebendaselbst spezielle Pathologie und Therapie vortrug, auf ihn aus-
übten. Durch diese Männer Avurde Virchow zur exakten, streng
wissenschaftlichen Methodik angeleitet, wozu noch kam, dass gerade
damals durch Mathias Jacob Schieiden und Theodor Schwann
die „Zellenlehre" aufkam. Diese veranlasste Virchow, wie er selbst
sagte, dazu, frühzeitig cellular denken zu lernen.
Sehr bald nach seiner Promotion hatte dann Virchow ähnlich
wie Rokitansky das Glück, in eine Stellung zu kommen, in welcher
er reichliche Gelegenheit fand, seinem Triebe nach exakter Forschung
zu folgen, indem er, 23 Jahre alt, Assistent bei Robert Froriep
wurde und damit auch die chemischen und mikroskopischen Unter-
suchungen im Dienste der einzelnen Krankenabteilungen der Charite
übernahm. Als dann Robert Froriep die pathologische Prosektur
der Charite verliess, wurde über dessen Vorschlag Virchow sein
Nachfolger. Jetzt verfügte Virchow selbständig über ein grosses
Material und verwandte dieses alsbald nicht bloss zur Forschung,
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 537
sondern auch zui' Lehre. Seinen ersten Kursus hielt Yirchow im
Sommersemester 1846 und legte er damit eigentlich den ersten Grund
zu der „Berlin er schule", die bald die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich zog. Unter seinen damaligen Arbeitsgenossen ragten nament-
lich hervor Ludwig Traube. Benno Reinhardt und Rudolf
L e u b u s c h e r. Die ersten Veröffentlichungen dieser Schule erfolgten
in Traubes Beiträgen zur experimentellen Pathologie und Physio-
logie, von denen aber nur 2 Hefte erschienen. 1847 fassten dann
V i r c h 0 w und Reinhardt den kühnen Entschluss, ein eigenes Archiv
für pathologische Anatomie und Physiologie und klinische Medizin zu
gründen, dessen I. Band 1847 erschien. In dem Prospekte desselben
ist das Ziel dieses Journales mit folgenden Worten charakterisiert:
„Der Standpunkt, den wir einzuhalten gedenken, ist der einfach natur-
wissenschaftliche. Die praktische Medizin als die angewendete theoretische,
die theoretische als pathologische Physiologie ist das Ideal, dem wir, so weit
es unsere Kräfte gestatten, zustreben werden. Die pathologische Anatomie
und die Klinik, obwohl wir ihre Berechtigung und Selbständigkeit voll-
kommen anerkennen, gelten uns doch vorzugsweise als die Quellen für neue
Fragen, deren Beantwortung der pathologischen Physiologie zufällt. Da
aber diese Prägen zum grossen Teile erst durch ein mühsames und um-
fassendes Detailstudium der Erscheinungen am Lebenden und der Zustände
an der Leiche formuliert werden müssen, so setzen wir eine genaue und be-
wusste Entwicklung der anatomischen und klinischen Erfahrungen als die
erste und wesentlichste Forderung der Zeit. Aus einer solchen Empirie
resultiere dann allmählich die wahre Theorie der Medizin, die pathologische
Physiologie."
Darin liegt das Programm, welches Virchow auch später stets
festhielt und innerhalb dessen er so Grossartiges leistete. Dieses
Journal gewann allmählich immer mehr an Bedeutung und hat das-
selbe erst vor kurzem das Jubiläum seines 150. Bandes gefeiert.
Die ruhige wissenschaftliche Arbeit Virchows in dieser seiner
ersten Berliner Zeit wurde aber schon im Jahre 1848 durch die
politischen Ereignisse gestört. Als Virchow im Februar 1848 im
Auftrage der preussischen Regierung die verheerende Typhusepidemie
in Oberschlesien studiert hatte, berichtete er in freimütiger Weise
über die von ihm daselbst gesehenen traurigen sozialen und politischen
Verhältnisse. In der mit Leubuscher 1848 gegründeten medi-
zinischen Reform deckte er die Mängel der öffentlichen Hygiene und
des medizinischen Unterrichtes in schonungsloser Weise auf und machte
entsprechende Vorschläge zur Reform. Das führte dazu, dass er 1849
seiner Prosektur enthoben wurde, respektive ihm dieselbe nur gegen
Widerruf belassen wurde. In dieser bedrängten Lage traf es sich,
dass Virchow als ordentlicher Professor der pathologischen Anatomie
an die Universität Würzburg berufen wurde, wodurch er wieder Ge-
legenheit fand, mit seiner ganzen Kraft der Pathologie sich zu widmen.
Der Würzburger Aufenthalt Virchows wurde auf diese Art
ungemein fruchtbringend. Virchow führte zahlreiche spezielle
Untersuchungen aus und legte hier auch den Grund für seine Cellular-
pathologie. Im Vereine mit einer Reihe hervorragender Forscher be-
gründete er die Würzburger physikalisch-medizinische Gesellschaft,
deren Verhandlungen seine wichtigsten Arbeiten aus dieser Zeit ent-
hielten. Gleichzeitig reorganisierte er die von Cannstadt ge-
538 ' H. Chiari.
gründeten Jahresberichte über die Fortschritte der gesamten Medizin
und rief ein grosses Sammelwerk über spezielle Pathologie und
Therapie ins Leben, welches zum Muster zahlreicher ähnlicher Werke
der Zukunft wurde. Dabei war er ein eifrigster Lehrer, der „wie
schon früher Rokitansky es verstand, das Geheimnis des patho-
logischen Objektes meisterhaft zu entzilfern" (Klebs) und auf die
Studierenden den grössten Kinfluss ausübte. Würzburg wurde gerade
durch V i r c h 0 w zu einer der besuchtesten medizinischen Schulen und
zahlreich sind die Namen jener hervorragenden Männer, welche in
Würzburg als engere Schüler aus dem Verkehre mit Virchow für
ihr ganzes Leben die wichtigsten Anregungen empfingen.
Es ist darum sehr begreiflich, dass der Ruhm Virchows sich
allenthalben verbreitete und man in Deutschland überall die Not-
wendigkeit der Errichtung eigener Professuren für pathologische Ana-
tomie erkannte. In dieser Erkenntnis beantragte Johannes Müller
in Berlin, der nebst der Professur für normale Anatomie und Physio-
logie die für pathologische Anatomie versah, die Kreirung einer selb-
ständigen Kanzel für pathologische Anatomie und die Berufung
Virchow^s auf diesen Posten, womit er der Berliner Universität zum
grössten Glänze verhalf
Im Sommer 1856 übersiedelte Yirchow nach Berlin und bezog
das daselbst aus der pathologischen Prosektur der Charite geschalfene
pathologische Institut, welches zum Vorbilde für viele andere Institute
wurde. Virchow^ entfaltete hier eine grossartigste Thätigkeit in
seinem Fache. Er erweiterte das pathologisch-anatomische Kabinet
der Prosektur, das bei seinem Amtsantritte in Berlin nur 1500 Präparate
zählte, zum grössten pathologisch- anatomischen Museum der Welt,
dessen Nummerzahl gegenwärtig mehr als 23000 beträgt \), er regte
seine anatomischen und chemischen Assistenten zu selbständiger Arbeit
an und bildete sie zu hervorragenden Forschern aus, er organisierte
den Unterricht in der pathologischen Anatomie, er bildete eine jetzt
in Deutschland allgemein verbreitete Sektionstechnik aus und forscht
noch heute selbst mit nimmerruhender Kraft.
Ungemein zahlreich sind die wissenschaftlichen Arbeiten auf
pathologischem Gebiete, die Virchow nunmehr publizierte. Sie be-
trafen sowohl die verschiedensten speziellen Kapitel als wie auch die
wichtigsten allgemeinen Fragen.
Ueber alles ragt hervor die Cellularpathologie, jenes „wunderbare
blendende Bild der ganzen Pathologie" (Klebs), welche 1858 erschien.
Virchow vertritt hier das Prinzip, dass die den menschlichen Orga-
nismus zusammensetzenden Zellen die Einheiten desselben sind, welche
das normale und pathologische Leben in sich abspielen lassen und
immer nur aus ihresgleichen entstehen, so dass dafür die allgemein
gültige Formel: „Omnis cellula a cellula" aufgestellt werden kann.
Virchow führte diese Anschauung an sämtlichen Geweben des
menschlichen Körpers durch und zeigte an den verschiedenen Zellen
ihr Verhalten unter normalen Bedingungen und bei den ver-
schiedenen Ernährungsstörungen. Er nahm dabei den Standpunkt des
sogenannten Neovitalismus ein, nach welchem die Erscheinungen des
Lebens sich nicht einfach als eine Manifestation der den Stoffen in-
^) vide die Rede Virchows bei der Eröffnung des neuen pathologischen
Museums in Berlin am 27. Juni 1899.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 539
härierenden Xaturkräfte begreifen lassen, sondern noch als wesentlicher
Grund des Lebens eine Kraft unterschieden werden rauss. die er mit
dem Namen Lebenskraft bezeichnet, wenn er auch sagt, dass er nicht
bezweifelt, dass dieselbe schliesslich als der Ausdruck einer bestimmten
Zusammenwirkung physikalischer und chemischer Kräfte gedacht
werden muss.
Diese Cellularpathologie. die Virchow als Vorlesungen auf Grund
stenographischer Aufzeichnungen 1858 drucken liess, ist bis heute in
ihrem Wesen unerschüttert und ist noch immer die Grundlage der ge-
samten modernen Pathologie, welche zwai' vielfache Erweiterungen
erfahren hat, aber doch mit allen Fortschritten in der Erkenntnis in
bestem Einklänge geblieben ist. Mit ihr ist an Stelle des sogenannten
Organizismus d. h. der Lokalisation der Krankheiten in den Organen
die so fruchtbringende Anschauung getreten, dass die Sedes morborum
in den Zellen selbst zu suchen seien.
Wenige Jahre darauf erschien ein zweites grosses Meisterwerk
Yirchows, nämlich seine Vorträge über die krankhaften Geschwülste.
Es ist das eigentlich eine Fortsetzung der Cellularpathologie und des-
wegen so wichtig, weil darin zum erstenmal die Lehre von den Ge-
schwülsten auf genetischer Basis dargestellt erscheint.
Gleichzeitig aber trat eine Eigentümlichkeit Virchows hervor
und zwar seine so seltene Vielseitigkeit. Mit einer Staunen erregen-
den Arbeitskraft widmete sich Virchow neben seinen Arbeiten auf
dem Gebiete der Pathologie auch eingehenden Studien in der Anthro-
pologie, Hygiene und Geschichte der Medizin und fand dabei immer
noch Zeit, im öffentlichen Leben als Mitglied des Berliner Stadt-
verordnetenkollegiums, des preussischen Abgeordnetenhauses und des
deutschen Eeichstages und im Sinne der Popularisierung der Wissen-
schaft thätig zu sein.
Sein Ziel in der Pathologie hat auch er selbst am besten in seiner
Antrittsrede als Akademiker in Berlin 1874 dargestellt, indem er da-
bei der Sitte gemäss einen Rückblick auf seine Thätigkeit gab. Er
hatte es sich zui' Aufgabe gestellt, die spekulative Humoralpathologie
zu beseitigen uhd an ihre Stelle die Pathologie auf naturwissenschaft-
licher Basis zu fundieren und zu zeigen, dass die Krankheiten nichts
anderes sind als Erscheinungen einer Reaktion der den menschlichen
Körper zusammensetzenden Zellen gegenüber den Krankheitsursachen.
Dieses Ziel hat Virchow zweifellos erreicht und dadurch di« deutsche
Pathologie zur anerkannten Führerin für die moderne wissenschaft-
liche Pathologie überhaupt gemacht.
Virchow hat dabei jederzeit an dem Grundsatze festgehalten,
dass das Wichtigste sei die möglichst weite Ausbildung der Methodik
sowie die strengste Selbstkritik. So verdanken wir eigentlich
Virchow die Verallgemeinerung des pathologischen Experimentes
und die Heranziehung der verschiedensten Methoden für die patho-
logische Forschung und wirkte Virchow auch auf die übrigen 5Catur-
wissenschaften durch seine Methodik ungemein fördernd ein.
Die grösseren pathologisch-anatomischen Werke Virchows sind:
Allgemeine Störungen der Ernährung und des Blutes. I. — HI. Abschnitt von
Virchow's Hdb. d. spec. Path. u. Ther., Erlangen 1854,
Gesammelte Abhandlungen zur tcissenschaftlichen Medicin, Frankfurt a. M.
1856; 2. Aufl. Berlin 1862,
Untersuchungen über die Entwicklung des Schädelgrund^s, Berliri 1857,
540 ' H. Chiari.
Die Celhdarpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und patho-
logische Geivehelehre, Berlin 1858; 4. Auflage 1871; zugleich 1. Bd. der Vorlesungen
über Pathologie,
Die krankhaften Geschivülste, Berlin 186S — 1867 ; zugleich 2., 3. und 4. Bd.
der Vorlesungen über Pathologie,
Sectionstechnik, Berlin 1876; 2. Auf,. 1883.
Weiter publizierte Virchow eine ungemein grosse Zahl von
Aufsätzen pathologisch-anatomischen Inhaltes in den verschiedensten
medizinischen Journalen und zwar namentlich in den Verhandl. d.
physik. med. Ges. in Würzburg, in seinem Archiv und in der Berl.
klin. Wochenschrift. Diese Arbeiten erstreckten sich auf alle Teile
der pathologischen Anatomie und wurden von Virchow überall die
wichtigsten Resultate zu Tage gefördert. Hervorzuheben sind nament-
lich seine Arbeiten über Thrombose, Embolie, Kalkmetastase, patho-
logische Pigmentation, Amyloidose, Leukämie, Chlorose, Phosphor-
vergiftung, Syphilis, Trichinose, Echinococcus multilocularis, Pneumo-
nomykose, Eachitis, Cretinismus, pathologische Schädelformen, Hetero-
topie der grauen Hirnsubstanz, Encephalitis, peptische Ulcera und
Angiome.
Nicht minder bedeutungsvoll sind die von Virchow in längeren
Zeitabschnitten und bei verschiedenen Gelegenheiten publizierten Ueber-
sichten über den jeweiligen Stand der pathologischen Anatomie und
der Pathologie überhaupt, welche Zeugnis geben von seinem umfassenden
Blicke und der Beherrschung des ganzen Gebietes der Pathologie.
Ausserdem entfaltete Virchow eine rege Referententhätigkeit
auf diesem Gebiete und trugen seine kritischen Referate vielfach zur
Klärung schwebender Fragen bei.
Die anthropologischen Arbeiten Virchows erschienen teils selb-
ständig, teils in den Abhdl. d. Akad. d. Wissensch. in Berlin, teils
in der Zeitschr. f. Ethnologie und Anthropologie, vielfach auch in
der Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, die
Virchow 1866 gemeinsam mit Franz v. Holtzendorf begründete.
Von Arbeiten auf dem Gebiete der Hygiene und öffentlichen Ge-
sundheitspflege sind besonders zu nennen:
Generalbericht über die Arbeiten der städtischen Deputation zur Reinigung und
Entwässerung Berlins, Berlin 1873,
Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der
Seuchenlehre* 2 Bde., Berlin 1879,
mit Guttstadt
Die Anstalten der Stadt Berlin für die öffentliche Gesundheitspflege und für
den naturwissenschaftlichen Unterricht, Berlin 1886.
Gross ist endlich auch die Zahl der Publikationen Virchows
philosophischen und historischen Inhaltes, Es seien darunter hervor-
gehoben :
Einigkeitsbestrebungen in der ivissenschaftlichen Medicin, Antrittsrede in
Würzburg 1849,
Vier Beden über Leben und Kranksein, Berlin 1862,
lieber die nationale Entwicklung und Bedeutung der Naturwissenschaften,
Berlin 1865,
Die Erziehung des Weibes für seilten Beruf, Berlin 1865,
Die Aufgabe der Naturicissenschaften in dem neuen nationalen Leben Deutsch-
lands, Berlin 1871,
Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staate, Berlin 1877,
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 541
Johannes Müller. Eine Gedächtnisrede, Berlin 1858,
Goethe als Xattirforscher, Berlin 1861,
Gedächtnisrede auf Johann Lucas Schoenlein, Berlin 1865.
Wichtigste Litteratur über Virchow:
Paul ßörner, Rudolf Virchow bis zur Berufung nach Würzburg, Xord und
Süd XXI. Bd. 1882,
Giistdv Scheiithaiier, Budolf Virchow, Gurlt-Hirsch' Biogr. Lexikon der
hervorragenden Aerzte 1888,
Edivin Klehs, Gedenkblätter, Budolf Virchoic zu seinem 70. Geburtstage
gewidmet von einem alten Schüler, Deutsche med. Woch. 1891 Xr. 42,
W. Becher, Rudolf Virchow. Eine biographische Skizze, Berlin 1891,
Celebration of the seventietk birthday of Professor Virchow in the Johns
Hopkins Universiiy. Johns Hopkins University Circulars Vol. XI Xr. 93. Baltimore,
Xovember 1891.
Aligemeine Kreierung von pathologisch-anatomischen Lehrkanzeln und
pathologisch-anatomischen Instituten in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts.
Dank den Forschungsresultaten Rokitansky' s und Yirchows
gewann jetzt ganz allgemein die pathologische Anatomie die ihr ge-
bührende Stellung als eines der Hauptfächer der Medizin und als eine
der wichtigsten Disziplinen des medizinischen Unterrichtes. Ueberall
entstanden eigene pathologisch-anatomische Lehrkanzeln und patho-
logisch-anatomische Institute. Ueberall anerkannte man die Notwendig-
keit der Anlegung von eigens lür pathologische Anatomie bestimmten
Museen und die Unerlässlichkeit der Vornahme streng systematischer
Sektionen durch fachlich ausgebildete pathologische xlnatomen.
Zumeist w^aren es begreiflicherweise zunächst die unmittelbaren
Schüler Rokitanskys und V i r c h o w s . welche die neugeschaffenen
pathologisch-anatomischen Lehrkanzeln übernahmen und in dem Sinne
ihrer Meister weiter arbeiteten. Viele neukreierte Lehrkanzeln für
pathologische Anatomie wurden aber auch mit ]VIännern besetzt, welche
nicht Assistenten bei Rokitansky oder Virchow gewesen waren,
allerdings jedoch grösstenteils in den Instituten derselben ihre spezielle
Ausbildung genossen oder doch jedenfalls deren Lehren in sich auf-
genommen hatten. So wurden Rokitansky und Virchow teils
unmittelbar, teils mittelbar die Lehrer für sämtliche moderne patho-
logische Anatomen.
Eine jede medizinische Schule musste darnach trachten, eine
eigene Lehrkanzel dieses nunmehr so wichtig gewordenen Faches zu
erhalten und besteht in der That heutzutage an jeder medizinischen
Fakultät als integrierender Bestandteil derselben eine eigene Professur
für pathologische Anatomie und ist durch die Assistenten bei diesen
Kanzeln und die Privat dezenten dieses Faches für einen genügenden
Nachwuchs gesorgt. Mit der Zeit wurde auch das Institut der patho-
logischen Prosekturen an den grösseren Krankenhäusern immer mehr
verallgemeinert und so die Zahl der Forschungsstätten für pathologische
Anatomie beträchlich vergrössert.
Nach den einzelnen Ländern geordnet sind als Lehrkanzeln für
pathologische Anatomie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu
nennen :
542 H. Chiari.
In Deutschland ausser den schon erwähnten im Jahre 1849
resp. im Jahre 1856 gegründeten Lehrkanzeln an den Universitäten
Würzburg und Berlin die meist die allgemeine Pathologie in sich be-
greifenden Kanzeln an den Universitäten in Bonn, Breslau, Erlangen,
Freiburg i. Br., Giessen, Göttingen, Greifswald, Halle, Heidelberg,
Jena, Kiel, Königsberg, Leipzig, Marburg, München, Eostock, Strass-
burg^) und Tübingen,
in Oesterreich-Ungarn ausser der schon erwähnten im Jahre
1821 als Extraordinariat und im Jahre 1844 als Ordinariat kreierten
Lehrkanzel an der Universität in Wien, die Lehrkanzel an der k. k.
militärärztlichen Josefsakademie in Wien und die Kanzeln an den
Universitäten in Graz, Innsbruck, Krakau, Lemberg, Prag (eine an
der deutschen und eine an der böhmischen Universität), Budapest und
Klausenburg,
in Italien die Kanzeln an den Universitäten in Bologna, Cagliari,
Camerino, Catania, Genua, Messina, Modena, Neapel, Padua, Palermo,
Parma, Pavia, Perugia, Pisa, Rom, Sassari, Siena und Turin und an
der Hochschule in Florenz,
in der Schw^eiz die Kanzeln an den Universitäten in Basel,
Bern, Genf, Lausanne und Zürich,
in Frankreich ausser der schon erwähnten im Jahre 1836 in
Paris errichteten Lehrkanzel die Kanzeln an den Universitäten in
Bordeaux, Lille, Lyon, Marseille, Montpellier, Nancy, Eennes und
Toulouse,
in Spanien die zumeist der Histologie angegliederten Kanzeln
an den Universitäten in Barcelona. Granada, Madrid, Santjago, Cadiz,
Valencia, Valladolid, Zaragoza und das 1886 gegründete anatomisch-
pathologische Militärinstitut in Madrid,
in Portugal die Kanzeln an der Universität in Coimbra und
an der medizinisch-chirurgischen Schule in Lissabon,
in Grossbritannien die auch die pathologische Anatomie ein-
schliessenden Kanzeln für Pathologie an den Universitäten in Cam-
bridge, Manchester, Aberdeen, Edinburgh, Glasgow und an den ver-
schiedenen Colleges und medical Schools,
in Belgien die Kanzeln an den Universitäten in Brüssel, Gent,
Löwen und Lüttich,
in den Niederlanden die Kanzeln an den Universitäten Amster-
dam, Groningen, Leiden und Utrecht,
in Dänemark die Kanzel an der Universität in Kopenhagen,
in Schweden und Nor wiegen die Kanzeln an den Univer-
sitäten in Christiania, Lund, Stockholm und Upsala,
in Russland die Kanzeln an den Universitäten in Charkow,
Dorpat, Helsingfors, Kasan, Kijew, Moskau, Warschau, an der militär-
medizinischen Akademie in St. Petersburg, an dem kais. Institute für
experimentelle Medizin des Prinzen Oldenburg und am kais. klinischen
Institute der Grossfürstin Helena Pavlovna ebendaselbst,
in Griechenland die Kanzel an der Universität in Athen,
in Rumänien die Kanzeln an den Universitäten in Bukarest
und Jassy, wobei erstere auch die experimentelle Pathologie und
Bakteriologie umfasst.
I
^) Hier war wie schon erwähnt, als Strassburg noch französisch war, bereits
im Jahre 1819 eine Lehrkanzel für pathologische Anatomie gegründet worden.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 543
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika die viel-
fach auch die pathologische Anatomie in sich begreifenden Kanzeln
für Pathologie an vielen der Universities und Colleges, von denen jedoch
nur ein kleiner Teil den entsprechenden Kanzeln europäischer Univer-
sitäten äquipariert, so z. B. die Kanzeln an der Johns Hopkins Uni-
versity in Baltimoi-e, an der Harvard University in Cambridge, am
Eush Medical College in Chicago, an der University of Minnesota in
Minneapolis, an der Columbia University in New- York und an der
University of Pennsj'lvania in Philadelphia,
in sonstigen Staaten und Kolonien von Amerika die
Kanzeln an den Universitäten in Buenos-Ayres und Cordoba in Argen-
tinien, an der Universität in Montevideo in Uruguay, an der Univer-
sität Lima in Peru und an den Universitäten in Montreal und Toronto
in Canada,
in Afrika die Kanzel an der Academie in Algier.
in Asien die Kanzeln für Pathologie an dem Grant Medical
College in Bombay, an dem Medical College in Calcutta, in Labore
und Madras, die Kanzeln für allgemeine Pathologie und pathologische
Anatomie an der Universität in Tokyo und die Kanzel für patho-
logische Anatomie an der Universität in Tomsk,
in Australien die Kanzeln für Pathologie an den Universitäten
in Melbourne und Neuseeland.
Viele dieser Lehrkanzeln entstanden auch wieder aus pathologischen
Prosekturen in grösseren Krankenhäusern und bildeten diese letzteren
auch vielfach die Grundlage der pathologisch-anatomischen Institute
sowie der damit gemeinhin verbundenen pathologisch - anatomischen
Museen, in denen der Sammlungseifer der jeweiligen Vorstände immer
reichere Schätze für den Unterricht und die Forschung wichtiger
pathologisch-anatomischer Präparate aufspeicherte.
Durch diese vielen Arbeitsstätten und die grosse Zahl der an
denselben thätigen Forscher wurde naturgemäss das Gebiet der patho-
logisch-anatomischen Forschung immer mehr erweitert und auch ver-
tieft, indem sich überall neben der makroskopischen pathologischen
Anatomie auch die pathologische Histologie entwickelte und so die
Aufdeckung der feineren Details und der Genese der pathologisch-
anatomischen Befunde erfreuliche Fortschritte machte.
Einfluss der pathologischen Anatomie auf die pathologische Chemie
und experimentelle Pathologie.
Weiter wurde aber auch durch die pathologische Anatomie die
Entstehung einer pathologischen Chemie und die Ent-
wicklung einer experimentellen Pathologie sehr wesentlich
gefördert.
Die pathologische Chemie schloss sich vielfach an die patho-
logische Anatomie an, bezog von derselben ihr hauptsächliches Material
sowie mannigfaltige Anregung und hatte ihre Arbeitsräume häufig in
den pathologischen Instituten. Es kam dies besonders in den patho-
logischen Instituten in Wien und Berlin zum Ausdrucke, indem in
Wien über Verwendung Rokitanskys innerhalb der Räume des
pathologischen Institutes ein pathologisch- chemisches Institut geschaffen
wurde und in Berlin am V i r c h o w sehen Institute eine eigene chemische
544 H. Chiari.
Assistenten stelle kreiert wurde, die sicli zu einer Pflanzstätte für
patholog-ische Chemiker gestaltete.
Als hauptsächlichste Vertreter der pathologischen Chemie wären
zu nennen:
in Deutschland
Johann Franz Simon (1807—1843, Privatdozent für patho-
logische Chemie und pathologischer Chemiker der Charite in Berlin),
Justus V. Liebig (1803—1873, Professor der Chemie in Giessen
und München),
Ernst Freiherr v. Bibra (1806—1878, Privatgelehrter in
Nürnberg),
Carl Gotthelf Lehmann (1812 — 1863, Professor der physio-
logischen Chemie in Jena),
Johann Josef Scherer (1814—1869, Professor der organischen
Chemie in Würzburg),
Ernst Felix Immanuel Hoppe-Seyler (1825—1895, Pro-
fessor der angewandten Chemie in Tübingen, dann der physiologischen
Chemie in Strassburg),
Willy Kühne (1837 — 1900, Professor der Physiologie in Amster-
dam und Heidelberg),
Eugen Baumann (1846 — 1896, Professor der physiologischen
Chemie in Freiburg i. Br.),
und Ernst Leopold Salkowski (geb. 1844, Professor der
medizinischen Chemie in Berlin),
in Oesterreich-Ungarn
Johann Florian Heller (1813 — 1871, Professor der patho-
logischen Chemie in Wien),
Joseph Udalrich Lerch (1816 — 1892, Professor der patho-
logischen Chemie und dann der Pharmakognosie in Prag)
und die gegenwärtigen Vorstände der Lehrkanzeln für medizinische
Chemie an den medizinischen Fakultäten,
in Frankreich
Alfred Becquerel (1814 — 1866, Professor agrege in Paris),
Alexander Bouchardat (1806—1886, Professor der Hygiene
in Paris)
und CharlesPhilipp Robin (1821 — ] 885, Professor der Histo-
logie in Paris).
Die experimentelle Pathologie wurde im wesentlichen von
französischen Forschern wie Claude Bernard (1813—1878, Professor
der Physiologie in Paris), Charles Edouard Brown-Sequard
(1818 — 1895, Professor der experimentellen Medizin in Paris) und
Etienne Jules Marey (geb. 1830, Professor der Naturgeschichte
in Paris) und durch die „Berlinerschule" i. e. von Ludwig Traube
(1818 — 1876, Professor der internen Medizin in Berlin) und ßudolf
Virchow angebahnt. Bald erkannte man allgemein die Notwendig-
keit des Tierexperimentes, um die ersten Anfänge und den Verlauf
sowie die Bedeutung der bei den Sektionen gefundenen pathologischen
Veränderungen besser studieren zu können und so zu einer wirklich
wissenschaftlichen pathologischen Physiologie zu gelangen, und fast
alle pathologischen Anatomen benützten auch diesen Forschungsweg.
I
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 545
Ausserdem kam es aber dazu, dass einzelne pathologische Anatomen
wie auch Physiologen und Kliniker sich überwiegend mit dem patho-
logischen Experimente befassten und so mit anderen Forschern, welche
lediglich das pathologische Experiment pflegten, zu eigentlichen Ver-
tretern der experimentellen Pathologie wurden, für welchen Zweig der
Medizin an verschiedenen Universitäten, so namentlich in Oesterreich-
Ungarn, in Italien, in Frankreich, in Spanien, in Portugal, in Belgien,
in den Niederlanden und in Russland nach und nach auch eigene
Lehrkanzeln und eigene Institute entstanden. Es erwies sich das auch
für den medizinischen Unterricht als sehr zweckmässig, da so den
Studierenden die Gelegenheit geboten wurde, das Werden der patho-
logischen Prozesse, deren Verlauf und deren Bedeutung durch die
vorgeführten Experimente aus eigener Anschauung kennen zu lernen
und auf diese Art das Studium der pathologischen Anatomie durch
das der ,. experimentellen Pathologie" zu ergänzen.
Als „Experimentalpathologen" seien angeführt, abgesehen von den
jetzt noch wirkenden Vertretern von Lehrkanzeln für experimentelle
Pathologie an verschiedenen medizinischen Fakultäten:
in Deutschland
Ludwig Traube (bereits erwähnt),
Julius Cohnheim (1839 — 1884, Professor der pathologischen
Anatomie und allgemeinen Pathologie in Kiel, Breslau und Leipzig)
und Simon Samuel (1833—1899, Professor der allgemeinen
Pathologie und Therapie in Königsberg),
in 0 esterreich
Salomon Stricker (gest. 1898, Professor der allgemeinen und
experimentellen Pathologie in Wien)
und Philipp KnoU (1841—1900, Professor der allgemeinen und
experimentellen Pathologie an der deutschen Universität in Prag und
dann in Wien),
in Frankreich
die bereits erwähnten, Claude Bernard, Charles Edouard
Brown-Sequard
und Isidore Straus (1846 — 1896, Professor der experimentellen
Pathologie in Paris),
in Russland
Victor Paschutin (1845 — 1901, Professor der allgemeinen und
experimentellen Pathologie in Kasan und St. Petersburg).
Pflege der pathologischen Anatomie seitens der Kliniker und sonstiger
Forscher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
In dem Masse, als das stolze Gebäude der pathologischen Ana-
tomie sich entfaltete, wurde es immer klarer, dass sie die hauptsäch-
lich.ste Basis für die gesamte pathologische Forschung darstelle und
wurde sie auch daher in den verschiedensten speziellen Richtungen
seitens der Kliniker und anderer medizinischer Forscher auf das eif-
rigste betrieben.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 35
546 H. Chiari.
Gross ist die Zahl der modernen Internisten und Chiriirgen sowie
anderer Kliniker, welche durch ihre Arbeiten die pathologische Ana-
tomie sehr wesentlich förderten. Einige derselben sind geradezu von
der pathologischen Anatomie aus zu ihrem klinischen Fache über-
gegangen, in welchem sie dann Hervorragendes leisteten wie z. B.
Ernst Leberecht Wagner (1829—1888, 1850—1877 Professor
der pathologischen Anatomie und dann Professor der internen Medizin
in Leipzig) und Christian Albert Theodor Billroth (1829 —
1894), der sich 1856 als Privatdozent für pathologische Anatomie in
Berlin habilitierte und 1858 einen Euf als Professor der pathologischen
Anatomie nach Greifs wald erhielt, den er aber nicht annahm, da er
sich inzwischen schon für die chirurgische Laufbahn entschieden hatte.
Vielfach entwickelte sich auch der sehr zweckmässige Gebrauch, dass
nach der akademischen Laufbahn in einem klinischen Fache strebende
Männer in der Eigenschaft von Assistenten an pathologisch-anatomischen
Instituten eine spezielle pathologisch - anatomische Vorschule durch-
machen.
In einzelnen klinischen Fächern wie z. B. in der Ophthalmologie
und Otiatrie wurde die pathologisch-anatomische Forschung sogar fast
gänzlich von den betreffenden Klinikern übernommen.
Auch die gerichtlichen Mediziner verlegten das Schwergewicht
ihrer Forschung auf das pathologisch-anatomische Gebiet und brachten
gerade dadurch ihr Fach zu hoher Blüte.
Naturgemäss verminderte sich hingegen im Laufe der Gegenwart
die Teilnahme der von ihren eigenen Gebieten immer mehr in Anspruch
genommenen normalen Anatomen und Physiologen an der pathologisch-
anatomischen Forschung. Nur die moderne, exakte, durch Experimente
gestützte Embryologie trat in innigste Verbindung mit der patho-
logischen Anatomie, indem sie durch künstliche Erzeugung von Miss-
bildungen die bis dahin ganz unverständliche Genese und auch viel-
fach die Aetiologie der Missbildungen zu verstehen lehrte.
Epoche der Bakteriologie.
Mit alledem sollte aber die rapide Entwicklung der modernen
pathologischen Anatomie nicht Halt machen, sondern in den letzten
Decennien des 19. Jahrhunderts erhielt sie abermals einen mächtigen
neuen Impuls zur weiteren Ausbildung und zwar durch die Ent-
stehung der Bakteriologie, dieses neuesten Zweiges der Natur-
wissenschaften, durch welchen der pathologischen Anatomie erst die
Möglichkeit geboten wurde, der bis dahin meist ganz dunklen Aetiologie
vieler pathologischer Prozesse näher zu treten. Es wurde dadurch
eine förmliche Umwälzung in der pathologischen Anatomie hervor-
gerufen, jeder pathologische Anatom musste sich in diese neue For-
schungsrichtung hineinarbeiten, um nicht zurückzubleiben. Bei den
Obduktionen musste auf die Auffindung der betreffenden pathogenen
Keime Rücksicht genommen und danach die Sektionstechnik modifiziert
werden, in den pathologischen Instituten mussten bakteriologische
Arbeitsräume installiert werden und das Tierexperiment zum Studium
der Infektionskrankheiten in ausgiebigstem Masse herangezogen werden.
Der Ruhm, der Lehrmeister der pathologischen Anatomen wie
überhaupt aller Mediziner in diesen Dingen gewesen zu sein, gebührt
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 547
Robert Koch, jenem Manne, welcher die Methodik schuf, nach der
vorgegangen werden muss, um die pathogenen Keime herauszufinden
und weiter die Bedingungen präcisierte, welche erfüllt sein müssen,
damit eine Art von Mikroorganismen wirklich als der Erreger einer
betreffenden Erkrankung angesehen werden darf.
Es hatten zwar schon vor Koch verschiedene Forscher die
Wichtigkeit der Bakteriologie für die Pathologie erkannt und waren
auch bei einzelnen Infektionskrankheiten bakterielle Erreger ge-
funden worden, so von Pollender 1849 die Milzbrandbacillen, von
Bo Hing er und Feser 1878 die Rauschbrandbacillen, von Ober-
meier 1873 die Spirochaeten des Typhus recurrens und von B ol-
lin g er 1877 der Akinomykosepilz, allein erst durch Koch wurde die
medizinische Bakteriologie so entwickelt, dass nunmehr mit ihr un-
zweifelhafte Resultate auf dem Gebiete der ätiologischen Forschung
erzielt werden konnten.
Als die wichtigsten Vorläufer Kochs können bezeichnet werden
Louis Paste ur (1822 - 1895, Professor der Chemie in Strassburg,
Lille und Paris), der die Generatio aequivoca endgültig widerlegte,
Sir Joseph Lister (geb. 1827, Professor der Chirurgie in Glas-
gow, Edinburgh und London), der die Bedeutung des Virus animatum
für die Entstehung der Wundinfektionskrankheiten darthat,
Edwin Klebs (geb. 1834, Professor der pathologischen Anatomie
in Bern, Würzburg, Prag, Zürich und Chicago), der das grosse Ver-
dienst hat, speziell die pathologischen Anatomen zur bakteriologischen
Forschung angeregt zu haben, und
Ferdinand Cohn (geb. 1828, Professor der Botanik in Breslau),
der das erste brauchbare S^'stem der Bakterien aufstellte.
Robert Koch (geb. 1843, derzeit Direktor des Institutes für
Infektionskrankheiten in Berlin) selbst ist dadurch so bedeutungsvoll
geworden, dass er die Grundlagen einer jeden Irrtum ausschliessenden
Technik schuf und so den Weg zeigte, der betreten werden muss, um
die bakteriologische Untersuchung zu einer eigentlich wissenschaft-
lichen Arbeit zu gestalten. Als Meister der Methodik gelang es ihm
denn auch, eine Reihe der wichtigsten pathogenen Bakterienarten zu
entdecken, so unter anderen 1882 den Bacillus der Tuberkulose und
1883 den Kommabacillus der Cholera asiatica.
Gewiss hat die pathologische Anatomie durch dieses Hinzutreten
der bakteriologischen Arbeitsrichtung sehr viel gewonnen und muss
sie mit aller Energie danach trachten, weitere Fortschritte in der
Erforschung der pathogenen Mikroorganismen zu machen, keineswegs
aber kann sie etwa durch die Bakteriologie ersetzt werden, darf doch
nicht vergessen werden, dass die pathogenen Mikroorganismen resp.
deren Giftstoffe eben nur das ätiologische Moment der Infektions-
erkrankungen darstellen und diese Erkrankungen, die nur der Aus-
druck der Reaktion des Körpers gegenüber der Infektionserregern sind,
nach wie vor in morphologischer, genetischer und prognostischer Hin-
sicht anatomisch studiert werden müssen. Die pathologische Anatomie
benutzt die Errungenschaften der Bakteriologie für das Studium der
Infektionskrankheiten, sie darf aber nicht in ihr aufgehen, sondern
muss das gesamte Gebiet der überhaupt vorkommenden pathologischen
Veränderungen umfassen und alle wie immer gearteten Abweichungen
von der Norm berücksichtigen.
35*
548 H. Chiari.
Uebersicht über die Leistungen auf dem Gebiete der modernen patho-
logischen Anatomie.
Ueberblickt man nun die Leistungen auf dem Gebiete der modernen
pathologischen Anatomie, so erkennt man, dass dieselben in der That
sehr grosse waren. Alle Teile der allgemeinen und speziellen patho-
logischen Anatomie erfuhren in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
sehr wesentliche Fortschritte. Seit Rokitansky und Virchow
das Wesen und die Aufgaben der pathologischen Anatomie klargestellt
und die Wege der pathologisch - anatomischen Forschung gewiesen
hatten, wurden einerseits mit Erfolg die verschiedensten Krankheiten
in den Bereich der anatomischen Untersuchungen einbezogen und
namentlich auch die Genese und Aetiologie derselben gebührend be-
rücksichtigt, andererseits die allgemeine pathologische Anatomie immer
weiter entwickelt.
Hier einen erschöpfenden Ueberblick über diese Fortschritte zu
geben, an welchen ausser den pathologischen Anatomen von Fach
vielfach auch die Kliniker und sonstige Forscher beteiligt waren, ist
unmöglich.
Im Nachfolgenden soll nur der Versuch gemacht werden, die
wichtigsten Leistungen der modernen pathologischen Anatomie nach
den einzelnen Teilen der pathologischen Anatomie geordnet in ge-
drängter Form zusammenzustellen, ohne dass jedoch diese Zusammen-
stellung namentlich auch nicht hinsichtlich der Nennung von Autoren
bei den einzelnen Hinweisen irgendwie Anspruch auf Vollständigkeit
erheben könnte.
In der allgemeinen patliologisclien Anatomie bedeuteten auf dem
Gebiete der Missbildungen den grössten Fortschritt die zumeist
experimentell gewonnenen Erkenntnisse über die Entstehung von Miss-
bildungen infolge von verschiedenartigen, das befruchtete Ei treffenden
Schädlichkeiten (Panura, Dareste, Gerlach, Fol, Richter,
Roux, 0. Schnitze), über die Bedeutung von Anomalien des Am-
nions für das Zustandekommen von Missbildungen (Dar est e) und über
die Genese der Doppelmissbildungen (Ger lach, Born, 0. Schnitze).
Weiter wurden grundlegende anatomische Untersuchungen über
verschiedene Arten von Missbildungen ausgeführt, so über die Cranio-
Rhachischisis (Perls, v. Recklinghausen), die Cyclopie (Kund-
rat), die Cheilo-Gnatho-Palatoschisis (Kölliker), die Prosoposchisis
(Morian), die Fistula colli congenita (v. Kostanecki, v. Mie-
licki), die Acardie (Claudius, Perls, Dareste), die Defekte der
Herzscheidewände, die mit dem Ductus omphalo-meseraicus zusammen-
hängenden Missbiidungen (Roth), die Missbildungen der weiblichen
Geschlechtsorgane (Kussmaul) und den Hermaphroditismus (Klebs).
Ungemein zahlreich waren ferner die kasuistischen Publikationen
über Missbildungen, so dass gegenwärtig ein ganz gewaltiges That-
sachenmaterial für die Bearbeitung von weiteren Gesichtspunkten
vorliegt.
Auch eine ganze Reihe von umfassenden Werken über die ge-
samte Teratologie wurden verfasst, unter denen besonders zu nennen
sind die Werke von Förster, Ahlfeld, Taruffi und Marc band.
Bezüglich der Wachstumsanomalien sind namentlich hervor-
zuheben die Untersuchungen über Konstitutionsanomalien (Beneke),
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 549
Über den Riesenwuchs (Langer, Jacobson, Hornstein, Trelat
und Monod, Busch, Fischer), den Zwergwuchs (A. Paltauf),
die Chondrodystrophia foetalis (Kaufmann), die kongenitale Hüft-
gelenksluxation (Grawitz, Krönlein) und die Mikrocephalie (Mar-
chand).
Was die Cirkulations Störungen betrifft, so wurden die
grundlegenden Forschungen Virchows weiter ausgebaut, so bezüg-
lich der Thrombose (A. Schmidt, Zahn, Bizzozero, Eberth,
Schimmelbusch, Löwit), der Organisation des Thrombus (Bub-
noff, Baumgarten, Heuking und Thoma, Beneke), des anä-
mischen Infarktes (Litten), des hämorrhagischen Infarktes (Cohn-
heim, v. Recklinghausen) und der Diapedesisblutung (Stricker,
Cohnheim, Arnold) und wurden neu aufgedeckt die Fettembolie
(Zenker, Wagner, v. Recklinghausen. Beneke), die Paren-
chymzellenembolie (Turner, Jürgens, Klebs, Zenker, v. Reck-
linghausen, Schmorl, Lu barsch, Leusden). die Embolia
paradoxa (Zahn, Haus er, Bonome), die retrograde Embolie im
Blutgefässsysteme (v. Recklinghausen, Arnold) und im Lymph-
gefässsysteme (Vogel, Viert h) und die Kugelthrombenbüdung
(v. Recklinghausen).
Die regressiven Ernährungsstörungen wurden sehr ein-
gehend studiert, so die lokale Nekrose in Bezug auf ihre Formen —
Koagulationsnekrose (Weigert) — und in Bezug auf ihre histo-
logischen Details (P fitzner, Israel, Schmaus und Albrecht),
die Entwicklung der pathologischen Verhornung (Posner, Unna,
Mertsching, Ernst), das Wesen der trüben Schwellung (B e n a r i o ,
Luckjanow), die Fettinfiltration (Flemming, Gaule), die Her-
kunft des Fettes bei der Fettdegeneration (Haus er. Kraus), die
schleimige Degeneration (Pfannenstiel, Kossei, Struiken), die
universelle Amyloidose hinsichtlich ihrer Verbreitung, ihrer histo-
logischen Details und ihrer Aetiologie (Kyber, Heschl, Wich-
mann, Czerny, Krawkow), die lokale Amyloidbildung in den
verschiedenen Organen (Büro w. Ziegler, Kraus, Schmidt), die
Colloiddegeneration in epithelialen Gebilden (v. Recklinghausen,
Ernst, Marchand), im Bindegewebe (v. Wild), in Gefässen (Arndt,
Lubimoff, Eppinger,Holschewnikoff, Mallory), in Lymph-
drüsen (Wieg er) und in der Muskulatur (Zenker), die Glykogen-
infiltration (Ehrlich, Langhans, Marchand), die pathologische
Verkalkung im allgemeinen (Rey) und speziell bei Vergiftungen mit
Sublimat (Sa iko WS ky, Kaufmann, Neuberger, Leutert) und
mit Phosphor (A. Pal tauf), die Ablagerung von Uraten bei der
Gicht (Ebstein. Pfeiffer, v. Noorden, Riehl) und die patho-
logische Pigmentation in ihren so verschiedenen Formen als häma-
togene Pigmentation (Perls, v. Recklinghausen, Neumann) als
„protoplasmatische" Pigmentation (Aeby, v. Kölliker, Riehl,
Ehrmann, Jarisch,Gussenbauer, Ribber t), als Pigmentation
durch Gallenfarbstoff (Nauwerck, Stroebe, Browicz, Pick,
Neumann, Orth, Birch-Hirschfeld, Hofmeier, Silber-
mann), die Pigmentation durch Lipochrome (Huber, Krukenberg,
Rosin) und die Pigmentation durch von aussen eingeführte Pigmente
— Siderosis (Zenker) — Argyrie (Kobert) — Staubinhalation
( A r n 0 1 d).
In Bezug auf die Hypertrophie und Hyperplasie wmden
550 H. Chiari.
die feineren Vorgänge bei den pathologisclien Zellteilungen und die
dabei vorkommenden Abweichungen von der normalen Karyokinese,
wie sie namentlich Flemming und Eabl kennen gelehrt hatten,
festgestellt (Arnold, Hansemann, Stroebej. Es wurde ferner
von sehr vielen Forschern die regeneratorische Hyperplasie teils im
allgemeinen (Samuel, Demarquay, Carriere, Fraisse, Bar-
furth, Bizzozero) teils im speziellen bezüglich der Epithelregene-
ration (Arnold, Cohnheim, Eberth, Bizzozero, Podwys-
socki, Ponfick, Meister), der Neubildung von Blutgefässen
(Arnold, Ziegler, Thoma), der Neubildung von Bindegewebe
(Neumann, Ziegler, Nikiforoff), der Neubildung von Knochen
(Strelzoff, Bruns, Troja), der Regeneration von lymphatischem
Gewebe (Bayer, Eibbert), der Regeneration von Muskulatur
(Zenker, Neumann, Steudel und Nauwerck) und der Rege-
neration von Nerven (Vanlair, Stroebe) studiert und es wurden
des genaueren untersucht die kompensatorische Hypertrophie und
Hyperplasie des Herzens (Zielonko, Tan gl, Horwath), der Niere
(Perl, Leichtenstern, Boström, Eckardt, Sacerdotti), der
Geschlechtsorgane (Ribbert), der Lunge (Schuchardt). und der
Hypophysis cerebri (Ribbert, Rogowitsch, Stieda), die eigen-
artigen Hyperplasien des Knochensystems — die Akromegalie oder
Pachyakrie (Marie, Arnold, v. Recklinghausen), die Osteo-
arthropathie hypertrophiante pneumique (Marie) und die Verdickung
der Phalangen bei chronischen Lungen- und Herzkrankheiten (E. Bam-
b erger), sowie die Bedeutung des sogenannten Status lymphaticus
(A. Paltauf).
Auf dem Gebiete der Entzündungslehre sind besonders zu
verzeichnen die Aufstellung der Gefässwandalterationstheorie der Ent-
zündung (Cohnheim), die Entdeckung der Auswanderung der Leu-
kocyten bei der Entzündung (Cohnheim), das weitere Studium
dieses Vorganges (Arnold, Stricker, Thoma, Löwit) und die
Untersuchungen über die Herkunft der Exsudatzellen (Stricker,
Heitzmann, Grawitz, Marchand), über die Ursachen der
Eiterung (Councilman, Grawitz, Janowski), über die Herkunft
des fibrinösen Exsudates (Weigert, Rindfleisch, Neu mann,
Hauser, Marchand) über die Chemotaxis (Leber, Buchner),
die Phagocytose (Metschnikoff) und die entzündliche Gewebs-
wucherung (Stricker, Ziegler, Hamilton, Arnold, Mar-
chand, Eberth), sowie über das Syphilom (Wagner) und die
Tuberkulose (Buhl, Schüppel, Baumgarten).
Die Geschwülste erfuhren vielfältige Bearbeitung und be-
schäftigte man sich namentlich mit der Histogenese derselben —
Histogenese des Carcinoms (Köster,Thiersch, W aide y er, Hau-
s er) , Entwicklung von Geschwülsten aus besonderen Gewebsanlagen
(Cohnheim, Grawitz), Entstehung von Geschwülsten aus Störungen
Im Verhalten der einzelnen Gewebe zu einander (Boll, Ribbert) — ,
mit ihrer Aetiologie — durch Phytoparasiten (Sanfelice, Foä,
Binaghi), durch Zooparasiten (Thoma, Rosenthal, Ruffer und
PI immer); mit der Entstehungs weise der Metastasen (Gussen-
bauer, Zehnder) und mit den feineren histologischen Details, so
den Teilungsvorgängen in den Geschwulstzellen (Cornil, Arnold,
Hansemann). Weiter wurden aber auch die einzelnen Geschwulst-
formen sehr eingehend studiert und sind diesbezüglich besonders her-
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 551
vorzuhebeii die Untersucliuiigeii über das Sarkomstroma (Bizzozero),
das Melanosarkom (Ribbert), das Cylindrom (Billroth. Sattler,
M a 1 a s s e z) , die Endotheliome (Klebs, Schulz, Glockn er, Volk-
mannj, das Myom malignen Charakters (v. Kahlden, Williams),
das Neuroma plexiforme (Bruns). das Deciduom (Sänger, Pfeifer,
Marchand), das Cholesteatom (Habermann, Boström), die bran-
chiogenen Carcinome (Bruns, Yolkmann) und die Sacralteratome
(Braun, Middeldorpf, Schmidt). Die Geschwülste im allge-
meinen bearbeiteten namentlich Schuh, Paget. Lücke. Zahn.
Von den Zooparasiten des Menschen wurden etliche neu ent-
deckt wie das Pentastomum denticulatum (Zenker), das Pentastomum
taenioides (Laudon), das Männchen des Sarcoptes hominis (Lan-
quetin), das Anchylostomum duodenale (Dubini), der Strongylus
longevaginatus (Jortsitz), die Filaria sanguinis (Wucherer, Le-
wis), das Distomum haematobium (Bilharz), mehrere sonstige Di-
stomen (Baelz, Winogradoff) und das Plasmodium malariae (La-
ver an, Marchiafava und Celli, Golgi). Bei vielen wurde die
Art der Entwicklung, der Vorgang der Invasion in den menschlichen
Körper sowie die medizinische Bedeutung derselben erkannt, so die
pathogene Bedeutung versclüedener Dipteren (Brauer, Couil,
Joseph, Dubreuilh, Scheube, Lallier), die Entwicklung des
Pentastomum (Leuckart), die Entstehungsweise der durch den Sar-
coptes hominis erzeugten Scabies (Eichstedt, Hebra, Gudden,
Bourguignon), die Entwicklung des Ascaris lumbricoides (Grassi,
Lutz, Leuckart, Epstein), die Infektion mit dem Oxj'uris ver-
micularis ^Zenker. Heller), die pathologische Bedeutung der An-
chylostomiasis und ihre Verbreitung (Griesinger, Bilharz, Per-
roncito, Leichtenstern), die pathogenen Eigenschaften der
AnguiUula stercoralis (Normand, Golgi und Monti), des Tricho-
cephalus dispar (Askanazy) und der Trichina spiralis (Zenker),
die Wanderungs weise der Trichinenembryonen (Pagen Stecher,
Askanazy), die pathogene Bedeutung der Filaria sanguinis (Man-
son, Scheube) und des Bothriocephalus latus, der Amoeba dysen-
teriae (Kartulis, Osler, Councilman und Lafleur) und ver-
schiedener Sporozoen (G übler, Podwyssotzki, Kartulis,
Bar ab an und Saint-Remy), die Art der Infektion mit der Sco-
lexform des Bothriocephalus latus (Braun, Leuckart) und den
Malariaplasmodien (Grassi). Gross war auch die Zahl der zusammen-
fassenden Werke über Zooparasiten des Menschen, unter denen hier
nur genannt seien die Werke von Leuckart, Davaine, Heller,
Küchenmeister und Zürn, Perroncito, Mosler undPeiper,
Braun, Blanchard und Moniez.
Geradezu grossartig waren aber die Fortschritte in der Kenntnis
von den pathogenen Phytoparasiten des Menschen. Für zahl-
reiche Infektionskrankheiten wurden bestimmte pflanzliche Mikro-
organismen als Erreger neu nachgewiesen und durch das Studium
dieser sowie der bereits von früher bekannten pflanzlichen Kranklieits-
erreger nicht nur das Verständnis des Wesens und der Verbreitungsart
der Infektionskrankheiten, sondern auch die Prophylaxe und Therapie
derselben sehr wesentlich gefördert.
Neu wurden entdeckt die gewöhnlichsten Eiterungserreger, näm-
lich der Streptococcus pyogenes und der Staphylococcus pyogenes
(Ogston, Becker, Rosenbach), dann der Gonococcus (Neisser
552 H. Chiari.
B u m m), der Diplococcus pneumoniae (Fraenkel, Weichselbaum),
der Mening-ococcus intracellularis (Weichselbaum), der Bacillus
typhi (Eberth, Gaffky), das Bacterium coli commune (Es eher ich),
der Bacillus pneumoniae (Friedländer), der Bacillus rhinosclero-
matis (v. Frisch, Paltauf, v. Eiseisberg), der Tuberkelbacillus
(Koch und Baumgarten), der Bacillus diphtheriae (Klebs, Löff-
le r), der Bacillus tetani (Rosenbach, Kitasat o), der Bacillus
oedematis maligni (Koch), der Bacillus leprae (Hansen, Neisser),
der Bacillus mallei (Schütz, Löffle r), der Bacillus influenzae
(Pfeiffer), der Bacillus pestis bubonicae (Kitasato, Yersin), die
Vibrionen der Cholera asiatica (Koch) und das Microsporon furfur
(E i c h s t e d t). Es wurde weiter die pathogene Wirkung dieser sowie
sonstiger im oder auf dem menschlichen Körper gefundener Phyto-
parasiten sehr eingehend studiert, dadurch das Wesen der sogenannten
Septhämie und Pyohämie präcisiert, die Begriffe der primären und
metastatischen Entzündung und die primäre und sekundäre Infektion
sowie die Mischinfektion klargestellt und überhaupt die Pathogenese
und pathologische Anatomie einer ganzen Reihe von Infektionskrank-
heiten aufgeklärt, so z. B. der Tuberkulose und Lepra, des Typhus
abdominalis, der Gonorrhoe, des Skleroms, der Aktinomykose, der
Mizbrandinfektion, der verschiedenen Meningitiden, Otitiden, Pharyn-
gitiden, Pneumonien und Endocarditiden, des Tetanus, des Soors und
verschiedener Erkrankungen durch Schimmelpilze. Zahlreiche Lehr-
bücher und Atlanten der Bakteriologie resp. Phytoparasitologie ent-
standen (Flügge, Baumgarten, Cornil und Babes, Hüppe,
Fraenkel, Bouchard, Günther, Fraenkel und Pfeiffer,
Heim, Lehmann und Neumann, Weichselbaum) und auch
seitens der Botaniker wurde den Phytoparasiten des Menschen und
speziell den Bakterien immer grössere Aufmerksamkeit zugewandt
(De Bary, Fischer, Zopf, Migula).
Auch in der speziellen pathologischen Anatomie wurde sehr
viel geleistet und hebe ich hier besonders hervor
bezüglich des Blutes den Nachweis der Anaemia essentialis
(Biermer), der myelogenen Leukämie (Neu mann), der Plethora
Vera (Bo Hing er) und der entzündlichen Leukocytose (Ha IIa,
V. Limb eck) sowie die Studien über die Leukocyten (Ehrlich,
Löwit),
bezüglich der Haut die zahlreichen, zumeist von den Derma-
tologen ausgeführten Untersuchungen über die feineren histologischen
Verhältnisse der verschiedenen Dermatitiden, die Feststellung des
Zusammenhanges der multiplen Fibrome der Haut mit den Nerven
der Haut (v. R e c k 1 i n g h a u s e n) und die Arbeiten über Rhinoskleron
(Hebra, v. Mikulicz), über Myxödem (Gull), über Hypertrichosis
(Ecker, Bartels), über die Polymorphie der Hauttuberkulose, über
das Keratoma diffusum congenitum und die sogenannten Atheromcysten,
bezüglich des Auges die hohe Entwicklung der pathologischen
Histologie aller Erkrankungen des Auges seitens der fast durchwegs
auf anatomischem Gebiete ungemein thätigen Ophthalmologen, womit
vielfach auch vom allgemein pathologisch-anatomischen Standpunkte
aus sehr wichtig zu nennende Erkenntnisse zu Tage gefördert wurden,
so in betreff der Entzündung durch die Untersuchungen über die
Keratitis, in betreff der Neoplasmen durch die Untersuchungen über
das Glioma respektive Neuroepithelioma retinae und in betreff der
J
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 553
lokalen Amyloidose durch die Untersuchungen über die Amyloidosis
conjunctivae.
bezüglich des Gehörorganes die Feststellung der Aetiologie
und Genese der Otitis media acuta (Zaufal. Weichselbaum), die
Untersuchungen über die Genese der Otitis tuberculosa (Haber-
m a n n) und die zahlreichen Arbeiten über die pathologische Histologie
des Labj'rinths,
bezüglich des Knochensystems die Studien über die regene-
ratorische Bedeutung des Knochenmarkes bei Blutverlusten (Neu-
mann, Ponfick), über die lakunäre Resorption (Kölliker), die
Osteomalacie und Rachitis (v. Recklinghausen, Pommer), die
Aktinomykose der Knochen (Ponfick), die Entzündungen der Knochen
bei Variola, das Myelom (Zahn, Kahler), die Coxa vara (Bruns),
die Skoliosen (Albert, Nicoladoni), die Beckenanomalien überhaupt
(Litzmann, Michaelis, Schauta, Breus und Kolisko) und
einzelne besondere Beckenformeu, so das Kyphosebecken (Breisky),
das spondylolisthetische Becken (Kilian), das schräg- und querver-
engte Becken (Naegele, Robert) und über die neuropathischen
Arthritiden,
bezüglich der Muskeln die Erkenntnis der idiopathischen Muskel-
atrophie (Friedreich, Erb, Landouzy und Dejerine), der
Pseudohypertrophie (Griesinger, Billroth), des lakunären Muskel-
schwundes (Klemensiewicz) und der Häufigkeit der Muskelfaser-
verkalkung (Seh ujenin off) sowie die Arbeiten über die wachsartige
Degeneration der Muskelfasern (Zenker, Erb),
bezüglich des Cirkulationssystems die Untersuchungen über
die Myomalacia cordis (Ziegler), die Segmentatio myocardii (Re-
naut, V. Recklinghausen), die Arteriitis syphilitica der Hirn-
arterien (Heubner), die Periarteriitis nodosa (Kussmaul und
Mai er, Meyer) und die Aneurysmen (Ponfick, Eppinger),
bezüglich des Nervensystems die zahlreichen anatomischen
Untersuchungen zur Pathologie des Gehirns (Meynert, Gudden,
Westphal, Charcot) und Rückenmarkes (Türck, Duchenne,
Charcot, Leyden, Simon, Flechsig, Westphal, Kahler
und Pick, Dejerine, Erb, Marie, Strümpell) und über Neu-
ritis (Strümpell, Pitres und Vaillard, Leyden, Dejerine)
sowie die Studien über die Porenkephalie (Heschl, Kundrat) und
das Xeuroglioma cerebri (Klebs),
bezüglich des Respirationssystems die Entwicklung der
pathologischen Anatomie der Nase (Zuckerkandl). die Arbeiten
über das Emphysema pulmonum (Eppinger, Grawitz), die Pneu-
monokoniose (Arnold) und die Lungeninduration (Eppinger, Mar-
chand, Wagner, v. Kahl den, Ribber tj, die hochwichtige Ent-
deckung der Cachexia strumi priva (Kocher) und die Untersuchungen
zur Histologie der Struma (Wolf 1er, Gutknecht), über aberrierte
Strumen (Kaufmann. R. Pal tauf), über Tuberkulose der Schild-
drüse und über die Persistenz der Thymus (Waldeyer),
bezüglich des Dig es tions Systems die Arbeiten über Ranula
(Bochdalek, v. Recklinghausen, Neumann). Tuberkulose der
Mundspeicheldrüsen (Finger, Stubenrauch, Paoli, Bockhorn,
Scheibj, Oesophagusdivertikel (Zenker), peptische Ulceration des
Oesophagus (Zenker, Quincke), Aetzungsstrikturen des Oesophagus
(v. Hacker), Oesophagustuberkulose (Birch-Hirschfeld, Orth,
554 H. Chiari.
Zenker, Breus, Beck, Glockner), muskuläre Pylorusstenose
(Mai er), urämische Darmnekrose (Treitz), Darmkatarrh (Noth-
nagel), Entzündung des Wurmfortsatzes, Hernia interna (Treitz),
Leberinfarkte (Z a h n) , Siderosis hepatis (Quincke), Cirrhosis hepatis
(Ackermann, Charcot, Sabourin, Hanot, Kretz), Choleli-
thiasis (Naunyn), Fettgevvebsnekrose des Pankreas (Baiser), Auto-
digestion des Pankreas und die Tuberkulose des Pankreas (Kudre-
wetzky),
bezüglich des uropoe tischen Systems die Untersuchungen
über den Morbus Brighti (Bamberger, AVagner, Cornil), über
die Entstehung der Harncylinder (Burckhart, Weissgerber und
Perls, Knoll), die Hypernephrome der Nieren (Grawitz), die
Harnsteine (Posner, Ebstein) und die accessorischen Nebennieren
(Marchand, d'Ajutolo, Schmorl) sowie die Erkenntnis der Be-
deutung pathologischer Veränderungen in den Nebennieren für den
ganzen Körper (Addison),
bezüglich des Genitalsysteras die Arbeiten über die Orchitis
typhosa (Tavel), die Orchitis variolosa, die Teratome des Hodens
(Wilms), die Cysten der Ausführungsgänge der Cowperschen Prüsen
(Elbogen), die accessorischen Ovarien (Bei gel), die Tubo-Ovarial-
cysten (Zahn), die Kystome des Ovariums (Waldeyer, Pfannen-
stiel), die Teratome des Ovariums (Wilms), die Salpingitis nodosa,
die Uterusmyome (v. Recklinghausen, v. Kahlden, Williams,
Pick) und die Colpohyperplasia cystica.
Recht wichtig waren weiter die technischen Fortschritte in der
pathologischen Anatomie, welche teils die Sektionstechnik, teils die
Herstellung von Musealpräparaten, teils die pathologisch-histologische
Präparation betrafen.
Bezüglich der Sektionstechnik wurde einerseits die all-
gemeine pathologisch-anatomische Sektionsmethode der beiden Funda-
toren der modernen pathologischen Anatomie, Rokitansky und
Virchow weiter ausgebildet und vielfach neu beschrieben, anderer-
seits wurden neue Methoden für die Sektion einzelner Teile des Körpers
erdacht, so hinsichtlich des Gehirns (Meynert, Pitres, Nothnagel),
des Herzens (Prausnitz), der Nasenrachenhöhle (Schalle, Klebs,
Pölchen, Harke, Beneke, Scheier) und des Gehörorganes
(Politzer).
Die Herstellung instruktiver und schöner Musealpräparate
wurde wesentlich gefördert durch die Konstruktion zweckmässiger
und rasch arbeitender Knochen-Macerations- und Entfettungsapparate
(Planer, Heschl), ganz besonders aber durch die Einführung der
Formalinkonservierung (Blum, Melnikow-Raswedenkow,
Jores, Kaiserling). Auch wurde vielfach die Plastik zur Repro-
duktion pathologisch- anatomischer Veränderungen herangezogen.
Was die pathologisch-histologische Technik anbelangt,
so erfuhr dieselbe eine gewaltige Entwicklung. Es wurden zahlreiche
neue Methoden der Fixation angegeben, mit denen sehr wesentliche
neue Details zur Darstellung gebracht werden konnten, so die Fixation
in der F 1 e m m i n g sehen Lösung, in den R ab Ischen Sublimat-Pikrin-
säure- und Platinchloridmischungen, in der Zenk ersehen Flüssigkeit
und in der Müller-Formolmischung von Orth; es wurde die Koch-
methode für die Darstellung von Exsudaten in den Geweben (P o s n e r)
und die Gefriermethode für das rasche Anfertigen von Schnitten aus
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 555
frischen Gewebsstücken eingeführt; es wurde die Technik der mikro-
skopischen Schnitte auf eine früher ungeahnte Höhe der Vollendung
gebracht und zwar durch die Konstruktion präcis arbeitender Mikro-
tome (Thoma-Jung) und durch die Erfindung der Einbettung in
Celloidin (Duval, Schie ff erdecke r) und in Paraffin, womit auch
die Anfertigung von lückenlosen Schnittserien ermöglicht wurde: es
wurden die verschiedenartigsten neuen Farbstoffe zumal aus den Ani-
linfarbstoffen für die Färbung mikroskopischer Schnitte in Verwendung
gezogen und damit ungemein instruktive einfache. Doppel- und Mehr-
fachfärbungen erzielt, und es wurden zahlreiche besondere Färbungs-
methoden für bestimmte Zwecke erfunden, so für die Färbung patho-
gener Mikroorganismen (Weigert, Gram, Ehrlich) für die elektive
Färbung des Amyloids (Heschl, Jürgens, Cornil), des Mucins
(Hoyer), der elastischen Fasern (Taenzer, Weigert), der Mark-
scheiden (Weigert ), der Neuroglia ( W e i g e r t), des Fibrins (Wei-
gert) und für die Darstellung der Degeneration von Nervenfasern
(Mar Chi und Algeri). Dank diesen Methoden konnten jetzt mit
den wesentlich verbesserten Mikroskopen (Abbe scher Apparat, Oel-
immersion) früher ganz unbekannte pathologisch - histologische Ver-
hältnisse erkannt werden und daraus über die Genese pathologischer
Veränderungen wichtigste Aufschlüsse gewonnen werden.
Sehr zahlreich waren schliesslich die in dieser Zeit erschienenen
Lehrbücher und Atlanten auf dem Gebiete der pathologischen
Anatomie.
Auf die allgemeine pathologische Anatomie allein be-
ziehen sich
die Physiologie pathologique von Lebert, Paris 1845,
die Lezioni di anatomia patologica generale von di Guilio, Neapel 1850,
das Savdbuch der allgemeinen Pathologie von Ulile und Wagner, Leipzig
1862, 7. Auflage 1876,
das Compendio di anatomia patologica generale von Tariifft, Bologna 1870,
das Lehrbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie von Maier, Leipzig 1871,
die Anatomia patologica von SangaUi, Pavia 1873,
die Elements d'anatomie et de physiologie pathologiques generales von Wehen-
kell, Brüssel 1875,
das Lehrbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie von Perls, Stuttgart
1877—1879, 3. Auflage (Xeelsen) 1894,
die Vorlesungen über allgemeine utid experimentelle Pathologie von Stricker,
Wien 1877-1883,
die Vorlesungen über allgemeine Pathologie von Cohnheim, Berlin 1877 — 1880,
das Handbuch der allgemeinen Pathologie von Satnuel, Stuttgart 1879,
die allgemeine pathologische Anatomie von Lange, Kopenhagen 1878 — 1883,
2. Auflage 1897 (dänisch),
die Lezioni di patologia generale von Volenti, Rom 1881—1885,
das Handbuch der allgemeinen Pathologie des Kreislaufes und der Ernährung
von V. Rei:klinghausen, Stuttgart 1883,
die Elemente der Pathologie von Hl ntl fleisch, Leipzig 1883,
die allgemeine Pathologie von Klebs, Jena 1887 — 1889,
der Traite elementaire de pathologie generale von Hallopeau, 1887, 5. Auf-
lage 1898,
das Manual of general Pathology von JPai/ne, London 1888,
der Grundriss der allgemeinen Pathologie von Birch- Hirschfeld, Leipzig 1892,
der Traite de pathologie generale von Bouchard, Paris 1895 (2. Band mii
Hager, 1896),
das Manual de anatomia patologica general von Matnon y Cajal, Madrid 1896
und die Patologia moderna von Monti, Turin 1898.
556 H. Chiari.
Die gesamte pathologische Anatomie oder die spe-
zielle allein umfassen
das Lehrbuch der pathologischen Anatomie und Diagnostik von Bock, Leipzig
1847; 1849; 1864,
das Lehrbuch und das Handbuch der pathologischen Anatomie von Förster,
Jena 1850; 10. Auflage 1876 (Siebert), resp. Leipzig 1854—1855; 2. Auflage 1865,
das Compendium der pathologischen Anatomie von Wislocki, Wien 1853,
das Manual of pathological Aruitomy von Jones und Sieveking, London 1854;
1875 (JPayne),
das Compendium der allgemeinen und speciellen pathologischen Anatomie von
Heschl, Wien 1855,
der Grundriss der pathologischen Anatomie von Kolb, Stuttgart 1855,
das Lehrbuch der imihologischen Anatomie von Engel, Wien 1856—1865,
der Tratte d'anatomie pathologique generale et speciale von Lebert, Paris
1857—1861,
die Lections on pathological Anatomy von Wilks, London 1859; mit Moxon
1875; 1889,
die Grundzüge der pathologischen Anatomie von Jßrodoivski, Warsclmu 1860,
das Hatidbuch der pathologischen Anatomie von Klebs, Berlin 1868 — 1876;
Fortsetzung von Schwartze 1878 und Eppinger 1880,
das Compendium der pathologischen Anatomie von Joseph, Berlin 1871; 1873;
Leipzig 1884 (Hennig); 1889,
die Introduction to Pathology and morbid Anatomy von Green, Philadelphia
1871; 3. Auflage 1898,
das Handbook of post mortem axaminations and of morbid Anatomy von
DelafteUl, New- York 1873,
der Traite d'anatomie pathologique von Lanceraux, Paris 1875 — 1889,
das Compendium der pathologisch-anatomischen Diagnostik von Orth, Berlin
1876; 6. Auflage 1900,
das Lehrbuch der pathologischen Anatomie von Bircli-Hirschfeld, Leipzig
1876; 5. Auflage 1896,
die Nouveaux Clements d'anatomie pathologique descriptive et histologique von
Labotilbene, Paris 1879,
das Lehrbuch der allgemeinen und speciellen pathologischen Anatomie von
Ziegler, Jena 1882; 9. Auflage 1898,
die Istituzioni di anatomia patologica von Tommasi-Crudeli, Turin
1882—1883,
das Manual of Pathology von Coats, Philadelphia 1883 ; 3. Auflage 1895,
die Practical Pathology von Woodhead, Edinburgh 1883; 1885,
die Anatomia patologica von Colotniatti, Turin 1884,
das Handbook of pathological Anatomy and Histology von Delafield und
Prudden, New- York 1885; 5. Auflage 1897,
das Lehrbuch der speciellen pathologischen Anatomie von Orth, Berlin 1887
(die Haut von Unna, 1894),
der Precis elementaire d'anatomie pathologique von Abadie-Leroy, Paris 1887,
das Textbook of Pathology von Hamilton, London 1889 — 1894,
der Abriss der pathologischen Anatomie von Fütter er, Wiesbaden 1890 ; 1891,
das Compendium der pathologischen Anatomie von Langerhans, Berlin
1891; 1896,
der Grundriss der pathologischen Anatomie von Schmaus, Wiesbaden 1893 ;
5. Auflage 1899,
der Grundriss der pathologischen Anatomie von Gerdes, Stuttgart 1893,
der Traite elementaire d'anatomie pathologique von Cogne, Paris 1893,
das Lehrbuch der pathologischen Anatomie von Thoma, Stuttgart 1894,
das Lehrbuch der pathologischen Anatomie, Histologie und Bakteriologie von
Hlava und Obrznt, Prag 1894 — 1897 (cechisch),
das Lehrbuch der speciellen pathologischen Anatomie von Kaufmann,
Berlin 1896,
the Pathologists Handbook von Kelynack, London 1899,
das Textbook of Pathology von Stengel, London 1899
und die Elemente der pathologisch -anatomischen Diagnostik von Israel,
Berlin 1900.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 557
Die pathologische Histologie allein betreffen
die pathologische Geivebelehre von CrUnsburg, Leipzig 1845 — 1848,
die Grundzüge der pathologisclien Histologie von JFedl, Wien 1854,
das Lehrbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie der Gewebe des Menschen
von Winther, Giessen 1860,
die erste Abtheüung der allgemeinen Pathologie von Paulicki, Lissa 1862,
der Tratte elementaire d/histologie normale et pathologique von J£oi'el, Paris
1864; 3. Auflage 1879,
das Lehrlmch der pathologischen Gewebelehre von Mindfleischf Leipzig 1867 —
1869; 6. Auflage 1886,
der Manuel d'hisiologie pathologique von Cornil und JSaiivier, Paris 1869 —
1876; 1881-1882: 1901,
die Practical Histology and Pathology von Gibbes, Philadelphia 1881 ; 3. Auf-
lage 1885,
das Practicum der patJiologischen Histologie von Israel, Berlin 1889; 1893,
die Grundzüge einer allgemeinen Pathologie der Zdle von Liickjanou',
Leipzig 1891,
das Textbook of morbid Histology von Boyce, London 1892.
der Grundriss der pathologischen Histologie von Weichselba um, Wien 1892,
das Lehrbuch der pathologischen Histologie von Ribbei't, Bonn 1896
und der Traite elementaire d'histologie pathologique von Brandeis, Paris 1899.
Von Atlanten sind zu nennen
der Atlas der pathologischen Anatomie von Bock, Leipzig 1854.
der Atlas der mikroskopischen pathologischen Anatomie von Förster, Leipzig
18o4r-1859,
der Atlas zu der früher erwähnten Physiologie pathologique von Lebertf
Paris 1845
und der Atlas zu dem früher erwähnten Traite d'anatomie pathologique generale
et speciale von Lebert, Paris 1857 — 1861,
der Atlas d'anatomie pathologique von Lanceraux und Lackerbauer,
Paris 1868,
der Atlas der pathologischen Histologie von Tliierf eider, Leipzig 1872 — 1881,
der Atlas zu der früher erwaJinten Aiuxtomia patologica von Sangalli,
die pathologisch-anatomischen Tafeln von Suinpel, Watidsbeck 1892,
der Atlas der patlwlogischen Histologie des Nervensystems von Babes,
Berlin 1892,
der Attas der pathologischen Gewebelehre von G-raivitz, Berlin 1893,
der Atlas der pathologischen Gewebelehre in niikrophotographischer Darstellung
von Karg und Sc/unorl, Leipzig 1893,
der Atlas und Grundriss der pathologischen Anatomie von Bollinger, München
1896—1897: 2. Auflage 1901,
der stereoskopische medicinische Atlas begründet von Keisser 1894, Abth. f.
path. Anatomie red. von Poufick, Leipzig. 1. Folge (Sclimorl) 1898. 2. Folge
(Kretz) 1900,
der stereoskopisch-photographische Atlas der pathologischen Anatomie des Herzetis
und der grösseren Blutgefässe von Schmorl, München 1899,
der Atlas und Grundriss der pathologischen Histologie von Dürck, München 1900
und der Cursus der pathologischen Histologie mit einem mikroskopischen Atlas
von Aschoff und Gaylord, Wiesbaden 1900.
Aufgaben eines pathologischen Anatomen in der Gegenwart.
Nach der gegebenen Darstellung ist es begreiflicli, dass nunmehr
die pathologische Anatomie an ihre Fachvertreter ungemein grosse
Ansprüche stellt und dass es für einen pathologischen Anatomen der
Gegenwart sehr schwer ist, sein ausgedehntes Gebiet zu beherrecben.
Er muss alle Richtungen der pathologischen Anatomie betreiben, er
muss makroskopischer Anatom und Histolog sein, er muss experimentell
und bakteriologisch untersuchen, er muss als pathologischer Prosektor
im Stande sein, auf die naturgemäss immer mehr sich detaillierenden
558 H. Cliiari.
Interessen der Vertreter der einzelnen klinischen Fächer einzug-ehen und
dabei stets von seinem allg-emeineren Standpunkte als pathologischer
Anatom das ihm zuströmende Material für seine Forschung verwerten.
Dann wird er aber auch seinen Platz richtig- ausfüllen, und sich das
richtige Verhältnis zwischen ihm und den Klinikern von selbst er-
geben. Die pathologische Anatomie wird von der Klinik stets neue
Befruchtung und Anregung empfangen und umgekehrt wird die Klinik
durch die pathologische Anatomie gefördert werden, so dass dann der
pathologische Anatom und der Kliniker zum Besten des Fortschrittes
in der Erkenntnis der Krankheiten zusammenwirken werden.
Wieviel da noch zu thun ist, zeigt sich Tag für Tag. Fort und
fort ergeben sich neue Probleme. Das anatomische Substrat zahlreicher
Funktionsstörungen und zahlreicher Erkrankungsformen wie z. B. der
verschiedenen Psychosen ist festzustellen, die Genese einer ganze Reihe
von Prozessen, so der Bildungsanomalien und vieler Ernährungsstörungen
aufzudecken und die Aetiologie vieler Krankheiten, so namentlich vieler
Infektionskrankheiten und der Geschwulstbildungen zu eruieren —
durchwegs schwierige aber auch sehr dankenswerte Aufgaben, bei
denen jeder Schritt vorwärts zum Segen für die Menschheit werden wird.
Litteratur der pathologischen Anatomie.
Wie bereits erwähnt wurde, besass die pathologische Anatomie
ursprünglich keine eigene Litteratur. Erst allmählich bildete sich eine
solche aus und erschienen einerseits selbständige Schriften und Werke
lediglich pathologisch-anatomischen Inhaltes, andererseits entstanden
entweder vollständig oder zum Teile ausdrücklicli der pathologischen
Anatomie gewidmete Journale.
Von letzteren wären in der Gegenwart zu nennen :
das Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische
Medicin, seit 1847, Berlin, gegründet von Virchow und Itehihardt,
das Jouryial de Vanatomie et de la physiologie normales et pathologiques de
Vhomme et des animaux, seit 1864, Paris, gegründet von Mobin,
das Journal of Anatomy and Physiology normal and pathological, seit 1866,
Cambridge und London, gegründet von MutnpJiry und Turner^
die Beiträge zur pathologischen Anatomie und allgemeinen Pathologie, seit 1886,
Jena, gegründet von Ziegler,
die Archives de medecine experimentale et d'anatomie pathologique, seit 1889
Paris, gegründet von Charcot,
das Jotirnal of Pathology and Bacteriology, seit 1892, Edinburgh, gegründet
von Woodhead,
das Centralblatt für allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie, seit
1890, Jena, gegründet von Zieyler,
die Abtheilung C. für pathologische Anatomie der Bibliotheca medica, seit 1893,
Cassel, gegründet von Flügge, Ponflck, und Weigert,
die Ergebnisse der allgemeinen Pathologie und piathologischeyi Anatomie des
Menschen und der Thiere, seit 1894, Wiesbaden, gegründet von Luharsch und
Ostertag,
die Rivista italiana di patologia generale e anatomia patologica, seit 1896,
Turin, gegründet von Lustig und JBanti,
das russische Archiv für Pathologie und klinische Medicin und Bakteriologie,
seit 1896, St. Petersburg
und die Abtheilung für pathologische Anatomie und verwandte Disciplinen der
Zeitschrift für Heilkunde, seit 1900, Wien.
Geschichte der pathologischen Anatomie des Menschen. 559
Weiter wären noch anzuführen:
die Annales de Vanatomie et de la physiologie pathologiques, 1842—1843, Paris
gegründet von Pigne,
das Giornale die anatomia e fi»iologia patologica 1864 — 1865, Pavia, 1866 — 1867,
Mailand,
das russische Journal der normalen und pathologischen Histologie und klinischen
Medicin 1870—1876, St. Petersburg,
das Archivio della scuola d'anatomia patologica di Firenze 1881 — 1886 saune
seine Fortsetzung, das Archivio di anatomia normale e patologica 1889 — 1890, Florenz
und die Teratologia : Quarterly Contrihutions to antenatal Pathology, 1894 —
1895, London %ind Edinburgh, von Ballantyne
sowie die Verhandlungen der verschiedenen pathologischen Gesell-
schaften. SO:
der Pathological Society of London,
der Pathological and Clinical Society of Glasgow,
der Pathological Society of Dublin,
der Pathological Society of Manchester,
der Belfast Clinical and Pathological Society,
der Neic-York Pathological Society,
der Brooklyn Pathological Society,
der Pathological Society of Philadelphia,
der Clinico-Pathological Society of Washington,
der Chicago Pathological Society,
der Pathological Society of Toronto,
der Societe d'anatomie et de physiologie normales et pathologiques des Bordeaux,
der Societe d'anatomie pathologique de Bruxelles,
und der deutschen pathologischen Gesellschaft.
Ausserdem wurden und werden aber auch jetzt noch zahlreiche
Arbeiten pathologisch-anatomischen Inhaltes in den Berichten anderer
Gesellschaften und in anderen Journalen, so in solchen der Bakterio-
logie, der internen Medizin, der Chirurgie, der Gynäkologie etc. publi-
ziert und ist überhaupt die litterarische Produktion auf dem Gebiete
der pathologischen Anatomie eine ungemein ausgedehnte, so dass die-
selbe sehr schwer zu übersehen ist und sich wie überall so auch hier
der Wunsch nach einer Konzentration geltend zu machen begonnen hat.
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in
der neueren Zeit.
Von
Ed. Schaer (Strassburg).
Litt er atur angab en.
In dem nachstehenden Litteratur Verzeichnisse sind die wichtigsten, auf den
vorstehenden Abschnitt bezüglichen Schriften der im Texte mit Anmerkungszeichen
versehenen Autoren aufgeführt, wobei u. a. namentlich folgende Werke mit benützt
worden sind:
1. MeyeVf Geschichte der Botanik, Königsberg 1854 — 57. — 2. J, F. G-nielin,
Gesch. der Gifte, Erfurt 1811 — 3. Q. Chiai'lone n. C. Mallaina, Historia
critico-literaria de la farmacia, Madrid 1875, III Ed. — 4. F. A. Flückigei%
Pharmakognosie des Pflanzenreiches, III. Aufl., Berlin 1891, Anhang. — 5. IT.
Haeser, Lehrbxich der Geschichte der Medicin, III. Bearb., Jena 1875J83. — 6. J.
JPagel, Einführung in die Geschichte der Medicin, Berlin 1898.
1. Ueber die Schriften des Paracelstts s. K. SndJioff, Bibliographica Para-
celsica, Kritik der Aechtheif der Paracclsischen Schriften, Berlin 1894.
2. Winther von Andernach^ De medicina veteri et nova, Basileae 1571.
3. Sammlung der Schriften von J>ii Chesne in Quercetanus redivivus, Francof.
1648.
4. Porta, Magiae naturalis libr. XX 1589. — De distillatione libr. IX,
Bomae 1608.
5. Crollf Basilica chymica continens philosophicam . . . et usum remediorum
chymicorum sdectissimorum . . . Francof. 1608.
6. Libavius, Alchymia . . . collecta . . . et in integrum corpus redacta,
Francof. 1595. — Praxis alchymiae etc., Francof. 1604. — Neoparacelsica, in quibus
vetus medicina etc., Francof. 1596. — Sammlung s. Schriften: Opera omnia medico-
chymica 1613—15.
7. Sala, Angeli Salae opera medico-chymica . . . quae exstant omnia, Fran-
cof. 1647.
8. Foesius, Oeconomia Hippocratis alphabeti serie distincta etc., Francof. 1588.
9. Cornarus, Hipjiokrates- Ausgabe, Venedig 1544. S. a. Grüner, J. Cor-
neri conjecturae et emendationes Galenicae, Jena 1789.
10. Jjaguna, Ttaduccion y comentarios de Dioscorides, Salamanca 1563.
Epitome operum Galeni, Basil. 1551.
11. Winther r. Andernach (s. o. 2), Alex. TralUani medici libr. XII
graece et latine etc., Basil. 1556. — Pauli Aeginetne opus de re medica, nunc
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 561
primum latinitate donatum per Joannetn Cruinterium Andemacuni, Tenet
1542.
12. Fuchs, Nicolai Jlyrepsi Alexandinni medicamentai-um opus etc.
Basil. 1549. — InstituHones medicae, Venet. 1556.
13. Brunfels, Liher Serapionis de medicamentis simplicihus vel de tempera-
mentis simplicium, Ärgentor. 1531. — Shasis liher medicinalis ad Almansorem,
Ärgentor. 1531.
14. AmatHS Ltisitamis, Ä. L. in Dioscoridis de materia medica libros V
enarrationes, Venet. 1533.
15. 1\ Cordus, V. Cordii Annotationes in Dioscoridis de materia medica
libros etc. Edit. Conr. Gesneri, Ärgentor. 1561.
16. Jlatthioli, Discorsi di P. A. Matthioli nei sei libri della materia medi-
cinale di Fedacio Dioscoride, Vinegia^ 1555.
17. Briinfels, Herbarum vivae eicones (De vera herbarum cognitione), Ärgen-
tor. 1530—36.
18. Tragus, New Kreutterbuch von nnterscheydt, tcürckung u. d. namen der
Kreutter etc., Strassburg 1539. — Latein. Ausg. (D. Kyber), Ärgent. 1552.
19. Fuchs, De historia stirpium commentarii etc., Basil. 1542.
20. Tabernaetnontanus, Neuw kreuterbuch, Frankfurt 1588 — 91.
21. Clusius, Barior. plantar, historia, Äntverp. 1601. — Notae in Garciae
aromatnm historiam etc , Äntverp. 1582. — Exoticor. libri X etc., Äntverp. 1605.
22. V. Cai'flus, Historia stirpium etc. (Historia plantarum). Edit. Gessner,
Ärgent. 1561. — Dispensatorium pharmacopolarnm etc., Xorimberg (1546).
23. Dodonaeus, Cruydebook, Antvtrp. 1554. — Stirpium pemptades, Änt-
verp. 1583.
24. Coudenberg, Valeri Cordi dispensatorium pharmacoriim omnium
adjecto novo ejusdem libello, Äntverp. 1568.
25. Laredo, Metaphora medicinae, Sevill. 1521. — Modus faciendi cum ordine
medicandi etc., Madrid 1527 (vergl. über e. span. Ausg. (in Paris) E. Cordofinier
in Janus 1900).
26. Lobelius, Stirpium adversaria nova (Animadversiones), London 1570 (mit
P. Pena). — Stirpium historia, Äntverp. 1576.
27. Gerarde, The Herball or Generali historie of plants. London 1597. —
Catalog. arborum etc. tarn indigenarum quam exoticarum in horto Gerardi nascentium,
Londin. 1596.
28. Gessner, De hortis Germaniae lib. recens., Ärgent. 1561. — Historiae
animalium libr. V, Tigur. 1551. — Car. Clusii et Conr. Gesneri epistolae ineditae.
Ed. Treviranvs, Lips. 1831. — C. Gesneri, Opera botanica ed. Schmiedel, Tigur.
1751—71.
29. Bonafede, Erster „Lector simplicium"' a. d. Universität Padua von
1533—49: Gründer des dortigen botan. Gartens (1545).
30. Anguillara, Semplici delV eccellente M. Luigi Änguillara, . . . nuovamente
da G. Marinelli mandati in luce, Venegia 1561.
31. Frosper Alpinus, „Ostensore dei Semplici-^ in Padua. — De plantis
Äegypti liher, Venet. 1592. De medicina Aegypfiorum libr. IV, Venet. 1591.
32. Marino Santtto, Liher secretorum etc., Hanoviae 1611.
33. Fegolotti, Della decima etc. Edit. Pagnini 1766.
34. Pasi, Taripha . . . composta per M. Bartholomeo di Paxi di Venezia,
Tenezia 1503.
35. Conti, The travels of Nicolö Conti in the East ... by R. H. Major,
London 1857 (Hakluyt Society). — Vergl. auch A. de Gnbernatis, Storia dei
viaggiatori ital. etc. Livorno 1875 p. 161;186.
36. Belon, Les observations de plusieurs singularitez et choses memorahles etc..,
Paris 1553. — Li latein. Uebertragung im Anhang von: C. Clusii, Exoticor.
libr. X (s. 0.).
37. Acosta, Tractado de las drogas y medicinas de las Indios orientales . . .,
Burgos. 1578. — Verbreiteter die italien. Ausgabe, Venetiae (Ziletti) 1585, s. a.
Clusius, Exoticor. libr. X.
38. Garcia da Orta, Colloquios dos simples e drogas da India etc. Edit.
Varnhagen, Lissabon 1872. Neue kommentierte Ausg. v. Conde de Ficalho^
Lisboa 1891J95: s. a. Clusius, Exot. libr. X.
39. Oriedo, Historia general y natural de las Indias etc., Madrid 1851155.
40. Monardes, Historia medicinal de las cosas que se traen de nuestras
Indias occidentules etc., Sevilla 1574, s. a. Clusius, Exotic. libr. X.
41. Hernandez, Novae Hispaniae Thesaurus (Edit. Recchi), Romae 1651.
42. Clusius (s. 0. Nr. 21), Äromatum et simplicium aliquot medicamentorum
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. ü. 36
562 Ed. Schaer.
ap^id Indios nascentium historia ... a D. Garcia ab Horto, Äntverp. (Edit. IV)
1593. Im Anhange die latein. Uebersetzungen von Acosta u. Monardes (s. o.).
— Diese letzteren, sowie diejenige von G, da Orta ausserdem in Exotic. Uhr. X.
(1605).
43. JLeniery, Cours de chimie applique ä la medecine, Paris 1675. — Pharma-
copee universelle, Paris 1697. — Dictionnaire universel des drogues simples, Paris 1697.
44. Barha, Vera praxis ad curationem tertianae etc., Hispali (Sevilla) 1642.
45. J. Chr. Schröder, Pharmacopoeia medico-chymica seu Thesaurus pharma-
cologicus, Ulm 1641. Deutsche A. („A7-zney-Schatz"), Nürnberg 1748.
46. E. d : Villa, Examen de boticarios Burgos 1632. — Ramillete de plantas.,
Burgos 1636. De simples incognitas en la medicina, 1 y II parte, Burgos 1643154.
— Libro de los doce principes de la medicina, Burgos 1647.
47. Aniatus Jjusitanus^ Curationum medicinalium centuriae VII, Florent.
1551. — A. L. in Dioscoridis de materia medica libros V enarrationes, Venet. 1533.
48. JBaccrus, De venenis et antidotis prolegomena, Bomae 1586.
49. Musa Brassavola, Examen omnium simplicium etc., Bomae 1536.
50. Charas, Experiences sur la vipere, Paris 1669. Deutsche Ausg. Frank-
furt alM. 1679.
51. JRedi, Experimenta etc., Amstelod. 1675 (I ital. Ausg., Florenz 1671 : auch
in Opere di F. Bedi etc., Venet. 1712). Im Anhange: Observationes de viperis. —
Epist. ad aliq. oppositiones factas in siias observ. de viperis.
52. Fr. Hoffmann, Medicina rationalis systematica, Halle 1718—1740.
53. G. E. Stahl, Theoria medica vera, Kai. 1708. — Fundamenta chimico-
pharmaceutica generalia etc., Herrnstad. 1721. — Fundamenta chymiae dogmaticae
et experim., Norimb. 1723.
54. Th. Goulard, Traite sur les effets des präparations du plomb., Mont-
pell. 1760.
55. A. Stoerck, Libellus, quo demonstratur, cicutam . . . esse remedium
valde utile, Vindob. 1760.
56. tf. A. Murray, Apparatus medicaminum, Götting. 1776/89. Deutsche
Ausg. 1793.
57. St. Fr. Geoffroy, Tractatus de materia medica, Paris 1741; franz. Ausg.
(Traite de m. m. 1757).
58. C. Neutnann, Praelectiones chymicae 1740; Chymia medica dogmatico-
experimentalis 1749 55.
59. tf. JRay, Historia plantarum, London 1686 — 1704.
60. E. Kaetnpfer, Amoenitates exoticae, Lemgo 1712; Geschichte und Be-
schreibung Japans, Lemgo 1777.
61. C Ortega, Tratado de la naturaleza y virtudes de la cicuta, Madrid
1762; Historia natural de la malagueta o pimienta de Tabasco, Madrid 1780.
62. H. Muiz, Flora peruviana et chilensis, Madrid 1798- 1802 ; Quinologia
6 tratado de drbol de la Quina ö Cascarilla, Madrid 1792 (con supplem. 1801).
63. S. Hahneniann, Organon der rationellen Heilkunde, Dresden 1810;
Reine Arzneimittellehre, Dresden 1811.
64. J. G. Jtadeniacher, Verstandesrechte Erfahrungs-Heillehre etc., Ber-
lin 184L
65. tT". Zeller, Dissertatio de docimasia vini lithargyrio mangonisati 1707.
66. eT. P. Frank, System einer vollständigen medizinischen Polizei 1779 — 1819.
67. F. Fontana, Ricerche filosofiche sopra il veleno della vipera, Lucca 1765;
Traite sur le venin de la vipere, sur les poisons americains etc., Florence 1781.
68. F. W. J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, Leipzig 1797.
Erster Entwurf e. Systems der Naturphilosophie, Jena 1799.
69. K. G. Mitscherlich, Lehrbuch d. Arzneimittellehre, Berlin 1847 — 1863
(3 Bde.).
70. K. D. V. Schroff, Lehrbuch der Pharmakognosie 1853; Lehrb. d. Pharma-
kologie 1856.
71. A. Gabler, schrieb einen preisgekrönten Kommentar zur französischen
Pharmakopoe (1868), sowie ein in letzter Auflage nach seinem Tode publiziertes
„Traite de therajne^.
72. G. Orosi schrieb die in 4 Aufl. erschienene „Farmacopea italiana'^, bzw.
ein an die italienischen Arzneibücher sich anschliessendes Handbuch d. Pharma-
kologie.
73. JR. JBuchhehn, Lehrbuch der Arzneimittellehre 1856.
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 56S
7d. Cl. Bernard, Legons siir ks effets des substances toxiqnes et medi-
camenteuses, Paris 1857. — Legmis de physiologie experinientale appliquee ä la
medecine. Paris 1855\56 (2 Vol.).
75. »7. Pereira, Elements of materia medica and therapeutics 1839! 1840.
76. H. F. Fristedt, Lärobok i arganisk pharmacologi, Upsala 1873.
77. P. C. Pluyge verfasste neben zahlreichen Arbeiten phar makologisch-
chemischen Inhaltes die preisgekrönte Schrift: „Overzicht van de icisselende chemische
Samenstelling en pharmacodynamische icaarde van eenige belangrijke geneesmiddelen
1885. Deutsche Bearbeitung von Ed. Schaer, Jena 1886.
78. Th. Httsemann, Handb. d. ges. Arzneimittellehre 2 Bde. 1883; von
1866—1874. Herausg. des Jahresberichtes der Pharmacie.
79. y. Criiiboiirt, Histoire naturelle des drogues simples, 4 Vol., VI. Aufl.
(Mitherausgeber: G. Platichon), Paris 186970.
80. H. A. L. Wiggers, Handbuch der Pharmakognosie, Y. Auf,., Göttingen
1864.
81. C. A. J. A. Oudemans, Sandleiding to de Pharmacognosie van het
planten- en dierenrijk, Haarlem 1865: II. Aufl. Amsterdam 1880.
82. O. ßerg, Pharmaceutische Waarenkunde. Y. Aufl., Berlin 1879.
83. F. A. Flüch-iger, Lehrbuch der Pharmakognosie des Pflanzenreiches; in
3. Aufl. Berlin 1867, 1883 u. 1891. — Pharmacographia, a history of the principal
drugs etc. (mit D. Hanbury), London, IL Aufl. 1879. Franz. Uebers. von
J. L. Lanessan, 2 Yol., Paris 1878.
84. 31. J. B. Orfila, Traite de toxicologie generale. 5. Aufl., Paris 1852
(2 Bde.). Deutsche Uebers. Braunschweig 1852,53 (2 Bde.). Italien. Bearbeitg.
Livorno 1833.
85. B, Cliristisoti, A treatise on poisons, in relation to medical jurisprudence,
4tf> Ed., London 1844145.
86. B. Bellinl, Lezioni sperimentali di tossicologia.
87. Cr. JJratßendorffy Die gerichtlich-chemische Ermittelung von Giften etc.,
III. Aufl., Gattingen 1888.
88. A. I>uflos, Die Prüfung chemischer Gifte etc., Breslau 1867.
89 Fr. Jlohr, Chemische Toxikologie etc., Braunschiceig 1874.
90. F. J. Otto, Anleitung zur Ausmittelung der Gifte etc., I. Aufl., Braun-
schiceig 1856: YII. Aufl. herausg. u. bearbeitet v. B. Otto, Braunschweig 1896.
91. F. L. Sonnenschein, Handbuch d. gerichtl. Chemie, IL Aufl. (bearb. v.
A. Classen), Berlin 1881.
Wenn die Geschichte der Medizin, welche gerade in den Zeiten
ihrer normalsten Entwicklung und Bethätigung das charakteristische
Doppelbild einer Kunst und einer Wissenschaft darbietet, einigen An-
spruch darauf erheben darf, als ein Stück Kulturgeschichte betrachtet
und behandelt zu werden, so gilt dies nicht zum wenigsten von dem
Teile, der den Inhalt des im Titel bezeichneten, kurz zu fassenden
Kapitels bilden soll. Denn einmal musste zu allen Zeiten das instink-
tive Bestreben, für die zahlreichen menschlichen Leiden aus der uns
umgebenden Natur selbst die wirksamen Heilmittel auszuwählen und
in passende Formen zu bringen, jene der Arzneibereitung gewidmete
Thätigkeit hervorrufen, welche die Hauptaufgabe der Pharmacie ge-
blieben ist und jeweilen, unter dem Einfluss der Zeitgeschichte, des
Ortes und der ötfentlichen Meinung in irgend einer eigenartigen Ge-
staltung sich den übrigen Seiten des Kulturlebens angereiht hat.
Andererseits aber zeigt uns der Rückblick auf die Vergangenheit
der Medizin und der so enge mit ihr verknüpften Pharmacie, wie auf-
fallend und deutlich, zumal für unseren heutigen Gesichtspunkt, der
Einfluss der damaligen M3-stik und Naturphilosophie, der astrologisch-
alchymistischen Anschauungen, ja selbst des auf Schwarzkunst und
Zauberei bezüglichen Aberglaubens sich auch in der Auswahl und Zu-
bereitung, überhaupt in der ganzen Verwendung der Heilmittel geltend
machte, und wie die alte, besonders im Mittelalter dominierende
Tendenz, der Mehrzahl der Naturobjekte gewisse geheimnisvolle Kräfte,
36*
564 Ed. Schaer.
zum mindesten aber Heilwirkungen zuzuschreiben, eine der in-
teressantesten Erscheinungen der Kulturgeschichte herbeiführen musste.
In der That sehen wir mehrere Jahrhunderte lang die Natur-
beobachtung, und zwar nicht allein die beschreibenden, sondern z. T.
auch die experimentellen Naturwissenschaften — denn als solche wird,
aller Verirrungen ungeachtet, auch die sog. Alchj^mie zu betrachten
sein, — vorwiegend im Dienste der Heilkunst stehen. Die Naturkunde
jener Zeitepoche, sowie die zugehörige, namentlich die botanische
Litteratur war daher, der teleologischen Richtung und den vielfach
einseitig praktischen Zwecken der damaligen Naturbetrachtung ent-
sprechend, grossenteils das Erzeugnis ärztlicher Gelehrter, welche, durch
Bildung und Geist zum philosophischen Studium der Natur angeregt,
durch ihren Beruf mit den Erscheinungen an lebenden Körpern ver-
traut geworden und durch die Bedürfnisse ihrer Kunst auf eine nähere
Kenntnis und Verwertung von Naturprodukten angewiesen, während
einer längeren Periode die Geschicke der Naturforschung gewisser-
massen in ihren Händen hielten.
So mochte in dieser denkwürdigen Zeit, für welche ein volles Ver-
ständnis nicht mehr erreichbar erscheint, kaum ein nach irgend einer
Richtung bemerkenswerter Naturgegenstand — Mineral, Pflanze, Tier
oder Teile derselben — bekannt werden, ohne dass der Gesichtspunkt
arzneilicher Verwendung oder geheimnisvoller innerer Beziehungen
zum Menschen in den Vordergrund getreten wäre; denn dieser war
es, der wie ein bunter Einschlag die Naturbeschreibung durchwirkte
und jede Betrachtung allfälligen praktischen Nutzens ihrer Objekte
beherrschte.
Dass aber nicht allein die unmittelbaren Naturerzeugnisse, sondern
auch die durch chemische Kunst aus ihnen bereiteten Stoffe, die Chemi-
kalien, schon frühzeitig und mit Begierde in den Dienst der Heilkunde
gezogen wurden, lehren uns nicht nur die bekannten Endziele der
Alchymie selbst, sondern auch die mannigfachen und charakteristischen
Beziehungen der Medizin zur latrochemie, welche auf alchyraistischen
und z. T. grobsinnlichen Ansichten über die Wirkungsweise chemischer
Substanzen im menschlichen Körper fussend, während einer längeren
Periode der materia medica ihren besonderen Stempel aufdrückte, um
endlich in neuerer und neuester Zeit, durch die Fortschritte der Chemie,
Pharmacie und Pharmakologie wissenschaftlich geläutert, in einem
wesentlich veränderten Sinne zum Stütz- und Angelpunkte der modernen
Arzneimittellehre zu werden.
So darf denn wohl, in Erinnerung an den für gewisse Epochen
der Zeitgeschichte unverkennbaren Einfluss, welchen die praktische
Verwertung und Verarbeitung zahlreichster Naturobjekte als Arznei-
mittel auf die beschreibenden Naturwissenschaften, ja auf die
Naturkunde überhaupt ausgeübt hat, der Pharmakologie in ihrer Ver-
bindung mit der Pharmacie und damit der Geschichte dieser Diszi-
plinen eine wenn auch bescheidene Rolle im Rahmen der Kulturgeschichte
kaum versagt bleiben, wie einseitig auch jene Bedeutung für das
geistige Leben des einen oder anderen Landes und Zeitalters sich ge-
staltet haben mag. Ist doch die Kulturgeschichte nur ein Versuch
möglichst klarer und überblickender Würdigung aller Faktoren, die in
dem wundersamen Webstuhle geistiger und materieller Entwicklung
der Menschheit zusammenlaufen!
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 565
I. Das sechzehnte und siebenzehnte Jahrhundert.
Die Heilmittellehre dieser Periode, für die wir nicht ohne Vor-
behalt die Benennung „Pharmakologie" wählen dürfen, welche in ihrer
modernen Auffassung einer streng experimentell-wissenschaftlichen
Disziplin entspricht, hat mit manchen anderen Teilen der Medizin,
wenn auch nur schrittweise, die Einflüsse jener eingreifenden, so viele
Gebiete geistiger Kultur umfassenden Reform erfahren, unter deren
Zeichen zumal das sechzehnte Jahrhundert steht. Für die Heilkunde
und damit für die Pharmakologie ist diese Reform in erster Linie an
den Namen Theophrastus Paracelsus (oder Theophrastus
von Hohenheim)^) geknüpft, dessen vielumstrittene Bedeutung für
die Wiedergeburt der Medizin im Reformationszeitalter erst in neuester
Zeit durch ein Musterwerk kritischer Quellenforschung wohl endgültig
und zwar wesentlich in günstigem Sinne festgestellt worden ist.
Paracelsus. einesteils aufgeklärt genug, um nicht den groben
Irrtümern der damaligen Nekromantie, des Dämonenglaubens und anderen
Aberglaubens zu unterliegen, anf der anderen Seite aber in mancherlei
philosophisch-theosophischen und astrologischen Spekulationen befangen
und das Verständnis seiner Schriften vielfach durch abstruse theo-
retische Darlegungen und symbolische Andeutungen erschwerend, hat
sich dennoch überall als ein Gegner toter Schulweisheit bekannt und
unentwegt auf die Ergebnisse der Beobachtung und auf die aus der
Erfahrung gewonnenen Kenntnisse als auf die Grundlage wahren
Wissens und Könnens auf den verschiedenen Gebieten der Heilkunde
hingewiesen. So wirkte er, zunächst von Gedankengängen des neu-
platonischen Systems ausgehend, namentlich nach zwei Richtungen
reformatorisch auf die Lehre von den Arzneimitteln und ihrer Ver-
wendung.
Einerseits gelangte er, dem damaligen philosophischen Dogma der
in die Stoffe gelegten geheimnisvollen höchsten Kraft, des „Archaeus"
folgend, zu einer wesentlich anderen Auffassung der Arzneistoffe und
Gifte, d. h. zur Theorie der „arcana", nach welcher er in den Heil-
mitteln als wirksames Agens gewissermassen ein Kraftsubstanz höherer
Ordnung, die „quinta essentia" annahm, welche namentlich auch die
Heilwirkung der zahreichen pflanzlichen Arzneistoffe erklären sollte.
Das Bestreben, aus diesen letzteren die quinta essentia thunlichst zu
isolieren und zu konzentrieren, führte Paracelsus zu vielfachen Vor-
schriften über die Extraktion der wirksamen Substanz durch Aus-
ziehen der Drogen mit Alkohol, welcher selbst schon als eine „quinta
essentia" des Weines galt, sowie durch Destillation und Sublimation,
Verfahrungsarten , die unzweifelhaft als teilweise Verbesserungen
früherer pharmaceutischer Prozeduren zu betrachten sind und noch
heute in den rationellen Methoden der Tinktur- und Fluidextrakt-
bereitung nachwirken.
Und zweitens verliess er mehr und mehr die griechisch-arabischen
Doctrinen von den körperlichen Hauptsäften (Blut, Galle, Schleim und
schwarze Galle), um sich einer, wenn auch nicht im modernen Sinne
chemischen Auffassung des W^esens und der Bestandteile der Körper-
organe, sowie ihrer als Krankheit auftretenden Veränderungen und
Störungen zuzuwenden, wie es u. a. besonders seine Ansichten über
das Wesen der Gicht und Lithiasis darthun. Es ist deshalb erklärlich,
dass Paracelsus, schon frühe mit alchymistischen Versuchen und Studien,
566 Ed. Schaer.
im besseren Sinne des Wortes, beschäftigt, dazu gelangte, Metalle,
Metall Verbindungen, verschiedene Salze und andere anorganische Sub-
stanzen, deren chemische Eigenschaften viel auffallender, als bei den
Vegetabilien, zu Tage treten, in seine materia medica einzuführen und
so z. B. das Quecksilber, seiner toxischen Qualitäten ungeachtet, für
die Behandlung der Syphilis, andere Metalle für anderweitige Leiden
warm zu empfehlen und vor allem selbst ausgiebig zu verwenden.
Es ist bekannt, welche polemischen Stürme während eines Zeit-
raums von fast hundert Jahren durch die Lehren dieses Neuerers ent-
facht wurden und wie zahlreiche medizinische Dissertationen und
Pamphlete an einzelne pharmakologisch gehaltene paracelsische Schriften
wie z. B. das Buch „vom Holtz Guajaco" (1529), aber auch an die drei
Bücher „von der Frantzösischen Kranckheit" (1530) anknüpften. Aber
wie sehr auch übereifrige Anhänger des genialen Arztes diesen miss-
verstanden und z. T. über die von ihm gesteckten Ziele hinausgegangen
sein mögen, so wird die historische Betrachtung der Pharmakologie
nicht anstehen dürfen, Paracelsus das Verdienst wirksamen Zurück-
drängens der mittelalterlichen, oft ebenso gedankenlosen wie aber-
gläubischen Polypharmacie, überdies aber des erfolgreichen Hinweises
auf den pharmakologischen Wert mancher Metallpräparate und analoger
Chemikalien zuzuschreiben.
Es würde jedoch ungerecht erscheinen, anlässlich der geschilderten
Eeformen nur des Paracelsus selbst zu gedenken und darüber eine
Anzahl hervorragender und thätiger „Paracelsisten" zu vergessen, die
teils zu Lebzeiten, teils nach dem Tode des Paracelsus in verschiedenen
Ländern, nicht selten unter ungünstigen Verhältnissen mit ihrer ganzen
Autorität für die Verbreitung und Befestigung der ihnen richtig er-
scheinenden Anschauungen und Vorschriften ihres Lehrers eintraten.
An dieser Stelle mögen nur einige wenige der wichtigsten Namen
solcher Paracelsisten genannt werden, welche für die Förderung der
Heilmittellehre im paracelsischen Sinne Bedeutung aufweisen. Es sind
dies: Johann Winther v. Andernach'-) (Guintherus Andernacensis)
in Paris, Joseph du Chesne'^) (Quercetanus), Leibarzt Heinrichs IV.,
welche, beide in Frankreich lebend, in diesem Lande sehr viel zur
Verbreitung und Annahme der paracelsischen Medizin beigetragen und,
in objektiverer Weise von den Extravaganzen des neuen Systems sich
fernhaltend, namentlich die Anwendung der chemischen Heilmittel des
Paracelsus befürwortet haben; Giovanni Battista della Porta*)
in Neapel, einer der ersten, der, auf der Doktrin der quinta essentia
fussend, die Darstellung und arzneiliche Verwendung ätherischer Oele
wie z. B. des Rosmarin- und Lavendelöles, des Rosenöles, des Nelken-'
Öles u. s. w. an die Hand nahm und neben Joachim Camerarius
(s. u.) und Valerius Cordus (s. u.) die Kenntnis und Benützung
dieser so wichtig gewordenen Pflanzensekrete vermehrte; Oswald
CrolP) in Wittenberg, ein Paracelsist von weitreichender Autorität,
der durch zielbewusste Empfehlung der Doktrinen und der materia
medica des Paracelsus, insbes. seiner chemischen Mittel, wohl am meisten
die Verbreitung des Paracelsismus in Deutschland förderte, wie denn
auch Wittenberg ein Hauptausgangspunkt für die fermentartige Wirkung
der reformatorischen Gedanken des Paracelsus und seiner Schüler ge-
' wesen ist ; endlich Andreas Libau*^) (Libavius) und A n g e 1 u s
Sala,'^) aus Italien gebürtig, zuletzt mecklenburgischer Leibarzt,
welche beiden, ähnlich wie der schon genannte Quercetanus durch
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 567
zahlreiclie chemische Entdeckungen und besonders durch Verbesserung
der Darstellungsmethoden vieler Salze und Metallpräparate sehr wesent-
lich zu bleibender Einführung der von Paracelsus und den Paracel-
sisten benützten chemischen Mittel beigetragen haben.
Bei Anführung der genannten Mediziner, die in Schrift und Wort
für die Doktrinen des Paracelsus, namentlich für die Verwendung
chemischer Arzneistoife eintraten, darf nicht unerwähnt bleiben, dass
mehrere derselben, unter denen zunächst Libavius und Querce-
tanus, bes. aber Sala zu nennen sind, auch den toxikologischen Ver-
hältnissen der Metallpräparate volle Aufmerksamkeit gewidmet haben,
so dass sich in ihren Schriften, in denen den pharmaceutisch wichtigeren
Metallen wie Quecksilber, Kupfer, Blei, Silber, Antimon u. s. w\ grössere
Abschnitte gewidmet sind, zahlreiche Angaben über giftige oder
wenigstens heroische "Wirkungen auf den menschlichen Körper vorfinden,
Ergebnisse teils von Beobachtungen in der ärztlichen Praxis, teils
auch wohl von Versuchen am eigenen Leibe, wie solche schon Para-
celsus bei seinen chemischen Experimenten, nicht ohne Schaden für
seine Gesundheit, anzustellen pflegte. Wir dürfen deshalb bei diesen
Vertretern der iatrochemischen Richtung, sowie auch bei dem später
zu nennenden van Helmont wohl die ersten, z. T. noch unbewussten
Anfänge der für die neuere therapeutische Medizin so wichtigen Ver-
bindung experimenteller Pharmakologie und Toxikologie erblicken.
Eine sehr wesentliche, wenn auch im Einzelnen nicht immer direkt
zu belegende Förderung brachten der Arzneimittellehre des 16. Jahr-
hunderts die fortgesetzten Bemühungen einer Reihe philologisch ge-
bildeter Mediziner und Pharmaceuten. die es sich zur Lebensaufgabe
ma"chten, zahlreiche bisher nur in selteneren Handschriften oder un-
genügenden Auszügen zugängliche medizinische Klassiker des Alter-
tums und Mittelalters, sowohl der byzantinischen als der arabischen
Periode, in commentierten lateinischen Uebersetzungen, zuweilen unter
Beifügung des Originaltextes herauszugeben. Dieses Unternehmen,
welches die Verbreitung zahlreicher pharmakologisch wichtiger älterer
Schriftsteller mächtig förderte und die ersten Anfänge einer späteren
rationellen und kritischen Sichtung der materia medica anbahnte, ist
auch insofern nicht ohne kulturhistorisches Interesse, als in den ersten
beiden Jahrhunderten nach Entdeckung der Buchdruckerkunst die
Herstellung solcher Ausgaben bedeutender Mediziner aus der griechisch-
römischen, byzantinischen und arabischen Blütezeit der Heilkunde mit
einer gewissen Vorliebe und oft mit erheblichem typographischen
Aufwände gerade an den wichtigsten damaligen Druckorten, wie z. B.
Basel, Strassburg, Antwerpen, Leiden, Lyon, Venedig, Salamanca u. s. w.
betrieben wurde und manche Uebersetzungen und Kommentare dieser
Art neben den schon früher aus der Schule von Salerno hervorgegangenen
Handbüchern und Antidotarien jahrhundertelang den eisernen Bestand
der Fachbibliothek im Hause des Arztes wie in der pharmaceutischen
Offizin gebildet haben.
Erwähnenswert, weil von bedeutsamem Einfluss in der ange-
deuteten Richtung, sind vor allem Foesius^) als erster Herausgeber
einer Hippokrates-Ausgabe nach den Codices nebst lateinischer Ueber-
tragung und Kommentar, Johann Cornarus*) (mit deutschem Namen
Hagenbut) durch lateinische Uebersetzungen des Hippokrates und
Galenus, der Spanier Andres Laguna,^") durch seine kommentierte
Uebersetzung des Dioskorides sowie sein Kompendium des Galen weit
568 Ed. Schaer.
Über die Grrenzen der iberischen Halbinsel hinaus bekannt, der oben
erwähnte Winther von Andernach^') durch seine Uebersetzungen
des Alexander Trallianus (mit griechischem Text), des Paulus Aegineta
und des Rhazes, Leonhard Fuchs^^) als Uebersetzer des Nikolaus
Myrepsos, Otto ßrunfels^**) als Herausgeber weit verbreiteter
lateinischer Uebertragungen des Averroes, Rhazes und Serapion jun.,
endlich die später noch zu nennenden Amatus Lusitanus (Joäo
Rodrigues),^^) Valerius Cordus,^^) und Matthioli^'') als die
hauptsächlichsten Kommentatoren des Dioskorides d. h. desjenigen
klassischen Autors über Heilmittel, der wie kein anderer über einen
Zeitraum von 15 Jahrhunderten hinaus, von massgebendstem Einfluss
in der Heilkunde geblieben ist.
Wurde so durch diese Ausgaben, d. h. durch das Zurückgehen auf
die Quellen eine bessere Einsicht in den aus dem Altertum und Mittelalter
übernommenen, überdies durch die arabischen Mediziner mit manchen Arz-
neidrogen des Orients vermehrten Arzneischatz erleichtert, so machte sich
nun eine Reform und Erweiterung der materia medica und damit des
pharmakologischen Teiles der Medizin dadurch geltend, dass in dieselbe
Periode eine sehr erhebliche Förderung der systematischen Botanik
fiel. Es äusserte sich diese namentlich in der Richtung, dass zum
ersten Male, unter Berücksichtigung und Benutzung der klassischen
botanischen Schriftsteller, wie l'heophrast, Dioskorides und Plinius, eine
Anzahl für die damalige Zeit teilweise vortrefflicher Abbildungswerke
entstanden, welche sehr zahlreiche, besonders dem südlichen und mitt-
leren Europa angehörende Pflanzenspezies beschrieben und abbildeten
und auf diese Weise namentlich den fast unübersehbaren in den pflanz-
lichen Volksheilmitteln latent gebliebenen Arzneischatz aufschlössen und
der Beachtung der damals botanisch weit besser geschulten Aerzte
nahe legten. Hier ist, unter Verzicht auf nähere Besprechung, in
erster Linie zu erinnern an die botanischen Handbücher von Brun-
fels,^') dessen Schüler Tragus (Bock),^^) Fuchs, ^^) und Taber-
naemontanus.^o) unter denen hinsichtlich der Darstellung der Pflanzen
durch Holzschnitte vor allem Brunfels und Fuchs hervorragen.
Wenn die in der naturphilosophischen Periode früherer Jahrhunderte
so lange vorherrschende teleologische, sozusagen anthropocentrische
Richtung in Betracht gezogen wird, so kann es nicht auffallen, dass
auch jene systematisch-botanischen Werke einer vornehmlich pharma-
kologischen Tendenz huldigten, d. h. die Darlegung der arzneilichen
Wirkungen und die Beschreibung der pharmaceutischen Verwendung
als Hauptaufgabe erfassten, zumal da mit nur wenigen Ausnahmen
deren Bearbeiter dem ärztlichen Stande angehörten und meist auch
Lehrer der Medizin waren. Aber auch diese im ganzen aufgeklärten
Männer hatten der griechisch-arabischen Scholastik noch mancherlei
Tribut zu zahlen, u. a. nicht zum wenigsten bezüglich jener berühmten
Lehre der Signaturen, die sich bei Vertretern einzelner medizinischer
Schulen (Rademacher etc.) bis in die neuere Zeit hinein erhalten hat
und auch in der Volksmedizin keineswegs ausgestorben ist.
Bei Anführung der grossen botanischen Werke des 16. Jahr-
hunderts und ihrer Beziehung zur Heilmittellehre darf nicht übersehen
werden, dass in diesem Zeitabschnitt auch die ersten Anfänge einer
medizinisch-pharmaceutischen Drogenkunde, heute als wissenschaftliche
Disziplin „Pharmakognosie" genannt, sich nachweisen lassen. In der
That finden sich pharmakognostische Beobachtungen, Beschreibungen
Geschichte der Pharmakologie nnd Toxikologie in der neueren Zeit. 569
und Erörterungen nicht allein in den schon erwähnten Diskorides-
kommentaren der Autoren Amatus Lusitanus und Matthiolus,
sondern vor allem in den Schriften dreier berühmter Botaniker und
Pharmakologen, welche in gewissem Sinne w^ohl als die ersten Pharma-
kognosten bezeichnet werden dürfen. Es sind diese der Franzose
Charles de l'Escluse (Clusius). -^) der Deutsche Valerius
C 0 r d u s '--) und der Niederländer R e m b e r t D o d o e n s -■*) (Dodonaeus).
Aber auch unter den Pharmaceuten jenes Zeitalters würden mehrere
zu nennen sein, welche als namhafte Förderer einer durch gesunde
Beobachtung vertieften Arzneimittelkunde gelten konnten und bei
denen, ähnlich wie bei Cordus in seinem Dispensatorium oder in
seinen Dioskoridesvorträgen auffallend richtige Beschreibungen mancher
Drogen, wie Opium, Aloe, Nux vomica, Crocus u. s. w. gefunden
werden. In die Reihe dieser Pharmaceuten gehört u. a. besonders der
Antwerpner Apotheker Peter C o u d e n b e r g , -*) Herausgeber und
Kommentator des eben genannten berühmten Dispensatoriums, sowie
der spanische Klosterapotheker und spätere Arzt Bernardino
Laredo-^) in Sevilla, dessen zwei wichtigste Schriften „modus
faciendi" und „metaphora medicinae" sich in Spanien, Italien, Frank-
reich und selbst anderen Ländern Europas nach der Aussage zuver-
lässiger Autoren über Geschichte der Pharmacie der grössten Beachtung
bei Medizinern und Pharmaceuten erfreuten, während leider der erstere
(Coudenberg) durch frühzeitigen Tod an der Beendigung und Publi-
kation eines grösseren für Aerzte und Apotheker bestimmten pharma-
kologisch-pharmakognostischen Werkes verhindert wurde.
In den oben erwähnten botanischen Hauptwerken finden sich nicht
allein zahlreiche pharmakologische, sondern auch mehrfach toxikologische
Andeutungen und Mitteilungen, d. h. es wurden nicht nur die arznei-
lichen Kräfte der Pflanzen beschrieben, sondern in vielen Fällen auch
deren schädliche und giftige Wirkungen angeführt, welche bei den
in das graue Altertum zurückgehenden ungezählten Versuchen, ii'gendwie
auffällige Pflanzen als Volksarzneimittel zu verwenden, teihveise schon
seit Jahrhunderten bekannt sein mochten. Es wurde so allmählich
eine vegetabilische Giftlehre vorbereitet, welche freilich erst viel später
in der jetzigen Periode experimenteller Pharmakologie und Toxikologie
auf sichere und rationelle Basis gestellt werden konnte.
Während, wie soeben gezeigt worden ist, von den Schriften der
sog. Väter der Botanik eine unverkennbar fördernde Wirkung auf die
Heilmittellehre und systematische Behandlung der Arzneipflanzen aus-
ging, deren Kenntnis in ausgiebigster Weise durch Abbildungen unter-
stützt wurde, machte sich andererseits ein weiterer, kaum genug zu
würdigender Einfluss in gleich günstigem Sinne geltend, nämlich die
in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts fallende wichtige Gründung
zahlreicher, zunächst den Arznei- und Nutzpflanzen, späterhin auch den
Zierpflanzen gewidmeten botanischen Gärten, welche teils staatlichen,
teils privaten Charakter besassen und unzweifelhaft sehr wesentlich
zur gründlicheren Erkenntnis einheimischer und ausländischer Heil-
pflanzen und damit zu wissenschaftlicherer Auffassung der materia
medica beigetragen haben. In erster Linie sind hier die botanischen
Universitätsgärten, sowie botanische Hofgärten zu nennen, so der 1545
in Padua und der ungefähr gleichzeitig, d. h. 1547 in Pisa, sowie der
1567 in Bologna gegründete Univei-sitätsgarten, denen später ähnliche
Gärten an den Universitäten Montpellier, Paris, Breslau, Heidelberg,
570 Ed. Schaer.
Leipzig und in den Niederlanden folgten, ferner der auf Betreiben des
schon genannten Laguna 1555 in Aranjuez eröffnete botanische
Garten. Gleichzeitig aber entstanden schon im Laufe des 16. Jahr-
hunderts, z. T. erst in später Zeit, eine grössere Zahl besonders von
Pharmaceuten und auch von Aerzten gegründeter, namentlich der An-
pflanzung und Beobachtung wichtigerer Arzneipflanzen dienender
Gärten, die als pharmaceutische Gärten von den nach etwas weiteren
Gesichtspunkten angelegten Universitätsgärten zu unterscheiden sind.
Als einzelne Beispiele dieser pharmaceutisch-botanischen Gärten mögen
die um die Mitte des Jahrhunderts von Francesco Calzolari,
Apotheker in Verona, sowie von Peter Coudenberg, Apotheker in
Antwerpen (s. o.) angelegten Gärten erwähnt werden, ebenso der dem
Patrizier Ollinger in Nürnberg gehörige weit und breit berühmte
Privatgarten, soAvie die Gärten, welche 1569 und 1577 von Matthias
de 1 ' 0 b e 1 (Lobelius) -**) und von John G e r a r d e '") auf Anregung
und mit den Mitteln vornehmer Gönner begründet und gehalten
wurden. Diese Bestrebungen fanden vielfache Unterstützung durch
hervorragende Botaniker und Mediziner jener Zeit, vor allem durch
den genannten Antwerpener P. Coudenberg, der mehr als 600 der
wichtigsten, z. B. exotischen Heil- und Nutzpflanzen in seinem Garten
zog, sowie durch den um die Botanik des 16. Jahrhunderts vielver-
dienten Conrad Gessner-^) in Zürich, welcher, selbst im Besitze
eines Medizingartens, mit der Mehrzahl der damaligen Besitzer und
Leiter namhafter botanisch-pharmaceutischer Gärten teils in schrift-
lichem, teils, auf Reisen in Deutschland, der Schweiz und Italien, auch
in persönlichem, mündlichem Verkehr stand. Von der grössten Be-
deutung für eine weitere Entwicklung der pharmaceutischen Botanik,
der Pharmakognosie und Pharmakologie war fernerhin der Umstand,
dass an verschiedenen Orten mit den erwähnten wissenschaftlichen
Gärten auch botanische Museen, d. h. Sammlungen getrockneter Pflanzen
sowie sämtlicher mineralischer, vegetabilischer und animalischer Arznei-
stoffe oder „Drogen" verbunden wurden. Solche, als Vorgänger unserer
neueren Herbarien und pharmakognostischen Sammlungen zu be-
trachtende Museen bestanden beispielsweise in Padua und Pisa, und
von besonders berühmten naturhistorischen Privatmuseen jener Zeit
mögen hier etwa diejenigen des oben citierten Veroneser Apothekers
Calzolari, des Leibarztes Antonio MusaBrasavola in Ferrara,
sowie des Arztes Nicolas Monardes in Sevilla genannt werden.
Auch finden wir wohl in Italien zuerst die Einrichtung, dass, bereits
von der Gründung der botanischen Universitätsgärten an, deren Direk-
toren oder andere Lehrer damit beauftragt wurden, unter Benützung
solcher Museen und Sammlungen entweder als ,.Lettori dei semplici"'
Heilmittellehre oder als „Ostensori dei semplici" arzneiliche Waren-
kunde (Pharmakognosie) vorzutragen. Als Professoren für solche mit
Demonstrationen verbundene Vorlesungen sind u. a. nachzuweisen
Francesco Bonafede,-'*)Luigi Anguillara'^*') und Prospero
Alpino-^^) in Padua, Luca Ghini in Pisa, Ulysse Aldrovandi
in Bologna, unter welchen namentlich Anguillara durch eine Schrift
über Simpiicia, d. h. Arzneipflanzen, sowie Prosper Alpin us durch
sein Buch über Aegypten und ägyptische Pflanzen die damalige Heil-
mittel- und Giftlehre gefördert haben, wie denn überhaupt die durch
Gründung und Pflege zahlreicher botanischer Gärten angebahnte Rück-
kehr zur Beobachtung und Erfahrung zunächst in Italien zur An-
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 571
Stellung von Versuchen über arzneiliche und giftige Wirkungen der
Pflanzen führte. Eine rationelle Pharmakologie und Toxikologie konnte
sich freilich erst viel später entwickeln, als endlich im 19. Jahrhundert
das systematische Experiment in sein Eecht eingesetzt wurde.
Eine sehr erhebliche, im 15. Jahrhundert noch ungeahnte Be-
reicherung der materia medica und damit eine in wenigen Sätzen kaum
zu erörternde Erweiterung und Vertiefung der Heilmittellehre brachten
die in das Ende des genannten Jahrhunderts fallenden grossen geo-
graphischen Entdeckungen, nämlich die Auffindung des Capweges nach
Ostindien und die Entdeckung der neuen Welt. Die nach den ver-
schiedensten Richtungen so folgenreichen Reisen Vasca de Gamäs nach
Calicut in Ostindien und von Christoph Columbus nach Westindien
führten sehr bald zur Anbahnung neuer Handelswege und zur Schaffung
zahlreicher und wichtiger Handelsbeziehungen nach Ostasien und
Amerika, infolge deren viele bisher vorzugsweise auf beschwerlichen,
weiten Landwegen an das Mittelmeer gebrachte und deshalb sehr teure
Arzneiwaren nunmehr weit rascher und zu ganz anderen Bedingungen
zugänglich wurden, andererseits in grosser Zahl die verschiedensten
neuen Naturprodukte, besonders pflanzliche Heilstoffe aus den durch
die Spanier besetzten und aufgeschlossenen Ländergebieten von West-
indien. Central- und Südamerika zur Einfuhr nach Europa gelangten.
Wie verhältnismässig rasch diese Neuerungen vor sich gingen, erhellt
n. a. aus der mehrfach nachgevklesenen Thatsache, dass eine Anzahl
der damals wichtigsten aus der neuen Welt importierten Arzneistoffe
wie z. B. das Guajakholz. die Sarsaparillwurzel, der Tolubalsam und
andere Drogen schon wenige Decennien nach Entdeckung der neuen
Welt in europäischen Ländern nicht allein den Gelehrten bekannt,
sondern bereits in arzneilicher Verwendung und im Handel erhältlich
waren.
Den bedeutsamsten Einfluss auf die Heilmittellehre der neueren
Zeit übte aber in dieser Periode eine immer umfangreicher werdende
Litteratur aus, welche nicht allein die Pflanzenschätze und anderen
Naturobjekte Amerikas zur Kenntnis der alten Welt brachte, sondern
namentlich auch zum ersten Male genauere Angaben und zuverlässigere
Nachrichten über Provenienz, Handelswege und Merkmale zahlreicher
im Abendlande längst bekannter und gebrauchter Arzneidrogen über-
mittelte, z. T. in so zutreffender Weise, dass einzelne Werke jener Zeit
dem Pharmakognosten auch heute noch unentbehrlich sind.
Die Entstehung dieser zahlreichen und wichtigen Schriften ist
einerseits darauf zurückzuführen, dass nach der Entdeckung des neuen
Seeweges nach Ostindien und der damit gegebenen wesentlichen Er-
leichterung der Reisen nach den entlegeneren Teilen Asiens bald eine
grössere Zahl gelehrter, besonders naturwissenschaftlich und medizinisch
gebildeter Reisenden teils in offiziellen Missionen und Stellungen, teils
aus eigenem Antriebe nach jenen Ländergebieten sich begaben und
ihre Beobachtungen und Erfahrungen schriftlich niederlegten. Anderer-
seits hatte natürlicherweise die Auffindung der neuen Welt und zwar
zunächst der von den Spaniern, später von den Portugiesen erschlossenen
und besiedelten central- und südamerikanischen Länder ganz analoge
Erscheinungen im Gefolge und regte sehr bald in steigendem Masse
dazu an, den in Amerika zu Tage tretenden Reichtum an neuen und
z. T. ganz fremdartigen mineralischen, vegetabilischen und animalischen
Naturprodukten in systematischen, womöglich illustrierten Werken zu
572 Ed. Schaer.
beschreiben. Es kann dabei nicht auffallen, dass bei der ausgesprochen
teleologischen Tendenz, welche erwähnterraassen besonders die syste-
matische Botanik im 15. und 16. Jahrhundert noch charakterisiert, die
Möglichkeit der arzneilichen und diätetischen Verwendung neu bekannt
gewordener Pflanzenstoffe des entdeckten Weltteiles in ausgiebigster
Weise zur Erörterung gelangte, zumal die erobernder Europäer bei
den in Amerika wohnenden, teilweise in altem Kulturzustande befind-
lichen Eingeborenen den mannigfaltigsten Erfahrungen und Gebräuchen
in betreff einheimischer Arzneimittel und Genussmittel begegnen
mussten. Man denke dabei u. a. nur an Stoffe, wie Copaiva- und Peru-
balsam, die schon angetührten Drogen Guajak und Sarsaparille, den
Cacao und das Cocablatt.
Aus der ansehnlichen Eeihe der kleineren und grösseren Schriften,
welche z. T. in lateinischer, namentlich aber in spanischer und
portugiesischer Sprache entweder die Naturprodukte, insbesondere die
Pflanzenstoffe, des mittleren und östlichen Asiens oder aber diejenigen
der neuen Welt mit besonderer Rücksichtnahme auf die materia medica
jenes Zeitalters behandeln, seien hier nur einige der wichtigsten aus
der Gruppe derjenigen Druckwerke des 16. Jahrhunderts angeführt,
welche für die Förderung einer besseren Erkenntnis sowie nament-
lich für die Erweiterung des Arzneischatzes besonders bedeutsam ge-
wesen sind.
Nachdem in den vorausgegangenen Jahrhunderten teils durch
arabische Autoren, vor allem aber durch Vermittlung der Kreuzzüge
zahlreiche Nachrichten über vorderasiatische Arzneistoffe nach dem
Abendlande gelangt waren und sodann namentlich gebildete und weit-
gereiste italienische Kaufleute, als Nachfolger ihres berühmten Lands-
mannes Marco Polo (XIIL Saec), so Marino Sanuto*^^) und
Francesco Pegolotti^^) (XIV. S.), Bartolomeo Pasi^*) und
Niccolo dei Conti •^^) (XV. S.), endlich der Franzose Pierre
Belon^'') (Bellonius) um die Mitte des XVI. Saec. viele wichtige An-
gaben über asiatische, besonders arabisch-persische und vorderindische
Handelsverhältnisse und Handelsprodukte, unter diesen auch Arznei-
stoffe und Genussmittel, gemacht hatten, veröffentlichten in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts zwei Schriftsteller, der spanische Stadtarzt
Christ ob al Acosta'^") in Burgos und der portugiesische Spital- und
Leibarzt („Physico d'El Key*') Garcia da Orta'^**) in Goa, gestützt
auf weite Reisen und Aufenthalt in Vorderindien, zwei Schriften,
welche, die eine unter dem abgekürzten Titel „Tractado", die andere
unter der Bezeichnung „CoUoquios", von ungewöhnlicher Bedeutung für
die medizinische Drogenkunde jener Zeit gewesen sind und durch die
Jahrhunderte hindurch ihren Wert als Quellenwerke behalten haben,
während leider einzelne andere Publikationen aus jener Zeit, »vie bei-
spielsweise die für Drogenkunde wichtigen Briefe des als Drogenmakler
und Hafenbeamten in Vorder- und Hinterindien thätigen portugiesischen
Apothekers Thome Pirez, sowie seine an den König von Portugal
gerichtete Schrift über ostindische Pflanzenstoffe, ebenso auch der
Reisebericht von Duarte Barbosa*) erst in neuerer Zeit die ge-
bührende Würdigung gefunden haben.
*) Sein Reisebericht ist aufgenommen in Ramusio, Delle navigationi et viaggi
Venet. 1554 und noch vollständiger in der Ausg. „Coasts of East Africa and Malabar",
London 1866 (Hakluyt Society).
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 573
Was soeben über die Schriftwerke der Erforscher ostindischer
Arzneistoife gesagt wurde, gilt in gleichem Masse, zum Teil in noch
höherem Grade von den Werken der Autoren, welche im Laufe des
16. Jahrhunderts über die Heil- und Genussmittel der neuen Welt ge-
schrieben haben. Hier ragen als besonders bedeutend hervor die drei
Spanier GonzaloFernandez^**) (nach seiner Heimat häufig 0 v i e d o
genannt und mit Columbus noch persönlich bekanntj, Nicolas
Monarde s*'') und Francisco Hernandez^^). Der erstgenannte
verfasste nach seiner Rückkehr aus Südamerika, wo er Intendant der
staatlichen Goldgruben gewesen war, sein grosses Werk „Historia gene-
ral y natural de las Indias", welches, neben der ,.Cronica del Peru" des
Cieza de Leon, wohl die ersten glaubwürdigen Nachrichten über
amerikanische Arzneidrogen, wie z. B. das historisch so bedeutsame
..Lignum sanctum" (Guajakholz) gab. Der zweite, Monardes (s.o.),
Arzt in Sevilla, wo er sein ganzes Leben zubrachte, erwarb sich um
die Pharmakologie der amerikanischen Arzneistoife besondere Verdienste
durch Gründung eines für jene Zeit grossartig angelegten und in den
weitesten Kreisen bekannten Museums von Naturprodukten der neuen
Welt und ausserdem durch Beschreibung eines Teiles derselben in
seiner in mehreren Abteilungen gedruckten Schrift „Historia medicinal
de las cosas, que se traen de nuestras Indias occidentales etc."', in
welcher u. a. der Tabak, die Sarsaparille, der Tolubalsam. das Anime-
harz zuerst besprochen werden. Endlich hat der letztgenannte Mediziner
Hernaudez über mexikanische und andere centralamerikanische
Pflanzenstoife umfangreiche Schriften verfasst, welche freilich von
seinen Nachfolgern nur lückenhaft unter dem Titel „Historia plantarum
Novae Hispaniae" publiziert wurden, dennoch aber ein nicht unwichtiges
Quellenwerk für ältere Drogengeschichte bilden.
Die ebengenannten Hauptschriften über asiatische und amerika-
nische Heilstoffe würden aber, weil fast ausnahmslos in portugiesischer
oder spanischer Sprache veröffentlicht, in den ärztlichen und pharma-
ceutischen Kreisen Europas nur in sehr beschränktem Grade Eingang
gefunden und zur Verbreitung der Kenntnis des neuen Arzneischatzes
beigetragen haben, wenn nicht fast gleichzeitig mit deren Erscheinen
sich ein sprachkundiger Gelehrter von umfassendem AVissen gefunden
hätte, der die Uebertragung der Schriften eines Acosta, Belon, Garcia
da Orta und Monardes in die damalige internationale Sprache der
Gebildeten, das Lateinische, sich zu einer seiner Lebensaufgaben
machte. Es war dies der aus dem heutigen Belgien gebürtige Charles
de rEscluse*-) (Carolus Clusiusi, welcher als Lehrer der Botanik
und Garten- und Museumsdirektor in Wien, später in Leiden, ausser-
dem aber namentlich durch seine Verbindungen mit den hervorragendsten
Botanikern und Pharmaceuten seiner Zeit zur Förderung der Pharma-
kologie in besonderem Masse befähigt war. Seine freien und mit
Kommentar versehenen Uebersetzungen der genannten Autoren hat er
mit zahlreichen auf eigene Beobachtungen und Untersuchungen bezüg-
lichen Abschnitten in dem illustrierten Sammelwerke „Exoticorum
libri decem" etc. vereinigt, ein Buch, das bis in das letzte Jahrhundert
hinein bei Aerzten und Apothekern, ja selbst in Klosterbibliotheken
neben anderen medizinischen Werken als Nachschlagewerk gedient hat.
Wenn aus Vorstehendem sich ergeben hat, dass infolge der Ver-
besserung und Neuerschliessung mannigfaltiger Handelsbeziehungen die
materia medica des 16. Jahrhunderts eine wesentliche Erweiterung
574 Ed. Schaer.
durch zahlreiche pflanzliche, aber auch tierische und mineralische Sub-
stanzen erfahren musste, so wird andererseits verständlich, dass in
dieser Periode sich ein relatives Zurücktreten der einheimischen Arznei-
stoffe allmählich bemerkbar macht, da man sich in pharmakologischen
Kreisen instinktiv den z. T. auch naturwissenschaftlich interessanten
Arzneidrogen der neuen Welt, aber auch manchen zugänglicher und
bekannter gewordenen arzneilichen Pflanzenstoffen der alten Welt d. h.
Asiens zuwandte und deren Heilkräfte zu erproben begann, — freilich
nicht selten ohne genügende Kritik, wie es vielfach, z. B. hinsichtlich
des Guajakholzes („Lignum sanctum", öfters nur „das Holz" genannt)
aus der Polemik der Paracelsisten (s. o.) gegen die älteren medizinischen
Schulen hervorgeht. Erst in einer merklich späteren Periode sollte
sich wiederum eine wirksame Reaktion zu Gunsten der einheimischen
Arzneipflanzen und der zugehörigen Droguen geltend machen.
Die in dem vorstehenden Abschnitte geschilderten Faktoren, welche
im 16. Jahrhundert zur Bereicherung des Arzneischatzes und zur
Förderung der bezüglichen pharmakologischen und toxikologischen
Kenntnisse beitragen mussten, — so vor allem die Einfuhr und das
Studium d. h. die praktische Erprobung der besonders aus Amerika
stammenden Pflanzenstoffe und arzneilichen Drogen, die Neubelebung
der systematischen Botanik, endlich die planmässige Verwendung
chemischer Substanzen, besonders verschiedener Metallpräparate zu
Heilzwecken — fanden ihre naturgemässe Fortsetzung namentlich in
den ersten Decennien des 17. Jahrhunderts, so dass sich letzteres in
seinen pharmakologischen Bestrebungen ergänzend und erweiternd an
die vorhergehende Epoche anschliesst.
Zunächst ist für das siebzehnte Jahrhundert die Tendenz charakte-
ristisch, im Sinne des Paracelsus und seiner zeitgenössischen Anhänger,
der Paracelsisten, den chemischen Arzneimitteln in steigendem Masse
Eingang in den Arzneischatz zu verschaffen. In dieser Richtung
waren neben anderen namentlich thätig die niederländischen Mediziner
und Chemiker Johann Baptist van Helmont, der in seinem
„Ortus medicinae", besonders aber in dem Werke „Pharmacopolium
ac dispensatorium modern um" nicht allein die Einführung mancher
Chemikalien in die materia medica befürwortete, sondern auch zahl-
reiche verbesserte Bereitungsmethoden für solche chemische Präparate
aufstellte, sodann Franz de la Boe (Sylvius), welcher, ungeachtet
seiner mit Recht verurteilten Versuche der Kombination paracelsischer
und galenischer Doctrinen dennoch einer chemischen Betrachtung der
normalen und pathologischen Körperfunktionen viel näher gerückt war
und auf derartige Auffassungen gestützt, gleichfalls zur Empfehlung
chemischer Arzneistoffe geführt wurde, ohne jedoch pflanzliche Heil-
mittel, wie z. B. Rhabarber und Opium zu vernachlässigen. Einen
wesentlich fördernden Einfluss auf die Ergänzung der materia medica
durch chemische Präparate übte auch der französische Pharm aceut und
spätere Arzt Nicolas Lemery*^) aus, dessen Vorträge über Chemie
und Pharmacie Zuhörer aus ganz Frankreich, England und anderen
Ländern iu grosser Zahl nach Paris zogen und der in einer seiner
Hauptschriften, dem 1675 zuerst erschienenen, in die verschiedensten
Sprachen übersetzten und fast unzählige Auflagen aufweisenden „Cours
de chimie applique ä la medecine" in wirksamster Weise für eine mehr
chemische Betrachtung und Behandlung der Pharmakologie eintrat.
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 575
Aber auch die Pharmakologie des pflanzlichen Arzneischatzes ist
im 17. Jahrhundert keines^^'egs leer ausgegangen. Nachdem die im
letzten Kapitel genannten grossen Botaniker des 16. Jahrhunderts
durch ihre Schriften vielfach auf die noch brach liegenden Heilkräfte
der einheimischen Pflanzenwelt hingewiesen hatten, gab der Baseler
Arzt und Botaniker Caspar Bau hin in seinem nahezu 6000 Pflanzen
umfassenden ..Pinax theatri botanici"' eine Uebersicht der in den
botanischen Werken des Theophrast, Dioskorides und Plinius. sowie
jüngerer Autoren beschriebenen Pflanzen und legte so einen Grund
für eine freilich erst spätere rationelle Einschränkung und kritische
Sichtung der vegetabilischen materia medica.
Letztere erhielt nun aber in dieser Periode teils aus der neuen,
teils aus der alten "Welt einen hochAvichtigen Zuwachs durch die Ein-
führung einer Anzahl auch heute noch offizineller Arzneidrogen, unter
denen nur die C hin a r i n d e n. die Ipecacuanhawurzel und die
Col um bo Wurzel als Beispiele genannt sein mögen. Das erstgenannte
Arzneimittel, aus wenig erklärlichen Gründen erst etwa 150 Jahre
nach Entdeckung Amerikas als käufliche Droge in Europa auftretend
und hauptsächlich durch die Bemühungen des Jesuitenordens, insbe-
sondere des Cardinais de Lugo („Pulvis patrum'", ,.Polvo de los Jesu-
itos"), des Pietro Barba**), sowie des englischen Mediziners Robert
T a 1 b 0 r verbreitet, teilte mit so manchen anderen wichtigeren Arznei-
stoifen, wie z. B. der Ipecacuanha. dem Filixrhizom u. s. w.. das Ge-
schick, zunächst in Form eines Geheimmittels seinen Einzug in die
series medicaminum zu halten. Die mit dem neuen amerikanischen
Fiebermittel gewonnenen Erfahrungen, sowie die gegen seine Ver-
wendung erhobenen Bedenken veranlassten zahlreiche grössere und
kleinere Schriften, die sich z. T. in das nächste 18. Jahrhundert fort-
setzten, in welchem erst die Cinchonenrinde ihren wohlerworbenen
Platz im Arzneischatze einnahm, nachdem sie ähnlich wie zuvor etwa
das Guajakholz oder das Quecksilber für einzelne medizinische Schulen
eine Art Losungswort gewesen war. Wer hätte damals ahnen können,
dass die Chinarinde nebst dem daraus gewonnenen Chinin dereinst ein
Welthandelsartikel werden und dass andererseits angesichts der zahl-
losen künstlichen Antipyretica als einzig unbestrittene Indikation für
deren Verwendung nur die Malaria bestehen bleiben w'ürde? Die im
Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts in relativ kurzen Zeiträumen vor
sich gehende Erweiterung des Arzneischatzes musste selbstverständlich
das Bedürfnis nach Ergänzung der pharmakognostischen und pharma-
kologischen Kenntnisse wach rufen und eine Bereicherung der Litteratur
durch solche Werke herbeiführen, welche geeignet waren, den prak-
tischen Arzt, wie den Apotheker in dem Labyrinthe altüberlieferter
und neuerer materia medica zu orientieren und zuverlässige Beschrei-
bungen der Arzneidrogen und ihrer Wirkungen zu bieten. An der
Ausarbeitung dieser pharmakognostischen Schriften beteiligten sich
Mediziner und Pharmaceuten, unter den ersteren neben vielen anderen
insbesondere die berühmten Aerzte Hermann Boerhave in Leiden
und Thomas Sydenham in London in vorwiegend therapeutisch-
pharmakologischer Richtung, in mehr pharmaceutischer Beziehung der
Frankfurter Arzt J. Chr. Schröder^*) durch seine w^eit verbreitete Pliar-
macopoeia medico-chymica, sowie D a n i e 1 L u d w i g in Gotha durch seine,
auf Vereinfachung der Pharmacie gerichtete, in vielen Auflagen reprodu-
zierte Schrift „De pharmacia moderno saeculo accomodata" (1671); unter
576 Ed. Schaer.
den Pharmaceuten der schon genannte N. Lemery als Verfasser der
,,pharmacopee nniverselle", sowie des noch höher geschätzten, in allen
Ländern benützten „Dictionnaire universel des drogues simples", der
Londoner Pharmaceut Samnel Dale, der spanische Apotheker Fr.
Esteban de Villa *'') in Burgos, endlich der französische Drogist
Pierre Pomet in Paris durch seine mehrere hundert Abbildungen
enthaltende ,,Histoire generale des Drogues", welche namentlich zahl-
reiche exotische Arzneistoife dei- allgemeineren Kenntnis bei Aerzten
und Apothekern seiner Zeit näher brachte. Als besonders bedeutsam
für den Fortschritt in pharmakologischer und pharmaceutischer Richtung
muss endlich die in das 17. Jahrhundert fallende Herausgabe der ersten
teils von städtischen, teils von staatlichen Behörden aufgestellten und
offiziell anerkannten Pharmakopoen betrachtet werden. An die
aus der Blütezeit der medizinische Schulen zu Salerno stammenden, im
ganzen Abendlande bekannten „Dispensatorien" oder „Antidotarien"
und die noch früheren „Grabaddins" der späteren arabischen Mediziner
sich anschliessend, wurden diese mehr und mehr den Charakter von
Gesetzbüchern annehmenden Pharmakopoen zu erwünschten Wegleitern
und Orientierungschriften für eine rationelle Auswahl und Zubereitung
von Heilmitteln sowohl in medizinischen wie in pharmaceutischen
Kreisen.
Nachdem im 14. und 15. Jahrhundert zunächst in Italien und Süd-
frankreich eine Anzahl teils konventioneller teils staatlich angenommener
Pharmakopoe- ähnlicher Arzneibücher entstanden waren (so der „Ricet-
tario fiorentino" von 1498, das „Antidotarium Bononiense" von 1574,
die „Pharmacopoea bergamensis" von 1580. die Pharm. Lugdunensis
von 1546), w^urde nördlich der Alpen noch im 16. Jahrhundert, kurze
Zeit nach der Publikation des berühmten Dispensatoriums von Valerius
Cordus in Nürnberg (1546), als erste Pharmakopoe die „Pharmacopoea
Augustana" in Augsburg (1564) herausgegeben, welcher sodann im
nächsten, 17. Jahrhunderte eine grössere Zahl anderer folgten, unter
denen die Pharm. Coloniensis (1627),^") die Pharm. Londinensis (1618),
die Pharm. Parisiensis (1637), die Pharm. Leidensis (1638), die Pharm.
Hagensis (1652), die Pharm. Holmiensis (1686) u. s. w. an dieser Stelle
genannt sein mögen,*) ohne dass eine Erörterung der Entwicklung
dieser ersten Arzneibücher zu den modernen Pharmakopoen im Plane
dieses Werkes liegen könnte.
Es hat im 17. Jahrhundert nicht an Erscheinungen gefehlt, welche
geeignet waren, der mit der Pharmakologie so nahe verwandten Toxi-
kologie nach mehreren Richtungen neue Impulse zu geben, wenn auch
die Giftlehre als selbständige Disziplin erst zu den Errungenschaften
neuerer und neuester Zeit gehört. Zunächst führten die Versuche zur
allmählichen systematischen Verwendung zahlreicher, namentlich
metallischer Chemikalien zu arzneilichen Zwecken von selbst zu viel-
fachen Beobachtungen über Giftwirkungen, sei es dass es sich dabei
um Bestätigungen älterer Aufzeichnungen oder um neue Erfahrungen
handelte. So finden sich nicht wenige Andeutungen und Angaben
toxikologischer Natur in den Schriften der Paracelsisten und latro-
chemiker van Helmont, Sylvius, Lemery, Glaser, Glauber, sowie des
Begründers der neueren wissenschaftlichen Chemie Robert Boyle, und
*) S. über ältere Arzneibücher namentlich A. N. von Scherer, Litteratura
phamacopoearum, Lips. 1822.
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 577
kaum wird man in der Annahme irren, dass derartige ^ßtteilungen
über angebliche oder wirkliche toxische Eigenschaften chemischer
Stoffe eine nicht geringe EoUe in der zeitlich sehr ausgedehnten
Polemik z^^ischen neueren reformatorischen und älteren konservativen
medizinischen Schulen gespielt haben, nachdem schon in den Schriften
des Paracelsus selbst die schädlichen Eigenschaften besonders des
Quecksilbers Gegenstand mehrfacher Darlegungen gewesen waren.
Ebenso sehr aber, wie die Beschäftigung zahlreicher Aerzte und
Pharmaceuten mit chemischen Versuchen und mit Beobachtungen über
chemische Arzneien mussten gewisse schon in früheren Perioden nach-
zuweisende, aber für die Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts be-
sonders bezeichnende Vorgänge das Interesse für toxikologische Fragen
in hohem Grade wachrufen, — nämlich die in jener Zeit namentlich
in Italien und Frankreich, z. T. auch in anderen Ländern in grossem
Massstabe betriebenen systematischen Giftmorde, bei welchen neben
Arsenik, als dem Hauptgifte, namentlich die sogenannten ..schleichenden
Gifte*' — Kombinationen anorganischer und organischer, oft blausäure-
haltiger, toxisch wirkender Substanzen — eine Hauptrolle spielten.
Diese Giftmischerpräparate, welche, unter den verschiedensten Kon-
venienznamen (wie Acqua Tofana, Acquetta di Perugia, Essence de
Brinvilliers) erwähnt, in ihrer Zusammensetzung und ihren oft eigen-
tümlichen Wirkungen z. T. bis auf unsere Tage unerklärt geblieben
sind, haben schon damals eine nicht unerhebliche Litteratur gezeitigt
und insbesondere enthalten die Akten zahlreicher Giftmordprozesse
aus jener Zeit, d. h. aus der Mitte und zweiten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts eine Summe, wenn auch teilweise roher und trügerischer
Beobachtungen und toxikologischer Angaben, von denen manche einer
historisch- medizinischen Bearbeitung wohl wert wären. Bemerkens-
wert bleibt endlich in toxikologischer Beziehung, dass neben vielfachen
Mitteilungen über giftige Wirkungen einzelner mineralischer, pflanz-
licher und tierischer Stoffe, wie sie, z. T. auf Versuchen mit Ver-
brechern fussend. schon im 16. Jahrhundert beispielsweise in den
Schriften von AmatusLusitanus,*') Baccius,**) Musa Brassa-
vola***) und im 17. Jahrhundert u. a. in dem vielbenützten Buche
von Timotheus a Guldenklee („Casus medicinales et observationes
practicae" 1662) zu finden sind, mehr und mehr auch monogi'aphische
Abhandlungen über einzelne Gifte, besonders über Pflanzen und Tier-
gifte entstanden. Zu den letzteren gehören u. a. die zu ihrer Zeit in
weiteren Kreisen Aufsehen erregenden Schriften von M. Oharas*")
und Francesco Redi aus Arezzo^*) über das Viperngift. Dabei
darf freilich nicht übersehen werden, dass die Therapie jener Zeitepoche
noch vollkommen in der traditionellen arzneilichen Verwertung zahl-
reichster tierischer Droguen, d. h. getrockneter Tiere und Tierteile,
darunter auch giftiger Schlangen, Amphibien und Insekten, be-
fangen war.
Das achtzehnte Jahrhundert.
Wie die Periode des achtzehnten Jahrhunderts auf den allge-
meinen geistigen Gebieten der Religion. Politik und Philosophie durch
das Auftreten möglichst scharfer Differenzen und mannigfacher revo-
lutionärer Bestrebungen charakterisiert ist. so traten auch in der
Heilkunde bei der Konkurrenz theoretisch-medizinischer Ansichten und
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 37
578 Ed. Schaer.
Systeme vielfache, jahrzehntelang von den Trägern der besten Namen
ausgefochtene, scheinbar unversöhnliche Gegensätze auf. Zu diesen
gehörten u. a. die Gegnerschaft des grossen ärztlichen Praktikers Fr.
Hoffmann^'-) und des zugleich in der Geschichte der Chemie be-
deutungsvollen G. E. Stahl, *^) sowie die Opposition, welche vor allem
zwei berühmte Mediziner jener Zeit, nämlich Boissier de Sau vages
in Montpellier und A. de Haen in Wien, gegen verschiedene experi-
mentell begründete Lehren des Anatomen und Physiologen Albrecht
von Haller erhoben. Wenn so der Kampf der Meinungen im eigenen
Lager hier, wie zu anderen Zeiten, durch Anleitung zu sorgfältigerer
Beobachtung und Kritik in manchen Beziehungen zum Fortschritt bei-
tragen musste, so haben doch verschiedene hervorragende Leistungen
und Entdeckungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete die wissen-
schaftliche Heilkunde in nicht geringerem Grade, wenn auch langsamer
und in weniger direkter Weise gefördert; so vor allem die mit den
Namen Bernoulli, Euler, Galvani, Volta u. s. w. verknüpften
glänzenden Fortschritte in physikalisch-mathematischer Richtung, die
mit der Aufstellung des phlogistischen Systems durch Stahl zusammen-
fallende Begründung einer wissenschaftlichen Chemie, zu welcher bald
darauf die Beobachtungen und Versuche eines Bergmann, Scheele,
Cavendish, Priestley und Lavoisier die wertvollsten Beiträge
lieferten, und in engerem Zusammenhange mit den letzteren die freilich
mehr in das 19. Jahrhundert fallende, aber bereits durch die Arbeiten
des grossen Haller und seiner Schule eingeleitete Errichtung eines
Lehrgebäudes der experimentellen Physiologie und Biologie, endlich
die bedeutende Erweiterung der systematischen, beschreibenden Natur-
kunde vor allem durch den grossen Botaniker L i n n e. Es erscheint
selbstverständlich, dass die eben genannten Faktoren auch auf die
Heilmittellehre einen gewissen, mehr oder weniger bemerkbaren Ein-
fluss ausüben mussten. Und dennoch kann sich die Periode des
18. Jahrhunderts in pharmakologischer Richtung keineswegs einer be-
sonderen Förderung rühmen, obwohl andererseits nicht übersehen
werden darf, dass die damalige materia medica keineswegs nur stag-
nierte, sondern sogar nach einzelnen Richtungen bemerkenswerte Er-
weiterungen erfahren hat. Fällt doch gerade in diese Zeit die sich
immer häufiger wiederholende Empfehlung und z. T. auch thatsächliche
Einführung verschiedener metallischer Präparate als innerliche Heil-
mittel, wie der Kupfer- und Silbersalze, des Knallgoldes, des aus der
paracelsischen Zeit übernommenen Quecksilbers, besonders aber des
Bleies, über dessen Verwendung namentlich Th. Goulard^*) ver-
schiedene Schriften verfasst hat. Es datieren aus dieser Epoche, d. h.
aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Anzahl von Vorschriften
zu Metallpräparaten, welche sich noch bis über die Mitte des 19. Jahr-
hunderts in zahlreichen Pharmakopoen vorfinden und erst allmählich
moderneren Verbindungsformen gewichen sind.
Wichtiger jedoch als die Chemikalien waren damals, wie noch
heute, die pflanzlichen Arzneistoffe. Während einerseits der oben ge-
nannte, des grössten Ansehens sich erfreuende G. E. Stahl auf Grund
seiner animistischen Theorien über den gesunden und kranken Körper
einer Reduktion des Arzneischatzes das Wort redete und ausser einer
Anzahl purgierender und tonisierender Medikamente (z. B. Eisensalze)
zahlreiche andere bisherige Heilmittel verwarf oder auf das äusserste
einschränkte (so namentlich Chinarinde und Opium), suchte im Gegen-
k
1
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie ia der neueren Zeit. 579
teil Fr. Hoffmann (s. o) mit seiner Schule die copia medicaminum
besonders durch diverse sedative, roborierende und alterierende Mittel
zu erweitern, wobei er sich auf seine Anschauungen über geAvisse
pathologische Veränderungen der Säfte und Organe, namentlich der
Darmschleimhaut, stützte und überdies aus reicher klinischer Er-
fahrung schöpfte. In der von ihm empfohlenen Therapie spielen einzelne
ätherische Oele und Stearoptene (z. B. der Kampher), die Chinarinde,
verschiedene gewürzhafte Drogen, bittere Vegetabilien etc. eine hervor-
ragende Kolle, wie ja denn manche von ihm hemihrende Vorschriften
für arzneiliche Präparate, z. B. den ..Liq. anodynus H."' (Spir. aether.)
oder „Elixir viscerale H." (Tinct. Aurant. comp.) sich in fast sämt-
lichen europäischen Arzneibüchern bis in unsere Tage erhalten haben.
Die vom pharmakologischen Standpunkte bedeutsamste Erscheinung
des achtzehnten Jahrhunderts bleibt aber ohne Zweifel die erfolgreiche
Förderung des Interesses, welches unter dem Einflüsse mehrerer be-
rühmter naturwissenschaftlicher und medizinischer Autoren in grund-
sätzlicher Weise den Heilwirkungen zahlreicher einheimischer Pflanzen
entgegengebracht wurde. Vor allem hatten es der als Mediziner vor-
gebildete weitausschauende Botaniker Linne und sein nicht minder
berühmter Zeitgenosse Haller verstanden, in ihren allen Gelehrten
ihrer Zeit zugänglichen botanischen Schriften die Aufmerksamkeit der
ärztlichen Kreise auf eine grosse Zahl teils längst als Volksheilmittel
benutzter, teils bereits von den sogenannten Vätern der Botanik im
16. und 17. Jahrhundert als heilkräftig empfohlenen Pflanzen besonders
der mitteleuropäischen Länder hinzulenken und so deren dauernde
Aufnahme als offizielle Arzneistoflfe in die neueren Pharmakopoen vor-
zubereiten. Zu dieser Gruppe pflanzlicher Medikamente gehören zu-
nächst eine Anzahl Drogen von weniger auffallender physiologischer
Wirkung, wie z. B. Frangularinde. Arnikablüten. Pfeff"erminzkraut,
Bärentraubenblätter, isländische Flechte, Lj'copodium. mexikanisches
Traubenkraut (Chenopod. ambros.). Queckenwurzel u. s. w. Ganz be-
sonders aber waren es die jahrhundertelang vorwiegend als ein-
heimische Giftkräuter bekannten und benützten Pflanzen Aconitum,
Colchicum, Conium, Datura. Hyoscyamus und Pulsatilla, deren Ein-
führung in die materia medica mit der zweiten Hälfte oder dem
Schlüsse des 18. Jahrhunderts zusammenfällt. Dieselbe ist. wenn nicht
ausschliesslich, doch in erster Linie auf die langjährigen systematischen
Beobachtungen und Versuche eines verdienten Wiener Arztes und
Lehrers Anton Störck.^^) des Schülers von de H a e n und Nach-
folgers van Swietens zurückzuführen, welcher durch seine Publi-
kationen über die genannten arzneilichen Pflanzenstotte eine der ersten
Anregungen zu den pharmakodynamischen Prüfungen der neueren Zeit
gegeben hat und zu seiner Zeit durch seine Angaben über Anwendung
jener Giftpflanzen bei gewissen Krankheiten auch die Diskussion über
deren Natur vielfach förderte. Es ist bekannt, dass die Mehrzahl der
OD Stoerck geprüften und empfohlenen ..heroica" in Form rationell
ereiteter galenischer Präparate, namentlich auch als Fluidextrakte,
sich bis in unsere Tage im Arzneischatze erhalten haben und wohl
stets typische Beispiele für die heilsame Verwendung an und für sich
giftiger Vegetabilien bleiben werden.
Wenn so gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine beginnende
Tendenz zu pharmakologischer Betrachtung und Prüfung von Arznei-
stoflFen sich wahrnehmen lässt, so machte sich andererseits nicht weniger
37*
580 Ed. Schaer.
das Bedürfnis geltend, die zahlreichen einheimischen und ausländischen
Arzneimittel auch vom Standpunkte der pharmaceutischen Drogenkunde
aus, d. h. in ihren naturwissenschaftlichen, namentlich botanischen und
pharmakochemischen Merkmalen und Eigenschaften näher zu beschreiben.
Da aber in jener Zeitepoche eine Trennung der medizinischen Heil-
mittellehre oder „Pharmakologie" und der pharmaceutischen Arznei-
mittellehre oder „Pharmakognosie" im Sinne der heute diesen Diszip-
linen zuerkannten Stellung noch nicht bestand, so war die einer
näheren Kenntnis der Arzneistoffe gewidmete Litteratur jener Zeit
gerade in ihren besten und allgemeiner bekannten und benützten Er-
zeugnissen eine gleichzeitig medizinisch-pharmaceutische resp. pharma-
kologisch-pharmakognostische, welche in ihren Lehr- und Handbüchern
ebensowohl dem praktischen Arzte als dem Pharmaceuten zur Be-
lehrung diente.
Als wichtigere Repräsentanten dieser Vorläufer der heutigen
pharmakologischen und pharmakognostischen Litteratur sind u. a. in
erster Linie drei Werke anzuführen, welche nicht allein in den Heimat-
ländern ihrer Autoren, sondern weit darüber hinaus als zuverlässige
und treifliche Kompendien geschätzt waren und bis in unsere Zeit bei
allen historischen Studien über arzneiliche Drogen ihren Wert als
Nachschlagewerke behaupten : Murrays^*') „Apparatus medicaminum'*,
Geoffroys^^) „Tractatus de materia medica" und Neumanns ^^j
„Chymia medica". J. Andreas Murray, ein Schwede von Geburt
und Lehrer an der Universität Göttingen publizierte daselbst zuerst
1776 das genannte mehrbändige Werk, welches auf sorgfältiger Prüfung
und Benützung der zeitgenössischen Fachschriften fusst und fast alle
wichtigeren damals in Europa bekannt gewordenen Heilmittel umfasst ;
Stephan Franz Geoffroj^ der Aeltere genannt, benützte bei Heraus-
gabe seiner dreibändigen Schrift über materia medica u. a. die vor
ihm noch wenig bekannten Beobachtungen und Beschreibungen des
ausgezeichneten englischen Botanikers John Ray"^^) (Rajus), dessen
Herbarium noch im Brittischen Museum aufbewahrt wird; Caspar
Neumann, der Berliner Chemiker, Pharmaceut und Professor, ein
Anhänger Stahls und seiner Phlogistontheorie, machte sich um die
Erkenntnis der Arzneistolfe besonders dadurch verdient, dass er zahl-
reiche Beobachtungen und chemische Versuche mit Pflanzenstoffeu, so
mit ätherischen Oelen und Harzen. Gewürzen, Genussmitteln und narko-
tischen Substanzen vornahm und dieselben in seinen Lectiones über
„Subjecta chymica, pharmaceutica et diaetetica" vortrug und ver-
öffentlichte. Seine Schriften, z. T. nach seinem Tode zusammengestellt
und in mehrere Sprachen übertragen, sind für spätere Pharmakologen
eine Fundgrube für chemische Angaben über gewisse arzneiliche
Drogen geblieben und haben manche Nachfolger auf diesem Spezial-
gebiete, so besonders den berühmten schwedischen Apotheker C. W.
Scheele (geb. 1742, f 1786) zu weiteren Untersuchungen über pflanz-
liche Heilmittel angeregt.
Neben diesen eben genannten Namen verdienen aber auch diejenigen
einiger weiterer Autoren auf dem Gebiete der Arzneiwarenkunde und
Heilmittellehre Erwähnung, so besonders Gren (System der Pharma-
kologie 1798), Lewis (Experimental history of the materia medica
1761), Spielmann (Institutiones materiae medicae 1774), Tromms-
dorff (Handbuch der pharmaceutischen Warenkunde 1799), Valen-
tini (Museum rauseorum 1704). Und endlich ist daran zu erinnern,
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 581
dass auch in diesem achtzehnten Jahrhundert die Kenntnis exotischer
Heilstoffe durch verschiedene gelehrte Botaniker, Mediziner und Phar-
maceuten erheblich gefördert wurde. In diesem Sinne würden hier be-
sonders noch anzuführen sein: der westfälische Arzt Engelbert
Kaempfer/*^) der die Ergebnisse weiter Eeisen in Vorder-. Mittel-
und Ostasien in mehreren grösseren Werken niederlegte, die eine Fülle
wertvoller Angaben über orientalische Arznei- und Nutzpflanzen ent-
halten, sodann der spanische Pharmaceut und Botaniker Casimir
Gomez Ortega/^) als Verfasser zahlreicher Abhandlungen über
einheimische und ausländische Drogen, sowie namentlich als üeber-
setzer und Kommentator verschiedener wichtiger Eeiseberichte und
botanischer Schriften, u. a. Linnes, und drittens der spanische
Botaniker Hippolit Ruiz (Lopez). ^-) welcher in den Jahren
1777—1778 als Leiter einer grossen naturwissenschaftlichen Expedition
nach Peru und Chili fungierte und seine botanischen Studien und Ent-
deckungen in zwei mit zahlreichen trefflichen Abbildungen ausgestatteten
Werken veröffentlichte, von denen das eine sich speziell mit den
Stammpflanzeu der Chinarinden beschäftigt, während das andere eine
Flora der von Euiz bereisten Gebiete darstellt und zahlreiche Nach-
richten über amerikanische Arznei- und Genusspflanzen wie z. B. über
die Eatanhiawurzel und die schon erwähnten Cinchonen enthält.
Die Betrachtung der Stellung und des Zustandes der Heilmittel-
lehre im 18. Jahrhundert darf nicht abgeschlossen werden, ohne noch
zweier medizinischer Eichtungen zu gedenken, welche, obwohl in
litterarischer Beziehung erst in den früheren Decennien des 19. Jahr-
hunderts zur Geltung gelangend, doch noch im 18. Jahrhundert, ja z. T.
noch in früheren Zeiten wurzeln, nämlich der durch S. Hahnemann *=^)
begründeten Homöopathie, sowie der zeitlich etwas später auftretenden,
in einer neuen Organheillehre gipfelnden medizinischen Doktrin von
J. G. E a d e m a c h e r. "*) An dieser Stelle auf eine nähere Besprechung
dieser Heilmethoden einzutreten, verbietet sich von selbst; welches
aber auch das Urteil über dieselben sein mag, — und dass dasselbe
nach den Gesichtspunkten der neueren wissenschaftlichen Medizin in
der Hauptsache kein zustimmendes sein kann, liegt auf der Hand, —
so muss doch zugestanden werden, dass die Beiziehung einer relativ
grossen Zahl mineralischer, vegetabilischer und animalischer Arznei-
stoffe sowohl in der homöopathischen, wie in der, z. T. noch auf die
mittelalterliche Signaturenlehre und die Arcanatheorien des Paracelsus
zurückdeutenden Eademacherschen Heilkunst manche objektiv und
kritisch denkende Mediziner zu sorgfältiger Eevision des Arzneischatzes
und gelegentlicher erneuter Prüfung und Würdigung obsoleter oder
wenig bekannter Heilmittel angeregt hat. In dieser Weise konnten
selbst jene einer rationellen, auf dem Boden der neueren Physiologie
fussenden Pharmakologie ferner stehenden medizinischen Systeme in
gewissen Beziehungen klärend und ordnend wirken.*)
Noch weniger, als auf dem Gebiete der Pharmakologie sind im
achtzehnten Jahrhundert auf demjenigen der Toxikologie hervorragende
Fortschritte und Neuerungen zu verzeichnen. Wohl unterscheiden
sich die namhafteren auf toxikologische Gegenstände bezüglichen
*) Vgl. über ßademacher u. .s. medizin. Theorien die treffliche neueste
Schrift von F. Oehmen: Joh. Gottfr. Rademacher, s. Erfahrungsheillehre und ihre
Greschichte, Bonn a./ßh., P. Hanstein 1900.
582 Ed. Schaer.
Schriften, wie z. B. die über verschiedene anorganische und organische
Gifte publizierten Abhandlungen von Mead (1702), Lindestolpe
(1739), Stenzel (1740—1745) u. a. in vorteilhafter Weise von der
Giftlehre früherer Jahrhunderte, wie etwa den noch in mittelalter-
lichen Vorurteilen jeder Art befangenen Traktaten „de venenis'' des
Spaniers Arnaldus de Villanova oder des Venetianers Santes
Ardoyno; allein unter den Bedingungen für das Auftreten der Toxi-
kologie als einer mehr oder weniger selbständigen medizinisch-natur-
wissenschaftlichen Disziplin fehlten noch zum grösseren Teile nicht allein
die durch systematische Experimente begründeten Materialien zur
Kenntnis der physiologischen Wirkungen der wichtigeren Gifte, wie
zahlreich auch die kasuistischen Angaben über Vergiftungssymptome
schon sein mochten, sondern besonders auch die Grundlagen einer
chemischen Toxikologie, d. h. der Besitz genauerer Kenntnisse über
die chemischen Eigenschaften und Reaktionen und zuverlässiger
Methoden zur chemischen Auffindung der Gifte. Werden doch noch
aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts aus den Nieder-
landen,*) Frankreich und Deutschland forensische Fälle angeführt, in
denen selbst namhafte Quantitäten von Giften wie z. B. Arsenik nicht
oder wenigstens nicht sicher nachgewiesen und identifiziert werden
konnten, nicht zu reden von zahlreichen anderen Giftstoffen. Es ist
deshalb erklärlich, dass es bereits als eine erhebliche toxikologisch-
chemische Leistung angesehen wurde, als der Tübinger Chemiker
Zeller ***) aus Schwefel und Kalkmilch ein Reagens (Schwefelcalcium-
lösung) darstellen lehrte, welches dazu bestimmt war, Metalle wie das
Blei, Kupfer u. s. w. im Wein und in anderen Genussmitteln, wie dies
heute mittels Schwefelwasserstoff" geschieht, aufzusuchen.
Was aber überdies der Entwicklung einer Litteratur über Gift-
lehre damals noch hindernd in den Weg trat und nicht ohne psycho-
logisches Interesse erscheint, war eine gewisse instinktive Besorgnis,
durch öffentliche Behandlung von toxikologischen Dingen in gedruckten
Schriften die Kenntnisse über Gifte in einer das öffentliche Wohl ge-
fährdenden Weise zu verbreiten. Urteilte doch selbst noch 1794 ein
so gewiegter un4 scharfsinniger Arzt, wie Joh. Peter Frank *'^) (s.
Wefers Bettink 1. s. c. p. 13), in seinem wichtigsten Werke folgender-
massen: „Allein einen genauen Gifttraktat in einer Volkssprache sehe
ich noch immer als eine Sache an, die ihre sehr zweideutige Seite
hat; und es haben schon die blossen Volksarzneibücher soviel Unheil
gestiftet, dass ich mich nicht enthalten kann, vor einem in der Volks-
sprache geschriebenen Buche über die Giftmischerkunst zu zittern!"
Dieser Verhältnisse ungeachtet, ist für das 18. Jahrhundert von
gewissen Bestrebungen auf toxikologischem Gebiete Notiz zu nehmen
und namentlich daran zu erinnern, wie in diese Zeitperiode die mehr
und mehr zu verfolgende Befestigung der Ueberzeugung fällt, dass
scharfe Grenzen zwischen Medikamenten und Giften nicht existieren,
dass vielmehr letztere unter bestimmten Voraussetzungen und geeig-
neten Bedingungen der Anwendung zu wertvollen Heilmitteln werden
können. Während einzelne Autoren (wie z. B. Thiery, Fother-
gill, Falconer, Corona u. a.) sich in verdienstlicher Weise mit
den Nachteilen des Kontaktes von Speisen mit Blei, Kupfer oder
*)H. Wefers Bettink, Rede uitgesproken by de herdenking van den
stichtingsdag der Utrechtsche Hoogeschool. 1900 p. 10 ff.
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 583
anderen Metallen beschäftigten, sprachen sich besonders einige be-
rühmte englische Aerzte wie Fowler und Percival über die
Wirkungen und die arzneilichen Verwendungen des Arseniks und Bleis
aus, dessen warme Empfehlung als internum und externum durch
Goulard schon oben berührt wurde. Endlich ist als ein bezeich-
nender Zug der Giftlehre des 18. Jahrhunderts die Bemühung um
das Studium tierischer Gifte, wie namentlich der Schlangengifte und
des Giftes der Hundswut, sowie auch der zu verwendenden Antidote
zu bezeichnen, obwohl, wie aus dem letzten Abschnitte ersichtlich,
schon im 17. Jahrhundert hierauf gerichtete Wahrnehmungen und Be-
schreibungen vorliegen. Es gehören in die hier zu behandelnde Periode
besonders die Publikationen des zu seiner Zeit als Physiologen hoch-
geschätzten Feiice Fontana**') zu Pisa über das Viperngift, sowie
des englischen Arztes P. Eussel (1796) über indische Schlangengifte.
Nicht weniger bemerkenswert sind aber auch die Abhandlungen über
Gegengifte, wie z. B. die Versuche von Buchholz (1785) über die
Anwendung der Belladonna gegen Hundswut, und insbesondere die
Angaben des Botanikers Linne, sowie verschiedener zeitgenössischer
Verfasser von Reiseberichten über die sowohl in Asien als in Amerika
bekannten und benützten pflanzlichen Schlangengegengifte. Es ver-
dient an diesem Orte vielleicht hervorgehoben zu werden, dass manche
dieser Antidote bei Schlangenbiss, welche Eingeborene verschiedener
Weltteile seit längster Zeit kennen und mit oder ohne Erfolg zu ver-
wenden pflegen, z. T. schon frühe in den Arzneischatz eingetreten und
damit Objekte der Heilmittellehre geworden sind, wie z. B. Ead. Ser-
pentar. virg., Rad. Senegae., Lign. colubrin. etc.*) Eine tiefere, wenn
auch noch keineswegs erschöpfende Einsicht in die Natur der ver-
schiedenen tierischen Gifte und damit in die Behandlung der be-
treffenden Vergiftungen konnte aber erst einem späteren Jahrhundert
vorbehalten sein.
Das neunzehnte Jahrhundert.
Die für diese letzte Periode so bezeichnende Entwicklung der
älteren Arzneikunde zu einer als selbständige Disziplin sich bethätigenden
wissenschaftlichen Heilmittellehre oder Pharmakologie setzte, was
näher zu begründen an diesem Orte als überflüssig erscheint, zunächst
eine Neugestaltung wichtiger Teile der Naturwissenschaften, nament-
lich der Physik und Chemie voraus, sodann aber auch die grossenteils
von der Neubeleb iing der letztgenannten Zweige abhängige Begründung
der neueren Physiologie, Entwicklungsgeschichte und Anatomie. Der
rationelle Ausbau dieser wichtigsten Grundlagen der neueren Medizin
konnte allein zu einer wissenschaftlich begründeten Pathologie und
Therapie führen und damit auch das Bedürfnis wach rufen, die vielen
älteren und die immer zahlreicher anstürmenden neuen Arzneimittel
nach systematischen, dem Geiste der modernen Naturwissenschaft
*) Zahlreiche Angaben über die frühere fiolle zahlreicher Pflanzenstoffe als
Antidote gegen tierische Gifte und gleichzeitig als Volksheilmittel finden sich u. a.
in den neueren Handbüchern: Dragendorff, Die Heilpflanzen der verschiedenen
Zeiten u. Völker 1898; J. Pereira, Elements of raateria medica and therapeutics
1839/40 ; Guibourt et Planchon, Histoire naturelle des drogues simples. VII. Ed.
1876.
584 Ed. Schaer. ^
entsprechenden Methoden zu prüfen und in ihren Eigenschaften zu
ergründen.
Nachdem einerseits durch Lavoisiers noch in das achtzehnte
Jahrhundert fallende Reform der Chemie und seine bahnbrechenden
Arbeiten über die chemische und biologische Bedeutung des Sauer-
stoffes, sodann durch die der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an-
gehörenden grossen physikalischen und chemischen Entdeckungen von
Faraday, Oersted, Ampere. Gay-Lussac, Dalton, Davy,
Berzelius, Liebig u. a. die massgebenden Bedingungen für die
gedeihliche Entwicklung einer experimentellen Physiologie geschaffen
waren, andererseits auch die anfänglich durch die naturphilosophischen
Schriften von F. W. J. S c h e 1 1 i n g '*») stark beeinflussten beschreibenden
Naturwissenschaften zunächst unter der Aegide L. Okens, K. F. Kiel-
meyers, J. Döllingers, später E. von Baers und Schleidens
von der früher fast ausschliesslich systematischen Richtung mehr und
mehr zu intensiverer Pflege der Tier- und Pflanzenanatomie sowie der
Entwicklungsgeschichte und genetischen Beziehungen der Lebewesen
übergegangen waren, trat jene für die neuere Physiologie und Biologie
so günstige Periode ein, welche der neueren Medizin die eingreifendste
und nachhaltigste Förderung gebracht hat.
Es ist bekannt, welche bedeutsame Entwicklung die auf streng
naturwissenschaftlichen und experimentellen Grundlagen aufbauende
Physiologie um die Mitte des Jahrhunderts durch Forscher wie Bell,
Magendie, Flourens, Pander, Purkinje, Ernst Heinrich
Weber und Wilhelm Weber und manche andere Physiologen,
insbesondere aber durch Joh. Müller und Th. Schwann erfahren
hat. Unter solchen Auspizien war zu erwarten, dass allmählich im
Gange eines naturgemässen x^usbaues der neueren Medizin die Heil-
mittellehre selbständige Gestalt annehmen, d. h. als neuere „Pharma-
kologie" sich von der Therapie emanzipieren würde, wenn auch natür-
licherweise dieser Prozess sich in den einzelnen Ländern je nach
dem Charakter der herrschenden medizinischen Schulen und Richtungen
langsamer oder rascher und auch zu verschiedenen Zeiten vollzog.
Eine erste Epoche dieser immer deutlicher und bewusster sich
vollziehenden Lostrennung einer neueren experimentellen Heilmittel-
lehre wird durch die relativ zahlreichen Arbeiten jener älteren Phar-
makologen charakterisiert, welche zunächst in engem Anschlüsse an
die Therapie und zum Zwecke ihrer wissenschaftlichen Förderung und
Kritik teils auf Tierversuche gestützt, teils durch sorgfältige syste-
matische Beobachtungen am Krankenbette die Heilmittellehre in ihrer
therapeutischen Richtung zu präzisieren, zu vertiefen und durch neue
möglichst zuverlässige Beobachtungen zu fördern bestrebt waren. Wir
finden diese Richtung u. a. hauptsächlich vertreten in den Arbeiten
und Schriften von Mitscherlich,**^) dem die Arzneimittellehre eine
ansehnliche Reihe von Ergänzungen und namentlich die Förderung der
Kenntnis des chemischen Verhaltens der Arzneistoffe im Körper sowie
den unermüdlichen Hinweis auf die Unentbehrlichkeit der pharma-
kologischen Tierversuche verdankt, von K. D. von Schroff,**) dessen
für seine Zeit klassische Arbeiten über die offizineilen Solaneen und
deren Alkaloide, über Aconitum, Veratrum, Helleborus u. s. w. der
therapeutischen Pharmakologie vielfache Bereicherung brachten, von
Gubler,"^^) bekannt durch zahlreiche biologische Arbeiten und phar-
makologische Studien über die verschiedensten Arzneimittel, von
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 585
V u 1 p i a n , dessen sehr zahlreiche, teils auf physiologisch-pathologischem ,
teils auf pharmakologisch-toxikologischem Gebiete sich bewegenden
Untersuchungen von ungewöhnlicher Vielseitigkeit und rastlosem
Fleisse zeugen, von Orosi.'-) dessen Namen eine der geschätztesten
pharmaceutisch-pharmakologischen italienischen Fachschriften heute
noch trägt.
Von durchgreifender Bedeutung für die endgültige Erhöhung der
Pharmakologie zur selbständigen medizinischen Disziplin wurde der
Umstand, dass in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in verschiedenen
Ländern an Stelle der früheren, wesentlich nur auf Vorlesungen mit
gelegentlichen Demonstrationen berechneten Lehrstühle für Arznei-
mittellehre oder ,.materia medica" nunmehr solche für experimentelle
Pharmakologie erstanden und zwar in Verbindung mit kleineren oder
grösseren Instituten, in denen die nötigen Hilfsmittel sowohl für aus-
giebige Verwendung der Tierexperimente auf physiologischer Grund-
lage als auch für chemische L'ntersuchungen von Arzneistoffen gegeben
waren. Diese pharmakologischen Universitätsanstalten, von einem der
ersten unter bescheidenen Verhältnissen in Dorpat (durch B. Buch-
heim) eingerichteten Institute angefangen bis zu den neueren und
neuesten in der Mehrzahl der Kulturstaaten zu treifenden pharma-
kologischen Laboratorien waren und sind die Bildungsstätten für eine
als zweite neuere Periode zu bezeichnende Richtung der Pharmakologie,
welche, zunächst unabhängig von Utilitätsrücksichten der praktischen
Medizin, wenn auch im Hinblick auf die Ziele einer rationellen
Therapie, die Erforschung früherer und neuer namentlich pflanzlicher
Arzneistolfe sowie zahlreicher aus den chemischen Fabriken und Labo-
ratorien hervorgehender Heilmittel als naturwissenschaftliche Aufgabe
erfasst und behandelt.
Nicht ohne merklichen Einfluss auf die gründlichere Vertiefung
der neueren pharmakologischen Schulen ist endlich auch die Thatsache
geblieben, dass in den letzten Decennien des neunzehnten Jahrhunderts
auch die zunächst dem Studium der Pharmacie dienende wissenschaft-
liche pharmaceutische Drogenkunde, die „Pharmakognosie" mehr und
mehr zu einer selbständigen Disziplin sich gestaltete und infolge
ihrer schrittweisen Loslösung aus dem Eahmen der systematischen
Botanik und der angewandten Chemie vielerorts mit eigenen Lehr-
kanzeln ausgestattet wurde, welche, wie z. B. in Oesterreich und teil-
weise auch in Deutschland, mit den Lehrstühlen für medizinische
Pharmakologie vereinigt worden sind. Wenn die Begründung dieser
neueren Richtung der Pharmakologie auf deutschem Sprachgebiete in
erster Linie auf Rudolf Buchheim, '=^) dem Mitbegründer des weit-
verbreiteten Archivs für experimentelle Pathologie und Pharmakologie
zurückgeht, dessen zahlreiche Schüler eine namhafte Zahl wichtiger
Objekte der materia medica bearbeitet haben, so fand andererseits in
P>ankreich die neue Disziplin wesentliche Förderung durch den Experi-
mental Physiologen Claude B e r n a r d . "*) welche seine fruchtbare und
glückliche Experimentierkunst nicht allein auf das Gebiet der Physio-
logie ausdehnte, sondern auch die wertvollsten Beiträge zur Kenntnis
verschiedener Arzneistoffe und Gifte lieferte (Curare, Opiurabasen etc.).
Als hervorragende gleichzeitig die Pharmakologie und die Pharma-
kognosie vertretende Autoren, welche die Arzneimittellehre teils durch
experimentelle, teils durch litterarische Arbeiten besonders gefördert
haben, mögen hier aus einer grösseren Reihe die Namen von K. D.
586 Ed. Schaer.
von Schroff in Wien (s. o.), J. Pereira^^) in London, R F. Fri-
ste dt '**) in Upsala und P. C. Plugge ") in Groningen und Th. Hu Se-
rn an n'^) in Götting-en genannt werden.
Diesen ihrem Berufe nach der Medizin zugehörigen Pharm akologen
schliessen sich eine Anzahl aus der Pharmacie hervorgegangener
Pharm akogn Osten an, deren z. T. bahnbrechende und reforma-
torische Schriften nicht ohne bemerkbaren fördernden Einfluss auf die
neuere Arzneimittellehre bleiben konnten. Es sind dies vor allem
Guibourt ''-') (in Paris). Wiggers^'') (in Göttingen), Oudemans^^)
(in Amsterdam), Berg^-) (in Berlin) und Flückiger^*^) (in Bern und
Strassburg). Namentlich der Letztgenannte hat in seinem klassischen
Lehrbuche der Pharmakognosie dieser Disziplin durch Erweiterung
und Vertiefung in physikalisch-chemischer und historisch-geographischer
Richtung, im Sinne einer monographischen Behandlung der Arznei-
stoffe, neues Leben eingeflösst und zugleich den Rang einer selbständigen
angewandten Wissenschaft erworben.
Endlich ist hier auch daran zu erinnern, dass besonders im letzten
Drittel des Jahrhunderts die jeweiligen Vorbereitungsarbeiten für zahl-
reiche in verschiedenen Staaten promulgierte neuere „Arzneibücher"'
oder „Pharmakopoen" zu einer nicht geringen Zahl wertvoller phar-
makologischer Untersuchungen geführt haben, durch welche die Kenntnis
der physiologischen Wirkungen und des pharmakologischen Verhaltens
vieler wichtigerer Arzneimittel, wie z. B. der Solaneen- und Strychnos-
drogen, des Mutterkorns, der Digitalis u. s. w. vielfach ergänzt und
berichtigt worden ist.
Bei einer Betrachtung der Stellung und Entwicklung der Pharma-
kologie des letztverflossenen Jahrhunderts darf nicht übersehen werden,
dass die materia medica dieser Periode und damit auch die Arznei-
mittellehre in mehrfacher Richtung Bereicherungen erfahren hat, welche
als typische Erscheinungen der Zeitepoche zu bezeichnen sind, wenn
sie gleich an diesem Orte nur kurz berührt werden dürfen, da ihre
eingehendere Besprechung grossenteils dem Abschnitte über thera-
peutische Medizin zusteht. In erster Linie fällt in den geschichtlichen
Rahmen des 19. Jahrhunderts die Einführung einer Anzahl eben be-
kannt gewordener chemischer Stoffe, so namentlich des Jodes und der
Jodpräparate (durch die Bemühungen von Coindet in Genf, Lugol
in Paris und Bernatzik in Wien), sodann der zahlreichen An-
aesthetica und Hypnotica, welche tiefgreifende Reformen sowohl in der
chirurgischen als inneren Medizin zur Folge gehabt haben und unter
denen in erster Linie die beiden mit den Namen Morton in Boston
und Simpson in Edinburg verknüpften wichtigsten Stoffe i\.ether und
Chloroform, sowie Chloralhydrat und Sulfonal zu nennen sind.
Vor allem aber hat die Entdeckung und die sich anschliessende
fabrikmässige Darstellung der wichtigsten, als wirksame Substanzen
zahlreicher älterer und neuerer pflanzlicher Arzneistoffe zu betrachtenden
Pflanzenbasen oder Alkaloide sehr eingreifende Aenderungen und
Neuerungen in der Therapie und Arzneimittellehre hervorgebracht,
welche auch heute noch nicht als abgeschlossen zu betrachten sind.
Ihre Isolierung beginnt zu Anfang des Jahrhunderts mit der Auf-
findung der Opiumbasen durch Derosne, Sertürner und Robiquet;
ihnen folgten die ersten Darstellungen der Strychiiosbasen durch
Pelletier und Caventou (1818), bald darauf des Chinins durch
dieselben pharmaceutischen Chemiker, des Veratrins durch Meissner
Geschichte der Pharmakologie und Toxikologie in der neueren Zeit. 587
(1819), des Atropins, Aconitins und Coniins durch Geiger und
Hesse (1833), des Kaffeins durch Runge u. s. w. Es ist bekannt,
in welchem Masse die Bereitung und arzneiliche Benützung der ver-
schiedenen offizinellen Alkaloide die Anwendung der sog. galenischen
Präparate der physiologisch starkwirkenden Arzneipflanzen eingeschränkt
hat, wenn auch keineswegs in allen Fällen volle Kongruenz der
Wirkungen der letzteren mit denjenigen der entsprechenden Pflanzen-
basen besteht. Hand in Hand mit der durch die späteren Decennien
des Jahrhunderts sich fortsetzende Auffindung zahlreicher weiterer
Alkaloide ging eine andere bemerkenswerte Erscheinung, nämlich die
versuchsweise Einführung verschiedener teils als Pfeilgifte, teils als
Gottesurteilsgifte (Ordealgifte) bekannter ausländischer Pflanzenstoffe
in die materia medica und die nachherige Isolierung ihrer wirksamen
Stoffe in Form von Pflanzenbasen, Ghxosiden oder ähnlichen organischen
Substanzen. Nachdem zunächst um die Mitte des Jahrhunderts aus der
Gruppe der Pfeilgifte das Curare, das Upas-Antjargift. aus derjenigen
der Ordealgifte die Calabarbohne, die Sassyrinde (Erythrophloeum),
später auch Strophanthus physiologisch geprüft und auf Grund pharma-
kologischer Versuche arzneilicher Verwendung dienstbar gemacht
worden waren, sind diese beiden Gruppen von Giften, zu denen sich
auch tierische Pfeilgifte gesellten, zu einer Fundgrube physiologisch
interessanter und in einzelnen Fällen auch medizinisch brauchbarer
Substanzen geworden.
Endlich muss auf die grosse pharmakologische Bedeutung noch
hingewiesen werden, welche sich besonders gegen Schluss des Jahr-
hunderts an zwei grosse Klassen von Medikamenten geknüpft hat, ein-
mal an die unter dem allgemeinen Namen der Antipyretica bekannten
äusserst zahlreichen Kunstprodukte der organisch-chemischen Labora-
torien, vom Antipyrin und Thallin (1884:), Antifebrin und Phenacetin
bis zu den Präparaten der letzten Tage, sodann an die noch zahl-
reicheren Antiseptica, welche zumeist der grossen Abteilung der
Benzolderivate oder „aromatischen Verbindungen" angehören und unter
denen das zuerst als Carbolsäure bekannt gewordene Phenol anerkannter-
massen unter den Händen Listers von grösstem Einflüsse auf die
chirurgische Praxis und Operationslehre gewesen ist.
Eine letzte, ihrer eventuellen weiteren Entwicklung nach schon
dem gegenwärtigen Jahrhundert zugehörige, in der Geschichte der
Pharmakologie sehr merkwürdige Erscheinung ist die Erweiterung
der materia medica durch die neue „ Organ therapie", bei welcher
mehr oder weniger rein dargestellte chemische Substanzen oder auch
Extrakte aus Organen des Tierkörpers als Heilmittel bei gewissen Er-
krankungen Verwendung finden und als deren typische Repräsentanten
u. a. die Schilddrüsenpräparate und das von E. Baumann zuerst
isolierte Thyrojodin zu nennen sind. Das Auftreten dieser eigentüm-
lichen neuen Klasse von Arzneimitteln ist von historischen Gesichts-
punkten aus um so interessanter, als sich unter den vielen arzneilichen
Stoffen und Volksheilmitteln früherer Zeit mancherlei Beziehungen zu
den Heilstoffen der neuen Organtherapie auffinden lassen.
In mehr oder weniger enger Verbindung mit der Pharmakologie,
jedenfalls aber unter der begünstigenden Wirkung derselben Verhält-
nisse vollzog sich im neunzehnten Jahrhundert der weitere Fortschritt
der Giftlehre oder Toxikologie. Auch bei dieser Disziplin konnte
eine allmähliche Ausgestaltung als eigener medizinischer Wissenschafts-
588 Ed. Schaer.
zweig" erst auf jener Grundlage erfolgen, wie sie durcli die intensivere
Entwicklung der pathologischen Anatomie, der experimentellen Physio-
logie und andererseits auch der allgemeinen und analytischen Chemie
geschaffen wurde. Während eine wesentliche Förderung der Toxiko-
logie zunächst in Frankreich durch die Errichtung eigenei', in der
Kegel mit der gerichtlichen Medizin vereinigter Lehrstühle gegeben
war und die Giftlehre daselbst durch die unermüdliche Thätigkeit von
Orfila,**) sowie durch die trefflichen toxikologisch-physiologischen
Arbeiten von Claude Bernard (s. o.), in England durch die Schriften
von Christison*^) in Edinburg, in Italien durch diejenigen B el-
lin is^^) in Florenz sich sorgfältigster Pflege erfreute, blieb im deut-
schen Sprachgebiete die Bethätigung in wissenschaftlicher Toxikologie
vornehmlich mit dem Fache der Pharmakologie verbunden, wie denn
auch, einer früheren Bemerkung über die pharmakologisch- therapeutische
Bedeutung der Pfeilgifte, Fischfanggifte und Ordealgifte entsprechend,
eine scharfe prinzipielle Trennung dieser beiden Disziplinen nicht
durchzuführen ist. So lassen sieb die experimentellen und litterarischen
Arbeiten der namhaften deutschen Pharmakologen des 19. Jahrhunderts
zugleich als wertvolle Beiträge zur wissenschaftlichen Giftlehre be-
trachten, um so mehr, als einzelne dieser Untersuchungen besonders über
die bis in die neueste Zeit noch dunkle Natur der Tiergifte Licht ver-
breitet und letztere teils als Alkaloide. teils als fermentartig wirkende
Toxalbumine haben erkennen lassen. Andererseits ist der Toxikologie
in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vorzugsweise von selten deut-
scher resp. dem deutschen Sprachgebiete angehörender Pharmaceuten
und Chemiker, denen sich einzelne z. T. noch lebende ausländische
Autoren anschliessen, in einer anderen, auch praktisch bedeutsamen
Eichtung, nämlich in der chemischen Ermittlung der Gifte, sehr
wichtige Förderung zu teil geworden. An dieser Begründung der
chemischen Toxikologie haben sich vor allem Gelehrte wie Dragen-
dorff,»^) Duflos,««) Mohr,«») Otto,»") Sonnenschein»^)
u. a. m. durch Originaluntersuchungen sowie durch allgemein verbreitete
toxikologisch-chemische Lehr- und Handbücher beteiligt, so dass bekannt-
lich die chemische Giftlehre nicht nur als ein ausgedehnter und wich-
tiger Zweig der angewandten Chemie, sondern ebensosehr als ein un-
entbehrliches Hilfsmittel der gerichtlichen Medizin und Kriminal-
justiz gelten darf. Und keineswegs unbedeutend sind endlich die
vielfachen Beziehungen, welche diesen Teil der Toxikologie mit grossen
Gebieten der allgemeinen Gesundheitspflege, insbesondere der Nahrungs-
und Genussmittelhygiene verbinden, — Beziehungen, welche am
Schlüsse des Jahrhunderts und zu Beginn des gegenwärtigen mehrfach
in wichtigen hygienisch-toxikologischen Arbeiten namentlich deutscher
Universitätsinstitute deutlich zu Tage getreten sind. Es ist deshalb
wohl der Schluss gerechtfertigt, dass auch für diese beiden pharma-
kologisch-toxikologischen und hygienisch-toxikologischen Richtungen
das zwanzigste Jahrhundert eine Periode intensiver Pflege und Förderung
sein werde, zumal die Ansichten über den Kausalzusammenhang wich-
tiger Krankheitserscheinungen mit Giften, die als Stoffwechselprodukte
von Mikroorganismen im lebenden Körper entstehen, — wenn auch
vielfach mit unberechtigten Hypothesen vermischt, — dennoch sich un-
abweisbar aufdrängen.
Geschichte der Balneologie und der Grenzgebiete
in der Neuzeit.
Von
Yon Oefele (Bad Neuenahr).
Schon bei den Tieren präj^t sich vielfach das Bestreben deutlich
aus sich zu baden oder anderweit zu reinigen. Während Hund und
Pferd direkt in das Wasser gehen, reinigt sich die wasserscheue Haus-
katze mit dem eigenen Speichel. Vögel baden sich teils in Wasser
teils in Sand. Ohne Gelegenheit zu solchen Bädern nimmt das Unge-
ziefer im Gefieder sehr leicht überhand. Verschiedene Tiere besitzen
ein weitgehendes Bedürfnis nach Licht, Luft und Wärme. Zur Ge-
sundheit gehört auch die Möglichkeit der zeitweisen Lagerung in der
Sonne bei manchen Tieren. Für Sommer- und Winteraufenthalt
wählen Strich- und Zugvögel vei-schiedene Gegenden. Das wilde
Rentier, das Reh und andere wechseln nach Klima und Jahreszeit
Wald, Feld und Gegend. Selbst Fische wandern. Bewegung im
engeren Rahmen, als niederste Gymnastik führen alle Tiere der
Menagerien aus, soweit sie nicht dem Dahinsiechen verfallen sind.
Alle anderen gehen, laufen, klettern oder fliegen im Tage hunderte
und tausende Male denselben kurzen Weg.
Mit den ersten Anfängen der Chirurgie, den ersten Anfängen der
aktiven wie der hj'gienisch-präservativen Abwehr der Parasiten er-
scheinen somit die ersten Anfänge der aktiven sowie präservativen
ph\'sikalischen Therapie nicht nur prähistorisch sondern prähuman
und zwar nicht metaphj'sisch, sondern roh empirisch. Balneotherapie,
Hydrotherapie und Klimatotlierapie beginnen schon vor der Prähistorie
bei den Tieren.
In dunkler Ahnung dieser Verhältnisse stellt Matthiolus z. B. Heil-
mittel, vor allem Heilpflanzen zusammen, welche augeblich von Tieren
zweckmässig verwendet werden. Ausserdem sollen aber auch in mittel-
alterlichen Berichten häufig Tiere zuerst auf die Heilkräfte einer
Quelle aufmerksam gemacht haben.
Prähistorisch müssen darum Bäder etc. überall vermutet werden
und lassen sich bei den Naturvölkern erweisen. Wo historische Denk-
590 von Oefele.
mäler der ältesten Zeiten erschlossen werden können, finden sich
Bäder, Waschungen und Reisen für Patienten z. B. in Keilschrift-
belegen. Hier drängt sich aber durch Vermittelung der Jahreszeiten-
beobachtung die Astronomie, dann Astrologie, dann Metaphysik auch in
die Balneologie mit dem Ansprüche ein, die veredelnde Systematik in
den lawinenhaft anschwellenden Erfahrungen abgeben zu müssen.
Ueberbleibsel dieser Abwege haben sich in Laienkreisen bis heute
erhalten.
Die Balneologie, noch heute zum grössten Teile eine Empirie,
fügte sich nicht in die Schablonen der ärztlichen Systeme. Darum
sind schon im klassischen Altertume die bekannteren Aerzte nur die
Befürworter von Süsswasserbädern und eventuell hydrotherapeutischen
Massnahmen. Mineralbäder wurden viel mehr von Laien wie Horaz,
Livius und Celsus als wie von den Aerzten Hippokrates nnd Galenos
erwähnt. Celsus empfiehlt auch zuerst den Klimawechsel bei Phthisis
z. B. von Italien nach Alexandrien. Paulus von Aegina (ungefähr
9. Jahrh.) ist der erste Arzt mit einem besonderen Kapitel über natür-
liche Mineralquellen. Aber beim Publikum der Römer und Griechen
waren natürliche Mineralquellen, Klimawechsel in Verbindung mit
speziellen Medikamenten und Wasserverwendungen in kaltem und
warmem Zustande, verbunden mit kleineren Abänderungen der Ver-
wendung vielfach im Gebrauche.
Kein therapeutisches Gebiet ist praktisch so sehr vom Kultur-
zustande und der allgemeinen Wohlhabenheit abhängig, wie die Bal-
neologie. Nur durch Massenbesuch finanzkräftiger Leute können die
Einkünfte der Bäder hinreichen, der Höhe der jeweiligen Zeit ent-
sprechend alle Anforderungen zu befriedigen. Ein solcher Massen-
besuch setzt aber einen hohen Bruchteil der Bevölkerung mit einem
Einkommen voraus, das trotz längerer Unterbrechung der Berufsthätig-
keit die zeitweise Verteuerung der Lebenshaltung durch Badereise
und Badeaufenthalt gestattet.
Daneben herrscht die Mode. Die Furcht vor dem Aussatze ver-
allgemeinerte im 12. Jahrhundert neben den natürlichen Bädern die
Badestuben. Die Verordnungen aus Schrecken vor der Frantzosen-
krankheit, welche z. B. der Nürnberger Rat 1496 erliess, behinderten
die Bäder wieder. Dem früheren Wohlstande und der Lebenslust trat
am Ende des Mittelalters eine ernstere Lebensauffassung gegenüber.
Religionsstreitigkeiten führten zur Reformation und diese wieder
zu blutigen Kriegen und einer nationalökonomischen Verarmung in
Deutschland, was dem früheren feucht-fröhlichen Badeleben nicht
hold war. Die Bäder waren nun gezwungen ihrem drohenden Nieder-
gang mit Hilfe der neuen Erfindung der Buchdruckerkunst entgegen-
zuarbeiten.
Das Baden der alten Germanen, das Tacitus beschreibt, das Erbe
der alten Römer in den mittelalterlichen Staatengründungen und das
arabische Erbe der Kopten resp. Aegypter einerseits und der Sassa-
niden resp. Keilschriftkultur anderseits sind die Grundlagen der Balneo-
logie, denen sich das Mittelalter je nach Wohlhabenheit und Neigung
zu Luxus angepasst hat. Meist mangelt dem Mittelalter durch un-
bedingten Autoritätsglauben in der Religion gegenüber den Kirchen-
vätern und in Naturwissenschaften und Medizin gegenüber Aristoteles
(und Pseudaristoteles) und Galenos die Kritik.
Geschichte der Balneologie und der Grenzgebiete in der Neuzeit. 591
Konrad von Megenberg, ^) der sich ausnahmsweise aufrafft wieder-
holt zu erklären: ,.Das glaube ich nichf. sagt schon richtig: ..Das
Wasser entnimmt seinen Geschmack und seine Eigenart dem Erdreich,
das es durchfliesst" Er setzt aber hinzu: „Desshalb riechen die
heissen Quellen, die man Wildbäder nennt, nach Schwefel,, weil das
A\'asser durch brennendes, schwefelhaltiges Erdreich hindurchfliesst,
wodurch es sich erhitzt und den übelen Geruch annimmt . . . und dess-
halb zieht solches AVasser auch die Feuchtigkeit aus. die zwischen
Haut und Fleisch sich findet." Megenberg (f 1374) bespricht dann
auch die Xutzwässer und Medizinalwässer ungetrennt unter gemein-
samen Gesichtspunkten und fügt -) eine bunte Aufzählung von Mineral-
quellen und Fabel wässern an.
Die Konsequenzen solcher Geistesrichtung legten im Interesse der
Eeklame des einzelnen Badeortes objektive Beobachtungen und Speku-
lationen in Flugschriften nieder, deren genügende Vervielfältigung
selir bald die Entdeckung der Buchdruckerkunst ermöglichte.
Während noch im 13. Jahrhundert balneologische Spezialschriften
äusserst selten sind, treten im 14. und 15. Jahrhundert teils sonst un-
bekannte Aerzte, teils bekannte Praktiker und Schriftsteller wie
Michael Savonarola, Joh. de Dondis. Gentilis de Fulgineo, Petrus de
Albano u. a. mit zahlreichen solchen Schriften teils zusammenfassenden
Inhaltes teils bestimmte Badeorte besprechend auf. Sie können aber
nicht als wissenschaftliche Schriften bezeichnet werden, da dieselben
als Flugschriften für Laien deren Eeiselust und Badelust nicht erkalten
lassen wollten gegenüber dem „Bade zu Hansel" der öffentlichen
Badestuben der Gemeinden. Meist als Pächter der letzteren bildeten
die niederen Chirurgen (balneatores oder Bader) in Deutschland bis
zum 16. Jahrhundert eine eigene Zunft und Konkurrenz der Bäder.
So trat die Balneologie in die Neuzeit ein. Wer die Quellen zur
Geschichte selbst einsehen will, findet die Grundlage meiner Darstellung
sozusagen in der vorhergehenden Auflage dieses Handbuchs : H a e s e r ,
Lehrbuch der Geschichte der Medizin, Jena, mehrere Auf-
lagen. Für Altertum und Mittelalter sind die balneologischen Texte
in lateinischer Sprache von Thomas Junta 1552 — 1554 in Venedig
in einem dicken de balmis betitelten Bande gesammelt. Eine Samm-
lung von Materialien für die Geschichte der Balneologie hat L er seh
1863 in Würz bürg als: Geschichte der Balneolor/ie. Hijdroposie und
Pef/ologie herausgegeben. Je mehr vrir uns der Neuzeit nähern, umso-
mehr schwillt auch die historisch-balneologische Litteratur an, ohne
dass aber ein drittes Buch den beiden genannten an Bedeutung auch
nur nahe käme. Für den allgemeinen Ueberblick des Praktikers sind
die historischen Einleitungen der einzelnen Kapitel von Pagel im
Handbuch der phtj.sikalisehen Therapie von Goldscheider genügend.
Für die oben angedeuteten Bäderschriften an der Grenze von
Mittelalter und Neuzeit kann Paracelsus (f 1541) als Wendepunkt
bezeichnet werden. Die Chemie der Balneologie verdankt ihm z. B,
Anwendung der Galläpfeltinktur zur Prüfung des Eisengehalts der
Mineralwässer. Ebenso versuchte er die künstliche Nachbildung der-
selben.
Am höchsten schätzte Paracelsus die Thermen von Pfafers, ihnen
^
Ausgabe von Hugo Schulz, Greifswald, p. 83.
Ausgabe von Hugo Schulz, Greifswald, p. 414.
592 von Oefele.
zunächst die von Teplitz, Wildbad und Baden. Unter den heilkräftigen
Trinkwässern preist er am meisten St. Moritz im Engadin. Er hat
sich Verdienste erworben um die Kenntnis der Heilquellen der Schweiz
und der rheinischen Säuerlinge.
Vonn dem Bad Pfeffers in Obeischwytz gelegen, Tugenden,
Krefften vnnd würckung, Vrsprung vnnd herkommen, Regiment
vnd Ordinantz, Durch den hochgeleerten Doctorem Theophrastum
Paracelsum etc. 1535 gedruckt. — 1562 erschien zum ersten
Male durch Boden stein publiziert: Baderbüchlein. Sechs köft-
liche Tractat, armen und reychen nutzlich vnd notwendig von
wafferbädern. Woher die felbige warm, vnd andere waffer kalt,
vnnd aufs was vrsach fy foUicher gewaltiger kräfften, das jhr
vrfsprung mit wachfender arth aufs der erdtglobel, gleich wie
die kreuter vnnd böwme von jhrem famen, mit fchönem bericht,
wie mennigklich jhrs brauchs fich behelffen mag. etc. (Sudhoff,
die unter Hohenheim's Namen erschienen Druckschriften Ber-
lin 1894).
Die Chemie der Heilquellen war aber in diesen Anfängen npch sehr
kindlich: ,,Wo das Salz nicht wäre, wären alle Metalle Wasser und das
Gestein dergleichen ; so folgt aus dem, dass aus Zerbrechung des Salzes
wiederum Metallen und Stein zu Wasser werden. ... So ein Metall über
sein Zeit daliegt und dieser kalten Feuchte unterworfen wird, wie ein Eisen
dem Rost, der Rost der Humidität, alsdann folgt desselben Erz Resolvierung
und was sich resolviert, das centriert sich zum Brunnen , . . und gibt den
Ursprung der leiblichen Wasser. , . . Also werden viele mineralia, die in
vollkommener Geburt sind, vom Menschen nicht ausgegraben werden und
über ihr Zeit liegen, verloren und verwandeln sich in Wasser. . . . Solcher
Wasser species erscheinen in mancherlei Weg. Einmal aus jeglichem Metall
ein besonderes und auch dieselbigen stärker und schwächer. ... Es begeben
sich auch mancherlei . . . rechte Wasser laufen aber über ein Erz, von
welchem sie Art empfahen. Dersclbigen Kräfte sind aber nicht voll-
kommen. . . . Die Ursach der warmen Bäder . . . dass ein jeglicher Kalch
das Wasser heiss macht, so über ihn gössen wird, also mögen auch die
Wasser aus dem Kalch der Erden solche Hitz empfahen. . . . Die Tugen-
den der Wasser sind so viel und mancherlei, so viel und mancherlei species
der Krankeiten sind. ... Es ist das höchst an einem Arzt, der die Kranken
in die Bäder schickt, anfänglich zu wissen, ob derselbig Krank in keinerlei
Weg durch andere Arznei möchte geheilt werden. Aber der Brauch ist
also, so ein Arzt an einem Kranken verzweifelt oder besorgt zukünftig
Böseres, dass einem solchen in ein Bad gerathen wird zu einer Ent-
schuldigung."
Wenn wir Paracelsus als beredten Empfehler einzelner Quellen
kennen lernten, so musste sein unleugbarer Einfluss auf das chemische
Denken auch jener Aerzte, welche in keiner Weise zur Schule des
Paracelsus gehören wollten, der Anerkennung der Balneotherapie
schaden. Denn bis zu einer wirklich chemisch-pharmakologischen Auf-
fassung der balneologischen Erfolge mussten noch mehr als drei Jahr-
hunderte vergehen. Auch das 19. Jahrhundert konnte den mystischen
Quellgeist noch nicht aus den Köpfen aller angeblich wissenschaft-
lich gebildeten Baineologen vertreiben. Und die wirklich nüchternen
chemischen Anschauungen sind noch in keiner Weise unantastbar fest-
Geschichte der Balneologie und der Grenzgebiete in der Neuzeit. 593
gelegt; denn die lonenlehre hat erst neuerlich diese Anschauungen
bis auf den tiefsten Grund aufgerührt und umgestaltet. Und kein
Mensch weiss, was hier wenige Jahre an tiefgehenden Umgestaltungen
bringen können. Ernste Bearbeitung der Ionen fehlt noch.
Beim Aufblühen der Naturwissenschaften musste vorerst die
Wirkung der Quellen als etwas Imponderabiles als Einbildung zurück-
gedrängt werden. In konservativen Laienkreisen behielten die Bade-
orte ihr Ansehen wieder mehr trotz der wissenschaftlichen Vorkämpfer
der Heilkunde als d u r c h diese. Die Bäder wurden wieder zum ultimum
refugium des chronischen Patienten, wenn sich Patient und Hausarzt
nicht mehr verständigen konnten. Die Badeärzte wurden somit als
eine bessere Sorte Pfuscher und Charlatane der oberen Zehntausend
angesehen, während die contribuens plebs oft schon von Anfang an
aus Armut die Aerzte umgehen musste und unter den Hausmitteln
unapprobierter Heilkünstler gelegentlich auch mit Hydrotherapie und
ähnlichem behandelt wurde. Die „wissenschaftliche" Medizin fand
zudem ja schon im corpus hippocraticum in „de aere, aquis et locis"
eine Verurteilung aller ausgesprochen mineralhaltigen Quellen.
Im Papyrus Brugsch ist altägyptisch niemals nach den Zusammen-
stellungen Neuburgers Salz innerlich verwendet. Auch Dioskurides
vermeidet in seiner langen Besprechung des Salzes jede innerliche
Empfehlung. Wenn hier das Salz ein Massstab dafür sein darf für
die geringe Schätzung der Mineralien und Mineralquellen bei den
vorhippokratischen und klassischen Kulturvölkern des Mittelmeer-
beckens, so ist die Wertschätzung bei den Nordariern um so höher.
Nach Tacitus führten die Chatten und Hermunduren im Jahre 58
n. Chr. wegen heiliger Salzquellen in ihrem Grenzbezirke einen er-
bitterten Kampf, was Sooden a. d. Werra, Soden-Salmünster und
andere Orte auf sich zu beziehen geneigt sind.
Diesen heiligen Quellen des Norden wurden schon prähistorisch
kostbare Geschenke in Gestalt von Schmucksachen oder Geld ge-
opfert. Das Gebiet von Pj'rmont war niemals in dem Grade und auf
die Dauer dem römischen Reiche angegliedert, dass P^-rmont als
römische Badegründung erscheinen könnte. Die Möglichkeit zur Ent-
wicklung eines römischen Badelebens war durch die Gefahr von
Ueberraschungen ähnlich der Schlacht im Teutoburger Walde aus-
geschlossen. Im Jahre 1863 bei der Neufassung des Brodelbrunnens
in PjTmont wurden 1 Schöpfgefäss, circa 200 Fibeln und 3 Denare
auf dem Boden der Quelle gefunden, deren jüngste den Kopf des
Kaisers Caracalla trägt. Pyrmont ist somit ein altgermanisches Bad,
das schon in römischer Kaiserzeit bestand.
Die Kochsalzquellen waren aber wohl am geschätztesten. Schon
lange vor Gründung des Bonifaciusklosters (744) am Ufer der Fulda
soll ein ansehnlicher für jene Zeit bedeutender Siedelort im Gebiete
der Salzquellen von Soden-Salmünster entstanden sein. In der zweiten
Hälfte des 8.' Jahrhunderts wird unter dem älteren Namen Westera
Sooden zum erstenmal sicher genannt, als der Frankenkönig den Ort
mit vielen Salzwerkstätten und reichen Quellen Salzes dem Stifte
Fulda zum Geschenke macht.
Die Quellen werden meist nur gelegentlich in der Geschichte der
Klöster genannt, so dass die heidnische Voi'geschichte verschollen ist.
Ungefähr 1140 war in Rippoldsau ein Benediktinerkloster gegründet
worden. Rippoldsau selbst wird 1178 zum erstenmal in einer Urkunde
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 38
594 "^on Oefele.
erwähnt. Man schliesst daraus, dass die Benediktiner die Mineral-
quellen aufgefunden haben. Ebenso berechtigt ist aber der Schluss,
dass die Benediktiner einen alten Quellkultort zur Klostergründung
gewählt hatten. Denn das Laienelement blieb meist auch im Bereich
der Quellen angesiedelt und wuchs mit den Klöstern. Als Barbarossa
(1190) in seiner Pfalz in Gelnhausen weilte, hatte sich Soden-Sal-
münster zu einem Städtchen entwickelt.
Die slavischen Völker schätzten auch schon prähistorisch die Heil-
quellen. An der Stelle des jetzigen Ortes Salzbrunn bestand bereits
1221 eine Ansiedelung deutscher Kolonisten. Die Namensgebung
Salzbrunn setzt schon vor 1221 die Bekanntschaft der Polen mit der
Existenz der Mineralquellen voraus und da in der Vorzeit nur der
angesiedelte Volksstamm Eigentümer und Nutzniesser der Quellen war,
so erscheint 1221 der Uebergang alter polnischer Quellen in deutsches
Eigentum. Die Existenz der Quellen dürfte ausschlaggebend gewesen
sein, die Wahl des Ortes für wertvoll erscheinen zu lassen.
Im Jahre 1296 wurde durch König Adolf von Nassau auf dem
Reichstage zu Tribur dem Bade Soden-Salmünster unter dem Namen
Stolzenthai Stadtrechte verliehen. Wir sehen damit, welchen Auf-
schwung im Mittelalter das Badewesen nahm.
Die angeführten Beispiele und viele andere Erwähnungen sind
aber nur Gelegenheitsnachrichten, so dass selbst das prähistorische
Bad P3Tmont historisch zuerst vom Dominikaner Heinrich von Her-
vorden (f 1373) mit seinen Quellen erwähnt wird, indem er die Fassung
zweier Quellen des Brodelbrunnens (fons buUiens) und der Trinkquelle
(fons sacer) bespricht.
Im Jahre 1385 ist der Ort Salzbrunn schon derartig angewachsen,
dass eine Teilung in die Gemeinden Ober- und Niedersalzbrunn
erfolgte.
In die letzte Periode des Mittelalters fällt die Glanzzeit von
Soden-Salmünster durch einen schwunghaften Salzhandel. Damals
wurde der ältere Name Stolzenthal durch die Sood (später Soden) als
die damals allgemein gebräuchliche Bezeichnung für eine Salzsiede-
stätte verdrängt. Wie Ausgrabungen im Jahre 1837 ergaben, besassen
diese Quellen eine uralte herrliche Fassung von Blei und schweren
Eichenhölzern. Die Badeorte waren reiche Orte infolge der Wert-
schätzung bei den Laien.
In konservativer Erhaltung von Aeusserlichkeiten äussert sich
dieser Einfluss der Laienwelt z. B. dem Becher von 6 Unzen, der sich
dem metrischen Systeme höchstens in Abzug einer Unze oder Zusatz
einer halben Unze anschmiegt. Baden bei Wien, Baden-Baden,
Pyrmont, Wiesbaden, Schwalbach, Spaa behielten ihren Ruf vom Alter-
tum auch in die Neuzeit hinein. Karlsbad, Teplitz, Wildbad und viele
andere kamen zu neuem Rufe. Johann Winter von Andernach konnte
1565 ungefähr 75 Badeorte aufzählen. Der Regensburger Arzt Ruland
gab 1568 schon 28 Blätter alphabetisches Verzeichnis von Erkrankungen
mit Indikation der geeigneten Badeorte jedenfalls aber noch ohne die
bei Rudolf Mosse nötige Insertionsgebühr. Von den bekannteren
Aerzten verfassten noch Etschenreutter (1571), Baccius (1571), Thur-
neysser (1573), Tabernämontanus (1584) und Bauhinus (1588) balneo-
logische Schriften.
Von einem Uebermasse der balneologischen Litteratur kann noch
nicht die Rede sein und ihren Zweck hat sie auch erreicht; im
Geschichte der Balneologie und der Grenzgebiete in der Neuzeit. 595
16. Jahrhundert haben erst die Badestuben, aber noch nicht die Mineral-
bäder unter dem Niedergänge des Badewesens zu leiden. Im 17. Jahr-
hundert setzt dann die Hochflut der balneologischen Schriften pro
domo ein, ohne den Rückgang des Besuches der Mineralbäder auf-
halten zu können. Es ist die Zeit allgemeinen Niederganges.
So wurden durch elementare Ereignisse (Ueberschwemmungen)
sowie durch den Bauernkrieg und den dreissigj ährigen Krieg die An-
siedelungen und die Quellfassungen von Soden-Salmünster zerstört und
Hessen diese Quellen in völlige Vergessenheit geraten. Doch treten
auch noch neue Quellen auf. So wird 1601 im Catalogus stirpium et
fossilium Silesiae des Hü'schberger Arztes Caspar Schwenckfeld zum
erstenmal der Oberbrunnen in Salzbrunn als Heilquelle (Salsula) ge-
nannt. Die Indikationen sind schon scharf umschrieben und ent-
sprechen den modernen für die gleiche Quelle.
Nachdem ein öifentlicher ..Truck" etlicher Aerzte oder Doctores
im Jahre 1556 in vier Wochen über 10000 Gäste nach Pyrmont ge-
lockt hatte, kam der Rückschlag, dass im 17. Jahrhundert mit der
Aufzählung von Misserfolgeu in den Bädern von Seite der ärztlichen
Schriftsteller nicht zurückgehalten wurde z. B. Solenander, Dortomann,
Bauhin und Toxites. De Montaigne zählt als die bedeutendsten Bäder
seiner Zeit Banieres in Frankreich, Plombiers in Lothringen, Baden
in der Schweiz und Lucca (Villa) in Toscana auf.
Pyrmont blieb im 17. und 18. Jahrhundert das Bad der Fürstlich-
keiten. Im Jahre 1681 waren nicht weniger wie 40 fürstliche Persön-
lichkeiten in Pyrmont vereint. Im Jahre 1683 besuchte der grosse
Kurfürst mit zahlreichem Gefolge und 600 Pferden wiederum das Bad.
Durch die Entdeckungen von Boyle, Glauber, van Helmont u. a.
wurde die chemische Untersuchung der Mineralwässer ermöglicht, die
sich vorzüglich allerdings nur mit der Kohlensäure, dem Eisen und
der Bestimmung des Abdampfrückstandes befasste. Baco von Verulam
konnte dadurch dem Gedanken der künstlichen Herstellung der Mineral-
wässer schon einen Schritt näher als Paracelsus treten.
In dem Bestreben, den Badeschriften, welche doch in erster Linie
für Laien bestimmt waren, das Beiwerk modernster Wissenschaft
äusserlich zu geben, werden die chemischen Analysen der Wässer auf-
genommen, z. B. Albinus über den Brunnen zu Freienwalde (1685), Joh.
Christ. Strauss über diejenigen von Karlsbad, Fovet über die Thermen
von Vichy (1686), Horst über Selters 1682, Peirie über Bath 1694.
Auch die ersten Lehrbücher der Balneologie stammen aus dem 17. Jahr-
hundert.
Friedrich Hoffmann (1660 — 1742) besuchte zahlreiche altbekannte
Mineralquellen wie Spaa, Selters, Schwalbach, Karlsbad etc., prüfte sie
und beschrieb sie. Neu führte er z. B. Lauchstedt bei Halle ein. Die
Methodus examinandi aquas salubres schrieb er 1708. Seine Quellen-
systematik ist in der Grundlage bis heute beibehalten worden trotz der
seitherigen grossen umwälzenden Fortschritte der Chemie, ein Zeichen,
dass die Wissenschaftlichkeit der Balneologie in den grösseren Zügen
bald zwei Jahrhunderte dem Stillstand verfallen ist. Hoffmann teilte
die Quellen in indifferente Thermen, Bitterwässer, Eisen wässer und
alkalihaltige Quellen. Dabei wies er zuerst das Vorkommen der
Alkalien in den Säuerlingen nach.
Hoffmann erfand die Zusammensetzung des Sal Sedlinense und des
Sal thermarum Carolinensium und die Nachbildung der Säuerlinge und
38*
596 von Oefele.
veröffentlichte 1722 eine Anleitung zur künstlichen Nachbildung von
Mineralwässern.
Der Mineralwasserverbrauch liess solche Versuche in jener Zeit
lohnend erscheinen. Denn der Mineralwasserversand war schon sehr
bedeutend, so dass nach Dr. Marcurd z. B. 1785 500000 Flaschen
allein von Pyrmont nach England ausgeführt wurden.
Im Jahre 1747 wurde Brückenau medizinisch bekannt und er-
lebte seine erste Blüte unter den Fürstbischöfen von Fulda. Und
schon zwei Jahre später kennt Schlereth (1749) den Nutzen des
Mineralwassers von Brückenau bei Steinleiden. Wie die Quellen so-
vieler späterer Badeorte waren die Mineralbrunnen des Bades Brückenau
zum Teil schon in alter Zeit bekannt und als erquickender Labetrunk
und wohl auch als Gesundbrunnen erkannt und geschätzt. Im Jahre
1747 wurden durch den Fuldaer Fürstbischof Amand von Buseck, den
Landesherrn des sogenannten Buchenlandes, die Heilquellen neu ent-
deckt und gefasst. Derselbe zeigte grosses Interesse für die Hebung
des Kurortes; er erbaute eine Anzahl Kurhäuser für Gäste, liess die
Sinn überbrücken und die Hauptallee mit vier Baumreihen anlegen.
Fürstbischof Heinrich von Bibra (1759 — 1788) brachte dann das Bad
Brückenau zur höchsten Blüte.
Stahl in Halle und Boerhave in den Niederlanden veröffentlichten
Einzelforschungen zur Balneo-Pharmakodynamik. Der schwedische
Leibarzt Urban Hjärne (1641 — 1724) bemühte sich eifrig um die Er-
schliessung der schwedischen Heilquellen. Besonders in Deutschland
und Frankreich mehren sich die balneologischen Veröffentlichungen. Der
Chemiker Venel (1723 — 1775) untersuchte im Auftrage der französischen
Regierung sämtliche mineralhaltigen Quellen Frankreichs systematisch
und publizierte deren Analysen. Venel verbesserte auch Hoffmanns
Versuche zur Bereitung künstlicher Mineralwässer.
Die Verwendung der Mineralquellen war aber und blieb in der Praxis
wie die übrige praktische Therapie bis heute reine Empirie. Anläufe,
aus dem Gewerbe der Medizin eine Wissenschaft zu machen, finden
sich für die Balneologie bei A. v. Haller (1765), Seguin (1792) und
Abernethy (1797).
Der Schein der Wissenschaftlichkeit durch begrenzte Indikationen
für die einzelne Quelle und das Streben nach möglichst vielen Bade-
besuchern liess den Wunsch nach einer Vielheit von Quellen im ein-
zelnen Bade aufkommen. Wer sucht, der findet. 1790 wurde in
Obersalzbrunn in Schlesien zu den bisherigen Quellen der Mühlbrunnen
entdeckt und seit 1802 therapeutisch verwendet. Andere Beispiele
seien übergangen!
Im Jahre 1797 berichtet Zwirlein von Brückenau, dass bei
Fehlern der Nieren und Blase, insbesondere aber bei Sand, Gries und
Stein schleunigste Hilfe durch diese Wässer erzielt wurde.
Samuel Gottlieb von Vogel (1750—1830) führte für Deutschland
zuerst den therapeutischen Gebrauch der Seebäder ein (1794). Doberan
bei Rostock und Norderney sind die ältesten Seebäder Deutschlands.
Den Aufschwung Doberans veranlasste Vogel und nach ihm Johann
David Wilhelm Sachse (1772-1860).
Eine Uebersicht über die Fortschritte und Leistungen auf dem
Gebiet der Balneologie für das 18. Jahrhundert bietet, nachdem hier
das empfohlene Buch von Lersch summarisch zu werden beginnt,
Sprengel in seinem 5. Bande der Geschichte der Arzneikunde (p. 548 ff.).
Greschichte der Balneologie und der Grenzgebiete in der Neuzeit. 597
Für das 19. Jahrhundert kommen die Fortschritte in den Quellen-
analysen durch Berzelius. Liebig und Fresenius in Betracht. Friedrich
Adolph August Struve (1781—1840) veröflfentlichte in Dresden (1824
bis 1826) 2 Hefte „üeber Nachbildung der natürlichen Heilquellen"
und wurde dadurch der Begi'ünder der künstlichen Mineralwasser-
fabrikation. Er eröffnete in Dresden die erste seiner Anstalten, der
bald zahlreiche ähnliche an anderen Orten folgten.
Im 19. Jahrhundert wurden die kompUatorischen Handbücher über
allgemeine Balneologie häufiger und entsprachen einem Bedürfnis der
ärztlichen Praxis. Wenigstens in der sogenannten Praxis aurea wurde
der Hausarzt resp. Consüiarius zur indikatorischen Auswahl von Bädeni,
Luftkurorten und klimatischen Kuren herangezogen. Die Eeisever-
binduugen verbesserten sich, die Reiselust mehrte sich und eine wachsende
Zahl von Kurorten selbst in grösserer Entfernung fiel in den Bereich
der möglichen Auswahl. So wurden die Lehrbücher der Balneologie
ein Bedürfnis des beschäftigten Hausarztes.
Eine physikalisch-medizinische Darstellung der bekannten Heil-
quellen der vorzüglichsten Länder Europas erschien vom Neffen und
Schwiegersohn C. W. Hufelands, nämlich von Emil Osann (1787 — 1842)
in Berlin 1839—1841. August' Vetter (1794—1850) schrieb ein theo-
retisch-praktisches Handbuch der allgemeinen und speziellen HeilqueUen-
lehre (Berlin 1845). Als Ergänzungen solcher Werke wurden bei der
Hochflut der balneologischen Flugschriftenlitteratur Uebersichten über
die Erscheinungen kürzerer oder längerer Perioden notwendig. So
besitzen wir von Burkard Eble (Wien 1840) einen Ueberblick der Fort-
schritte und Leistungen auf dem Gebiete der Balneologie für 1800
bis 1825.
Eine geographisch begrenzte Bibliographie stellt Fascikel lY, 3
der Bibliogi'aphie der schweizerischen Landeskunde dar. Hier hat
1900 Reber in Genf den ..Versuch einer schweizerischen Bibliographie
der Litteratur auf den Gebieten des Badewesens, der Heilquellen, der
klimatischen Kurorte u. s. w." ein klein gedrucktes Heft von 111
Seiten zusammenstellen können, wobei nirgends auf den Lihalt ein-
gegangen wird, sodass wir einzig Buchtitel erfahren. Bedenken wir
die geringe Ausdehnung der Schweiz, so berechnet sich für die balneo-
logische Weltlitteratur ein grosses Lexikonwerk, wenn nui- die Titel
der Badeschriften zusammengetragen werden sollten. Der grösste
Teil dieser Schriften trägt Jahreszahlen aus dem 19. Jahrhundert und
zwar meist aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Manche Bäder verblassen in ihrem Ruhme, wobei geographische
Verschiebungen der Mode eine Rolle spielen. So erhielten im 19. Jahr-
hundert die Bäder in den Gebirgen beiderseits des Rheines die Gunst
des Publikum in erhöhtem Masse, während die fränkischen Bäder
z. B. Rothenburg ob der Tauber und Wildbad bei Burgbernheim in
Vergessenheit gerieten und deshalb die Quellfassungen und andere
Einrichtungen in den Verfall kommen lassen mussten.
Die beliebige Vermehrung der Mineralquellen wird mit dem
19. Jahrhundert ermöglicht. Angeblich soll schon den alten orien-
talischen Kulturen eine Brunnenbohrtechnik eigen gewesen sein, so
dass die Erbohrung des Brunnens des Kartheuserklosters zu Lillers in
Artois (1126) nur alte Tradition verwandt hätte. Glaubhaft sind diese
Angaben bei der Einfachheit der Grundlage für die Seilbohrung. Im
letzten Jahrhundert trat aber das feste Gestänge und die Dampf-
598 "«"on Oefele.
mascliine in den Dienst der Bohrtechnik. Immerhin waren die gebräuch-
lichen Durchmesser der Bohrlöcher von meist 6 Zoll ziemlich Zeit und
Geld raubend und konnten infolge der unnötig grossen Erschliessungen
von Wassermassen z. B. in Schneidemühl zu unangenehmen Ereignissen
führen. Vereinfachungen der Bohrinstrumente ermöglichten aber auch
billige Bohrungen bei geringen Tiefen schon von Vj^ Zoll Durch-
messer und bis zu mehreren Hundert Meter Tiefe mit 2 Zoll Durch-
messer. Die Fortschritte der Geologie konnten zur Beratung zu Hilfe
genommen werden. So konnten künstliche Quellen und Brunnen nicht
nur zur Versorgung mit Nutzwasser, sondern auch Mineralwässer er-
schlossen werden, wie Oeynhausen, Nauheim, Neuenahr^) und un-
zählige andere.
Im Jahre 1812 kam zum erstenmal von auswärts ein Patient nach
Obersalzbrunn. Im Jahre 1816 veranlasste dann dort der spätere
Brunnenarzt Zemplin die Einrichtung einer ordnungsmässig geleiteten
Brunnenanstalt. Im gleichen Jahre ist hier der Uebergang des Bades
Brückenau an das Königreich Bayern einzuschalten, dessen Regierung
nun die Verwaltung des Bades übernahm. Seit 1818 ist dann in
Obersalzbrunn auch die KronenqueUe bekannt, welche aber erst seit
1881 therapeutisch benutzt wird und zwar fast nur als Versand-
wasser.
Seit 1819 wird "Wyk auf Föhr als ältestes unter den nordfriesischen
Seebädern besucht, nachdem Norderney in Ostfriesland schon vor 1783
in Aufnahme gekommen war. In England war 1751 ßussel, de usu
aquae marinae in morbis glandularum als erste Schrift über Seebäder
erschienen.
Für jene Zeiten charakteristisch ist es, dass 1820 und 1821 für
das junge Bad Obersalzbrunn die Errichtung einer grossen Molken-
anstalt und einer Filialapotheke als nötig befunden wurde.
Wenn bisher meist weltliche und geistliche Fürsten als Begründer,
Förderer und Besitzer von Bädern erscheinen, so werden im 19. Jahr-
hundert Erschliessung und Ausnützung von Heilbädern Anlagen für
bürgerliches Kapital. Rippoldsau ging 1824, nachdem es lange Jahre
nur mit kurzen Unterbrechungen im Besitze des Hauses Fürstenberg
war, an die Familie Goeringer über. Viele Bäder bleiben aber fürst-
liches oder staatliches Eigentum. Erwähnenswert ist hier, dass König
Ludwig I. von Bayern 26 Sommer regelmässig Brückenau besuchte,
was diesem Bade sehr zum Vorteil gereichte. Er Hess die Anlagen
erweitern und verschönern, neue Fahr- und Reitwege, Aussichts-
plätze etc. anlegen. Aus der Geschichte Brückenaus ist 1823 an
Stelle des alten engen Badehauses ein neuer Badbau zu verzeichnen.
Die Quellen erhielten 1827 eine neue Fassung, was zu ihrer Ergiebig-
keit wesentlich beitrug, und zwar die Stahlquelle eine Schachtfassung
und die Wernazer Quelle eine eiserne Röhrenfassung. Von 1827 — 1833
Hess Ludwig I. in Brückenau nach Guttensohus Entwurf einen neuen
prachtvollen Kursaal aufführen.
Die Zeit wurde auch wieder Neugründungen von Bädern hold.
Im Jahre 1833 wurde die Eigenschaft der Arminiusquelle in Lipp-
springe bei Paderborn erkannt und darauf das Bad begründet, das
im Jahre 1901 5000 Besucher zählte. Im Jahre 1837 wurden in
^) Schriften über Bad Neuenahr auch aus der Feder des Verfassers, der daselbst
seit über ein Jahrzehnt praktiziert.
I
Geschichte der Balneologie und der Grenzgebiete in der Neuzeit. 599
Soden-Salmünster die uralten, vergessenen Quellfassungen aufgefunden
und von neuem zu Trink- und Badezwecken nutzbar gemacht.
Im Jahre 1845 wurden in Brücken au eisenhaltige Moorbäder ein-
geführt und 1846 die Molkereianstalt gegründet und 1856 die Wernazer
Quelle zum letztenmal und zwar durch Scherer in Würzburg ana-
lysiert. Nun hört die staatliche Fürsorge auf. Die politischen Ver-
hältnisse verringern 1864 und 1866 die Frequenz und 1875 geht
Brückenau aus dem staatlichen Eegiebetrieb in die Pacht privater
Kapitalisten über, womit wir dies Beispiel eines Bades aus Fürsten
Gunst verlassen wollen.
Die Fluten der Nordsee vernichteten 1855 das blühende Nordsee-
bad Wangerooge, das sich später erst allmählich wieder in die Höhe
schwang. Im Jahre 1857 wurden durch den'Altonaer Arzt Dr. Boss
die Bäder Westerland und Wenningstedt auf Sylt begründet und haben
sich so sehr entwickelt, dass 1901 die Frequenz die Zahl von 16000
überschritten hat.
In Eippoldsau wurde 1862 die neue Badquelle gefasst.
Seit 1872 wurden auch die Herzkrankheiten, welche früher eine
Kontraindikation für Badekuren waren, einer rationellen Badebehand-
lung zugeführt dadurch, dass Benecke fand, dass lauwarme Nauheimer
Soolbäder regelmässige Beruhigung der Herzthätigkeit bewirkten. Es
giebt kaum mehr eine Indikation, welcher nicht das eine oder andere
Bad entspricht. Dazu machte sich der internationale Wohlstand in
der Friedensperiode des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts gelte^tid.
Auf das Anwachsen des Fremdenverkehrs wurde schon mehrfach hin-
gewiesen. Pyrmonts Fremdenverkehr hat sich von 1873 bis 1901 mit
20000 Besuchern ungefähr verdoppelt.
Wislicenus in Würzburg analysierte 1877 die Moorerde von Gers-
feld bei Brückenau, welche vielfach auch nach anderen Badeorten
durch Bahn verschickt wird. 1877 bis 1891 war Wehner alleiniger
Arzt in Brückenau und die Hälfte der dortigen Badegäste litt an
Frauenkrankheiten ; nur 7,3 % waren Harnkranke. Nach einer
Publikation Wehners im Jahre 1883 über die Erkrankungen der
Harnorgane liessen sich mehrere Spezialärzte nieder und die Harn-
kranken stiegen auf den grössten Anteil der Besucher. So wechseln
auch in anderen Bädern die Indikationen. Meist sind es aber uralte
Indikationen, welche wieder neu in den Vordergrund treten.
Freudenstadt im Schwarzwald begann 1879 als Luftkurort be-
sucht zu werden und stieg bis 1901 in der Frequenz auf 4000 an.
Der deutsche Verein für Kinderheüstätten an der See eröifnete
1883 seine Thätigkeit mit der Erbauung eines Hospizes in Wyk,
In Obersalzbrunn wird seit 1885 die Aufnahme des Kefirver-
brauches datiert. In allen grösseren Städten wurden fast gleichzeitig
Kefiranstalten eröifnet. Ein nennenswerter Verbrauch über die Zeit
der Neuheit hinaus hielt sich nur in den Badeorten.
Rippoldsau hat 1888 seine Moorbäder neu eingerichtet, wozu
Moorerde aus Franzensbad bezogen wurde.
Obersalzbrunn datiert die Einführung der Sterilisation der Kuh-
milch vermittels Riedel-Hennebergschen Dampfapparates von 1891.
Diese und ähnliche Neuerungen drängten in den Badeorten die früher
beliebten Kuren mit Milch von Eselinnen, Ziegen oder Schafen zurück.
600 von Oefele.
In Soden-Salmünster wurde 1896 am östlichen Abhänge des Burg-
berges unabhängig vom Soolbade eine Wasserheilanstalt Sanatorium
Stolzenberg errichtet. (Siehe folgende Abschnitte.)
Brückenau feierte 1897 das 150 jährige Jubiläum. In der Jubiläums-
festschrift fand die Geschichte des Bades ihre Bearbeitung durch Prof.
Dr. Hans Reidelbach (München 1897). Die Geschichte der Badeorte
war allmählich zu einem beliebten Studium lokalpatriotischer Forscher
geworden. Kaum ein besseres Bad versäumte es mehr seinen Eeklame-
schriften einen historischen Abschnitt einzufügen. Zur Orientierung
über die Geschichte der Balneologie sind diese Schriftchen zu wert-
vollen sekundären Quellen geworden, deren ich hier eine Eeihe be-
nützt habe. Eine grössere Zahl umfassend zu verwenden würde den
Umfang des Werkes weit überschreiten. Der wissenschaftliche Ge-
halt der Reklameschriften wurde auch mehrfach durch Zusammen-
schluss mehrerer Mitarbeiter erhöht. In Brückenau wurde 1899 das
Kollegium der Badeärzte gegründet, das gemeinsame Schriften heraus-
giebt. An anderen Orten steckt aber mehrfach noch Badedirektor
und ein einzelner Patienten bedürftiger Arzt unter einer Decke zur
Herstellung einer unlauteren Reklameschrift, durch welche andere
Kollegen benachteiligt werden.
Die Zunahme der Frequenz wurde mehrfach erwähnt. Von 1858
bis 1899 hat sich die Zahl der Badegäste von Wyk von 600 auf 5170
vermehrt. Das entspricht aber kaum einem höheren Gewinn der
Badeorte, da die Anforderungen des Badepublikums ganz unverhältnis-
mässig wuchsen. Herbergen, mit welchen vor wenigen Jahrhunderten
Fürsten sich begnügten, würde heute kein Arbeiter einer Fabrik-
krankenkasse beziehen. In Brückenau wurde 1900 das neue Kurhotel
eröffnet, das auf Staatskosten mit einem Aufwand von circa ^!^ Million
Mark erbaut wurde; demgegenüber betrug die Frequenz von 1899
doch nur 2300 Badegäste.
Auch die Brunnenkur ferne der bestimmten Quelle stieg wieder
und damit der Versand des Wassers. Von 1868 bis 1900 stieg z. B.
der Versand des Salzbrunner Oberbrunnens von 126152 auf 1249104
Flaschen, hat sich also fast verzehnfacht, während der Versand von
1855 bis 1868 mit geringen Schwankungen konstant geblieben war.
Eine neue Zuthat der Bäder war die Fangobehandlung, welche
z. B. Sooden neben den genuinen Soolbädern 1902 einführte. Einen
Schritt weiter muss die Neuschaffung von Bädern an einem willkür-
lich von Menschen gewählten Orte genannt werden. So hat das Kur-
etablissement Seelisberg am Vierwaldstättersee 1902 eine vollständige
hydrotherapeutische Anstalt, Douchen, Wickel- und Massageräume,
kohlensaures Bad und elektrisches Bad neu eingerichtet.
Wissenschaftliche physiologische Fragen wurden unter balneo-
logischen Bedingungen studiert. Braun, Beneke, Marcard und Petri
lieferten Arbeiten über die Veränderung der Pulsfrequenz beim Ge-
brauch der Bäder. Genth (1856) studierte die Wirkung von Trink-
kuren auf den Stoffwechsel, Mosler die Wirkung von gewöhnlichem
Wasser auf den Stoffwechsel, C. G. Lehmann, L. Lehmann und Lieber-
meister die Bestimmung der Kohlensäure im allgemeinen und speziell
in den Soolthermalbädern, Röhrig (1870) die Resorptionsverhältnisse
im Bade.
Die Bäder waren immer mehr oder weniger Orte für Spezial-
behandlung gewesen. Der allgemeine Zug zum Spezialistentume im
Geschichte der Balneologfie und der Grenzgehiete in der Nenzeit. 601
19. Jahrhundert veränderte darum die Bäder nur noch mehr in der
Eichtung. Orte zu werden, welche auch abgesehen von der spezifischen
Wirkung der Quelle oder Quellen alles zu vereinigen und zu bieten
suchten, was für ein einzelnes oder wenige bestimmte Leiden der
Fortschritt oder die Polypragmasie der Therapie ersinnt. Diesen Be-
trieb von Saison zu Saison zu unterbrechen, verlangte hohe finanzielle
Opfer. Klimatisch begünstigte Thennalbadeorte richteten sich nun zu
"Winterkuren ein, z. ß. Wiesbaden und Baden-Baden.
Das Klima wurde aber auch in anderer Eichtung direkt als Heil-
faktor verwendet. Nicht nur die klimatotherapeutischen Eeisen aus
ältester Zeit nach Aegypten kamen wieder in Auftiahme, sondern in
Deutschland selbst entwickelten sich klimatische Heilanstalten. 1854
gründete Dr. Hermann Brehmer in Görbersdorf in Schlesien eine Heil-
anstalt für Lungenkranke, welche allen späteren Sanatorien als Muster
diente. Für die Therapie der Phthise begann Brehmer und es dürften
sich bald noch eine Eeihe von anderen Indikationen anschliessen.
Schon wird tür Psychosen ein ähnliches Prinzip anerkannt und, unter
dem Namen „Nervenheilanstalten" verdeckt, den staatlichen Irren-
häusern in den Kreisen dei- zahlungsfähigen Patienten erfolgi'eich
KonkuiTenz gemacht.
Für Sanatorien ist nicht der enge Bezirk einer Quelle mit excep-
tionellen chemischen oder physikalischen Eigenschaften nötig: sondern
meist fern der Grossstadt bietet ein grösserer Bezü'k durch Klima,
Höhengliederung und Bewuchs, aber auch durch nahe verwandtschaft-
liche Beziehungen des ersten Unternehmers zu den einflussreichsten
Einwohnern und durch relativ geringere Hindernisse von Seite des
Bureaukratismus besonders günstige Bedingungen für alle jene Ein-
richtungen, welche auf den Verlauf irgend einer Krankheit oder ihrer
Eückbleibsel bessernden oder heilenden Einfluss haben. Ein Punkt
dieses Bezirkes wird nun auch noch durch Menschenhand in eine
Centrale für den dauernden oder zeitweiligen Aufenthalt dieser Kranken
umgestaltet und erhält nun einen ganz ähnlichen Euf in seiner Art,
wie eine natürliche Mineralquelle. AYo der erete Unternehmer seine
Eechnung findet, leiht nach kui-zem ein Finanzmann dem Konkurrenten
das nötige Geld, um nebenan eine zweite Anstalt zu bauen. Der Arzt,
der in der Stadt der Knecht der Kassenvorstände war, wird hier der
Knecht des Geldverleihers. SpezialVerbesserungen werden fortgesetzt
gegenseitig erzwungen durch die Nachbarschaft der Konkurrenz.
Görbersdorf besitzt drei Lungenheilstätten, Bendorf bei Neuwied
mehrere Nervenheilanstalten.
In Pyrmont wurde 1893 im Anschlüsse an die örtlichen Kurmittel
das Helenen-Kinderheim eröffnet und 1901 das Genesungsheim Fried-
richshöhe der Landesversicherung Hannover.
Vielfach wählten diese Sanatorien auch geeignete Badeorte für
ihre Begründung oder stehen anderweitig mit einer vielleicht nur
nebensächlichen Quelle in Verbindung. So denkt wohl niemand bei
dem stark in Aufschwung gekommenen Godesberg am Eheine im
ersten Augenblicke an die dortige Quelle, sondern an die \ielfachen
Sanatorien dieses Platzes. Eine Eeihe von Gästen wird dadurch den
Bädern mit Heilquellen entzogen, während die zunehmenden Verkehrs-
mittel, der zunehmende Wohlstand und die persönliche Steigerung der
Ansprüche an Lebensgenuss immer neue Kreise von Kranken ander-
602 von Oefele.
seits Bädern wie auch Sanatorien zuführt. So blühten besonders in
der Schweiz viele Sanatorien mit internationalen Patienten auf, dank
einer staunenswerten Rührigkeit. Z. B. die ärztlichen Leiter der
Senatorien am Genfer See sind häufig- auf Reisen, um in allen Kultur-
ländern stets die Neuerrungenschaften der Spezialindikation ihres
Senatoriums persönlich kennen zu lernen.
Zwischen Heilquellen und Sanatorien stehen eine grosse Zahl Luft-
kurorte und Aehnliches, so dass eine Scheidung unmöglichst wird. Die
Konkurrenz zwischen den verschiedenen Heilquellen, Luftkurorten und
Sanatorien veranlasste starke Benützung aller Reklamemittel zum An-
locken von Gästen. Die Vorstufen der Verstaatlichung der Standes-
ehre der Aerzte zwangen diese als den durch Schulen gebildetsten Teil
der Badeinteressenten, ihre Reklame hinter wissenschaftlichen Formen
zu verstecken, trotzdem fast immer der wissenschaftliche Inhalt gleich
Null war. Die balneologische Litteratur über jedes einzelne Bad ist
zu einer selbst für den Arzt am Ort unübersehbaren Hochflut ange-
schwollen, welche dem Hausarzte vielfach nicht anders wie die gesamte
Reklamelitteratur Papierkorbfiitter ist. Ausserdem sind zur Be-
stechung gegen ungünstige Artikel für alle Badeverwaltungen hohe
Annoncenaufgaben an Tages- und Familienblätter nötig. Reklame-
unternehmungen wie der Bäderalmanach, welcher seit 1882 erscheint
und sich rühmt, dass der Arzt sicher alles Einschlägige in ihm
finde und doch nur aus sehr einseitig bezahlten Annoncen in
wissenschaftlicher Vermummung besteht, wirken auf die wissenschaft-
liche Balneologie lähmend und vergiftend. Diese Zustände hindern
bis heute auch eine volle Ausdehnung der chemischen Errungenschaften
auf die Klassifikation der Heilquellen. Hält es eine Badeverwaltung
für die Schablone ihrer Reklame für vorteilhafter, so wird ein hoher
Kalk- und Magnesiagehalt wegen der alkalischen Reaktion dieser
Erden dazu herangezogen, diese Quelle alkalisch zu nennen. Ein
anderes Mal muss derselbe Name Vorspann leisten, weil der hohe Ge-
halt der Quelle an Chlor und Schwefelsäure durch Alkalien neutrali-
siert wird. Säuerlinge benennt man mit kühner Wortverkehrung
vorzüglich solche COo-reiche Quellen, welche alkalisch auf Lakmus
reagieren. In kühner Willkür werden in den Analysen Säuren und
Basen verbunden mit demselben Rechte, als ob es sich um die stünd-
lich wechselnde Benennung einer Dirne als Braut durch irgend einen
Zuhälter handelte. Für die Analysen stehen jene Laboratorien im
höchsten Ansehen, welche von den Stoffen der Quellen die längste
Reihe an Dezimalen bieten. Ein Fehler in der zweiten Stelle wird
entschuldigt, wenn das Auge nur die Genugthuung hat, in der 6. Stelle
noch bestimmte, wenn auch nicht stimmende Zahlen zu sehen.
Diesen mannigfachen Auswüchsen gegenüber konnte die Reaktion
nicht ausbleiben. Das Laienelement trat seit einem Jahrhundert
wiederholt hervor, verzichtete nicht nur auf die Haarspaltereien der
chemischen Analysen, sondern überhaupt auf den Gehalt an ausser-
gewöhnlichen Stoffen. Ein Teil der Erfolge früherer Jahrhunderte
an Mineralquellen Hessen sich, wie die Erfahrung lehrte, bei geeigneter
Anwendung mit jedem Wasser erzielen. Was diese Laien, deren
Namensregister ich wohl keinem Arzte zu nennen brauche, angeregt
haben, haben im letzten Jahrhundert vorurteilsfreiere Aerzte als
Hydrotherapie der ärztlichen Wissenschaft angegliedert, wobei aller-
Geschichte der Balneologie und der Grenzgebiete in der Neuzeit. 603
dings einige Aerzte als Opfer dieser laienhaften Einseitigkeit und des
Fehlens genügender praktischer Schulung an den Universitäten für
immer jede Verbindung mit der Wissenschaft verloren, als Strafe des
verschleierten Bildes von Sais.
Wegen der Beschränkung des verfügbaren Eaumes kann auf
Details nicht eingegangen werden. Wenn auch nicht viele Lichtblicke
geboten werden konnten, so ist für die Zukunft der Balneologie doch
insofern eine günstigere Prognose zu stellen, als die Badeärzte bisher
relativ frei von der Bedrückung durch die Krankenkassenentwicklung
geblieben sind.
Geschichte der Perkussion und Auskultation.
Von
Hermann Tierordt (Tübingen).
Litteratur.
Leop. Anenbrugger, Inventum noviim ex percussione thoracis hiimani ut signo
abstrusos interni pectoris morbos detegendi, Vindobonae, J. Th. Trattner, 1761,
8°, 95 S.; 2. Aufl. 1763. Wiederabgedruckt bei: Clar, Leop. Auenbrugger . . .
und sein Inventum novum, Graz 1867 (mit Auenbruggers Bildnis). Wieder-
herausgegeben mit nebenstehender Uebersetzung von 8. Ungar, Wien 1843
(s. a. Haeser, Lehrbuch II p. 638). — Herausgegeben mit französischer Ueber-
setzung und Commentar von : J. N. Corvisart, Nouvelle methode pour recon-
nattre les maladies internes de la poitrine par la percussion de cette cavite,
Paris 1808 (wiederabgedruckt in : Encyclopedie des sciences medicales, Collection
des auteurs classiques, Paris 1838).
«7". If. Corvisart, Essai sur les maladies et les lesions organiques du coeur et des
gros vaisseaux, Paris 1806, 3. Ausgabe 1818.
JB. T. Laennec, Traite de Vauscultation mediate et des maladies des poumons et
du coeur, 2 Vol., Paris 1819. 4. Edition, 3 Vol., 1837 (von Andral). Aus-
gabe der Pariser medicin. Fakultät von 1879 nach der 2. Edition von 1826.
Beste Uebersetzung von Fr. L. Meissner, Abhandlung von den Krankheiten
der Lunge und des Herzens und der mittelbaren Auscultation, Leipzig 1832.
J. A. Le Junieau de Kergaradec, Memoire sur Vauscultation appliquee ä
Vetude de la grossesse ou recherches sur deux nouveaux signes propres ä faire
reconnaitre plusieurs circonstances de Vetat de gestation, Paris 1822. Ueber-
setzt Weimar 1822 (Abdruck aus Froriep's Notizen).
P. A. Fiorry, De la percussion mediate et des signes obtenus ä Vaide de ce
nouveau mögen d'exploration dans les tnaladies des organes thoraciques et ab-
dominaux, Paris 1828. üebersetzt von F. A. B allin g, Die mittelbare Per-
kussion . . . Würzburg 1828.
piorry, TraitS du plessimetrisme et d'organographisme ; anatomie des organes sains
et malades etablie pendant la vie au moyen de la percussion mediate et du
dessin . . . Paris 1866.
Josef Skoda, Abhandlung über Perkussion und Auskultation, Wien 1839, 6. Auf-
lage 1864.
ME. A. Wintrich, Krankheiten der Bespirationsorgane, Erlangen 1854 (in Virchow's
Handbuch 5. Bd. 1. Abteilung).
tTuUus Hofniann, De limitanda laude auscultationis praemissa brevi hujus artis
historia. Dissertatio Lipsiae 1836, Bibliograjihie p. 23.
€r. Joseph, Geschichte der Physiologie der Herztöne vor und nach Laennec bis
1852. Janus [Central-Magazin . . .] IL Bd., Gotha 1853, p. 1, 345, 505.
Geschichte der Perkussion und Auskultation. 605
F. Küclientneister, Die physikalische Diagnostik des Hippokrates in Bezug auf
Krankheiten der Respirationsorgane und der Milz. Schniidfs Jahrbücher
144. Bd., 1869, p. 97.
JP. Iflenieyer, Handbuch der theoretischen und clinischen Percussion und Aus-
cultation. Erlangen, I. Bd. 1869 (Geschichte der Percussion und Auscultation) ;
IL Bd. 1. Äbtheilung 1870, 2. Abth. 1871. 3 Litteraturverzeichnisse.
Lewi, Historische Notiz über die ersten Anfänge (resp. Spuren) der Percussion.
Jahresbericht der Gesellschaft für Natur- und Heilkunde in Dresden (September
1878 bis Mai 1879) p. 71.
Heinr, Haeser, Lehrbuch der Geschichte der Medicin ... 5. Bearbeitung, 2. Bd.,
Jena 1881, p. 637 („die Erfindung der Percussion^); p. 888 („Begründung
der physikalischen Diagnostik'^).
Henry Hughes, Allgemeine Perkussionslehre, Wiesbaden 1894; p. 5 Litteratur.
Artikel Percussion in Dictionnaire encyclopedique des sciences medicales IL Serie
T. XXII p. 733 (Lereboullet); Bibliographie ibid. p. 755 (L. Hahn).
Artikel Percussion, im Index Catalogue of the library of the surgeon general
Office, Vol. X, 1889.
Artikel Auscultation im Dictionnaire encycl. (s. o.), T. VII, 1867. — Auscul-
tation medicale (Barth et Bog er) p. 262; Bibliographie p. 298. — Ausc.
chir-urgicale — Ausc. obstetricale (Depaul) p. 301; Bibliographie p. 339
(L. Hahn).
Artikel Auscultation im Index Catalogue (s. o.). Vol. I, 1880. Second series
Vol. I, 1896.
Artikel Stethoscope im Dict. encyclop. (s. o.) III. Ser. T. XII 1883 p. 62
(A. Dechambre et Andre Petit) — giebt die Darstellung verschiedener
Stethoskope bis in die neuere Zeit: starre, flexible, binaurale etc. Stethoskope.
Zur Vorgeschichte des Sthetoskops (!). Ein Originalbrief Laennec's [an
Baron Bevier vom 18. Mai 1826] mit Bemerkungen von C Gerhardt. Die
medicinische Woche 1900 Nr. 50.
W. Ebstein, Einige Bemerkungen zu der Geschichte des Stethoskops. Deutsches
Archiv für Min. Medicin 69. Bd. 1901 p. 488.
Artikel Succussion (H. Barth) im Dict. encycl. (s. o.) III. Ser. T. XII 1883
p. 610.
Auscidtation et percussion bei Alph. JPauly, Bibliographie des sciences medicales.
Paris 1874, p. 897 (6 Titel).
Auscultation und Percussion bei Jul. Paget, Historisch-medicinische Bibliographie
für die Jahre 1875—1896, Berlin 1898, p. 824 (4 Titel).
Geht man auf die leisesten, oft gewiss mehr zufälligen Aeusse-
rungen über akustische Phänomene bei Kranken (und Gesunden) zu-
rück, so kann man sie fraglos da und dort bei verschiedenen älteren
Autoren finden. Freilich begnügen sich manche mit blossen Andeu-
tungen, und so nehme ich auch die durch keinerlei Belegstellen er-
härtete Auslassung nicht ganz ernst, welche sich bei Bhagvat Sinh
Jee (A Short history of Aryan medical science, London 1896, p. 156)
findet: ,, Palpation, percussion and auscultation are not altogether
modern. They are referred to in the works of Charaka. Atreya, in
his interesting dialogue with bis favourite pupil Harita [vgl. Bd. I
p. 133] speaks with even more precision on the subject. His direc-
tions are all of a piece with those in any of our modern works." — Von
P. Niemeyer (1. c. p. 226) sind die Auskultation und Perkussion be-
trefi'enden Stellen in leidlicher Vollständigkeit zusammengetragen. Am
berühmtesten ist wohl die Stelle über ,.Succussion" — die Bezeich-
nung von Laennee — bei Hippokrates {tzsqI vovatov IL cap. 47.
Edit. Kühn II p. 258 ; Uebersetzung R. Fuchs II p. 438), wonach der
auf einen Stuhl gesetzte und an den Schultern gerüttelte Kranke
durch ein Geräusch die Seite erkennen lässt, welche den durch Ein-
schnitt zu entleerenden Eiter enthält. Eine Parallelstelle (Kioaycal
7iQoyvu)a6tg, Littre § 20 Nr. 424. Edit. Kühn I p. 306; Fuchs II p. 65)
hebt hervor, dass die Empyematiker mit grossem Geräusch weniger
606 Hermann Vierordt.
Eiter haben, als die stärker dyspnoischeu mit wenig Geräusch. Bei
Daremberg (Oeuvres choisies d'Hippocrate, 2. Edit. Paris 1855, p.
282) sind die hippokratischen Stellen über Empyem im Zusammenhang
zu lesen. Ambroise Pare (Oeuvres, Edit. Malgaigne I p. 93, Table
methodique) verwertet das Schüttelgeräusch in ähnlicher Weise. —
Die auf Auskultation, speziell Easselgeräusche, bezogene zweite Stelle
bei Hippokrates (negl vovocov II cap. 61. Edit. Kühn II p. 277;
Fuchs II p. 451) ist verdorben und nicht ohne weiteres richtig zu
stellen. Dagegen mag eine weitere Stelle (ebenda II cap. 59. Kühn
II p. 275; Fuchs II p. 450), wo von einem hör- (oder fühl-)baren
Geräusch des Blutes (!) wie Leder {fidaMrjg) bei Schmerz, Atembe-
hinderung, „weissem" Sputum und vom Liegen auf der kranken Seite
die Rede ist, füglich auf akute Pleuritis gedeutet werden. Aus
Aretaeus Kappadox führt Lewi drei Stellen an, zwei aus dem
Kapitel Ttegl vögcoTtos (Edit. Kühn p. 125 u. 127) und eine aus dem
Abschnitt ttsqI Terdvov (Kühn p. 9), welche ohne sonderlichen Zwang
auf eine Art Perkussion (TtaTdaaeiv, erciyiQoveLv), mindestens auf eine
mit der Hand ausgeführte, stärkere Erschütterung des „tympanitisch"
schallenden Abdomens sich beziehen lässt. Von einer Perkussion des
Thorax liest man aber erstmals bei A u e n b r u g g e r. Den einem
„Tympanon" vergleichbaren Schall verwerten ebenso spätere Autoren,
als Aretaeus, z. B. Galen, Actuarius, Paulus Aegineta, Tagault, Pare
(a. a. 0. I p. 391, de Fhydropisie) zur Unterscheidung von Ascites
und Meteorismns, der rv/^Ttaviag der Alten; auch in „de aegritudinum
curatione Tractatus", resp. Joh. Platearius' Practica (s. S. de
Renzi's CoUectio Salernitana II, Napoli 1853 p. 298) gibt der As-
cites ..percussus" den Ton eines halbgefüllten Schlauches, der „Thim-
panites" (!) den einer Pauke. Auch Soranus (jisqI ywaiyceicov Tta&üv
cap. 58. Edit. Dietz p. 277; Edit. Ermerins p. 252; Edit. Val. Rose
p. 330) unterscheidet Mole des Uterus, Tympanites und Ascites durch
Perkussion und Succussion, Alexander von Tralles im Abschnitt
7C€Qi vÖ€Qov (Edit. Puschmaun II p. 441) Ascites, Tympanias und den
vöegog „ävd odgy.a''^ durch Succussion, Perkussion und Fingerdruck.
Von einer in der Schweiz durch die Tierärzte behufs Ermittelung
von Cysticerken im Gehirn mittelst eines Hammers geübten Perkussion
des Kopfes berichtet J. J. Wepfer (1620—95) in seinen „Obser-
vationes anatomicae ex cadaveribus eorum, quos sustulit apoplexia",
Schaffhusii 1675 p. 69 und bei Lancisi (s. Abschnitt „Geschichte
der Herzkrankheiten") ist von der Perkussion des Brustbeins beim
„Aneurysma" des Herzens die Rede.
Die Hörbarkeit des „Pulses" des Herzens erwähnt W. Harvey
(Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus I cap. V
Edit. Francofurti 1628 p. 30, Roterdami 1661 p. 51), was ihm den
Spott des Aemilius Parisanus eintrug, und ebenso verzeichnet Mor-
gagni (De sedibus et causis morborum, Lib. II, Epist. XVI, Art. 24)
einen Fall von Stalpaart van der Wiel, wo bei einem Mädchen
Geräusche des sich (wie man annahm, in der Flüssigkeit?) bewegen-
den Herzens vernehmbar waren; er meint, von diesem Zeichen
„Medicis, qui ad pericardii regionem manum auremve admovendo
aliquid ibi fluctuationis animadvertant, egregium utique prae ceteris
Signum futurum et pro pathognomonico habendum".
System kam aber in die Lehre, zunächst die der Perkussion,
erst durch Leopold Auenbrugger's (Graz 19. Nov. 1722, Wien
Geschichte der Perkussion und Auskultation. 607
17. Mai 1809) Inventiim novum (1761), welcher in 48 Sätzen mit an-
gehängten „Schollen"' die Grundzüge der unmittelbaren Perkussion,
auch die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit festlegte, die Bedeutung
der verschiedenen Modifikationen des Schalls bei den akuten und
chronischen Krankheiten der Brust, auch einiger Herzaffektionen dar-
that (s. das Expose von M e r b a c h im Jahresberichte der Gesellschaft
für Natur- und Heilkunde in Dresden 1861 — 62, p. 59 und bei Clar,
1. c. p. 17, Auszug bei Ha es er, 1. c. p. 639). Von den chronischen
Affektionen der Lunge bespricht Auenbrugger, der übrigens den
■weiteren Ausbau seiner Methode empfahl, hauptsächlich den Scirrhus
pulmonum, worunter er Verdichtungen i. w. S., auch akute, versteht,
Kavernen, Empj'em, dessen Operation er geübt zu haben scheint,
Hydrops pectoris und pericardii. Von den massgebenden Zeitgenossen
mit rühmlichen Ausnahmen (Maximilian St oll, Joh. Peter Frank)
wenig beachtet, kaum ernst genommen — selbst die Satire fehlte
nicht (vgl. „Medizinisches Vademekum für lustige Aerzte und für
lustige Kranke", Frankfurt und Leipzig 1798) — wurde die Technik
durch Auenbrugger s üebersetzer und Kommentator J. X. Cor-
visart (1755 — 1821) wieder neu belebt und in selbständigem Ausbau
der Methode auf die Erkennung der Krankheiten des Herzens und
der grossen Gefässe ausgedehnt. Erst von dieser Zeit ab datiert die
prinzipielle Einfügung der Perkussion in die ärztliche Technik, was
freilich in Deutschland am spätesten, später als in Frankreich und
England, geschah.
Der Bretone Rene Theophile Hyacinthe Laennec (Quimper
17. Febr. 1781, Kerlouanec 13. August 1826) ist als der selbständige
Schöpfer einer klinischen Auskultation zu verehren, welche er, man
kann sagen, aus dem Nichts heraus geschaffen, in den verschiedensten
Krankheiten und wieder in den einzelnen Phasen derselben aufs ge-
naueste verfolgt hat, überall mit dem anatomischen Zustand der Organe
Beziehung suchend, wozu ihm ein umfangreiches Krankenmaterial am
Hospital Necker (seit 1817) die ausgiebigste Gelegenheit verschaffte. —
Laennecs Werk, zumal in der 2. Auflage von 1826, ist ein voll-
ständiges Handbuch der Diagnostik und Behandlung der Krankheiten
der Brustorgane, worin er auch der (Auenbruggerschen) Perkussion
gedenkt, ihre Leistungen für sich allein zwar eng begrenzt und für
zweifelhaft hält, in Verbindung jedoch mit der mittelbaren Aus-
kultation ihre Bedeutung, z. B. für den Pneumothorax, das Lungen-
emphysem, die Spitzentuberkulose, anerkennt. Gegliedert ist das
Buch (2. Aufl.) in drei Hauptteile: „Untersuchung der Brust, Krank-
heiten der Lunge, Krankheiten des Cirkulationsapparates". Es ent-
hält eine solche Fülle gut beobachteter und ebenso gut beschriebener
physikalisch -diagnostischer Zeichen, dass man es heute noch mit
Interesse und Nutzen zu lesen vermag. Krankengeschichten und
Nekropsien sind aufs sorgfältigste wiedergegeben. Ein Meister
aber erscheint Laennec in der Determination der akustischen
Zeichen; er hat in der Auskultation die Nomenklatur, deren wir uns
bedienen, recht eigentlich geschaffen, und selbst da, wo die Ausdrücke
fast , gesucht erscheinen mögen, wie in der Resonnance de pot feie,,
der Egophonie, dem Fremissement cataire, haben sie sich in Ermange-
lung streng physikalischer Begriffsbestimmungen nicht wohl durch
bezeichnendere ersetzen lassen. Die minutiöse Beschreibung und Aus-
wertung all' der Geräusche und Geräuschchen, die bei den einzelnen
608 Hermann Vierordt.
Lungen- und Brustaffektionen zu beobachten sind, — viel Neues ist
ja hier kaum noch hinzuzufügen gewesen — erregt unsere Bewunde-
rung, wobei freilich das Suchen nach pathognomonischen Zeichen all-
zusehr hervortritt und andererseits die etwas weit gehende Speziali-
sierung ein auf grössere Gesichtspunkte gegründetes (der Physik an-
gepasstes) System vermissen lässt. — Die Krankheiten des Herzens
nehmen den kleineren Teil des Werkes ein; auch hier ist der Autor
überaus sorgfältig und vielseitig, für alle, auch die entfernter liegenden
und selteneren Atfektionen, z. B. Pneumopericard, sucht er nach
akustisch-diagnostischen Merkmalen, überall kritisch und sichtend
(man vgl. nur das Kapitel XVIII des 3. Teils über die „Polypen
des Herzens und der Gefässe"). Von den Veränderungen des Herzens
interessieren ihn vor allem die Zustände der Hypertrophie und Dila-
tation, aber schon erscheinen Diagnosen wie „Vegetations ou retre-
cissement cartilagineux de la valvule mitrale, Ossification de la valvule
mitrale, des valvules sigmoides de l'aorte" etc.
Das Instrument, dessen sich Laennec zu seiner „mittelbaren"
Auskultation bediente und dessen Entstehung bis in das Jahr 1816
zurückreicht (Traite, Introduction), das „Stethoskop", war ein 32^ jo cm
(1') langer, 16'" (= 36 mm) dicker, zwar innen durchbohrter, aber
immerhin noch 230 g. schwerer „Cylinder" aus (Eichen-) Holz, der
später handlicheren, vor allem leichteren Instrumenten Platz ge-
macht hat.
Allgemeine Anerkennung hat Laennec auch bei seinen
Landsleuten zunächst nicht gefunden. Von mancher Seite wurde gegen
die „Cj-lindromanes" geeifert. Mit den vielfachen, meist recht klein-
lichen Ausstellungen und Bemängelungen Broussais' (Examen des
doctrines medicales ... T. II Paris 1821) setzt er sich in der Vor-
rede zur 2. Auflage auseinander, doch verzeichnet er ebenda mit Ge-
nugthuung, dass mehr als „300 junge Aerzte aus allen Nationen
Europas" unter seiner eigenen Anleitung die ..Observations stetho-
scopiques" geübt haben. Unter den namentlich aufgeführten, von
Laennec genauer gekannten sind meist Engländer, nur 1—2 Deutsche,
wie denn Deutschland zuletzt die Laenne eschen Lehren aufnahm,
während in England Männer wie Ch. Williams in London und
W, Stokes in Dublin die Disziplin weiter ausbauten. Uebrigens
erwähnt Laennec als Anhänger und Bestätiger seiner Lehre von
deutschen Klinikern K. A. W. Berends in Berlin, Chr. Fr. Nasse
in Bonn, von späteren wären Schönlein in Berlin, Krukenberg
in Halle zu nennen, welche in richtiger Erkenntnis der Bedeutung
der physikalischen Diagnostik für die Entwicklung der Innern Klinik
sie eifrig pflegten.
Eine wertvolle Ergänzung fand, wieder auf französischem Boden,
die physikalische Diagnostik durch eine weitere Verfeinerung der
Perkussion von selten Pierre Adolphe Piorry's (1794 — 1879). Die
Erfindung eines kleinen Instrumentes, des elfenbeinernen, runden Plessi-
meters, galt dem virtuosen, oft übrigens nicht genügend objektiven
Perkuteur für wesentlich, wie er denn auch das Stethoskop in eine be-
quemere, fast zu kurze Form brachte, andererseits aber den schon
von „Barry" (David? B.) angegebenen, von Win tri ch 1841 wieder
eingeführten Perkussionshammer und die (in England geübte, von
Stokes (Vorrede zu den Brustkrankheiten) empfohlene Finger-
Geschichte der Perkussion und Auskultation. 609
Fingerperkussion, ^) welche ihm „mehrere englische und amerikanische
Aerzte" in seinen Vorlesungen demonstrierten (s. Uebersetzung Balling
p. 26). energisch zurückwies. Piorrys Verdienst bleibt es, die genaue
Absteckung der Organgrenzen und namentlich auch die Perkussion
des Bauches und seiner Organe, der Milz vor allem, weiters die
graphische Fixierung der Grenzen, die Dermographie, den „Organogra-
phisme" i Atlas de plessimetrisme . . . Paris 1851) eingeführt zu haben.
Wenn er, zumal in seinen späteren Arbeiten, z. B. dem Traite de
plessimetrisme. Paris 1866, aber auch schon im Traite de diagnostic et
de semeiologie, Paris 1836—37, von seinem Virtuosentum verleitet, zu
weit ging, mehr beweisen wollte, als er konnte, und sogar halb un-
bewusster Selbsttäuschung verfiel, so ist dies zu bedauern und hat
der Methode jedenfalls mehr geschadet, als sie eigentlich verdiente.
In der nach-laennecschen Zeit schlug der weitere Ausbau seiner
Lehre in den einzelnen Ländern verschiedene Wege ein ; in Frankreich
machte sich eine nur zu sehr verfeinerte Symptomenlehre, das Haschen
nach pathognomonischen Zeichen, breit, während in England eine
mehr selbständige Weiterentwicklung sich Bahn brach und an unab-
hängigen Männern, wie Williams, der zuerst nach akustischen
Grundlagen forschte, Stokes, E. J. Graves, Laennecs Ueber-
setzer John Forbes, mächtige Förderung fand. Die Werke von
Stokes und W. H. Walshe fanden auch in Deutschland ziemliche
Verbreitung.
Ein hervorragendes und bleibendes Verdienst um die wissen-
schaftliche Begründung und Feststellung der Perkussion und Aus-
kultation hat Josef Skoda (1805—13. Juni 1881), mit C. Roki-
tansky der Führer der jüngeren Wiener Schule, sich erworben. Er
ist der Xeuschöpfer der Lehre, deren Hauptzüge er vor mehr als
60 Jahren in heute noch unanfechtbare, in gleicher Präcision zuvor
nicht ausgesprochene Sätze zu fassen wusste. Die 1839 in Wien er-
schienene „Abhandlung über Perkussion und Auskultation" ist, wenn
auch späterhin einzelnes modifiziert werden musste, die Grundlage
der heute geltenden Theorie geworden. Zunächst wurden die ver-
schiedenen von Piorry aufgestellten Perkussionsschalle wesentlich
vereinfacht, als massgebend für den Schall nicht das spezifische (ge-
sunde oder kranke) Gewebe, sondern ganz allgemein gesagt, der
physikalische Zustand des Organs, sein Luftgehalt, resp. das Fehlen
desselben nachgewiesen, womit die gekünstelte und gefahrliche Lehre
Piorrys von der Spezifizität der Schalle der Einzelorgane hin-
fällig wurde. An den Auslassungen über den Perkussionsschall
(S. 3-18) dürfte auch heute noch wenig zu bemängeln sein. Wie
recht hat Skoda nur in der Frage über den tympanitischen SchaU
bei Pleuritis behalten, das „Bruit skodique" der gerade in diesem
Punkt ihn anfänglich stark befehdenden Franzosen! Schwieriger ge-
stalteten sich die Auseinandersetzungen über gewisse auskultatorische
Phänomene, wo auch Skoda, im Drang selbständigen Schaffens und
ablehnender Kritik, Laennecs Verdiensten nicht immer ganz gerecht
geworden sein mag. Jedenfalls verdichteten sich Skodas Unter-
suchungen, die besonders auch dem Leichenexperiment sich zuwandten,
zu einer eigentlichen, brauchbaren und formulierbaren Theorie der
*) Bei Win t rieh (1. c. p. 4) steht die Bemerkung, dass „Dr. Skerrett (?)"
die Finger-Fingerperkussion zuerst geübt habe.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 39
610 Hermann Vierordt.
Perkussion und Auskultation; dabei hatte sie den besonderen Vorzug
einer einfacheren, dem deutschen Sprachgefühl näher gerückten Nomen-
klatur, ^) wenn auch Hyperkritische da und dort der formalen Logik
nicht Rechnung getragen sahen und beispielsweise die gewiss prak-
tische Unterscheidung zwischen tj'^mpanitischem und nichttympanitischem
Schall bespöttelten. So sind denn die Skodaschen Lehren, z. T,
getragen vom Enthusiasmus, den die aufblühende Wiener Schule in
der jüngeren Aerztewelt erregte, rasch in die Praxis eingedrungen,-)
die von den Franzosen stets bevorzugte Auskultation hat der Per-
kussion neben sich einen ebenbürtigen Platz einräumen müssen, beide
Untersuchungsmethoden ergänzen sich jetzt gegenseitig. Nach Skoda
sind zwar da und dort, namentlich auch in den theoretischen Teilen,
z. B. der Lehre vom Perkussionsschall der Lunge, ob Luft oder
Membran ,. Schallherrscher" sei, Ergänzungen oder mehr oder minder
einleuchtende Verbesserungen aufgetaucht — Skoda selbst war in
den späteren Auflagen seines Buchs zu manchen Antikritiken ge-
nötigt — die Grundzüge sind trotzdem nicht verwischt, einzelne
theoretische Streitfragen bis heute nicht zum Austrag gebracht
worden.
Um die Befestigung der physikalischen Grundlagen der Per-
kussion und Auskultation hat sich, auf experimentelle Untersuchungen
sich stützend, M. Anton Wintrich (1812—1882) in Erlangen be-
müht. Auch der Physiker Friedr. Zammin er hat in dieser Richtung
gearbeitet (Einleitung zu Eug. Seitz, Die Auskultation und Per-
kussion der Respirationsorgane, Erlangen 1860), von den neuesten
Publikationen möge die von Hughes genannt sein. Doch sind wir
noch weit davon entfernt, allseitig befriedigende physikalische Grund-
lagen geschaffen zu haben, und C. Gerhardt hat gewiss recht: „der
Bau wird erst vollendet, erhält erst die Krone, die wissenschaftliche
Weihe, wenn alle diese Ergebnisse der ärztlichen Beobachtung anstatt
auf bekannte physikalische Thatsachen, auf die- Grundgesetze der
Lehre vom Schalle zurückgeführt sein werden" (Lehrbuch der Aus-
cultation und Percussion, 2. Aufl., Tübingen 1871, 6. Aufl. 1900, p. 7).
Einzelheiten, etwa die vielfachen Kontroversen und Streitigkeiten
hauptsächlich auch theoretischer Natur, über Perkussionsschall, Ent-
stehung der Herztöne (s. a. das Kapitel „Herzkrankheiten") u. a., auch
die Aufzählung einzelner Zeichen und Phänomene kann im allgemeinen
hier übergangen werden. Erwähnt mögen sein der Pektoralfremitus
(J. Jos. Reynaud 1819), ferner die verschiedenen Arten von Schall-
wechsel (Wintrich 1854, Friedreich 1856, Gerhardt 1859, Biermer 1862,
eigentlich schon Geigel 1861), worüber das Wichtigste bei P. Nie-
meyer zu finden ist. Ausdrücklich soll hingewiesen sein auf die
Benützung der Auskultation zu geburtshilflichen Zwecken: Frangois
^) Ein „Index sämmtlicher in- und ausländischer Kunstausdrücke" findet sich
bei P. Niemeyer, Grundriss der Percussion und Auscultation, 3. Aufl., Stutt-
gart 1880.
-) In einer Rezension über Skodas Buch (Schmidts Jahrbücher. 32. Bd.,
p. 100 — 106) sagt Kürschner am Schluss: „Es wird, wenn die vorgetragenen
Grundsätze allgemeiner bekannt werden, die mythische Epoche der Auskultation
vorüber sein, die Epoche, wo man die wenigen, in deren Händen sie war, bewunderte,
und die Zeit wird näher rücken, wo jeder, der Ohren hat zu, hören, hören wird und
hören rauss. Demzufolge stehen wir nicht an, den Dr. Skoda, unsern stets ge- .
achteten Lehrer und Freund, für den wahren Apostel der Auskultation in Deutsch- f
land zu erklären."
Geschichte der Perkussion und Auskoltation. 611
Isaac M a T 0 r in Genf — „broits du coeur du foetus" (Bibliotheque
univ. des sciences et arts IX. Geneve 1818, p. 248) — verwertete
zuerst die Auskultation der kindlichen Herztöne zui* Diagnose des
Lebens des Kindes. Jean AI. LeJumeau Vicomte deKergaradec
beschrieb 1822 erstmals das (Uterin- oder) Placentargeräusch, Evory
Kennedy 1830 (Dublin Hosp. reports) das Nabelschnurgeräusch,
John D. Fisher in Boston das später sog. systolische Himblasen,
seine »cephaüc beUow's sound~ (Medical Magazine 11 Boston 1834
und American Journal of the medical sciences 1838 p. 277). Das
pleuritische Reibegeräusch (H e y n a u d 1822), das perikardiale Eeiben
(V. Co 11 in 1824). das peritonitische Reiben (A. Despres 1834),
das Hydatidensch wirren, fremissement hydatique (P. A. Briangon,
These von 1828), die Auskultation der Flüsterstimme (G. Baccelli
1877) mögen ausserdem Erwähnung finden.
Kombination von Perkussion und Auskultation ist zu verschiedenen
Malen mit wechselndem Erfolg zur genaueren Grenzbestünmung der
Organe verwertet worden, so von Ca mm an und Clark (New York
Journal of medicine and surgery 1840 July ; ausführliches Referat bei
Barth et Roger. Traite pratique d'auscultation, 11. Aufl., Paris
1887. p. 756); in neuester Zeit soU das Phonendoskop von A. Bianchi
und E. Bazzi eben solchen Zwecken dienen. — Historisches In-
teresse hat der bei Piorry (Uebersetzung Balling p. 27) erwähnte
Versuch von Jules deDervieux, welcher im Innern des Stethoskops
einen kleinen Hammer anbrachte.
39*
Lungenkrankheiten
(ausschliesslich Tuberkulose).
Von
Hermann Yierordt (Tübingen).
Litteratur.
a) Pleuritis und Pneumonie.
Ausser den im einzelnen nicht aufzuführenden, im Text ihre Erwähnung
findenden medizinischen Klassika-n und verschiedefien, im Kapitel „Perkussion und
Auskultation'^ (s. o) angebenen Verweisen seien besonders namhaft gemacht:
Antonio Guainierio (c. 1440), Opus praeclarum ad praxin non mediocriter
necessarium, Papiae 1518, 4^. Kapitel: de aegritudinious pectoris et pulmonum;
de pleuresi.
Pierre JBrissot, Apologetica disceptatio, qua docetrir, per qua loca sanguis mitti
deheat in viscerum inflammationibus, praesertim in pleuritide, Parisiis 1525, 4 **.
Petms Vascus Castellus, Exercitationes medicinales ad omnes thoracis af-
fecius . . . Tolosae 1616; Tractatus quintus, de pleuritide; tract. sextus de
peripneumonia.
C Schrödterf De pleuripne^imonia dissertatio medica, in qua statuitur veram sedem
peripneumoniae esse utrumque, pleuritidis vero alterutrum tantum latus pul-
monum; quae sententia rationious Hippocratisque auctoritate inprimis stabilitur,
Wittenbergae 1679, 4°.
Dan, Wilh. Triller, De pleuritide ejusque curatione, Irancofurto 1740, von
pag. 126 bis Schhiss: Selecta quaedam capita de pleuritide e . . . Cornelia
Celso, Caelio Aureliano et Theodoro Prisciano excerpta.
JUichele Sarcone, Istoria ragionata dei mali osservati in Napoli nelV intero corso
delV anno 1764. Napoli 1765, parte seconda. (Deutsche Uebersetzung v. Schmid
u. Füssly, Zürich 1770—72.)
Laennec, Traite de Vausacltation mediale 1826. — Vgl. S. 599.
I*. J. Schneidet^ Haematomanie im 19. Jahrhundert, Tübingen 1827.
«Jos. Dietl, Der Aderlass in der Dungenentzündung, Wien 1849.
A. Bernhardi, lieber die Pneumonie-Lehre der Gegenwart . . . Zeitschrift für
Erfahrungsheilkunde, Berlin 1851, IV, p. 353—522 (homoeopathisch !).
M. A. Wintrichf Krankheiten der Pleura in Virchow's Handbuch der speciellen
Pathologie u. Therapie, 5. Band 1. Abtheilung, Erlangen 1854, p. 225.
A. Biemier, Krankheiten der Bronchien und des Lungen-Parenchyms, ibid.
5. Band 4. it. 5. Lieferung 1865—67.
M. Ziemssen, Pleuritis und Pneumonie im Kindesalter, Berlin 1862.
JP. Hietneyer, Uebersicht der neueren Forschungen über Pneumonie. Schmidt's
Jahrbücher 113. Bd. 1862 p. 337; 132. Bd. 1866 p. 317.
A. Grisolle, Traite pratique de la pneumonie aux differents äges . . . Paris 1841,
2. edit. 1864.
Lungenkxankheiten. 613
O. Seidel, Der Aderlass in der croupösen Pneumonie historisch dargestellt. Ber-
liner Dissertation 1869.
üeinJi. Köhler, Handbuch der specidlen Therapie. Erster Band. 3. Aufl.,
Tübingen 1867, p. 771, 893.
J. JBauer, Geschichte der Aderlässe, Bonn 1870.
tTul. Petersen, Haiiptmoniente in der geschichtlichen Entunckelung der medicinischen
Therapie, Kopenhagen 1877.
Th. Jürgensen, Croupöse Pneumonie in Ziemssen^s Sandbuch V. Band,
Leipzig 1874, p. 4. — Katarrhalpneumonie, ibid. p. 184. — Interstitielle
Pneumonie, id. opus, Supplementband 1878 p. 312.
O. Wf/ss, Die Catarrhalpneumonie in Gerhardt's Sandbuch 3. Bd. 2. Hälfte,
Tübingen 1878, p. 729.
Leichtenstern, Krankheiten d. Pleura, ibid. p. 863.
C. Gerhardt, Atelektase, ibid. p. 497.
O. V. Gizycki, Die operative Behandlung der Pleuritis bis Trousseau. Berliner
Dissertation 1880.
Th. Jürgensen u. A. Fränkel, Referat u. Correferat „Ueber die genuine
Pneumonie'^ in Verhandlungen des Congresses für innere Mediciyi. 3. Congress
(Berlin), Wiesbaden 1884, p. 6 und anschliessende Discussion.
Aug. Hirsch, Handbuch der historisch-geographischen Pathologie, 2. Bearbeitung,
3. Abtheilung, Stuttgart 1886, p. 77 (Artikel Lungenentzündung).
Gottfr. Krüger, Der Aderluss im neunzehnten Jahrhundert. Berliner Disser-
tation 1886.
Leon Delattref Essai sur Vhistoire de la saignee. These de Paris 1886.
H. Barth, Artikel „Pneumonie''^ im Dictionnaire encyclop. des sciences med.
IL Serie t. 27, Paris 1888, p. 228 (Historique).
Artikel „Pneumonie^ im Index Catalogue of the library of the surgeon general
Office Vol. X, 1890, p. 400 — 455 (auch die Unterabteilungen Pn. in Infants
and children, Catarrhal or lobular Pn. etc. zu vergleichen!). — Artikel „Pleurisy'^,
ibid.. p. 374. — Artikel „Bronchopneumonia", Vol. U, 1881, p. 482; second
series vol. II, 1897, p. 837—38.
A. Weichselbauni, Zusammenfassender histoiischer Bericht über die Aetiologie
der acuten Lungen- und RippenfeUentzündungen. Centralblatt für Bacterio-
logie und Parasitenkunde, Erster Jahrgang I. Band, Jena 1887, p. 553, 587.
C. Gerhardt, Die Geschichte des Brv^tstiches, Berlin 1890 [Verschiedenes auch b.
Leichtenstern, l. c. — Gerhardt's Handbuch — p. 946].
C. Friedländer, lieber die Schizomyceten bei der acuten fibrösen (!) Pneumonie.
Virchou-'s Archiv 87. Bd., 1882. p. 319.
Derselbe (mit Frobenitis), Die Mikrokokken der Pneumonie. Fortschritte der
Medicin, 1. Jahrgang, 1883, p. 715.
E. Cestan, La therapeutique des empyemes, Paris 1898 (mit historischen Notizen
namentlich über neuere Operationsmethoden).
H. Eppinger, Krankheiten der Lunge, in: Lubarsch & Ostertag, Ergebnisse
der allgemeinen Pathologie und patholog. Anatomie, 3. Abteilung, Wiesbaden
1896, p. 137.
Iv. Moni, Spaltspitze bei Pneumonie, ibid., 1. Abteilung, 1896 p. 648.
Pleuritis pulsans: Alfr. Keppler, Deutsches Archiv f. Min. Medicin 41. Bd.
(Litteratur bis 1887); Th. Fuchs, Zeitschrift für Min. Medicin 32. Bd.
Supplement- Heft 1897 p. 255.
Alfr. Wolff, Die Geschichte der Pleuritis mit besonderer Berücksichtigung der
Therapie und der Probepunktion. Allgemeine medicinische Central- Zeitung 1900
Nr. 24.
G. Sticker, Die Entwicklung der ärztlichen Kunst in der Behandlung der hitzigen
Lungenentzündungen, Wien 1902.
b) Sonstige Lungenkrankheiten.
J.tt« dem Index-Catalogue of the library of the surgeon general office seien
folgende Artikel genannt : Bronchia (Dilatation of). Vol. II, 1881, p. 474—76: second
series Vol. II, 1897, p. 828. — Bronchial glands, ibid. p. 474—76; second series
p. 831. — Bronchitis, Und. 476 — 82, second series p. 832 — 37. — Embolism (pul-
monary), Vol. IV, 1883, p. 195; secMid series Vol. IV, 1899, p. 864. — Embolism
y). Und. p. 219; second series
1887, p. 417. — Pneumothorax,
and gangrene, ibid. p. 199; Emphysema (pulmonary), ibid. p. 219; second series
Vol. IV, p. 897. — Lungs (Gangrene of), Vol. VIII, IS"
Toi. XI, 1890, p. 456.
614 Hermann Vierordt.
«7. Mögling, Zur Entstehung des haemorrhagischen Inf ar cts. Historische Skizze;
in : Arbeiten aus dem Gebiete der pathol. Anatomie und der allgem. Pathologie,
herausgegeben von E Ziegler. I. Band: Jena 1886, p. 133.
Bezüglich des kindlichen Alters findet sich manches bei Rilltet et Barthez,
Traite des maladies des enfants. 5« edition, tvo die wichtigsten Krankheiten mit
einem Abschnitt „Historique" eingeleitet sind, der freilich die französischen Autoren
bevorzugt, und in C. Gerhardts Handbuch der Kinderkrankheiten, 3. Bd.
2. Hälfte, Tübingen 1878, die Artikel Krankheiten der Bronchien (Ad. Weil), Em-
physem (L. Fürst), hämorrhagischer Infarct (C. Gerhardt), Lungengangrän
(Kohts).
A. Biernier, Bronchitis capillaris, Virchotc's Handbuch 5. Bd. I. Abthlg. 4.J5. Liefe-
rung, Erlangen 1865 — 67, p. 647, Bronchitis crouposa, ibid. p. 714.
Itiegel, Krankheiten der Trachea und der Bronchien (Bronchitis catarrhalis; Br.
fibrinosa), Ziemssen's Handbuch IV. Bd. 2. Hälfte, Leipzig 1875.
Ph. JPJtöbuSf Der typische Frühsommer-Kaiarrh oder das sog. Heufieber, Giessen
1862. — Biernier, Idiosytikrasischer Sommer -Katarrh, l. c. p. 635. —
6r. Sticker f Der Bostock'sche Sommerkatarrh. Nothnagels spec. Pathol. u.
Tlierapie IV. Bd. IL Theil IL Abthlg., Wien 1896, p. 85.
ßiermer, Die Lehre vom Ausivurf, Würzburg 1855.
Sam. West, Plastic bronchitis. The Practitioner. London 1889, XLIII, p. 83
(mit Litteratur).
O. ßeschoifier, lieber chronische essentielle fibrinöse Bronchitis (Bronchialcroup),
Leipzig 1893 [Volkmann- s Sammlung N. F. Nr. 73].
Biermer, Bronchiectasie, l. c. (Virchow^s Handbuch) p. 734.
Dechatnbre, Article „Anthracosis, historique^' im Dict. encyclop. des sciences med.
T. V, 1866, p. 248.
JRossignol, Recherches anatomiques, cliniques et experimentales sur la nature et
les causes de l'emphyseme pulmonaire (asthme continu des anciens), Bruxelles
1849.
W. A. Freund, Der Zusammenhang gewisser Lungenkrankheiten mit pi-imären
Bippenknorpelanomalien. Mit 7 Tafeln, Erlangen 1859. — Vgl. S. 618.
Biertner, Lungenemphysem, l. c. (Virchow's Handbuch) p. 781.
Th. R, Knauthe, lieber das Substantive Lungenemphysem. Schmidfs Jahr-
bücher, Jahrgang 1874, 163. Bd. p. 169, 281 [Sammelbericht].
Hertz, Anaemie und Oedem der Lunge, Irnngenemphysem, Lungenbrand in Ziems-
sen's Handbuch, V. Band, Leipzig 1874 (z. Teil gekürzt in 3. Aufl., Lpzg. 1887).
E. Wittche, lieber Geschichte und pathologische Veränderungen des Lungen-
emphysems. Würzburger Dissertation 1891.
F. A, Hoffinann, Emphysem und Atelektase. Wien 1900 [NothnageVs spec. Patho-
logie u. Therapie XIV. Bd. II. Theil III. Abtheilung].
JE, AvfrecJit, Lungenentzündungen in NothnageVs spec. Pathol. u. Therapie
XIV. Bd. I. Hälfte IL Theil, Wien 1899; darin: Die Pneunionokoniosen
p. 303 ; Embolie, Thrombose und Infarct p. 381; das Lungencarcinom p. 362;
der Lungendbscess p. 410 ; Lungengangrän p. 419.
Wintrich, l. c. (Virchow's Handbuch): Hydrothorax p. 365; Pneumothorax p. 336;
Haemothorax p. 362.
A Weil, Zur Lehre vom Pneumothorax, insbesondere vom Pneumothorax bei
Lungenschwindsucht, Leipzig 1882 (Separat aus: Deutsches Archiv f. klin.
Medicin Bd. 25, 29, 31); ferner ibid. Bd. 40, 1887.
N. Golubojf, Das Bronchialasthma und seine Behandlung, Leipzig 1899 [Samm-
lung klinischer Vorträge Nr. 256157 — enthält eine Geschichte der Krankheit].
*T Paget in Goldscheider' s und P. Jacob' s Han dbuch der physikalischen
Therapie, Teil I Band I, Leipzig 1901: Verschiedene „historische Einleitungen",
zu Pneumato- und InhalationstJwrapie p. 181; zu Klimato- und Höhenluft-
therapie p. 1 u. s. w.
Von den Lungenalfektionen kommen bis zu der Zeit, da die
pathologische Anatomie auch die anderen und selteneren (nicht
tuberkulösen) Krankheiten der Lunge unterscheiden lehrte, eigentlich
nur Pneumonie und Pleuritis in Betracht. Und selbst diese hat eine
frühere Zeit, obschon ihr beide Affektionen wohl bekannt waren, nicht
so, wie es uns als selbstverständlich erscheint, auseinandergehalten,
was in der keineswegs einheitlichen, fast verwirrenden Nomenklatur
genugsam zum Ausdruck kommt. Im allgemeinen heisst die akute
Lungenkrankheiten. 615
Limj^enentzündung bei den Hippokratikern und den späteren Autoren,
eigentlich bis in das 19. Jahrhundert herein TiegntrevLiovia (auch
7teqL7clev(.iovia), während TtlevQlxLg mehr den Seitenstich, oft bloss rein
symptomatisch, bezeichnet. Erschwerend ist der Umstand, dass man
beide Affektionen nur mehr gradweise verschieden sein Hess und ihr
nicht so seltenes gleichzeitiges Vorkommen nicht zugeben wollte. Die
akuten Lungen äff ektionen, welche Hippokrates unter verschiedenen
Bezeichnungen beschreibt: o 7ilevf.iu)v oiöiiov vtio %ffi d^eQuaoir^g ircegl
rovacüv III, 7 — Edit. Kühn II, 297. Uebersetzung Fuchs TI, 466),
oder 7tXtvf.ia)v Ttlr^od-dg (ibid. II, 58 — Kühn II, 274; Fuchs II 449),
aQd^qa [äoQzga nach anderer Lesart] roh jtXevf.iovog onaoS^evia (ibid.
II. 54 — Kühn II, 268 ; Fuchs II, 445) lassen sich in Anbetracht der
Dj^spnoe („aufgeblähte Nasenlöcher, wie ein Pferd nach dem Eitt"),
der zuweilen blutigen Sputa, des Entscheids am vierten oder besser
siebenten Tag ganz wohl als akute Pneumonien deuten. Das „Auf-
fallen der Lunge auf die Seite'" — o Tcl6vf.ia}v TtQoqrteoiov ig rb tiXsvqöv
{TteQi vovotov II, 59 — Kühn II, 275 ; Fuchs II, 450) — entspricht aber
mehr unserer (exsudativen) Pleuritis mit dem Ausgang in „Empyem"
und dementsprechender operativer Behandlung, die den Hippokratikern
geläufig gewesen zu scheint. Darüber wären auch zur Vermeidung
von Wiederholungen die einschlägigen Stellen bei dem Abschnitt
„Perkussion und Auskultation" (S. 605) zu vergleichen. Auch vom
Ausgang in Schwindsucht {cpd^ioig) ist vielfach die Rede, vielleicht
auch von dem in Brand {•/.way.aL TTqoyviboe.ig — Kühn I, 302, Fuchs
II, 63 Nr. 401), wenn der Auswurf als aus schwarzen, russigen
Massen bestehend geschildert oder mit „dunkelm Wein" verglichen
wird bei einer ausdrücklich als tödlich bezeichneten Affektion.
üeberhaupt ist in den koischen Prognosen (Kühn I, 293—306;
Fuchs II, 56 ff., Littre § 20 Nr. 373—424) viel Prognostisches von
..Pleuritikern und Peripleumonikern" angeführt; dass freilich die
..turnerisch geübten und festen Körper eher erliegen, als die un-
geübten" (Nr. 392 — Kühn I, 299) will uns befremdlich erscheinen,
während andererseits (Nr. 423 — Kühn I, 306) gesagt ist, dass an den
aus Lungenentzündung sich entwickelnden „Empyemen" mehr die Be-
jahrten zu Grunde gehen. Aphor. VII, 11 wird eine auf Seitenstechen
folgende TtegmAev/iioviri als ein schlimmes Ding bezeichnet, wozu auch
koische Prognosen (Fuchs II, 56 Nr. 391) zu vergleichen ist. Im
übrigen gilt der bald nach Hippokrates (in Athen?) lebende
Diokles von Karystos als derjenige, welcher zuerst die Pleuritis in
das Brustfell, die Lungenentzündung in die Lungensubstanz, und zwar
in die Venen verlegte, während Erasistratus die Arterien ver-
mutete. — Eine Erklärung der Pleuritis giebt Galen an ver-
schiedenen Stellen, so De locis atfectis Lib. II (Edit. Kühn VIII, 77):
f] fcXtvQlxLg vöar^t-C iazl xov tag TtXevqag vTtotwAOTog vfiivog ; ebenso Lib. V
(Kühn VIII, 326), wo sie als „fphyfwvrj-^ dieser Membran bezeichnet
ist — vgl. auch den Kühnschen Index (Bd. XX), S. 488. Aretaios
von Kappadocien (/regl ahiibv xai or^^eiCbv d^etov y.al xgoviwv nad-wv
Lib. II cap. I — TteQL 7tvevf.iovir}g) definiert die „TiegiTivet/iiovir]^' als
„Entzündung {(pley^ovri) der Lunge mit akutem Fieber", die an sich
keine Schmerzen mache, wenn nicht die umgebende Membran zugleich
entzündet sei. Nicht viel anders sind die Anschauungen des A 1 e x a n d e r
von Tralles, welcher den Symptomen der Lungenentzündung das
2. Kapitel des 5. Buches (Edit. Buschmann II S. 151), der eigent-
616 Hermann Vier ordt.
liehen „yrAgy^img" und ihrer Therapie das ganze 6. Buch (Pusch-
mann II, 229) widmet Auch Paulos von Aegina (Lib. III cap. 30)
ist zu erwähnen, nicht minder Caelius Aurelianus (de morbis
acutis et chronicis II, 18 — 29). Dagegen ist die Schilderung des
wesentlich an Hippokrates sich anlehnenden Corn. Celsus
(Lib. IV cap. 6 u. 7) ziemlich dürftig. In van Swieten's
Commentaria, Kapitel „Peripneumonia vera" (Bd. II § 820 ff.) und
„Pleuritis" (Bd. III § 875) sind die Anschauungen des Altertums
ausführlich wiedergegeben, ohne dass beide Affektionen genügend aus-
einandergehalten sind; desgleichen findet man sie zusammengestellt,
namentlich auch mit Berücksichtigung Galens, bei Buschmann
in der Einleitung zu Alexander von Tralles p. 190.
Die therapeutischen Grundsätze der Alten sind keineswegs durch-
aus verwerflich; vielfach war ein mehr kühlendes Verfahren im Ge-
brauch, so bei Hippokrates, und die Anwendung des Aderlasses
scheint sich, freilich nicht ohne Ausnahmen (tisqI öiaitr]g ö^ecov vöd-a —
Appendice bei Littre 11 p. 457; Edit. H. Kühlewein, Vol. I S. 162,
Lipsiae 1894) in massigen Grenzen gehalten zu haben. Die ohnedies
im wesentlichen an Galen sich haltenden Araber, vor allen
Ehazes und Avicenna, bringen nichts neues bei und das gleiche
gilt von dem ganzen Mittelalter. In therapeutischer Beziehung
hatten die blutscheuen Araber im Anschluss an Oreibasios bei der
akuten Entzündung der Brustorgane die Methode der „Eevulsion"
ausgebildet, den geringfügigen oder gar nur tropfenweisen Aderlass
aus einer ganz entfernten Vene. Es erregte einen Sturm der Ent-
rüstung und wurde einer wahren Häresie gleich erachtet, als
Pierre Brissot (1478 — 1522), auf Hippokrates zurückgreifend,
wieder den ergiebigeren Aderlass in der Nähe des erkrankten Teils,
bei der „Pleuritis" an der Armvene der leidenden Seite, die „Deri-
vation" empfahl und auch praktisch erprobte, so namentlich bei einer
„Pleuritis "-Epidemie in Evora, Portugal, wohin er sich vor den Ver-
folgungen seiner Feinde geflüchtet hatte. Seine berühmte „Apolo-
getik" (s. Lit.), eine Antwort auf eine Schrift des portugiesischen
Leibarztes D i o n y s i u s , auch als Quellenwerk über die Ansichten der
Alten von Bedeutung, erschien erst drei Jahre nach seinem Tode,
herausgegeben von seinem Freunde Ant. Luceus.
Erst das 18. Jahrhundert hat, wenigstens bezüglich der Beob-
achtung am Krankenbette, gewisse Fortschritte zu verzeichnen, obwohl
das Zusammenwerfen von Peripneumonie und Pleuritis noch keines-
wegs überwunden ist, oder gelegentlich gar (in Anlehnung an Hippo-
krates, Ttsql x6rc(x}v TCüv y.aT ävd-QWTtov, XIV. Kühn II, 121, Fuchs
II, 579) die Peripneumonie als eine doppel-, die Pleuritis als eine
einseitige Lungenaffektion aufgefasst, also nur eine Differenz dem
Grade nach angenommen wird (s. Litt.: Schrödters Dissertation
von 1679). Die Doppelbezeiclinung gebraucht zuerst Vincenzio
Baronio, „De pleuripneumonia . . . libri II, Forlivii 1636. — Hatte
nochBaglivi den resignierten Ausspruch gethan: „0 quam difficile
curare morbos pulmonum, o quanto difficilius eosdem cognoscere!",
so wusste auch Borsieri (Institutiones medicae practicae . . . Mailand
1781 ff.) zwischen Pleuritis und Pneumonie als einzigen Unterschied
lediglich „den heftigen und anhaltenden Schmerz" aufzustellen. Aehn-
lichen Standpunkt vertrat Michele Sarcone, „vielleicht der be-
deutendste Praktiker des 18. Jahrhunderts" (Laennec), und auch
Lungenkrankheiten. 617
später noch glaubte Aug. Gottl Ei cht er (Specielle Therapie I
p. 171) die von den Nosologen aufgestellten Unterscheidungsmerkmale
zwischen Pneumonie und Pleuritis, als am Krankenbette und in der
Natur nicht Stich haltend, nicht anerkennen zu sollen, hielt sogar die
Unterscheidung als bedeutungslos für den Praktiker, „da die Kur-
methode dieser verschiedenen Entzündungen wenig voneinander ab-
weiche" (vgl. auch Voigt el. Handbuch der pathologischen Anatomie,
2. Bd., Halle 1804, p. 248). Dabei fällt es fast auf, dass C. v. Linne
in seinen bekanntlich kaum massgebenden „Genera morborum"
Upsaliae 1763 deutlich unterscheidet (theoretisch?): Xr. 27 Pleuritis =
Inflammatio pleurae. Nr. 37 Peripneumonia = Inflammatio pulmonis;
ferner Pleuritica =^ Thoracis dolor lateralis punctorius ; Pneumonica =
Pulmonis dolor (cum Orthopnoea, tussi, haemoptysi). Nicht uninteres-
sant ist im Vergleich hierzu die lange Keihe von Synonyma, die
Boissier de Sau vages in seiner für Linne vorbildlichen „Noso-
logia methodica" bei Pleuritis (Klasse III Nr. XXI) und Peripneumonie
(Nr. XIII) aufzählt. Auch Charles Barbeyrac (f 1699) könnte als
einer der wenigen angelührt werden, welche Brustfell- und Lungen-
entzündung schärfer zu trennen bestrebt waren (Dissertations nouvelles
sur les maladies de la poitrine, du coeur etc.). Im übrigen ist die
Zahl der Abhandlungen und namentlich Dissertationen über Pleuritis
Vera und ..uotha". Peripneumonia u. s. w. im 18. Jahrhundert, zumal
in Deutschland, eine überaus grosse.
Ausdrücke wie Pleuresch, Pleures (echte, falsche und verkehrte),
Fleiresin (aus TtXevQlrig) sind auch in die (medizinische) Vulgärsprache über-
gegangen (s. M. Wolf 1er, Deutsches Krankheitsnamen-Buch, München 1899,
p. 474) ; auch die in Norddeutschland verbreitete Bezeichnung „Fleier"
gehört hierher.
Dieser unfruchtbaren, rein symptomatischen Anschauungsweise
gegenüber war Laennec's Betonung des anatomischen Standpunktes,
wodurch die pathologische Anatomie der Lungenentzündung mit der
klinischen, von ihm selbst in so genialer Weise ausgebauten Sympto-
matologie in (fast übertreibend genauen) Einklang gebracht wurde,
eine erlösende That. Einiges in pathologisch-anatomischer Beziehung
hatte, ohne sich übrigens von den Alten ganz zu emanzipieren, J. B.
Morgagni vorgearbeitet, indem er wenigstens die Möglichkeit des
getrennten Vorkommens von Pleuritis und Pneumonie erkannte
(Epist. XX, 37 if.; XXI, 37 ff.); freilich vermochte er die in ihrer Art
ausgezeichneten Arbeiten von Lazare Ei viere (gest. 1655 — Praxis
medica Lib. VII cap. 2 pag. 248 — 253), der schon eine Differential-
diagnose zwischen Pleuritis spuria und legitima versucht, sowie von
Ysbrand van Diemerbroeck (gest. 1674 — Anatome corporis
humani Lib. II cap. XIII pag. 309j, welcher zwei Fälle von Pleuritis
mit reichlichem Exsudat ohne Beteiligung der Lungen beschreibt,
seinerseits nicht rückhaltslos anzuerkennen. Laennec hat mit der
Aufstellung verschiedener, allerdings nicht gar so streng zu trennender
Stadien (degre) der Pneumonie, Engouement (Bayle), Anschoppung mit
der Crepitation, Hepatisation (Laelius a Fönte in Venedig ca. 1600,
s. bei Morgagni, Epist. XXI Art. 28) mit Bronchialatmen. Infiltration
purulente mit Subcrepitation und gröberen Geräuschen, viel Klarheit
und Verständnis des pathologisch-anatomischen Prozesses geschaffen,
durch die parallel gehende genaue Festlegung der objektiven Zeichen
618 Hermann Vierordt.
auch die Beobachtung der Krankheit mächtig gefördert, ferner im
Gegensatz zur bisherigen gewaltsamen und schwächenden Therapie
der „physiologischen Medizin" unter Fr. Jos. Vict. Broussais (1772 —
1838) eine rationellere Behandlung mit wirksamen Mitteln, China
(auch Tartarus stibiatus) und Stimulantien, eingeführt. Laennec
kannte auch das Zurücktreten der physikalischen Zeichen bei der
centralen Pneumonie und schuf die genaue Differentialdiagnose gegen-
über den, perkussorisch schon durch Auenbrugger genugsam unter-
schiedenen Ergüssen in das Brustfell. Nach pathologisch-anatomischen
und zugleich praktisch-medizinischen Gesichtspunkten unterschied er
8 Arten der Pleuritis (s. Traite, Partie II Sect. IV Chap. I), worunter
namentlich das konsekutive, von ihm genau geschilderte und ab-
gebildete (Tafel II) „retrecissement de la poitrine" und die „pleuresie
seche", als eine Art der partiellen oder circumskripten Pleuritis, an-
geführt sein mögen. Dass noch vor Laennec Philipp Pinel (1745 —
1826: Nosographie philosophique t. II p. 408, Paris 1818) die Pleuritis
in die Entzündung der serösen Häute eingereiht hat, soll nicht un-
erwähnt bleiben.
Nach Laennec haben sich noch verschiedene Franzosen um die
Kenntnis der Pneumonie verdient gemacht, unter denen ausser Andral
und Piorry Augustin Grisolle wegen seiner Monographie (s. Litt.)
namhaft gemacht sein mag — vgl. Wunderlich, Handbuch der
Pathologie u. Therapie, 3. Bd., 2. Aufl., Stuttgart 1856, p. 298.
Deutschland blieb diesen und auch anderen z. B. englischen
(Stokes, Walshe) Forschungen gegenüber zunächst zurück, bis in
C. Kokitansky (Handbuch der patholog. Anatomie, III. Bd., Wien
1842, p. 84) die anatomische Darstellung der genuinen „croupösen"
Pneumonie ihren unübertrolfenen Meister fand und Skoda in der
Zeichenlehre der Pneumonie wie Pleuritis eine weitere Vertiefung und
Verfeinerung unserer Kenntnisse herbeiführte, zugleich auch durch
seinen therapeutischen Skeptizismus mit den Anstoss zu Aenderungen
in den Grundsätzen der Therapie gab. Nachdem schon Broussais'
erklärter Gegner P. Ch. AI. Louis (1787 — 1872), der hochverdiente
Kliniker und Begründer der „methode numerique" mit seinen „ Recher-
ches sur les effets de la saignee . . ." 1835 den Nutzen des Aderlasses,
mindestens des frühen, in der Pneumonie sehr in Frage gestellt hatte,
erregte auf deutschem Boden Dietl's (s. Litt.) erfolgreicher Angriif
auf die prinzipielle Aderlassbehandlung der Lungenentzündung Auf-
sehen; im weiteren Verlauf der von Dietl hervorgerufenen Bewegung
wurde der Aderlass in vielleicht allzu radikaler V^eise aus dem Heil-
apparat des inneren Arztes verbannt.
Experimentelle Studien über Entzündung der Pleura machte
Win trieb (1. c. p. 230), ebenso fand die Histologie der „Pseudo-
membranen", des Exsudats und Transsudats — vgl. namentlich
Virchow „Ueber den Faserstoff" in „Ges. Abhandlungen" 1856
p. 57 — vielfach Bearbeiter. Auch der Versuch der Wiederbelebung
der alten (hippokratischen und galenischen) Lehre von den kritischen
Tagen durch L. Traube 1851/52 (Ges. Beiträge ... Bd. II p. 235,
689) darf nicht übergangen werden, — Die Temperaturverhältnisse
bei Pneumonie haben hauptsächlich in C. A. W u n d e r 1 i c h (Verhalten
der Eigenwärme in Krankheiten, Leipzig 1868) ihren exakten Be-
obachter und Beschreiber gefunden.
Die Pneumonie der Kinder haben zuerst J.Cruveilhier ( Archives
Lungenkrankheiten. 619
gener. de med. IV, 1824, p. 169), dann Guersant, Yalleix,
Grisolle, Killiet et Barthez, von anderen zu schweigen, ge-
nauer studiert; die Monographie H. Ziemssens is. Litt.) sei aus-
drücklich erwähnt. Cruveilhiers Ausspruch, dass ebenso viele
Neugeborene an Lungenerkrankungen sterben, als Erwachsene, war
für seine Zeit ein gewichtiges Wort.
Die Greisenpneumonie ist seit Hourman et Dechambre
(Archives gener. de med. 3^ ser. 1836, t. X) öfters, namentlich auch
von französischer Seite, behandelt worden (s. Wunderlich 1. c. Hand-
buch 3. Bd., p. 299; E. Dermo nt. De la pneumonie des vieillards,
These de Montpellier 1884 p. 11). — Die besondere Form der Pleuritis
(Empyema) puls ans (vgl. Litt. S. 613) ist schon von G. de Baillou
(Ballonius, gest. 1616) gesehen, aber erst von E. L. Mac Donneil
(Montreal), früherem Assistenten von Graves und Stokes, 1844
(Dublin Journal of med. and chemical science. Vol. XXV) eingehender
gewürdigt worden.
In neueren Zeiten ist nun bei der Pneumonie wie Pleuritis mehr
der ätiologische, nicht bloss mit „Erkältung" sich begnügende Stand-
punkt zur Geltung gekommen. Hatten in früheren Zeiten schon einzelne
(Sydenham) die Pneumonie oder Pleuritis als Lokalisation einer
Blutkrankheit aufgefasst, Grisolle für manche Fälle von Pneumonie
ein unfassbares verborgenes Agens (,.cause occulte, insaisissable")
vermutet, Parrot (Gaz. hebd. 1871) die Pneumonie als ,,fievre her-
petique avec manifestation sur le poumon" bezeichnet, so ist die An-
erkennung der echten krupösen Lungenentzündung als einer Infektions-
krankheit immer mehr zur Geltung gekommen. Th. Jürgensen ist
wohl derjenige gewesen, welcher zuerst aus dem Verhalten der
Pneumonie nach ätiologischen, experimentellen und besonders klinischen
Gesichtspunkten den infektiösen Charakter der Krankheit erschlossen
und nachdrücklich vertreten hat; so schon in seiner Darstellung der
krupösen Pneumonie in Ziemssens Handbuch 1875 p. 153, 143:
„Die Annahme eines specifischen Krankheitserregers ist notwendig" . . .
„Die krupöse Pneumonie gehört also zu der Gruppe der Infektions-
krankheiten" . . . Die Erkältung liess er nur noch als „seltene Ge-
legenheitsursache" gelten, während z. B. noch 1886 A. Hirsch
(Histor.-geograph. Pathol., 2. Bearbeitung, Dritte Abteilung, p. 103 ff.)
bei Besprechung der Pneumonie - Epidemien und dem von ihm be-
dingungsweise anerkannten infektiösen Charakter der Krankheit die
Erkältungspneumonie „nicht aus der Nosologie streichen" möchte.
In der That wurde dann auch der Krankheitserreger bald nach-
gewiesen, nach ersten Anläufen von E. Klebs, Eberth, R. Koch,
durch C. Friedländer 1882 und mit der hinreichenden experimen-
tellen Begründung 1883 (s. Litt). Der von Friedländer im Verein
mit Frobenius gezüchtete „Pneumonie-Mikrococcus" wurde zwar
von A. Fränkel (Verhandlungen des Congresses für innere Medicin,
3. Congress in Berlin, Wiesbaden 1884, p. 17) nicht in vollem Um-
fang bestätigt, insbesondere die „Kapsel" und das sog. „nageiförmige
Wachstum" wurden von ihm als keineswegs wesentlich, den Pneumonie-
coccus als solchen auszeichnend hingestellt. Von anderen Unter-
suchungen abgesehen stellte Weichsel bäum die Thatsache fest,
dass bei „Pneumonie" verschiedene ^Mikroben vorkommen und dass
der meist ovale „Diplococcus" (lanceolatus) am häufigsten vertreten
sei, dass aber auch ein „Bacillus" pneumoniae (Friedländer) ange-
620 Hermann Vierordt.
nommen werden müsse, mithin eine Einheitlichkeit des pneumonischen
Virus eigentlich nicht existiere. Andererseits hat der Diplococcus
auch bei allerlei Affektionen, welche an eine Pneumonie anschliessen,
Pleuritis, Meningitis, Peritonitis und dann wieder in normalem
ßronchialsekret und Sputum sich nachweisen lassen. Auch Strepto-
coccen-Pneumonien sind, freilich wohl nur sehr selten primär, be-
obachtet (Weichselbaum) und als sicher sekundär solche durch
Staphylococcus pyogenes aureus et albus.
In ähnlicher Weise wurde von der Pleuritis, soweit sie über-
haupt als eine „primäre" angesehen werden konnte, der Nachweis
von allerlei Mikroben erbracht, meist Streptococcenarten. Jedenfalls
ist auch hier keine Einheitlichkeit des Virus vorhanden, die umso-
weniger anzunehmen ist, als eine Reihe von scheinbar selbständig
entstandenen Pleuritiden auf tuberkulöser Grundlage beruht. Die
„metapneumonischen" mehr bei jüngeren Individuen, auch in Endemien
auftretenden Pleuritiden (Empyeme), welche durch den Pneumonie-
coccus verursacht sind, hat Netter (Bullet, et mem. de la soc. med.
des hopitaux de Paris, 3® serie, 6* annee, 1889) zuerst beschrieben. —
Die Therapie der Pleuritis, die in diagnostischer Beziehung. durch
die Probepunktion mit der Pravazschen Spritze (zuerst vorgeschlagen
von Mader, Wiener med. Wochenschrift 1866 p. 301; 1868 19. Sept.
erstmals geübt bei einer Cyste von Bernhard Arnold in Donzdorf,
Med. Corresp.-Blatt des Württ. ärztl. Vereins 39. Bd. 1869 p. 269)
wesentlich gefördert wurde, ist zum grossen Teil, jedenfalls mit den
eitrigen und veralteten Ergüssen mit Recht der Chirurgie zugefallen,
die sich seit Trousseau in einer stattlichen Reihe von Operations-
methoden mit wechselndem Glück versucht hat. Die „antiseptische"
Pleurotomie scheint zuerst 1873 Ewart in Calcutta vollführt zu
haben (s. darüber viele Notizen bei E. Cestan, Litt. S. 608). Die
alte Uebung des Bruststiches hat durch C. Gerhardt eine zusammen-
fassende und übersichtliche Darstellung erfahren.
Von sonstigen entzündlichen Affektionen der Lunge sei die
Katarrhalpneumonie genannt, deren erste deutliche Beschreibung
freilich in verhältnismässig späte Zeit fällt. Jürgensen (1. c.) stellt
einige diesbezügliche Angaben zusammen. Von alten Autoren ist
höchstens A e t i u s von Amida (6. Jahrhundert) anzuführen, dann aber
Th. Sydenham und ihm eng sich anschliessend van Swieten
(Bd. II § 867 — 74). Aus Morgagni möchte Jürgensen einen
Sektionsbefund bei einem 14 tägigen Mädchen der Katarrhalpneumonie
zuweisen (Lib. II Epist. XX Art. 15).
Hatte man früher in solchen Fällen wohl von Peripneumonia
notha (z. B. A. G. Richter 1813) oder auch Pneumonia „notha" ge-
sprochen, . vermochte auch L a e n n e c über gewisse symptomatische
Bezeichnungen, wie „Catarrhe suffocant", nicht hinauszukommen, so
sind einzelne der späteren Franzosen schon deutlicher; ich nenne
Rilliet et Barthez, bei denen (Traite 1. 1 Chap. X, 3. edit. p. 594)
eine genauere geschichtliche Skizze der Bronchopneumonie zu finden
ist, dann auch Grisolle, welcher schon eine Pneumonie lobulaire,
mamelonnee (der Kinder) unterscheidet. Die Bezeichnung Katarrhal-
pneumonie gebraucht, freilich nicht genau mit der jetzigen Auffassung
übereinstimmend, der die erworbene und oft falsch gedeutete Atelek-
tase wohl kennende Fr. L. Legendre, den Ausdruck „lobuläre
Pneumonie" F. Bournet 1833 (Journal univ. et hebd. de med. et
Lungenkrankheiten. 621
chir. prai). Von der „BroncMopneumonie der Neugeborenen und
Säuglinge" handelt Phil. M. Seifert 1837; um die Erforschung der
angeborenen und erworbenen Atelektase der Lungen hat sich Ed. Jörg
(Die Fötuslunge im geborenen Kinde . . . Grimma 1835 — erweiterte
Bearbeitung der Dissertation: De morbo pulmonum organico . . .
Lipsiae 1832} besonders verdient gemacht und damit auch die Lehre
von der Katarrhalpneumonie bedeutend gefördert. Die grobe patho-
logische Anatomie der „lobulären Pneumonie der Kinder" legte an
grossem Material Joh. Steiner (Prager Yierteljahrsschrift 1862 Bd. 3)
fest, die Masernpneumonie und deren Therapie studierte Bartels
(Virchows Archiv 21. Bd. 1861 p. 65, 129), H. Ziemssen (L. c.) den
Temperaturverlauf und L. Buhl (Lungenentzündung, Tuberkulose
und Schwindsucht, München 1872) die histologischen Vorgänge („Des-
quamativpneumonie").
Bronchialkatarrh. Die alte Zeit leitete die Schleimflüsse
aus dem Gehirn ab und es dauerte lange, bis dieser unbegreiflich
hartnäckige Best hippokratisch-galenischer Doktrin, gegen die übrigens
schon Hier. Cardanus und J. B. van H e 1 m o n t angekämpft hatten,
durch J. Yict. Schneider's unvergessene Schrift „De catarrhis",
Vitenbergae 1660 endgültig beseitigt wurde. — Sonst lief der gewöhn-
liche Katarrh der Bronchien unter allerlei, oft rein symptomatischen
Namen, und gewiss auch dem der „Peripneumonia notha" (Sydenham,
Huxham). Bei Max. St oll findet sich eine „Angina bronchialis".
Der von Laennec nicht gebilligte und durch Catarrhe pulmonaire
ersetzte Ausdruck Bronchitis wird zuerst gebraucht von Ch. B a d h a m
(An essay on Bronchitis, 2. Aufl. übers, von L. A. Kraus, Bremen
1814), dann auch bei Joh. Peter Frank (Interpretationes clinicae
observat. electarum Tubingae 1810 p. 110 — „Br. lethalis" bei einer
25jährigen Frau). Nach Laennec ist der Lungenkatarrh „sans
contredit une des maladies les plus frequentes" ; er unterschied schon
den akuten und chronischen Schleimkatarrh. Bei den späteren Autoren
sind, wie bei B i e r m e r 1 1. c. p. 649) zusammengestellt ist, z. T. ziem-
lich komplizierte Einteilungen zu finden; den Ausdruck „Bronchitis
capillaris" scheinen A. L. de la Berge et Ed. Monneret (Com-
pendium de medecine pratique . . . Paris 1836—46), dann A. M. Fau-
vel (Pariser These von 1840) zuerst eingeführt zu haben. Die
schwereren Formen der Bronchitis der Kinder sind von den eigentlichen
Bronchopneumonien nicht immer streng getrennt gehalten worden
(vergl. 0. S. 615). Die geographische Verbreitung der „katarrhalischen
Krankheiten" der Atmungsorgane behandelt Hirsch in seinem Hand-
buch 3. Bd. p. 1.
Hier sei der bezüglich seiner Aetiologie eine gewisse Sonder-
stellung einnehmende Catarrhus aestivus (Heufieber, Heuasthma)
eingereiht. Der englische Arzt Jolm B o s t o c k , nach dem die Affektion
vielfach auch benannt wird, hat sie an sich selbst zuerst 1819 ge-
schildert (Medico-chirurg. Transact. Vol. X) als „a periodical aftection
of the eye and ehest", nachdem vor ihm Heberden mit kurzen
Worten eines im Sommer auftretenden lästigen Katarrhs Erwähnung
gethan. Im Jahr 1828 (2. Mitteilung Bostocks Trans. Vol. XIV)
ist bereits die Bezeichnung „Catarrhus aestivus or summer catarrh"
acceptiert. Als Ursache der Krankheit vermutete man schon früher
die Emanationen gewisser Pflanzen ; Gordon 1829 dachte mehr bloss
an die Riechstoffe, Elliotson 1831 u. a. an den Blütenstaub, den
622 Hermann Vierordt.
Pollen, was dann (1873) Blackley besonders auch experimentell
bestätigte. Aus dem Jahr 1862 ist die allerdings umständliche, aber
verdienstliche Monographie von Ph. Phöbus (s. Litt.) zu erwähnen.
Die Bronchitis fibrinosa s. crouposa ist in früheren
Zeiten bekannt gewesen, da man von ausgeworfenen Lungengefässen
(Galen, Tulpius), von polypenartigen Bildungen (Th. Bonnetus,
Euysch) unter Betonung der verzweigten Gestalt der Gebilde
sprach. Die Bezeichnung Bronchitis fibrinosa hat schon 1845 Rob.
Remak gebraucht. Leb er t 1869 (Deutsches Archiv f. klin. Medizin
VI Bd. p. 74, 126) sie eigentlich in die Litteratur eingeführt. Ausser
des letzeren Abhandlungen sind namentlich Biermer's Darstellungen
und zuletzt noch Riegel's Bearbeitung des Gegenstandes als für
den heutigen Stand unseres Wissens massgebend anzuführen.
Der etwas schwankende Begriff der schon L a e n n e c , A n d r a 1 u. a.
bekannten Bronchitis putrida sollte, wie es auch Traube hervor-
gehoben (Ges. Beiträge ... II p. 556, 684), auf die Fälle von Katarrh
mit faulig zersetztem Sekret beschränkt werden, ohne Hereinziehung
der ulcerösen Formen mit Substanzverlusten der Schleimhaut und
des Bronchialrohrs oder von Bronchiektasie und Lungengangrän.
Die bei ihr (aber auch bei Lungengangrän) im dreifach geschichteten
Sputum sich findenden bis bohnengrossen „Di ttrich sehen Pfropfe"
sind von dem eben genannten als „pfropfartige, heftig stinkende,
missfarbige Massen" in „Beiträgen z. path. Anatomie der Lungen-
Krankheiten," Erlangen 1850, (2. Abhdlg. : über Lungenbrand . . .) erst-
mals beschrieben worden. Die wichtigsten historischen Notizen über
fötide Bronchitis s. bei Riegel, Ziemssens Handbuch IV, 2 p. 121.
Die Bronchiektasie, wenn zunächst auch nicht als Ausgang
einer interstitiellen Pneumonie, welche Anschauung einer
späteren Zeit angehört, ist mit genügender Deutlichkeit zuerst bei
Laennec erwähnt; er widmet ihr ein besonderes Kapitel (II) der
Lungenkrankheiten: De la dilatation des bronches. Laennec er-
zählt, dass er durch den damaligen Studenten, späteren (bis zur Juli-
revolution!) Professor der Medizin J. B. Cayol (1787 — 1856) auf die
eigenartige Afiektion, welche übrigens nicht allzu selten sei und bei
Kindern nach Keuchhusten, sowie bei alten Leuten vorkomme, auf-
merksam gemacht worden sei. Laennec nahm als Ursache der Er-
weiterung Anhäufung von schleimigem Sekret in den Bronchien an,
was durch Licht lieim's zunächst der Lungenatelektase gewidmeten
Tierexperimente (Archiv für experiment. Pathologie und Pharmako-
logie Bd. X 1879) eine gewisse Bestätigung erfuhr, indem derselbe
in abgeschlossenen und entzündeten Bronchien Ansammlung von
(eitrigem) Sekret und event. Ektasie beobachtete. Andral Hess die
Bronchien noch in der Ernährung und Widerstandsfähigkeit beein-
trächtigt sein, während Reynaud der Inspiration, Williams der
Exspiration eine Wirkung zuschrieb. Erst Corrigan, mit der Leber-
cirrhose vergleichend (On cirrhosis of the lung, Dublin Journal
Vol. XIII 1838), zog das „fibrös-zellige" Zwischengewebe und dessen
Schrumpfung nach vorausgegangener Entzündung heran. C. E. H a s s e ,
Rokitansky beschäftigten sich vorzugsweise auch mit den weiteren
Folgezuständen, z. B. Lungenblutungen, und Ausgängen der Bron-
chiektasien, letzterer auch mit dem anatomischen Begriff der „inter-
stitiellen Pneumonie". Von weiteren Autoren (Litteratur bei B i e r m e r)
seien Rilliet et Barthez (Traite . . .), A. M e n d e 1 s o h n (Mecha-
Liingenkrankheiten. 623
nismus der Respiration und Circulation . . . 1845), van Geuns,
(Nederlandsch Lancet 1854), J. B. Barth (1856), Trojanowsky
(Dorpater Dissertation 1864), dann namentlich B i e r m e r s Aufsatz in
Virchows Archiv XIX 1860 und seine zusammenfassende Darstellung
in Virchow's Handbuch 5. Bd. 1. Abteil, hervorgehoben. Die ätio-
logische Seite bespricht Fr. A. Hoffmann (Krankheiten der Bronchien
1896 in Nothnagels Sammelwerk XHI Bd. III. Teil I. Abteilung
p. 168) ausführlicher, auch unter Anführung der wichtigeren älteren
Theorien.
Die durch Staubinhalation hervorgerufenen chronischen
Entzündungen, die Pneumonokoniosis in Form der Anthracosis, Side-
rosis . Chalicosis , Alurainosis , Tabacosis etc. sind seit T r a u b e s
(Deutsche Klinik 1860; Ges. Beiträge II p. 511; 765) grundlegenden
Untersuchungen über den Kohlenstaub in den Lungen und Zenkers
eingehenden pathologischen Forschungen wiederholt, auch nach der
klinischen Seite (Skoda, Bamberger, Biermer, Lebert) be-
arbeitet worden, und bis in die neueste Zeit sind immer neue Formen
der Staubinhalation bei den verschiedensten gewerblichen Betrieben
festgestellt worden, die allerdings im Grunde genommen schon früher
bekannt waren. Sagt doch schon Laennec im Kapitel ..Melanose
du poumou"' : „ J'ai quelquefois soupgonne que cette matiere noire pou-
vait provenir, en moins en partie, de la fumee des lampes et des
Corps combustibles , dont nous nous servons pour nous chauffer et
nous eclairer" etc.
Das Lungenemphysem ist von Laennec in die Pathologie
eingeführt, wenn es auch vor ihm in einzelnen Fällen (B o n n e t ,
Ruysch, Morgagni, Baillie s. bei Laennec, Kapitel ..Emphyseme
du poumon''; beschrieben ist. Bei älteren Aerzten war es teils zum
Asthma siccum, teils zur Brustwassersucht gerechnet worden. Laen-
nec traf auch schon die Unterscheidung in eigentliches (vesikuläres
oder alveoläres) Emphysem und in interlobuläres. Die pathologische
Anatomie des Emphysems wurde durch Rokitansky, die klinische
Diagnose durch Casp. Friedr. Fuchs (Abhandlung über das Emphysem
der Lunge, Leipzig 1845), dann durch A. Mendelsohn (s. o.) ein-
gehend erörtert. Die Anhänger der mechanischen Theorie der
Entstehung der Lungenblähung teilten sich in solche, welche im In-
spirationsdruck (Laennec, Rokitansky, Kompensationstheorie
von Williams und besonders Gairdner) und in solche, die im
Exspirationsdruck (Jenner 1857. Med.-chirur. Transact. Vol. XL;
Ziemssen 1858, Deutsche Klinik) die hauptsächlichste Ursache er-
blickten, während wieder andere, Frey (Mannheim), F. Niemeyer,
Gerhardt, Biermer, beiden (dabei aber meist der Exspiration die
grössere) Bedeutung zuschrieben. Dem gegenüber wollten Aerzte wie
pathologische Anatomen (Rainey, Hertz, Steffen, Villemin,
Archives gener. 1866, Rindfleisch) Ernährungsstörungen des Lungen-
gewebes oder auch gewisse angeborene, krankhafte Veränderungen
des Lungengewebes in den Vordergi'und stellen, wohin z. B. Wilh.
Alex. Freund's Theorie von den „primären Rippenknorpelanomalien"
(1859) gehört, welche Erweiterung des Brustkorbs und ihr folgendes
Emphysem annahm (vergl. ßerl. klin. Wochenschrift 1902 p. 1, 29;
Diskussion p. 39, 81). RossignoFs Abhandlung von 1849 (s. Litt)
sei besonders erwähnt. Die bei Kindern vorkommenden Formen des
624 Hermann Vierordt.
Emphysems sind erst später nach dem Vorgang der Franzosen Bailly
(1843), Guillot (1851), Rilliet et Barthez etc. in die Unter-
suchung hereingezogen worden (s. bei Fürst 1. c).
Um die klinische Therapie des Emphysems haben sich A. Bier-
mann, um eine rationelle pneumatische Behandlung J. Lange, E.
V. Vivenot d. J., G. v. Liebig, Waidenburg, Biedert Ver-
dienste erworben (s. J. Lazarus, Die pneumatische Therapie von
1875—1900; Berliner klin. Wochenschrift 1900 p. 51, 79).
Auch die Pathologie des 0 e d e m s der Lunge ist im wesentlichen
von Laennec geschaffen, für das E. Darwin die Bezeichnung Ana-
sarca pulmonum, Itard Hydropneumonie einzuführen versucht hatte.
Die akute und höchst akute Form hat A n d r a 1 besonders gewürdigt.
Lungeninfarkt, in früherer Zeit unter die Hämoptysis oder
Pneumorrhagie eingereiht, ist zunächst von Laennec geschildert
(Kapitel „Apoplexie pulmonaire") und auch anatomisch gut beschrieben.
Die Lungenblutung ist mit der Gehirnblutung (exhalation sanguine
cerebrale) in Parallele gesetzt: auch der ältere Ausdruck „infarctus"
wird gebraucht, die keilförmige Form hervorgehoben, die primäre
Arterienverstopfung freilich nicht beachtet, was durch J. B o u i 1 1 a u d
(Archives gener. t. XII 1826 p. 392) erstmals geschah. Crüveil-
hier, dann Bochdalek (Prager Vierteljahrsschrift 1846) wiesen die
Hindernisse im Gefässsystem nach. Während aber letzterer die Neigung
des Bluts zur Gerinnung und Bildung von Faserstoffpfröpfen auf eine
Arterienentzündung zurückführte, Hess Rokitansky (Handbuch
1. Aufl.) den Faserstoff des Blutes mehr direkt oder unter dem Ein-
fluss einer pyogen en Blutkrasis, von Pyämie, Typhus, akuten Exan-
themen, erkrankt und zur Gerinnung geneigt sein.
Völlig neue Gesichtspunkte von grundlegender Bedeutung brachte
R. Virchow in die Lehre hinein. Als Schöpfer und experimenteller
Begründer der Lehre von der Embolie, der Verschleppung von Blut-
gerinnseln mit dem Blutstrom, lag auch ihm der Zusammenhang des
Lungeninfarkts mit einem Embolus überaus nahe, doch liess er in
weiser Zurückhaltung die von manchen anderen sofort bejahte Frage
noch offen, da ihm die experimentelle Erzeugung speziell eines Lungen-
infarktes nicht gelang. Einige, wie B. C o h u (Klinik der embolischen
Gefässkrankheiten, Berlin 1860 — enthält auch die wichtigsten Daten
der vorhergehenden Zeit) erklärten den Infarkt im wesentlichen als
aus einer Obturation der kapillären Bahnen hervorgegangen. Die
etwas früher fallenden Ansichten von Engel oder von Dittrich
bedeuten so wie so einen Rückschritt in der Auffassung, während
He sc hl für den Lungeninfarkt „kapilläre Embolien" annahm. Von
Wichtigkeit sind Panum's Experimente (Virchows Archiv Bd. 27 — 29),
mit zweckmässigerem Material (Wachskügelchen) angestellt, freilich
im Resultat insoferne noch nicht ausgereift, als augenscheinliche In-
farkte als „pneumonische entzündliche Knoten" beschrieben werden,
während der wahre, unkomplizierte, nicht infektiöse Infarkt mit Ent-
zündung nichts zu thun haben dürfte (Cohnheim, Litten). Eine
erneute Umwälzung in den Anschauungen bewirkten P. Cohnheims
bekannte „Untersuchungen über die embolischen Prozesse" (Berlin
1872), die von Litten mehrfach ergänzt wurden. Cohnheim
schlug den Weg der direkten Beobachtung an der Froschzunge ein
und verfolgte die Entstehung des Infarktes von Anbeginn an durch
alle seine Stadien. Die Bedeutung der sekundären Degeneration der
Lungenkrankheiten. 625
Gefäss wände für die Durchlässigkeit der prall gefüllten Venen und
die daraus entstehende Hämorrhagie, sowie die der ..Endarterie",
welche freilich nicht für alle einzelnen Fälle (Art. meseraica super.!)
stimmen wollte, w^urde hervorgehoben. — Zu voller Aufhellung ist
die Frage des blutigen Infarktes (der Lunge) auch durch die weiteren.
anCohnheim anknüpfenden Untersuchungen nicht durchgedrungen;
so sind z. B. v. Recklingshausen's gewichtige Einwände, seine
„hyalinen Thrombosen" in den Kapillaren, gegenüber den Cohn-
he im sehen Lehren wohl zu beachten. Üeberhaupt ist im Prinzip
die Möglichkeit nicht abzustreiten, dass hämorrhagischer Infarkt ohne
Embolie sich bilden kann, wenn auch die Embolie der gewöhnliche
Entstehungsmodus sein mag. — Bis in die neueste Zeit ist die Frage
der Embolie und Thrombenbildung in der Lunge, ohne nach allen
Richtungen hin aufgeklärt zu sein, immer wieder mit den ver-
schiedensten experimentellen Mitteln — z. B. Paraffin, Gsell —
untersucht worden (s. b. Aufrecht, Litt). — Der klinischen
Würdigung des Infarktes hat, wenn wir von Laennec absehen
wollen, zunächst Gerhardt (1863) mit verschiedenen seiner Schüler,
dann auch F. Niemeyer seine Aufmerksamkeit zugewandt. Dass
ein Embolus, wenn er infektiös ist, den embolischen (metastatischenj
schon von Laennec gekannten Äbscess der Lunge erzeugt, ist
eine wichtige Errungenschaft der neueren Zeit, die namentlich dieses
Verhalten für die ulceröse, septische Endocarditis, welche selbst wieder
durch verschiedene Krankheitserreger (insbesondere Staphylococcus
pyogenes aureus, Streptococcus pyogenes etc.) bedingt sein kann, er-
wiesen hat.
Brand der Lunge. (Litteratur ausser bei Hertz, 1. c, bei
Wunderlich, Path. u. Therap. III Bd. II Abt. p. 509). war sicher-
lich schon den Alten (s. S. 615) bekannt, ist aber erst von Laennec
genauer charakterisiert worden mit der aligemein angenommenen Unter-
scheidung in nicht umschriebenen und umschriebenen oder essentiellen
Brand. Bei van Swieten sucht man vergebens nach der in Rede
stehenden Affektion. Laennec betont den Fötor ex ore, das putride
..üeliquium" der Lunge, das eigenartige Sputum. Nach ihm hat
(ruveilhier die pathologische Anatomie bereichert, desgleichen
Schröder van der Kolk (diffuser Brand); Guislain beschrieb
den Brand bei der Nahrungsverweigerung der Geisteskranken, Gri-
solle den an Pneumonie sich anschliessenden. Eine zusammen-
fassende Arbeit (These von 1840) lieferte Laurence, ebenso Ger-
hardt-Philadelphia (citiert bei Hasse. Path. Anat. I, 300). — Die
Therapie förderte Skoda, indem er eine mehr lokale Behandlung
anstrebte, Traube erweiterte die Diagnostik. — Die Lungengangrän
bei Kindern beschrieben Rilliet et Barthez (s. a. Traite Bd. I
Chap. XIV), später Boudet (Archives gener. 1843 II & III). Die
„Aetiologie des Lungenbrandes" behandelt in einer brauchbaren Zu-
sammenstellung Gustav Cohen (Strassburger Dissertation 1876).
Auch über endemisches und epidemisches Vorkommen wird nicht so
selten berichtet, so von G. H. Mosing über eine Endemie in der
Strafanstalt zu Lemberg (1842); doch sind die diesbezüglichen Nach-
richten nicht in jeder Beziehung klar und leicht verständlich.
Den Hydrothorax,die „13rustwassersucht", als s e 1 b s t ä n d i g e
Krankheit, entgegen der vulgären Ansicht, auch vieler Aerzte (z. B.
Jos. Frank, Praxeos medicae univ. praecepta, Pars II, Vol. II,
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. ; 40
626 Hermann Vierordt.
Sect. 1 p. 676), zurückgewiesen oder wenigstens als extrem selten —
1 Fall auf 2000 Sektionen! — hingestellt zu haben, ist wiederum
Laennec's Verdienst; andererseits bezeichnet er den „sympto-
matischen" Hydrothorax „für ebenso häufig, als der idiopathische
selten sei". Er kennt sein öfters dem Ende vorausgehendes und
dieses beschleunigende Vorkommen bei anderen Affektionen (Herz-,
Leberkrankheiten, Krebs). In der Folge haben Reynaud, Stokes,
Eokitansky u. a. den Hydrothorax anatomisch noch genauer präci-
siert, so dass jetzt allgemein nur das reine seröse Transsudat unter
diesem Namen geht, wobei Entzündungserscheinungen gänzlich oder
fast gänzlich zurücktreten.
Den Hydrops pectoris unterschied schon Luca Tozzi (1638 —
1717), 1695 Malpighi's Nachfolger in Rom, vom Hydrops pulmonum,
dem Lungenödem; deutlicher ist es durch I. Fr. Albertini ge-
schehen, der den letzteren mit den Herzkrankheiten (p. 636) in
Verbindung brachte. Später hat Pierre Barr er e (Observations ana-
tomiques 1753) das Lungenödem beschrieben; im übrigen hat auch
hier Laennec wieder die anatomischen und klinischen Grundlagen
geschaffen, indem er — vergl. auch die spätere Unterscheidung des
aktiven und passiven Oedems — das „idiopathische" oder „primitive"
Oedem für selten erklärte.
Pneumothorax — der Name stammt von Itard (Dissertation
sur le pneumo-thorax, Paris 1803) — war, wenigstens in der Form
des Pyo - Pneumothorax, den Alten wohl bekannt, worüber das im
Kapitel „Perkussion und Auskultation" von der Sukkussion Gesagte
(S. 605) verglichen werden mag. Freilich haben die Alten das Haupt-
gewicht auf die Eiter-, nicht die Luftansammlung gelegt, trotz der
offenkundigen Schüttelgeräusche. Morgagni registriert (Epist. XVI
Nr. 36) 4 Fälle von Luftansammlung in der Pleura, denen Laennec
(II. Teil 4. Abschnitt, 4. Kap., 3. Artikel) einen 5. aus Ambr. Pare
anfügt. Van Swieten scheint den Pneumothorax nicht zu kennen.
Die Symptome der Gasansammlung in der Pleurahöhle lehrte
Laennec mit ziemlicher Vollständigkeit kennen; er bestimmte die
Bedeutung der Sukkussion und versucht auch eine Erklärung der
metallischen Phänomene, die allerdings von Skoda in verschiedenen
Punkten bekämpft und auf das Vorhandensein eines grösseren, zur
„Reflexion" des Schalls der Beschaffenheit seiner Wände nach ge-
eigneten, Luftraums zurückgeführt wurde. Piorrj^ Reynaud, der
schon 1830 80 Fälle zusammenstellen konnte, Louis, Stokes, An-
dral, später Puchelt, welcher zuerst einen doppelten Pneumothorax
beschreibt, Saussier (Pariser These von 1841), Copland, Woil-
lez u. a. sind zu erwähnen, aus neueren Zeiten besonders auch
Arbeiten über den Metallklang und die experimentellen Untersuchungen
von Ad. Weil (s. Litt.), der die Unterscheidung der einzelnen Arten
des Pneumothorax, den geschlossenen und offenen, begründete.
Eine erste Darstellung des Bronchialasthmas, dessen Ge-
schichte in Goluboff's Abhandlung (s. Litt.) eingehend besprochen
ist, kann man schon bei Aretaios von Kappadocien erkennen.
Dann finden wir es wieder bei dem selbst an Asthma leidenden van
Helmont, welcher den asthmatischen Anfall mit dem epileptischen
vergleicht. Thom. Willis (Pathologia cerebri et nervosi generis . . .
Oxoniae 1667) giebt eine genauere Beschreibung des Asthma bronchiale,
das er aus einem durch Nerven vermittelten Spasmus der Bronchien
Lungenkrankheiten. 627
erklärt; auch die Lungenblähung bespricht er und erwähnt eine
Nekropsie mit einem, wenigstens was die Lunge betrifft, negativen
Befund. Ein englischer Arzt, Eob. Bree (A practical inquiry into
disordered respiration, distinguishing the species of convulsive asthma.
4. Ed. London 1807, übersetzt mit Anmerkungen von K. F. A. S.:
„Untersuchung über ki-ampfhaftes Athemholen", Leipzig 1800), machte
als erster auf die reichliche Schleimabsonderung am Schluss des An-
falls aufmerksam, so wie späterhin Traube mit einem akutesten
Bronchialkatarrh auskommen wollte. Laennec (Partie II Sect. III
Chap. VIII), der die Reiss eisen sehen glatten Muskelfasern der
Bronchien ausdrücklich erwähnt, dachte an einen Bronchialkrampf
in Form eines primär nervösen Prozesses und Katarrhs. Vom nervösen
Asthma selbst unterschied er zwei Arten: Asthme avec respiration
puerile und Asthme spasmodique. Der „asthmatische Katarrh" kam
auf. Die von Longet, A. W. Volk mann u. a. festgestellte Be-
deutung des Vagus als des die Bronchien versorgenden Nerven ver-
anlasste Romberg zu der Annahme eines eigentlichen Bronchial-
spasmus. Gegen die 1854 von Wiutrich aufgestellte, unhaltbare
Theorie des Zwerchfellkrampfes erhob Biermer 1870 die gewich-
tigsten Einwände, Er legte seiner Theorie den Spasmus der Bronchial-
muskeln zu Gi'unde und betonte des weiteren die Zurückhaltung der
Luft in den Alveolen, die Lungenblähung, die Kompression der kleinen
Bronchien und der Alveolen durch den Exspirationsmechanismus. Den
begleitenden Katarrh vermochte er nicht zu erklären. Riegel kam
wieder auf den (Win t rieh sehen) Zwerchfellkrampf zurück, da er
den Bronchialspasmus experimentell nicht erzielen konnte, was erst
späteren Experimentatoren, namentlich Einthoven, Beer, durch
Reizung des peripheren Vagusteils gelang. Th. Weber (1873) vertrat
mit Glück eine angio-neuro-v^asomotorische Theorie; Erweiterung der
Gefässe und Anschwellung der Schleimhaut der Bronchien war ihm
das wesentliche. 1875 entdeckte LeydendiealsCharcot-Leyden-
sche bezeichneten Asthmakrystalle, die nur selten im Anfalle fehlen,
bei ca. 10 %. 1883 beschrieb Curschmann seine Spiralen und nahm
eine spezifische „Bronchiolitis exsudativa" an. Als letztes möge der
von verschiedenen Beobachtern geführte Nachweis eines gesteigerten
Vorkommens von eosinophilen Zellen im Sputum und Blut erwähnt sein.
40«
Geschichte der Herzkrankheiten.
Von
Hermann Vierordt (Tübingen).
Litteratur.
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Die wissenscliaftliche Ausgestaltung der Lehre von den Herz-
krankheiten gehört ohne Frage den neueren und bezüglich einzelner
Kapitel sogar neuesten Zeiten an. Dennoch lassen sich Spuren einer
Pathologie des Herzens auch in entlegenere Zeiten zurückverfolgen,
wobei wir allerdings den ägyptischen Glauben von dem im Alter sich
ganz aufzehrenden Herzen (Plinius XI § 184) oder die legendenhafte
Angabe über das „cor hirsutum" des Messeniers Aristomenes (7. Jahr-
hundert V. Chr.) — weitere Beispiele bei Morgagni, Lib. II, cap.
XXIV, art. 4 — nicht hoch anschlagen werden. Auch des Pytha-
goras' und Piaton zum Teil phantastische Anschauungen können
übergangen werden. In den hippokratischen Schriften,
aber nicht den echten, finden sich einzelne Angaben über Herzpatho-
logie. Aphor. IV 17 u. 65, auch TteQt vovaiov IV erwähnen den bis
über das Mittelalter hinaus vielberufenen „y.aQÖuoyi.iög''^, der freilich
bei der wechselnden Bedeutung von naQÖLa bei den Alten, bald Magen,
so bei Thucydides II, 49. 3, bald Herz — vgl. die spätere hippo-
kratische Schrift Tteqi xaQdir]g und G a 1 e n s Bemerkungen zu Aphor. 65.
Edit. Kühn XVII, 2 p. 745 — , ebenso Magendrücken als Herz-
beklemmung bedeuten kann. Fuchs (I 95, 103 u. 250) übersetzt
an den erwähnten Stellen gewiss richtig Magenkrampf oder Magen-
drücken. In TtsQi vovocov IV (Edit. Kühn II, 331; Fuchs I, 245) ist
eine Stelle, welche eine 3. (volkstümliche) Bedeutung von ytagdia dar-
thut: dXyeei rb ^tioq, otieq ol Ttaldag x.aQÖlr]v y.al^ovoLV. Keineswegs
aber ist es zwingend, an das Herz zu denken, wenn vom Gefühl, als
ob sich etwas xara rt]v ytaQÖirjv zusammenziehe {ETtLÖrjfxiwv VII ; Kühn
III, 658; Fuchs II, 309), die Rede ist, oder wenn (Kühn III, 645;
Fuchs II, 300) aori (Unbehagen) rt^ql ttjv xaQÖh]v verzeichnet ist. Die
Kommentatoren, auch Fuchs, übersetzen im ersten Falle Herz, im
zweiten Magenmund. Gleich hier mag erwähnt sein, dass Celsus
1, 8 vom „praecordiorum dolor" spricht bei Schilderung des „Stomachus
infirmus". Ebenso ist Fuchs (11, 323, Kühn III, 677) zuzustimmen,
wenn er TtQog KaQÖirjV älyog osivöv entgegen dem hergebrachten
„ad cor dolor ingens" mit „heftiger Schmerz am Magenmund" über-
setzt, und auch bei der von ihm (II, 336) als „Kardialgie" wieder-
gegebenen TcuQÖiaXylrj (Epidem. VH, Kühn III, 694 u. 695) möchte ich
mit den Kommentatoren „oris ventriculi dolor" herauslesen. Ebenso
führt der in der Auslegung durchaus nicht konsequente Galen aus
(De compos. medic. sec. locos Lib. VIII. Edit. Kühn XIII, 121):
„EXqriTai TtoXläxig ö)g rb rfjg yaorgbg (ventriculi) oröfia xalelv eS-og
eatl Tolg iargolg wotisq ■/.aqdiav, ovxo) yial atöfiaxov. dlla ndhxi fxev
^v avviqd-^öTBQOv (frequentior) rb rijg y.aqdLag ovo(.ia, vvvl öe ärt* ey.sivov
(xkv £Ti diafx^vec rb ^agöiwaoeiv xal fj xagÖLalyta" [quibus vocibus non
cordis, sed oris ventris dolores significantur].
Die Herzwunden gelten als ■d'avatcoörjg neben denen der Blase, des
Gehirns, Zwerchfells, Dünndarms, Magen und der Leber (Aphor, VI^ 18 :
Greschichte der Herzkrankheiten. 631
Kühn in, 752; Fuchs I, 122). Eine ähnliche Stelle Ttegl vovaiov I (Kühn 11,
167/68; Fuchs ü, 378) und wieder bei Celsus, Lib. V cap. 26, 2.
An 2 Stellen in fcegl vovoiov lY (Kühn II 334 u. 339; Fuchs I,
247 u. 250j wird die Behauptung aufgestellt, dass das Herz als eine
feste {oTEQeög) und dichte {nvy.vög) Masse von einem reichlichen Säfte-
andrang keinen Schaden nehme und nicht von Schmerz befallen
werde. Dies sind wohl die Stellen, welche die lang festgehaltene
Behauptung (z. B. Plinius XI § 182) veranlasst haben, das Herz
könne bei den Hippokratikern nicht erkranken. Immerhin Hesse sich
an das Herz denken bei einer Stelle in „rtegl legf^g vöoov (Kühn I,
598; Fuchs IL 555), wo es heisst: „wenn der Fluss seinen Weg zum
Herzen {y.aQÖirj) nimmt, entstehen Palpitationen {nal^og), Asthma; die
Brust "wii'd angegriifen und einige werden auch bucklig" (vornüber-
gebeugte Haltung!). Es ist gewiss nicht zufällig, dass trotz voraus-
gehender y.agdirj nicht von y.aQÖiaXylrj (s. o.), sondern vom rtali^wg und
anderen auf die Brustorgane bezüglichen Erscheinungen die Rede ist. —
Der heftige „Ttal/^ibg rtegl -/.agdirfv^ in der langen Krankengeschichte
des Sohnes des Eratolaus (Kühn III, 637 ; Fuchs II, 295) dürfte einer
epigastrischen Pulsation entsprechen, um so mehr, als das Klopfen
zwischen Nabel und „Knorpel" verlegt wird. —
Bei der Bedeutung, welche diese hippokratischen, wie man aus dem
Vorstehenden ersieht, durchaus nicht einheitlichen Anschauungen für die
spätere Medizin gehabt haben, war eine etwas eingehendere Behandlung
derselben sicherlich nicht ganz ungerechtfertigt.
Eine rationelle Pathologie des Herzens hat gründliche anatomische
Kenntnisse zur selbstverständlichen Voraussetzung. Wenn nun auch
die Anatomie des Herzens selbst in älteren Zeiten, wie wir aus
Diogenes von Apollonia (Fragment bei Aristoteles, Tier-
geschichte III, 1), den Hippokratikern — ausser der genannten Spezial-
schrift einige Bemerkungen in der älteren tceqI ävatoftf^g — nament-
lich aber den Alexandrinern, voran Herophilos und Erasistratos,
wissen, auf einer leidlichen Höhe stand, — Herophilos benannte die
(pllip äQTTjQiwör^g, letzterer kannte die Herzklappen, im ganzen 11, und
die Herzostien — , so dauerte es doch lange, bis pathologische, auch
heute noch verständliche Veränderungen am Herzen ausdrücklich
namhaft gemacht werden.
Viel ist bei den Alten die Rede von ..xaQÖLay.öv, avyxortr] yiagöiaycij,
morbus cardiacus, passio cardiaca, aber der Sitz des Leidens wird
sehr verschieden angegeben. Das Uebel scheint populär gewesen zu
sein, denn Cicero (De Divinitate I, 38), Horaz (Satir. II, 3 V. 161),
S e n e c a (Epistolae Lib. II, cap. XV ), J u v e n a 1 (V, 32) sprechen von
den Cardiaci, bei denen übrigens auch gelegentlich mehr an psychische
Affektion zu denken sein dürfte. Celsus (III cap. 19), zugleich von
den ..phrenetici" redend, fasst den morbus cardiacus im wesentlichen
als eine mit Schwäche und reichlichem Seh weiss einhergehende Magen-
affektion, wie auch Alexander Trallianus die Krankheit in den
Magen, Asklepiades dagegen in das Herz verlegt, worin sich ihm
Plinius (XI § 187) mit merkwürdigen Angaben über die Unver-
brennlichkeit des Herzens und Aretaios Kappadox (De causis et
signis acut. Lib. H, cap. 3. Edit. Kühn p. 39) anschliesst: „at-yxornj
xaQÖirjg iatl xal ^cjf^g vovaog^. Er verspottet diejenigen, welche die
632 Hermann Vierordt.
Synkope in den Magen verlegen. Galenos hinwiederum denkt an
den Magen, hebt aber den sympathischen Einfluss der ,.xa^(5m" auf
Herz, Hirn etc. hervor, wie nach ihm Aetios von Amida (Tetra-
biblion Edit. Cornarus III 5). So, wie späterhin Paulos von Aegina
die „Sj^ncope" als eine Herzaffektion beschreibt, kann jede Ohnmachts-
anwandlung darunter verstanden werden ; allerdings ist es für manche
Autoren, Aretaios, Alexander von Tralles, zuweilen eine tödliche
Krankheit, und so mögen für die Alten mancherlei Aflfektionen,
Magen- und Herzleiden, auch allerhand „Kachexien" und schwere
Anämien, unter diesem Namen figuriert haben. Die Definition, die
beispielsweise Caelius Aurelianus (Lib. II cap. 30 ff.) mit einer
Trennung in eine „communis und propria significatio" und entsprechen-
den differentiell- diagnostischen Bemerkungen von der „cardiaca passio"
giebt, ist keinesfalls geeignet, Klarheit zu schaffen. Schon der Um-
stand, dass die einen, Celsus, Caelius Aurelianus, sie für
fieberhaft erklären, andere, wie Asklepiades, nicht, macht die
Sache sehr kompliziert. Hat doch sogar C. Hecker, an Jacques
Houillier sich anlehnend, beim Malum cardiacum an den englischen
Schweiss (\) erinnert (s. seine Monographie, Berlin 1834, p. 186).
Auch die Entzündung der Hohlvene hat bei den Alten
und in späteren Jahrhunderten noch eine ßolle gespielt. Die Schil-
derung derselben bei Aretaios (Acut. Lib. 11 cap. 8; Kühn p. 51)
ist mit Anmerkungen in deutscher Uebersetzung bei Testa-Sprengel
(p. 215) nachzulesen. Da und dort wird bei den Alten von dia-
gnostischen Zeichen am Gefässsystem gesprochen. Berühmt war des
Herophilos (s. a. bei Ozanam, 1. c. p. 9) verloren gegangene
Schrift „7T€qI acpvy(.iCjv Ttgay^arsiag'^ und Plinius redet, auf ihn sich
beziehend, XXIX § 6 vom venarum und deutlicher XI, 219 vom
arteriarum pulsus als „index fere morborum", wie auch Herophilos
mit wunderbarer Kunst, in allzu grosser Spitzfindigkeit eine Art
Metrik des Pulses aufgestellt habe. Die Wichtigkeit der Beobachtung
des rascheren oder langsameren Pulses erkennt auch Plinius an.
Galen, der gegen des Erasistratos Annahme, dass die x\r-
terien bloss Luft enthalten, eine besondere Schrift (Kühn IV, 307)
gerichtet hat, ist der Schöpfer einer über Gebühr ausgesponnenen, in
verschiedenen Einzelschriften niedergelegten Pulslehre, die, wie auch
seine verworrenen Lehren von der Blutbewegung, bis in Harvey's
Zeiten, ja noch länger ihren nicht gerade günstigen Einfluss geübt
hat. Er spricht von Veränderung des Pulses bei leichten Dyskrasien,
vom plötzlichen Tod bei „organischen" Dyskrasien, bei anscheinend
herzkranken Gladiatoren, von der Behinderung der Herzthätigkeit
durch Ansammlung von Flüssigkeit im Herzbeutel, von einem Tumor
im Perikard eines Affen, Hahns und nimmt ähnliche Veränderungen
auch beim Menschen an. Ausdrücklich unterscheidet er gefährliche
Herzwunden, welche den Ventrikel, zumal den linken, eröffnen und
solche, welche das Herzfleisch nicht ganz durchbohren. Auch von
einer vom Herzen ausgehenden Dyspnoe, deren Theorie uns freilich
kaum ansprechen dürfte, ist die Rede.
Unter den arabischen Aerzten bietet die reichste Ausbeute
Avenzoar (12. Jahrhundert), der in seinem „Altheisii^" Lib. I Tract.
XII die Krankheiten des Herzens behandelt, dessen primäre und
„sympathische" Erkrankung unterscheidet, die Affektionen des linken
und rechten Ventrikels, erstere als die wichtigeren, trennt. Nachein-
Geschichte der Herzkrankheiten. 633
ander bespricht er in 6 Kapiteln die Herzpalpitationen, das „malum
cardiacum", das er als eine vielfach durch psychische Erregungen ver-
anlasste Herzkrankheit auffasst, die (wie bei Galen mit dem Urin
verglichenen!) serösen Ansammlungen im Herzbeutel, wobei er auch
geronnener Säfte (also Pseudomembranen) und der Knorpelbildung im
Herzbeutel gedenkt, fieberhaftes „Erysipel" des Herzens und den
Abscess desselben. In der Therapie der Herzkrankheiten spielt der
reichliche Aderlass eine Rolle.
Das weitere Mittelalter bringt nicht viel Neues bei; höchstens
wären (s. übrigens bei Testa p. 15 — 17) die „Consilia" des Bartolomeo
Montag nana d. Aelt., Prof. in Padua (f ca. 1460) zu nennen, die
sich in einzelnen Fällen auf Leichenöffnungen gründen. Er nimmt
ursprüngliche Herzfehler an, spricht von motus tremulans et bipulsans
cordis (Consil. 266). Aus dem spätesten Mittelalter ist der Florentiner
Antonio Benivieni (f 1502) — de abditis morborum causis — zu
erwähnen, der verschiedene Herzbefunde, wovon einige lediglich Blut-
gerinnsel gewesen zu sein scheinen, geheilte Herzverletzung (Observ.
65), auch ein durch Rippencaries freigelegtes Herz beschreibt —
vgl. Galen 's Beobachtung: de anatom. administrationibus Lib. VII;
Kühn II p. 631.
Sein Schüler, der Anatom Alessandro Benedetti (f 1525) er-
wähnt in seiner „Anatomia" (Lib. III cap. 12) die Verschiebungen
des Herzens bei wechselnder Lage.
Nicolö Massa (j 1569) — Liber introductorius anatomiae cap.
XXII) beobachtete ein „Geschwür" (Abscess) beider Herzhälften, des-
gleichen eine von ihm Cardiogmus genannte gewaltige Erweiterung
des Herzens, weiche übrigens auch die etwas älteren Achillini,
Berengar von Carpi und Charles Estienne kennen. V e sa-
lin s erwähnt in seiner grossen Anatomie Edit II Lib. I cap. V (Edit.
Basil. p. 24; Albin. p. 17 j eine Herzanomalie mit anschliessendem Aus-
setzen des Pulses und Gangrän der linken Unterextremität (vgl.
Anatom. G. Falloppiae observationum examen; Edit. Albin. p. 806).
Den angeborenen Mangel des Herzbeutels bespricht zuerst bei einem
an Ohnmächten leidenden, plötzlich verstorbenen Akademieschüler
Realdo Colombo (De re anat. libri XV Venetiis 1559 p. 265), nach
ihm Tulpius, AI. Littre (1712) u. a. — s. Taruffi, 1. c. p. 308.
Auch der Morbus cardiacus erscheint bei den einzelnen Autoren
sehr verschieden erklärt, so von Gi. Batt. de Monte (f 1552) —
Gonsultationes medicae — in einem Fall aus hysterischen Beschwerden.
Von sonstigen Schriftstellern nenne ich Guillaume Rondelet,
welcher die Entzündung des Herzbeutels als sehr seltene Krankheit
beschreibt, Jacques Houillier (1498—1562) mit manchen Beobach-
tungen in „De morbis internis" und Antonio Donato d'Altomari
(De medendis humani corporis malis 1553, cap. 54, 55).
Bezüglich der Kasuistik sollen Joh. Schenck's von Grafen-
berg in Württemberg (1530—98) namentlich auch die pathologische
Anatomie berücksichtigendes Sammelwerk TlaQatriQr^oetov sive observa-
tionum medicärum . . . volumen, sowie des Marcellus Donatus De
medica historia libri VI, Mantuae 1686 erwähnt sein und Guillaume
Baillou (Ballonius, 1538—1616 — Consiliorum medicinalium libri III)
sei als derjenige genannt, welcher zuerst die (venvirrende !) Bezeichnung
„Aneurysma cordis" für Herzerweiterung anwandte, während Jean
Fernel (f 1558) als erster Aneurysma für Arterienerweiterung mit
634 Hermann Vierordt.
der Unterscheidung in wahres und falsches An. gebraucht hat.
Uebrigens verwendet auch Vesalius (Chirurgia magna Lib. V cap. I,
Edit. Albini p. 1040 u. 1041) den Ausdruck „Aneurysma" für die
Geschwulst beim ungeschickten Aderlass. Eine reiche Zusammen-
stellung von Fällen knochiger und steinartiger Konkretionen in und
am Herzen findet man, mit Berücksichtigung auch der früheren Zeit,
in D. Langhans' Dissertation (s. Litt.) von 1747.
Schon hier sei angeführt, dass die Verkreidung der Coronar-Ar-
terien von Lorenzo Bellini (1643 — 1704), Charles Drelincourt
(1633—1697), J. F. Grell (Dissertation Wittenberg 1740, resp. G.
S. Reinhold; auch in A. Hallers Disputationes s. Litt.) beschrieben
ist, allerdings ohne Aufstellung einer spezifischen Symptomatologie.
Die Verknöcherung der Aorta und Pulmonalis registriert Pechlin.
Yerschiedene, namentlich ältere Angaben über knöcherne Neubildungen
in und am Herzen findet man in Haller's Physiologie, Edit. Lausannae,
Bd. I p. 325, 343, 349.
Das 17. Jahrhundert bringt, von schon Erwähntem abgesehen,
der Lehre vom Herzen und den Herzkrankheiten einige Förderung.
Des Sebastiano Pissini in Lucca Werk (s. Litt.) ist, wenn auch
noch sehr in alten Anschauungen befangen, reichhaltiger, als sogar
verschiedene spätere Werke, wie das des Attilius Bulgetius von
1657. Von Pissinius stammt die Bezeichnung „Polypus" cordis, die
so viel Unheil und Verwirrung in der Pathologie angerichtet hat.
Fabrizio Bartoletti's (f 1630) Methodus in Dyspnoeam, Bononiae
1620, enthält viele interessante Beobachtungen: Verwachsung des
Herzens mit dem Herzbeutel, Fettansammlung in diesem, Verschwärung
des Herzens, Verknöcherung der arteriösen Klappen; natürlich fehlen
auch nicht die vielberufenen Polypen, welchen auch Marcello M a 1 -
pighi eine Studie widmete; Th. Ke rekring (Spicilegium ana-
tomicum, Amstelodami 1670) erklärte sie für agonale Erscheinungen,
während wieder Nicolaus Tulpius (11678) in seinen verdienstlichen
Observationes medicae Libri III — Lib. I cap. 72 — „echte" Polypen
beschreibt und abbildet. Auch in Harvey's epochemachender Schrift
finden sich einzelne pathologische Beobachtungen, so der erste Fall
einer (an Robert Darcy beobachteten) Ruptur der linken Herzkammer
mit fingerbreitem Riss in der Exercitatio II ad Riolanum, Edit.
Roterod. 1660 p. 251. Gleich darauf beschreibt er ein „bovinum cor"
mit stark erweiterter Aorta und skizziert die Symptome während des
Lebens. Der berühmte Fall des jungen Lord Montgomery, dessen
Herz nach traumatischer Eiterung der Brustwand freilag, steht in
den Exercitationes anatomicae de generatione animalium Nr. LI,
Londini 1651 p. 156. — Vgl. die Fälle Galen's und Benivieni's
s. 0. p. 633.
Auch der für die normale Anatomie und Physiologie bedeutungs-
volle Tractatus de corde Londini 1669 von Richard Lower enthält
einige Bemerkungen über die Herzbeutelergüsse infolge venöser
Stauung und über deren Wirkung, auch eine Herzbeutelverwachsung
bei einer alten Frau.
Wesentliche und nachhaltige Bereicherung erfuhr die Lehre von
den Herzkrankheiten im 18. Jahrhundert, in welchem der Grund
zu einer strengeren, wissenschaftlichen Behandlung des Gegenstandes
gelegt wurde. Hier glänzen die Namen Vieussens, Lancisi,
Geschichte der Herzkrankheiten. 635
Albertini und vor allem Senac, dem sich der auch auf anderen
Gebieten der Pathologie bahnbrechende Morgagni anschliesst.
Eaymond (de) Vieussens (1641—1715) aus Vieussens in der
Eouergue, Arzt und Professor in Montpellier, ein auch um die mensch-
liche Neurologie hochverdienter Forscher, hat in seinem Hauptwerke
(s. Litt.) sich zwar mehr der normalen Anatomie und Physiologie ge-
widmet, aber durch eingestreute Sektionen — er verfügte über ein
reiches Leichenmaterial — doch der pathologischen Anatomie wesent-
lichen Vorschub geleistet. Erwähnt mag sein die vielfach ange-
zweifelte Beschreibung eines doppelten Herzens bei einem bisher ge-
sunden 35jährigen Soldaten, weiters (im XII. Kap.) die Beschreibung
einer Stenose des Ostium venosum sin. mit Verkalkung der Bicus-
pidalklappe und Dilatation des rechten Herzens und die erste deut-
lich beschriebene Insufficienz der Aortenklappen infolge „Versteinerung"
bei einem Epileptiker, freilich wohl nicht die erste überhaupt —
vgl, 0. Bartoletti — wie Vieussens meint. Bei beiden Fällen wird
die Rückwirkung auf die Blutcirculation besprochen, im zweiten FaU
auch der sehr volle und harte Puls hervorgehoben. Er war „so stark,
dass die Arterien beider Arme die Spitzen meiner Finger wie eine
straff gespannte und mit grosser Gewalt in Schwingung versetzte
Saite trafen" — also der späterhin von Corrigan und Hope (s. u.)
eingehender beschriebenen charakteristische Puls. „Je n'ai jamais vu
pareille affection et j'espere bien n'en jamais revoir." Oefters wagt
Vieussens am Krankenbette die Diagnose einer Herzkrankheit, im
besonderen der Herzbeutelwassersucht in Fällen, wo früher wohl
„Asthma" und „Hydrothorax" vorausgesetzt wurde.
Eeicher noch ist die pathologische Ausbeute, systematischer der
Aufbau des ganzen Materials bei seinem Zeitgenossen, dem Römer
Giovanni Maria Lancisi (1654 — 1720), zumal in dessen posthumem
Hauptwerke über das Herz. Schon in der älteren kleinen Schrift
(s. Litt.) wird der plötzliche Tod zurückgeführt auf Strukturfehler,
mechanische Hindernisse (Tumoren, Polypen) oder nervöse Krankheiten
des Herzens („Ohnmacht"); es werden unterschieden Hypertrophie
(== nimis aucta moles) und Aneurysma cordis (Dilatation). Er spricht
von knorpligen, verknöcherten, entzündeten Klappen und erwähnt
erstmals warzenförmige Auswüchse derselben. — Der zweite Haupt-
teil des grösseren Werkes, der von den Aneurysmen handelt, ist be-
sonders denen des Herzens gewidmet, worunter Lancisi die (nach
seiner Ansicht am häufigsten in den Vorhöfen, im linken Ventrikel
am seltensten zu treffende) Dilatation mit Wandverdünnung haupt-
sächlich versteht, obwohl ihm die gleichzeitig vorkommende Ver-
dickung der Wand nicht unbekannt ist. Das Uebel erklärt er für
häufiger, als die meisten Aerzte glauben; in ätiologischer Beziehung
betont er mechanische Hindemisse durch Arterien- und Klappener-
krankung, Verengerung der Ostien, auch die „diuturna vis repercussi
sanguinis", femer chronischen Lungenkatarrh (vgl. das Lungenem-
physem), psychische Depression, heftige Anstrengungen. Diese Mo-
mente wirken um so eher, wenn das Blut, wie bei Hypochondrie,
Hysterie, Syphilis („Aneurysma gallicum"), mit scharfen und ätzenden
(Aneurysma mercuriale) Stoffen beladen ist. Lancisi weist als erster
ausdrücklich auf die Bedeutung der Schwellung der Halsvenen bei
Erweiterung der rechten Herzhöhle hin. Er spricht dabei von der
636 Hermann Vierordt.
Insufficienz der dreizipfligen Klappe, worin ihm merkwürdigereise
Senac späterhin nicht beipflichten will.
In diagnostischer Beziehung ragt rühmlich hervor der von einer
ganzen Reihe von Autoren, Sprengel, Baas (Grundriss), Quantin,
P a g e 1 , mit Stillschweigen übergangene Ippolito Francesco Albertini
aus Crevalcuore bei Bologna, also eines Landsmanns von Marcello
Malpighi und wie dieser Professor in Bologna. Geboren ist er
1662, gestorben 1738, im gleichen Jahre wie Boerhaave. Nicht zu
verwechseln ist er mit dem älteren Annibale Albertini, der 1618
„De affectionibus cordis" geschrieben hat. Obwohl erst 1748 im Druck
erschienen (s. Lit), ist Albertini's Schrift schon 1726 als Mitteilung
an die Akademie in Bologna verfasst, demnach noch vor Herausgabe
von Lancisi's posthuraem Werk; sie ist die Frucht langjähriger Be-
obachtung. Den verschiedenen Arten der Herzerweiterung sucht Al-
bertini nach der diagnostischen Seite näher zu kommen, glaubt
aber in seiner Bescheidenheit keine „distincta signa diagnostica" auf-
stellen zu können. Mit seiner Trennung in aneurysmatische, durch
fühlbares Schwirren und Stossen in der Präkordialgegend ausge-
zeichnete und in variköse Erweiterung scheint er die Dilatation
mit oder ohne Wandverdickung zu meinen. Bei der Erweite-
rung des rechten Herzens kommt mehr die variköse Form in Be-
tracht, bei der aneurysmatischen, mit starkem Anschlag verknüpften
mrd auch der gelegentlichen Usur der Wirbel Erwähnung gethan.
Als besonders schwierig zu erkennen schildert Albertini die vari-
kösen Erweiterungen mit schwacher (confusus et obscurus) Herzbe-
wegung, da ja auch beim perikarditischen Exsudat schwacher Schlag
vorkomme. Die Herzpulsation will er auch nach ihrer Ausdehnung
am Thorax gewürdigt wissen. Die Dyspnoe der Herzkranken führt
er auf die Blutüberfüllung der Lunge zurück, die sogar zu Blutaustritt
in die Lungenbläschen, weiters zu Hydrops pectoris führen könne.
Gefährlicher als dieser sei der Hydrops pulmonum. Dem Hydrops
der äusseren Teile entspreche eine seröse Infiltration der inneren. —
Bezüglich der Prognose lässt Albertini ältere und schwächere In-
dividuen, sowie das weibliche Geschlecht bei Herzkrankheiten im
ganzen weniger gefährdet sein. In therapeutischer Hinsicht ist die
Venäsektion bei den Paroxysmen in den Vordergrund gestellt, sonst
ist er mehr für milde Mittel (Eisenpräparate), perhorresciert Purgantia
und Diuretica, überhaupt eingreifenderes Verfahren und empfiehlt im
Gegenteil milde, aber stärkende Nahrungsmittel (Hühnerbrühe, Frosch-
suppe). Dem begleitenden Katarrh gebührt besondere Aufmerksam-
keit (Honig, Plantago, Terpentin). Nur für die Aneurysmen der
(inneren) Arterien hat er gemeinschaftlich mit Ant. Maria Val-
salva (1666 — 1723) die an eine Venäsektion sich anschliessende
40tägige (im 19. Jahrhundert durch Bellingham u. Th. J. Tufnell
modifizierte) Ruhe- und Hungerkur eingeführt, angeblich vielfach mit
gutem Erfolg, namentlich wo es sich um die (oft wohl nur ver-
muteten!) Anfänge des Leidens handelte. War doch in jener Zeit die
Furcht, an Herzaneurysma , sozusagen der Modekrankheit, zu er-
kranken, gerade auch bei den Aerzten weit verbreitet.
Morgagni, Schüler Albertini's, widmet den Herzkrankheiten
mehrere seiner Briefe des II. Buches, in welchen die „Respiratio laesa"
der Reihe nach aus ihren Ursachen hergeleitet wird: Thoracis et
pericardii hydrops (Epist. 16), Cordis aut magnae arteriae intra tho-
GrescMchte der Herzkrankheiten. 637
racem aneurrsmata (Epist. 17 u. 18». Palpitatio et dolor cordis (Ep.
23), Pulsus praeter naturam (24), Lipothvmia et Syncope (25), Mors
repentina ex \itio vasorum sanguiferorum (26). Neben eigenen Be-
obachtungen figurieren namentlich auch solche von Valsalva. vom
Schluss der 16. Epistel ab (s. daselbst) kennt er auch Senae's Traite.
Die Differentialdiagnose zwischen Brust- und Herzbeutelwassersucht
wird an der Hand von Krankengeschichten erörtert, resp. ihre Schwierig-
keit hervorgehoben, da die konventionellen Symptome nicht durchaus
verlässlich seien, jedenfalls ein pathoguomonisches Zeichen für die
Herzbeutelwassersucht nicht existiere. Ausdrückliche Erwähnung ver-
dient ein derartiger, berühmt gewordener Fall bei einer Nonne in
Bologna (Epist. XVI Art. 42 ff.), Avobei Albertini's diagnostisches
Können neben dem der anderen Aerzte sich in glänzendem Lichte
zeigt. — In manchen Beziehungen stimmt Morgagni mit seinem
Lehi'er Albertini und seinem Freunde Lancisi überein. was die
Arten der Herzvergrösserung (Hypertrophie und Dilatation), die Be-
deutung der gestörten Klappenfunktion, des begleitenden Lungen-
katarrhs etc. betrifft.
Es verdient angemerkt zu werden, dass Morgagni bei der an-
geborenen Cyanose mit Recht weniger an die Durchmischung beider
Blutarten, als an die Rückstauung und Ueberfüllung im Venensystem
denkt (Epist. XVII Art. 12, 13i und dass er den übrigens schon von
Galen gekannten (echten) Puls der Venae jugulares richtig deutet
(Epist. XVin Art. 12) als auf Ventrikel-, ausdi'ücklich nicht Vorhofs-
kontraktion beruhend. Wie im ganzen Werk, so wird auch hier an
die Stelle vager Sjrmptome die anatomische Veränderung zu setzen
gesucht ; als Grund der ,,Palpitationen" lassen sich gar häufig wirk-
liche organische Krankheiten des Herzens und der Aorta nachweisen.
Ein für seine Zeit und auch für die spätere noch hervorragendes
und umfassendes, jedenfalls eine im Ganzen gelungene systematische
Anordnung aufweisendes Werk stellt Jean Bapt. Senae's Traite (s.
Litt.) dar, von welchem manche, Albertini's Verdienst übersehend,
die eigentliche wissenschaftliche Lehre von den Herzkrankheiten da-
tieren, indem sie das Werk als das erste seiner Art für das 18. Jahr-
hundert erklären. Senac betont, — wenn wir vom anatomischen und
physiologischen Teil absehen — die Zunahme der Herzkrankheiten
mit dem höheren Alter (60 — 65 J.). Das ..Aneurysma" hält er füi*
das häufigste Vorkommnis am Herzen, die Bedeutung der Polypen
schränkt er ein, dagegen betont er als erster die Entzündung des
Herzens (im 4. Kapitel) und des Herzbeutels, welch' letzteren er auch
bei Entzündungen der Lunge und des Brustfells in Mitleidenschaft
gezogen werden lässt. Pathognomonische Zeichen für die einzelnen
Arten der Herzkrankheiten erkennt er nicht an, sucht aber einige,
späterhin nicht bewährte Sj'mptome für die Herzbeutelwassersucht zu
fixieren. Im 1. Kapitel stellt er sehr beachtenswerte Normen für die
Behandlung der Herzkrankheiten auf, zumal in diätetischer Hinsicht;
gegen den sekundären Hydrops empfiehlt er Scilla. Das Missverhält-
nis zwischen Grösse des Ergusses ins Perikard und den dyspnoischen
Beschwerden, die selbst bei grossen Ergüssen gering sein können,
wird betont. Besondere Anerkennung verdient es, dass Senac die
legendäre Kasuistik vom haarigen Herzen, von Steinen und Würmern
im Herzen sehr kritisch behandelt (5. Kapitel). — Die „Polypen" des
Herzens (6. Kap.) würdigt er als überwiegend agonale Erscheinungen,
638 Hermann Vierordt.
die durch Unebenheiten und Rauhigkeiten im Herzen begünstigt
werden. Auch Senac begreift unter Aneurysma die verschiedenen
Arten der Herzvergrösserung (8. Kap.), ohne übrigens Hypertrophie
und Dilatation ausdrücklich zu unterscheiden. In der Mehrzahl der
Fälle lässt er die Wandungen verdickt sein. Er kennt (auf Distanz
vernehmbare) Herzgeräusche, auch den Herzbuckel, den er unter den
Zeichen des Aneurysmas mit verdickter Wand aufführt; Stenose
der arteriellen Ostien (durch Klappenveränderung) lässt er häufiger
sein, als die der venösen. Auch die Fettauflagerung auf dem Herzen
wird nach der mechanischen Seite gewürdigt (5. Kap.).
In Auenbrugger's freilich erst später zu Geltung und Ansehen
gelangtem Inventum novum vom Jahr 1761 (s. p. 604) ist der Hydrops
pericardii (§ 46) — aquosus vel purulentus — und das Aneurysma
cordis = Dilatatio cordis (§ 48) erwähnenswert; bei beiden ist ausser
sonstigen Zeichen der „sonitus carnis percussae" vorhanden.
Einschneidender ist, speziell für die Herzkrankheiten, die Be-
deutung J. N. Corvisart's in seinen beiden Schriften. In seinem
Essai sur les maladies du coeur (Litt, bei „Perkussion und Auskul-
tation) ist die Lehre von den Herzkrankheiten auf Grund lang-
jähriger Beobachtungen beträchtlich gefördert, namentlich im. Kapitel
der Erkrankungen der Herzmuskulatur (2. wohl bester Abschnitt) und
der sehnigen und fibrösen Teile des Herzens. Von ihm stammt der
Begriif der „Lesion organique" des Herzens (1. c. Discours preliminaire,
init.). Corvisart unterschied in nicht ganz zweckmässiger Weise
ein aktives und passives Aneurysma des Herzens, d. h. Erweiterung
mit Wandverdickung oder -Verdünnung. Die verschiedenen Verände-
rungen an den Klappen und Ostien sind eingehend an der Hand
zahlreicher persönlicher Beobachtungen geschildert; bei der 5. „Klasse",
welche dem Aortenaneurysma gewidmet ist, überrascht die genaue
Symptomatologie: perkussorische Zeichen, allmählich vorspringende Ge-
schwulst, Veränderung der Stimme, Ungleichheit der Pulse an den
Extremitäten; die Usur der Knochen (s. a. p. 636), das Bersten des
Sacks in die Trachea und vieles andere werden erwähnt. Im übrigen
ist, während Aetiologie und Pathogenese, auch die Therapie, ziemlich
berücksichtigt sind, die Lehre von den Herzkrankheiten im heutigen
Sinne aus begreiflichen Gründen nicht sehr entwickelt; man lese in
dieser Beziehung beispielsweise die Auseinandersetzung über die
Zeichen des „retrecissement des orifices" (2. Kapitel der 3. Klasse).
Eine Spur der Auskultation findet sich auch bei Corvisart. Wo er
von den angeblich auf Distanz hörbaren Herzgeräuschen spricht, er-
wähnt er, dass er die Herzschläge nur gehört habe „en approchant
l'oreille de la poitrine du malade" (Corollaires, Art. IL Etat de la
circulation). Das von Laennec als fremissement cataire bezeichnete
fühlbare Schwirren hat auch Corvisart gekannt und gewürdigt.
In die Lücken springt hier wieder Laennec's Genie ein, vor
dessen Auftreten etwa noch die Arbeiten von Allan Bums (1781
bis 1813) in Glasgow, Ant. Guiseppe Testa (f 1713) in Bologna und
L. Fr. Kreysig (1770 — 1839) in Dresden zu nennen wären, von
welchen namentlich des letztgenannten Werk (s. Litt.) eine wertvolle
Uebersicht über den jeweiligen Stand des Wissens giebt.
Eene Jos. Hyac. Bert in (f 1828), der auch eine von Bouillaud
redigierte Monographie über Herzkrankheiten (Traite des maladies
du coeur) verfasst hat (1824), mag genannt sein als Schöpfer (1811)
Geschichte der Herzkrankheiten. 639
der vielfach miss verstandenen Begriffe der „excentrischen" und ,,kon-
centrischen" Hypertrophie, welche Laennec einfacher als H}T)er-
trophie mit Dilatation oder Kontraktion unterschied. Aber auch bei
Laennec, so detailliert und klar seine pathologischen Befunde sind,
die man heute noch mit Belehrung zu lesen vermag, fehlt noch für
die einzelnen Herzklappenfehler die feinere Lokalisation, welche in
den folgenden Jahrzehnten durch eifrigste Arbeit einer ganzen Reihe
vorzüglicher Beobachter festgestellt wurde. Es war eine intensive
Ausbildung der durch Auenbrugger-Corvisart und namentlich
Laennec geschaffenen physikalisch-diagnostischen Grundlagen. Von
1829—1838 erschienen 6 Abhandlungen von Dominic John Corrigan
(1802 — 1880), worunter besonders die über Aortenklappeninsufficienz
— „on permanent patency of the mouth of the aorta or inadequacy
of the aortic valves" in Edinburgh medical and surgical Journal
Vol. 37, 1832 p. 225 — berühmt geworden ist. Man vergleiche hierzu
die Bezeichnung Maladie de Corrigan (T r o u s s e a u), pouls de Corrigan
(s. übrigens p. 635). Fr. Gramer in seinem Kompendium „Die Krank-
heiten des Herzens" Kassel 1837 bezeichnet die ..Unzulänglichkeit
der Klappen" als „die jüngste Entdeckung im Gebiete der Herzkrank-
heiten".
Uebrigens muss man den Hinweis auf eine Insufficienz der Aorta
(oder Bicuspidalis?) auch herausfinden aus den Worten, mit welchen
Chr. G. Seile (Neue Beiträge zur Natur- und Arzenei Wissenschaft
Zweiter Theil. Berlin 1783. p. 23), eine Beobachtung von „knochen-
harten und unbeweglichen Yalveln des Herzens" begleitet bei einem
im Leben „ausserordentlich grossen, geschwinden und harten
Puls'' und die Gerechtigkeit erfordert es, darauf hinzuweisen, dass
bereits 1827 Thomas Hodgkin in „Medical Gazette" die „Retro-
version" der Aortenklappen mindestens ebenso genau, als später
Corrigan, beschrieben, auch das diastolische ..Bruit de scie" her-
vorgehoben hat (s. Guy's Hospital Reports III Series Vol. XXIII 1878
p. 65). Auf die nicht allgemein anerkannte Verspätung der peri-
pheren Pulse gegenüber dem Herzstoss hat Will. Henderson
(Edinb. med. and surg. Journal Vol. 48 1837 p. 364) aufmerksam ge-
macht.— J. Hope, an dessen Werk über „Krankheiten des Herzens
und der grossen Gefässe" (London 1832) auch die Vorrede wegen
seines Standpunktes Laennec gegenüber interessiert, nimmt für sich
die schon 1825 gemachte, von Laennec übersehene Beobachtung in
Anspruch, dass mangelnder Schluss der Zipfelklappen durch Regur-
gitation ein Aftergeräusch neben dem ersten Geräusch hervorrufe
(Uebersetzung F. W. Becker, Berlin 1833 p. 39 und 18. u. 19. Krank-
heitsgeschichte). Grosses und bleibendes Verdienst erwarb sich Jean
Bapt. Bouillaud (1796—1881). indem er die Häufigkeit der „Endo-
carditis" nachwies, während z. B. noch Laennec die übrigens auch
von Matth. Baillie und besonders Kreysig angenommene Ent-
zündung der „inneren Membran" des Herzens für eine „affection fort
rare" erklärt (III. Partie IL Sect. Chap. XIX), andererseits aber seine
„vegetations globuleuses" (ibid. Chap. XX) für entzündliche (Eiter-
cysten) gehalten hatte, die eine spätere Zeit als ältere, im ganzen
unschuldige Gerinnsel erkannte. — Auf die den Gelenkrheumatismus
komplizierenden Herzfehler hatte schon früher (s. Litt.) James John-
son (1777—1845), auf die Pericarditis beim Rheumatismus Fr.
Chomel aufmerksam gemacht.
640 Hermann Vierordt.
Von vielen Autoren, die Erwähnung- verdienen, indem sie meist
auch durch spezielle Werke über Herzkrankheiten sich bemerkbar
machten, seien genannt Andral, Herausgeber der 4. Auflage von
Laennec's Traite, Hope (s.o.), Williams, Walshe, Gendrin
(relative Tricaspidalisinsufficienz, übrigens schon von Kreysig ge-
kannt), Stokes (s. Litt).
In Deutschland fanden die ausländischen Forschungen nur lang-
sam Eingang — vgl. auch den Abschnitt über Perkussion und Aus-
kultation p. 603 — , obwohl die hervorragenderen Schriftwerke fast
ohne Ausnahme übersetzt wurden. Alte einflussreiche Praktiker, wie
Hufe 1 and, hatten ohnedies nichts von der Häufigkeit der Herzkrank-
heiten wissen wollen und die akuten Alfektionen liefen so wie so
unter allerlei hochtönenden Namen, wie Brustentzündung, entzünd-
liches rheumatisches Fieber u. dergl. Dabei ist lange Zeit, auch
bei den Franzosen, z. B. noch bei Grisolle (3. Aufl. von 1848 des
Traite ... de pathologie interne IL Bd.), eine gewisse zusammen-
fassende Behandlung der Stenosen und Insufficienzen zu bemerken,
die doch anatomisch und klinisch so beträchtliche Unterschiede zeigen.
Auch bei den Herzkrankheiten erkennt man S k o d a ' s mächtigen
und massgebenden Einfluss. Die Nachdrücklichkeit, mit der er sich
auf die pathologische Anatomie stützte, ist bezeichnend für seine An-
schauungen. Bei ihm findet sich noch deutlicher, als bei Hope,
schon in der 1. Auflage von 1839 die genaue Distinktion der „Klappen-
fehler", Insufficienz und Stenose der einzelnen Klappen, wie wir sie
heutzutage zu unterscheiden gewohnt sind. Wenn er aber beispiels-
weise von der Verengerung des rechten Ostium venosum schreibt:
„ich habe sie nie beobachtet und es findet sich selbst im hierortigen
pathologischen Museum kein Beispiel davon" (Edit. I p. 263) oder
„eine Insufficienz der Klappe an der Pulmonalarterie oder eine Ver-
engerung der Einmündung der Pulmonalarterie infolge von Fehlern
ihrer Klappen habe ich noch nie gefunden" — die späteren Auflagen
geben sie mindestens als „ungemein selten" an — , so können wir
auch hier ermessen, wie sehr sich unsere Detailkenntnis vertieft hat;
beide Affektionen rechnen wir nicht mehr zu den extrem seltenen.
Wie schwer uns jetzt selbstverständlich erscheinende Dinge sich ein-
gebürgert haben und mangelndes Verständnis fanden, zeigt u. a. ein
Aufsatz von G. Rapp (Zeitschrift für rat. Medizin 8. Bd. 1849 p. 146),
in welchen die uns jetzt geläufigen physikalischen Zeichen der Bicus-
pidalinsufficienz gegen anderweitige falsche Auffassungen verteidigt
werden müssen. Von Einzelheiten der Symptomatologie der Herz-
krankheiten seien erwähnt: das von Fauvel (Arch. gener. de mede-
cine 1843 IV ser. t. I p. 1) zuerst beschriebene, heutzutage als prä-
systolisches bezeichnete Geräusch bei Mitralstenose, die Verfolgung
des schon von Senac und Kreysig gekannten Phänomens der
Leberpulsation durch H. Seidel (Deutsche Klinik 1864), Geigel
(1864) und besonders auch Friedreich (Deutsches Archiv für klin.
Medicin 1866 I 241, II 262), M. F. Mahot (Des battements du foie
. . . These de Paris 1869), ferner Potain's Bruit de galop (1875) —
vgl. die Angaben bei Kriege u. Seh mall, Zeitschrift für klin.
Medicin 18. Bd. p. 261.
Manches, was früher in hohem Ansehen stand, wie die Carditis
(s, John Ford Davis, An inquiry into the Symptoms and treatment
of carditis, Bath 1808, aus dem Engl, übersetzt von Choulant, mit
Geschichte der Herzkrankheiten. 641
Anmerkungen von Kreysig, Halle 1816), Aortitis, Phlebitis (John
Hunter, Breschet, Cruveilhier, der die ganze Pathologie von
der Phlebitis beherrscht sein liess), hat vor der objektiven Kritik der
pathologischen Anatomie nicht Stand gehalten. Nicht zum mindesten
sind es Virchow's bahnbrechende Arbeiten über den Faserstoff, über
Thrombose und Embolie (seit 1845) — vgl. „Gesammelte Abhand-
lungen" Abschnitt II u. IV — gewesen, welche an die Stelle mancher
Hypothesen reellere pathologisclie Prozesse gesetzt haben.
Die Lehre von der Endocarditis fand insoferne eine weitere
wichtige Ausbildung, als die in verschiedenen Zeiten auch verschieden
beurteilte Endocarditis „ulcerosa" aufgestellt wurde. Schon der auch
um die Lehre von der Embolie (Edinb. med. u. surg. Journ. 1853 Vol. 80
p. 119 oder Med.-chir. Trans. Vol. XXXV 1852 p. 281) verdiente
Will. Senhouse Kirkes (f 1864) spricht von „Ulcerative inflaramation
of the valves of the heart as a cause of pyaemia (British med. Jour-
nal Vol. II for 1863 p. 497) und Virchow (Ges. Abhandl. p. 711 ff.
und Archiv 56. Bd. p. 415) hat bei dieser Form in einem exquisiten
Fall bei einer Puerpera an eine „Materies sanguinem inficiens" ge-
dacht, die durch die älteren. „Mycosis endocardii" betr. Fälle von E.
Winge und Hjalmar Heiberg (Virchows Archiv 56. Bd. 1872
p. 407) nur bestätigt wurden. Jetzt ist man zu der ätiologisch
wichtigen Thatsache durchgedrungen, dass die Endocarditis der Ein-
wanderung und Vermehrung von Spaltpilzen ihre Entstehung verdankt,
und, wenn auch klinische Unterschiede nicht mit der wünschenswerten
Deutlichkeit sich aufstellen lassen — man hat einerseits fast lieber-
lose ulceröse (sonst „bösartige") Endocai'ditis und wieder mit Frösten
tödlich verlaufende „verruköse" (sonst „gutartige") E. beobachtet (A.
F r ä n k e 1) — , so ist es doch sicher, dass die verschiedensten Erreger,
Staphylococcen und Streptococcen, Diplococcus pneumoniae (Netter,
Weichsel bäum), Typhus-, Diphtherie- und Tuberkelbazillen, Bac-
terium coli, Gonococcen (J. Marty, Archives gener. de med. 1876
Dez., mit 9 Fällen, worunter einer von Lorrain aus dem Jahre 1866,
Morel. These de Paris 1878, P. Schedler [Le3'densche Klinik],
Berliner Dissertation 1880, v. Leyden, D. med. W. 1893 Nr. 38j Endo-
carditis erzeugen können und zwar von allen nur denkbaren primären
namentlich septischen und pyämischen) Herden aus. Welch ein Um-
schwung in der Pathologie selbst seit den Zeiten, da die Endocarditis
(gegen Laennec) als eine nicht allzu seltene Krankheit anerkannt
wurde und der Zeit, da Gen drin die geringere Ziffer der Endocar-
ditis bei Engländern und Deutschen gegenüber den Franzosen ledig-
lich aus der einfacheren Behandlung, der selteneren Anwendung des
Aderlasses, erklären wollte! So ist die von Virchow geschaffene
Lehre von der Embolie, soweit sie die Verschleppung korpuskularer
Elemente durch den Blutstrom bedeutet — eine Lehre, die übrigens
auch ihre „Vorgänger" in früherer Zeit gehabt hat (s. Litt. Schuppe 1)
— gewissermassen auch in mikrobiologischem Sinne, nicht bloss in
rein mechanischem, zu ihrem Recht gekommen.
Die Fettentartung des Herzens ist viel später, als das sog.
(Mast-) Fettherz, die Fettumwachsung und -durchwachsung des Herzens,
die früher schon gelegentlich berührt wurde, und als Teilerscheinung
der Lipomatosis universalis eine, oft freilich etwas übertriebene Rolle
spielt, klinisch und anatomisch bearbeitet worden. Es ist dies wohl
begreiflich, da das Mikroskop erst genauere Aufklärung zu geben
Handbuch der Oeschichte der Medizin. Bd. II. 41
542 Hermann Vierordt.
imstande war. Eine Trennung beider Arten des Fettherzens hat, wie
schon vor ihm Corvisart (1. c. p. 177 II. Klasse, Chap. IV Art. 3),
der einige ältere Fälle anführt, Laennec (Partie III Sect. II Chap.
XIV) vorgenommen. Für die Herzrupturen hat Cruveilhier eine
Fettentartung des Herzmuskels verantwortlich gemacht. Später haben
namentlich Williams, Peacock (1844), Rieh. Quain (1850 und
1852), Ormerod, in Deutschland Rokitansk}^ (1847) und E.
Wagner (Fettmetamorphose des Herzfleisches in Beziehung zu deren
ursächlichen Krankheiten 1864; Verhandlungen der mediz. Gesellschaft
zu Leipzig Bd. I) zur Förderung unserer Kenntnisse beigetragen. Ins-
besondere ist die, andere Affektionen begleitende Herzverfettung ge-
nauer studiert worden, wie sie bei Ernährungsstörungen, namentlich
auch schweren Anämien (Biermer, Ponfick), dann bei fieberhaften
Krankheiten, Typhus (Louis, F. A. Zenker, C. E. E. Ho ff mann
s. bei Liebermeister, Pathologie des Fiebers 1875 p. 437),
Scharlach, Diphtherie, wobei auch Infektionswirkungen in Betracht
kommen mögen (Hayem), dann bei Syphilis, Pocken, Phosphor- und
Alkoholvergiftung, Pericarditis, im Verlauf von Klappenfehlern und
als Ausgang der parenchymatösen Myocarditis vorkommen, während
die von Eiterbildung gefolgte Myocarditis unter der Bezeichnung „Ge-
schwürsbildung" schon älteren Autoren, Benivieni, Rota (1555),
Bartoletti (s. p. 634), dann auch Morgagni bekannt war. Bei
Sobernheim (Prakt. Diagnostik der Innern Krankheiten . . . Berlin
1837 p. 118) sind für uns allerdings jetzt unverbindliche „charakte-
ristische Zeichen" der Myocarditis aufgestellt. Den ersten mikro-
skopischen Befund einer Entzifeidung der Papillarmuskeln lieferte 1844
Hamernjk. Genaueres findet man in der „chronologischen Zu-
sammenstellung" von H. Stein's Preisschrift „Untersuchungen über
die Myocarditis" München 1861, auch bei Sehr öfter (1. c. Ziemssens
Handbuch 6. Bd. p. 246). — Dass die Substrate des Herzens, Perikard,
Myokard, Endokard, vielfach mit- und nebeneinander erkranken, ist
durch neuere, namentlich in Leipzig ausgeführte Untersuchungen ein-
gehend erwiesen; die prinzipielle Trennung der einzelnen Afiektionen
erfährt dadurch eine gewisse Einschränkung und füglich mag man
von „Pancarditis" reden.
Ueber die im ganzen seltene Syphilis des Herzens hat zuerst
wohl Lancisi (s. p. 630), dann Morgagni, Corvisart, Ricord
(1845), Virchow (1859, von späteren abgesehen, gehandelt; von
letzterem ist auch die syphilitische Aortitis zuerst genau beschrieben —
Casuistik der erworbenen und ererbten Herzsyphilis bei F. M r a c e k
(Ergänzungshefte zum XXV. Band des Archivs für Dermatologie und
Syphilis 1893 p. 279 — 411). Die jetzt als Herzaneurysma be-
zeichnete partielle Ausweitung der Herzwand ist von Dom. Mar. Guzman
Galeazzi 1757 erstmals beschrieben (De Bonon. scient. et artium
instituto atque academia commentarii t. IV — Academiarum quariin-
dam opuscula varia 1757 p. 26 — 33). Später haben Breschet,
L ö b 1 und namentlich auch Rokitansky eingehendere Darstellungen
geliefert — vgl. Pelvet, Des anevrysmes du coeur, These de
Paris 1867. — Die schon von R. Bright selbst gekannte und aus Ver-
änderungen im Gefässsystem der Nieren erklärte Hypertrophie des
Herzens bei Morbus Brighti hat L. Traube 1856 — Ges. Beiträge
II p. 290, 421) eingehender, besonders für die Granularatrophie der
Nieren behandelt, wenn er auch keine nach allen Richtungen be-
1
Geschichte der Herzkrankheiten. 643
friedigende Erklärung zu geben vermochte. Darauf, dass Hyper-
trophie des Herzens auch ohne eigentliche Klappenfehler vorkomme,
hatte Stokes hingewiesen. W. Gull's und. H. Sutton's Arterio-
capillary fibrosis (Med. chir. Transactions Vol. 55. 1872) mag hier Er-
wähnung finden.
Die Verbindung von Herzklopfen mit Kropf hat, wie später
(1835) Graves, schon der römische Arzt Flajani (1802) hervorge-
hoben. Den Exophthalmus zusammen mit den vorerwähnten Sym-
ptomen nennt zuerst Caleb Hillier Parry (j 1822 — Collection from
the unpublished medical writings . . . London 1825); vgl. Maitland
Ramsay (Glasgow med. Journal XXXVI 1891 p. 81); Karl v. Base-
dow (1850 Caspers Wochenschrift) hat meder den Exophthalmus in
den Vordergrund gestellt. — Genaueres in den Monographien von
Buschan (Wien u. Leipzig 1894) und P. Mannheim (Berlin 1894).
In neueren Zeiten hat man mehr als früher der von Degeneration
unabhängigen geschwächten Herzthätigkeit, der Insufficienz des
Herzens, die Aufmerksamkeit zugewandt. Hatte schon früher (1853
— 1856) Jos. Hon. Sim. Beau (f 1865), ein Hauptvertreter der patho-
logischen Physiologie, den Begriif der ..Asystolie'' (s. a. Traite experi-
mental et clinique d'auscultation . . . Paris 1856) aufgestellt und
Bamberger (1. c. p. 313j ausdrücklich von der „verminderten Trieb-
kraft'' des Herzens, allerdings bloss im Anschluss an die Herzdegene-
ration gesprochen, Ausdrücke wie „wahre Insufficienz des Herzens"
oder „Unzulänglichkeit des erkrankten Herzmuskels gegenüber den
bestehenden Hindernissen" angewandt, Stokes vom ..weakened heart"
„von den vitalen und anatomischen Verhältnissen der Muskelfasern als
Schlüssel zur Pathologie des Herzens" gesprochen, so hat doch eigent-
lich erst Ott. Rosenbach 1881 (s. Eulenburgs Realen c3'klopädie
Bd. IX 2. Aufl. p. 412; Artikel Herzkrankheiten — Krankheiten des
Herzmuskels, 3. Aufl. X p. 442) den Begiiff" der Herzinsufficienz schärfer
herausgehoben, wobei er die klinische, funktionelle Seite in den Vorder-
grund stellte im Gegensatz zu Krehl u. a., welche später auf den
Herzmuskel selbst und sein anatomisches Verhalten das Hauptgevricht
legten, obwohl bei der Abhängigkeit des Herzmuskels von dritten
Faktoren (den Vasomotoren, Coronararterien) noch weiteres, jedenfalls
gewisse „nervöse" Störungen, in den Kreis der „Insufficienz" zu
ziehen wäre.
Auch der Nachweis akuter Vergi'össerung (Dehnung) infolge
Ueberanstrengung mit konsekutiver Insufficienz gehört neueren Zeiten
an. Da Costa (s. Litt, bei J. Seitz), Ose. Fräntzel (Virchows
Archiv 57. Bd. 1872) wiesen beispielsweise den Einfluss der Kriegs-
strapazen, dann aber auch sonstiger schwerer, selbst bloss vorüber-
gehender Arbeit (Fräntzel, 1. c. I p. 112) nach, und in ähnlicher
Weise ist es ja in neuesten Zeiten von den sportlichen Ueberanstren-
gnngen geschehen. Auf die unter besonderen Umständen, bei Lungen-
emphysen (Hunzinger 1877 präsid. Jürgensen: „Tübinger Herz"),
bei reichlichster Flüssigkeitszufuhr (s. Bauer u. Bollinger 1893
„Münchener Bierherz") sich ergebenden Störungen, bei denen Dila-
tation und hypertrophische Zustände nebeneinander herlaufen, muss
noch ausdrücklich hingewiesen werden. Und so ist das früher grosse
Gebiet der „idiopathischen" Herzvergi-össerung ziemlich zusammenge-
schrumpft, wenn schon immer noch ein Rest von Fällen bleibt, für
den man genügende Aetiologie nicht aufzufinden vermag.
41*
644 Hermann Vierordt.
Die von Renault (1877) als „Fragmentation" des Myocardiums
beschriebene Veränderung, welche gelegentlich auch für plötzliche
Todesfälle in Betracht kommt, hat Jos. Coats 1872 als „fracture"
der Muskelfasern gesehen. Genaueres hei Tedeschi, Virchows Ar-
chiv 128. Bd. p. 185.
Von den in neuerer Zeit mehr gewürdigten Neurosen des Herzens,
welche eigentlich dem neurologischen Abschnitt angehören, sei nur erwähnt,
dass zwar P i s s i n i und Albertini, auch Morgagni (s. o.) nervöses
Herzklopfen schildern, dass ferner von Jos. Frank (1771 — 1842) be-
schrieben (Praxeos medic. univ. praecepta, Partis II Vol. II Sect. II,
Lipsiae 1824, p. 373) eine Selbstbeobachtung von Job. Peter Frank vor-
liegt („imaginationis laesae affectus"), dass aber erst Bamberger eine
wissenschaftHche Behandlung begründete, indem er gesteigerte Innervation
(mit Hyperkinese) und verminderte Innervation unterschied. Friedreich,
Fräntzel, später G. See, O.Ilosenbach, Beard, Lehr, Huchard
haben die Lehre weiter ausgebaut, nicht zu reden von einer ausgedehnten,
hier nicht weiter heranzuziehenden mehr kasuistischen Litteratur.
Dass man die Arbeit des (menschlichen) Herzens neuerdings
verlässlicher zu taxieren gelernt hat (Zuntz, Benno Lewy) ist ein
grosser Gewinn für die Pathologie, da die dem Herzen verfügbaren
Reserven sich nunmehr in approximativen Zahlenwerten ausdrücken
lassen. Auch das ist eine Errungenschaft, dass man die Herzleistung
nicht mehr summarisch nach dem trügerischen Ausweis der Stärke
des Herzstosses zu messen sucht, den man, wohl nach Gendrin's
Vorgang (s. Citat bei Martins 1. c. p. 71), als einen Index für die
Grösse der Herzarbeit zu nehmen gewohnt war. Seit S e n a c ' s Zeiten
hat er die Aerzte beschäftigt und der „Theorien des Spitzenstosses"
giebt es eine grosse Zahl, um nur einige zu nennen: von Alderson
(1825), Gutbrod-Skoda.Hamernjk, Kürschner, C. Ludwig,
neuestens Fr. Martins.
Die angeborenen Herzkrankheiten können nur in Kürze
behandelt werden. Die wichtigste Litteratur findet man in meiner
Monographie, bes. p. 13, historische Notizen in den dort genannten
Werken von Peacock, Taruffi, Rauchfuss u. a., sowie vielfach
am Beginn der einzelnen Kapitel. Erwähnt mag sein, dass die an-
geborene Cyanose schon Paracelsus bekannt war , dass Morgagni
(Lib. II Epist. XVII Art. 12. 13) gelegentlich eines Falls von Pulmonal-
stenose bei einem 16jährigen Mädchen erstmals eine Rückstauung
im Venensystem (statt der angeblichen Durchmischung des arteriellen
und venösen Blutes!) zur Erklärung der Cyanose annahm (s. p. 632),
dass Hippokrates die Trommelschlägel, wenigstens bei Lungen-
phthise und Empyem kannte (bvvxeg 7ieQLTeTaf.iivoi: TteQi töticov iüv
v.at' avd-QojTTov cap. 14, Kühn II, 125; Fuchs II, 581; ow^eg ely-ovrei:
negl tCjv evrbg na&ibv cap. X, Kühn II, 445; Fuchs II, 495; ovvxsg yqv-
TiovvTai: TtQoyvojatiKÖv cap. XXX, Kühn I, 106; Fuchs I, 463; yctüay.al
TtQoyvwaeig Nr. 396, Kühn I, 300; Fuchs II, 61), und dass Galen [7C€Qi
Xgeiag . . . f.ioQuov Lib. XV; Kühn IV, 244) das mit einer Klappe ver-
sehene {vi.ir]v öUrjv e7iLd-ri(.LaTog) nach der Geburt sich schliessende
{av^cpvoig xov xQi'j/xaTog) Foram*en ovale, welches späterhin Riolan
als Foramen Botalli bezeichnet hat, und den Ductus arteriosus samt
seinem Obliterationsvorgang beschreibt (1. c. p. 245/46). Das erste Cor
„biloculare" s. simplex mit Defekt beider Septa hat bei einem
Geschichte der Herzkrankheiten. 645
27jährigen Manne Pozzis beschrieben (1673). Sandifort (1677) den
so häufigen Ursprung der Aorta aus beiden Ventrikeln. Die zuerst
von Kürschner (1837) und W. Turner fl862), dann aber nament-
lich von Rokitansky (Die Defekte der Scheidewände des Herzens,
Wien 1875) wissenschaftlich aus anomaler Scheidung des primären
Truncus arteriosus befriedigend erklärte Transposition der Gefässe hat
erstmals Math. Baillie 1797 geschildert. Die nicht allzu seltene
Stenose der Aorta am Ductus arteriosus — bis jetzt ca. 140 Fälle —
beschrieb zugleich mit der charakteristischen Entwicklung der Kol-
lateralen zuerst 1789 Paris, Prosektor am Pariser Hotel-Dieu.
Eine Erwähnung verdienen die zahlreichen, zunächst zwar aus
mehr theoretischem Interesse unternommenen, indirekt aber auch der
Praxis zu gute kommenden Versuche, welche zuerst von Rouanet
(Analyse des bruits du coeur, These de Paris 1832) über die Ent-
stehung der Herztöne angestellt, von anderen fortgesetzt wurden, wo-
bei die Experimente des Dubliner Comites an jungen Kälbern (London
medical Gazette Vol. XVI 1834 — 35) und die Versuche von Chau-
veau und Faivre, welche die Unhaltbarkeit der Theorie Beau's
und der Lyoner Schule darthaten, anzuführen sind. Eine Uebersicht
findet sich bei Roger et Barth (Traite . . . d'auscultation, 11. edit,
Paris 1887, p. 351); auch bei P. Niemeyer (s. Litt, bei Perkussion
und Auskultation). — Um die Erklärung der pathologischen Geräusche,
die bis heute noch nicht allseitig befriedigend gegeben ist, haben sich
E.H.Weber, Traube. A. Geigel, Leared (Dublin quarterly
Journal 1852 Ma}'). Heynsius, Talma u. a. bemüht; auch die
Arbeiten A. Weil 's (Auscultation der Arterien und Venen, Leipzig
1875) dürfen nicht unerwähnt bleiben. Ein tieferes Eingehen auf die
historische Entwicklung dieser manche interessante Seiten bietenden
Lehre von den Herztönen und -geräuschen lässt der beschränkte
Raum nicht zu — vgl. a. (s. Litt, bei „Perkussion") G. Joseph und
P. Niemeyer, Handbuch II, 1 p. 62).
Der Puls ist seit Jahrhunderten als ein besonders verlässlicher
Index des Herzens in gesundem und krankem Zustande angesehen
worden, auch schon vor der Fixierung der Lehre eines systematischen
Kreislaufes. Es darf an die komplizierte alte, freilich auf ihr Vater-
land beschränkt gebliebene Pulslehre der Chinesen mit den verschie-
denen Untersuchungsstellen der Pulse (Ausführliches bei Ozanam,
1. c. p. 81) und ihre Kenntnis der puerperalen Bradykardie erinnert
werden, während die in mancher Beziehung hochentwickelte indische
Medizin vom Puls, wenigstens bei Charaka und Susruta, nicht gar "vdel
zu wissen scheint (vergl. Bd. I p. 140). Im Altertum hatten die, auch
das Pathologische berücksichtigende Lehren des Herophilus (s. o.
p. 632), welche später R h u p h o s von Ephesus und Archigenes (beide
ca. 100 n. Chr.) weiter ausbauten, Ansehen. Von Galens verwickelter
Pulslehre ist oben (p. 632) einiges angedeutet; bei Ozanam ist sie ge-
nauer erörtert. Die Pulslehre der Hippokratiker findet man in Ant. de
Haen's Ratio medendi in nosocomio practico . . . pars XII cap. 1
(Viennae 1768) besprochen, in den drei folgenden Kapiteln die spätere
Zeit. Versuche, den Puls zu zählen, reichen weit zurück, auf den 1464
gestorbenen Kardinal Nicolaus Cusanus (s. C. Binz, Deutsche medic.
Wochenschrift 1898 p. 640), der mit der Wasseruhr zählen wollte, während
1625 Santorio, welcher immerhin noch 73 Pulsarten unterschied
(Galen 27 mit je 3 Unterabteilungen!), ein Pulsilogium. wie vor ihm
646 . Hermann Vierordt.
Galilei beschreibt (s. bei H u a r d , 1. c. p. 7). Bei Job. K e p p 1 e r (Opera
omnia ed. Chr. Frisch Vol. VI p. 248) ist für den Mann 70, für die Frau
80 als durchschnittliche Pulsfrequenz angenommen. Im übrigen machte
sich gegenüber der weitausschweifenden Pulslehre der Alten späterhin
eine gesunde Eeaktion geltend, so bei Friedr. Hoff mann, der be-
sonders auf B e 1 1 i n i ' s (s. o. p. 634) Schrift (De urinis et pulsibus . . .
Bononiae 1683) hinwies, bei A. v. Haller, auch noch bei Testa,
welcher dem „Puls als Zeichen der Herzkrankheiten" zwar ein be-
sonderes Kapitel widmet, aber ehrlich eingesteht: „ich bekenne, dass
Ich es immer weniger begreife, wie so viele grosse Meister der Kunst
allein auf dieses Merkmal haben ihre Vorhersagungen bauen können."
So war eine Objektivierung der Beobachtungen gewiss zu fordern,
und zunächst für das Tierexperiment wurde eine Reihe von xA.pparaten
— s. bei Ozanam p. 397 if. — ersonnen, von denen ich nur Stephan
Haies' Sphygmoskop (1748), Poiseuille's Hämodynamometer (1828),
Ludwig 's und Volkmann 's Kymographion (1847) erwähnen will.
Das erste brauchbare Instrument zur Untersuchung des Pulses am
unverletzten Arterienrohr des Menschen war K. Vierordt's
Sphygmograph, erstmals demonstriert auf der Naturforscherversamm-
lung zu Tübingen 1853 — (Archiv für physiolog. Heilkunde 1854
p. 284 Lehre vom Arterienpuls in gesunden und kranken Zuständen,
Braunschweig 1855). Erst seit dieser Zeit existiert eine eigentliche
wissenschaftliche, auch auf das klinisch-pathologische Gebiet und die
Symptomatologie und Diagnostik der Herzkrankheiten ausgedehnte
Pulslehre, zu deren Ausbau die Herstellung handlicherer, auch am
Krankenbette anwendbarer Instrumente, von Marey an bis herab zu
Dudgeon, Wesentliches beigetragen hat (s. Ozanam p, 399 ff.).
In neuerer Zeit ist die Kardiographie von selten der Physio-
logen und Pathologen auch für die unmittelbare Untersuchung des
fühlbaren Herzstosses — früher hatte man die Fälle von Fissura
sterni bevorzugt — nach manchen Richtungen hin vervollkommnet
worden; auch hier fehlen allseitig anerkannte Normen, wie denn die
wichtige Lehre vom Herzstoss wohl mancherlei Verbesserung — von
neueren Untersuchern seien Martins und Hürthle genannt — ,
aber immer noch nicht einheitliche Deutung erfahren hat.
Von Einzelheiten, die freilich nur mit Auswahl berücksichtigt
werden können, übrigens auch früher schon gelegentliche Erwähnung
gefunden haben, seien hier noch besonders aufgeführt : der von Kuss-
maul als Pulsus paradoxus (Berliner klin. Wochenschrift 1873 p. 433)
bezeichnete, während der Inspiration aussetzende Puls ist erstmals
von F. Hoppe (Deutsche Klinik 1854 Nr. 3), dann unter Grie-
singer's Leitung von A. Widenmann (Beitrag zur Diagnose der
Mediastinitis, Tübinger Dissertation 1856) beschrieben worden. Als
Charakteristikum für „eine schwielige Mediastinitis" kann er nicht
mehr gelten, kommt er doch bei gewöhnlicher Pericarditis, zumal mit
intraperikardialen Verwachsungen vor (Traube, Stricker), auch
darf nicht vergessen werden, dass ein (sphygmographisch nachweis-
bares) Kleinerwerden des Pulses selbst bei Gesunden durch tiefere
Inspiration bewirkt wird (Riegel, Sommer brodt).
Die bei Herzbeutelobliteration unter Umständen vorkommende
systolische Einziehung hat schon Williams registriert; später
haben Skoda, auch Friedreich, Traube, die diesbezügliche
Diagnostik weiter ausgebaut.
Geschichte der Herzkrankheiten. 647
Das schwierige Kapitel der normalen und pathologischen Venen-
pulsation ist in neuerer Zeit mittels subtilster Sphygmographie
namentlich auch von Riegel (Deutsches Archiv für klin. Medicin
31. Bd. 1882 p. 1) in vielen Stücken aufgeklärt und auf gesunde mecha-
nische Grundlagen gestellt worden.
In Beziehung auf die Therapie der Herzkrankheiten ist
hervorzuhehen, dass die erste allgemeinere Anwendung der auch vor-
her nicht unbekannten Digitalis bei Hydrops auf Will. Withering
(An account of the fox-glove . . . London 1778; Deutsch von Chr. F.
Michaelis, Leipzig 1786 (1799) zurückzuführen ist. Gramer in
seinem Büchlein (1. p. 639 c. p. 47 Anmerkung) sagt auffallenderweise:
„Es ist hier zum erstenmale, wo (!) Digitalis als ein mächtiges
Mittel in Herzleiden angerühmt wird". Später hat u. a. Traube
das Mittel in seinen Wirkungen wieder eingehender studiert (Berliner
klin. Wochenschrift 1870 p. 201, 213; 1871 p. 368, 396 — Ges. Bei-
träge . . . L Bd. p. 252, 274). Die in neueren Zeiten fast wie ein
Novum angepriesene diuretische Wirkung des Calomels ist längst be-
kannt, von Paracelsus und Späteren erwähnt — „potentissimus
hydropis dormitor" — , von W. S t o k e s u. a. verwertet, so dass es nur
Wunder nehmen muss, wenn das Mittel zeitweise nach dieser Sichtung
in Vergessenheit geraten ist (s. A. Corradi, Annali univ. di med. e
chir. 1887 Giuglio).
In den 80er Jahren hat die von M. J. Oertel in München
(t 1897) inaugurierte, zum Teil übrigens von nicht ganz richtigen Vor-
aussetzungen, namentlich der „serösen Plethora", ausgehende diätetisch-
mechanische Behandlung der Herzkranken Aufsehen erregt und weite
Verbreitung gefunden, wobei aber nicht vergessen werden darf, dass
schon ältere Aerzte, Stokes (vgl. auch Verhandlungen des 7. Kon-
gresses für innere Medicin p. 55), Traube, Herzkranken die Körper-
bewegung anempfahlen. Wenn auch nicht, wie begreiflich, allge-
meinster Anwendung fähig, so haben die kardinalen Punkte des
Oertel sehen Regimes : Ueberwachung resp. Beschränkung der Flüssig-
keitszufuhr und systematische Körperbewegung mit Bergsteigen
(,, Terrain kur"^ für die hierzu geeigneten Fälle gewiss ihre Bedeutung
und therapeutischen Vorzüge.
In jüngster Zeit hat die von den Brüdern August (f 1886) und
Theodor Schott begründete und ausgebildete NauheimerMethode
vielfach Eingang gefunden: (kohlensäurehaltige) laue Soolbäder ver-
bunden mit einer systematischen, auf bessere Entleerung des Herz-
inhaltes abzielenden sog. Widerstandsgymnastik. Auf die kalmierende
Wirkung der Nauheimer Bäder und ihre Anwendbarkeit bei Herz-
affektionen hatte schon 1872 F. M. Beneke hingewiesen; Aug.
Schott's erste Publikation stammt aus dem Jahr 1880 (Berliner klin.
Wochenschrift Nr. 25 u. 26 — weitere Litteratur s. bei Jürgensen,
Insufficienz des Herzens p. 196). Uebrigens hat 1870 J. Jacob
(Cudowa) in seinen „Grundzügen der Balneotherapie . . ." auf die
Bäderbehandlung der Herzmuskelschwäche hingewiesen und 1884, also
gleichzeitig mit Oertel, methodisches Bergsteigen empfohlen (Ver-
handlungen des 7. Kongresses für innere Medicin p. 64).
Die klinisch wichtigen Parasiten.
Von
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Pagenstecher, von Liefenmg 7 an von M. Braun , Vierter Band, Würmer,
seit 1887. — Aeltere Quellen und allgemeine Geschichte Lfrg. 1 — 7 : Autoren-
verzeichnis Lief. 7 (1889) p. 209 — 215. Hiezu ergänzend:
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381 S. — Supplementheft, Jena, Druck der Fr omniann' sehen Buchdruckerei
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Jena, Druck der Frommann' sehen Buchdruckerei 1899, 24 S. — Heft 2 u. 3,
ibid. 24 u. 25 S., Heft 4, ibid. 1900 [Sarcoptes scabiei].
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Pathologie u. Therapie, VI. Band).
Corrado I*arona, L'elmintologia italiana da suoi primi tempi alV anno 1S90,
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Artikel „Taenia" im „Index Catalogue" , Vol. 1893, p. 182—192; T. mediocanellata
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Lewis und Trematoden [Distoma, Amphistomum hominis, Monostomum
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H. Alex. Pagenstecher, Die Trichinen, 2. Auflage, Leipzig 1866.
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Filaria. Huber (s. o.), Bibliographie Heft 718 u. Supplementheft.
Artikel „Filaria" im „Index-Catalogue", Vol. IV, 1883, p. 971 — second series
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Alte Abbildung von 1598, Operation der Filaria Medinensis und Fil. Loa betr. bei
R. Blanchard, Archives de parasitologie, 1899. Oct. (wiedergegeben Janus
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des 18. Jahrhunderts, Janus 1901, S. 95.
Artikel „Oxyuris" im „Index-Catalogue", Vol. X, 1889, p. 335.
Dracunculus. Huber (s. o.), Heft 718 — Artikel „Dracunculus" im „Index-
Catalogue", Vol. in, 1881, p. 889. Second series Vol. IV, 1899, p. 489.
Ankylostomum. Artikel „Anchylostomum duodenale" im „Index-Catalogue",
Vol. I, 1880, p. 338. — „Anaemia (tropical) ibid. p. 283 und second series
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Huber (s. o.), Bibliographie Heft 516.
W. Zinn & 31. Jacoby, Ankylostomum duodenale, mit 2 Karten, Leipzig 1898
(mit ausführlichem Litteraturverzeichnis u. geschichtlicher Skizze).
Trematoden.
Huber, Heft 7(8 (s. o. bei Nematoden). — Braun u. Pagenstecher in Bronn's
Klassen . . . IV. Band Abtheilung 1", Leipzig 1879—93 Geschichte und Litte-
ratur p. 1—406, Nachträge 919—925.
Die klinisch wichtigen Parasiten. 651
Blutegel. Huber, Die Blutegel im Alterthum, Deutsches Archiv für klinische
Medizin 47. Band 1891, p. 522. — Leuckart, Parasiten, I. Aufl. I p. 720
(„medicinische Bedeutung'^).
Scabies.
JoJi. Ernst Wichmann, Aetioloqie der Krätze, Hannover 1786, 2. Ausgabe 1791.
Et'nst Moritz Heyland, De acaro scabiei humano. Dissertatio BeroUni 18S6.
JH. H. F. Filrstenherg, Die Krätzmilbe der Menschen und Thiere, Leipzig,
Fol. mit 15 lafeln; p. 1 — 172 Geschichte.
Artikel „Scabies" im „Index-Catalogue", Vol. XII, 1891, p. 560 ff. — Acarus of
Scabies p. 563. — Treatment of Scabies p. 564.
J. Ch. Huher, Bibliographie d. Min. Entomologie, Heft 4, 1900 (s. o. p. 644).
F. Hebra, Hautkrankheiten in Virchoic's Handbuch der speciellen Pathologie
und Therapie III. Bd.
Fast gleicher Text im Atlas der Hautkrankheiten, 5. Lieferung 1865.
Bei keiner Affektion erscheint der Nachweis in den alten über-
lieferten Quellen verhältnismässig so leicht, wie bei den Parasiten,
wenigstens insoweit die grösseren und auch häufigeren unter denselben
in Betracht kommen. Geht man auf die ältesten üeberlieferungen
zurück, so erwähnen schon die ägyptischen Papyri unzweifelhaft mensch-
liche Parasiten. Den Ektozoen hat F. v. Oefele eine eingehendere
8tudie gewidmet (s. Litteratur p. 649). In dem parasitenreichen Lande
haben verschiedene Hautparasiten, namentlich die verschiedenen Läuse,
dann Krätze und verwandte Affektionen, Dipteren und Hymenopteren
eine Rolle gespielt. Im Papyrus Ebers, niedergeschrieben c. 1550
V. Chr., in einzelnen Teilen wohl sehr viel älter, kommen pend-Wurm
und beft-Wurm vor. Ersteren deutet H. Joachim (Papyrus Ebers
aus dem Aegyptischen übersetzt, Berlin 1890 XVII und p. 11 ff. ver-
schiedene Rezepte gegen Würmer, hauptsächlich beft) als Taenia sagi-
nata, den beft-Wurm als Ascaris lumbricoides. Einigermassen für
letztere Erklärung scheint mir, wie auch Scheuthauer hervorhob,
der Umstand zu sprechen, dass dieser AYurm als „dunkler, schwarzer
beft-Wurm" auch als Medikament (gegen graues Haar) verordnet wird,
was in ähnlicher Weise Plinius (Naturalis historia, Lib. XXX, §54)
von den Magiern berichtet, welche den Regenwurm gegen Hüftweh
anwandten. — v. Oefele (s. Litt. p. 649 IL Teil p. 8 u. 18) vermag
sich der Joachimschen Deutung nicht anzuschliessen. Den beft-
Wurm lässt er nicht als Spulwurm gelten, der im Gegenteil durch
den pend-Wurm dargestellt werde. Das alte ägyptische Haarwuchs-
rezept erscheint merkwürdigerweise später bei Ibn il Beitar, dem
arabischen Botaniker des 13. Jahrhunderts, als Schlangenöl, aus
„schwarzen Schlangen" bereitet. Als die für das alte Aegypten in
Betracht kommende Taenie lässt v. Oefele höchstens für die prä-
historische Zeit, in welcher Schweinefleisch gegessen wurde, Taenia
solium gelten, für die eigentliche Hieroglyphenzeit aber muss nach
seinem Dafürhalten Bothriocephalus latus angenommen werden, da
der Fischgenuss im Volke sehr verbreitet war, auch Wasservögel
(als event. Träger der Bothriocephalus-Finne) von den ärmeren Klassen
vielfach verzehrt wurden. Das Essen von Fischen war, wie uns auch
Herodot (II, 37) berichtet, den Aegyptern verboten, gerade wie sie
gegen Ektoparasiten durch Enthaarung sich zu schützen hatten. Ein
üault-Wurm wird bei Joachim p. 105 erwähnt. Im (hermaphrodi-
tischen) Habitus gewisser Nilgötter vermutet v. Oefele den Ausdruck
652 Hermann Vier or dt.
einer bei manchen alten Völkern als eine Menstruatio virilis ange-
sehenen Haematuria parasitaria (1. c. V p. 499). Die äaä-Krankheit
will Joachim ziemlich willkürlich und ohne dass ihm die anderen
Autoren, v. Oefele z. B., darin folgen würden, als Chlorosis aegyp-
tiaca, also Ankylostomiasis, deuten (1. c. p. XIV), auch die uba-Krank-
heit wird mit ihr in Verbindung gebracht (p. XVIII). Viele Rezepte
gegen äaä-Krankheit auf p. 13 ff. (1. c. Register p. 209).
In der Probe, die neuerdings F. Küchler (Beiträge zur Kennt-
nis der assyrischen Medizin, Inaug.-Dissertation der philosoph. Fakultät
Marburg 1902, 4") aus den vielen vorliegenden medizinischen Texten
giebt, finde ich, obwohl viel von Leibschneiden, Entzündungen im
Bauche u. ähnl. die Rede ist, nichts verzeichnet, was auf Annahme
von (auch hypothetischen) Parasiten hindeuten könnte.
Manche, leider wenig genaue Angaben über Würmer finden sich
in den, bei Bronn mit gänzlichem Stillschweigen übergangenen, alten
indischen Autoren, wobei namentlich auch die Darstellung von J. JoUy
(1. c. bes. § 55) zu beachten wäre. Schon die „Hundert Lieder des
Atharva-Veda" (übersetzt von J. Grill, 2. Aufl. Stuttgart 1888),
welche aus uraltem Stoff sich aufbauen, wenn sie auch in ihrer
jetzigen Gestalt einer viel späteren Zeit angehören mögen, widmen
in den Gebeten und Zaubersprüchen den „Würmern" (wie auch den
Schlangen) ein ganz besonderes Kapitel, n, 31 Vers 2 sind selbst
verschiedene, jetzt nicht mehr bestimmbare Arten bezeichnet; das
Lied nennt — Vers 4 — „den Wurm, der in den Eingeweiden, im Kopf,
an den Rippen haust, den zerrenden, den bohrenden" (nachgelassene hand-
schriftliche Uebersetzung von Rud. Roth, Univ.-Bibliothek Tübingen) :
— II, 32 Vers 1 spricht „von Würmern, die im Rinde sind", und
Vers 2 vom „vielfarbigen, vieräugigen, scheckigen, weisslichen Wurm",
letztere beiden Epitheta auch in V. 23 Vers 9 neben dreiköpfig und
dreihöckerig. V, 23 Vers 2 bittet „dieses Knaben Wurm töte, o Indra,
0 Herr des Reichtums!" Vers 4 spricht vom gleichfarbigen, ungleich-
farbigen, schwarzen, roten, gelben, gelbohrigen, „dem Geier und dem
Kuckuck." Einige Phantasie könnte in dem vieräugigen Wurm den
Bandwurm mit den Saugnäpfen (also wohl Taenia mediocanellata, da
das Schwein nicht wohl in Betracht kommt) vermuten, wie denn auch
Jahrhunderte später N. Andry (1. c.) die Saugnäpfe für Augen aus-
gab. Uebrigens kommt gerade die Bezeichnung „vieräugig" (s. Grill
1. c. p. 101) auch bei anderen Tieren mit Flecken an den Augen vor.
Ausführlicher und sachlicher handelt über Würmer eine Reihe
späterer Autoren, wie denn auch bei T. A. Wise in seinem jetzt
allerdings etwas veralteten „Commentary on the Hindu System of
medicine", Kalkutta 1845 (new issue 1860) auf pag. 348 und ebenso
in seinem „Review of the history of medicine. Vol. II. London 1867
p. 301 verschiedenes über „Krimi" (Würmer), auch aus späteren Au-
toren, zu finden ist. Der besonderen Liebenswürdigkeit von Prof.
Jolly in Würzburg, dem genauen Kenner der medizinischen Sans-
kritlitteratur (s. o.), verdanke ich eine ausführlichere briefliche Mit-
teilung über Würmer betreffende Stellen aus Mädhavanidäna und
einigen sich ihm unmittelbar anschliessenden Autoren, dann aus
Susruta und Hanta. Aus C a r a k a - S a m h i t a ist das einschlägige in
der neuen englischen Uebersetzung von Avinash Chandra Kavi-
ratna (Kalkutta Part XVII p. 529) zu finden. Alle diese Autoren
haben viel Uebereinstimmendes; sie unterscheiden äussere Würmer
Die klinisch wichtigen Parasiten. 653
(Läuse in Haaren und Kleidern etc.) und innere, ferner heilbare Arten
(13 bei Susruta) und nicht oder nur schwer heilbare (7 an der
Zahl) ; oder es werden die Würmer nach ihrer Entstehung aus äusserem
Schmutz, Schleim. Blut oder Fäces eingeteilt, wobei wieder die Nah-
rung eine wichtige ätiologische Eolle spielt. Mancherlei Wurmsym-
ptome werden aufgeführt. Doch dürfte es trotz gelegentlicher summa-
rischer Beschreibung von Gestalt und Grösse nicht so leicht sein,
heute noch die einzelnen Wurmarten festzustellen. Caraka unter-
scheidet Würmer, welche den oberen und unteren Teil des Darms
(ämägaya und pakkägaya) bewohnen, woraus nichts Spezielles zu ent-
nehmen sein dürfte. Dagegen sind die ..kleinen, weissen, zum After
hindrängenden" (Susruta), die ,,leicliten (kleinen), Afterjucken ver-
ursachenden" (Härlta) zweifellos als Oxyuriden zu deuten. Die Er-
wähnung einer Wurmart „Sughanda" von „angenehmem" Geruch er-
innert an den eigenartigen Geruch des Spulwurms. Aber andererseits
ist es nicht möglich, den in Indien, heutzutage wenigstens, gar nicht
seltenen Bandwurm herauszufinden. Wenn Mädhavanidäna (innere)
Würmer mit „breiten Eanken von Schlinggewächsen oder Erdwürmern"
vergleicht, so könnte man an Bandwurm, jedenfalls an den Spulwurm
denken. Auch Mahäguha, ein „grosser" Eingeweidewurm, mag hier-
her gehören. Nirgends aber ist ausdrücklich der Abgang von Wurni-
gliedern oder Gliederketten oder etwa von Gurkenkern oder Kürbis-
kern ähnlichen Gebilden erwähnt, wie mir auch Prof. R. Garbe in
Tübingen nach Ausweis der Sanskrit- Wörterbücher bestätigt. Wise's
Erklärung von Ohara (Curu) als „plattgedrücktem Reis", was ja einem
Bandwurm entsprechen könnte, möchte JoUy beanstanden. Dass
Udarävesta (wörtlich ,,den Bauch bedeckend, ausfüllend") vom kleinen
Petersburger Wörterbuch, desgleichen vom älteren Wörterbuch von
M. Williams mit Bandwurm übersetzt wird, lässt sich kaum recht-
fertigen. Der auch in Indien vorkommende Guinea- Wurm lässt sich
nicht identifizieren. Eine grosse Rolle spielen die Anthelminthica ;
so nennt Susruta besonders Yidaiiga (Embelia Ribes Biirm.), worüber
Dutt (The materia medica of tlie Hindus, Kalkutta 1887, p. 183) zu
vergleichen ist. Auch Kamalä. Sanskrit Kampilla, wird erwähnt
(Dutt p. 232), ausserdem noch eine ganze Reihe von z. T. sehr zu-
sammengesetzten Wurmmitteln. Caraka (1. c. p. 5340".) zählt eben-
falls viele Mittel auf, Dekokte, Infuse. die auch wohl als Klysma an-
zuwenden sind, Pasten.
Von vereinzelten Notizen noch älterer Griechen abgesehen, so
findet man im Corpus Hippocraticum verschiedene Angaben über
menschliche Würmer, worüber auch die Zusammenstellung bei H u b e r ,
1. c, Archiv, p. 137) zu vergleichen wäre. Es werden unterschieden
eXiiitvd^sg OTQoyyvlai und ao/Mgideg als bei älteren Kindern vorkommend
(Aphorismen III, 26; Edit. Kühn III p. 725; Uebersetzung Fuchs I
p. 89); an anderen Stellen rteol voüatov IV (Kühn II p. 366, Fuchs I
p. 266) ist neben den (skf^iivi^sg) arQoyyv'/Mi von Ttlarslai die Rede,
welche gurkenkernähnliche {oixvov ojieQ^a) Stücke mit dem Kot von
Zeit zu Zeit ausstossen, was einige als „Geburt" des ^\'urms — wie
Hippokrates meint, mit Unrecht — betrachten. Ebendort wird
beschrieben, dass bei geeigneter, wohl vorbereiteter Kur der Wurm
als ganzes, als Knäuel (acpalga) abgehe und der Mensch gesund werde,
oft aber bloss mehr oder weniger grosse Stücke abreissen, die dann
wieder nachwachsen. Es wird angenommen, dass nur ein „einziges
654 Hermann Vierordt.
Tier" im Darm vorhaiiflen sei. Auch die Zeichen der Bandwurm-
krankheit werden erörtert (Schmerzen an der Leber , Speichelfluss,
Bauchschmerz, Stimmlosigkeit). Die Würmer lässt Hippokrates
im Kind schon während des intrauterinen Lebens entstehen, eine lange
in Geltung gebliebene Anschauung. — Das „Gebären"' gurkenkernähn-
licher Gebilde erwähnt auch Aristoteles (Tiergeschichte V. Buch
XIX. Kap.), dann Galen, Oreibasios, Paulos von Aegina, nicht
aber Alexander von Tralles, der in seiner übrigens nichts
Neues enthaltenden IthotoIti an Theodoros (Edit. Puschmann II p.
587) Würmer von ,.nahezu 16 Fuss" aufführt. Die prognostisch
günstige Bedeutung des Abgangs von Spulwürmern, namentlich wenn
die Krisis in der Nähe ist, wird erwähnt im ngoyviooriyiöv (Kühn I
p. 99, Fuchs I p. 457), /isql yigiaecov (Kühn I p. 136, Fuchs I p. 416),
■/May-ai TiQoyvcüaeig (Kühn I p. 338, Fuchs II p. 92). In nQOQQtjTixd
II Buch (Kühn I p. 222, Fuchs I p. 519) ist das Erbrechen von Spul-
würmern aufgeführt und "ETtLÖr^f-uibv VII (Kühn III p. 702; Fuchs II
p. 342) der gelegentliche Abgang eines ausgewachsenen (Spul-) Wurms
aus einer kleinen Bauchfistel bei einem Knaben.
In Pwaiy-dtov II (Kühn II p. 853, Fuchs III p. 570) ist von ccgym-
Qiöeg (Oxyuren) im weiblichen Genitale und deren Behandlung die
Rede. — 'ETtLÖmiCbv II (Kühn III p. 428, Fuchs II p. 160) sind die
Askariden als am Abend und wieder im Herbst besonders lästig be-
zeichnet. Die Stelle negl zCbv evzbc rcad^Cov (Kühn II p. 469, Fuchs II
p. 510), wo von Wassersucht infolge von Geschwülsten in der Lunge
gehandelt wird, welche sich mit Wasser füllen und nach der Brust
durchbrechen, wird auf Hydatiden (Lungenechinococcus) bezogen; es wird
ihr Vorkommen beim Rind, Hund und Schwein erwähnt, die Operation
ausführlich geschildert. Auch Aphorismus VII, 55 (Kühn III p. 763;
Fuchs I p. 136), der den Durchbruch einer mit Wasser gefüllten Leber
in die Bauchhöhle und den darauf folgenden Tod bespricht, lässt sich
als Echinococcus (der Leber) deuten.
Die Kenntnis der Finnen beim Schwein {xdlat^ai) wird aus den
„Rittern" des Aristophanes (Vers 381) erschlossen, wo eine Unter-
suchungsmethode für die Zunge angegeben wird. (Ueber diese Stelle
genauer Küchenmeister, Quellenstudien 1. c. — II Bd. des Archivs
— p. 312.) Auch bei Hippokrates in 'E7iiörif.uG)v IV (Kühn III
p. 515, Fuchs II p. 196) könnte man mit Küchenmeister an Finnen
denken (xaÄaCa»<5i^g 7cvy.v6q auf der Zunge).
Agatharchides, ein unter Ptolemaeus Philometor im 2. Jahr-
hundert V. Chr. lebender Philosoph und Geograph, erwähnt deutlich
genug den Dracunculus Persarum s. Filaria Mediuensis, den Guinea-
wurm, das dgayiövriov, als am roten Meer vorkommend und das „Fleisch
der Waden und Arme verzehrend". Plutarch in den „Symposiaca"
Lib. VIII Kap. 9 hat uns die Sache in ausführlicher Darstellung über-
liefert. Eine neuerdings von Iw. Bloch ausgegrabene, interessante
Stelle in Rhuphos' von Ephesus (1. Jahrhundert p. Chr.) iargiyccc
iQcoTr]f.iaTa (Edit. Daremberg-Ruelle, Paris 1879 p. 216) behandelt eben-
falls die Krankheit bcpig oder vsvqov, die in Arabien bei Einheimischen
und Fremden vorkomme — vergl. auch die Bemerkungen hierzu von
J. Chr. H u b e r (Centralblatt für Bakteriologie u. Parasitenkunde ... I.
Abteilung XXVII Bd. 1900 Nr. 6) und dieses Handbuch, Bd. I p. 370
u. 553. — Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, dass in der
Bibel, 4. Buch Mosis Kap. 21 V. 6, „feurige" Schlangen vorkommen,
Die klinisch wichtigen Parasiten. 655
welche erstmals Fortun atus Licetus (1577 — 1657), später Tho-
mas Bartholin und dann namentlich, mit Aufwand von ^iel Ge-
lehrsamkeit, Küchenmeister (Parasiten p. 419) als Dracunculi auf-
fassen wollten. Es erscheint mir einig-ermassen erzwungen, die Affek-
tion, an der „viel Volks" starb, als Guineawurm zu deuten, obwohl
auch Küchenmeister (p. 421) dies aus Unkenntnis des Leidens
und irrationeller Behandlung ..leicht" erklären will. Die „Saraph" —
in der Parallelbibel ist ..brennend, brandmachend'' erklärt — müssen
doch eine ernstere Affektion darstellen. Will man nicht unmittelbar
an Giftschlangen denken, so könnte irgend eine gefährliche Hautaffek-
tion gemeint sein, ein bösartiges, weiter kriechendes Erj^sipel etwa.
Ich werde hierbei an die ausdrücklich als fast zu Tode führend ge-
schilderte, von Brächet als Scharlach gedeutete, Krankheit „Ar-
naldia" erinnert, an der auf dem 3. Kreuzzug nach des Magisters
"Roger de Hoveden's Chronika (Edit. Stubbs, Vol. III. London 1870,
p. 113) Eichard Löwenherz und Philipp II. August von Frankreich
litten und die manche als eine simple „Alopecie" auffassten, weil den
Kranken die Haare ausgingen.
Des Aristoteles Schüler Theophrastos von Eresus (4. Jahr-
hundert) im 9. Buch Kap. 20 seiner Schrift ..nsgl xfig twv cfvrcbv laiogiag^
(Edit. Schneider, t I. Lipsiae 1818, p. 327) macht interessante, auch
von Plinius (XXVII § 145) mit Auslassung der Armenier und Me-
tatiden wiederholte Bemerkungen über die Verbreitung des Band-
wurms. Aegypter. Araber, Armenier, Metadiden (Masatiden) [??].*)
Syrer, Cilicier haben ihn, Thracier und Phrygier seien immun. Unter
den Griechen haben ihn die Thebaner. soweit sie Gymnasien besuchen
(Athleten), und überhaupt die Böotier. Die Athener kennen ihn nicht.
Plinius gebraucht an verschiedenen Stellen, auch den citierten, die
Bezeichnung „Taenia", vde vor ihm schon M. Porcius Cato (De agri-
cultura cap. 126). Bei den Griechen findet sich der Ausdruck raivia
(Galen u. a.).
Dioskurides (1. Jahrhundert n. Chr.) ist uns wertvoll durch
die Aufzählung einer ganzen Eeihe von Wurmmitteln, welche Hub er
(1. c. 46. Bd. p. 189) in alphabetischer Ordnung zusammenstellt. Er-
wähnt mögen sein Filix (Ttzegig) in Verbindung mit einer Knoblauch-
vorkur und die auch bei anderen Autoren (Plinius, Galenos, Alexander
von Tralles) viel citierte Wurzelrinde des Maulbeerbaums (tisqI vArjg
iaxQi/.f^g, Buchl Kap. 180; Edit. 0. Sprengel I p. 158). In III 25
erwähnt Dioskurides ein Absynthium Santonicum. in Kap. 24 ein
wurmwidriges AbsjTithium marinum s. Seriphon. Vielleicht ist an
eine, wenn auch nicht das echte ..Semen Cinae" (der Artemisia maritima)
liefernde Artemisiaart zu denken, so dass also die Alten drei der wich-
tigsten Wurmmittel wohl gekannt hätten, per spätere Bernard de
Palissy (1500—1590) empfiehlt die „absynthe appelee Xaintonique"
als Dekokt oder als Schmalzgebäck verabreicht.
Cornelius Celsus (De medicina IV cap. 17) beschreibt eine
regelrechte, auf mehrere Tage ausgedehnte, Bandwurmkur. in welcher
ein Dekokt der feinen Würzelchen des Granatbaums wohl das wich-
tigste sein dürfte. Es fehlt nicht die Vorkur mit Allium. Auch die
leichteren Mittel gegen Lumbrici der Kinder sind angegeben.
*) Plinius erwähnt Lib. V § 9 ein Volk Masati in Manretanien.
656 Hermann Vier ordt.
Ob die bei Aretaios von Kappadocien (1. Jahrhundert n. Chr.) er-
wähnte — Editio Kühn p. 131 — bei gewissen Formen von Ascites vor-
kommenden, multiplen, kleinen, mit Flüssigkeit gefüllten Blasen, die sich
vor die Punktionsöffnung des Bauchs legen und den Abfluss der Flüssigkeit
verhindern können, als Echinococcus oder Ovarialcyste aufzufassen sind, mag
im Zweifel gelassen werden.
Quintus Serenus Samonicus (2. Jahrhundert n. Chr.)
spricht in seinem medizinischen Lehrgedicht vom Eindringen der
„Lumbrici" in die Luftwege und dadurch bewirkter Erstickung.
Bei Galen finden sich, namentlich auch in den Kommentaren zu
den hippokratischen Schriften, vielerlei, bei Bronn-Pagenstecher
(p. 16) fast 3 Seiten füllende Angaben, allerdings nichts eigentlich
Originelles.
Caelius Aurelianus und Oreibasios (beide 4. Säkulum)
handeln ausführlich über Würmer, zumal der letztere, der sich auch
über die Finnen äussert. Eine grosse Zahl von Wurmmitteln wird
aufgeführt, welche bei Marcellus Empiricus (2. Hälfte des 4. Jahr-
hunderts) in eine richtige, ziemlich rationelle Bandwurmkur mit Vor-
kur gefasst sind — De medicamentis liber, Edit. Helmreich 1889,
cap. XXYIII p. 292.
Die folgenden Jahrhunderte, eigentlich bis auf Johann Ac-
tuarius (1300 n.Chr.) bringen nichts nennenswert Neues. So findet
man auch bei dem schon dem 6. Jahrhundert angehörigen Paulos
von Aegina nichts von Belang; er huldigt ebenfalls der dem Altertum
sehr geläufigen Lehre, dass der breite Wurm in ein lebendes Wesen
umgewandelte Darmwand sei. Dem gegenüber ist die andere, bei
den (von Davaine, 1. c. p. 41 ausführlicher behandelten) Arabern,
z. B. Avicenna, sich findende Anschauung, die Eingeweidewürmer ent-
ständen aus Kot, fast die annehmbarere. Der Dracunculus tritt bei
den Arabern, Abulcasim u. a., wieder mehr hervor, oft mit der
merkwürdigen Bezeichnung „Vena Medinensis", die z. B. noch der
Augsburger Arzt Georg Hieronym. Welsch in seiner Monographie
vom Jahr 1676 gebraucht. Petrus von Abano (Mitte des 13. Jahr-
hunderts) lässt die Tänien durch aneinander gereihte Kürbiswürmer
entstehen, was im Grunde genommen auch noch Blumenbach Jahr-
hunderte später, 1774, vertrat.
Der in zoologischen Kenntnissen besonders hervorragende Alber-
tus Magnus (1193 — 1280) — de animalibus libri XXVI — spricht
auch von Eingeweidewürmern, aber mehr der Tiere, als der Menschen.
Aus einigen keineswegs originalen und fortgesetzt auf alte Autoren
sich beziehenden, mittelniederdeutschen Arzneibüchern („Utrechter",
„Gothaer" etc.) hat v. Oefele (s. Litt. p. 644) das auf Parasiten, äussere
und innere, Bezügliche mitgeteilt; eine besonders merkwürdige Stelle
ist die über den in der Narkose operativ zu behandelnden „Gehirn-
wurm" (1. c. p. 87). Im übrigen ist gerade aus dem Mittelalter wenig
Brauchbares zu verzeichnen : Insekten und Würmer werden so wie so
zusammengeworfen. Nur wäre die interessante Thatsache zu regi-
strieren, dass die Krätze von einzelnen auf Hautparasiten zurückgeführt
wird. Wenigstens geschieht in dem der h. Hildegardis (1098 bis
1180), Aebtissin des Nonnenklosters auf dem Rupertusberg bei Bingen,
zugeschriebenen Buch „de physica" in Lib. I cap. 76 de Myntza
majori und 110 de Bilsa, der äusserlichen Behandlung der „suern,
Die klinisch wichtigen Parasiten. 657
suren" Erwähnung und im gleichen Jahrhundert finden wir Aven-
zoar (s. bei Fürstenberg p. 20".) als Besclireiber der (Kratz ?)Milbe
und eines ziemlich rationellen Heilverfahrens (neben Laxantien äusser-
lich Bittermandel- und Ricinusöl) gegen dieselbe. Freilich kann man
bei Hildegardis nicht minder wie bei A v e n z o a r gerechte Zweifel
wegen der vielfach gemutmassten Krätze nicht unterdrücken (vgl. auch
Huber. Bibliogr. d. klin. Entomol. Heft 4 p. 2). Ulisse Aldro-
vandi (1522—1605). Prof. der Xaturgeschichte in Bologna, behandelt
die Eingeweidewürmer des Menschen genau — De animalibus in-
sectis libri septem.
Die erste Nachricht über Bothriocephalus latus will Leuckart
(I p. 517) in einer Notiz des Thaddeus Dunus in Locarno sehen —
Epistolae medicinales . . . Tiguri 1592. Es handelte sich um einen
mehr als 20 Ellen laugen Band\\Tirm. Auch den Cysticercus tenui-
collis, dessen Vorkommen beim Menschen noch keineswegs sicher ge-
stellt ist. vermutet Leuckart (I.e. p. 71 6) bei Felix P 1 a t e r (Opus
praxeos medicae. t. II, de animalibus excretionibus). Jedenfalls hat
Plater die Taenia intestinorum und den Vermis cucurbitinus (Bothrio-
cephalus) scharf unterschieden.
Joh. Schenck von Grafenberg (1. p. 633 c.) erwähnt aus anderen
Autoren manches über menscliliche Parasiten. Syrones, Dracunculi,
Lumbrici und Bandwürmer, Echinococcus (Lib. III Obs. 7) des Mesen-
teriums, von ihm als -Strumae" bezeichnet. Als vorzügliches ^Vurm-
mittel wird Corallina, muscus maris, in Pulverform empfohlen, ein
Präparat, das noch in van Swieten's ..Commentaria" unter den haupt-
sächlichsten Mitteln erwähnt ist, den Mitteln „erster Klasse" (IV
§ 1371; Edit. Lugdunensis IV p. 725), den „Anthelminthica aspera
et scabra".
Ein Eustrongylus gigas fand sich in der Niere des 1595 in
Brüssel gestorbenen Erzherzogs Ernst von Oesterreich, me uns D. M.
Jansen berichtet (Mercurii Gallobelgici . . . tomus tertius, Coloniae
Agrippinae 1596 p. 163). Allerlei Kasuistik bringen die Schriften
von Fabry von Hilden, Nicolaus Tulpius, Thomas Bartholin.
Als Beschreiber namentlich auch der Parasiten von Tieren ragt
Redi hervor; am Bandwurm sah er 4 Punkte (Sauggruben), auch
mit Wurmitteln experimentierte er.
Wenn wir die sonst hier angezogenen Fälle von R u m 1 e r (1588)
— vgl. Küchenmeister, Quellenstudien ... — und von W h a r t o n
(1679) — s. b. Leuckart I, 1 p. 705 — welche Huber (s. Litt. —
„PseudoCysticerkose'') mit guten Gründen zurückweist, ausser acht
lassen, so hat Finnen im Menschen zuerst der Römer Domenico
Panaroli 1650 (s. b. Küchenmeister) im Corpus callosum eines epilep-
tischen Priesters beobachtet, während die genauere Beschreibung
und der bis dahin bloss für Gesichtsblattern übliche Name „Finna",
von Paul Chr. Friedr. Werner herrührt, welcher auch die Ein-
stülpung des Kopfes in die Blase zuerst gesehen hat — Vermium
intestinalium praesertim Taeniae humanae brevis expositio. Lipsiae
1782. — Von ,.finnichtem Speck" redet übrigens schon die ,.Politische
Golica ..." (Leipzig 1680) — vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch,
3. Band, p. 1666. Allerdings hat in älteren Schriften ..finnig" viel-
fach die Bedeutung von ranzig. Ein genauer anatomischer Beschreiber
der Eingeweidewürmer tritt in Edward Tyson (1658 — 1708) auf,
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 42
658 Hermann Vierordt.
Seine Beobachtungen sind, zugleich mit grossen leidlichen Abbildungen,
hauptsächlich niedergelegt in den „Philosophical Transactions" (13,
1683, Nr. 146, p. 113. Lumbricus latus or a discovery . . . of the
jointed worm . . .). Er schildert Kopf und Hakenkranz, den ver-
dünnten Halsteil beim Hundebandwurm, hält freilich die Geschlechts-
öffnungen für Mundöffnungen. Tyson sah Cysten in der Blase eines
Mannes, operierte, allerdings ohne ihn für einen solchen zu halten,
Echinococcus der Leber (500 Blasen!) bei einer Frau mit gutem Er-
folg. Den Abbildungen nach scheint er auch Bothriocephalus latus
vor sich gehabt zu haben. Auch er beobachtete das Vorkommen
mehrerer Bandwürmer in einem Individuum, wie früher Petrus
Forestus, Bieter van Foreest, Observationum et curationum medi-
cinalium libri XXXII, Lugduni Batav. 1593—1606, Lib. 21 Obs. 26,
12 auf einmal entleert werden sah, während z. B. Spigelius, vor
ihm Johann Actuarius und auch Hippokrates (s. o. p. 653)
nur einen zugelassen hatten.
Von Leeuwe nhoek's vielseitigen mikroskopischen Entdeckungen
sei erwähnt, dass er die Comedones nicht als Würmer gelten liess
(Anatomia seu interiora rerum ope microscopiorum detecta. Lugd.
Batav. 1687, p. 36).
Das Verdienst, die tierische Natur des Cysticercus (tenuicollis) er-
kannt zu haben, gebührt Philipp Jakob Hartmann in Königsberg
(Mise. cur. sive Ephemeridum med.-physicarum germanicarum Academiae
naturae curiosorum Decuriae II annus quartus, anni 1685, Norimbergae
1705, Obs. 73, p. 152. Er beschreibt die Bewegung der gegliederten
„Appendix" der Blasenwürmer, also des Scolex (aus dem Omentum
einer Ziege) in warmem Wasser, ihre gemeinschaftliche und besondere
Membran, gibt auch eine übrigens mangelhafte Abbildung. Nicolas
Andry's, des von Vallisnieri so genannten „Homo vermiculosus",
Traite ist, wenn auch mit mancher abstrakten Theorie durchsetzt, für
seine Zeit ein wichtiges Buch. Andry nimmt 2 Bandwurmarten an,
Taenia ordinaire ohne Kopf (Bothriocephalus) und die nach ihm stets
allein vorkommende, allerdings ohne Hakenkranz, mit schwarzem,
birnförmigem Kopf und 4 „Augen" daran beschriebene Taenia „solium",
also wohl Taenia mediocanellata. Die schon bei Arnald von Villa-
nova (1235 — 1312) — Breviarium Lib. II cap. 21 — sich findende
Bezeichnung „solium" gebraucht auch Andry und leitet es von sohis
ab — Ver solitaire. So wenig befriedigend diese Ableitung ist, so
wenig ansprechend ist auf der anderen Seite die von K r e h 1 gegebene,
mindestens sehr abliegende, Erklärung aus einem durch die Arabisten
möglicherweise aufgekommenen syrischen schuschl = Kette (siehe
Leuckart I, 1 p. 519). Mit dem gleichen Recht könnte allenfalls an
das Sanskritwort „sul" (süla = spitzer Pfahl, stechender Schmerz)
gedacht werden, das (vgl. Wise, 1. p. 652 c. p. 341 u. 348) Kolik
bedeutet und auch unter den Wurmsymptomen aufgeführt wird.
Uebrigens lässt Littre, im Artikel „Seuil" seines grossen Diction-
naire, solium im Spätlateinischen die Bedeutung „Sohle" haben, gerade
so wie im früheren Latein solea die Sandale und einen platten Fisch,
die Scholle, ausdrückt. Scheuthauer (Virchows Archiv 85. Bd.
p. 354) nimmt solium in der Bedeutung von Schwelle, längliches Recht-
eck. Gleicher Sinn und ein besseres Latein würde durch die Lesart
„Solum" statt solium gegeben sein.
Den Trichocephalus dispar Rudolphi beschrieb zuerst J. B. M o r -
Die klinisch wichtigen Parasiten. 659
gagni (Epistolae auatomicae duodeviginti Patav. 1768. XIV. 42 —
Eudolphi. Entozoorum bist. I. p. 27). später genauer Roederer und
Wagler (Göttingische gelehite Anzeigen 1761. 25. Stück p. 243).
Den von Christ Wilh. (?) Büttner Trieb uris betitelten Wurm
nannte späterbin Goeze richtig Trichocephalus (hominis). Auch
die bekannte Schrift von Roederer und Wagler über ..Morbus
mucosus" (jöttingen 1762 erwähnt die Trichuris und bildet sie ab
iTafel ITIj. Vor der Xeuausgabe der Schrift von H. A. Wrisberg
(1783j findet sich eine ..Praefatio continens simul descriptionem Trichu-
ridum". Der von Zeder beliebte Name ..Mastogides" kam nicht auf.
In seinem Hauptwerk (De sedibus et causis morborum) erwähnt
Morgagni bei seinen Sektionsbefunden öfters Würmer, aber eigent-
lich nur die Lumbrici „teretes", die Spulwürmer. Taenie und Ascar-
ides scheint er weniger beobachtet zu haben. In van Swieten's
Commentarien ist den Würmern ein längerer Exkiu's gewidmet
itomus IV § 13610". bes. aber 1363). Die Annahme, dass die Taenia
= Vermis solitarius nur allein vorkomme, wird zurückgewiesen.
§ 1371 u. 72 behandelt genauer die AVurmkuren (s. o. p. 657).
Den Kopf des Bothriocephalus latus Bremser hat zuerst Ch.
Bonnet in seiner 2. Abhandlung über die Taenia vom Jahr 1777,
seine ei-ste von 1750 berichtigend, beschrieben (s. Leuckart I, 1
p. 523), 1819 hat ihn Bremser von neuem bestätigt, nachdem ihn
Linne noch 1762 geleugnet hatte.
Einen wesentlichen Fortschritt in systematischer Beziehung be-
deutet die 1782 erschienene Monographie des Pastors Joh. Aug. Ephraim
Goeze (gest. 1793 in Quedlinburg). Er nahm, wie übrigens schon
Peter Simon Pallas (1741 — 1811) unter Aufstellung seiner Taenia
hydatigena (s. Bronn-Braun p. 948 Nr, 70), Blasen- und Bandwürmer
zusammen, entdeckte den Kopf der Echinococcusblasen, kannte die
Eier und Embrya einzelner Bandwürmer. Die schon von Werner
(s. 0. p. 657) angenommene tierische Natur der Finnen des Schweine-
fleisches, der von manchen sog. „glandulae", praezisierte er genauer
(1784), wie es übrigens auch 0, Fahr ic ins in Kopenhagen 1783
gethau hatte (s. Bronn-Braun p. 955 Nr. 107 u. 108).
Nach Goeze haben der ihn ergänzende Joh. Georg Heinr.
Zeder, Stadtphysikus in Forchheim in Bayern, der leider Band- und
Blasenwurm wieder auseinanderriss. dann der eifrige Konservator
des Wiener naturhistorischen Museums, der durch seine Monographie
über die Würmer (1819j bekannte Joh. Gottfried Bremser (gest.
1827), endlich der mit Bremser in wissenschaftlichem Verkehr
stehende, das gesamte grosse ]\[aterial verarbeitende hochverdiente
Karl Asmund Rudolphi (1771—1832), in Berlin, der „Vater" der
Helminthenkunde, die Parasitologie in hervorragender Weise ge-
fördert. Doch nahmen auch diese vorgeschrittenen Forscher eine
später (1841) von Eschricht wirksam bekämpfte Generatio aequi-
voca an, während in der früheren Zeit wenigstens ein Uebergang
der Eier von der Mutter auf die Frucht als möglich gegolten hatte,
oder beispielsweise Marcus Elieser Bloch in seiner Abhandlung die
Samen der Eingeweidewürmer, ähnlich wie Goeze, angeboren sein,
diese selbst aber von einem Wirt zum anderen verpflanzt werden Hess.
1835 beschrieb C. Th. v. Siebold das Embryon des Taenieneies als
mit 6 Häkchen bewaönet, das Jahr darauf Spermatozoen einzelner
Taenien (Bronn p. 973—75 Nr. 210, 215, 222).
42*
660 Hermann Vierordt.
Die an sich fruchtbare Lehre des Dänen Steenstrup (1813 bis
1897) vom Generationswechsel und der Ammenerzeugung (1842) hatte
nur allmählich Geltung erlangt und trotz der Erziehung von Band-
würmern aus Blasenwürmern im Darm geeigneter Tiere dui'ch Sie-
bold (s. u.) hielt dieser selbst die Blasen würmer eher für verirrte
und entartete, als etwa unentwickelte Bandwürmer, eine Ansicht, die
Küchenmeister später beseitigte.
Immerhin gewann die Auffassung Boden, dass der Bandwurm
aus verschiedenartigen Teilen bestehe (Steenstrup, van Benedeu), aus
Scolex und den Proglottiden. Schon 1779 hatte übrigens der Frei-
herr W. Fr. V. Gleichen-Eusworm (s. bei Bronn-Braun p. 950)
das Vorderstück des Bandwurms, das sich an der Darm wand fest-
sauge, als die „Wurzel" des Ganzen aufgefasst, von der aus das
Wiederwachsen von Gliedern bemrkt werde.
Eine neue, an Funden und Entdeckungen reiche Periode beginnt
in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wesentlich trug dazu bei das für
praktisch-medizinische Zwecke besonders wichtige helminthologische
Experiment, dessen Ausbildung und wissenschaftliche Verwertung
Friedr. Küchenmeister (1821 — 1890) zu verdanken ist. Hatte
schon früher 1793 P. C. Abildgaard bei Hausenten die Taenie
des Stachelbarsches (s. Bronn p. 316 Nr. 70 und p. 958 Nr. 131) und
Friedr. Christ. Heinr. Creplin in Greifswald (Artikel Distoma in
Ersch u. Gruber's Encyklopädie, I. Sektion, 29. Teil 1837 p. 309) „in-
fusorielle Junge" aus Eiern von Bothriocephalus ditremus gezüchtet,
so gelang es Küchenmeister an verschiedenen Beispielen den
Nachweis zu liefern, dass die Blasen würmer die ungeschlechtlichen
Vorstufen der Bandwürmer sind; es wurde 1851 aus Cysticercus
pisiformis die Taenia serrata in Hund (und Katze) gezüchtet, dann
Cysticercus fasciolaris in Taenia crassicoUis übergeführt, die Zu-
sammengehörigkeit von Cysticercus cellulosae und Taenia solium ver-
mutet. Siebold (Bronn p. 997 Nr. 330) erzog aus Coenurus cere-
bralis eine Taenia (Coenurus) und aus Echinococcus veterinorum
(Rudolphi) eine kleine 3 gliedrige Taenia echinococcus des Hundes
(7. Juli 1852), die übrigens vielleicht schon Eudolphi (Additamenta I
p. 411) gesehen hatte; Naunyn (1862), später Krabbe und Finsen,
konnten aus verfütterten menschlichen Echinococcen die Taenia im
Hunde erzeugen. Die Hundetaenia selbst hatte übrigens schon
Eudolphi (1810) im Darm eines Mopses gesehen, freilich auch mit
Generatio aequivoca (s.o.) erklärt. 1855 züchtete Küchenmeister
in einem Delinquenten verschiedene Taenien, darunter auch Taenia
solium aus dem Cysticercus cellulosae des Schweins (Wiener mediz.
Wochenschrift 1855 Nr. 1), andererseits vermochte Leuckart die
schon Goeze (1. c. Tafel XXI.) bekannte Taenia cucurbitina, grandis
saginata auf einen Cysticercus im Eind zurückzuführen, nachdem sie
Küchenmeister als besondere Art, Taenia mediocanellata, hominis
seu Zittaviensis , abgetrennt hatte (Göschen's Deutsche Klinik 1852
p. 101). Aus den Proglottiden dieser Taenie ist von Leuckart
1861 im Kalb (s. Parasiten I, 1 p. 581 If., auch Bronn p. 1023 Nr.- 488
u. 89), dann aber auch von anderen, z. B. P. I. van B e n e d e n
(1809—1894), der zugehörige Cysticercus gezüchtet worden. Die
Finne in den Lippenmuskeln des lebenden Einds fand zuerst S i e d a m -
grotzky 1869, nachher wurde sie auch in anderen Teilen, Zunge,
I
Die klinisch wichtigen Parasiten. 661
Psoas, Glutaeus nachgewiesen, in europäischen wie aussereuropäischen
Ländern (Indien).
Ton dieser Zeit an ist die prinzipielle Trennung beider Taenien-
arten durchgeführt und das gegenseitige Verhalten derselben zu ein-
ander, besonders auch das in Deutschland, nicht minder aber auch
anderen Ländern, auffälliger werdende Vorwiegen oder fast aus-
schliessliche Vorkommen der Mediocanellata ist eine erst in neuerer
Zeit gewürdigte Thatsache. Die Diagnose auf Cysticercus des Gehirns
am Lebenden ohne gleichzeitigen Nachweis von Cysticerken in ober-
flächlichen Organen (der Haut etc.) hat zuerst W. Griesinger
,1817—1868) gestellt (Archiv der Heilkunde IIL 1862 p. 207).
In der speziellen Lehre von den Echinococcen ist, nachdem
schon Pallas 1767 die tierische Natur derselben vermutet (Bronn
p. 948 Nr. 72), im Laufe des Jahrhunderts seit der Aufstellung von
Laennec's sterilen Acephaloc3"sten (1804; vgl. Bronn p. 965) und
der unberechtigten Eudolphi'schen Trennung in einen, Tochter-
und Enkelblasen führenden, Echinococcus hominis und einen einfachen
Echinococcus veterinorum manche Aenderung und Klärung eingetreten.
Die verschiedenen „Varietäten" Küchenmeister's haben sich nicht
behaupten können, jedoch ist die Abtrennung des (vielleicht einer
besonderen Taenie entsprechenden) Echinococcus multilocularis (Vir-
chow) durchaus geboten. Die vielleicht schon von Friedr. Ruvsch
(1638—1731) 1696 gesehene, früher als Alveolarkolloid oder Gallert-
krebs (trotz gleichzeitigen Befundes von wohlerhaltenen Scoleces!
E. Zeller 1854) bezeichnete Neubildung hat Virchow 1855 als
parasitäre Bildung erkannt, die übrigens Buhl, der die Bezeichnung
Echinococcus alveolaris vorschlug, schon im Mai 1854 als „Echino-
coccusentartung" gedeutet haben wollte (vgl. meine Abhandlung
p. 74 75 und 4 — 6). Mehrmals ausgeführte Fütterungsversuche ver-
schiedener Experimentatoren haben bezüglich der Stellung des mul-
tilokularen Echinococcus kein eindeutiges Eesultat ergeben. Im
übrigen ist gerade die kasuistische Litteratur des ohnehin über die
ganze Erde verbreiteten Echinococcus zu einem grossartigen Umfang
angewachsen.
Von anderen Parasiten hat in diesem Jahrhundert namentlich
auch die Trichina spiralis (Owen) klinische Bedeutung erlangt.
Entdeckt 1835 vom Studenten James Paget zugleich mit dem Bo-
taniker Robert Brown wurde sie von Richard Owen wissenschaft-
lich genauer als Nematode beschrieben. Die kleinen weissen Stippchen
der verkalkten Muskeltrichine hatte 1828 schon H. Peacock. 1832
und später H i 1 1 o n , Prosektor an Guy's Hospital, gesehen. T i e d e -
m a n n ' s Priorität (1822) muss als zweifelhaft gelten (s. Pagenstecher,
Trichinen p. 4). Leidy konstatierte den Parasiten 1847 im Schwein.
Nach den freilich nicht ganz einwandfreien Tierversuchen Herb st 's
(1850) sah Virchow 1859 (Deutsche Klinik p. 430) die ersten reifen
Darmtrichinen. Anfang 1860 erkannte Leuckart die Darm-
trichinen als den innerhalb einer Woche erreichten geschlechtsreifen
Zustand der Muskeltrichine, sah auch die Embrya in den Weibchen.
Etwas später, Januar 1861, konstatierte Fr. Alb. Zenker (1825 bis
1898) in den Muskeln eines im Dresdener Stadtkrankenhause ver-
storbenen Dienstmädchens die frisch eingewanderten, noch nicht ein-
gekapselten Muskeltrichinen, deren Wanderung vom Darm durch den
Körper (Mesenterialdrüsen, Bauchhöhle u. s. w. in die Muskelsubstanz)
662 Hermann Vierorclt.
von ihm und Virchow genauer verfolgt wurde. Vorgreifend sei
bemerkt, dass der Nachweis toter (weiblicher) verfetteter Trichinen
in der Darm wand von H. Alex. Pagenstecher in seiner bekannten
Monographie geführt wurde. Uebrigens hatte die jungen Muskel-
trichinen schon 1835 H. Wood in Bristol gesehen (London medical
gazette 1835 p. 190).
Die Bedeutung des trichinösen Schweinefleisches für die Infektion
des Menschen hat ebenfalls Zenker im Anschluss an seinen Krank-
heitsfall (s. 0.) festgestellt, ebenso die Grundzüge der „'J'richinosis" als
Krankheit und die Auffassung der Einkapselung der Trichinen als
ausgeheilte Krankheit. In der That wurde nach den Zenker' sehen
Entdeckungen die Trichinose in immer gehäufteren Fällen beobachtet,
von welchen die Epidemien von Hettstedt Eeg.-Bez. Merseburg 1863
und die grössere von Hedersleben Eeg.-Bez. Magdeburg vom Jahr 1865
mit 101 Todesfällen bei 337 Erkrankungen eine besondere Berühmt-
heit erlangt haben. Die seitdem zu beobachtende grössere Vorsicht
im Genuss des rohen Schweinefleisches ist wohl auch von Einfluss
auf das Seltener werden der Taenia solium gewesen. — Ein chrono-
logisch geordnetes Verzeichnis der Epidemien giebt Hub er, (Biblio-
graphie p. 322).
Neben der Vertiefung der anatomischen und biologischen Kennt-
nisse schon gekannter Arten sind in diesem Jahrhundert auch manche
neue Parasiten, nicht wenige durch den regeren Verkehr mit über-
seeischen Ländern, aufgefunden und bezüglich ihrer oft schwer ent-
wirrbaren Entwicklung genauer verfolgt worden. Manches ist in
dieser Richtung heute noch nicht völlig aufgeklärt.
Das Ankylostoma duodenale fand Angelo D u b i n i , Arzt
am Spedale maggiore in Mailand, im Schleim des Jejunums einer
Bäuerin (Mai 1838); die vom Parasiten selbst bewirkten Krankheits-
symptome waren unter den verschiedensten Namen etwa seit der
Mitte des 17. Jahrhunderts, aus Brasilien z. B. durch den Holländer
Willem Piso (1611 — 1678), den Begründer der „kolonialen Medizin"
bekannt. Papyrus Ebers ist oben (p. 651) erwähnt. Auch nach D u -
bini wurde der Wurm öfters gesehen, so in Aegypten von Bilharz,
der ihn an Siebold zur genaueren Bestimmung sandte, und von
W. Griesinger (tropische Chlorose); dann 1866 u. 1872 von
O. Wucherer in Bahia (Deutsches Archiv für klin. Medizin X. 1872
p. 379). 1877/78 wurde die Anämie der italienischen Ziegelarbeiter
mit dem Parasiten in Zusammenhang gebracht (Sangalli, Grassi,
Corrado und E. Parona etc.), auch die Diagnose aus den Eiern in
die Praxis eingeführt. Perroncito und Concato klärten seit 1880
die Anämie der italienischen Arbeiter im Gotthard-Tunnel (gebohrt
1872—1880) und ebenso wurde die seit langer Zeit bekannte „Berg-
kachexie" auf ihre wahre Ursache zurückgeführt. Abgesehen von
der gelegentlichen Konstatierung einzelner vom Gotthard stammender
Fälle hat der Parasit auch für Deutschland durch Schaff'ung grösserer
Infektionsherde im unteren Eheingebiet (neuerdings auch in Ober-
schlesien) erhöhte praktische Bedeutung erlangt. Die erste Fest-
stellung geschah 1882 an einem Ziegelbrenner in Kessenich durch
Menche (Bonn), gleich darauf in Köln durch Leichtenstern,
welch letzterem die Naturgeschichte und Klinik des Parasiten ganz
besondere Förderung verdankt.
Bilharzia haematobia Cobbold wurde 1851 in Kairo entdeckt
1
Die klinisch wichtigen Parasiten. 663
von Theodor Bilharz (1825 — 1862). der die Wissenschaft in demselben
Jahre mit der Entdeckung von Taenia nana und Distoma heterophyes
bereichert hat. Der häufigen Harnkonkretionen in Aegypten gedenkt
schon Prospero Alpini (gest. 1617) in seinen „De medicina Aegyp-
tiorum libri quator . . /' Venetiis 1591. Lib. I cap. XIV, wie auch
A. J. Renoult das Auftreten von Hämaturie bei der ägyptischen
Expedition Buonapartes hervorhebt (1798 — 1799). J. Harley
fand 1864 den in der Hauptsache auf Afrika beschränkten Parasiten
am Kap.
Filaria sanguinis hominis Lewis, wenigstens die Embrya.
scheint zuerst Demarquay 1863 in Paris in der durch Punktion
entleerten milchigen Hydroceleflüssigkeit eines Havanesen gesehen zn
haben, 1868 4. August fand sie Wucherer im milchigen Urin eines
Kranken im Hospital zu Bahia und unabhängig davon in demselben
Jahre T. E. Lewis in Calcutta bei einem Chyluriker, weiterhin der
Reihe nach im Blut bei einem Diarrhoiker, in den lymphatischen
Sekreten des Scrotums, der Beine bei Elephantiasis (Arabum). Le-
wis gab auch dem Parasiten den Namen. 21. Dezember 1876 ent-
deckte Bau er oft in Brisbane (Queensland) das reife, lebendige
Junge gebärende, Weibchen in einem Lymphabscess des Arms. Die
Entwicklungsgeschichte des Wurms, sein anfallsweises periodisches
Auftreten, seine etwaigen Beziehungen zum Moskito sind von Patrick
Manson seit 1878 in China in eingehendster Weise studiert worden.
— Die Elephantiasis (Arabum) ist, wie hier bemerkt sein mag. von
den arabischen Aerzten des 9. und 10. Jahrhunderts als Elephanten-
krankheit, daher der jetzige Name, deutlich beschrieben.
Distomum hepaticum Abildgaard, der Leberegel, ist beim
Tier wenigstens schon lange bekannt. Der Schäfer Jehan de Brie
berichtet über ihn, dauve = douve, 1379 an Karl V von Frankreich
in einem ,.Traicte de Testat, science et pratique de Tart de Bergerie".
Dann schreibt der Italiener Gabuccini 1547 über Leberegel
(kürbiskernähnliche Würmer), die er bei Schafen und Ziegen beobachtete.
Beim Menschen sah ihn vielleicht schon Marcello Malpighi (1628 —
1694) — in seinen ..Opera posthuma" ist er als „vermis cucurbitinus"
bezeichnet — . auch der Holländer Govert Bidloo (1649 — 1713; vgl.
Bronn-Braun, p. 309 Nr. 16 — 18), sicher aber P. S. Pallas im ana-
tomischen Theater zu Berlin in einer weiblichen Leiche (De infestis
viventibus intra viventia, Dissert. Lugd. Batav. 1760. 4 •* — Sandifort's
Thesaurus Dissertationum I 1768 p. 247). Die Entwicklungsgeschichte
des für den Menschen übrigens wenig bedeutungsvollen Egels hat
hauptsächlich Leuckart gefördert. — Andere, für die menschliche
Pathologie noch weniger in Betracht kommende Distomen (Distoma
crassum, sinense etc.) können hier füglich übergangen werden.
In manchen Stücken ist die Naturgeschichte des Bothriocepha-
lus latus (s. 0.) in den neueren Zeiten aufgehellt worden. Dahin
gehört die längere Zeit nicht entschiedene Frage nach dem Zwischen-
wirt, als welchen M. Braun Hecht und Quappe (Lota vulgaris),
ferner Parona den Flussbarsch nachgewiesen haben. Aus finnigem
Hechtfleisch züchteten Braun, später Grassi und Parona im
Menschen Bothriocephalus. Wie die im Wasser (J. Knoch in St.
Petersburg) aus den Eiern sich entwickelnden, wimpernden Embrj-a
in den Zwischenwirt gelangen, ist trotz mannigfacher Versuche noch
nicht aufgeklärt. — Auf den nicht von der Hand zu weisenden Zu-
664 Hermann Vierordt.
sammenhaiig von Botliriocephalusinfektion und gewissen Formen von
Anämie scheint Eud. Albrecht in St. Petersburg in den 80er Jahren
zuerst aufmerksam gemacht zu haben (s. Askanazy, Zeitschrift für
klin. Medicin, 27. Bd. 1895, p. 492).
Ueber die medizinische Bedeutung der 1876 von Norm and in
Marseille bei der Cochinchina-Diarrhoe gefundenen Anguillula in-
testinalis (Bavay) ist noch nicht endgültig entschieden.
Von selteneren Parasiten möge noch das Balantidium coli, von
Per Henrik Malmsten (1811 — 1883) in Stockholm, dem Entdecker
des Trichophyton tonsurans (1848), im Eiter einer Fistel am Anus
1856 aufgefunden, erwähnt sein (Virchows Archiv XII 1857, p. 302).
Klinisch ist der Trichocephalus dispar(s. o.) nur in ganz ver-
einzelten Fällen hervorgetreten, M. Burchardt (Deutsche med.
Wochenschrift 1880), Moosbrugger (Württ, med. Corresp. Blatt
1890 u. 1891, Münch. med. W. 1895). Andererseits sind die in früherer
Zeit noch viel höher angeschlagenen Fälle nicht zu leugnen, wo
Konglomerate von Ascaris lumbricoides zu schweren Symptomen,
selbst tödlichem Darmverschluss geführt haben (s. Mosler - Peiper
p. 194 ff.).
Die Naturgeschichte der Aristoteles (Tiergeschichte V 32, § 138)
übrigens wohl kaum bekannt gewesenen Krätzmilbe ist im 19. Jahr-
hundert wesentlich ausgebaut worden. Ob die Kenntniss der Milbe
selbst schon früheren Jahrhunderten, wenn auch nicht als Gemein-
gut der Aerzte, angehörte (s. o. p. 656) dürfte fraglich sein; immer-
hin mag erwähnt sein, dass vielleicht Guy de Chauliac (14. Jahr-
hundert) im 6. Traktat seiner „Chirurgia magna", ferner Ingrassias,
Rondelet (16. Jahrhundert) die Milbe kennen und der Engländer
Moufet, gest. c. 1600, sie ausdrücklich von Läusen unterscheidet.
Die erste Abbildung gab Aug. Hauptmann (1657); G. C. Bonomo
und Cestoni legten die Beziehung der nicht mehr abzuleugnenden
Milbe zu der Krätze dar, die trotz der trefflichen Monographie Joh.
Ernst Wichmann's (1786) nur allmählich im 19. Jahrhundert sich
Bahn brach, als die Demonstration der Milbe (ßenucci 1834, Raspail)
wieder mehr in Aufnahme kam. Uebrigens gab schon vor Wich-
mann der schwedische Freiherr Carl de Geer eine treffliche Ab-
bildung (mit Haftscheiben der Vorderbeine) und gute wissenschaft-
liche Beschreibung der Milbe. Einen nach allen Eichtungen hin
schon sehr vorgeschrittenen Standpunkt vertritt die Dissertation von
E. M. H e y 1 a n d , die auch im Kap. I eine gedrängte Geschichte giebt
(s. Virchows Archiv 55 Bd., p. 330). 1846 beschrieb C. Eichst e dt
(Froriep's Neue Notizen, 38. Bd., p. 106; 39 Bd., p. 265) die Eier in
den Milbengängen und den Häutungsprozess des Tierchens. Die
Pathologie der Krätze hat vor allem Ferd. Hebra (1844 und später)
bereichert, auch Bourguignon, B. Gudden, M. H. F. Fürsten-
berg mögen genannt sein. J. He nie hat mit weit ausschauendem
Blick die Pathologie der Krätzmilbe zur Grundlage seiner (in den
neueren Zeiten im wesentlichen bestätigten) Lehre von den echten
kontagiösen, auf Parasiten beruhenden Krankheiten gemacht.
Nicht unerwähnt mag bleiben, dass der erst im 19. Jahrhundert
(v. Pastau 1864) wieder zu Ehren gebrachte Storax schon vonEbn
El-Bei tar (13. Jahrhundert) — vgl. Uebersetzung von J. Sontheimer,
2. Bd., Stuttgart 1842 p. 541 — als äusserlich anzuwendendes Krätz-
mittel aufgeführt wird (s. Küchenmeistei', Parasiten p. 529).
Die klinisch wichtigen Parasiten. 665
Auf das Balsamum Peruvianum als Krätzmittel hat zuerst nicht
Gieffert in Hagen 1862 aufmerksam gemacht, sondern schon 1853
Bosch in Braunsbach (Die Krätze, ein einfaches Mittel solche zu
heilen, Ulm 1853; Württemb. medic. Corresp. Blatt, 1853 p. 154).
Die Erwähnung der Läuse ist damit begründet, dass sie in
alter und auch noch späterer Zeit mit einer besonderen Krankheit,
der Läusesucht, Phthiriasis, in Verbindung gebracht wurden. Eine
Läusesucht im eigentlichen Sinn existiert freilich nicht; was bei
manchen vorwiegend nicht-medizinischen Schriftstellern, wie Flavius
Josephus, Eusebius, Lactantius u. a. über allerlei Bösewichter berichtet
wird, mögen Fliegenmaden in unrein gehaltenen Geschwüi'en gewesen
sein. Xicht viel besser steht es mit der „Läusekrankheit" späterer,
auch medizinischer Autoren. Bei Küchenmeister (Parasiten p. 550)
ist darüber zu lesen, und von Hub er (klin. Entomologie Heft 1
p. 22—24) ist die einschlägige Litteratur aus allen Zeitaltern zusammen-
gestellt, ebenso im Index Catalogue, Artikel ,.Pediculi" Vol. X 1889
p. 597.
Der Blutegel sei gedacht, weil sie eine medizinische Bedeutung,
freilich zunächst in therapeutischer Hinsicht, besitzen. Gelegentlich
kommen Egel als Parasiten in Betracht (Haemopis vorax); schon bei
Hippokrates (Praedicta II, Edit. Kühn I p. 211, Uebersetzung
Fuchs I, p. 511) ist davon die Rede. Aber auch bezüglich der Ge-
fährlichkeit der zu medizinalen Zwecken verwandten Egel (Stecken-
bleiben des Kopfes, Verschlucktwerden) waren im Altertum merk-
würdige Vorstellungen verbreitet. Als erste Quelle, welche den Blut-
egel zur örtlichen Blutentziehung verwendet werden lässt, gilt das
„Theriaca" betitelte Gedicht des Nikander von Kolophon (2^ — 130
V. Chr.), der eigentliche Ausbauer der Egelbehandlung scheint The-
mison von Laodicea (1. Jahrhundert v. Chr.) gewesen zu sein. Be-
sonderes Interesse erheischt die Stelle bei Oreibasios (VII, 21, nach
Antyllus), welcher die Technik des Blutegelsetzens genau schildert
(Oeuvres d'Oribase, par Bussemaker et Daremberg, t. II Paris 1854
p. 69; Anmerkungen p. 781 u. 790).
Verdaimiigsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechts-
krankheiten.
Von
Oeorg Korn (Berlin).
Litteratur.
Ausser den medizinisch-historischen Werken von Sprengel, Maeser, Hirsch,
Wunderlich, Puschniann, Pagel: Petersen, Geschichte der medicinischen
Tlierapie, Kopenhagen 1877, und: Hauptmomente in der älteren Geschichte der
medicinischen Klinik, Kopenhagen 1890. — Ewald u. Posner, Die deutsche
Medicin im 19. Jahrhundert, Berlin 1901. — W. Leiibe, Die Magensonde. Ihre
Geschichte, ihre Entwicklung u. s. n\. Erlangen 1879. — Grohe, Pathologie u.
Therapie der Typhlitiden. Eine historische Studie, Greifswald 1896. — F. Falk,
Die Pathologie und Therapie der Systematiker, Zeitschr. für klin. Medicin XVII—
XX. — JF. Zienissen, Wissenschaft u. Praxis in den letzten 50 Jahren, Leipzig
1890. — Naunyn, Die Entwicklung der neueren Medicin u. s. w. im 19. Jahr-
hundert, Jena 1900. — Eulenburg u. Samttel, Lehrbuch der allgemeinen Therapie,
Wien 1898—99. — Penzoldt u. Stintzing, Handbuch der Therapie innerer
Krankheiten, 2. Aufl. 1897 — 98. — E. v. Leyden, Handbuch der Ernährungs-
Therapie, Leipzig 1897199. — Goldscheider u. Jacob, Handbuch der physikalischen
Therapie, Leipzig 190112. — Die Sammelwerke „Deutsche Chirurgie'^ , Eulen-
burgs Real-Encyclopädie, Kothnagel's Sammelwerk u. s. tv.
Nachdem das medizinische Mittelalter durch die Erschütterung-
von Galens Doktrin nach anderthalbtausendjähriger Herrschaft in-
folge des Auftretens von Vesal, Pare, Paracelsus sein Ende
gefunden hatte, wurde es doch erst langsam hell auf dem Gebiete
der inneren Medizin. Immer wieder wucherten neue Systeme mit
neuen Irrtümern hervor, die sich an Stelle der alten setzten, und die
Anfänge unbefangener, kritischer Beobachtung und naturwissenschaft-
licher Forschung nicht weiter aufkommen Hessen. Verfrühte und un-
reife Versuche, die Chemie oder die Physik zur Grundlage der Me-
dizin zu machen, wie sie die latromechaniker und lator-
chemiker unternahmen, mussten an der Unzulänglichkeit des vor-
handenen gesicherten Wissensmaterials jämmerlich scheitern.
Lange Zeit blieb die Pariser Fakultät der Hauptsitz des
medizinischen Rückschritts oder Beharrungsvermögens. Galens Lehre
Terdanungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 667
war das Palladium, gegen dessen Nichtachtung sie bei ihren Mit-
gliedern streng einschritt. Im 17. Jahrhundert entspann sich ein
heftiger Kampf in Paris um die Einführung der metallischen Heil-
mittel, insbesondere des Antimons. Die Dekane der Fakultät Ei ol an
und Gut Patin (f 1672) leisteten dieser Neuerung gi*ossen Wider-
stand. Aber die Masse der Aerzte war für sie. Auf Parlaments-
befehl traten 1653 sämtliche Aerzte von Paris zusammen uud er-
klärten sich mit grosser Majorität für die Einführung des Antimons,
von dem Guy Patin behauptete, dass es mehr Menschen getötet
habe, als der dreissigjährige Krieg. Diese Niederlage der Fakultät
war ihr Todestoss. Sie versank danach und mit ihr die ganze innere
Heilkunde in Frankreich in eine ununterbrochene Unbedeutendheit,
aus der sie sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu neuem
Glänze erhob.
Guy Patins ganze Therapie bestand in saigner et senner. in
Aderlass und Sennesblätteni. Aber diese beiden Kurmethoden wandte
er im reichlichsten Masse an. selbst bei Säuglingen, und seine Methode
beherrschte die rechtgläubige französische Therapie noch bis weit
ins folgende Jahrhundert hinein. Trotz der grossen Hospitäler war
ein eigentlich klinischer Unterricht in Paris bis in die letzten Jahr-
zehnte des 18. Jahrhunderts hinein vollständig unbekannt. Der blutige
Hohn, der aus Molieres Komödien die Aerzte seiner Zeit trifft,
war wohlverdient; namentlich ist die beissende Persiflage in seiner
letzten Komödie ..Le malade imaginaire" charakteristisch. So sagt
der alte Doktor Diafoirus zu Gunsten seines Sohnes: ..Mais, sur toute
chose. ce qui me plait en lui, et en quoi il suit mon exemple. c'est
qu'il s'attache aveuglement aux opinions de nos anciens. et que jamais
il n'a voulu comprendre ni ecouter les raisons et les experiences des
pretendues decouvertes de notre siecle touchant la circulation du sang
et autres opinions de meme farine." Noch deutlicher ist das Zwischen-
spiel, das eine Doktorpromotion darstellt, wobei der Baccalaureus die
schlafbringende Wirkung des Opiums aus einer .."sirtus dormitiva"
erklärt und auf alle Fragen der Doktoren nach den Mitteln, die bei
den verschiedensten Krankheiten angewendet werden müssen, stets
nur antwortet: ..Clysterium donare, Postea seignare. Ensuita purgare.
Reseignare, repurgare et reclysterisare", worauf dann der Chor ap-
plaudiert: ..Bene, bene, bene respondisti, Dignus es intrare In nostro
docto corpore."
In der That bestand die Ausbildung der Pariser Galenisten nur
in Thesen und ewigen Disputationen, in theoretischen Koramentaren
der Galenischen Schriften, wirkliche Ej-ankenbeobachtungen wurden
gar nicht berücksichtigt. Nicht viel andere stand es in Deutschland
und anderen Ländern. Allerdings wandte auch die spätere Klinik
noch Klystier und Aderlass an (beides sind ja hippokratische Haupt-
mittel), aber der grosse Unterschied zwischen beiden ist, dass es hier
auf Grund sorgfältiger Krankenbeobachtung und Indi^^dualisie^ung
geschieht, in der Galenischen Pariser Schule dagegen nur ganz
schematisch.
Immerhin waren einzelne französische Aerzte schon im 16. Jahr-
hundert ihren Zeitgenossen voraus an Vorurteilslosigkeit, geistiger
Ueberlegenheit und positiven Kenntnissen. In ereter Reihe war
Jean Fernel (f 1558), Professor in Paris um die Mitte des 16. Jahr-
hunderts, schon damals ein energischer Vorkämpfer gegen den Gale-
Georg Korn.
nismiis und das ganze scholastische Treiben. Er verlangte, dass man
sich nicht auf Autoritäten, sondern nur auf die Natur und die Be-
obachtung berufen dürfe. Er legte vorzugsweise auf die Verände-
rungen der festen Teile, Gewebe und Organe, im Gegensatz zu den
Säften Gewicht. Einer der berühmtesten Aerzte seiner Zeit, wirkte
er noch nach seinem Tode durch seine Schriften, namentlich die
.,üniversa medicina", auf die ersten klinischen Anfänge im 17. Jahr-
hundert (Holland von 1638 an durch van Heurne). Er stützt sich
zum Teil noch auf den arabischen Galenismus in der Praxis, arbeitet
aber doch dahin, die Medizin von ihm loszureissen, so z. B, in der
Uroskopie, einem Hauptpunkte der alten Doktrin. Er erkennt wohl
zum Teil die ganz feine subtile Diagnostik an, und seine grosse
Vormittags-Konsultation bestand zum grossen Teil in der Inspektion
von zugesandtem Urin und darauf basiertem Gutachten über den be-
treffenden Patienten. Aber daneben tritt er mit scharfer Kritik auf
gegen die „uroscopi, qui multa de absente aegroto ex sola urinae
inspectione augurentur*'. In der Therapie folgt er vorwiegend den
Arabern und die zahlreichen komplizierten Syrupe dieser Schule
spielen eine besonders hervorragende Rolle in seinen Verordnungen.
Aber Erscheinungen wie Fernel blieben ziemlich vereinzelt in
Frankreich, wo dann später Montpellier die Hochburg des Hippo-
kratismus und Vitalismus wurde. Positiver verfuhren die Holländer
und Engländer; in Utrecht und Leyden wurde seit 1636 ein
klinischer Unterricht begründet, der methodisch abgehalten und ent-
wickelt durch hippokratische Anschauungen allmählich den galenisch-
arabischen Doktrinarismus verdrängte und durch Kyper und Syl-
vius Aufschwung bekam. Weit wirksamer aber noch wurde die
Medizin beeinflusst durch die dicht aufeinanderfolgenden Erschei-
nungen hervorragender Praktiker und Systematiker: das Auftreten
von Thomas Sydenham in England und die Lehren und die praktisch-
therapeutische Wirksamkeit der beiden Hallenser Antipoden Stahl
und Friedrich Hoff mann und des Holländers Boerhaave.
Der hervorragendste unter den Aerzten, welche den hippokratischen
Standpunkt festhielten, war im 17. Jahrhundert der grosse Praktiker
Thomas Sydenham (1624 — 1689), Englands Hippokrates, wie man
ihn nicht ganz mit Unrecht nannte. Aehnlich wie der jüngere Stahl
definierte er die Krankheit als „das Bestreben den Natur den Kranken
zu erhalten". Dieses Bestreben offenbart sich nun vorzugsweise in
einem reinigenden Fieber, in dessen Symptomen stets — sogar bei
Kaltfieber — der Kampf der Natur zu Tage tritt, oder auch in Darm-
ausleerungen, im Ausbruch von Schweissen oder Hautausschlägen.
Haben die Anstrengungen der Natur Erfolg, so wird die Krank-
heit akut, im entgegengesetzten Falle chronisch. Als echter nüchterner
Hippokratiker bedient sich Sydenham doch stets der weniger präjudi-
zierenden Bezeichnung „Natur" im Gegensatz zur „Anima" des Stahl-
schen Systems.
Die praktische Seite der Medizin suchte Sydenham nach Kräften
selbständig und erfahrungsgemäss, ohne wesentlichen Zusammenhang
mit der physiatrischen Doktrin zu entwickeln. Namentlich sucht er
die verschiedenen Krankheitsformen bestimmt abzugrenzen, zunächst
um für die Anwendung spezifischer Mittel sichere Anhaltspunkte zu
gewinnen. Er gerät hierbei jedoch in eine rein ontologische Auf-
fassung hinein, die ihn sogar dahin bringt, die Krankheiten nach
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechlskranklieiten . 669
einem botanischen Schema zu klassifizieren. Sein Hauptmittel bildeten
übrigens China und Opium und namentlich für den Gebrauch des
letzteren hat er verschiedene Indikationen von dauerndem praktischen
Werte festgestellt. Treu dem antiken Dogmatismus hielt er jedoch
vor allem den Aderlass als Hauptmittel aufrecht und bediente sich
seiner bei verschiedenen Krankheiten mit so ausserordentlicher Energie,
dass er die späteren französischen Vampyriker beinahe in den Schatten
stellt; er Hess das Blut regelmässig bis zur eintretenden Synkope
fliessen. Konnte er sich duix-h diese Blutkuren so grossen Euf als
Arzt erwerben, so hat man dies nui' dadurch erklären können, dass
man im wohlhabendsten Teile Londons, in Westminster. praktizierte
und es hier wesentlich mit robusten und plethorischen Patienten zu
thun hatte.
Sydenham nimmt die reine und sorgfältige Erfahrung als die
einzige Grundlage der Medizin an; er verwirft die blosse Bücher-
gelehrsamkeit und weist jede Autorität zurück, von wem sie auch
stammen mag. Er lässt nur solche Hypothesen zu, welche aus den
Thatsachen selbst entnommen seien und der Praxis ihren Ursprung
A'erdanken. Als wesentlichste Aufgabe der Medizin bezeichnet er die
praktischen Forderungen: Genaue Krankheitsbeschreibung und Auf-
stellung einer sicheren Therapie.
Freilich erscheint heute Sydenhams Symptomatik dürftig und
oberflächlich, aber die seiner Vorgänger war eben noch viel ärmlicher ;
unter seinen Krankheitsbildern sind namentlich die des Rheumatismus,
des Rotlaufs, der Pleuritis, der Peripneumonia notha. der Bräune,
der Hysterie. Gicht, Wassersucht, des Ileus, der Syphilis, des Veits-
tanzes, der englichen Krankheit und des Skorbuts zu nennen. Eine
seiner Spezialitäten war die Lehre von den epidemischen Konstitutionen ;
das Gesetzmässige und Typische in dem Krankheitsverlauf erkannte
er vollständig. Einen grossen Wert legte er auf die Spontanheilungen
der Krankheiten, die ..vis medicatrix naturae".
Von den drei grossen Systematikern am Anfang des 18. Jahr-
hunderts, Stahl, Hoff mann und Boerhaave hat der erstere
mehr die theoretischen und dogmatischen Anschauungen der Mediziner
beeinflusst. während die beiden letzteren die therapeutischen Eingriffe
für lange Zeit vorbildlich beherrschten.
Georg Ernst Stahl (1660—1734) aus Ansbach, doziert seit
1685 in Jena, bis er 1687 Leibmedikus in Weimar wurde; damals
war er Anhänger der iatromechanischen Richtung. Auf den Antrag
Friedrich Hoff manns wurde er als zweiter Professor der Medizin
1694 an die neubegründete Universität Halle berufen. Eine Zeit
lang waren diese beiden die einzigen Lehrer der Medizin an der
Hochschule. Hoffmann las Anatomie, Physik, Chemie. Chirurgie und
praktische Medizin, Stahl Botanik, Physiologie, Pathologie, Diätetik,
Arzneimittellehre und medizinische Institutionen. 22 Jahre lang
wirkten sie als Kollegen, anfangs freundschaftlich verbunden, später in
gespannten Beziehungen. Schliesslich ging Stahl, der weniger An-
klang fand, aus Halle fort (1716), um in Berlin Leibarzt zu werden,
und starb hier 1734.
G. E. Stahl stützt sich zum Teil auf van Helmont, der die
Tiehre vom Archaeus ausgiebig entmckelte. An die Stelle des
Archaeus setzt er die „anima"', die er zu grosser persönlicher Wirk-
samkeit im Interesse des Organismus gelangen lässt. Diese ,.Seele",
670 Georg Korn.
die er übrigens von der eigentlichen, ewigen und selbstbewnssten
Seele zu trennen sucht, ist zunächst die Macht, welche während der
Lebensprozesse die körperlichen Stoffe namentlich durch eine sehr
sorgfältige Regelung des Kreislaufs, vor der Zersetzung bewahrt.
Allein die „Seele*' ist dennoch schwach und bedarf beständig der
Stütze, und er empfiehlt deshalb periodische Aderlässe. Ein ent-
schiedenes Zeichen des mangelhaften Eegiments der Seele erblickt er
in den Hämorrhoidalleiden, und er ist der Begründer jener
ganzen metastatischen Hämorrhoidaldoktrin, die sich namentlich bei
Laien noch heutzutage grossen Anklangs befreit. Ist aber so die
Seele in ihrem Wirken unvollkommen, so ist dies nur ein Mangel an
Können und nicht an gutem Willen, denn in jeder Krankheit, nicht
nur in den akuten Fiebern, reagiert sie aus allen Kräften, um die
friedliche Krankheit, die verdorbenen Säfte, fortzuschaft'en. Die antike
Humoralpathologie, von der sich die Paracelsische Physiatrie ent-
schieden losgesagt hatte, kommt so bei Stahl wieder zum Vorschein.
Die allgemeine Anlage zu Krankheiten sucht Stahl in der Neigung
des Körpers zu fauliger Zersetzung, die nächste Ursache der Krank-
heiten darin, dass ein Hindernis entgegentritt gegen die Thätigkeiten
der Seele. Üeberfluss des Blutes (Plethora) und Verdickung desselben
sollen die allgemeinsten Verhältnisse sein, die zur Krankheit führen.
Die Bewegungen, welche die Seele zur Entfernung der Ursache mache,
seien aber nicht immer zw^eckmässig, of seien sie unverhältnismässig
stark, oft schwankend und unordentlich, aber oft ^uch zu schwach.
Da Plethora der Hauptfeind der Gesundheit ist, so ist für Stahl
auch nichts zweckmässiger, als wenn durch Blutergüsse die Plethora
gehoben wird. Am deutlichsten sei dies bei der Menstruation, aber
auch beim männlichen Geschlechte finde ein ähnliches Verhältnis statt:
die Hämorrhoiden. Im Kindesalter gehe die Plethora mehr zum Kopf,
beim Jüngling zu der Brust, im männlichen Alter aber zum Unterleib
und dieses sei das günstigste, vorausgesetzt, dass der Hämorrhoidal-
abfluss zu Stande komme. Dieser sei daher den meisten Konstitutionen
heilsam und ihn herbeizuführen und zu erhalten, gilt für Stahl als
die Aufgabe des Arztes. Die Plethora abdominalis sieht er als die
Quelle der meisten chronischen Krankheiten an.
Die Hypochondrie namentlich ist durch diese Plethora bedingt,
und schon die zu geringe Flüssigkeit des Blutes vermag die hypo-
chondrischen Zufälle auf rein materielle Weise hervorzurufen. Soll
der Körper nicht gestört, sondern erhalten werden, so steht das
sicherste und anwendbarste Heilmittel allein der Natur zu Gebote:
durch angemessene Vermehrung der Bewegungen das ungünstige
Verhältnis des zu bewegenden Stoffes nicht nur zu kompensieren,
sondern auch zu verbessern.
Das Fieber ist für Stahl nichts anderes, als eine Bewegung, ein
motorischer, sekretorischer und exkretorischer Akt, von der Seele
gegen die vorhandene Schädlichkeit vorgenommen. Alle Erscheinungen,
die man einmütig für bloss krankhafte gehalten habe, seien nur als
unmittelbare und positive Wirkungen der Natur zu einem heilbringen-
den Zweck zu erklären, deren Bestimmung sich auf die Austreibung
der schädlichen Materie beziehe, welcher sie in einem angemessenen
mechanisch-organischen Verhältnis entsprechen. Schon beim Froste
sehe man diese Tendenz. Die Vermehrung der Ab- und Aussonde-
rungen im Fieber können nur durch eine Beschleunigung des Blut-
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 671
Umlaufs und durch dessen Richtung nach den eigentümlich ent-
sprechenden Organen der Sekretion und Exkretion bewerkstelligt
werden. Das Fieber sei also heilsam, so namentlich auch das Wechsel-
fieber und dürfe darum nicht unterdrückt werden, wie man durch
China in schädlicher Weise versuche. Stahl hält die Seele für so
notwendig beim Fieber, dass er behauptet, letzteres komme bei den
Tieren gar nicht vor. weil ihnen die Seele fehle, die energia aesti-
matoria tam rerum quam actionum. Die Hauptaufgabe der ärztlichen
Ueberlegung ist nach ihm im konkreten Falle, quid in motibus
febrilibus activum insit, quid vero passivum.
Das Zurückdrängen des Blutes von der Körperoberfläche zu den
inneren Organen, das in den gelindesten Graden als Gänsehaut, in
den höheren als Schüttelfrost erscheint, bewirkt auch die Konvulsionen,
da sie gewöhnlich am Ende gefährlicher Krankheiten eintreten, so
seien sie als die letzte Anstrengung anzusehen, ne quid usquam in-
ausum et intentatum relinquatur. Die Stockung des Blutes erkennt
Stahl als blosse verlangsamte Bewegung; er will von ihr die Kon-
gestion unterschieden wissen, weil diese aktiver Art sei und von
einem durch die tonischen Leibesbewegungen verstärkten Antriebe
der Säfte gegen den Teil herrühre. Die Entzündung sieht er als
Folge von Kongestion und Stockung an und unterscheidet Rotlauf,
Phlegmone und Apostema als Formen der Entzündung.
Die wahrhaft methodische Therapie muss ihm Anweisung geben,
auf welche Art der Lebensthätigkeit und ihrer Richtung, dem stets
bereiten Mitwirker der Natur hilfreiche Hand geboten werden kann
und soll. Ueber die Mischung des Körpers und über alle Bedingungen
derselben habe die Kunst fast gar keine Macht und das ganze Ge-
schäft des Arztes müsse vielmehr darauf gerichtet sein, das Leben
selbst in ungestörter Thätigkeit zu erhalten. Die Aufgabe sei, die
natürlichen und günstigen Bestrebungen der Seele, welches die
Symptome sind, zu leiten und zu verstärken, namentlich die Aus-
leerungen gehörig zu unterstützen. Beim Fieber namentlich sind die
Ausleerungen non solum tolerandae sed etiam observandae, guber-
nandae et quoque modo juvandae atque promovendae.
Stahl war ein Feind vieler kräftiger Arzneimittel, der China, des
Opiums, des Eisens und der Reizmittel. Seine Hauptmedikamente
waren Laxantien: Aloe, Rhabarber, Jalappe, die er namentlich in
chronischen Krankheiten gab. In akuten Krankheiten gab er kühlende
Salze und allgemeine wie örtliche Blutentziehungen wurden von ihm
sehr gerühmt; namentlich sah er die Aderlässe als Mittel zur Her-
beiführung von Krisen an. Uebrigens betrieb er auch einen einträg-
lichen Handel mit sogenannten eröffnend balsamischen Pillen, welche
aus Antimon, Aloe und Helleborus bestanden haben sollen. Derartige
Nebenverdienste waren bei den angesehenen Aerzten jener Zeit nichts
Seltenes.
Friedrich Hoff mann (1660 — 1742) wurde durch mechanisch-
dogmatisches System, das in verschiedenen seiner Schriften weitläuftig
auseinandergesetzt ist (u. a. „Idea fundamentalis univei-sae medicinae,
ex sanguinis mechanismo, methodo, facili et demonstrativa in usura
tironum adornata~, Hai. 1707) in seiner praktischen Thätigkeit am
Krankenbett wenig beeinflusst. Gerade als Förderer praktischen
klinischen Wissens erscheint er aber vielfach seinen Zeitgenossen
überlegen. Besondere Aufmerksamkeit wandte er den ansteckenden,
672 Georg- Korn.
den Volkskrankheiten und Seuchen zu, ferner der Herstellung und
Zubereitung der Arzneien, dem Studium der inländischen Mineral-
quellen. Die ärztliche Deontologie und Ethik, das Benehmen am
Krankenbett suchte er durch seine praktischen Ratschläge zu fördern.
Grösste Decenz und Rücksichtnahme empfiehlt er seinen Kollegen ; so
soll die Harninspektion möglichst in der Wohnung des Arztes vor-
genommen werden.
Aufs gründlichste studierte er die Störungen der Harn- und
Samen exkretion sowie die gonorrhoische Aifektion. Sehr eingehend
behandelt er den Skorbut. Nach seinen Anschauungen ist der Magen
und Darm, namentlich der oberste Abschnitt des Darmes, Ausgangs-
punkt vieler Leiden; deshalb erlangt bei ihm die Ernährungsweise
in ätiologischer und therapeutischer Beziehung hohe Bedeutung, wenn
auch die Diät der Kranken von ihm nicht so ausführlich behandelt
wird wie von Boerhaave. Oft ist der westfälische Pumpernickel in
seinen Krankengeschichten aufgeführt; er widmete diesem Nahrungs-
mittel sogar eine besondere Schrift. Unter den ursächlichen Schädlich-
keiten hebt er beeonders die Art der Ingesta hervor und nähert sich
den heutigen Lehren von der Autointoxikation („De saliura morbosorum
generatione in corpore humano"). Von den Arzneien bevorzugt er die
JPtisanen, gern greift er zu Magistralformeln; manche von ihm er-
dachte, als wirksam erprobte Mittel sind in den heutigen Arzneischatz
und in die Volksmedizin übergegangen („Holfmannstropfen").
Auch die Pharmacopoea elegans Hess er sich angelegen sein,
zumal er über eine praxis aurea verfügte. So ist seine Diätetik gern
auf den Geschmack der oberen Zehntausend zugeschnitten ; dem Arznei-
werte verschiedener teurer Weinsorten widmet er eingehende Be-
sprechung und zieht die Klimatotherapie, soweit es die Kenntnisse
und Verkehrsverhältnisse seiner Zeit zulassen, in Anwendung. Er
empfiehlt den Aufenthalt in milden Himmelstrichen für Brustkranke,
an Verdauungskrankheiten Leidende und Rekonvaleszenten dringend
und giebt eine Art Leitfaden für derartige Erholungsreisen. Von
Brunnen und Bädern, denen er seine besondere Aufmerksamkeit zu-
wendet, empfiehlt er namentlich solche in der Nachbarstadt von Halle,
namentlich Lauchstädt, noch bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts
ein beliebtes Modebad und aus der Theatergeschichte unserer klassischen
Litteraturperiode bekannt. Aber auch die Wässer von Eger, Ems,
Spaa und insbesondere von Selters verordnete er häufig. Auch in
Karlsbad liess er viele Kuren gebrauchen, und versuchte seine Unter-
scheidungen in den Indikationen von Sprudel und Mühlbrunnen. Be-
sonders betonte er den Wert dieser Quellen gegen Leberleiden, die
er oft diagnostizierte. Auch sonstigen Bädern, namentlich Dampf-
und warmen Bädern und Waschungen erkennt er einen hohen Wert
zu. Seine Bemühungen, die Zusammensetzung der Mineralwässer zu
erforschen und zu Nachbildungen anzuregen, blieben freilich ziemlich
erfolglos.
Für die reichlichen Blutentziehungen war er nicht eingenommen,
immerhin hatte der Aderlass ein weites Feld, namentlich als Proph}'-
laktikum u. a. gegen Nierenstein und bei akuten Krankheiten der
verschiedensten Organe. Vom Unterlassen regelmässiger Aderlässe
werden Hämoptysen, Blutbrechen und ähnliche Uebel abgeleitet. Auch
lokalen Blutentziehungen mit Schröpf köpfen ist er bei vielen chronischen
Leiden und namentlich Krankheitsanlagen, u. a. bei arthritischer Dis-
Verdauimgsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 673
Position, ziigethan. Tag- und Nachtgleiche und heiterer Himmel
waren ihm für solche Aderlässe erwünscht.
Ein Freund des Chinins, hält er es doch für kein Spezifikum.
Vor allem müsse man den Zustand der Verdauungsorgane berück-
sichtigen ; die China sei bei "Wechselfieber durchaus zu meiden, solange
ein Zustand von Magenschwäche vorhanden sei. Zuerst müsse der
Magen gereinigt werden; hierzu empfiehlt Hoff"mann Balsamica in
Pillen-, Elixier- und Spiritusform, dann aber kurzweg Brechmittel,
aber nur während der Intermissionen des Fiebers. Bei plethorischen
Personen sei im Anfall ein Aderlass ganz geeignet.
Die Krankheiten des Magens und des Duodenum (A'entriculus
minor, eigentlich nur eine Erweiterung, ein Anhängsel des Magens)
spielen bei Hofi'mann eine grosse Eolle. Eine besondere Schrift
handelt ,.de duodeno multorum malorum causa" ; danach haben auch
fieberhafte und fieberlose Purpura-Exantheme, Podagra, intermittierende
Fieber ihre Quelle im Zwölffingerdarme. Hypochondrie beruhe ebenso
auf krampfhafter Kontraktur wie auf Atonie und Erschlafi'ung des
Magens und des Darms. Obwohl er in seiner Praxis der Humoral-
pathologie zuneigt, so räumt er doch hier den Nerven einen breiten
Spielraum ein. Durch Reizung des nervenreichen Magens und Darms,
daher auch durch Würmer, sollen Störungen entfernter Organe ver-
ursacht werden. So hält er den Magen fast für ebenso bedeutsam,
wie einst Helmont, der sogar den Sitz der Seele dorthin ver-
legt hatte.
Magen- und Darmentzündung wird oft erwähnt, aber als in-
flammatio ventriculi et intestini sehr unklar geschildert. Die Krank-
heit soll sich von Cardialgie schon durch das Fehlen von Fieber bei
letzterer unterscheiden. Ausgänge sind Eiterung oder rascher Tod.
Die Lebensgefahr sei in der Antiperistaltik begründet. Abgesehen
von Intoxikationen soll die Krankheit entstehen, wenn Podagra zurück-
getrieben wird oder im Verlaufe von akuten Exanthemen (,.ex ardore
circa praecordia, virium defectu, extremorum frigore, faucium in-
flammatione et singultu agnoscitur). Bei Febris stomachica inflam-
matoria soll es sich um eine Stase in den Kapillaren und Lymph-
gefässen der Innenwand handeln, die sich dann mit geschwollenen
Drüsen durchsetzt zeigt. Magengeschwür wird gelegentlich als seltene
Magenkrankheit (gegenüber den Entzündungen) gestreift. Blutbrechen
soll vor allem durch Stauung von Blutflüssen verursacht werden,
Darmgeschwüre durch Anätzung der Darmwand durch sauren Inhalt
veranlasst werden.
Die Eektalgeschwüre bei Dysenterie werden eingehend ge-
schildert; Dysenterie pflanzt sich durch Ansteckung fort, doch kann
dieser Ansteckungsstolf längere Zeit im Körper verborgen bleiben.
Begünstigt werden Ruhrepidemien, wenn auf trockene und heisse
Sommer kühle und feuchte Witterung schnell folgt. Die Krankheit
verlange wegen der verdorbenen Säfte schon im Anfange ein Brech-
mittel, am liebsten die (vor kurzem aus Amerika herübergebrachte)
Ipecacuanha. Den Opiaten ist Hofi'mann bei der Ruhr im allgemeinen
abgeneigt, empfiehlt bei kräftigen Personen dagegen den Aderlass.
Auch rät er bei Ruhr und ähnlichen Leiden nach dem Vorbild der
Alten zum Trinken von kaltem A\'asser, um die Bewegung der Darm-
wand zu stärken. Seine innere Runrtherapie zeigt ferner lange
Rezepte und erlesene Diät, doch erwähnt er auch den günstigen
Handbuch der Oeschichte der Medizin. Bd. II. 4.3
674 Georg Korn.
Kranklieitsverlauf bei denen, welche nichts brauchen und sich nur in
gelinder Wärme halten.
Gegen Cardialgie wird Karlsbad innerlich und Teplitz äusserlich
gepriesen. Darmkrämpfe (Colica spasmodica) führen Eingeweide-
verwachsungen nach sich; durch den Krampf wird Serum aus den
Darmwänden und feinsten Gefässen ausgepresst und daraus entsteht
dann Verklebung. Atonie von Magen und Duodenum verursacht
Stagnation des Inhalts, der dann wieder durch Zufluss verdorbener
Verdauungssäfte in Zersetzung übergeht. Apepsie entwickelt sich,
wenn die Magensäure, das „saure Ferment" fehlt. Als Therapie
gelten Aromatica. Als Ursache von chronischem Erbrechen werden
ausser Atonie Stenosen des Magens und namentlich des Duodenums,
nicht bloss durch Krampf, sondern auch durch „Callus" der Wand
bedingte, genannt. Darmverschlingung behandelt er mit Quecksilber ;
es wirke vermöge seiner Schwere.
Auch die Lehre von der „goldenen Ader" macht sich Hoffmann
zu eigen, doch bekämpft er die Ueberschätzung der Hämorrhoiden
z. B. als angebliches Gegengewicht gegen Lithiasis und Podagra,
Hämorrhoiden sollen in Italien häufig sein als Folge der süssen Weine,
Bei Obstipation sucht er die Therapie streng nach den Ursachen zu
wählen: So schade bei der durch Krampf verursachten Obstruktion
der Hypochonder und der Hj^sterischen starke Abführmittel ; schleimige,
ölige Mittel, namentlich auch Eselsmilch, treten hier als krampf-
lösend in ihr Eecht. Die Senna ist bei ihm nicht beliebt. Im all-
gemeinen wirken Abführmittel nicht so prompt wie Brechmittel, da
sie durch die Crusta glandulosa hindurch die Tunica nervea nicht
genügend reizen können. Eingeweidewürmer (z. B. in Narbonne
häufig) sollen oft Ursache von Magen- und Darmperforation sein. Die
örtlichen Wurmbeschwerden rühren von den Absonderungen der Tiere
her, die zu der Membrana nervea der Darmwand dringen und diese
zu krampfhafter Kontraktion reizen.
Im Gegensatz zum Magen neigt die Leber, weil nervenarm,
nicht zu akuter Entzündung, wohl aber zu chronischer Schwellung.
Wo Entzündung vorkäme, handele es sich gewöhnlich um die Kapsel
(membrana). Auch chronische Abscesse in der Leber seien nicht
häufig, abgesehen von denen nach Schädelverletzung. Häufig und
bedeutsam seien „obstructiones et scirrhosi tumores hepatis" dank
dem eigentümlichen Bau der Pfortader. Bei Stauungen in der Leber
werden die schwefligen, salzigen und Auswurfsstolfe, die sonst in der
Galle sind, nicht aus dem Blute abgeschieden, Leberhydatiden werden
öfters erwähnt, auch Gangrän der Leber. Ikterus ist, wenn er schnell
abläuft und periodenweise auftritt, im Krampf der sehr empfindlichen
Schleimhaut des Gallengangs, namentlich an der Mündung bei zu
scharfer Galle begründet. Hier helfen in erster Eeihe Opiate.
Andere Ursachen für Gelbsucht sind Verstopfung durch Steine
und Schleim in den Gallengängen und deren kleinsten Aesten, Kom-
pression durch geschwollene Drüsen oder andere Geschwülste. Eisen,
China und Pyrmonter Brunnen sind geeignet, den geschwächten Tonus
der Lebergefässe, der die Verstopfungen bedingt, zu heben. Häufiger
noch als die Leber, veranlasst das Blut den Ikterus, namentlich die
Plethora. Dann seien die Wasser von Spaa, Schwalbach, Karlsbader
Thermen, Sedlitzer, Epsomer Brunnen, letzterer namentlich mit Molken,
am Platze, doch seien sie wesentlich von prophylaktischem Nutzen.
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 675
Auf die fäulnis\\idrigen Eigenschaften der Galle schliesst Hoffmann
ans dem Foetor ex ore der Gelbsüchtigen. Da er \ie\e. namentlich
nervöse Beschwerden von scharfer Galle ableitet, so verwendet er
übertrieben häufig Brechmittel und starke Abfühnnittel.
Die physiologische Bedeutung der Milz erkennt er darin, dass
in ihren feineren Kanälen das Blut verdünnt, hierdurch der Pfortader-
kreislauf erleichtert werde; bei Schwäche des Organismus könne das
Blut in den ..Buchten" sich leicht anstauen.
Nierensteine unterzieht er einer chemischen Auah'se und betont
ihre organische Xatur; die Ursache der Steinbildung wird in Er-
schlaffung der Nieren gesucht. Anurie wii'd auf krampfhafte Zu-
stände zurückgeführt: durch die Harnverhaltung können epileptische
Krämpfe nach dem Kopf abgeleitet werden, wie einige (anscheinend
urämische) Fälle beweisen.
Xierenfieber infolge von Nierenentzündung (Febris nephritica ex
inflammatione renum) wird noch von der calculosa gesondert, aber
nur undeutlich skizziert. Die linke Niere entzündet sich leichter, da
sie mehr bedeckt und der Flexura coli näher sei: wenn diese durch
Flatus und kompakte Massen stärker gedehnt wurde, so behindere
dies der Blutumlauf in der linken Nierenvene.
Entzündung der Blase soll unter anderem nach unterdrückten
Hämorrhoiden zu stände kommen; schon Heinrich v. Herr habe
hier Spaa -Wasser empfohlen, Hoffmann ist mehr für Selters. In einem
Falle sei die Krankheit nach Erj'sipel am Fusse geheilt. Er ist kein
Anhänger subtiler üromantie, doch untersucht er den Urin, wie andere
abnorme und physiologische Sekrete, durchaus methodisch; er wägt,
benutzt aräometrische Vorrichtungen, kocht u. s. w. Er findet im
Urin Salze und ein ..feines Oel". woher die Harnfarbe kommen soll.
Auch vergleichende üroskopie treibt er und erzählt, dass Hydrocele
und Sarkocele u. a. in Narbonne häufig beobachtet werden, als Folge
unmässigen Genusses von Kastanien.
Boerhaave (1668 — 1738) war besonders glücklich in der Therapie,
in der er. wie in der Pathologie, die aufmerksame Beobachtung der
Natur predigte. Zu den Wegen, welche die Natur zum Heile der
Kranken einschlägt, will er auch seinen Heilplan wenden, und danach
stellt er scharf die Indikationen für den therapeutischen Feldzug. Er
hat keine Spur von Nihilismus, sondern volles Vertrauen in die Schätze
der Apotheke. Vorzugsweise entlehnt er seine Ai'zeneien dem Pflanzen-
reiche, aber nach dem Vorgange des Paracelsus würdigte er auch
chemische, insbesondere mineralische Stoffe; er förderte die methodische
Eisentherapie, wie kaum einer vor ihm, und auch die Balneotherapie
schätzte er als Hilfsmittel. Daneben aber hielt er auf sorgfältige
D i ä t V 0 r s c h r i f t e n. Im allgemeinen ist er für eine frühe Kräftigung
in Behandlung und Pflege und beachtet hierbei auch die Genussmittel;
vor ausgiebiger Empfehlung des Alkohols scheut er nicht zurück,
wobei er neben den verschiedensten Weinarten, vor deren Verfälschung
er warnt, von Bieren Braunschweiger Mumme mit gi'osser Vorliebe
als Tonicura und Stomachicum empfiehlt.
Selbständig und vorurteilsfrei in der Diätetik, regelt er aufs
peinlichste in therapeutischer wie prophylaktischer Hinsicht die ge-
samte Lebensweise der Kranken, namentlich bei allgemeinen Er-
nährungsstörungen; er giebt besonders eingehende Diätrezepte bei
der Chlorose, deren ^^'esen er dahin zusammenfasst, dass die flüssigen
43*
676 Georg Korn.
Teile des Körpers, namentlich auch des Blutes, die festen zu sehr
überwiegen. Nach dem Vorbilde Galens empfiehlt er Leibesübung-en,
und unter seinen Heilvorschriften gegen Leiden innerer Organe finden
sich vielfach Eeibungen der entsprechenden Hauptgegenden, aber
nicht direkte Massage, sondern Eeibungen mit Tüchern.
Als Aphthen beschreibt Boerhaave Geschwüre und Prozesse in
der Mundhöhle, die namentlich als häufige Begleiter fieberhafter
Leiden nach Exfoliation pustulöser Auswüchse zu Tage treten. Sie
haben dort namentlich ihren Sitz an den Speichelgangsenden, aber
aphthöse Prozesse sollen auch in den verschiedensten Teilen des Ver-
dauungsapparates, auch im Magen und Darm einschliesslich des Mast-
darms vorkommen. Noch van Swieten wirft die mannigfaltigsten
Geschwürsformen innerhalb des Verdauungskanals zusammen.
In der Pathologie des Magens dreht sich alles um dessen Ent-
zündung. Ihre Zeichen sind brennender und bleibender Schmerz,
namentlich bei Nahrungszufuhr, Erbrechen. Präcordialangst. Die
Krankheit kann tödlich sein oder wie andere Entzündungen in Scirrhus,
Cancer, Brand oder P^iterung übergehen. Wenn sie mit heftigem
Fieber einsetzt, dann ist ein kräftiger Aderlass geboten. Uebergang
in Scirrhus und Krebs wird durch das anhaltende heftige und schmerz-
liche Erbrechen angezeigt. Brunnen-" und Molkenkuren werden em-
pfohlen, scharfe Stoffe sind zu meiden (spezielle Diätvorschriften
finden sich in der „Praxis medica sive commentarii in aphorismos".
die jedoch als unecht gilt).
Auch die D a r m erkrankungen werden ätiologisch, semiotisch und
therapeutisch wesentlich vom Standpunkt der Entzündung behandelt;
von einfacher Diarrhöe bis zu Ruhr und ruhrartigen Prozessen, von
der erschwerten Entleerung bis zum Ileus werden die bedeutsamsten
Erscheinungen gestörter Darmfunktion aus der Inflammatio instesti-
norum abgeleitet. Der Dünndarm sei am häufigsten Sitz der Ent-
zündung, w^eil er zahlreiche und dünne Gefässe hat; auch wird die
Entzündung oft durch das Eindringen von besonders scharfer Galle
ins Duodenum bewirkt. Ileus soll namentlich Symptom des Ausgangs
in Scirrhus sein, indem durch Verhärtung der Wand das Lumen ver-
engt wird; der Scirrhus kann seinerseits auch im Darme in Krebs
mit Geschwürsbildung übergehen. Abscesse können manchen dysen-
terischen Erscheinungen folgen. Der Brand wird aus dem plötzlichen
Nachlass des Schmerzes bei sonstigem Fortbestehen der objektiven
Erscheinungen geschlossen. Die Galen sehe Darmpathologie schimmert
hier überall durch.
Der Opiumtherapie, bei gleichzeitiger milder Diät, wird auch
gegen Dysenterien lebhaft das Wort geredet, aber auch bei Enteritis
der Aderlass zur Bekämpfung der Entzündungserscheinungen an die
Spitze gestellt. Dem chirurgischen Eingreifen wird, abgesehen von
den Hernien, nur ein ganz bescheidener Raum zugewiesen, z. B. auch
bei Volvulus.
Eingehend wird die Leberentzündung besprochen, obwohl sie
als selten bezeichnet wdrd, was aus der Kleinheit der Leberarterie
im Verhältnis zur Masse des Organs und dem geringen Druck des
Pfortaderblutes zu erklären sei. Der Ursprung der Entzündung soll,
ähnlich wie anderwärts, in den letzten Endigungen jener beiden zu-
führenden Gefässe zu suchen sein. Günstiger Ausgang der Ent-
zündung ist Zerteilung und Ausscheidung der kranken Masse durch
Yerdanungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 677
Darm, Nieren, Nase, Schweiss. Ist es endgültig- zur Eiterung in die
Leber gekommen, so kann der Eiter in die Bauchhöhle oder durch
die Hohlader in den Kreislauf, oder durch den Gallengang in den
Darm, oder nach aussen treten; diesen Durehbruch soll man durch
Kauterisation der Haut erleichtern. Der Eiter, der durch Beimengung
von Galle faulig wird, zerfrisst die Leber; dann soll es unter
Ikterus, Durst, grosser Schwäche, Angstgefühl, fast schwarzem Harn,
Tympanites, fötiden Durchfällen zu langsamer Auszehrung kommen.
Ist die Eiterung eine begrenzte, so führt dies zu Verhärtungen, die
natürlich auch hier krebsig werden können, Steinbildungen oder
Pusteln; auch die kleinen Leberabscesse bewirken stete Fieber-
steigerung. Die Diagnose ist mangelhaft; Schmerzhaftigkeit und
Schwellung oder nur Völle in der Lebergegend sind die Haupt-
anzeichen.
Die Gelbsucht, meist durch die Schwellung der entzündeten
Leber verursacht, wird immer als hepatogen aufgefasst. auch der
Ikterus nach Schlangenbiss. Gegen Cholelithiasis. auch eine Folge
von Leberentzündung, werden die Wässer von Spaa und Molken
empfohlen. Ferner werden funktionelle Abnormitäten der Leber-
thätigkeit, die ihrerseits wieder auf Verdauungsstörungen beruhen, als
Ursache von allgemeinen Ernährungsstörungen und chi'onischem Maras-
mus aufgefasst ; dieser entwickelt sich namentlich dadurch, dass Galle
zu wenig oder fehlerhaft abgeschieden und die ChyUfikation und Assi-
milation geschädigt wird.
Wenig Originales bietet die Pathologie des ürogenital-
svstems. Nur die Nierenentzündung ist zu erwähnen; sie entsteht
durch starke Erschütterungen, Erkältungen u. s. w.. veiTät sich durch
Schmerz in der Nierengegend, Fieber und spärliche Harnausscheidung.
Steine können auch Nephritis bedingen, öfter aber sind sie Ausgänge
derselben. Wichtig aber sind Anomalien der allgemeinen Blut-
mischung. Durch Steinansammlung bedingte Anuiie kann unter
Somnolenzerscheinungen schnell zum Tode führen. Als sonstige Folgen
der Nephritis werden, wie bei anderen Entzündungen, Heilung oder
Abscesse, SciiThus. Gangrän angeführt. Wertvoller und origineller
sind seine Lekren von den Krankheiten des Gehirns und der Nerven,
die wir, gleich den anderen Gebieten der Pathologie, hier nicht er-
örtern können.
Lange Zeit, fast drei Jahrhunderte hindurch, folgten in der Patho-
logie und Therapie System auf System, immer mit einer anderen
Therapie. Von ihnen gilt Autenrieths Wort: „Jedes medizinische
System verhält sich zur Natur wie die Tangente zum Kreise ; es be-
rührt sie nur an einem Punkte, um sich sofort wieder von ihr zu
entfernen, wenn es nicht gebrochen oder modifiziert wird." Das
eklektische System Boerhaaves 1668—1 738, das animistische System
Stahls 1666 — 1734, das mechanisch-dynamische System Friedrich
Hofmanns 1660 — 1742, die antiphlogistische Theorie Girtanners
1760—1800 gegen Priestleys phlogistische Theorie 1733—1804,
der „Generalisierte Chemismus", das Brown sehe System 1772,
Röschlaubs Erregungstheorie 1804, Rasoris Stimulo und Con-
trastimulo 1807, Okens Naturphilosophie 1828, endlich die natur-
historische Schule 1830—1850. Es war noch anzuerkennen, wenn
ein solches System wenig Blut forderte, durch wenig Brechmittel,
Ekelkuren, Klystiere zum angestrebten therapeutischen Ziele zu ge-
678 Georg Korn.
langen suchte. Bouillaud forderte noch 1797 in vielen akuten
Krankheiten Aderlässe Schlag auf Schlag, Broussais verlangte für
seine vermeintliche Gastroenteritis einige hundert Blutegel auf den
Bauch. In den von ihm und seinen Schülern geleiteten Hospitälern
kam es so weit, dass man sich um die Zahl der Blutegel nicht mehr
kümmerte. Man stülpte einfach das Gefäss um und Hess die Tiere
nach Belieben saugen. Während eines einzigen Jahres (1819) wurden
auf der Abteilung von Broussais 100000 Blutegel verbrauclit. Im
Jahre 1824 betrug die Zahl der nach Frankreich eingeführten Blut-
egel nur 300000, im Jahre 1827: 33 Millionen! Broussais selbst ver-
ordnete sich in den ersten zwei Tagen seiner letzten Krankheit vier
Aderlässe und sechzig Blutegel, dann noch zwei Aderlässe und un-
gezählte Mengen von Blutegeln. Auf seiner Abteilung des Val de Gräce
war denn auch die Sterblichkeit am grössten. Schon 1753 gab
Kämpf Visceralklystiere gegen den schwarzen galligen und schleimigen
Infarktus; Rasori verordnete ausser häufigen Aderlässen Brech Wein-
stein täglich 7 Gramm gegen Pneumonie, gegen Hydrothorax 6 Tage
hindurch 21 Gramm, ggen Ruhr Dosen von 1,4 Gummigut. Er gab
in einzelnen Krankheiten pro die 60 — 90 Gramm Nitrum, in 7 Tagen
134 Gramm Extractum Aconiti, alles als Contrastimulantia directa.
Eine wissenschaftliche Therapie konnte es in jener Zeit noch nicht
geben, weil noch alle Voraussetzungen, insbesondere die diagnostischen,
fehlten.
Broussais (f 1838) nannte sein System die „physiologische
Medizin". Die ganze bisherige Medizin ruhe auf einem prinzipiellen
Irrtum; sie fasse die Krankheiten als Dinge, als Wesen, als Entit^s
auf. Als ersten Satz seiner Physiologie stellt Broussais Browns
Ausspruch hin : Das tierische Leben unterhalte sich nur durch äussere
Reize. Alles, was die vitalen Phänomene erhöhe, setzt Broussais
hinzu, ist reizend, stimulierend. Als Hauptreiz sieht er die Wärme an.
Jede Stimulation, wenn sie nicht zu schwach ist, mag sie einen
Teil treffen, welchen sie will, durchwandert nach Broussais das Ge-
samtnervensystem sowohl der Eingeweide als der Centralteile. Ist sie
stark genug, ins Gehirn zu gelangen, so gelangt sie sicher auch in
alle Eingeweide. Vom Centrum, dem Gehirn, aus geht darauf der
Impuls zu dem Muskelsystem. Das Gangliensj^stera und seine Knoten
stellen für sich Nervencentren dar, welche Stimulationen von einem
Ort auf den anderen übertragen können. Sie sind zugänglich den
Stimulantien des übrigen Nervensj'stems, jedoch unabhängig vom
AVillen. Das Ich nimmt von ihnen, aber auch von den Zuständen
der übrigen Nerven bald Notiz, bald nicht.
Die aktive krankhafte Kongestion und ihre stete Begleiterin, die
Surexcitation. nennt Broussais Irritation. Die Irritation beschränkt
sich nur in ganz leichten Graden auf ein System. Sie beginnt zwar
stets in einem einzigen, aber bei irgend bedeutendem Grade werden
noch andere in sympathische Irritation versetzt durch Vermittlung
der Nerven. Je sensibler das ursprünglich irritierte Organ ist, um
so zahlreicher sind die Sympathien, die durch dasselbe erregt werden.
Je zahlreicher die Sympathien sind, desto schwerer ist die Krankheit.
Eine Irritation, welche Blut in dem Gewebe anhäuft, mit ungewöhn-
licher Röte, Hitze und Geschwulst heisst Entzündung.
Jede Irritation eines Organs erregt, wenn sie einen gewissen
Grad erreicht, sympathische Irritation des Gehirns, Kopfweh, Müdig-'
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 679
keit. Alle intensiven IiTitationen erregen ferner gleich zu Anfang sym-
pathische Irritation des Magens (Appetitlosigkeit. Zungenbelag). Alle
intensiven Irritationen erregen endlich sympathische Irritation des
Herzens (Fieber). Jede Irritation, die stark genug ist. Fieber zu er-
regen, ist Entzündung und erregt sicherlich Irritation des Magens
und Gehiras.
Wenn Entzündung des Gehirns und des Magens vorhanden ist,
so ist erstere häufiger die Folge, als die Ursache der letzteren. Die
Entzündung des Magens. Gastrite, kommt nie vor ohne solche der
Dünndärme, weshalb sie Gastroenterite heissen muss. Anderer-
seits ist die Enterite für sich wenigstens sehr selten ohne Gastrite.
und bei Gastroenterite überwiegt bald die Magen-, bald die Dünn-
darmaifektion. Die Gastroenterite ist immer ohne Schmerzen im
Bauch, wenigstens ohne umschriebene und heftige. Wo solche be-
stehen, ist Peritonitis und Colitis damit verbunden. Eine akute
Gastroenterite. wenn sie heftig wird, kompliziert sich mit vielen und
heftigen sympathischen Irritationen. Es entstehen die Symptome
eines putriden Fiebers oder Typhus. Alle sogenannten essentiellen
Fieber der Schule sind Gastroenteriten. Auch die akuten Hautaus-
schläge beginnen mit Gastroenteritis und erst sekundär treten die
Hautphlegmasien an ihre Stelle.
Die Hypochondrie ist eine chronische Gastroenterite; die Dys-
pepsien. Gastrodynien, Pyrosen, Cardialgien sind chronische Gastro-
enteriten. Die Gastroenterite leitet die Leberentzündung ein. Die
Bauchwassersucht ist durch Gastroenterite veranlasst, welche auf das
Peritoneum fortschreitet. Die Peritonitis geht entweder von der
Gastroenteritis oder, wie beim Kindbettfieber, von einer Metritis aus.
Tuberkeln. Scirrhus sind Folgen von Entzündung. Auch die Skropheln
sind durch eine Art von Entzündung hervorgebracht, jedoch ist dabei
keine vermehrte "N^'ärme und wenig Röte. Broussais führte hierfiir
den Namen Subinflammation ein.
Für Therapie gelten folgende Grundsätze. Eine Entzündung
darf nicht erwartet werden, man muss ihr vorbeugen; man darf nicht
auf den Ausgang und die spontane Heilung durch Krisen sich ver-
lassen, sondern muss sie so schnell als möglich unterdrücken. Es
giebt vier Arten von Mitteln, den Gang der Entzündung aufzuhalten :
Schwächende Mittel, revulsive Mittel, die Tonica, flüchtige Reize.
Die schwächenden Mittel sind Blutlassen. Hungern, emollierende
und säuerliche Getränke. Unter allen diesen ist das Blutlassen das
wirksamste. Das Oeffnen einer Vene eignet sich für sehr rasch sich
ausbildende Entzündungen in parenchymatösen Organen. Die kapilläre
Blutentziehung ist dagegen in allen anderen Fällen, namentlich im
Beginne der Krankheit, vorzuziehen. Nur in einzelnen Fällen ist die
Blutentziehung kontraindiziert, nämlich bei blutleeren Personen, bei
vorgeschrittenen chronischen Entzündungen der wichtigsten Einge-
weide (Tuberkel, Krebs), bei Gehimkongestionen mit schwachem Puls.
In allen sonstigen Erki-ankungen verhindert eine zeitige Ansetzung
von Blutegeln die schlimmsten Störungen. Blutegel an den Hals ver-
hindern den Uebergang des Katarrhs in Phthisis, Blutegel in der
Magengegend wirken bei allen Formen von Gastrite und leichten
Phlegmasien des Gehirns, Blutegel an den After bei Kolik und
Dysenterie; bei Angina und Croup werden Blutegel an die ent-
sprechende Stelle gesetzt. Biliöse, muköse und gastrische Symptome
680 Georg Korn.
verlangen Blutegel an die epigastrische Gegend, Eheumatismus an
die befallenen Gelenke und in die Magengegend. Bei akuten Haut-
ausschlägen werden Blutegel an die epigastrische Gegend, bei ady-
namischem Fieber, Typhus Blutegel auf den Bauch gesetzt. Bei
Würmern im Darm werden ebenfalls Blutegel auf den Bauch appliziert,
denn jene sind durch Gastroenterite unterhalten, und sie gehen von
selbst ab, sobald diese gehoben ist. Bei Kindbettfleber werden Blut-
egel in Menge in die hypogastrische Gegend gesetzt u. s. w. Neben
diesen lokalen Blutentziehungen ist bei allen diesen Krankheiten
grösstmögliche Diät und die Anwendung von Gummiwasser notwendig.
Diese Behandlung lässt die Krankheit abortieren; sie heilt plötzlich,
so lange die Affektion noch nicht zu einer gewissen Höhe gelangt ist.
Die revulsiven Mittel: Blasenpflaster, Diaphoretica, Diuretica,
Emetica, Laxantien sind wohl imstande, durch Hervorbringung einer
sekundären Irritation die primäre zu entfernen, aber sie sind immer
gefährlich, denn wenn dies nicht glückt, so steigern sie im Gegenteil
die primäre Krankheit.
Broussais' extremster Anhänger war Bouillaud. Die Desessen-
tialisation der Fieber und die blutentziehende Therapie waren die
Hauptpunkte, wegen deren ihm Broussais als medizinischer Messias
galt. In letzterem Punkt übertraf er diesen noch und führte die
Saignee coup sour coup ein, durch die er Typhus, Pneumonie, Rheuma-
tismus acutus, Herzentzündung und andere Krankheiten glaubte er-
drosseln zu können.
Dieses Broussais sehe Sj^stem des „Vampyrismus" ist hier aus-
führlicher behandelt worden, weil es einmal grossen Einfluss besass
und die Einseitigkeit solcher Systeme noch kurz vor ihrem Ver-
schwinden in der wissenschaftlichen Medizin zeigt, dann aber auch,
weil es speziell die Erkrankungen der Verdauungsorgane und des Unter-
leibes in den Vordergrund treten lässt. Der unwiderstehliche Zug
nach dem „System" war der Hemmschuh, den die deutschen Gelehrten
von einer vorurteilsfreien Einzelforschung zurückhielt. Bei dem
Streben das Ganze zu beherrschen, ging der Sinn für das Einzelne
verloren ; man fühlte sich wohl im Besitze des alles umfassenden und
alles erklärenden Systems.
Erst der Aufschwung, den die exakten Naturwissenschaften in
den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahmen, führten in der
Medizin zu der Ueberzeugung von der Notwendigkeit, dem Studium
der Erscheinungen naturwissenschaftliche Methode zu Grunde legen.
Diese naturwissenschaftliche Richtung wurde eröffnet einerseits durch
die Wiener Schule unter Rokitansky und Skoda, andererseits
durch die Schule Schönleins. Schönlein wuchs aus der natur-
philosophischen Strömung heraus zu der Erkenntnis, dass für die
klinische Medizin die naturwissenschaftliche Methode allein einen
Fortschritt verbürge. Die neue Wiener Schule unter Dietl und
Skoda führte den ersten leidenschaftlichen Stoss gegen den Aderlass
und die alte Heilmittellehre, „jenen Inbegriff von Sagen und Tradi-
tionen der Vorzeit"; sie sollte ganz beseitigt und an ihre Stelle die
durch keine therapeutischen Eingriffe gestörte Naturheilthätigkeit
treten. Vielfach artete die Reaktion der Wiener in therapeutischen
Nihilismus aus.
Die Therapie der Heilkunde bis nahe zur Mitte unseres Jahr-
hunderts bewegte sich bei akuten fieberhaften Krankheiten in vor-
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 681
sichtiger Anwendung der allgemeinen und örtlichen Blutentziehungen,
in der inneren Anwendung der die Absonderungen und Ausscheidungen
zum Zwecke der natürlichen Entscheidung der Krankheit durch die
sogenannten Krisen massig anregenden mineralsauren und pflanzen-
sauren Salze und ,.resolvierenden" Mittel und in dem Gebrauch der
„Analeptica", besonders des Weines, Aethers, Kamphers beim Sinken
der Kräfte, namentlich bei drohender flerzlähmung. In den chronischen
Krankheiten bestand die Behandlung in dem fortgesetzten Gebrauch
der salinischen und pflanzlichen Lösungsmittel, massiger Abführmittel,
in Regelung der Diät und des übrigen Verhaltens, in den sehr vor-
sichtigen und überlegten Uebergang zu den tonischen Mitteln und
besonders auch zum Gebrauch der Eisenmittel.
Die klinische Medizin hatte sich zunächst mit Eifer dem Studium
der einzelnen Organkrankheiten zngewendet. Dem geläuterten patho-
logisch-physiologischen Wissen entsprechend, wurden die Krankheits-
bilder für die einzelnen Organe genauer studiert, die Untersuchungs-
methoden vervollkommnet und die Behandlung namentlich in der
Richtung einer Lokaltherapie vervollkommnet. Allgemein und ein-
stimmig wurde in den vierziger Jahren der Ruf nach einer Befreiung
der Medizin aus dem Banne der naturphilosophischen Systeme und
nach einer Angliederung an die Naturwissenschaften erhoben, allge-
mein war auch das Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Erforschung
der Heilgrundsätze und der Heilmittellehre.
Aber so einstimmig man in der Forderung war, so verschieden
waren die Wege, die man zur Erreichung des Zieles vorschlug und
teilweise auch einschlug. Alle Schulen, die in dieser Periode der
Gärung sich wissenschaftliche Organe schufen, haben ihre Verdienste
an der Wegräumung der Trümmer der naturphilosophischen und natur-
historischen Systeme; alle Führer der verschiedenen Richtungen haben
Teil an der Bereicherung unseres Wissens mit positiven Thatsachen
und an dem Aufschwung der naturwissenschaftlichen Richtung, so
Foi-scher wie Roser und Wunderlich, die 1892 das ..Archiv für
physiologische Heilkunde" begründeten, Henle und Pfeuffer, die
seit demselben Jahre die ..Zeitschrift für rationelle Medizin" leiteten,
V. Jak seh und Hamernik, Skoda und Bamberger.
Aber die klinische Medizin -wurde doch erst recht wissenschaft-
lich neugestaltet durch Rudolf Virchows Arbeiten, der die natur-
wissenschaftliche Methode in der medizinischen Forschung durchführte
und die pathologischen Anschauungen von Grund aus neugestaltete.
In seiner Cellularpathologie gab er dann der Klinik den erwünschten
festen Standpunkt für ihr Handeln.
Der Umschwung in den klinischen Anschauungen und Lehren
vollzog sich nun in den fünfziger Jahren v^hältnismässig rasch, und
die geläuterte Methode kam in letzter Reihe auch der Therapie zu
gute. Der anfänglich von der Wiener Schule eingenommenen Front-
stellung der wissenschaftlichen Medizin gegen die alte empirische
Therapie folgte bald die Wendung zu einer ruhigeren und nüchternen
Auffassung des ärztlichen Könnens. Der Schaden, den der Skeptizismus
der Wiener Schule der Heilkunde im Hinblick auf die Therapie ge-
bracht hatte, erwies sich als weit weniger gross wie der Nutzen, den
die Medizin aus der erlangten Kenntnis des natürlichen Verlaufs der
Krankheiten für die Therapie selbst gewann.
Einen glänzenden Anteil an dem Aufschwünge der Medizin hatte
682 Georg Korn.
die moderne Physiologie durch Johannes Müller und die
Schar seiner Schüler, zu denen ausser Virchow und Helmholtz Forscher
wie Schwann, Henle, Eemak, Traube, Dubois - Reymond, Brücke,
A. V. Gräfe, W. Busch, Max Schnitze, also die gefeiertsten Namen aus
allen Gebieten der modernen Medizin gehörten. Unabhängig von ihm
wirkten die Gebrüder Weber, Purkinje, Karl Ludwig u. a. in
dieser Glanzzeit der deutschen Physiologie an der Aufhellung der
Vorgänge im gesunden und kranken Körper. Daneben entwickelte
sich aus der organischen Chemie durch J. Lieb ig und dessen zahl-
reiche Nachfolger die Physiologie des tierischen Chemismus, die
physiologische Chemie, Friedrich Wöhlers Synthese des Harnstoffes
1828 bildete den Ausgangspunkt für die Entwicklung der modernen
organischen Chemie und einer endlosen Reihe von Entdeckungen, die
tiefe Blicke in das mechanische Verständnis der organischen Vor-
gänge eröffneten und zugleich praktisch von der höchsten Bedeutung
sowohl für die Industrie als für die Medizin wurden, für letztere nicht
nur durch Darbietung neuer Arzneimittel, sondern wesentlich auch
durch die vielfachen Aufklärungen über Krankheitsvorgänge im
menschlichen Körper.
Gerade für die Pathologie und Therapie der Krankheiten der
Verdauungs- und Absonderungsorgane wurden die physiologischen
Forschungen besonders bedeutungsvoll als wichtigste Grundlage des
klinischen Eingreifens. Ein kurzer historischer Ueberblick über ihre
Ergebnisse auf diesem Gebiete erscheint daher hier unerlässlich.
Im Altertum bezeichnete man die Verdauung als Coctio ciborum,
indem man an ein dem Kochen vergleichbares Garmachen der Speisen
dachte. Im Mittelalter wurde vielfach wirklich an einem kochenden
Einfluss der tierischen Wärme gedacht. Erst im 17. Jahrhundert
entwickelten sich bestimmtere Vorstellungen und zwar nahmen die
latrochemiker ein verdauendes Ferment im Magen an, dessen Zu-
sammenhang mit einer Absonderung sie ja doch nicht erfassten,
während die iatromechanische Schule die Verdauung nur als fort-
schreitende mechanische Zerkleinerung betrachtete.
Erst Reaumur (1752) und SpaHanzani (1783) stellten als das
Hauptmoment der Verdauung den Magensaft fest, der ohne mecha-
nische Beihilfe verdaut. Seine saure Reaktion, die schon vor Reaumur
bekannt war, wurde erst 1834 durch Prout von freier Salzsäure
hergeleitet, während das Pepsin von Schwann (1836) erkannt wurde.
Der ganze Verdauungsvorgang wurde zum ersten Male infolge einer
1823 von der Pariser Akademie gestellten Preisaufgabe von L e u r et
und Lasseigne und von Tiedemann und Gmelin einer experi-
mentellen Bearbeitung unterworfen. Während die natürliche Magen-
verdauung von Beaumont an den vielgenannten kanadischen Jäger
mit Magenfistel 1834 sorgfältig beobachtet wurde, lehrte im gleichen
Jahre E b e r 1 e künstlichen Magensaft bereiten und mit ihm künstlich
verdauen. Künstliche Magenfisteln legte erst Blondlot 1843 an.
Die zuckerbildende Wirkung des Speichels entdeckte Leuchs 1831.
Die Kenntnis von den Vorgängen im Darm begann erst durch
Cl. Bernards Entdeckung (1848), dass der Bauchspeichel Fette ver-
daut, was schon Eberle behauptet hatte. Corvisart entdeckte
1857 die eiweissverdauende Wirkung dieses Sekretes, die Kühne
(1867) in wesentlichen Punkten weiter verfolgte. In einem Zustande
lehrte erst Thiry (1865) den Darmsaft in reinem Zustande gewinnen.
Verdanungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 683
Weitere umfassende Arbeiten über die gesamte Verdauung, die
wesentlich die Kenntnis der Verdauungsvorgänge förderten, waren die
von F r e r i c h s (1849) und von B i d d e r und Schmidt (1852). Daran
schlössen sich dann eine grosse ßeihe neuerer experimenteller Arbeiten,
die freilich in manchen wichtigen Fragen eine abschliessende Lösung
noch nicht haben erreichen können.
Auch die Absonderungs Vorgänge der Drüsen sind erst seit
verhältnismässig kurzer Zeit wissenschaftlich erforscht worden. Die
antike Medizin und noch mehr die mittelalterlichen Aerzte hatten
von der Natur der Absonderungen so unklare Vorstellungen, dass
z. B. der Nasenschleim lange als ein Abfluss aus dem Gehirn durch
das Siebbein betrachtet wui'de. Erst die Untersuchungen Schneiders
über die Nasenschleirahaut (1660) beseitigten diesen Irrtum. Ungefähr
um die gleiche Zeit wurden durch zahlreiche Arbeiten von Forschern
wie Glisson. Wharton, Stenson, ßivini, Peyer, Brunner,
Malpighi die Anatomie der Drüsen genauer bekannt. Sie erhielt
aber erst im neuzehnten Jahrhundert durch die Entdeckung der
Nierenstruktur, um die sich Johannes Müller und Bowinan ver-
dient machten, und durch das umfassende und grundlegende Werk
von Johannes Müller über die Drüsen, das dieser im Jahre 1830
veröffentlichte, einen gewissen Abschluss.
Der Absonderungsvorgang selbst musste so lange im Dunkeln
bleiben, als man von der Geschlossenheit der Blutbahnen in den
Drüsen noch nicht überzeugt war, sondern annahm, dass die blasigen
und röhrigen Hohlräume der Drüsen mit den feinsten Arterien kom-
munizierten (wie dies Malpighi aussprach), so dass das Sekret als
eine direkte ,.Colatur" des Blutes, dessen Körperchen in die feinen
Räume nicht eindringen könnten, betrachtet, ja von ßuysch die
Drüsen geradezu nur als aus Blutgefässen bestehend angesehen
wurden. Die neuere Entwicklung der Absonderungslehre knüpft sich
an die Entwicklung der Zellenlehre (Schwann) und an die Ent-
deckung der Endosmose (Dutrochet), wurde aber erst durch die
vivisektorischen Versuche an den Absonderungsnerven (Ludwig,
Bernard) und durch die mikroskopische Vergleichung der ruhigen
und thätigen Drüsen (Heidenhain) zur heutigen Höhe gehoben.
(Vgl. Herrmann, Lehrbuch der Phj'siologie, 11. Aufl.. Berlin 1896.)
Um den Ausbau der Lehre von den Erkrankungen der Ver-
dauungs- und Absonderungsorgane erwarb sich in erster Reihe
Friedrich Theodor v. Frerichs hervorragende Verdienste. Er
wusste den grossen Gewinn, den die Medizin aus den Fortschritten
der Naturwissenschaften, besonders der Chemie und Phj'sik und aus
der Uebertragung exakter naturwissenschaftlicher Methoden auf die
Erforschung physiologischer und pathologischer Probleme gewann, in
richtiger Erkenntnis zu würdigen und auszunützen. Er stellte sich
lediglich auf den Boden der nüchternen Thatsachen, die auf dem
Wege der strengen und voraussetzungslosen Forschung und Beobach-
tung, auf dem mühevollen Wege des Experimentes erlangt waren.
Als einer der Ersten übertrug er die strenge naturwissenschaftliche
Methode auf das Studium des kranken lebenden Organismus, auf die
Klinik und wurde dadurch für lange Zeit der bedeutendste Pathologe
Deutschlands.
Er begann seine Arbeiten mit chemischen L^ntersuchungen (ge-
meinsam mit Wohl er) „über die Veränderungen, welche namentlich
684 Georg Korn,
organische Stoffe bei ihrem Uebergange in den Harn erleiden"
(Annalen der Chemie und Pharmacie 1848, S. 235), über das Mass
des Stoffwechsels (Müllers Archiv für Anatomie und Physiologie) und
Arbeiten über die AUantroinausscheidung bei beschränkter Eespiration,
über das Vorkommen von Harnstoff, Taurin und Scyllit in den Organen
der Plagiostomen. Von diesen ist die erstere der Beginn und der
Ausgangspunkt aller der zahlreichen Arbeiten geworden, welche die
im Organismus wirkenden chemischen Kräfte der Stoffmetamorphose
zu ergründen suchen. Die Untersuchungen über das Mass des Stoff-
wechsels wurden durch die darin ausgeführten Versuche an hungernden
Tieren auf lange Zeit grundlegend für die Arbeiten über den Eiweiss-
stoffwechsel, obgleich sich Frerichs' Anschauung, dass der Stoffwechsel
im Hunger das niedrigste Mass des normalen Stoffwechsels sei, als
irrig erwiesen hat. Von grosser Bedeutung war auch die mit
Städeler gemeinsam gemachte Entdeckung des Vorkommens von
Leucin und Ty rosin in den Lebern und dem Harn von Leber-^
Tj^phus- und Variolakranken (1854) und bei der akuten gelben Leber-
atrophie (1856).
Bald darauf wurde dem jungen Göttinger Dozenten die, ursprüng-
lich dem Professor J. V o g e 1 zugedachte, Bearbeitung des Abschnittes
„Verdauung" in E. Wagners Handwörterbuch der Physiologie über-
tragen. Frerichs begnügte sich nicht mit einer oberflächlichen Be-
arbeitung des vorhandenen Materials, sondern brachte eine erschöpfende,
auf zahlreichen Experimenten, chemischen und anatomischen Studien
fussende Monographie mtt vielen neuen Beobachtungen und voll-
ständiger Beherrschung der bisherigen Leistungen. Er hob mit einem
Schlage die Lehre von der Verdauung auf ein vollkommen neues
Niveau. An Stelle von Vermutungen traten Thatsachen, an Stelle
von unklaren Hypothesen exakte Beweisführungen, gestützt auf
Experimente chemischer und physiologischer Natur, von denen nament-
lich die ersteren bei seinen Vorgängern wenig Beachtung gefunden
hatten. So war die „Verdauung" ein Werk von fundamentaler Be-
deutung auf ihrem Gebiete.
Sein nächstes Werk, die Monographie über die Brightsche Nieren-
krankheit und ihre Behandlung, zeigt ihn als Pathologen ersten-
Eanges. Das Buch, das 1851 erschien, fand grosse Anerkennung nament-
lich auch in England, wo man der Krankheit wegen ihres häufigen
Vorkommens von alters her ein besonderes Interesse zuwandte. Sein
Wort beruht auf der Einführung physiologischer Methoden, der all-
seitigen und durchdringenden Verarbeitung des Stoffes und der Klar-
heit der Darstellung. Bei der sogenannten Brightschen Nierenkrankheit
handelte es sich um höchst komplizierte anatomische und funktionelle
Störungen der Niere, deren gemeinsames Symptom Eiweissausscheidung
im Harn und deren Folgen, Wassersucht, Herz-, Lungen- und Hirn-
erkrankungen sind. Diesen verwickelten Prozess, über den die ver-
schiedensten Theorien bestanden, hatte Frerichs mit sichtender Hand
entwirrt und von einem einheitlichen Standpunkt aus gedeutet. Die
Lücken der klinischen Beobachtung suchte er durch das Experiment
zu entscheiden. Er stellte zuerst für die eigentümlichen Hirn-
erscheinungen, die man als urämische Intoxikation von dem im Blute
zurückgehaltenen Harnstoff ableitete, die Ansicht auf, dass nicht dieser,
sondern ein giftiges Zersetzungsprodukt desselben, das kohlensaure
Ammoniak, ihre Ursache sei und suchte seine Auffassung experimentell
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 685
ZU erhärten. Seine Beweisführung, die sich als unhaltbar erwies,
wurde dennoch fruchtbar als Ausgangspunkt zahlreicher anderer
experimenteller Arbeiten. Durch Unterbindung der Nierenvenen be-
wies er, dass die Stauung des Blutes in ihnen den Uebertritt von Ei-
weiss, Faserstoff und Blut in die Harnkanälchen zur Folge hat und
die Entstehung eigentümlicher, schon früher bekannter Gerinnsel in
ihnen bedingt, die später durch den Harn fortgeschwemmt und mit
ihm ausgeschieden werden. Umgekehrt widerlegte die Unterbindung
der Aorta die Ansicht, als ob der vermehrte arterielle Druck die
Ursache der Eiweissausscheidung sei. Neben dem semiotischen und
pathogenetischen Teil wurde auch entgegen der damals von der
Wiener Schule ausgehenden nihilistischen Strömung ein besonderes
Gewicht auf die Behandlung gelegt, das Bekannte einer scharfen
Kritik unterzogen, und. gestützt auf die neugewonnene Einsicht,
wurden neue Mittel und Verfahren empfohlen. Schon vor Frerichs
hatten sich andere Forscher, wie H. Meyer, Raj^er, Bowman,
Johnson, He nie, Nasse, J. Vogel und eine Reihe weiterer
Kliniker mit diesen Fragen beschäftigt, und wesentlich neu ist bei
Frerichs nur die Theorie der urämischen Intoxikation und die scharfe
Betonung der Stadienlehre; aber die erschöpfende Methodik und der
wissenschaftliche Geist hob sein Werk weit über die Arbeiten der
Vorgänger.
Sein nächstes grosses Werk war die „Klinik der Leber-
krankheiten", die jedoch unvollendet blieb. Auch hier findet sich
neben einer bisher unerreichten Fülle und Gediegenheit der klinischen
Beobachtungen und einer auf eingehenden historischen Studien
fussenden Darstellung eine Menge histologische und namentlich physio-
logisch-chemischer Befunde, die zum grössten Teil seine eigenen Ent-
deckungen sind, die genauere Einsicht in die anatomischen Verände-
rungen der Leber bei der Cirrhose und bei den Folgezuständen der
schweren Wechselfieber, in die Veränderungen des Blutes bei der
Melanämie, und endlich das Vorkommen gewisser Zwischenprodukte
des Stoffwechsels in Leber und Harn; das Leucin und Tyrosin bei
der akuten gelben Leberatrophie, das Verschwinden des Harnstoffes
bei derselben, die chemische Kenntnis der Gallenpigmente u. a. m.
wurden durch Frerichs festgestellt. Seine Ansichten über die Ent-
stehung der Gallenpigmente und Gallensäuren wurden dagegen durch
weitere Untersuchungen nicht bestätigt. In der Vorrede zu den
Leberkrankheiten sprach er es als sein Ziel aus, die Pathologie vom
Standpunkt des Naturforschers und mit allen Hilfsmitteln desselben
zu bearbeiten. Sein letztes Werk behandelte den Diabetes. (Vgl.
Ewald in der ,.Allg. deutschen Biographie", Bd. XXL 782.)
Die Lehre von den Magenkrankheiten wurde in neuerer
Zeit wesentlich gefördert durch die Einführung der Magensonde und
Magen pumpe in die Klinik zu therapeutischen und diagnostischen
Zwecken.
Die Anfänge der Magensondierung fallen ins griechische
Altertum; in der römischen Kaiserzeit wurde sie zum Zwecke der
Erleichterung des Erbrechens systematisch ausgebildet. Statt des in
den Hals gesteckten Fingers wurde bald eine ,.pinna", Brechfeder,
üblich. Oribasius beschreibt im vierten Jahrhundert n. Chr. einen
10 — 12 Zoll langen Handschuhfinger aus weichem Leder, dessen untere
zwei Dritteile mit Wolle ausgestopft werden sollten, während das
686 Georg- Korn.
oberste Dritteil leer zu bleiben und den das Instrument dirigierenden
Finger des Arztes aufzunehmen hatte. Dieses digitale vomitorium
wurde mit Oel bestrichen in die Speiseröhre eingeschoben; dies In-
strument kann man als die erste Art von Magensonde ansehen. Das
lorum vomitorium, „Brechriemen", wurde im ersten Jahrhundert
n. Chr. speziell bei der Opiumvergiftung von Scribonius Largus
empfohlen, wahrscheinlich ein Lederriemen, der, mit einem ekelhaften
Gerbstoff getränkt, durch seinen Geschmack zum Brechen reizte.
Bis in die neuere Zeit beschränkte sich der Gebrauch von Schlund-
sonden darauf, Erbrechen einzuleiten und Fremdkörper aus der
Speiseröhre herauszuziehen. Erst gegen Ende des 17. und im Anfang
des 18. Jahrhunderts kam eine ganz neue Anwendungsweise der
Magensonde in Gebrauch, die d i r e k t e B e h a n d 1 u n g der Magen-
schleimhaut mit der Sonde, eine Indikation, die dann bei der
modernen Behandlung der Magenleiden wieder in den Vordergrund
trat. Es geschah dies durch die Eeinigung des Magens mittelst der
excutia ventriculi, der Magenbürste. Die Magenbürstung des 17.
und 18. Jahrhunderts scheint von den Wilden Amerikas übernommen
worden zu sein, die nach Dapper (1673) den Leib durch einen
Strang von scharfen Blättern von innen reinigten. Im Jahre 1659
liess der Engländer Eumsaeus seine privilegierten Instrumente, die
er in der Schrift „Organum salutis. or an Instrument to cleanse the
stomach" anpries, in London öffentlich feilbieten. Sie bestanden aus
2—3 Fuss langen geschmeidigen Fischbeinstäben, deren unteres Ende
ein Knöpfchen bildete, woran eine Quaste zum Herausfegen des
Magenschleims hing. Am Ende des 17. ,Iahrhunderts wurde mit der
Magenbürste in einem Mönchskloster an einem vornehmen deutschen
Würdenträger eine Aufsehen erregende Kur vorgenommen und bald
danach in Leipzig und an anderen Orten Magenbürsten hergestellt
und angepriesen als Universalmittel gegen alle aus dem Magen
stammenden Krankheiten und als ein Präservativmittel auch für Ge-
sunde, die ihr Leben sich lange zu erhalten wünschten. Das Magen-
ausbürsten mit darauffolgendem Einnehmen eines aus Aloe, Saifran,
Myrrhen u. s. w. bestehenden Elixiers sollen 24 Stunden lang vor
allem Gift und jeder Pest schützen, ein gutes Gedächtnis bringen, das
Gesicht schärfen u. s. w. und helfen gegen kalte und hitzige Fieber,
Asthma, Brustgeschwür, Schwindsucht, Kephalalgie, Schlag, Zahn-
und Augenweh u. a. m.
Der Stiel des Instrumentes, 26 Zoll lang, bestand aus einem
starken, doppelten, soi-gfältig geglühten Messingdrahte, der geflochten
und mit Seidenfäden umwickelt war. An seinem unteren Ende war
eine kleine, 3 Zoll lange und 2 Zoll breite Bürste (nach der Art der
heutigen Flaschenbürsten) aus Ziegenbart- oder Pferdehaaren ange-
bracht. Bei Anwendung des Instruments sollte es so gekrümmt
werden, dass seine Biegung „nicht gar wie ein halber Zirkel, sondern
etwas krümmer sei" ; ausserdem sollten Bürste sowohl als Stiel zuvor
mit Wasser benetzt werden und vor der Einführung von dem Be-
treffenden, der die Operationen sich machen lässt oder selbst macht,
„2 — 4 gute Schlucke" Franzbranntwein und 7-2 Nösel Brunnenwasser
getrunken werden. In jenem rohen Instrumente, das wissenschaft-
liche Mediziner der damaligen Zeit freilich ein „remedium durum et
rusticum" nannten, liegt der Keim der Methode, nach der neuerdings
die Magenkrankheiten behandelt werden. W. Leube (1. c. S. 15)
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 687
hält es sogar entschieden des Versuches wert, bei Nervosität und
Atonie der Magenschleimhaut mit einem ähnlichen Instrumente
therapeutisch vorzugehen.
Bald jedoch geriet die Magenbürste in Vergessenheit, im 18. Jahr-
hundert war später fast ausnahmslos ein Fischstab als Speiseröhren-
sonde in Gebrauch, an dessen unterem Ende ein kleiner Schwamm
befestigt Avar. Dies Instrument diente teils dazu, die in der Speise-
röhre infolge Lähmung angesammelten Speisen in den Magen hinab-
zustossen, teils auch zu diagnostischen Zwecken. Ferner wurde sie
benutzt, um Verengerungen der Speiseröhre zu erweitern oder mittelst
Durchstossung gänzlich zu beseitigen. Geuns benutzte 1767 in einem
Falle von scirrhöser Cardiastenose als Sondenansatz ein Elfenbein-
knöpfchen, operierte also mit Fischbeinsonde, mit Elfenbeinolive, einem
Instrument, das bei Oesophagusstrikturen noch in der Gegenwart
gebräuchlich ist. Ein ähnliches Instrument, bestehend aus Silber-
draht mit einer eiförmigen Silberkugel empfahl Abercrombie bei
Oesophagusstriktur.
Eine neue Indikation eröffnete sich in Fällen, wo man bei Auf-
hebung des Schlingvermögens auf künstlichem Wege Nahrung oder
Arzneimittel dem Magen zuzuführen bestrebt war, oder wo es geboten
war. den Inhalt des Magens rascher und vollständiger nach aussen zu
befördern, als es durch Brechmittel geschehen konnte. In beiden
Fällen w^ar der Heilzweck vollständig nur dann zu erreichen, wenn
die Sonde röhrenförmig w^ar und in die Speiseröhre eingeführt mit
ihrem unteren Ende bis den Magen reichte.
Die ersten Versuche mit solchen röhrenförmigen Sonden stellten
bereits Hieronymus Capivacceus (1598) und Fabricius ab
A q u a p e n d e n t e an. Letzterer tührte bei Mundsperre ein gekrümmtes
silbernes, mit einem dünnen Lammsdarm umwickeltes Röhrchen durch
die Nase in den Schlund. Das Röhrchen war aber so kurz, dass es
nicht über die Gegend des Kehldeckels hinunterreichte. Immerhin
ist in der Anwendung dieser Instrumente, so unvollkommen sie waren,
der erste Versuch zur künstlichen Ernährung mit der röhrenförmigen
Schlundsonde zu sehen, zumal Fabricius die später oft üblichen Wege
für die Einführung der Schlundsonde angiebt, den Weg durch den
Nasengang und der Weg durch die hinter den letzten Backzähnen
zwischen den Kiefern befindliche Lücke.
Weiterhin wurde Länge und Material der Magensonden verbessert.
Schon 1646 lehrte van Helmont die Katheder aus Leder machen
und 1768 wurden die ersten elastischen Katheder auf eine Empfehlung
von Herissaut angefertigt. Damit konnte den Schlundsonden unter
Umständen eine grössere Länge gegeben werden. John Hunter
erwähnte 1776 in einem Vortrage die Möglichkeit, stark reizende
Substanzen in den Magen einzuspritzen, ohne dass sie zugleich auf
die Lunge wirken könnten. Zu diesem Zwecke empfahl er hohle
Bougies oder biegsame Katheter, die so lang sein müssten, dass sie
bis in den Magen reichten; durch diese röhrenförmigen Magensonden
sollten dann mittelst einer Spritze die betreffenden Arzneimittel in-
jiziert w'erden.
Der Gedanke, eine röhrenförmige Magensonde bis in die Magen-
höhle hinabzuführen und durch diese Sonde Flüssigkeiten mit einer
Spritze in den Magen zu injizieren, führte dann bald zu dem weiteren,
auch die Rückwärtsbewegung des Spritzenstempels bei dieser Kom-
688 Georg Korn.
bination von Sonde und Spitze zu benützen, also Flüssigkeiten aus
dem Magen mit diesem Apparat heraufzuholen. Der Wundarzt
F. Bush (1822) und ziemlich gleichzeitig Jukes verwirklichten
diesen Gedanken. Bush schraubte in Fällen von Opiumvergiftung an
eine gewöhnliche Spritze eine biegsame Röhre aus Gummi elasticum
oder Leder, spritzte erst Wasser in den Magen ein und zog nun den
Spritzenstempel auf, um das mit Wasser vermischte Gift aus dem
Magen „gleichsam herauf zu pumpen". Noch im Laufe der zwanziger
Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden dann von Ward, Read.
Weiss u. a. Magenpumpen verschiedener Art angegeben. Jukes'
Apparat benutzt Röhren von elastischem Gummi (27-2 Fuss lang und
^j^ Zoll im Durchmesser), an deren Ende eine kleine durchlöcherte
elfenbeinerne Kugel befestigt war als Magensonde, während Weiss
und Read nicht zusammengesetzte biegsame, elastische Röhren, deren
Spitze abgerundet und mit zwei Seitenöffnungen versehen war, an-
wendeten.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bürgerten sich dann haupt-
sächlich die Hartkautschuksonden und die englischen Sonden
ein, die aus einem mit Harzmasse getränktem Gewebe gefertigt wurden.
Ewald und Oser benutzten (1875) einen gewöhnlichen Gummischlauch
als Magensonde; dann folgten Gummischlauchsonden und immer neue
Verbesserungen. Doppelsonden wurden von Auerbach und Bloss
(1870) zuerst bei Magenkranken angewandt und empfohlen.
Nachdem die Magenpumpe ursprünglich nur in Fällen von
Vergiftung, namentlich durch Opium, verwendet w^orden war, empfahl
1842 Lefevre die Auspumpung des Magens und nachfolgende Aus-
waschung mit einem erweichenden Dekokt bei drohender Gastrorhexis
und 1846 riet Canstatt die Magenpumpe auch in der Therapie der
Magenektasie zur „öfteren Entleerung der im Magen angehäuften
Flüssigkeiten zu benutzen". Aber erst Kussmaul hat seit 1869
(„Behandlung der Magenerweiterung durch eine neue Methode mittelst
der Magenpumpe". Deutsches Archiv für klinische Medizin Bd. VI,
S. 455) die Magenpumpe am Krankenbett und in der Klinik einge-
bürgert und durch die Behandlung einer Reihe von Magenerweiterungen
durch Auspumpung des Magens praktisch in die Therapie der Magen-
krankheiten eingeführt. Seiner Initiative ist auch die weitere An-
wendung der Entleerung des Magens auf mechanischem Wege als
Heilmittel bei anderen Magenkrankheiten zu danken, so bei akutem
und chronischem Magenkatarrh, bei Geschwüren und Carcinom des
Magens, bei nervösen Magenleiden (wo Malbranc 1878 die „Magen-
douche" mit warmem kohlensauren Wasser empfahl) u. s. w.
Noch gegen Ende der sechziger Jahre gehörte die Magen-
erweiterung namentlich in der schweren Form, die aus Verengerung
und Verschluss des Pförtners hervorgeht, zu den qualvollsten Leiden.
„Nur ausnahmsweise", sagt Kussmaul, ,, erfreuten wir uns in der
Behandlung dieser furchtbaren Krankheit besonderer Erfolge, in der
Regel gelang es uns kaum, den Hilfesuchenden Erleichterung, ge-
schweige denn Heilung, zu verschaffen." Die meisten derartigen
Kranken galten als unrettbar verloren und waren deshalb in den
Krankenhäusern und Kliniken ungern gesehen. Auch Kussmaul
nahm am 15. April 1867 nur ungern das 25jährige Bauernmädchen
Marie Wein er aus Heimbach auf, das seit seinem 11. Lebensjahre
magenleidend war und eine starke Erweiterung des Magens durch
Verdauungsapparat, Harn-, Blaseu- und Geschlechtskrankheiten. 689
Ulcus pylori. Hypertrophie des Pförtners und chronischen Katarrh
des Magens hatte, enorm abgemagert war und überdies an Krampf-
anfällen litt.
Ihr beklagenswerter Zustand Hess in Kussmaul den Gedanken
aufkommen, die Magenpumpe anzuwenden. Mit der Entfernung der
grossen Massen zersetzten sauren Mageninhalts musste das quälende
Bannen und "Würgen sofort aufhören. Mittelst der Pumpe musste
es gelingen, den Magen vollständig auszuleeren, ihm vielleicht sogar
die Fähigkeit, sich auf seinen kleinsten Umfang zusammenzuziehen,
wieder zu verschaiFen. Mit der Entleerung und Verkleinerung des
Magens würde auch die mechanische Verschliessung des Pförtners
sich heben lassen. Endlich schien die Anwendung der Magenpumpe
eine wirksamere örtliche Behandlung der kranken Magenschleimhaut
zuzulassen, nicht nur die vollständige Entfernung der scharfen,
ätzenden Massen, sondern auch eine Waschung und Reinigung der
kranken, durch Säure misshandelten Schleimhaut mit alkalischen
Flüssigkeiten. Diesen Ueberlegungen folgend, fing Kussmaul an, am
22. Juli 1867 seiner Patientin zum erstenmal den Magen auszu-
pumpen und auszuwaschen. Die Einführung der Magensonde, das
Auspumpen und Auswaschen mit Vichywasser ging über alles Er-
warten leicht von statten. Der unmittelbare Erfolg war ein über-
raschend wohlthätiger und die Kranke war wie umgewandelt; sie
nahm in knapp 6 Monaten dann 20 — 23 Pfund zu. Die Genesung
blieb eine vollständige, obwohl sich die Patientin keineswegs in guten
äusseren Verhältnissen befand.
Die ersten Mitteilungen über seine neue Behandlungsweise der
Magenerweiterung machte Kussmaul in der ersten Sitzung der Sektion
füi' innere Medizin auf der 41. Versammlung deutscher Naturforscher
und Aerzte in Frankfurt a. M. im September 1867. Weitere Be-
obachtungen und Erfahrungen über die inzwischen zur Methode aus-
gebildete Behandlung der Magenerweiterung enthielt die Freiburger
Prorektoratsrede Kussmauls vom 9. September 1869 und die inhalts-
reiche bekannte Arbeit im 6. Bande des ..Deutschen Archivs für
klinische Medizin" vom Jahre 1869: ..Ueber die Behandlung der
Magenerweiterung durch eine neue Methode mittelst der Magen-
pumpe".
Neben der neuen Behandlungsmethode gab diese Arbeit eine
solche Fülle klinischen Materials und so viele neue Gesichtspunkte
für die Pathologie, Diagnostik und Therapie, dass sie zur Grundlage
für die meisten späteren Arbeiten über Magenkrankheiten wui'de.
Kussmaul würdigte hier neben der gutartigen Verengerung des
Pförtners durch Geschwüre, Narben und Pylorushypertropliie und der
bösartigen Verengerung des Pförtners durch Krebsgeschwülste schon
die einfachen, nicht von Stenose des Pylorus oder Duodenum ab-
hängigen Erweiterungen des Magens, die durch Atonie des Muscularis
infolge von Belastung und Ausdehnung des Magens über die Elastizitäts-
koeffizienten hinaus bei Polyphagie oder als paralytische Schwäche
in der Rekonvaleszenz nach erschöpfenden Krankheiten, z. B. Typhus,
oder bei nervös-anämischen Zuständen sich ausgebildet hatten, ferner
die Parese der Magen muskulatur infolge fettiger und kolloider Ent-
artung der Muskelfasern. Auch bestimmten mechanischen Momenten
"wird nachgegangen, die mitunter zu Lebzeiten Sj'mptome gänzlichen
Pylorusverschlusses veranlassen, während sich an der Leiche noch
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 44
690 Georg Korn.
bequem der kleine Finger durch den verengten Piörtner in das
Duodenum bringen lässt. Dabei wird auf das Herabsinken des bei
Magenerweiterungen am meisten ausgebuchteten und belasteten Pylorus-
teils des Magens, auf die Ausbildung der fötalen (Vertikal-) Stellung
des Magens verwiesen, auch an die Möglichkeit eines reflektorischen
tonischen Krampfes des hypertrophischen Pylorus gedacht, der infolge
der Eeizung der sensiblen Nerven der Pförtnergegend durch die von
einer gesteigerten Peristaltik gegen den Pförtner angetriebenen
scharfen Massen zu höheren Graden anwächst.
Dass diese stärkere Keizung der Magenschleimhaut durch stag-
nierenden Mageninhalt reflektorisch auch eine gesteigerte, sogar kon-
tinuierliche Absonderung von Flüssigkeit hervorruft, entzog sich noch
damals Kussmauls Kenntnis ; den exakten Nachweis hierfür erbrachte
erst V. Mering 1893 auf dem Wege des Experiments. Dagegen er-
kannte Kussmaul die Bedeutung der starken und oft schnellen Wasser-
verluste bei manchen Magenerweiterungen; die von ihm zuerst be-
schriebenen tonischen Muskelkrämpfe (die sog. Magentetanie) fasste
er als Folgen der raschen Eindickung des Blutes und Austrocknung
von Nerv und Muskel auf und legte auch damals schon grossen Wert
auf die Zufuhr von Flüssigkeit in Form von Fleischbrüh -Wein-
klystieren, die im Darme zur Aufsaugung gelangten und wohlthätig
wirkten. Kussmaul fand ferner, dass der erweiterte Magen, der
grössere Mahlzeiten nicht mehr auszutreiben vermag, doch im stände
ist, kleine, in bestimmten Abständen verabreichte Portionen in den
Darm weiterzuschieben, und gab die Verordnung, den herabgesunkenen
und erweiterten Magen durch eine hypogastrische Binde zu stützen.
Kussmaul lehrte ferner die Kranken, sich selbst die Schlund-
sonde einzuführen und den Magen auszuspülen; so griff ein Schwarz-
wälder Wollspinner, der keineswegs streng Diät hielt, bei Beschwerden
oft zweimal zur Pumpe und spülte sich den Magen rein, und gedieh
dabei trotz seiner Diätsünden.
Kussmaul benutzte die Magenpumpe auch zu Spülungen der
kranken Magenschleimhaut, zunächst mit alkalischen Wässern. Die
Grenzen der Behandlungsmethode gab er selbst an. Er vermochte
Magenerweiterungen zu heilen, wenn keine oder nur eine massige
Verengerung des Pylorus oder Duodenum vorlag. Keine Heilung,
nur Erleichterung konnten die Magenspülungen aber gewähren bei
krebsiger Pylorusverengerung, bei sehr bedeutender narbiger Ver-
engerung des Pförtners und bei massiger Verengerung, wenn die
Magenwand infolge chronischer Gastritis vorgeschrittene, einer Eück-
bildung nicht mehr fähige Entartungen erlitten hat. Auch für die
in jener Zeit (1869) für unheilbar geltenden Fälle war doch die
Magenspülung ein Mittel, das frühzeitig angewendet, jedenfalls das
Leben beträchtlich zu verlängern und wesentlich besser zu gestalten
im Stande war. (Vgl. W. F leiner in der Festschrift für Kussmaul,
Deutsches Archiv für klinische Medizin, Band 73, Leipzig 1902.)
Im Zusammenhange mit der neuen Methode zur Behandlung der
Magenerweiterung stehen Kussmauls Versuche, die Speiseröhre und
selbst das Innere des Magens zu spiegeln. Er führte im Jahre 1868
die erste direkte Oesophagoskopie mit Erfolg durch, und die Magen-
spiegelung gelang ihm an einem herumreisenden Schwertschlucker
so gut, dass er sie in der Klinik und am 21. Juli 1868 der natur-
forschenden Versammlung zu Freiburg demonstrieren konnte.
Verdauungsapparat, Harn-. Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 691
In das von ihm erschlossene Gehiet der Magenpathologie kehrte
Kussmaul 1880 zurück mit einem klinischen Vortrage über „Die
peristaltische Unruhe des Magens nebst Bemerkungen über Tiefstand
und Erweiterung desselben, das Klatschgeräusch und Galle im Magen".
InzTsischen hatte man durch chemische und physiologische, auch
bakteriologische Untersuchung des Mageninhalts wichtige Einblicke
in die normalen und krankhaften Verdauungsvorgänge gewonnen und
gelernt, den Ueberschuss und den Mangel der Salzsäure im Magen-
saft diagnostisch und prognostisch zu verwerten. Die motorischen
Funktionen des Magens aber und die Störungen, die sie durch Ki-ank-
heiten erleiden, waren noch ein dunkles Gebiet der Medizin, nur
durch Tierexperimente einigermassen erhellt. Kussmaul zeigte in
diesem Vortrage neue Krankheitserscheinungen, bisher unbeachtete
Störungen der motorischen Funktionen, Form- und Lageanomalien
des Magens.
In allen Fällen von Magenerweiterung bei verengertem Pylorus
ist die von Kussmaul geschilderte peristaltische Unruhe nichts als
der Ausdruck und die Wirkung einer grob mechanischen Störung.
Aber auch ohne solche kann die peristaltische Unruhe des Magens in-
folge einer krankhaft gesteigerten Erregbarkeit des peristaltischen
Nerven apparates als Motilitätsneurose auftreten. Der Tiefstand des
Magens mit subvertikaler Stellung, die Plätschergeräusche, die Gegen-
wart von Galle im nüchternen Magen u. s. w. stellte Kussmaul hier
in ihrer diagnostischen und pathologischen Bedeutung fest. (Vgl.
W. Fleiner, 1. c. S. 19.)
Statt der Pumpe wurde schon 1823 von Sommerville, und
dann 1870 nach Kussmauls Veröffentlichung von Th. Jürgensen
und anderen einfachere Hebevorrichtung zur Entleerung des Magen-
inhalts empfohlen und diese Methode der „Magenausspülung" bürgerte
sich bald in der Praxis ein, vielfach an Stelle der Auspumpung.
Die Elektrisierung des Magens mittelst der Sonde empfahl zuerst
Canstatt 1846, aber erst Duchenne verwirklichte sie im Anfang
der fünfziger Jahre unter Anwendung von Faradisation, doch wurde
in der Folge nach seinen wenig günstigen Erfahrungen der Magen
meist von aussen her elektrisiert. Kussmaul berichtete dann 1877
über seine Erfolge mit der inneren Faradisation des Magens bei
Kranken mit Magenerweiterung und hartnäckiger Obstipation.
Die Magensoude errang sich im Laufe der letzten Jahrzehnte
des 19. Jahrhunderts auf vielen Gebieten eine "vsdchtige Stellung,
namentlich zur künstlichen Ernährung der Kranken, zur allmählichen
Erweiterung der Stenosen der Cardiagegend, zur Prüfung des physio-
logischen und pathologischen ^lageninhalts und zur Diagnose der ver-
schiedenen Krankheiten des Magens, die sich immer weiter vervoll-
kommnete.
Im letzten Menschenalter lag der Schwerpunkt in der patho-
logischen Erforschung der Magenkrankheiten weniger auf dem patho-
logisch-anatomischen Befund, als auf der Erkenntnis der physiologischen
Funktionsstörungen, an die das therapeutische Vorgehen anknüpft.
Das verfeinerte Studium der physiologischen Funktionsstörungen,
deren genaue Feststellung erzielt und erreicht wurde, ist für den
heutigen Stand der Lehre von den Magenkrankheiten charakteristisch.
Nachdem Kussmaul 1869 die Sonde und Magenpumpe in die
Behandlung eingeführt hatte, war es das bleibende Verdienst Leubes
44*
692 Georg Korn.
(1871), zuerst die Magensonde zu diagnostischen Zwecken verwendet
zu haben. Durch die Sonde suchte Leube zweierlei zu erreichen,
einesteils die zeitliche Dauer der Verdauung, andererseits die Stärke
der Saftsekretion festzustellen. Leubes Methode der Prüfung der
zeitlichen Dauer der Digestion ist auch heute noch allgemein üblich,
dagegen ergab seine Methode zur Prüfung der Stärke der Saft-
sekretion, weil am nüchternen Magen angestellt, keine entscheidenden
Eesultate. Der Vorschlag Leubes, die Sonde auch zu diagnostischen
Zwecken zu verwenden, blieb lange Zeit gänzlich unbeachtet.
Einen neuen Anstoss gab erst die im Jahre 1879 aus Kussmauls
Klinik erschienene Arbeit v. d. Veldens. Er untersuchte mit ge-
wissen Farbstoifreagentien, die eine deutliche Eeaktion mit Salzsäure
geben, den Mageninhalt einer Eeihe von Kranken mit Magenerweite-
rung und fand dabei, dass der Mageninhalt in der einen Reihe von
Fällen mit diesen Farbstoffen Salzsäurereaktionen gab, in einer
anderen nicht, und zwar fand er letzteres Verhalten bei den carcino-
matösen Ektasien, während bei den nicht carcinomatösen Ektasien
die Reaktionen positiv ausfielen. Aus diesem Fehlen der Farbstoff-
reaktionen bei carcinomatösen Ektasien schloss v. d. Velde.n, dass
hier überhaupt keine Salzsäure abgesondert werde.
Riegel bestätigte diese Resultate im wesentlichen und dehnte
die Untersuchung des Mageninhalts auf alle hartnäckigen Magen-
krankheiten überhaupt aus. Um aber vergleichbare Werte zu erhalten,
empfahl er den ausgeheberten Mageninhalt auf der Höhe der Ver-
dauung, nach Einführung einer stets in gleicher Weise zusammen-
gesetzten Probemahlzeit, auf seinen Verdauungszustand, auf sein Ver-
halten gegen diese Farbstoffreageutien, sowie auf seine etwa noch
vorhandene Verdauungskraft zu untersuchen.
Später erfolgten weitere Vorschläge in anderer Weise zusammen-
gesetzter Probemaillzeiten, so von Haworski, Boas und Ewald,
Klemperer, See u. a. Unter allen Methoden hat sich die von
Riegel empfohlene Probemittagsmahlzeit und das Ewald-Boassche
Probefrühstück am meisten eingebürgert.
Bald ergab sich, dass der negative Ausfall der Farbestoff-
reaktionen keineswegs allein dem Pyloruscarcinom zukommt. Schon
1880 wies Edinger nach, dass auch in Fällen von amyloider
Degeneration der Magenschleimhaut die Farbstoffreaktionen negativ
ausgefallen waren, d. h. die freie Salzsäure gefehlt hatte. Das Gleiche
zeigte sich bei Magenverätzung. Damit war erwiesen, dass dieses
Fehlen der reinen Salzsäure kein absolut pathognomonisches Symptom
des Magencarcinoms ist.
In die nächste Zeit fällt das eifrige Bestreben, neue Farbstoff-
reagentien zum Nachweis der Salzsäure im Mageninhalt aufzufinden,
die meist wieder der Vergessenheit anheimgefallen sind. Nur ein aus
früherer Periode stammendes Reagens behauptete seinen Platz, das
Uf fei mann sehe Reagens (Mischung von Eisenchlorid und Karbol-
säure) zum Nachweis der Milchsäure. Aus späterer Zeit stammen das
bald eingebürgerte Congorot (1886) und Phloroglucinvanillin (1887).
Bedroht wurden die bisherigen Ergebnisse in der Salzsäurefrage
durch die Arbeit von Cahn und v. Mering (1886). Es gelang diesen
nämlich durch ein besonderes Verfahren, in ausgeheberten Massen,
die keine Farbstoffreaktionen gaben, dennoch Salzsäure nachzuweisen.
Sie verwarfen daher die Farbstoffreageutien und behaupteten, dass
^
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 693
in solchen carcinomatösen Magensäften nicht das Fehlen, sondern das
Vorhandensein von Salzsäure die Eegel sei.
Die Nachprüfungen Honigmanns und v. Xoordens klärten
dann die Salzsäurefrage auf. Durch ihre Untersuchungen wurde nicht
nur das Ausbleiben der Eeaktionen beim Carcinom erklärt, sondern
dem Beginffe der freien Salzsäure neuer Inhalt gegeben. Ein Magen-
saft, der die Salzsäurereaktionen giebt, hat seine Schuldigkeit ge-
than, denn er hat freie oder überschüssige Salzsäure. Umgekehrt
musste da, wo keine freie Salzsäure sich fand, wo die Farbstoff-
reaktionen negativ ausfielen, die Menge des Verdauungssekretes eine
ungenügende sein. Damit waren die Farbstoffreagentien, die auf freie
Säure oder Salzsäure reagieren, wieder anerkannt.
Bald schritt man nun zu einer quantitativen Säurebestimmung,
man ermittelte die Gesamtacidität, und unterschied normalen Chemis-
mus, Superacidität und Subacidität. Das Suchen nach möglichst
exakten Methoden für die quantitative Bestimmung beschäftigte die
Forschung eine Eeihe von Jahren, und zahlreiche Methoden der Salz-
säurebestimmung wurden im Laufe der Zeiten angegeben, geübt und
wieder verlassen.
Stand die Salzsäurefrage so lange Zeit hindurch im Vordergrunde
der Magenpathologie, so machte sich doch in neuerer Zeit immer
mehr das Bestreben geltend, auch nach anderen Seiten hin die Ein-
sicht in das Wesen der einzelnen Magenkrankheiten zu vertiefen. In
jüngster Zeit wurden namentlich die Störungen der Motilität, der
Resorption, die Bedeutung der Gasbildung, der Gasgärungen u. s. w.
Gegenstand eifriger Forschungen, die Prüfung der motorischen Thätig-
keit des Magens, für die zuerst Leube eine Methode angab, wurde
durch die Oelmethode von Klemperer (1888), die Salolmethode von
Ewald und Sievers (1887), den Gastrograph von Einhorn (1894)
weiter ausgebildet. Zur Magenspülung gesellten sich in der Therapie
]^Iagendouche und Massage des Magens, die Ernährungstherapie er-
freute sich besonderer Pflege, ebenso die anderen physikalisch-diäte-
tischen Methoden. Viele Krankheitsformen, die früher ihrem Wesen
und dem Zusammenhang ihrer Erscheinungen nach unzugänglich
schienen, können jetzt geheilt oder doch gelindert werden, namentlich
auch durch die Mitwirkung der Chirurgie auf manchen Gebieten.
In der Therapie des Magengeschwürs spiegelt sich die ge-
schichtliche Entwicklung der Pathologie und Therapie der Magen-
krankheiten in der Neuzeit anschaulich wieder. Eine der wichtigsten
Erscheinungen des Magengeschwürs beschreibt schon Hippokrates
als eine besondere Krankheit; Morbus niger und sphacelosartige
Krankheit nannte er sie, weil die schwarzen ^fassen in Form von
Klumpen erbrochen wurden oder nach unten abgingen. Allerdings
können auch andere Zustände ein ähnliches Kraiikheitsbild herbei-
führen, aber manche Züge des ^forbus niger des Hippokrates sind
charakteristisch für das ^iagengeschwür und seine diätetischen Regeln
haben eine für alle Zeiten giltige Grundlage für die Behandlung des
Magengeschwürs gegeben.
Hippokrates bezeichnete die beim Morbus niger nach oben und
unten entleerten Massen als schwarze Galle, Atra bilis. Diese
Bezeichnung erhielt sich, bis Fr. Hoffmann in Halle 1740 für
manche Fälle nachwies, dass der Sitz und die Quelle des Morbus niger
der klagen sei. „Dort liefern die Gefässe, welche gleichzeitig mit der
694 Georg Korn.
Zerstörung der Substanz des Magens eröffnet werden oder aufbrechen,
das Blut, welches durch Erbrechen ausgeworfen wird, — ]\[an muss
annehmen, dass die Gefässe durch saure, ätzende Säfte angefressen
wurden, wenn dem Erbrechen ein scharfer Magenschmerz voraus-
gegangen und wenn die durch Erbrechen entleerte blutige Masse
schwarz und sauer zugleich ist, die Zähne stumpf macht und Schlund
und Mund anätzt."
Morgagni schloss sich der einfachen Erklärung von Fr. Hoff-
mann nicht an; er nahm eine Art von Gangrän im Magen an und
glaubte, die Leute, welche an Morbus niger zu Grunde gehen, stürben
nicht etwa am Blutverlust, sondern an einer Art von Vergiftung des
Blutes, welche das Gehirn infizierte, etwa wie Leute, die an Gangrän
sterben. Er bleibt bei der Eigenartigkeit der Atra bilis Hippocratis
stehen. Morgagni erwähnt auch das Erbrechen von chokoladefarbenen
Massen und lauchgrüner Flüssigkeit in grossen Mengen und schildert
in der Krankengeschichte eines deutschen Edelmanns in Bologna die
Zustände der kontinuierlichen Saftsekretion, die unter den Erschei-
nungen der gastrischen Tetanie in kurzer Zeit den Tod des Kranken
herbeiführte.
Von Hoffmanns Mitteln sind einige Vorbilder moderner Methoden,
so die mit Stärke gekochte Milch, die kleisterartig die klaffenden
Gefässe schliessen soll, für Carnots lokale Gelatineapplikation, sein
Rhabarberpulver mit Krebssteinpulver (kohlensaurem Kalk) gemischt
für die beliebten Mischungen von Ehabarber mit Alkalien, das
Leubesche und das Siegeische Pulver u. s. w.
Die Bezeichnung „Ulcus ventriculi" findet sich zuerst bei
Johann Peter Frank; von ihm stammt auch die Verordnung ab-
soluter Euhe (summa quies corporis imperanda), die Applikation von
Schnee oder gestossenem Eise auf den Magen und die Anwendung
von kleinen, aber häufigen Portionen von Milch oder von Fleisch-
brühe, die er mit Blättern von Rumex acetosa abkochen liess und
endlich Verwendung des Serum lactis albuminatum als Blutstillungs-
mittel.
Aber erst Cruveilhier verbreitete genauere Kenntnisse von
der Pathologie des Magengeschwürs; er bildete zumeist in seiner
Anatomie pathologique du corps humain Magengeschwüre ab und be-
schrieb zum erstenmal das Ulcus simplex chronicum. Die beliebten
Brechkuren wurden seit seinen Aufklarungen mit einem Schlage be-
seitigt. Auch die Therapie dieses Leidens leitete er durch systematische
Anwendung der Milchdiät, Fernhalten aller Medikamente und metho-
disches Individualisieren in der Diät. Vor allem empfahl er Ruhe:
„Le repos pour l'estomac, c'est la diete".
Fast das gesamte über die Krankheiten des Magens bis zum Ende
der fünfziger Jahre bekannt gewordene Material fasste dann W i 1 1 i a m
Brinton in seinen im St. Thomas-Hospital gehaltenen Vorlesungen
zusammen. Auf den Lehren der Verdauungsphysiologie begründete er
sein diätetisches Sj^stem als beste Behandlungsmethode. Er nahm
schon in den fünfziger Jahren an, was erst viel später durch Pawlow
und dessen Schule bewiesen wurde, dass Menge und Art der Nahrung
die Sekretion des Magensaftes beeinflusst, und zog aus dieser, der
klinischen Erfahrung entnommenen Erscheinung therapeutisclien
Nutzen.
Der französische Kliniker Trousseau empfahl Bismutum sub-
Terdauungsapparat. Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 695
nitricum in der Behandlung des Magengeschwürs. Nicht lange nach
dem Erscheinen des Trousseauschen ..Clinique medicale", am Ende der
sechziger Jahre, kamen Kussmauls erste Mitteilungen über seine
neue Behandlung der Magenerweiterung mittelst der Magenpumpe,
welche die gesamte Therapie der Magenkrankheiten mächtig förderte.
Erst die chemisch-phj'siologische Untersuchung des nach Kussmauls
Vorgange zunächst aus krankem und dann auch aus gesundem Magen
entnommenen Inhaltes gab richtige Vorstellungen A'on den normalen
und krankhhaften Vorgängen im Magen. Kussmaul empfahl die
Wismutbehandlung der Geschwüre ; mit Hilfe der Magensonde brachte
er grosse Giengen des altbewährten Bismutum subnitricum dergestalt
in die erkrankte Kegion des Magens, dass dort die zu Eeizerscheinungen
Anlass gebende Stelle mit einer Schutzdecke von Wismut überlagert
und von der Berührung mit dem Mageninhalte abgeschlossen wird.
Die Verengerungen des Magenausganges und die von
diesen abhängige Magener Weiterung, die häufigsten und wich-
tigsten Folgen von Geschwürsnarben, galten noch vor wenigen Jahr-
zehnten als unheilbar und unsäglich qualvoll. Seit Kussmauls ^lethode
der Magenspülungen wurden sie in ihren Erscheinungen gemildert
und nicht selten geheilt. Trotz der glänzenden Erfolge seiner Be-
handlungsmethode erkannte Kussmaul doch, dass man durch Magen-
spülungen Magenerweiterungen nur zu heilen vermag, wenn keine
oder nur eine massige Verengerung des Pförtners oder des Duodenum
vorliegt. Er hielt hier als erster die Hilfe des Chirurgen für nötig
und sein Gedanke hat vielleicht erst seinen Freund Billroth ange-
regt, den Magen auf operativem Wege in Angriff zu nehmen. Ebenso
forderte Kussmaul auch bei Perforation des Magens, schon in einer
Zeit, wo Magenoperationen noch nicht ausgeführt wurden — die erste
Operation führte 1881 Rydygier aus — die Hilfe des Chirurgen da,
wo die internen Mittel versagten. In einer Strassburger Dissertation
(von P. Koch) aus dem Jahre 1880 wird nämlich als Kussmauls
Ueberzeugung ausgesprochen, dass man dahin kommen wird, in an-
scheinend verlorenen Fällen noch günstige Bedingungen für die
Heilung zu schaffen ..durch Eröffnung der Bauchhöhle, Auswaschung
der verderblichen Massen und regelrechte Naht der Perforationsstelle,
nachdem man sie vielleicht in eine in normalem Gewebe gelegene
Schnittwunde umgewandelt hat".
Auf der durch Kussmaul gewonnenen Grundlage beruht die von
Ziemssen (1871) eingeführte Behandlung des Magengeschwürs,
welche die Neutralisation der Magensäure, die Beseitigung der sauren
Gärung des Mageninhaltes und die tägliche regelmässige Entleerung
des gesamten Mageninhaltes in den Darm als wichtigste Indikationen
aufstellte. Karlsbader Kur, strenge Diät und symptomatische An-
wendung des Morphiums waren die Hauptmittel der Therapie.
Auf ähnlichen Grundsätzen baute W. Leube (seit 1873) seine
Kur auf. Keine bessere Diät fand er (gleich Cruveilhier), als Ruhe.
Strenge Bettruhe leitet die Kur deshalb ein, das Karlsbader Salz be-
hielt er bei und führte in die Geschwürsdiät die Fleischsolution
als ein wirkungsvolles Präparat ein. Weiteren Ausbau erhielt die
Lehre vom Magengeschwüre dann in neuester Zeit u. a. durch Ewald,
Boas, Rosenheim, Riegel, Penzoldt, v. Mering und W.
Fl ein er. (Vgl. W. Fleiner, Die Behandlung des Magengeschwürs,
München, Med. Wochenschrift 1902. No. 22—24.)
696 Georg Korn.
In der Zeit der Antisepsis und Asepsis wurde auch die Chirurgie
mehr und mehr in schweren Fällen von Magenerkrankungen zur
rettenden Helferin der inneren Medizin, wo deren Mittel versagten.
Chirurgische Eingrilfe in den Magen sind schon lange vor
der antiseptischen Zeit vereinzelt vorgekommen; sie richteten sich
gegen Fremdkörper, die von aussen fühlbar waren und ausgeschnitten
wurden. Florian Mathis (1602), ein Bader in Prag, und Daniel
Schwabe (1635), ein Bader in Königsberg, sollen auf diese Weise
zum erstenmal verschluckte Messer entfernt haben. In dringenden
Fällen wurden solche Operationen auch später des öfteren vorge-
nommen.
Den Gedanken, den krankhaft entarteten Pylorusteil des Magens
wegzunehmen, führte bereits 1810 Merrem in einer Dissertation
aus. Er suchte die Möglichkeit der Pylorusresektion durch Experimente
an drei Hunden darzulegen, die jedoch ungünstig verliefen. Merrems
Vorschläge wurden damals wenig ernst genommen und kaum be-
achtet; noch 1825 bezeichnete sie Seh reger ausdrücklich als einen
Traum,
Im Jahre 1837 empfahl der norwegische Arzt Egeberg, durch
den traurigen Zustand von Patienten mit unheilbarer Speiseröhren-
verengerung veranlasst, für deren Ernährung die Anlegung einer
Magenfistel. Zwar legten schon bald nachher die Physiologen bei
Tieren zum Studium der Verdauuungsvorgänge Magenfisteln an, aber
erst 1849 führte Sedillot in Strassburg Eggebergs Vorschlag aus
und die Magenfistelbildung zur direkten Zufuhr von Speisen blieb
seitdem in Uebung. In neuester Zeit erfuhr sie wesentliche Ver-
besserungen.
Die Excision des Magencarcinoms wagte zuerst Pean in Paris
1879, dann 1880 Rydygier in Kulm. Inzwischen hatten seit 1874,
vielleicht angeregt durch Kussmaul, Billroth und seine Schüler
(Gussenbauer, Winiwarter, Czerny) den Gedanken kranke
Magenteile zu resezieren, durch experimentelle und statistische Unter-
suchungen, auch der Sektionsprotokolle bei Magencarcinom, verfolgt
und vorbereitet. Im Jahre 1881 unternahm dann Billroth die Operation,
die erste mit glücklichem Erfolge. Die Magenoperationen wurden
dann durch seine Schüler Wölfler (1881) und v. Hacker, welche
Pylorusstenosen durch Bildung einer Anastomose zwischen Magen und
Jejunum umgingen, durch Mikulicz (1887) u. a. weiter aus-
gebildet.
Auch auf den Gebieten der Pathologie und Therapie der Leber-
und Gallenkrankheiten, der Erkrankungen der Bauchspeichel-
drüse, den Leiden des Darmes und der Blase, der Harnröhren
und der Nieren machten sich im Laufe des neunzehnten Jahr-
hunderts, namentlich gegen dessen Ende hin, ähnliche Verhältnisse
vielfach geltend, wie bei den Magenkrankheiten. Insbesondere gilt
dies von der Verfeinerung der Diagnostik und dem Aufschwung der
Therapie durch Einführung neuer oder verbesserter und umgestalteter
mechanisch-physikalischer Hilfsmittel und dem immer weiter aus-
gedehnten Vordringen der Chirurgie im Gebiete der inneren Medizin,
die ihr früher als unnahbar gelten mussten. Auch die Erkenntnis,
dass häufig Mikroorganismen als Infektionsträger ätiologisch eine
bisher ungeahnte Rolle spielen, wurde in der Epoche der modernen
Bakteriologie auf allen diesen Gebieten zum Gemeingut. Ein Blick
"Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 697
auf die Entwicklung der Pathologie bei einzelnen Leiden aus diesen
Gebieten wird dies des näheren erweisen.
S. Th. Sömmering konnte schon im Jahre 1795 in seiner
Schrift ..De concrementis biliariis corporis humani" 213 Autoren
citieren. die über Gallenstein geschrieben hatten, dazu 15 Werke
mit Abbildungen. Aber grosse Fortschritte sind in der Erkenntnis
wesentlich erst in jüngster Zeit und namentlich durch Naunyns
grundlegende Arbeiten zu verzeichnen. Naunvn sagte in Paris 1900:
..Die Lehre von der Cholelithiasis hat in diesem letzten Jahrzehnte
eine vollständige Umgestaltung erfahren. Aetiologie und Pathogenese
werden gegenwärtig von der Infektion beherrscht und von dieser
getragen strebt in der Therapie die Chirurgie nach der Alleinherr-
schaft." Nachdem es gelungen war, durch künstliche Infektion der
Gallenblase Steinbildung hervorzurufen, erschienen Zweifel am bak-
teriellen Ursprünge der Gallensteine kaum noch gerechtfertigt. Zu
berücksichtigen war allerdings, dass experimentell Vorbedingungen
geschaffen werden mussten, wie sie beim Menschen nicht existieren.
Einfache Einspritzung von Infektionsträgern in die Gallenblase
führte zu negativen Resultaten, die Tiere wurden dadurch nicht lokal
infiziert, viel weniger bekamen sie Steine. Will man letztere hervor-
rufen, so muss nach Mignot (1898) die Kontraktilität der Gallen-
blase aufgehoben, sondern dürfen nur Bakterien mit abgeschwächter
Virulenz eingespritzt werden. Die verschiedensten Infektionsträger
wurden von ihm wie von Miyake (1900 1 mit positivem Eesultate
einverleibt.
Diese Experimente bestätigten allgemein gehegte Anschauungen.
Dass Steine in einer ganz intakten Gallenblase entständen, glaubte
wohl niemand. Der Katarrh der Galle wird wahi^scheinlich durch
Mikroorganismen angeregt, so dass die Einzelheiten der Steinbildung
auf diese zurückführen. Eine gewisse Disposition zur Steinbüdung
muss dabei vorhanden sein.
Welch grosser Umwege es bedurft hat, die Pathologie der Gallen-
steinkrankheit auf die heutige Höhe der Forschung zu führen, lehrt
ein historischer Rückblick auf die Geschichte der Cholelithiasis, wie
sie sich seit Jahrhunderten gestaltet hat.
Im Altertum und Mittelalter wird merkwürdigerweise das Vor-
kommen von Gallensteinen nicht erwähnt. Erst Antonius
Benivenius, der 1582 starb, erwähnt solche, die bei der Sektion
einer Frau sich in der Gallenblase und neben ihr fanden, die an
Schmerzen in der Lebergegend gelitten hatte, und führt auf sie den
Tod zurück. Fernel gab 1554 schon eine gute Beschreibung des
Vorkommens von Gallensteinen und der dabei auftretenden Symptome.
Er weiss, dass Verstopfung des Choledochus zur Anschwellung der
Gallenblase, weisser Verfärbung der Fäces, dunkler des Urins führt,
während bei Hepaticusverschluss die Gallenblase leer ist. Die in der
Gallenblase gebildeten Konkremente seien meist schwarz und immer
leicht, so dass sie auf dem Wasser schwimmen. Sie entstehen nach
ihm aus der Galle, die zu lange zurückgehalten, nicht entleert oder
erneuert ^\1rd, besonders kommen sie bei Verstopfung des Gallen-
blasenganges zustande. Die Krankheitserscheinungen sind oft undeut-
lich und nicht geeignet, die Diagnose sicher zu stellen.
Eine Reihe weiterer Beobachter folgten ; wertvoll waren nament-
lich Glissons anatomische Untersuchungen (1569), der auch die
698 Ge*rg Korn.
Leberkolik, verbunden mit Ikterus, aus eigener Erfahrung schildert.
Zur selben Zeit werden von Blasius u. a. die ersten Fälle von
Abscessbildung infolge von Gallensteinen geschildert. Sydenham
fasste die Leberkolik nur als ein hysterisches Zeichen auf, erwähnt
aber nichts von Gallensteinen. Ausführlich behandelte Friedrich
Hoff mann die Steinbildung, die er auf Stagnation der Galle zurück-
führt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kommt helleres
Licht in die Lehre von dem Gallensteinleiden durch die experimentellen
und pathologisch-anatomischen Studien Hallers, Morgagnis, Four-
croys, Vicq d'Azyrs u. s. w. Ein treues Bild der damaligen
Kenntnisse giebt Morgagnis Werk ,.De sedibus et causis raorborum".
Im 19. Jahrhundert wurde dann die Klinik der Cholelithiasis durch
Andral, Trousseau, Frerichs u. a. gefördert; die Bildung der
Gallensteine ist seit dem x4Lufschwung der physiologischen Chemie
namentlich durch Naunyn erhellt, und die Chirurgie der Gallen-
wege durch Kocher, Sims, Langen buch, Küster, Cour-
roisier u. a. in neuester Zeit erfolgreich ausgebaut worden.
Die Bauchspeicheldrüse, das Pankreas, blieb lange in dunkler
und unbekannter Verborgenheit. Ob Hippokrates dies Organ
kannte ist zweifelhaft. Galen erwähnt es unter dem Namen Pankreas,
der von der hippokratischen Vorstellung ausgeht, nach welcher die
Drüsen „ganz aus Fleisch" bestehen. Das Aufleben der anatomischen
Forschung im 16. Jahrhundert brachte auch einige Fortschritte der
Kenntnisse vom Pankreas. Vesal, Fallopius, Bauhin erwähnen
es, ohne jedoch näheres über Bau und Verrichtung zu berichten.
Der wichtigste Fortschritt in der Erkenntnis des Organs wurde
1642 durch Georg Wirsüng gemacht, einen Bayern, der in Padua
Prosektor des Professors Johann Vesling war. Er entdeckte den
Ausführungsgang der Drüse, sowie dessen Einmündung ins Duodenum
und teilte seinen wichtigen Fund in einem ausführlichen Briefe dem
berühmten Pariser Anatomen Johann Eiolan mit (vgl. M. Schirmer'
Beitrag zur Geschichte und Anatomie des Pankreas. Dissertation-
Basel 1893). Wirsüng konnte sich jedoch seines jungen Entdecker-
ruhms nicht lange erfreuen, da er etwa ein Jahr nach jenem Briefe
in Padua von einem Dalmatiner aus Privathass (nicht aus Eifersucht
wegen seiner Entdeckung) meuchlings erschossen wurde. Lange Zeit
nach seinem Tode wurde von J. M. Hoff mann in Altdorf behauptet,
dass er den Ausfuhrungsgang ein Jahr früher beim indischen Hahn
gefunden und seinem Freunde Wirsüng gezeigt habe. Jedenfalls hat
ihn dieser aber zuerst beim Menschen nachgewiesen, auch giebt er
bereits an, dass zuweilen beim Menschen und bei Tieren ein doppelter
Gang vorkäme.
Erst Santorini zeigte in einer Arbeit, die 38 Jahre nach seinem
1737 erfolgten Tode veröffentlicht wurde, dass ausser dem Haupt-
gange, der noch heute nach dem Entdecker „Ductus Wirsungianus"
genannt wird, beständig ein zweiter kleinerer Ausführungsgang ins
Duodenum führt, welcher seitdem nach ihm als „Ductus Santorini"
bezeichnet Avird. Merkwürdigerweise wurde seine Entdeckung ver-
gessen; die meisten Anatomen nahmen in der Eegel das Vorhanden-
sein eines einzigen Ausführungsganges an, und in seltenen Ausnahme-
fällen käme ein zweiter Nebenausführungsgang hinzu. Erst durch
Verneuil 1851 und Bernard (1856) wurde das beständige Vor-
kommen zweier Gänge wieder hervorgehoben. Der Name „Bauch*
Verdaiiungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 699
Speicheldrüse" wurde durch Sömmering in die deutsche Anatomie
eingeführt.
Den Fortschritten der Anatomie folgte sehr langsam die Erkennt-
nis der physiologischen Bedeutung der Drüse, welche nach vorbe-
reitenden Arbeiten verschiedener Forscher erst von Claude Bernard
(1856) zu einem gewissen Abschluss gebracht wurde. Dieser erkannte
zuerst nach zahlreichen Versuchen, deren Resultate er in seinem
..Memoire sur le Pancreas" zusammenfasste, dass das Sekret der
Drüse auf alle drei Kategorien von Xahrungsstoffen einen Einfluss
ausübe. Es wandelt Stärke in Zucker um. zerlegt Fette in Fett-
säuren und Glycerin, emulgiert ausserdem neutrale Fette und endlich
vermag es Eiweiss zu lösen. Corvisart (1857) wies besonders auf
die letztere Fähigkeit des Pankreassaftes hin. B i d d e r und Schmidt,
Kühne. Heidenhain förderten weiterhin die Kenntnis von der
Wirkung des Sekretes.
Die Pathologie des Pankreas entwickelte sich erst sehr spät.
Bamberger schrieb im Jahre 1855 mit Recht: ,.Zu einer Zeit, als
man von dem feineren Bau und der Funktion des Pankreas noch gar
nichts wusste. glaubte man über die Krankheiten des Organs die
ausgedehntesten Kenntnisse zu besitzen." Die latrochemiker wiesen
dem Pankreas eine sehr bedeutende Rolle in der Pathologie zu. Einer
von ihnen, Bernhard Swalve. veröffentlichte 1677 eine Schrift, in
der er die Anschauungen seiner Zeitgenossen niederlegte: ..Pancreas
pancrene s. pancreatis et succi ex eo profluentis commentuni suc-
cinctum".
^[ 0 r g a g n i und L i e u t a u d brachten Mitteilungen über Sektions-
befunde bei Krankheiten des Pankreas. Auch klinische Mitteilungen
über die an derartigen Fällen gemachten Beobachtungen wurden im
18. Jahrhundert mehrfach veröffentlicht. Rahn gab 1796 Beiträge
zur ..Diagnosis scii-rhorum pancreatis". Aus dem Anfange des neun-
zehnten Jahrhunderts stammen Schriften von Harles und Schmack-
pfeffer. Becourt gab 1830 einen Ueberblick über das bis dahin
Bekannte und fügte neue Beobachtungen hinzu. Kurz darauf gab
Mondiere (1836) ebenfalls eine referierende Zusammenstellung des
vorhandenen Stoffes, und Joseph Frank folgte 1843 mit einer ähn-
lichen Arbeit. Von besonderer "Wichtigkeit ist die Schrift von
Clansen (1846) für die Lehre von den Krankheiten des Pankreas,
weil sie die gesamte ältere Litteratur sammelte und das grosse
Material von Einzelbeobachtung kritisch sichtete; sein "Wert giebt
den gesamten Stand der damaligen Kenntnisse über diesen Gegen-
stand wieder. Weniger kritisch ist Ancelets Schrift (1866), doch
lenkte sie durch eine mühevolle Sammlung zahlreicher Einzelbeobach-
tungen von Pankreaskrankheiten die Aufmerksamkeit der Fach-
genossen wieder auf dies Kapitel der Medizin.
Einen grossen Fortschritt bedeutete dann Friedreichs Arbeit
in Ziemssens Sammelwerk (1878), der in streng wissenschaftlicher
Weise vom Standpunkte des inneren Klinikers aus die Krankheiten
des Pankreas behandelte, aber dabei die vorhandenen grossen Lücken
der Erkenntnis scharf betonte.
Die pathologische Anatomie der Bauchspeicheldrüse be-
handelte nach Rokitansky und V i r c h o w namentlich K 1 e b s (1874),
der zuerst die pathologischen Affektionen des Pankreas ausführlicher
darstellte und eine gewisse Grundlage schuf Si)äter (1894) stellte
700 Georg Korn.
Dieckhoff wichtige Untersuchungen auf diesem Gebiete an. Die
^Entzündungen des Organs bearbeitete Filz (1890) gründlich;
eine eingehende Studie über Blutung, Entzündung, brandiges Ab-
sterben des Pankreas gab dann Seitz 1892. Eine reiche Litteratur
rief die Entdeckung v. Merings und Minkowskis hervor, dass
nach totaler Entfernung des Pankreas bei Tieren Diabetes eintritt.
Das Pankreas war eines der letzten Organe, an die das Messer
des Chirurgen sich gewagt hat. Erst seit dem Anfang der achtziger
Jahre des 19. Jahrhunderts kann man von einer Chirurgie des
Pankreas sprechen. Eröffnet wurde sie durch die von Gussen-
bauer angebahnte Erkenntnis und Behandlung der Cysten. 1884
veröJBfentlichte Seen seine Chirurgie des Pankreas, dessen Entzündung,
Eiterung und Nekrose, dann Körte, dessen topographisch-anatomische
Verhältnisse für die Exstirpation fester Geschwülste Krön lein be-
arbeitete. Litterarisch wurde dann die Chirurgie des Pankreas be-
handelt von Nimier (1893), Madelung (1896) und namentlich von
W. Koerte (1898).
Die Hämorrhoiden, die Blutungen der erweiterten Mastdarm -
venen, haben in der Pathologie der früheren Jahrhunderte eine sehr
wichtige Rolle gespielt. Dass die Krankheit im Altertum bereits be-
kannt war, geht aus mehreren Stellen bei Hippokrates und C e 1 s u s
hervor, und es finden sich hier bereits, soweit es sich um rein ob-
jektive Angaben handelt, eine Reihe treffender und feiner Beobach-
tungen niedergelegt. Eine ganz besondere Aufmerksamkeit wandten,
wie oben erwähnt, G. E. Stahl, Hoff mann und Alberti am Be-
ginn des 18. Jahrhunderts der Hämorrhoidalkrankheit zu. Eine Reihe
ihrer Werke geben davon ausführlich Kunde: G. E. Stahls „Abhand-
lungen von der goldenen Ader", Leipzig 1729, desselben Schrift „De
haemorrh. mot. et fluxuum haemorrh. diversitate", Offenbach 1731,
ferner Stahls „De dubia et suspecta haemorrhoid. laude", Halle 1733;
von F. Hoff mann: „De salubritate fluxus haemorrh.", Halle 1708,
„De immod. haemorrh. fluxione", Halle 1730, „De cephalaea cum
haemorrhoidali fluxu", Halle 1735; von Albertus endlich die folgen-
den Veröffentlichungen:
„Tractus de haemorrhoidibus", Halle 1722, „De haemorrh. et
mensium consensu", Halle 1719, „De haemorrh. symptom. et pernicie",
Halle 1726, „De haemorrh. feminarum", Halle 1727, „De haemorrh.
suppressione", Halle 1718, „De diff. haemorrh. ab aliis cruentis alvi
fluxibus", Halle 1727, „De haemorrh. gravidarum et puerperarum",.
Halle 1727, „De haemorrh. praeservatione", Halle 1727, endlich „De
haemorrh. juniorum", Halle 1727. Schon die Anführung dieser zahl-
reichen Titel weniger Autoren zeigt die Wichtigkeit, welche man
damals den Hämorrhoiden beilegte.
Eine reiche Litteratur schloss sich bis in die Gegenwart hinein
an diese Veröffentlichungen, so dass wenig Krankheiten litterarisch
so umfangreich vertreten sind, wie diese. Es entspringt dies aus der
Auffassung der früheren Aerztegenerationen von dem Wesen der
Krankheit. Sie waren gewöhnt, die Ausbildung von Hämorrhoiden
als den Ausdruck einer Konstitutionsanomalie anzusehen. Es spricht
sich diese Anschauung namentlich darin aus, dass sie der Erblichkeit
eine sehr weitgehende ätiologische Bedeutung einräumten. Auch
pflegten sie in den hämorrhoidalen Blutungen eine Art von heilsamem
Vorgange zu erblicken, durch welchen der Organismus das Bestreben
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 701
habe, sich aller unreinen und krankmachenden Säfte zu entledigen.
In der Regel führen hämorrhoidale Blutungen, wenn sie nicht zu
stark sind und dadurch die unangenehme Empfindung der Schwäche
hervorrufen, ein Gefühl von Erleichterung und Wohlbefinden herbei.
Hieraus ist es zu erklären, dass die ältere Medizin der Hämorrhoidal-
blutung für eine Art natürlichen Reinigungsvorganges des Organismus
angesehen hat, und dass auch heute noch von Laien (wie das Volk
überhaupt häufig frühere überwundene Anschauungen der wissen-
schaftlichen Medizin hartnäckig festhält) die Blutung als eine günstige
Wendung und als ein für die ganze Gesundheit bedeutungsvoller Vor-
gang begrüsst wird. Ging man doch so weit, aus dem Nichtwieder-
erscheinen von Blutungen eine Reihe von Krankheiten anderer Organe
abzuleiten, und unter Umständen auch selbst eine Hämoptoe, den
häufigen Vorläufer von Lungenschwindsucht, als die Folge veretockter
und versetzter Hämorrhoiden zu bezeichnen.
Die moderne Medizin, die namentlich seit dem Erscheinen von
Virchows Cellularpathologie die Krankheitsprozesse mehr örtlich zu
konzentrieren suchte, ging in der Erklärung der Hämorrhoidal-
erscheinungen weit nüchterner und mehr mechanisch zu Werke. Sie
erkannte als Ursachen für die Entwicklung von Phlebektasie der
Hämorrhoidalnerven keine anderen Ursachen als Zirkulationsstörungen
im Pfortadergebiet an, und erblickte in der Blutung nichts weiter als
den Höhepunkt der Wirkung, welche die Blutstockung nach sich zieht.
Neben den lokalen Symptomen treten allerdings auch allgemeine
Symptome auf (Störungen der Verdauung, psychische Symptome), die
jedoch früher vielfach übertrieben und in dem Kapitel der Krankheits-
ursachen arg missbraucht wurden, um ätiologisch unbekannten Krank-
heiten eine Art von Erklärung unterzuschieben. Die Therapie wurde
ausser durch diätetische Massnahmen in neuester Zeit auch durch
chirurgische Eingriffe (Karbolinjektionen und verschiedene Operationen)
für schwerere Fälle wesentlich ergänzt.
Die Pathologie und Therapie der T y p h 1 i t i s und Perityphlitis
ist erst seit den dreissiger Jahren des 19. Jahrhunderts wissenschaft-
lich genauer erforscht worden. Wohl finden sich bei Ar et aus und
bei Celsus schon Erwähnungen hierher gehöriger Krankheitsfälle
und einige Fälle von Abnormitäten des Wurmfortsatzes wurden
weiterhin beschrieben, aber erst im 18. Jahrhundert zeigt sich das
Streben nach Erklärung der Ursachen der Erkrankungen. Es bricht
sich die Meinung durch, dass eine Kotretention und Kotverdickung
die Entzündung bewirke, so bei Morgagni und Boerhaave. Mehr-
fach wird ein Brandigsein des Wurmfortsatzes und off"enbar nicht
erkannte Kotsteine beschrieben. Die erste eingehendere Beschreibung
des Krankheitsbildes lieferte Peter Frank (1792 in ,.De curandis
hominum morbis epitome"). Unter dem Namen Peritonitis muscularis
und Psoitis führte er in einer Reihe von Fällen an, die das Bild einer
Perityphlitis zeigen; aber schon seine Benennungen zeigen, dass er
nicht den Kern der Sache erkannte. Therapeutisch empfahl er neben
allgemeiner und örtlicher Blutentziehung Nitrum in Mohnsamenemulsion
mit Extr. hyoscyani und Extr. opii aquos., bei geringerer Entzündung
Calomel ev. mit Opium oder Calomel mit Kampher.
Wesentliche Fortschritte brachten erst französische Forscher,
zuerst Louyer-Villermay, der 1824 der Akademie über zwei
Krankheitsbeobachtungen berichtete und gleich den Processus vermi-
702 Georg Koru.
cularis beschuldigte. Gesunde, kräftige Menschen erkrankten plötz-
lich mit Schmerzen in der rechten Fossa iliaca, denen Erbrechen folgte.
Der Leib war stark aufgetrieben. Die Behandlung mit Blutegeln,
Lavements und Aderlass konnten den in wenigen Tagen eintretenden
Tod nicht hindern. Bei den Sektionen fand man in beiden Fällen
nur den Processus vermiformis ergriffen, zum Teil auch das zunächst
gelegene Gewebe. „Verschont war aber das ganze Peritoneum, das
Innere des Blinddarms und der übrige Darm." Erstaunt fragte
Louyer-Villermay, woher die Entzündung dieses so kleinen und in
seinen Funktionen noch unbekannten Organes stamme, dass sie so
schnell ohne folgende Bauchfellentzündung tödlich endigt? Eine Er-
klärung wusste er nicht.
Bald nach ihm (1827) traten Hasson und Dance, Schüler
Dupuytrens, der dann 1838 selbst das Wort nahm, dieser Frage
näher. Sie kamen durch die Häufigkeit der Entzündungen in der
rechten Fossa iliaca auf den Zusammenhang mit dem Coecum. Als
Grund des häufigeren Vorkommens der Entzündungen rechterseits
nahmen sie die natürliche Verengerung an der Valvula ileo-coecalis
an, wie sie auch am Pylorus existiert, ferner den Umstand, dass der
Darm hier aufhört, frei und beweglich zu sein, die Kotmassen hier
beginnen eingedickt zu werden, die Fortbewegung der Fäces hier
gegen die Schwerkraft geht, alles Momente, um die Stase der Fäkal-
niassen zu begünstigen und die Quelle für Entzündungen in der Nach-
barschaft des Darmes zu werden, welche meist in Gestalt einer Ge-
schwulst nachzuweisen seien. Die eigentlichen Symptome der Krank-
heit bestanden in der Beständigkeit des Schmerzes an einer bestimmten
Stelle in der Fossa iliaca dextra und in der Anschwellung dieser
Stelle. Als Verlauf hatten Husson und Dance beobachtet: Eine lang-
same Verteilung, seltener eine Peritonitis oder Pericellulitis, endlich
den Durchbruch des eiternden Tumors nach aussen oder in den Darm.
Bei der Therapie hat sich die Antiphlogose glänzend bewährt. So
wurden bei dem einen Falle bis zu 200 Blutegel auf die Bauchdecken
appliziert. Aber auch Aderlässe hatten den glücklichsten Erfolg, dazu
milde Purgantien und Lavements ; aber die Drastica seien zu meiden,
da die hierdurch bewirkten heftigen Bewegungen des Darms die
Adhäsionen zwischen Darm und Herd zerreissen können.
Melier und Meniere (1828) gingen in der Therapie noch einen
Schritt weiter. "Während sie mit anfänglicher präservativer Behand-
lung, mit lokaler Blutentziehung u. s. w. einverstanden sind, um eine
Lösung des Prozesses oder einen Durchbruch bei Eiterung des Darms
abzuwarten, so soll baldige, künstlich bewerkstelligte Entleerung des
Eiters nach aussen beim Anwachsen der Anschwellung erfolgen. Der
Ort der operativen Eröffnung ist am besten an der Crista ossis ischii,
das Instrument der Troicart oder des Bistouri.
Wie wenig Verständnis für das Wesen der Krankheitsgruppe noch
vorhanden war, zeigt ein Aufsatz von Corbien (1830). Er wirft
trotz seiner Berufung auf die eben genannten Autoren die entzünd-
lichen Prozesse in beiden Biacalgruben unterschiedlos durcheinander
und will durch einen Druck auf den Entzündungsherd vom Mastdarm
aus die Eiterung vermindern.
Nachdem in Deutschland Unger, in England Abercrombie
u. a. weitere Studien veröffentlicht hatten, war es ein deutscher Kliniker,
P u c h e 1 1 in Heidelberg, der endlich einen festen Symptomenkomplex
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 703
dieser Krankheitsgruppe aufstellte und zugleich den Xamen „Peri-
typhlitis" einführte. Zunächst sprach er (in seinem „System der
Medizin, 1829) in dem Kapitel: Eiterung. Yerschwärung und Ge-
schwüre des Darmkanals über eine oft beobachtete Abscessbildung,
besonders im Colon ascendens, 1. durch akute und chronische Ent-
zündung mit dem Sitz seltener in den Darmhäuten, häufiger im
Mesenterium und in dessen Drüsen mit Durchbruch a. in den Darm
und damit erfolgter Heilung, b. in die Peritonealhöhle und letalem,
c. in die Xachbarorgane und unbestimmten Ausgang. 2. bei tuber-
kulösen Prozessen, bei gastrischen, pituitösen, hektischen und fauligen
Fiebern, 3. durch Carcinome. Therapeutisch ist die Eiterung zu ver-
hindern, Diarrhöen aber nicht, damit Jauche und Eiter jederzeit Ab-
fluss haben. Nur bei totaler Erschöpfung sind Mucilaginosa und
Opiate anwendbar, die Hauptsache der Geschwürsheilung ist aber der
Natur zu überlassen.
Bald nachher (1832) gaben er und zwei seiner Schüler, Spiel-
m a n n und G o 1 d b e c k eine weitergehende Anschauung bekannt. Sie
kommen zum Schluss, dass es sich um eine durch vorausgegangene
entzündliche Eeizung der Mucosa des Blinddarms bedingte Entzündung
des unterliegenden Zellgewebes handle. Es fehlt aber noch die Er-
kenntnis der Ursache dieser entzündlichen Heizung.
In ein neues Stadium führte die Aufmerksamkeit, die man den
Darmperforationen, besonders denen des Wurmfortsatzes zu schenken
begann. Namentlich die Engländer, Burne, Smith u. s. w. hielten
fest an den Beobachtungen über die öfteren Perforationen des Pro-
cessus vermiformis und bekämpften die Anschauungen Dupuytrens.
Als geeignete Therapie erwies sich ihnen die Opiumtherapie, die schon
Graves 1824 neben Paracentese bei Peritonitis mit Erfolg angewandt
hatte, und die nun Stokes (1835) auf die Behandlung der Perityphliden
mit günstigem Erfolg bei hohen Gaben übertrug, indem er dadurch
den Darm ruhig stellte und somit den gefährlichen Austritt der Fäces
hinderte.
Diese Opiumtherapie fand vielfach Nachfolge. In Deutschland
trat A. Volz (1843) als Vorkämpfer der Opiumbehandlung auf und
wies zugleich eingehend die Eolle der Fremdkörper im Wurmfortsatz
nach. Oft schaden derartige Konkremente nicht, häufiger verursachen
sie aber durch die Zunahme ihres Umfanges eine kataiThalische An-
wulstung und Zerstörung der Schleimhaut, schliesslich eine Perforation
der Serosa und infolgedessen eine Peritonitis. Ueber die Ursachen
der Konkrementbildung kann Volz nichts sagen ; merkwürdig erscheint
ihm dabei die Bevorzugung des männlichen Geschlechts. Kurz vorher
hatte Rokitansky die Beziehungen der im Wurmfortsatz befind-
lichen Konkremente zu den anatomischen Veränderungen der Ulceration
und Perforation erkannt und pathologisch-anatomisch mustergültig dar-
gelegt.
Das klinische Verständnis der Perityphlitis förderte dann in den
fünfziger Jahren in erster Linie Bamberg er durch seine Arbeiten;
es folgten dann eine Reihe anatomischer Arbeiten, eine genauere
Einteilung des Krankheitsbildes in Gruppen (Oppolzer, Matter-
stock u. a.) und vor allem das Eingreifen der Chirurgie, das schon
in vorantiseptischer Zeit als Paracentese und Incision vielfach em-
pfohlen war, aber erst durch die Antisepsis Sicherheit bekam, zumal
man das Peritoneum (z. B. noch 1882 Nussbaum) als ein chirurgisches
704 Georg Korn.
Noli me tangere ansah. Keith, Spencer- Wells, Peaslee,
Schröder, Lawson Tait nahmen nun in den achtziger Jahren
die frühzeitige Incision energisch in Angriff. Krön lein konnte 1886
von einer 55 Stunden nach der Perforation vorgenommenen Lapara-
tomie und gleichzeitigen Eesektion des Wurmfortsatzes berichten und
Mikulicz zu gleicher Zeit von seinen Erfolgen bei jauchig-eitriger
Peritonitis durch mehrere Laparatomien. Schon im März 1889 hatte
Leyden gefragt, ob man nicht der Peritonitis auf operativem Wege
beikommen könne.
Wie weit die chirurgische Behandlung berechtigt sei, wurde dann
vielfach umstritten; für rein interne (Opium-) Behandlung, für rein
operative und für eine vermittelnde Richtung treten verschiedene
Gruppen von Klinikern ein. Eine zweckentsprechende Aussprache
zwischen den Anhängern dieser Richtungen wurde dann im Frühjahr
1895 auf dem Kongress für innere Medizin herbeigeführt, wo Sahli
und Helfer ich als Referenten auftraten. Es wurden dabei die
Indikationen für das Eingreifen des Chirurgen im wesentlichen fest-
gestellt und in ihren eingeschränkten Grenzen auch von den An-
hängern der internen Therapie anerkannt.
Die Harnschau bildete bis in die Neuzeit hinein für das Volk
ein wichtiges Attribut des Arztes, der auf alten Bildern nie ohne
Uringlas erscheint. Bei den Arabern und in der scholastischen
Medizin wurde in der Semiotik namentlich auf den Urin Rücksicht
genommen und die Uroskopie gab vorzugsweise Gelegenheit, den Arzt
als einen in die verborgensten Geheimnisse Eingeweihten erscheinen
zu lassen. Besonders berühmt waren im 12. und 13. Jahrhundert die
regulae urinarum magistri mauri. Es werden darin 19 Farben des
Urins unterschieden: Albus (klarem Wasser gleich), lacteus, glaukus,
karopos (von der Farbe der Kamelhaare), subpallidus, pallidus (dünn
fleischbrühartig), subcitrinus, citrinus, subrufus, rufus (goldgelb), sub-
rubens, rubens (blutrot), subrubicundus, rubicundus (braunrot, safran-
gelb), inopos (ähnlich dem trüben abgestandenen Wein), kianos (grau),
viridis, lividus, niger. Daneben wurde die Menge und Konsistenz
beobachtet. Alle Zeichen werden bezogen auf Wärme oder Kälte,
Trockenheit oder _ Feuchtigkeit des Organismus.
Gewissenlose Abenteurer und unwissende Empiriker trieben mit
der Harnschau einen unerträglichen Missbrauch. Es war begreiflich,
dass sich namentlich seit dem 16. Jahrhundert ehrliche Aerzte und
verständige Laien, wie der Bischof Dudith von Horekowicz
gegen dieses Treiben wandten und eine wissenschaftliche Behandlung
der Urinlehre anstrebten, die freilich erst in einer späteren Ent-
wicklungsperiode der Chemie erreichbar war. Die Erkenntnis der
Nierenkrankheiten und der Erkrankungen der Geschlechtswerkzeuge
ist durch die Uroskopie in keiner Weise gefördert worden.
Die chirurgische Behandlung der Unterleibsorgane blieb bis
in die Neuzeit hinein mangelhaft, wenn auch Anfänge schon im Mittel-
alter vorhanden waren. So genoss in der Operation der Mastdarm-
fisteln John Ardern im 14. Jahrhundert " einen grossen Ruf. Die
Hernien wurden durch andauernde Rückenlage oder durch Bruch-
bänder behandelt. Eine wesentliche Förderung erfuhr die Herniologie
durch Guy v. Chauliac, der verschiedene Formen der Hernien
nach ihren Bruchpforten unterschied und die Varicocele, Hydrocele
und Sarcocele überhaupt davon absonderte. Die Eadikalheihmg suchte
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 705
man durch Aetzungen der Bruchpforte nach Eeposition der vorge-
fallenen Eingeweide zu erzielen. Zu der Entfernung des Hodens,
welche bei Skrotalhernien angewandt wurde, entschlossen sich nur
die herumziehenden Empiriker.
Auch der Steinschnitt, welcher nach der Methode des Celsus
ausgeführt wurde, lag im Mittelalter in den Händen von Spezialisten
dieser Art. Bei Strikturen der Harnröhre wurden Bougies aus
Wachs, Zinn oder Silber gebraucht. Bei Erkrankungen der Blase
und beim Tripper verordnete John Ardern Einspritzungen.
Eine bedeutende Bereicherung erfuhr die Technik des Stein-
schnitts im 16. Jahrhundert. Die bis dahin gebräuchliche, von
Celsus beschriebene und von Paulus Aegineta vereinfachte
Methode wurde dadurch verbessert, dass vor der Operation eine
katheterartig gekrümmte Hohlsonde, welche mit der Konvexität nach
dem Perineum drängte, in die Harnröhre eingeführt wurde. Indem
der Schnitt in die Pars membranacea in der Rinne dieser Hohlsonde
gezogen wurde, erhielt die Hand des Operateurs eine sichere Leitung,
welche für den Erfolg von grosser Bedeutung war. Man nannte dies
Verfahren die Operation mit der grossen Gerätschaft und betrachtet
Bernardo di Rapallo als ihren Erfinder. Allgemeiner bekannt
w^urde sie durch Mariano Santo.
Die Nachteile, welche der Steinschnitt vom Perineum aus zu-
weilen im Gefolge hatte, namentlich die Vereiterung der Prostata
und der Samenausführungsgänge und die dadurch hervorgerufene
Zeugungsunfähigkeit, vor allem aber die Unmöglichkeit, sehr grosse
Steine oder, wenn sich Steine abgesackt haben, solche auf diesem
^Vege durch die Perinealwunde zu entfernen, regten den Gedanken
an, ob es nicht möglich sei, den Stein von oben her durch einen Ein-
schnitt über der Schambeinfuge herauszuholen. Pierre Franco
führte den hohen Steinschnitt zum erstenmal im Jahre 1560 mit glück-
lichem Erfolge bei einem zweijährigem Kinde aus, nachdem er ver-
geblich versucht hatte, den Stein, der die Grösse eines Hühnereies
hatte, nach der alten Methode zu entfernen. Er fühlte sich dazu
besonders dadurch veranlasst, dass die Blase stark nach vorn drängte.
R 0 u s s e t gab deshalb auch später den Rat, die Harnblase mit Wasser
auszufüllen, bevor man zui' Operation schreitet.
Auch der hohe Steinschnitt hatte manche Gefahren, welche den
Erfolg der Operation in Frage stellten. Schon Pierre Franco er-
kannte dies und beschäftigte sich aus diesem Grunde wieder mit dem
Perinealsteinschnitt, für welchen er eine neue Methode angab. Danach
wurde der Schnitt auf der in die Harnröhre eingeführten Furchen-
sonde seitlich von der Raphe ausgeführt und durch die Prostata ver-
längert. Der Seitensteinschnitt, wie dieses Verfahren genannt wurde,
hatte wenigstens den Vorteil, dass dabei selbst Steine von bedeuten-
dem Umfange entfernt werden konnten. Pierre Franco machte ferner
darauf aufmerksam, dass Blasensteine beim weiblichen Geschlecht
häufig durch eine einlache Erweiterung der Harnröhre herausgebracht
werden.
Die Lithothrypsie war nahezu in Vergessenheit geraten. Alessandro
Benedetti erzählte (1508), dass einige Chirurgen den Blasenstein, ohne
dass ein Einschnitt gemacht wird, mit eisernen Instrumenten zer-
trümmerten, hielt aber von diesem Verfahren nicht viel. Eine eigen-
tümliche Methode beschrieb Prosper Alpini, die er in Aegypten
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 45
706 Georg Korn.
kennen gelernt hatte. Sie bestand darin, dass die Harnröhre erweitert
und der Stein von aussen in dieselbe hineingedrängt wurde.
Die Hernien suchte man durch anhaltende Eückenlage oder
Bruchbänder zur Heilung zu bringen ; auch entschloss man sich nicht
selten zur Radikaloperation. Zu diesem Zwecke wurde bei Leisten-
brüchen die Pforte nach der Reposition der vorgefallenen Eingeweide
mit einem feinen goldenen oder bleiernen Draht oder einem Faden
vernäht. Ambroise Pare erwarb sich das grosse Verdienst, dass
er das operative Eingreifen so viel als möglich auf die eingeklemmten
Hernien beschränkte. Nur in diesem Falle führte er die regelrechte
Herniotomie aus. Allerdings haben andere Chirurgen, wie P. Franc o
und Rousset, dies schon vor ihm gethan, aber erst durch Pare
wurde dies Verfahren bei eingeklemmten Hernien wissenschaftlich
begründet und damit den Kranken dieser Art, welche man früher
häufig ihrem Schicksal überlassen hatte, die Aussicht auf Rettung
geboten.
Auf die operative Beseitigung der Harnröhrenstrikturen durch
gewaltsame Trennung mit dem Messer wird durch A. Pare wieder
der Vergessenheit (schon die Chirurgen der römischen Kaiserzeit
übten sie) entrissen. Ausserdem wandte man gegen dies Leiden
Bougies an, die mit geeigneten Arzneistoffen bestrichen waren; sie
wurden namentlich von Laguna empfohlen.
Zu den glänzendsten und segensreichsten Fortschritten gehört
die Lithothrypsie. Diese bereits von den Aerzten der byzan-
tinischen Periode ausgeführte Operation war, wie oben erwähnt, ab-
gesehen von einzelnen Beobachtungen bei Benedetti im 16. und
trotz der lebhaften Bemühungen von Cincci im 18. Jahrhundert, in
welchem sich auch mehrfache Nachrichten von der Ausführung der
Operation durch Laien vorfinden, so gut als ganz in Vergessenheit
geraten. Das Verdienst, die Lithothrypsie zu neuem Leben erweckt
zu haben, gebührt unstreitig Gruithuisen in München, obschon die
sehr unvollkommenen Instrumente desselben sich am Lebenden nicht
bewährten. In Frankreich wurde Gruithuisens Erfindung, wie es
scheint, durch die Vorlesungen von Marjolie bekannt, zu dessen
Zuhörern Civiale gehörte.
Aber die sichere Methode, den Stein in der unverletzten Blase
soweit zu zertrümmern, dass nun seine Trümmer freien Ausgang
finden, würde technisch-instrumentell erst durch Heurteloup ge-
funden. Sein 1832 angegebenes Instrument, der Percuteur, ist das
Vorbild aller eigentlichen Lithotriptoren. Er zeigt bereits die zwei
Arme, von denen der „männliche" im „weiblichen" gleitet und die
mit ihren löffeiförmigen Enden den Stein ergreifen und festhalten;
ein Hammerschlag liess den Stein zerspringen. Eine Reihe technischer
Aenderungen vervollkommneten das Instrument dann, so der Ersatz
des Hammers durch die Schraub Vorrichtung von Segalas und
Civiale, der Charriere sehe Schlüssel, Thompsons Griff' u. s. w.
Nach starken Kämpfen, besonders in der Pariser Akademie (1835),
eroberte sich die Lithothrypsie das Bürgerrecht. Es entwickelte sich
durch die grossen Operateure (Civiale, Ivanchic, Dittel, Henry
Thompson, Guyon) eine bestimmte Form der Operation: Kurze
Sitzungen von 3—5 Minuten Dauer ohne Narkose, Wiederholung der
Sitzungen erst nach eingetretener vollkommener Beruhigung der Blase.
Ein Umschwung trat 1878 durch Bigelow ein; er forderte die
VerdauTUigsapparat, Harn-, Blasen- imd Geschlechtskrankheiten. 707
Sitzungen auszudehnen, bis der Stein wirklich zertrümmert und ent-
fernt war und gab hierfür ein geeignetes Instrumentarium an. Durch
besonders starke Instrumente und durch eine an die vollkommene
Zerpulverung der Steine sich anschliessende Auspumpung der Blase
mit dicken Evakuationskathetern und einem Aspirator erreichte er
seinen Zweck. Tiefe Narkose war dabei erforderlich, die später viel-
fach durch lokale Anästhesie ersetzt wurde. Bigelows Prinzip drang
siegreich durch und schränkte die Gefahr der Lithrothrypsie erheblich
ein. Die Kystoskopie nach Nitze erwies sich hierbei, namentlich
bei Anwendung seines Evakuationskjstoskopes und Operationskj'sto-
skopses. als ein äusserst wertvolles Hilfsmittel. Die Technik der
Operation ist gegenwärtig so glänzend entwickelt, dass D i 1 1 e 1 ,
Marc, Frejer u. a. lange Serien von Fällen ohne jeden Todesfall
mitteilen konnten.
Von den blutigen Methoden des Steinschnitts war zu Anfang des
12. Jahrhunderts ganz vorwiegend die perineale Methode aus-
gebildet und in Anwendung, die schon Jahrhunderte lang als Spezial-
kunst besonders ausgebildeter „Steinschneider" geübt worden war.
Seit Thompsons glänzenden Operationsreihen galt der Seitenstein-
schnitt als der eigentlich klassische Schnitt. Er gestattete die Ent-
fernung von Konkrementen bis zu 3 cm Durchmesser ohne Zerrung
oder Quetschung der Wundränder; bei grösseren Steinen sah man sich
gezwungen, noch eine Zerbrechung derselben im Blaseninnern anzu-
schliessen. Erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ver-
schaflFte Volkmann dem Medianschnitt durch seine warme
Empfehlung wieder Anhänger.
Der hohe Schnitt, die Eröffnung der Blase über der Symphyse,
galt bis in unsere Tage hinein, als ausserordentlich schwierig und
bedenklich, namentlich wegen der befürchteten Verletzung des Bauch-
fells. Erst die Näherung der Blase an die Bauchwand durch Ein-
führung eines mit Wasser angefüllten Behälters in das Eektum nach
Petersen erleichterte die Operation, noch mehr aber Trendelen-
burgs Beckenhochlagerung, wobei die Eingeweide stark nach unten
sinken und die Bauchfellfalte mit sich ziehen.
Hierdurch wurde die Operation zu einer für die meisten Fälle
leichten, zumal die Einführung der L i s t e r sehen Antisepsis und später
die Asepsis die Furcht vor einer etwaigen Verletzung des Bauchfells
zurücktreten Hess und gegen die Gefahr einer Harninfiltration die durch
Bruns zuerst geübte Naht der Blase nach der Operation sich ein-
bürgerte. Da die Operation einen unvergleichlich sicheren und klaren
Einblick in das Operationsfeld erlaubt, wurde sie von vielen Chirurgen
neuerdings bevorzugt. Die Mortalität nach der Sectio alta ist denn
auch im Laufe der Zeit wesentlich eingeschränkt worden.
Die ersten Versuche, die Harnröhre dem Gesichtsinn zugänglich
zu machen, stammen aus dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts,
wo Bozzini, ein Arzt aus Frankfurt a. M., einen zur Untersuchung
von „Kanälen und Höhlen des menschlichen animalischen Körpers"
eingerichteten Apparat konstruierte. Ein Bestandteil desselben eignete
sich z. B. zur Untersuchung der hinter dem Gaumen gelegenen Teile,
während ein anderer passend eingerichteter Bestandteil die Unter-
suchung der Harnröhre zum Gegenstande hatte. Sein Apparat, der
sogenannte Lichtleiter, fand bald überschwängliches Lob, bald ab-
fällige Beurteilung, aber wenig praktische Beachtung, da die mecha-
45*
708 Georg Korn.
nisclien und physikalischen Hilfsmittel der Untersuchung den Aerzten
jener Zeit ungewohnt und wenig sympathisch waren. Auch brachte
Bozzini nur spärliche Mitteilungen über die Eesultate von Unter-
suchungen.
Sein Apparat geriet in Vergessenheit, so dass Sega las im
Jahre 1826 ein neues, auf anderen Prinzipien aufgebautes Speculum
urethro-cystique konstruierte, das von den später gebräuchlichen
Apparaten in den Grundziigen wenig abwich. Seine Publikation ver-
anlasste 1827 einen Amerikaner, John Fisher, zur Bekanntgabe
eines ziemlich komplizierten Instruments, das zur Beleuchtung dunkler
Eäume dienen sollte. Später (1840) nahm ein englischer Arzt,
A V e r y , unabhängig von diesen wenig beachteten Veröffentlichungen,
die Untersuchung innerer Organe mittels künstlicher Beleuchtung
zum Ziel, und zwar sowohl für den Kehlkopf, als für die Harnröhre.
Das von Avery erzielte Sehfeld hatte nur einen sehr kleinen Durch-
messer, so dass die Resultate seines Instruments nur sehr mangelhaft
gewesen sein können. Im übrigen sind in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts nur kleinere, einfachere Instrumente, die nur die
vordere Hälfte der Urethra sichtbar machen sollten, zu verzeichnen,
so von Mal herbe (1842), Espel (1844). Bloss ßatier (1843) und
Cazenave (1846) konstruierten ein sogenanntes Speculum urethrae,
das im Wege der Durchleuchtung der Harnröhre sichtbar machen
sollte.
Alle diese Bestrebungen auf dem Gebiete der Endoskopie wurden
bald vergessen. Erst Desormeaux schuf hier gründlich Wandel.
Im Jahre 1853 legte er der Academie de Medecine in Paris sein
Endoskop vor und erhielt er für diese Leistung den Argenteuilpreis.
Im Jahre 1865 veröffentlichte er dann eine ausführliche Arbeit über
die Krankheiten der Harnröhre und Harnblase mit Rücksicht auf
ihre Diagnose und Therapie mit Hilfe des Endoskops, die Aufsehen
erregte. Sein Instrument ermöglichte ihm, nicht nur die Harnröhre
und Harnblase, sondern auch verschiedene andere Kanäle und Höhlen
genau zu demonstrieren. Die Methode der Endoskopie ermöglichte
zugleich ein gründlicheres Studium der Krankheiten der Harnröhre
und zwar sowohl der Tripperformen alleine als auch in ihrem Zu-
sammenhange mit der Entstehung der Strikturen u. s. w. Eine Reihe
von Aerzten in den verschiedenen Ländern eignete sich nun die
endoskopische Untersuchungsmethode an und verbesserte sie teilweise.
Eine solche Aenderung veröffentlichte 1865 Cruise in Dublin,
während in Deutschland Fürstenheim das Endoskop allgemein
bekannt machte und das Desormeauxsche Instrument abänderte, um
eine etwas bessere und leichter zu handhabende Beleuchtung zu ge-
winnen. In Amerika konstruierte Andrews nach dem Apparat von
Desormeaux ein Endoskop, bei dem Magnesiumlicht zur Anwendung
kam. Eine Reihe weiterer Verbesserungen betraf teils die Wahl
einer besseren Lichtquelle (Gas-, Petroleum-, Magnesium-, elektrisches
Licht), teils eine leichtere Handhabung des Instruments u. s. w.
Inzwischen aber erachtete man vielfach die komplizierten Mecha-
nismen zur Beleuchtung der Harnröhre u. s. w. für überflüssig und
suchte nach einfachen Vorrichtungen, wie bei der künstlichen Be-
leuchtung anderer Organe. Bereits im Jahre 1862 schlug Haken
den einfachen Reflektor zur Beleuchtung seines Dilatatorium urethrae
vor; ebenso nahmen sich Crouviard und Reder die Beleuchtungs-
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 709
art des Laiyngoskops zum Muster. 1879 schlug Fränkel in Berlin
noch die Benutzung des mit einem Hohlspiegel erzielten verkleinerten
Flammenbildes zu endoskopischen Zwecken vor.
Seit 1872 bemühte sich J. Grünfeld in Wien um die verein-
fachte endoskopische Untersuchung der Harnröhre und Harnblase.
Sein Beleuchtungsapparat bestand in dem einfachen in der Laryngo-
skopie üblichen Eeflektor; ferner verbesserte er die endoskopischen
Sonden. Diese einfachere Methode fand bald einen grossen Kreis von
Anhängern. Später strebten Trouve in Paris (1878), Nitze in Wien
(1879) eine bessere Beleuchtung mit elektrischem Lichte an, und zwar
nach dem Prinzipe der direkten Beleuchtung der zu untersuchenden
Organe. Unter den von Trouve zu verschiedenen Zwecken kon-
struierten Instrumenten zur Untersuchung verschiedener Organe
(Polyskop) befand sich auch eines zur direkten Beleuchtung der
Blase (Cystoskop), mit dessen Hilfe die beleuchtete und vergrösserte
Schleimhautpartie zu sehen war.
Ein Umschwung in der ganzen Frage der Besichtigung des
Blaseninnern wurde durch Max Nitze angebahnt, der seine von
Leiter hergestellten Instrumente in der Sitzung der Wiener Gesell-
schaft der Aerzte vom 9. Mai 1879 demonstrierte. Nitze brach mit
allen Traditionen, führte die Lichtquelle an der Spitze eines katheter-
förmigen Instrumentes in die Blase ein und erzielte durch einen in
der Achse des Instrumentes angebrachten optischen Apparat eine
Vergrösserung des Gesichtsfeldes. Als Lichtquelle wählte Nitze ur-
sprünglich einen, durch den galvanischen Strom zur Weissglut er-
hitzten Platindraht. Um die Erwärmung des Apparates zu verhindern^
war in dem Cystoskop eine Leitung angebracht, durch die, während
die Lampe glühte, ein Strom kalten Wassers geleitet wurde. Später
verbesserte Nitze sein Instrument noch wesentlich. Als Lichtquelle
dient ein Mignonglühlämpchen an der Spitze, die Wasserspülung ist
durch die geringe Erhitzung der Flamme überflüssig, Verbesserungen
am optischen Apparat haben das Gesichtsfeld wesentlich erweitert.
Für den Fall, dass die Harnröhre nicht gut passierbar und die Blase
wenig dehnbar ist, konstruierte Nitze dann noch ein Irrigations-
kystoskop mit besonderen Vorrichtungen.
Durch die Kystoskopie wurde auch die Kathete risierung
der Harnleiter zu einer klinisch brauchbaren Methode, die ohne
vorgängige Operation zuerst von Pawlik ausgeführt wurde. Der
kystoskopische Harnleiterkatheterismus wurde von Brenner 1888 in-
auguriert, namentlich durch Nitzes und C aspers Arbeiten gefördert,
die ein konkav gefenstertes Kystoskop hierbei verwandten. Die
ersten brauchbaren photographischen Bilder der Harnblase lieferte
R. Kutner (1891).
Den Ausgang der Studien über die Blasentzündung bildete
die Ergründung der ammoniakalischen Zersetzung des Harnes, die als
das auffallendste Zeichen bestehender Cystitis frühzeitig erkannt wurde.
Der Chemismus der Harnzersetzung stand im Mittelpunkte des Interesses.
Von Boerhave (1721) begonnen, wurden diese Arbeiten von R o u e 1 1 e
cadet, Cruishank fortgesetzt und von Fourcroy und Vauquelin
zu einem gewissen Abschluss gebracht, als sie (1799) den Harnstoff
entdeckten und den Zerfall dieses Körpers unter Bildung von Ammoniak
feststellten, wenn der Harn an der Luft stehen gelassen, die bekannten
Veränderungen einging.
710 Georg Korn.
Von Fourcroy und Vauquelin bis Liebig und Dumas bescliäf-
tig-ten sich dann die Chemiker eifrig mit der Erforschung der Ursachen
der ammoniakalischen Harngärung. Diese Frage fand dann im
Jahre 1859 durch Pasteurs Werk „Sur les generations spontanees"
eine überraschende Lösung. Die erhitzte Luft erwies sich als voll-
kommen indifferent, ein Kardinalversuch, durch den die Bedeutung des
Sauerstoffs für die Harngäruug vernichtet war. Dagegen trat die
Zersetzung an demselben Harne ein, wenn ein Asbeststückchen, an
welchem gewöhnlicher Staub haftete, in die Flüssigkeit gebracht
wurde. Im veränderten Harne gelang es Pasteur, Mikroorganismen,
Bakterien, rosenkranzförmig aneinander gereihte Körperchen nach-
zuweisen, die als das organisierte Ferment der Harngärung bezeichnet
wurden; stets ist nach Pasteur die Zersetzung des Harnstoffes in
kohlensaures Ammon an die Gegenwart und Entwicklung dieser Mikro-
organismen geknüpft. Es zeigte sich, dass zur Fortpflanzung der
Keime und zur Anregung der Fermentation im Harne eine entsprechend
hohe Temperatur erforderlich sei und dass die Keime bei zu hohen
Hitzegraden absterben. Bei der Blasenentzündung werden die Bak-
terien, die erwiesenermassen im Staube, wie in der atmosphärischen
Luft vorhanden waren, durch die mangelhaft gereinigten Instrumente
in die Blase gebracht, wo sie alsbald die Zersetzung des Harns
anregen.
Diese Annahme Pasteurs fand durch eine Beobachtung Ludwig
T raub es bald ihre klinische Bestätigung: In einem Falle von Harn-
verhaltung war der klare, sauer reagierende Harn nach dem Katheterismus
im Verlaufe weniger Tage trübe, eitrig und ammoniakalisch geworden;
es fanden sich neben Eiter Vibrionen als Ursache der Hanitrübung.
Mit Rücksicht auf diese Beobachtung empfahl Traube (1864) zur Ver-
hütung von Blasenentzündung, die Katheder vor dem Gebrauch durch
Einlegen in kochendes Wasser zu sterilisieren.
Später wurden dann von mehreren Seiten harnstoffzersetzende
Mikroben nachgewiesen. Leube und Gras er, die zuerst die Koch-
sche Methode bei ihren Untersuchungen anwendeten, züchteten aus
Harn, der an der Luft ammoniakalisch geworden war, vier Arten mit
Harnstoffen zersetzende Eigenschaften; sie wiederlegten zugleich die
Theorie von Musculus; nach der ein unorganisiertes lösliches Fer-
ment die Ursache der Harngärung sei.
Eine Anzahl experimenteller Arbeiten schien dann Pasteurs Ent-
deckung zu erschüttern. Durch mangelhafte Tierversuche und falsch
gedeutete klinische Beobachtungen veranlasst, kehrte man zu den
Ansichten zurück, die das Blut oder den Eiter im Harn als Erreger
der Gärung gelten Hessen. Charcot, der bei spinalen Blasen-
lähmungen oft unverhältnismässig rasch eitrig-ammoniakalischen Harn
auftreten sah, brachte die Erscheinungen sogar mit trophischen Störungen
zusammen.
Erst die bakteriologische Periode seit Robert Koch brachte
hier Fortschritte. Das Plattenkulturverfahren ermöglichte die Mikroben
zu isolieren und rein zu züchten; ferner gewann man die Keime nicht
mehr aus dem spontan zersetzten, sondern aus dem Cystitisharn. So
fand Guyon, dass die einfache Einbringung von Kulturen nicht ge-
nügte, um Entzündung der Blase anzuregen. Ferner ergab sich, dass
die Harnwege bei einfacher, experimentell erzeugter Retention asep-
tisch blieben, dass aber die Injektion pyogener Bakterien, wenn gleich-
Verdaiiungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 711
zeitig Harnverhaltung bewii'kt wurde, stets von Entzündung der Blase
gefolgt war.
Rovsing, der 1890 und 1898 seine ausführliche Arbeiten ver-
öifentlichte, konnte in 30 Fällen von Blasenentzündungen aus dem
HaiTie eine Reihe von harnstoffzersetzenden Mikrobenformen rein züchten.
Er erklärt die Bakterien für die einzigen und wirklichen Ursachen
der Entzündung der Blase; die Cj'stitismikroben müssen mit dem
Vermögen, den Harnstoff zu zersetzen, die Kraft, Eiterung zu erregen,
verbinden. Zunächst wird der Harn zersetzt, wodurch ein Reizzustand
der Blasenwand hervorgerufen wird. Unter den so geschaffenen günstigen
Bedingungen können die Keime an der Schleimhaut dii*ekt haften,
wo sie entzündungserregend wirken.
Auch der Ursprung der Mikroben und die Wege der Infektion
studierte Rovsing; er fand in der gesunden Harnröhre eine Reihe
von Keimen, welche er für die Blase als pathogen festgestellt hatte.
So erklärte sich die Thatsache, dass man auch bei Anwendung steriler
Instrumente die Blase infiziert fand. Abgesehen von dem urethralen
Wege der Infektion deckte er die Entstehung der Blasenentzündung
durch Fortpflanzung eines Entzündungsprozesses aus den benachbarten
Organen auf die Blase auf, ferner wies er auf die Niere als den
Ursprung der Miki'oben und auf die durch die Blutbahn vermittelte
Infektion des Blutes hin. Zur Erzeugung eitriger Cystitis sei die
Fähigkeit des Organismus, den Harnstoä" zu spalten, erforderlich. Der
Tuberkelbacilles allein erzeuge die Cystitis ohne Intervention der
Zersetzung des Harns. Die tuberkulöse Cystitis entstehe entweder
dui'ch direkte Verpflanzung eines tuberkulösen Ulcerationsprozesses in
die Blase oder durch metastatische Ablagerung der Tuberkelbacillen
in die Schleimhaut.
Krogius (1890—94) wies dann nach, dass viele schon früher
beschriebene Bakterienformen mit dem Bacteriumcoli commune
identisch waren. So war in einer grossen Zahl von Blasenentzündungen
eine Mikrobenform als Urheber der Infektion bestimmt, der die Fähig-
keit, den Harnstoff' zu zersetzen, erwiesenermassen mangelt. Der er-
brachte Nachweis von dem häufigen Vorkommen „saurer Cystitis"
stand mit der Bedeutung der ammoniakalischen Zersetzung für die
Cj'stitis in Widerspruch. Guyon und seine Schule betrachteten die
Zersetzung des Harns in Gegensatz zu Rovsing als ein sekundäres,
untergeordnetes Symptom der Cystitis. Die weiteren Arbeiten (von
Melchior u. a.) schienen mit ihren klinischen und experimentellen
Erfahrungen zu Gunsten der französischen Schule zu sprechen.
Die steinigen Ablagerungen im Harn, die Harnsteine, waren
seit alter Zeit den Aerzten als auffallende Krankheitserscheinung be-
kannt, auch ihre Symptomatologie, ihre Behandlung, insbesondere der
Steinschnitt, früh ausgebildet. Das \^'issenschaftliclie Verständnis der
Krankheit und die Vervollkommnung der Behandlung und der Dia-
gnostik blieb dem neunzehnten Jahrhundert vorbehalten.
Die Struktur der Steine dachte man sich früher aus einer grossen
Anzahl Einzelkrystallen zusammengefügt. Diese Krj'stalle wurden
nach einer verbreiteten, namentlich von Walter und Meckel
von Hemsbach vertretenen Anschauung durch eine Art Schleim,
lierstammend aus dem sogenannten „steinbildenden Katarrh" als Binde-
mittel zusammengeschweisst.
Erst Robert Ultzmann beseitigte solche grobmechanischen
712 Georg Korn.
Anschauungen. Er lehrte durch systematische Anfertigung dünner
Schliffe, wie sie in der Anatomie für das Studium von Zahn und
Knochen geübt und von den Mineralogen bei der Untersuchung der
eigentlichen Gesteine mit Erfolg angewendet wird, die Zusammen-
setzung und den Aufbau der Konkremente erkennen. Dabei zeigte
sich keineswegs das typische, aus den Sedimenten bekannte Bild der
Krystalle. Es zeigten sich zwei Liniensysteme, ein radiäres und ein
konzentrisches, z. B. bei den Oxalatsteinen.
W. Ebstein löste die Konkremente vorsichtig auf und fand nach
Beseitigung des mineralischen Anteils zarte Massen, genau die ur-
sprüngliche Form des Steins beibehaltend, die man einbetten und
schneiden konnte, und die wiederum sich als konzentrisch geschichtet
ergaben. Diese übrigbleibenden Massen erwiesen sich als eiweiss-
artig; er nannte sie „organische Substanz" und sah in ihnen das eigent-
liche Gerüstmaterial, das die mineralischen Elemente zum Stein
vereinigt.
Es zeigte sich also, dass ein Absonderungsprodukt der Schleim-
haut selber notwendig sei, um das bindende Gerüst für die Steine
zu liefern. Seinen Ursprung suchte Ebstein wesentlich im Epithel,
das eben durch die Berührung mit dem an gelösten Steinbildnern
überreichen Harn nekrotisiert wird, sich abstösst und nun den Grund-
stock zur Cementbildung liefert. Nicolai er bestätigte später diese
Annahme experimentell durch Erzeugung der Oxamidsteine beim
Hunde.
Aehnliche Verhältnisse stellte dann Posner an anderen Stein-
bildungen fest. Für Gallensteine wurde diese Aenlichkeit durch
Naunyns Arbeiten erwiesen. Aber es wurde auch erwiesen, dass
dieselben Gesetze überall im Tierreich wirken, auch da, wo es sich
um normale erstarrende Produkte handelt, z. B. in der Schale der
Muscheln, in den Otolithen u. s. w. Auch für die Speichelsteine, die
Venensteine, die Prostatakonkretionen Hess sich die Analogie fest-
stellen. Endlich gelang es auch zu zeigen, dass auch bei der ein-
fachen, nicht zur Steinbildung führenden Sedimentierung im Harn
unter Umständen die gleichen Faktoren wirksam sind. Zum Aufbau
eines Steines gehören zwei Faktoren, eine Abscheidung einer eiweiss-
artigen Gerüstsubstanz und ein Ausfallen eines krystallinischen Körpers.
Letzterer imprägniert die erstere, er versteinert sie ; nur schwerlösliche
Körper machen hiervon eine Ausnahme. Als drittes Moment ist nötig,
dass die Flüssigkeit irgendwo stagniert, damit die kleinen Körner
Zeit haben, zu Gries oder Steinchen zu wachsen. Dieser Punkt ist
namentlich für die Therapie von grosser Bedeutung. Es erklärt sich
so, warum „harnsaure Diathese" allein keinen Stein macht, aber dazu
führt, wenn das nötige Material an organischer Substanz geliefert
wird, wie ein Fremdkörper in jeder Beziehung — durch Erregung
von Nekrobiose, durch Darbietung eines Centrums für ausfallende
Salze, durch Stagnation innerhalb des Flüssigkeitsstromes — die
günstigsten Bedingungen zur Steinbildung giebt, wie in einer Cystocele,
wenn ein Katarrh der Schleimhaut dazu tritt, die Ausbildung eines
Steines die nahezu unvermeidliche Folge wird.
Die Sonder Untersuchung der Harnsteine ist schon längst
Gemeingut der Aerzte, doch hat die Steinsonde im Laufe der Zeit
sehr wesentliche Verbesserungen erfahren, so dass der Schnabel alle
Teile der Harnblase gleichmässig abtasten kann. Thompsons silberne
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 713
Sonde, zugleich als Katheter benutzbar, erlaubte die Blase in ver-
schiedenen Füllungszuständen zu untersuchen. Den grössten Fortschritt
aber brachte die Einführung der Nitzeschen Kystoskopie,
welche die Blase erhellte.
Das Beschauen und Untersuchen des L'rins wurde zwar seit uralten
Zeiten von den Aerzten geübt, doch blieb die Kenntnis der Nieren-
krankheiten in der älteren Medizin und noch bis in unser Jahr-
hundert hinein sehr mangelhaft. Die antike Medizin kannte nur die
Verwundungen und Eiterungen der Niere und die Nierensteine; auch
wusste man, dass Abnahme der Harnmenge eine Ursache von Wasser-
sucht sei. A et ins und später Avicenna gaben an, dass im Ver-
laufe von Verhärtung der Nieren Wassersucht eintritt. Spätere Mit-
teilungen über einzelne Fälle von Nierenerkrankungen, die sich bei
Schenk, Bonet, Morgagni, J. P. Frank, Portal u. a. finden,
trugen zur Bereicherung der Nierenpathologie wenig bei. Nur mehrten
sich die Beobachtungen über das Zusammentreffen von Wassersucht
und Veränderung der Nieren. Aber noch Sau vages kannte wohl
eine Anasarka infolge von Blasensteinen, aber keinen von den Nieren
ausgehenden Ascites. Selbst Cotugnos wichtige Entdeckung (1770)
einer durch Hitze gerinnbaren Substanz (Eiweiss) im Harn von Wasser-
süchtigen und Diabetikern hatte zunächst nur den Erfolg, dass man
die Wassersuchten einteilte in solche mit und ohne Eiweiss im Urin
(Cruikshank). Ein weiterer Fortschritt wurde angebahnt durch den
zuerst von Brande („An account of some changes from disease in the
composition of human urine", London 1807), später von Scudamore
(,,A treatise on the nature of gout" , London 1823) gelieferten
Nachweis, dass der eiweisshaltige Harn auffallend wenig Harnstoff
enthält.
Eine entscheidende Wendung führte erst E. Bright, Arzt an
Guys Hospital in London, herbei. Nachdem schon im Jahre 1823
A 1 i s 0 n in Edinburg angegeben hatte, in mehreren Fällen von Wasser-
sucht mit Eiweissharn harte, höckerige Nieren gefunden zu haben,
sprach Bright in einer Reihe von Abhandlungen, von denen die erste
1827 („Reports of medical cases"), die weiteren in den dreissiger und
vierziger Jahren erschienen, mit Bestimmtheit aus, dass viele Wasser-
suchten in einer Erkrankung der Nieren ihren Grund haben, die sich
durch den Eiweissgehalt des Urins zu erkennen geben. Der Erforschung
dieser Nierenerkrankung wurde nun seitens der Aerzte ein eifriges
Interesse gewidmet, wobei die gleichzeitig sich schnell entwickelnden
mikroskopischen und chemischen Untersuchungsmethoden den For-
schungen zu gute kamen. Die Kenntnis von dem feineren Bau der
Nieren und ihrer Funktion erweiterte sich bald in früher ungeahnter
Weise und gab der Pathologie eine sichere Grundlage.
Zunächst kam dieser Aufschwung der Nierenpathologie der Gruppe
von Nierenkrankheiten zu gute, die man als „Brightsche Nierenkrank-
heit" zusammenfasste und in weiterem Verlaufe nieder in verschiedene
Formen zerlegte, sodann auch den anderen Nierenleiden, den Ge-
schwülsten, Lageveränderungen u. s. w. Die früher sehr vernachlässigte
Pathologie der Nieren wurde nun eingehend litterarisch bearbeitet.
Die erste grosse Monographie über sämtliche Nierenkrankheiten schrieb
P. F. 0. Ray er („Traite des maladies des reins", Paris 1839 — 41).
Seine Nachfolger waren in England G. Johnson: ..On the diseases
of the kidney", London 1852, in Deutschland Jul. Vogel: „Krank-
714 Georg Koni.
heiten der harnbereitenden Organe" als Bd. VI von Virchows Hand-
buch der speziellen Pathologie, Erlangen 1856—65, dann Rosenstein:
„Die Pathologie und Therapie der Nierenkrankheiten", Berlin 1863. Das
letzte Menschenalter brachte dann eine Fülle von Bearbeitern dieser
Speziallitteratur. (Vgl. Senator, ,.Die Erkrankungen der Nieren",
Wien 1896.)
Die Nieren Chirurgie ist erst in den letzten Jahrzehnten
des 19. Jahrhunderts der internen Behandlung zur Seite getreten und
namentlich durch Gustav Simon, Czerny, Bardenhauer,
J. Israel, Hahn und Küster in Deutschland ausgebildet worden!
Die Grundlage dieser Operationen bildet die N e p h r e k t o m i e. Schon
im Jahre 1861 machte der Amerikaner Wolcott eine Nephrektomie,
nachdem er den Leib in der Annahme einer Lebercyste eröffnet hatte.
Der Verlauf war ungünstig. Im Jahre 1867 versuchte Spencer
Wells die Ausschälung der Niere bei einer Frau, deren Operation er
unter der Voraussetzung, es mit einer Eierstockscyste zu thun zu haben,
unternommen hatte; es handelte sich jedoch um eine Steinniere. Der
Eingriff wurde wegen zu erheblichen Schwierigkeiten abgebrochen,
die Frau ging zu Grunde. Auch eine Nephrektomie von Peaslee
(1868) bei grosser Nierengeschwulst, die gleichfalls für eine Eierstocks-
geschwulst gehalten wurde, verlief unglücklich. Erst G. Simon
unternahm 1869 die erste wohlüberlegte, gut vorbereitete und be-
absichtigte Ausschälung der Nieren, die denn auch erfolgreich war.
Anfangs fand Simon wenig Nachfolger; noch 1885 nannte Albert
in Wien die Nephrektomie eine „Verirrung der Zeit". Mit der Zeit
und der verbesserten Methodik mehrten sich die Nephrektomien, so
dass E. Küster 1901 („Die Nierenchirurgie im 19. Jahrhundert",
Archiv f. klin. Chirurgie, Bd. 64) für die letzten 10 Jahre (1891 —
1900) 550 Operationen mit 88 Todesfällen (16 %) zusammen-
stellte. Die Chirurgie konnte die Pathologie der Niere wesentlich
aufklären.
Sehr zu gute kam der Nierenchirurgie, wie der gesamten Be-
handlung der Nieren die verbesserten diagnostischen Hilfsmittel, nament-
lich die Cystoskopie und der Katheterismus der Harnleiter.
Der letztere war von Simon erdacht und zuerst in mühevoller Methode
angewandt, von Pawlick weiter entwickelt, aber immer noch aus-
schliesslich für das weibliche Geschlecht anwendbar gemacht; erst
durch das Prinzip der Beleuchtung des Blaseninnern nach Nitze
gewann er eine feste Grundlage und eine grosse technische Vervoll-
kommnung. Ferner traten in die Diagnostik der Nierenveränderung
um die Wende des 19. Jahrhunderts zwei Verfahren, die als „funktio-
nell e D ia g n o s t i k" bezeichnet werden, die G e f r i e r p r o b e (K r y o -
skopie) und die Phloridzinmethode.
Erstere, von Koranyi in Pest (1897) in die Praxis eingeführt
und V. Krümmel, Casper und Ei cht er empfohlen, beruht auf der
Thatsache, dass das normale menschliche Blut einen Gefrierpunkt von
0,56** — 0,58*^ unter dem Gefrierpunkte des destillierten Wassers be-
sitzt. Sinkt der Gefrierpunkt darunter, so ist ungenügende Nieren-
arbeit auf beiden Seiten vorhanden. Auch für den Harn, dessen
Gefrierpunkt normal unter dem des Blutes liegt, ist diese Bestimmung
verwendbar. Nähern sich die Gefrierpunkte beider Flüssigkeiten oder
kehren sie sich sogar um, so wird damit bewiesen, dass die Arbeit
der Nieren ungenügend ist, dass sie ihre Aufgabe, die osmotische
Verdauungsapparat, Harn-, Blasen- und Geschlechtskrankheiten. 715
Spannung des Nierenblutes herabzusetzen, nicht zu erfüllen vermögen.
Die Verbindung- des Harnleiterkatheterismus mit der Kryoskopie oder,
mit anderen Worten, die geforderte Bestimmung der molekularen
Konzentration des Harns jeder einzelnen Niere ist deshalb von
grundlegender Bedeutung für die Prognose.
Wesentlich ergänzt wird die funktionelle Nierendiagnostik durch
die Phloridzin probe. Dieser von v. Mering entdeckte Stoff
hat nach Einbringung in die Blutbahn die Fähigkeit, eine nur etwa
3 Stunden dauernde Zuckerabscheidung durch den Harn hervorzurufen ;
die Zuckerbüdung findet in der Niere selbst statt. Die Zuckeraus-
scheidung nimmt nun in geradem Verhältnis zu der Einschränkung
des absondernden Nierengewebes ab, sie kann sogar in einer oder in
beiden Nieren ganz erlöschen. Die gesonderte und vergleichende
Untersuchung des Urins beider Nieren auf ihren Zuckergehalt giebt
daher eine Handhabe für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit einer
oder auch beider Nieren; der Harnleiterkatheterismus erweist sich
also auch hier als ein unentbehrliches Hilfsmittel. Das Verfahren ist
ein verhältnismässig einfaches und war deshalb den Chirurgen um so
willkommener.
Durch die Vervollkommnung und Sicherstellung der Diagnose
nahm auch die chirurgische Behandlung einen wesentlich anderen
Charakter an; aus dem radikalen Verfahren der ersten zwei Jahr-
zehnte, die ohne grosse Bedenken die vollständige Beseitigung der
Niere ins Auge fasste, -uiirde ein streng konservatives, das genauer
erwägt und die Ausrottung des Organs, wenn irgend möglich, durch
andere Methoden ersetzt. Zu ihnen gehören die Nephropexie, die
Nephrolithotomie, die Nephrotomie, die verschiedenen Operationen an
den Harnleitern, endlich die teilweise Nierenresektion. Diese Methoden
haben zu einem Stande der Dinge geführt, nach dem es als ein Kunst-
fehler bezeichnet werden muss, wenn auch nur ein Teil einer Niere,
der noch erhaltungs- oder erholungsfähig ist, durch Nephrektomie ge-
opfert wird. Im übrigen unterliegen sowohl Wandernieren, wie eitrige
Prozesse, Nierentuberkulose, Steinniere, Sackniere und Neubildungen
dem Eingreifen des Chirurgen, das hier nur andeutend und im all-
gemeinen erwähnt werden kann.
Die Sterilisier ung der Katheter zum Zweck der Ver-
hütung von Infektion der Blase wurde schon von Pasteur, auf
Grund klinischer Erfahrungen von Traube (1864) klar angegeben.
In der Aera der Antisepsis wurde jedoch die Frage der P^rzielung
keimfreier Instrumente sehr vernachlässigt. Erst seit durch Rovsing
u. a. der infektiöse Charakter aller Blasenentzündungen erschlossen
wurde, drängte sich der modernen bakteriologisch gerichteten For-
schung die Notwendigkeit, aseptisch zu katheterisieren, von selbst auf.
Eine Reihe von Autoren (Albarran, Alapy, Kutner, Delafosse,
Grosglik) erhoben diese Forderung und bildeten die Methodik im
einzelnen aus.
Die zui- Verwendung kommenden Instrumente wurden ursprünglich
bloss mechanisch gereinigt ocTer mit antiseptischen Lösungen in Be-
rührung gebracht, ohne dass hierdurch die Gewähr einer sicheren
Keimfreiheit erzielt wurde. Nur die Sterilisation der Instrumente
durch die Hitze (kochendes Wasser, trockene erhitzte Luft und
strömende Wasserdämpfe) erwies sich als völlige Keirafreiheit ver-
bürgend. Die Sterilisation im strömenden Dampf wurde, gleichwie in
716 Georg Korn.
der gesamten Chirurgie, auch zur Sterilisierung urologischer Instru-
mente in der jüngsten Epoche die bevorzugte Methode. Kutner
gab (1892) einen Apparat zum einfachen Sterilisieren von weichen
Kathetern an, in dem der Dampfstrom sowohl die Aussenseite, wie die
Lichtung des Katheters bestreichen muss. Aehnliche Apparate stellten
Alapy, Grosglik, Frank u. a. her.
Auch für die Reinigung der Hände, die Reinigung der Harnröhre
u. s. w. bürgerten sich die nachvielfachen subtilen experimentellen
Untersuchungen erprobten Methoden zur Erzielung möglichster Keim-
freiheit mit grosser Schnelligkeit auch in der Klinik und am Kranken-
bett ein. Eine historische Uebersicht über diese in die jüngste Ver-
gangenheit fallenden Arbeiten erübrigt sich hier um so mehr, als
sie im wesentlichen dem Gebiete der allgemeinen Chirurgie an-
gehören.
Neuropathologie.
Von
Georg Korn (Berlin).
Litteratur.
W. Erb, lieber die neuere Enticicklung der Nervetipathologie und ihre Be-
deutung für den medizinischen Unterricht^ Leipzig 1880. — JJf. 2feuburger, Die
historische Enticicklung der experimentellen Gehirn- und RückenmarkspJiysiologie
vor Flourens, Stuttgart 1897. — JP. J. 3Iöbius, Neurologische Beiträge, Heft V,
Leipzig 1898. — H. Laehr, Die Litteratur der Psychiatrie, Neurologie und Psycho-
logie von 1459 — 1799. 3 Bände, Berlin 1900. — Erb, Handbuch der Elektro-
therapie, 2. Aufl., Leipzig 1886. — Forel, Der Hypnotismus und die suggestive
Psychotherapie, 4. Auf.., ^Stuttgart 1902. — C. F. Müller, Handbuch der Neu-
rasthenie, Leipzig 1833. — F. Penzoldt u. A. Stintzing, Handbuch der Therapie
innerer Krankheiten, Band V, 2. Auf.., Jemi 1898. — Goldscheider u. Jacob,
Handbuch der physikalischen Tlierapie, Leipzig 1901 — 1902. — E. v. Leyden,
Die Tabes dorsuaiis, 3. Auf., Wien 1901.
Die Neuropathologie als wissenschaftlich fest begründete
Disziplin gehört erst dem neunzehnten Jahrhundert an. Schon die
Kenntnisse von den grösseren Nerven und ihrer Funktion reichen
nicht allzuweit zurück. Erst Sömmering nahm zuerst die jetzt
bekannten 12 Himnervenpaare in der richtigen Ordnung an.^ Der
Sympathicus wurde zuerst von Willis als nicht aus dem Vagus ent-
springend erkannt und von Hufe 1 and und Bichat als besonderes
Nervensystem aufgestellt. Der Grund, warum erst so spät die exakte
Wissenschaft sich der Xervenheükunde bemächtigte, liegt teils in dem
tiefen Stande und der geringen Berücksichtigung der Hilfswissen-
schaften und der Technik bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein, teils
in der prinzipiellen Abwehr der induktiven Methode und der experi-
mentellen Detailarbeit durch die wissenschaftlichen Dogmatiker.
Dennoch ging eine Unterströmung zur experimentellen Gehirn- und
Rückenmarksphysiologie, wie Neuburger (1. c.) eingehend nachgewiesen
hat, auch durch die früheren Jahrhunderte; seit der Mitte des 17. Jahr-
hunderts untersuchten Männer wie Pourfour du Petit, Moli-
nelli, A. Louis, Sabourant, Chopart, Legallois u. a. experi-
mentell den Einfluss des Hirns und der Nerven auf Herz, Atmung,
718 Georg Korn.
Verdauung, Wärme und suchten die Funktionen des Hirns zu lokali-
sieren. Ihren Resultaten gegenüber bedeuteten Ha Hers und S om-
ni e rings autoritative Veröffentlichungen einen Rückschritt. Aber
sie blieben vereinzelt, zusammenhanglos, von der systematisierenden
und spekulativen Richtung der damaligen Medizin überflutet. So
konnte Magendie, der mit Flourens die Experimentalphysiologie
neu begründete, aussprechen: „La medecine est une science ä faire!"
Lehren wie die Malpighis von den „Nervengeistern", später
Stahls Animismus, der die wissenschaftliche Erforschung der Medizin
als überflüssig betrachtete und die Verwendung mechanischer und
chemischer Prinzipien zur Erklärung organischer Funktionen streng
verpönte, die verschiedenen teilweise phantastischen Lehren der
Systematiker des 17. und 18. Jahrhunderts, von denen die Annahme
des „Nervenfluidums" noch Sommer in gs sehr gewagte Hypothesen
beherrschte, konnte ebensowenig, wie später die Ausschreitungen der
Naturphilosophie einer nüchternen Beobachtung der Thatsachen günstig
sein. Wenigstens leisteten die Anatomen, wie Willis, Vieussens,
Lancisi, Malpighi, Gasser namentlich im 17. Jahrhundert
manches zur besseren Erkenntnis des Gehirns und Nervensystems.
Selbst Hallers Arbeiten über die Sensibilität und Irritabilität
förderten mehr die philosophischen Spekulationen der Aerzte über
Lebenskraft und Lebensgeister als positiv-experimentelle Beobach-
tungen und Untersuchungen. Auf Haller beriefen sich dann eine Reihe
Gruppen; zunächst stellte William Cullen (1712 — 1790) seine Theorie
auf, die alle Lebenserscheinungen auf den Einfluss der Nerven, der
„Nerventhätigkeit" zurückführte. Bei fast allen Krankheiten ist
Krampf oder Schwäche im Gehirn ; die Schwäche erzeugt Fieber, der
Krampf Entzündungen. Selbst die Gicht entsteht durch eine Gehirn-
affektion. Die zweite Gruppe führte John Brown (1735 — 1788) mit
dem Prinzip der Reizbarkeit und seiner „Erregungstheorie". Krank-
heiten treten auf, wenn die Erregbarkeit zu sehr vermindert oder er-
höht ist, erstere sind asthenische, letztere sthenische Krankheiten.
Die dritte Gruppe bildeten die Anhänger des Animismus, der „Lebens-
kraft". Die Vermittlungsorgane zwischen Körper und Seele sind die
Nerven, deren raschere oder langsamere Schwingungen den „Tonus"
gestalten. Stahl, auf dessen Lehren im Grunde dieser „Vitalismus"
zurückging, war übrigens mit seiner symptomatischen Behandlung der
Geisteskrankheiten doch seiner Zeit vorausgeeilt.
Solche Theorien waren nicht geeignet, zur unbefangenen Würdigung
der wirklichen Lebens- und Krankheitserscheinungen beizutragen. Erst
das Erwachen des modernen naturwissenschaftlichen Geistes im Ver-
laufe des neunzehnten Jahrhunderts, der Zug zum Exakten, der neue
Methoden und technische Hilfsmittel ersann, um eine wissenschaft-
liche Fragestellung zu ermöglichen, die wachsende Anhäufung von
wertvollem Material in den Hilfswissenschaften der Medizin, ins-
besondere der Physiologie, die Fortschritte in den medizinischen
Nachbardisziplinen, mit denen die Neuropathologie in mannigfachen
und innigen Wechselbeziehungen steht, schufen nach und nach die
heutige Nervenheilkunde.
Von den Vorläufern der modernen Hirnphysiologie und Neuro-
pathologie verdient der vielverkannte F. J. Gall besonders hervor-
gehoben zu werden. Er eröffnete 1796 seine Vorlesungen zu Wien,
durch die er der Vorläufer der modernen Hirnlokalisation wurde.
Neuropathologie. 719
Indem er an die alte Theorie der Lokalisation der Seelenvermögen
anknüpfte, folgerte er ans seinen Beobachtungen, dass die geistigen
Centren im Gehirn lokal begrenzt seien und sich durch grössere
Wölbungen des Schädels an einzelnen Stellen seiner Oberfläche er-
kennen lassen. Seine Aufstellung und Verteilung der Seelenvermögen
und seine Annahme, dass sie sich durch Merkmale an der Oberfläche
des Schädels äussern, war willkürlich. Aber sein System enthielt die
grosse Wahrheit, dass in den Gehirnwindungen das materielle Substrat
der Geistesthätigkeiten liege und stellte die Bedeutung der Gehirn-
oberfläche für das geistige Leben klar; seine Lokalisation der Sprache
in den Yorderlappen behielt bleibenden Wert. Gall war der erste,
der die Gehirnrinde ausschliesslich für die psychischen Thätigkeiten
in Anspruch nahm und der Medullarsubstanz den Eang eines Leitungs-,
eines Projektionssysteras zuerkannte. Ferner erwarb er sich grosse
Verdienste durch seine Anregungen auf den Gebieten der Hirnanatomie
(Nachweis des faserigen Baues der Medullarsubstanz, Dekussation u. s. w.),
Hirnphysiologie i Sprachcentrum im Stirnlappen, Kranioskopie, Kriminal-
anthropologie u. s. w.)
Die Fundamente, auf denen sich die moderne Neuropathologie
aufbaut, waren die grossen Entdeckungen von Charles Bell und
Marshall Hall. Im Jahre 1811 machte Charles Bell die schon
von Galen geahnte anatomische Verschiedenheit der motorischen und
sensiblen Nerven zu einer wissenschaftlichen Thatsache, indem er den
Nachweis lieferte, dass die ersteren aus den vorderen, die letzteren
aus den hinteren Rückenmarkswurzeln entspringen. Magendie und
Johannes Müller bestätigten und ergänzten Beils Gesetz durch
überzeugende Versuche. Daran schloss sich die (bereits von Carte-
sius angedeutete und von Prochaska ausgesprochene) Lehre von
den Reflexbewegungen, die Marshall Hall 1833 durch seine Be-
obachtungen wissenschaftlich begründete und Johannes Müller in
einzelnen Punkten berichtigte und in klarer Form darstellte.
Weitere Anregungen brachte der Aufschwung der Physiologie
und der anatomischen Forschung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Am motorischen Nerven und am Muskel wurden die bedeutungsvollen
Untersuchungen ausgeführt, welche zur Erkennung der elektrophysio-
logischen Gesetze geführt haben, die auch für die Nervenpathologie
fruchbar wurden. Das Rückenmark, das früher nur für eine einfache
Zusammensetzung peripherer Nervenbahnen galt, erschien nun in
wichtiger und relativ selbständiger Rolle. Die Physiologie der Sinnes-
organe wurde gründlich ausgebaut, und allmählich wurden auch die
Funktionen des Grosshirns zum Gegenstand experimenteller Unter-
suchungen gemacht. Vielfach förderten auch die Nervenpathologie
die physiologische Forschung. Hitzig und Fritsch, Ferrier,
Munk und Goltz stellten die Hirnlokalisation, die von Flourens'
Entdeckung des Sprachcentrums (1837) an weiter verfolgt wurden,
auf wissenschaftlich sichere Grundlage und in den Dienst der
Diagnostik. Die Anwendung von Helm hol tz' Augenspiegel, die
Lehre vom Hirndruck und die Fortschritte der modernen Chirurgie
(H 0 r s 1 e y und v. Bergmann), die unter dem Schutz der Antiseptik
und Aseptik die Eröffnung des Schädels und die Freilegung des Ge-
hirns wagen konnte, förderten die Hirndiagnostik, die sich immer
mehr verfeinerte. Die experimentelle Pathologie, welche zuerst Kuss-
maul und Jenner in ihrer Arbeit über das Wesen der fallsüchtigen
720 Georg Korn.
Zuckungen in den Dienst der Klinik stellten, und die pathologische
Anatomie boten mit ihren verfeinerten Untersuchungsmethoden der
Nervenpathologie eine Fülle von Material, insbesondere für die Patho-
logie des Rückenmarks und die sicherste Basis für weitere Schlüsse
und diagnostische Fortschritte. Der feinere Bau des Gehirns und
Rückenmarks, der seit B. Still in gs bahnbrechenden Untersuchungen
und Methoden in seinen wichtigsten Grundlagen festgestellt war,
wurde nun mit Hilfe der entwicklungsgeschichtlichen Methode weiter
durchforscht und bot auch der Pathologie viele neue Aufschlüsse.
Die bedeutendsten Fortschritte auf diesem Gebiete folgten aber
erst der Einführung der mikroskopischen Schnitt- und Färbemethoden.
Gerlachs Karminfärbung, die lange Zeit die vorherrschende blieb,
färbte die Glia und den Achsencylinder, Weigerts Hämatoxylin-
Kupferlack- Methode stellte die Markscheiden dar, Golgi und Ramon
y Cajal führten die Chromsilberfärbung für die Zellen und ihre Aus-
läufer ein, Nissls Anilinfärbung eröffnete den Einblick in die Struktur
der Ganglienzellen und Ehrlich entdeckte die Methylenblaufärbung
der lebenden Nervensubstanz. Weigert gab dann eine Gliafärbung
an. Mar Chi färbte durch Osmiumsäure die frischen Zerfallsprodukte
des degenerierenden Nervenmarks. Die Stillingsche Schnittmethode
wurde durch Meynerts Methode der Abfaserung wirksam ergänzt.
Das Verständnis des komplizierten Aufbaues des Centralorgans bei
den Säugetieren und Menschen wurde erleichtert durch den gewonnenen
Einblick in die sehr einfachen morphologischen Verhältnisse des
Centralorgans bei den niederen Tieren und ihre Verfolgung in der
Tierreihe aufwärts.
Die Fortschritte in der Technik ermöglichten schliesslich die
Feststellung (W a 1 d e y e r 1891), dass das Nervensystem aus einzelnen
sich immer wiederholenden Einheiten von Neuronen aufbaut, deren
jede aus Nervenzelle, Achsencylinder und Aufsplitterung besteht.
Wieweit die hieran anknüpfende Neurontheorie die Pathologie und
Therapie des Nervensystems beeinflussen wird, bleibt der Entscheidung
der Zukunft vorbehalten.
Dazu kam noch die zunehmende Häufigkeit der Nervenleiden,
wie sie der Kampf ums Dasein, die Anhäufung der Massen in den
Grossstädten, die Jagd nach Erwerb und die sozialen Verhältnisse
der Neuzeit hervorriefen. Zunächst wurden die peripheren Er-
krankungen, Neuralgien, Lähmungen und Atrophien durchforscht, dann
die centralen Erkrankungen, auf die man manche für peripher ge-
haltene bei wachsender Erkenntnis zurückführte. Dann lernte man
die Erkrankungen des Rückenmarks schärfer erkennen, schliesslich
die Erkrankungen des Gehirns und endlich brachte man auch Licht
in jene vielgestaltigen, proteusartigen Krankheitsbilder der Nerven-
schwäche und Erschöpfung, Hysterie, Nervosität, Hypochondrie. Eine
grosse Zahl neuer Krankheitsformen konnte dann abgegrenzt werden.
Alle Kulturnationen, insbesondere aber französische und deutsche
Forscher, nahmen an diesen Fortschritten der Neuropathologie helfend
teil, deren erste Spuren sich etwa um die Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts zeigten.
Die neuere deutsche Nervenpathologie knüpft an den Namen
M. H. Rombergs an (1795—1873). Gestützt und angeregt durch
die grossen Arbeiten von Charles Bell und Abercrombie,
Marshall Hall und Magendie, gefördert durch die Nähe von
Neuropathologie. 721
Johannes Müller, erwarb er durch seine nüchterne Beobachtung
und klare Beurteilung der Nervenkrankheiten, durch seine reiche
Erfahrung und sein glänzendes Darstellungstalent sich ein ausser-
ordentliches Ansehen als Nervenpatholog. Sein „Lehrbuch der Nerven-
krankheiten'- (1840 — 46) giebt eine treffliche Darstellung des haupt-
sächlich durch seine Arbeiten erreichten Standes der Nervenpathologie
in den vierziger und fünfziger Jahren und behielt dauernden Wert
durch eine Fülle seiner Beobachtungen und durch die strenge Methode
der klinischen Forschung, ßomberg hat zuerst in Deutschland in
umfassender Weise die Ergebnisse der Physiologie in der Nerven-
pathologie verwertet und zur Feststellung der Diagnosen benutzt; er
kann nach Erb mit Recht als der Begründer der deutschen Nerven-
pathologie angesehen werden. An seine Verdienste um die Tabes
erinnert das „Rombergsche Symptom"; er wurde u. a. auch der Be-
gründer der Lehre von der Neuralgia ciliaris. Von seinem Wirken,
das allerdings glücklich mit bedeutenden Leistungen französischer
und englischer Forscher zusammenfiel, datiert ein erneutes und tieferes
Interesse an den Nervenkrankheiten, das sich in zahlreichen wissen-
schaftlichen Arbeiten und in der eifrigen Diskussion neuropathologischer
Probleme bekundete.
Mächtiger noch wirkte Rombergs Nachfolger in Berlin, Wilhelm
Griesinger (1817 — 1868) auf die wissenschaftliche und akademische
Stellung der Nervenpathologie ein. Er verfocht und verwirklichte den
Gedanken, dass die Psychiatrie nichts anderes sei als ein Teil der
Nervenpathologie, dass beide untrennbar zusammengehörten, und nur
volles Verständnis der einen eine gedeihliche wissenschaftliche Arbeit
der anderen ermögliche. Er forderte und erwirkte, dass die Psychiatrie
an den Universitäten nicht bloss theoretisch, sondern in erster Reihe
praktisch, in einer Klinik gelehrt werde. Ebenso aber hat er zuerst
in Deutschland die Errichtung einer eigenenKlinik für Nerven-
krankheiten ins Werk gesetzt. Er vermochte die grosse Aufgabe
zu lösen, beide Kliniken mit glänzendem Erfolge zu leiten, in beiden
Zweigen bahnbrechend und tonangebend zu wirken. Er begründete
in Berlin die medizinische psychologische Gesellschaft und noch in
seinem Todesjahr rief er das „Archiv für Psychiatrie und Nerven-
krankheiten" ins Leben.
Um den Aufschwung der Neuropathologie in der zweiten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts haben sich ferner in erster Reihe zwei
französische Forscher verdient gemacht, G. B. Duchenne (de
B 0 u 1 0 g n e , 1806— 1875 ) und J. M. C h a reo t (1825—1893). Duchenne,
dessen bahnbrechendes Wirken für die Elektrotherapie weiter unten
gewürdigt wird, hat ohne jede offizielle Stellung als Lehrer oder
Hospitalarzt sein reiches Beobachtungsmaterial gewonnen. Von den
Krankheiten des Nervensystems, die er zuerst klinisch abgegrenzt hat,
sind hervorzuheben: die progressive Muskelatrophie (sog. „Tj-pus
Duchenne- Aran"), die „Paralysie glossolabiolaryngee" (Glossopharyn-
golabial-Paralyse, progressive Bulbärparalyse, Duchennesche Lähmung)
und die von ihm benannte „Paralysie pseudohypertrophique" oder
„niyosclerosique" (in Deutschland häufiger als Pseudohypertrophie der
Muskeln bezeichnet). Auch die Entdeckung der „Paralysie atrophique
graisseuse de l'enfance" und der „Ataxie locomotrice progressive"
wird ihm vielfach in Frankreich zugeschrieben. Er teilt jedoch dies
Verdienst mit deutschen Forschern; beide Krankheiten waren schon
Haadbnch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 46
722 Georg Korn.
früher in Deutschland beschrieben worden, jene als „essentielle Kinder-
lähmung" von Heine, diese unter dem bekannteren Namen „Tabes
dorsualis" von Romberg u. a. Immerhin hat erst Duchenne bei
letzterer Krankheit das wesentliche Symptom ,. Ataxie" ins rechte
Licht gesetzt und eine Reihe weiterer wertvoller Feststellungen ge-
macht. Ferner erwies sich die von ihm aufgestellte Krankheitsgruppe
der „Paralysie generale spinale" oder „Paralysie generale spinale
anterieure subaigue" weiterhin als ein fruchtbares Feld für Aufstellung
und Abgrenzung neuer klinischer Krankheitsbilder, zu denen ins-
besondere die „subkutane und chronische atrophische Spinallähmung
der Erwachsenen" und die „amyotrophische Lateralsklerose" Charcots
gehören. Weiter erwarb sich Duchenne ein grosses Verdienst, indem
er die von ihm ausgebildete Methode isolierter elektrischer Erregung
der einzelnen Skelettmuskeln zur funktionellen Prüfung derselben und
zu genauer Bestimmung ihrer vereinzelten oder kombinierten Wirkung
unter bestimmten Verhältnissen, Stellungen u. s. w. benutzte.
Auf Duchennes Vorarbeiten fusste Jean Martin Charcot,
wie er selbst dankbar anerkannt hat; zugleich aber war er wohl
vertraut mit den Ergebnissen der gleichzeitigen deutschen Forschung,
denen man in Frankreich bis dahin wenig Beachtung geschenkt hatte.
Seit 1862 gehörte seine Wirksamkeit dem grossen Pariser Frauen-
krankenhause der Salpetriere, das ihm eine reiche Fundgrube für
seine Studien insbesondere über funktionelle Nervenkrankheiten bot.
Von 1872 — 1882 bekleidete er zunächst den Lehrstuhl der patho-
logischen Anatomie an der Pariser medizinischen Fakultät, bis seine
hervorragenden Leistungen auf dem Gebiete der Nervenpathologie die
Regierung veranlassten, eigens für ihn eine neue Professur für Klinik
der Nervenkrankheiten an der Salpetriere zu schaffen, die er 1882
antrat und bis zu seinem Tode (1893) verwaltete. Seine Abteilung
war reich für Forschungs- und Unterrichtszwecke ausgestattet, ein
Museum, Laboratorien, eigene photographische Ateliers, grossartige
Einrichtungen für Elektrotherapie u. s. w. gaben den Hintergrund ab
für Charcots glänzende Lehrthätigkeit, die Hunderte von in- und aus-
ländischen Aerzten regelmässig in der Salpetriere versammelte. Ausser
seiner Schülerschar sorgten für die Verbreitung seiner Lehren drei
unter seiner Aegide begründete und von ihm mitredigierte Zeit-
schriften: „Archives de Physiologie normale et pathologique" (seit
1868), „Archives de neurologie" (seit 1880), „Revue mensuelle de
medecine et de Chirurgie" (seit 1877, als „Revue de medecine'* seit
1878). Von seinen grösseren Werken sind iDesonders einflussreich ge-
worden die „Legons sur les maladies du Systeme nerveux faites ä la
Salpetriere" (Paris 1874), die „Localisations dans les maladies du
cerveau et de la moelle epiniere" (1876—80), die „Iconographie photo-
graphique de la Salpetriere" (service de M. Charcot, 1876 — 1880) und
die „Etudes cliniques sur l'hysteroepilepsie ou grande hysterie" (1881).
Seine gesammelten Werke wurden nach seinem Tode in einer statt-
lichen Reihe von Bänden herausgegeben.
Die meisten wichtigeren Spezialgebiete der Nervenpathologie haben
durch Charcots Arbeiten Erweiterungen, Umgestaltungen, Bereiche-
rungen und Anregungen empfangen. Auf einigen Gebieten, insbesondere
auf den der sog. funktionellen Erkrankungen wirkte er bahnbrechend.
So ist das Krankheitsbild der Hysterie seit ihm klinisch ein ganz
anderes geworden; seine Arbeiten eröffneten überall neue Gesichts-
Nexrropathologle. 723
punkte und Ausblicke; die hysterische Hemianästhesie und Ovarie,
Hystero-Epilepsie, hysterische Katalepsie und Lethargie u. s. w. sind
Erscheinungen, die durch Charcot den Aerzten bekannt geworden sind.
Die Burqsche Metalloskopie und Metallotherapie benutzten er und
seine Schüler zu zahlreichen und aufschlussreichen Untersuchungen.
Wesentliche Fortschritte brachten auch seine Forschungen über herd-
weise und disseminierte Sklerose. Paralysis agitans. Tabes dorsalis
und die von Charcot zuerst beschriebene sogenannte Tabes spasmodica
(symmetrische und amyotrophische Seitenstrangsklerose) , „Charcots
Joint disease". Weniger glücklich war er und die Schule der Salpetriere
in ihrem Bestreben, den Erscheinungen des Hypnotismus eine
klinische Formulierung zu geben. Der Kampf der Pariser Salpetriere
mit der Nancyer „Suggestions''-Scliule (Liebeaul t. Bernheim)
endete mit dem Siege der letzteren. Da der Hj'pnotismus, resp. die
Suggestion sich neuerdings in der Therapie der Nerv^enkrankheiten
einen Platz als Heilmittel errungen hat, ist hier ein geschichtlicher
Ueberblick über diese Faktoren am Platze.
Die Thatsachen, welche dem Hypnotismus zu Grunde liegen, sind
seit Jahrtausenden bekannt. Die indischen Jogins und andere Sekten
benutzten seit uralter Zeit das anhaltende Starren nach einem Punkte
(dem Nabel, der Nasenspitze u. s. w.), um sich in Zustände der Ver-
zückung, Weltentrücktheit und Bewegungslosigkeit zu versetzen. Die
religiösen Uebungen der Taskodrugiten, die stundenlang den Zeige-
finger an die Nase hielten, der Omphalopsychiker vom Berge Athos,
die Verzückung junger katholischer Beterinnen durch unablässiges
Anstarren von Heiligenbildern zur „Abtötung gegen die Welt", manche
Erscheinungen im 5littelalter bei Gefolterten und „Hexen" sind auf
die Erscheinungen der Hypnose leicht zurückzuführen. In den Vorder-
grund des wissenschaftlichen Interesses traten sie jedoch eret durch
A. Mesmer und seinen „tierischen Magnetismus" am Ende
des achtzehnten Jahrhunderts.
Zweifellos hat Mesmer (1734 — 1815) richtige Beobachtungen
falsch gedeutet und mit unklaren, phantastischen Theorien vermengt;
ein bewusster Betrüger ist er schwerlich gewesen. Die Keime von
Mesmers Lehre sind in den Emanationslehren der Kabbala und des
Neuplatonismus zu suchen; Paracelsus legte dem Magneten magische
Kräfte bei. Magisch-magnetische Träumereien traten auch später auf.
Von der Heilkraft der Magnete ausgehend, erklärte er bald die mag-
netische Kraft für eine allgemeine Eigenschaft aller Körper und das
magnetische „Fluidum" für das die ganze Schöpfung verknüpfende
Band. Er fand, dass sogar sein blosser, auf die Kranken gerichteter
Wille (die heutige Suggestion) sich heilkräftig erwies. Durch Mani-
pulationen, wie Anfassen, Streichen, Ansehen, die Mesmer nach alten
Vorbildern, aber unmethodisch anw^andte, führte er zweifellos echte
Hypnosen herbei. Mesmer trat 1775 mit seiner Theorie hervor und
fand namentlich in Paris zahlreiche Anhänger. Dort wurde 1784 eine
amtliche Prüfung durch zwei Kommissionen von Mitgliedern der
Societe de medecine einerseits, der Akademie der Wissenschaften und
der medizinischen Fakultät andrerseits (unter ihnen Guillotin, Leroy,
Bailly, Lavoisier und Jussieu) vorgenommen, deren Bericht in kritisch-
wissenschaftlicher, klarer Form die gewonnenen Heilerfolge auf die
Macht der Einbildung zurückführte. Die französische Revolution machte
dann Mesmers Wirksamkeit in Paris ein Ende. Der tierische Magne-
46*
724 Georg- Korn.
tismus bewahrte eine zahlreiche Anhängerschaft, auch Aerzte, wie
Reil, Heim, Hufe 1 and interessierten sich für ihn, in Berlin wurde
die Ernennung von C. C. Wolfart von seinen Gönnern gegen den
AVillen der Fakultät durchgesetzt (1817). Aber mehr und mehr geriet
der Mesmerismus in die Hände von Laien und Charlatans und die
Lehre vom tierischen Magnetismus war schon in den dreissiger
Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bei den Aerzten in Missachtung
geraten.
Da fand im Jahre 1841 James Braid in Manchester, dass die
Hauptsache am tierischen Magnetismus, die Anwesenheit eines Magneti-
seurs, überflüssig ist, und blosses Starren genügt, um Zustände, wie
sie die Mesmeristen beobachten, herbeizuführen. Er machte die Ent-
deckung, dass bei einzelnen Personen nach längerer Betrachtung eines
glänzenden Gegenstandes, oder durch mannigfache Manipulationen,
Anwehen von Luft, Einwirkung von Gehörseindrücken, kurz, durch
jedes beliebige Verfahren, durch welches die Aufmerksamkeit auf
einen Punkt konzentriert wird, ein eigentümlicher, auf nervöser Affektion
beruhender Schlaf hervorgerufen werden kann und dass dieses Ver-
fahren unter Umständen sich auch als Heilmittel empfehle. Er be-
zeichnete diesen Zustand als „Neurypnology" oder „Hypno tismus"
und überzeugte sich dann später, dass dabei dieselljen Erscheinungen
zu Tage traten, die bei dem Mesmerismus beobachtet worden waren.
Er betonte mit aller Entschiedenheit, dass diese Erscheinung lediglich
auf einer eigentümlichen subjektiven Stimmung beruhe, in die das
Individuum durch nervöse Erregung, herbeigeführt durch Konzen-
tration des Geistes auf einen Gedanken oder Gedankengang, versetzt
werde oder sich selbst versetze, keineswegs aber auf irgend welchen
äusseren Einflüssen der Aerzte. Zur Erklärung dieses nervösen Schlafes
bedürfe es daher durchaus nicht der Annahme animal-magnetischer
oder bioelektrischer Phantasien. („Neurypnology" 1843.)
B r a i d s Beobachtungen wurden durch englische Aerzte in Kalkutta
(1848) und italienische Versuche (1859) bestätigt, aber erst im Todes-
jahr Braids, 1860, wurde durch Broca und Azam der Braidismus
als ein wichtiger Fortschritt erkannt und der Akademie der Wissen-
schaften in Paris davon Mitteilung gemacht. Trotzdem blieben diese
Erscheinungen bis zum Ende der siebziger Jahre ziemlich unbeachtet ;
indessen wurden bereits 1875 Braids Ansichten durch Charles
Eichet in Paris in seiner Untersuchung „Du sonnambulisme provoque",
ohne dass er seinen Vorgänger kannte, bestätigt. Wichtiger noch
wurde für die Folgezeit das 1866 erschienene Werk von Liebeault
„Du sommeil et des etats analogues".
In Deutschland beschrieb 1872 Czermak hypnotische Unter-
suchungen an Tieren. Aber erst das Auftreten des gewerbsmässigen
dänischen Hypnotiseurs Hansen 1879 in öffentlichen Schaustellungen,
vor dem übrigens bereits in England und Amerika verschiedene
Personen das Hypnotisieren geschäftsmässig ausgenutzt hatten, regte
zu weiteren Untersuchungen an. Heidenhain, Berger, Grützner
und Preyer, der 1881 Braids Arbeit ins Deutsche übersetzte, dann
Benedikt, Eulenbnrg, Obersteiner, Freud, vor allem aber
Forel, ferner Moll, Schrenck-Notzing, Bleuler, Wette r -
Strand, Hack-Tucke, Vogt, van Eneden, van Eenterghem
Hammond, Delboeufu. a. beteiligten sich in den achtziger Jahren
an der wissenschaftlichen Untersuchung der hypnotischen Erscheinungen.
Neuropathologie. 725
Inzwischen hatte Bernheim in Nancy auf Liebeaults Werk
namentlich durch sein 1884 erschienenes Buch: „De la Suggestion et
de ses applications ä la therapeutique" aufmerksam gemacht und in
Gemeinschaft mit anderen Professoren i'der ..Schule von Xancy i, wie
Beaunis und Liegeois die Suggestionstherapie begründet, deren
Grundzüge noch zur Zeit für die suggestive Behandlung oder Psycho-
therapie bei nervösen Erkrankungen massgebend sind. Wie bereits
hervorgehoben wurde, unterschied sich die Nancyer Lehre in wesent-
lichen Zügen von der „Schule der Salpetriere", die Charcot. Riebet
und Kicher in den achtziger Jahren begründeten. Letztere kannte
einen kleinen und grossen Hypnotismus: der grosse kann nur bei
solchen Individuen erzeugt werden, die an grande hj'sterie leiden, der
kleine entspricht der Hypnose der Nancyer Schule. Beide Zustände
verhalten sich zu einander, wie die grosse hysterische Attaque zu den
alltäglichen hysterischen Anfällen. Der grosse Hypnotismus zeigt«
drei Phasen, den kataleptischen. lethargischen und somnambulen Zu-
stand. Diese an gi'ossenteils hysterischem Material gewonnen und daher
wohl vielfach suggerierten Beobachtungen erwiesen sich bei der Nach-
prüfung durch andere Forscher als unhaltbar. Die einfach auf der
Wirkung der Suggestion aufgebaute Theorie und Therapie der Nancyer
Schule fand dagegen Aufnahme und Ausbau durch die Nervenärzte
aller Kulturnationen; ihrer therapeutischen Anwendung leisteten ins-
besondere Forel, van Eneden, Wetterst r and u. a. Vorschub.
Als ein wichtiger Zweig der Psychotherapie hat sie sich behauptet,
nachdem ihre Ueberschätzung als therapeutisches Allheilmittel und ihr
]\Iissbrauch in den Händen unkritischer Laien oder erwerbsgieriger
Pfuscher zu Wunderkui-en allmählich eingedämmt ist.
Von den sonstigen Klinikern, welche in der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts die Nervenpathologie förderten, werden die
meisten bei dem folgenden historischen üeberblick über eine Anzahl von
Nervenleiden genannt werden. Neben Fried reich und Westphal
ist Kussmaul (f 1902) wegen seiner Arbeiten über die Epilepsie
und die Störungen der Sprache, E. v. L e y d e n als bahnbrechend auf dem
Gebiete der Eückenmarksleiden. der Ernätrungstherapie und der physi-
kalisch-diätetischen Hilfsmittel, W. Erb, Nothnagel, v. Ziemssen
u. a. hervorzuheben, die zum Teil auch bei der geschichtlichen Dar-
stellung der Elektrotherapie zu nennen sind. Sehr wichtig wurde die
Erweiterung unserer Kenntnisse von der Syphilis des Centrainer ven-
systems. wie sie durch die Ai'beiten Westphals und seiner Schüler,
Rumpfs und Heubners ermöglicht und stark gefördert wurden,
und die auch therapeutisch von grosser Bedeutung war.
Sehr erhebliche Fortschritte brachte der Nervenpathologie im
Laufe der fünfziger und sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts
die Entwicklung und der Ausbau einer therapeutischen Spezialität,
der Elektrotherapie. Die Verwertung dieser mächtigen physi-
kalischen Kraft erregte erst damals wieder nach längerer Pause die
Aufmerksamkeit der ärztlichen Kreise. Bei ihrer Wichtigkeit für die
Neuropathologie verdient ihre Entwicklung eine etwas eingehendere
geschichtliche Darstellung.
Einzelne Erscheinungen der tierischen Elektrizität waren sclion
im Altertum bekannt; Aristoteles kennt bereits die elektrischen
Schläge des Zitterrochens, die nach Dioscorides und Scribonius
L arg US bei Kopfschmerzen, nach Plinius bei Milzkrankheiten zu
726 Georg Koru.
Heilzwecken verwendet wurden. Man Hess die Schläge gegen den
leidenden Teil erfolgen und führte ihre Wirkung auf Muskelkraft
zurück. Erst der Holländer Müsse henbroek vermutete eine elek-
trische Erscheinung in diesen Phänomenen, die man dann auch am
Zitteraal und Zitterwels kennen lernte, und Shaw und Hunter be-
stätigten diese Annahme. Aber erst Galvanis berühmtes zufälliges
Experiment am Froschschenkel (in Bologna, September 1786) brachte
die zielbew^usste Anwendung der Elektrizität zu Heilzwecken.
Nachdem Galvani seine Lehre von der tierischen Elektrizität
Volta gegenüber experimentell bewiesen hatte (indem er ohne Be-
teiligung von Metallen durch Berührung tierischer Teile elektrische
Ströme, die Muskelzuckungen hervorriefen, gebildet hatte), erwuchs
ihm zunächst in Alexander von Humboldt ein mächtiger Ge-
nosse, In seiner Schrift „Versuche über die gereizte Muskel- und
Nervenfaser u. s. w." (1797) bestätigte er auf Grund eigener Versuche
Galvanis Entdeckung und betonte: „Diese Vorstellungsart eröifnet
der Nerven -Physiologie und -Pathologie ein neues Feld der Unter-
suchung." Das galvanische Fluidum sei „das wichtigste Agens in
dem chemischen Prozesse der Vitalität". A. v. Humboldt regte denn
auch zahlreiche Versuche über die Heilkraft der Elektrizität an. An
sich selbst hatte er ihre Wirkung auf Wundflächen versucht und
vermutete, dass „der Metallreiz in Augenkrankheiten, Paralyse der
Extremitäten und gichtischen Uebeln Heilung zu versprechen
scheine". Er veranlasste Loder in Jena, K J. Grapengiesser
in Berlin („Versuche, den Galvanismus zur Heilung einiger Krank-
heiten anzuwenden", Berlin 1804) und andere zu therapeutischen Ver-
suchen, die teilweise günstigen Erfolg bei Taubheit, Lähmungen u. s. w.
hatten. Auch die Erfindung der Voltaschen Säule (1800) gab Aerzten,
wie Sömmering, J. W. Ritter, Pfaff, Hufeland, Reil,
Bisch off weitere Anregung, die Heilkraft des Galvanismus am
Menschen zu erproben. Uebrigens hatte schon nach Erfindung der
Leydener Flasche C. G. Kratzenstein in Kopenhagen (1745) die
Anwendung des elektrischen Funkens bei Lähmungen der Extremi-
täten versucht und empfohlen , nach ihm u. a. De H a e n und
J. G. Schaeffer, während A. v. Hall er sich skeptisch aussprach.
Die Anhänger der Lehre Browns begrüssten in der Elektrizität ein
willkommenes Heilmittel bei der Behandlung „asthenischer" Krank-
heiten.
Trotz vieler enthusiastischen Anpreisungen und zweifelloser Er-
folge folgte jedoch bereits in den letzten Jahren des ersten, noch
mehr im zweiten und dritten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts
eine starke Ernüchterung und eine allgemeine Abwendung von dem
neuen Heilmittel. Es war zum Teil in unberufene Hände geraten,
wurde von Charlatanen gleich dem Mesmerismus ausgebeutet. Auch
die Schwerfälligkeit, Kostspieligkeit und schwierige Instandhaltung
der damaligen Apparate und die mangelhafte Kenntnis der nervösen
Krank heits Vorgänge trug zu dem Misserfolg bei.
Eine neue Epoche, die der modernen Elektrotherapie, be-
ginnt mit Faradays Entdeckung der Induktionselektrizität (1831),
die durch Oersteds Nachweis der magnetischen Wirkung elektrischer
Ströme ein Jahrzehnt zuvor vorbereitet wurde. An sie schloss sich
die von Clark e erfundene Konstruktion des Rotationsapparates, den
Magen die und nach ihm Mateucci gegen Lähmungen mit PMolg
Neuropathologie. 727
verwandten. Jetzt wurde zunächst der Weg der methodisch-wissen-
schaftlichen Therapie technisch geebnet durch die ermöglichte Her-
stellung handlicherer und wirksamerer Rotations- und Induktions-
apparate. Der Begiiinder der modernen Elektrotherapie und Elektro-
diagnostik wurde der auch sonst um die Neuropathologie hochverdiente
französische Arzt (er blieb einfacher Arzt bis an seinen Tod 1875)
Duchenne de Boulogne. Zu seinen Untersuchungen und For-
schungen, mit deren Veröffentlichung er 1847 begann, bediente er sich
eines zweckmässig konstruierten volta-elektrischen Induktionsapparates.
Im Gegensatz zu der früheren planlosen Anwendung des elektrischen
Stroms begründete er die Methode der Lokalisierung des elektrischen
Stroms, indem er den wichtigen Nachweis führte, dass man den
faradischen Strom auf bestimmte unter der Haut bis zu einer gewissen
Tiefe, gelegene Teile lokalisieren könne, w^enn man die Stromgeber
(Elektroden) mit feuchten Leitern umgäbe, und oberhalb des zu
reizenden Organs kräftig auf die Haut aufsetze. Er wies ferner nach,
<lass man die Muskeln von bestimmten Hautstellen aus (points d'election)
durch direkte Elektrisation zu ganz besonders kräftigen Zusammen-
ziehungen bringen könne. Ueber Heilerfolge bei Lähmungen und
Neuralgien konnte Duchenne bald berichten, und seine verfeinerte
Diagnostik gestaltete die Anschauungen von dem Wesen der Nerven-
krankheiten allmählich um. Die Ergebnisse seiner unermüdlichen
Forschungen fasste er zunächst in einem epochemachenden Werke
„De l'electrisation localisee et de son application ä la pathologie et ä
la therapeutique" zusammen (1855), an das sich dann noch eine An-
zahl weiterer Veröffentlichungen reihte.
In Deutschland war es zunächst Robert Remak in Berlin, der
die neue wissenschaftlich-methodische Elektrotherapie begründen half,
anfänglich in scharfer Polemik mit Duchenne. Er wies (1855) nach,
dass die Erregungspunkte nichts anderes als die Eintrittsstellen der
motorischen Nerven in die Muskelmasse seien, und dass es überhaupt
zweckmässiger sei, den zugehörigen Nervenzweig zu reizen als die
Muskelbündel selbst. Die letztere Methode wurde als direkte, die
erstere als die indirekte Muskelfaradisation bezeichnet. Angeregt
durch diese Arbeiten, unternahm W. Ziemssen (1857) Untersuchungen
über die Anwendung der Elektrizität in der Medizin und erbrachte
auf anatomisch-physiologischer Grundlage den Nachweis, dass es sich
bei der elektrischen Reizung der Muskeln nicht immer um die Ein-
trittsstellen der Nerven in die Muskeln, sondern um alle die Punkte
handle, an denen der motorische Nerv ausserhalb oder innerhalb
des Muskels oberflächlich genug gelegen sei, um vom elektrischen
Strome erreicht zu werden. Ziemssens „motorische Punkte" wurden
bald Gemeingut der Aerzte und behaupteten ihren Platz in der
Elektrodiagnostik.
Weiteren Anstoss zur Ausbildung der Elektrotherapie gaben die
Ergebnisse der physiologischen Forschung der fünfziger Jahre, ins-
besondere die glänzenden Arbeiten E. Du Bois-Reymonds über
tierische Elektrizität und E. Pflügers Zuckungsgesetz und seine
sonstigen nervenphysiologischen Forschungen. An sie knüpft sich die
Wiedereinführung des galvanischen Stromes in die Elektrotherapie.
Infolge der glänzenden Resultate, welche mit dem faradischen Strome
auf dem Gebiete der ^Muskel- und Nervenkrankheiten erzielt wurden,
geriet der galvanische Strom für einige Zeit gänzlich in Vergessen-
728 Georg Korn.
heit, bis E. Remak (1858) aufs neue die hervorragende therapeutische
Bedeutung des Galvanismus hervorhob, die Ausbildung rationeller
Untersuchungs- und Behandlungsmethoden anbahnte und dadurch auch
dem galvanischen Strome die ihm gebührende Stellung in der Therapie
verschaffte. Sein Hinweis auf die elektrolytische Wirksamkeit des
galvanischen (konstanten) Stroms bei Entzündungen, Geschwülsten, und
auf den Wert der Elektrizität als diagnostisches Hilfsmittel bei
Nervenkrankheiten half den Wirkungskreis der Elektrotherapie erheb-
lich erweitern („Galvanotherapie der Nerven- und Muskelkrankheiten"
1858). Der faradische oder induzierte Strom wurde in der Folge vor-
zugsweise zur Erregung der peripheren Nerven und der Muskeln, der
galvanische (konstante) dagegen namentlich zur Erregung der tiefer
und geschützter gelegenen Centralorgane, des Gehirns, des Eückenmarks
und der Sinnesorgane, angewandt. (Auf die Heilwirkung der Elek-
trizität bei Anwendung des elektromagnetischen Apparats hatte
bereits 1843 Robert Froriep als erster in Deutschland aufmerksam
gemacht, blieb jedoch damals ganz unbeachtet.)
Auch in den folgenden Jahrzehnten wurde auf dem Gebiet der
Elektrodiagnostik und Elektrotherapie eifrig und mit Erfolg weiter-
gearbeitet. Brenner begründete die polare Untersuchungsmethode,
M. Benedikt schrieb eine Elektrotherapie im Anschluss an Remaksche
Lehren, die neue Anregungen brachte, Erb und v. Ziemssen bauten
die von Baierlacher angebahnte Lehre von der Entartungsreaktion
aus, physikalischen und klinischen Studien von Ziemssen folgten eine
Reihe von Forschungen, mit denen die Namen von Moritz Meyer^
Schulz, Hitzig, Seelig müller, Eulenburg, Bernhardt^
Jolly, Vig-ouroux u. a. verknüpft sind. Namentlich die siebziger
und achtziger Jahre waren eine Blütezeit der Elektrotherapie unter
dem Einfluss namentlich von W. Erbs Arbeiten und seines grossen
„Handbuchs der Elektrotherapie". Das Ende des neunzehnten Jahr-
hunderts sah noch grosse technische Fortschritte der Elektrotherapie :
die Einführung der absoluten Strommessung, die Wiederaufnahme der
Anwendung Franklinscher Ströme, die Einführung des hydroelektrischen
Bades und die stetige Vervollkommnung der elektrotherapeutischen
Apparate. Dagegen wurden die wissenschaftlichen Grundlagen der
Elektrotherapie seit 1887 vielfach skeptisch betrachtet. Damals
brachte M ö b i u s die Frage, wieweit die Wirkung der Elektrotherapie
auf Suggestion beruhe, zur Sprache, die dann u. a. 1891 auf dem
Elektrotherapeutenkongress eingehend behandelt wurde. Auf ein
Fünftel schätzte dort A. Eulenburg, auf vier Fünftel Mob ins die
Wirkung der Suggestion. Die Mehrheit blieb jedoch der Fahne der
Elektrotherapie treu, die nach wie vor als ein durch Erfahrung er-
probtes Hilfsmittel in der Behandlung der Nervenkrankheiten gilt
und beibehalten wird, selbst wenn vielfach psychische Einflüsse bei
den Heilerfolgen mitwirken.
Wie sehr die Neuropathologie der Gegenwart auf den wissen-
schaftlichen Errungenschaften der letzten Menschenalter beruht, zeigt
ein kurzer Ueberblick über einige der markantesten Nervenleiden
deutlich.
Die Tabesdorsalis (Hinterstrangsklerose), deren Erscheinungen
gelegentlich schon in der antiken Litteratur angedeutet wurden,
wurde in den dreissiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts von
H u t i n und M o n o d zuerst anatomisch geschildert und C r u v e i 1 h i e r
Neuropathologie. 729
gab neben den anatomischen Feststellungen auch klare Krankheits-
schilderungen. In Deutschland lieferte W. Hörn die erste Be-
schreibung (1827). dem Romberg mit einer Darstellung folgte, die
schon alle wesentlichen Symptome enthält und das Krankheitsbild
scharf abgrenzt. Die Arbeit von Steinthal fasste 1844 das Wissen
seiner Zeit anschaulich zusammen; ihm folgten Wunderlich und
als mikroskopische Anatomen Rokitansky und Türck. So war in
Deutschland diese Krankheit bereits von vielen Seiten durchforscht,
als Duchenne sie 1858 unter dem Namen Ataxie locomotrice pro-
gressive neu entdeckte und beschrieb. Seitdem ist diese Krankheit,
deren Name „Tabes dorsalis" von Romberg stammt, Gegenstand
eifriger Forschung geworden, die in Franki-eich namentlich an
Trousseaus, in Deutschland an Friedreichs, Leydens und
Westphals Arbeiten anknüpft. Von den Symptomen entdeckte
Westphal das Kniephänomen, das Fehlen der Patellarreflexe,
Friedreich den ataktischen Nystagmus, Charcot und Delamarre
die crises gastriques. Als Ursache der Krankheit wurden vielfach
sexuelle Exzesse, von Charcot eine heredite nerveuse, von Leyden
und Goldscheider die Erkältung, von E ding er die Ueber-
anstrengung in den Vordergrund gestellt, bis 1876 der Pariser
Kliniker Alfred Fournier die Syphilistrage aufrollte. Er fand,
dass nur etwa 10 7o der Tabeskranken in ihrem Vorleben nicht
syphilitisch infiziert gewesen waren, während es unter gesunden
Männern nach seiner Berechnung mindestens 80% sind. Erb und
eine gi'osse Anzahl von Klinikern schlössen sich ihm in der An-
schuldigung der Syphilis als wichtigsten oder sogar einzigen Ursache
an, während Leyden und auch Virchow auf ihrem abwehrenden
Standpunkt verharrten. Die Therapie hat in der ganzen Zeit durch-
greifende Erfolge nicht zeitigen können. Thermalsoolen wie Oeyn-
hausen und Nauheim traten an die Stelle der früher empfohlenen
Thermalbäder, Erb empfahl Kaltwasserkur neben der Elektrotherapie,
die schon Remak mit Galvanisation, Rumpf mit allgemeiner fara-
discher Pinselung anwandte. Die Suspensionsmethode des Russen
Motschutkowski, in den achtziger Jahren nach Frankreich im-
portiert, wurde bald verlassen, dagegen die kompensatorische Uebungs-
therapie nach F renke 1 durch Leyden u. a. zur Besserung der
lästigen ataktischen Störungen mit Erfolg herangezogen.
Die spastische Spinallähmung, bei der der sklerotische
Prozess die Seitenstränge ergreift, ist 1875 zuerst von Erb geschildert
und von Charcot unter dem Namen Tabes dorsal spasmodique be-
schrieben worden. Die Untersuchungen von Flechsig und Pick
stellten dann fest, dass es sich hier um eine primäre Affektion handelt,
nicht um die von Westphal beobachtete Kombination mit der
Hinterstrangsklerose. Sie hat grosse Aehnlichkeit mit der von
Charcot beschriebenen aniyotrophischen Lateralsklerose.
Brown-Sequard hat 1 863 eine Krankheit beschrieben, bei der
sich langsam eine halbseitige motorische Lähmung entwickelt, die
auch eine durch Sinken der Bluttemperatur auf der kranken Seite
sich äussernde vasomotorische Lähmung zeigt. Das Muskelgefühl ist
herabgesetzt, die Haut hyperästhetisch. Die gesunde Seite ist bis
zur Höhe der Erkrankung anästhetisch. Die Ursache ist meist eine
äussere Verletzung des Rückenmarks. Die Krankheit erhielt den
730 Georg Korn.
Namen „Brown-Sequardsche Halbseitenläsion" und wurde
bald Gegenstand einer grösseren Litteratur.
Die akute Spinallähmung der Kinder (Poliomyelitis
anterior acuta) wurde zuerst 1840 von J. v. Heine beschrieben, nach-
dem schon im Anfange des Jahrhunderts sich einzelne Autoren mit
der Krankheit beschäftigt, aber die Symptome nicht in ihrer Zusammen-
gehörigkeit erkannt hatten. Unter den späteren Beobachtern steht
Duchenne obenan, der mit Heine eine Veränderung der grauen
Substanz des Rückenmarkes annahm, die Cornil (1863) zuerst sah
und Prevost und Lock hart Clarke in die grauen Vordersäulen
verlegten. Spätere Untersuchungen bestätigten diese Beobachtung
und M. Meyer wies nach, dass nicht nur Kinder, wie man bis dahin
annahm, sondern auch Erwachsene die Krankheit bekommen können.
Die pathologische Anatomie ergab eine akute Entzündung der vorderen
grauen Substanz.
Schon 1849 beschrieb Duchenne die Poliomyelitis anterior
subacuta et chronica, die chronische Form der eben erwähnten
Krankheit. Unter den Ursachen stellte Eemak und nach ihm
Vulpian die chronische Bleivergiftung obenan. J. Mason erzeugte
auf experimentellem Wege die genannten Lähmungen dadurch, dass
er Frösche in Bleilösungen setzte. Die pathologisch-anatomische Unter-
suchung durch AVebber, Ketly und Dejerine ergab eine Degene-
ration der grossen Ganglienzellen in den Vordersäulen.
Nach Landry, der sie 1859 beschrieb, führt die schwere
„P a r a 1 y s i e a s c e n d a n t e a i g u e" ihren Namen. Kussmaul, der
gleichfalls schon 1859 solche Fälle schilderte, fand gleich Landry
keine Veränderungen im Centralorgan, so wenig wie Olli vi er, der
durch den Namen „Rückenmarkshyperämie" eine theoretische Er-
klärung geben wollte. Auch Westphal fand keine anatomische
Ursache, er dachte deshalb an eine Intoxikationslähmung.
Der Name der Myelitis stammt von Harless und Klohss
(1814 und 1 820). Nach ihnen erkannten 0 1 1 i v i e r und Abercrombie
den Erweichungsvorgang, Türck die sekundären Degenerationen. Mit
dem Aufschwung der Pathologie und Histologie in den sechziger
Jahren wurde auch die Myelitis immer genauer erforscht, so durch
Brown-Sequard, Oppolzer und Fromm an n und später durch
Charcots Schule und deutsche Forscher unter Westphals und
Friedreichs Führung. Als pathologischer Befund ergab sich eine
akute oder schleichende Entzündung und darauffolgende Erreichung
der Rückenmarkssubstanz. Man lernte eine centrale Myelitis, eine
Myelitis transversa und nach Westphal eine Myelitis acuta dis-
seminata unterscheiden. Dujardin-Beaumetz stellte noch eine
Myelitis hyperplastica auf, bei welcher die Symptome der Erweichung
fehlen.
Die multiple Sklerose wurde zum erstenmal von Cruveil-
hier (1842) beschrieben und 1855 von Türck klinisch geschildert.
Sie ist eine Abart der chronischen Myelitis, aber durch die Gruppierung
der Symptome von ihr scharf geschieden. Frerichs veröffentlichte
1849 seine berühmt gewordene Studie, 1856 folgte Valentin er,
dann Zenker, Leyden und Rindfleisch und die Veröffent-
lichungen Charcots und seiner Schule, denen in Deutschland be-
sonders Westphals Arbeiten parallel gingen.
Die B u 1 b ä r p a r a 1 y s e , die sich als eine auf die Medulla oblongata
Neuropathologie. 731
beseliränkte Myelitis darstellt, wurde in ihrer akuten Form, ins-
besondere durch Leyden erforscht; die chronische Form, die man
nach dem Vorgange von Wachsmuth auch chronische progressive
Biilbäi-paralyse nennt, erfuhr zuerst durch Duchenne eine klare
klinische Schilderung. Er unterschied sie von der progi^essiven
Muskelatrophie, indem er diese als Atrophie ohne Lähmung, erstere
als Lähmung ohne Atrophie bezeichnete. Bär winke 1 verlegte 1850
den Sitz des Leidens an das verlängerte Mark und Wachsmuth
bestimmte den Sitz im Bulbus meduUae. Die Franzosen schlössen
sich dieser Ansicht an und Kussmaul schlug den Xamen ..pro-
gressive Bulbärkernlähmung-' vor. Er verstand darunter eine
fortschreitende Atrophie und Lähmung der vom Bulbus innervierten
Muskeln der Zunge, der Lippen, des Gaumens, des Eachens und
Kehlkopfes, wobei die Sprache, das Kauen und Schlingen langsam
gestört werden.
Von den vasomotorisch-trophischen Neurosen wurde das unter
dem Xamen ..Basedowsche Krankheit" in Deutschland bezeichnete
Leiden zuerst von Robert James Graves beschrieben, nach dem
man auch -sielfach die Krankheit benannte. Schon früher (1825) hatte
Barry allerdings Fälle ähnlicher Art beschrieben, aber nicht deutlich
abgegi'enzt. Die genaue Kenntnis der drei Symptome, die Lebert
zu der Bezeichnung ..Tachycardia strumosa exophthalmica" ver-
anlassten, rührt aber in Deutschland von Karl A. v. Basedow her.
der in Caspers "Wochenschrift 1840 den ..Exophthalmus durch Hyper-
trophie des Zellgewebes in der Angenhöhle" genau schilderte und
dadurch Anlass gab, dass später die Krankheit seinen Xamen
erhielt.
Die fortschreitende Muskelatrophie beschreibt schon
1745 van Swieten bei Gelegenheit einer Schilderung der Blei-
lähmung. Später wurde sie von John A. Aber crom bie studiert,
namentlich aber von Romberg, der zuerst die progressive Muskel-
atri»phie auf eine Degeneration des Rückenmarks zurückführte. Später be-
hauptete Aron eine rein fettige Entartung des Muskels, während
Cruveilhier diese zugab, aber auf eine Atrophie der vorderen
Spinalnervenwurzeln zurücktührte. Die myopathische Theorie von
Friedreich, der sich gegen den centralen Ursprung des Leidens
aussprach, konnte die neuropathische Theorie, für die namentlich
Charcot eintrat, nicht verdrängen. — Das Krankheitsbild der
Pseudohypertrophie der Muskeln präzisierte zuerst Duchenne
(1861). nachdem schon Rinecker einen hierher gehörigen Fall be-
schrieben hatte.
Die Gesichtsatrophie wurde zuerst von Barry (1825) be-
schrieben; Romberg hielt sie für eine primäre Trophoneurose,
Lande für eine genuine Atrophie des Fettzellgewebes. Die späteren
Autoren nahmen meist den neurotischen Ursprung an und erklärten
sie durch Störungen am Halssympathicus oder am Ganglion Gasseri. —
Der Name der ..Angina pectoris" kommt zum ersten Male in
William Heberdens Arbeit „Letter concerning angina pectoiis"
(1785 1 vor. Der ebenso verbreitete Name „Stenocardie" rührt von
Brera (1810) her. Die verschiedensten Theorien wurden für diese
Anfälle aufgestellt, bis 1866 Lance reaux auf die Beteiligung des
Plexus cardiacus hinwies, nachdem schon 1863 Cohen die Angina
pectoris den vasomotorischen Neurosen zugezählt hatte. Landois
732 Georg Korn.
gab dann 1868 die mangelnde physiologische Erklärung und unter-
schied eine reflektorische und eine vasomotorische Form.
Von den funktionellen Erkrankungen ist die Neurasthenie
erst in den letzten Jahrzehnten zum Gegenstand besonderer Auf-
merksamkeit geworden. Bekannt waren ihre Erscheinungen sicherlich
früher schon, aber man reihte sie unter die Bezeichnungen „Hypo-
chondrie" , besonders im achtzehnten Jahrhundert , oder „Spinalirri-
tation", wie sie namentlich Stilling schilderte, ein; auch als „vapeurs"
wurden in Frankreich ähnliche Erscheinungen registriert. Im Jahre
1851 gebrauchte Sandras zum ersten Male den Ausdruck „etat
nerveux", den später B o u c h u t durch den Namen „nervosisme" ersetzte.
1860 erschien Bouchuts Buch: „Du nervosisme aigu ou chronique
et des maladies nerveuses", das viele neue Aufschlüsse gab. Bouchut
schilderte unter dem Namen Nervosisme eine Reihe abnormer Lebens-
erscheinungen, die man in der Regel noch nicht als eigentliche Krank-
heiten ansieht und bisher zur Hypochondrie, Hysterie oder zu den
Psychosen gerechnet oder als Symptome bestimmter Organerkrankungen
angesehen hatte. Er erklärte die Nervosität für ein selbständiges
Leiden, das nicht auf organischen Veränderungen des Centralnerven-
systems beruht, sondern lediglich eine funktionelle Affektion darstellt,
die akut oder chronisch auftreten kann. Den Namen „Neurasthenie"
für das Krankheitsbild der Nervenschwäche fand 1869 George M.
B. Beard; er behandelte Sj^mptome, Pathologie und Therapie dieser
verbreitetsten aller Kulturkrankheiten in zahlreichen Arbeiten. Die
Litteratur der Neurasthenie wuchs bald ins Ungeheure. J o 1 1 y leugnete
die Existenz der Neurasthenie überhaupt, Gerhardt zählte sie zu
den Angioneurosen, Erb hob die Verwandtschaft der Spinalirritation
beim Weibe mit der Neurasthenie beim Manne hervor und führte sie
beide auf Ernährungsstörungen des Rückenmarks zurück. In der
Therapie trat neben der medikamentösen Behandlung (Brompräparate
u. s. w.) bald die Hydrotherapie und Elektrotherapie in den Vorder-
grund, dann namentlich die von dem Amerikaner Weir-Mitchell
gemeinsam mit Play fair angegebene Diätotherapie, die sog. Mast-
kur, die durch Ruhe in Gemeinschaft mit Ueberernährung günstig
einzuwirken sucht.
Streift schon die Neurasthenie nicht selten an das Gebiet der
Psychiatrie, so noch mehr die Hysterie und die Epilepsie. Die
Studien der Psychiater, namentlich der pathologisch-anatomische Aus-
bau der Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten kamen deshalb auf
dem Gebiete dieser Krankheiten auch der Neurologie zu gute, die viel-
fach von den Psychiatern in einer Art Personalunion gepflegt wurde.
Bei der Hysterie schwankt die Entscheidung, ob hier eine Psychose
oder Neurose vorliegt, hin und her; die schweren Fälle, die namentlich
in Frankreich zur Beobachtung kommen, grenzen jedenfalls an die
reinen Psychosen. Während die Hysterie, wie schon ihr Name andeutet^
auf sexuelle Ursachen zurückgeführt wurde und als Heilmittel hyste-
rischen Mädchen das Heiraten empfohlen wurde, wies namentlich
Charcot schwere psychische Störungen als wesentlich nach. Wie
bereits oben angedeutet wurde, hat Charcot einen wesentlichen Teil
seiner Lebensarbeit der Hysterie gewidmet; seit dem Jahre 1870,
wo ihm der Zufall die früher anderweit untergebrachten Hysterischen
zugeführt hatte, schuf er zunächst eine zuverlässige Symptomatologie
in der Schilderung des Anfalls, der Stigmata, der Zufälle, erkannte
Neuropatliologie. 733
die Ausdehnung der Hysterie auf Männer und Kinder, wies zahlreiche
scheinbar organische Erkrankungen als traumatische oder toxische
Hysterie nach und erhellte das Wesen der Hysterie, indem er die
Entstehung der hysterischen Symptome durch psychische Vorgänge
feststellte. Ferner prüfte er die ästheseogenen Mittel und studierte
die grosse Rolle der Hysterie in der Geschichte und der Kunst. Nach
ihm gingen namentlich Strümpell, Jolly, Oppenheim und
Möbius auf Charcots Wegen weiter; letzterer gab als Definition:
„Hysterisch sind alle diejenigen krankhaften Veränderungen des Körpers,
welche durch Vorstellungen bedingt sind."
Auch das Krankheitsbild der Epilepsie erfuhr in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts im wesentlichen durch Psychiater
seine wissenschaftliche Abgrenzung. Man erkannte, dass nicht allein
die Krampfanfälle als epileptisch zu bezeichnen sind, sondern vielfach
rein psychische Symptome ohne Ki'ämpfe vorhanden sind. Man trennte
die reine, genuine Epilepsie von denjenigen ..sjnnp tomatischen Krämpfen-
ab, bei denen diese durch bestimmte Gehirnkraukheiten bestimmt sind.
H. Jackson zeigte, dass bei einer Reihe von konvulsivischen Krämpfen
eine Verletzung der Gehirnrinde oder ein Druck, der auf sie ausgeübt
wird, ätiologisch von Bedeutung sind („Jacksonsche Epilepsie"). Ausser
den Psychiatern haben sich namentlich Tenner und Kussmaul
in berühmten experimentellen Arbeiten über das Wesen der fall-
süchtigen Zuckungen und Nothnagel um die Lehre von der Epilepsie
verdient gemacht.
Die Hypochondrie, die gleich der Epilepsie (dem abergläubisch
verehrten ..morbus sacer" der Alten) schon im Altertum bekannt war
und deren erste Beschreibung Hippokrates lieferte, wurde jedoch
erst seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts als eine Erkrankung
aufgefasst, deren Sitz im Gehirn oder im Nervensystem zu suchen ist.
Jolly widmete ihr in jüngster Zeit eine eingehende Monographie;
er definiert sie als eine Form der traurigen Verstimmung, in der die
Aufmerksamkeit des Kranken anhaltend oder vorwiegend auf die Zu-
stände des eigenen Körpers und Geistes gerichtet ist. — Ein neues
Krankheitsbild gab gegen Ende des 19. Jahrhunderts die trau-
matische Neurose, die vonCharcot und Westphal zuerst be-
schrieben, von Oppenheim benannt wurde, und um deren wirkliche
Existenz ein heftiger wissenschaftlicher Kampf sich entspann, an dem
sich namentlich S e e 1 i g m ü 1 1 e r beteiligte. Sie gewann besondere Be-
deutung durch ihre grosse Rolle bei Entschädigungsansprüchen in-
folge der modernen Arbeitergesetzgebung. Schon vorher hatte John
ErichsendieRailway-spine beschrieben, nach ihm iu Deutschland
Rigler.
Auch die Schüttellähmung, Paralysis agitans, wurde erst im
19. Jahrhundert entdeckt und zwar von Parkinson (1819);
Romberg, Trousseau und namentlich Charcot bauten ihre
Pathologie weiter aus. — Erst seit 1873 ist die Athetosis be-
kannt geworden, die der Amerikaner. W. A. Hammond zuerst
beschrieb.
Die Lehre von der Neuritis ist erst im letzten Menschenalter
durch das Ineinandergreifen der klinischen, experimentellen und
pathologisch-anatomisclien Forschung, wesentlich auch nach Vervoll-
kommnung der histologischen Untersuchuugsmethoden ausgestattet
734 Georg- Korn.
worden. Die Kenntnis der Polyneuritis ist eine Errungenschaft»
der letzten beiden Jahrzehnte.
Früher kannte man nur die durch äussere Verwundung ver-
anlasste Nervenentzündung, die jedoch auch erst seit 1863, wo im
amerikanischen Bürgerkriege unter der Leitung von Weir Mitchell^
Morehouse und Keen ein Speziallazarett für Nervenverletzungen
errichtet wurde, genauer studiert wurde. Durch Mitchell wurde
1874 die Frage der traumatischen Neuritis zu einem gewissen Ab-
schluss gebracht' Vorher waren viel mehr die vermeintlichen Folge-
erscheinungen der traumatischen Neuritis berücksichtigt worden, unter
denen Trismus und Tetanus am meisten gefürchtet waren. Die Lehre
von den neuritischen Lähmungen begründete 1860 E. Remak;
einen weiteren Fortschritt in der Erkenntnis brachte die experimentelle
Erforschung der von Duchenne seit 1847 bei peripherischen Lähmungen
gefundenen Aufhebung der Muskelerregbarkeit für den induzierten^
und der von Baierlacher 1859 entdeckten, später so genannten
Entartungsreaktion für den galvanischen Strom, Es waren die x\rbeiteii
von Erb, Ziemssen und Weiss, die 1868 diese wertvollen Auf-
schlüsse brachten. Dann beherrschte die Lehre von der Poliomyelitis
bis 1880 die Situation, bis Leyden in diesem Jahre und in den
folgenden die Poliomyelitis auf ein sehr bescheidenes Gebiet zurück-
drängte und in der Mehrzahl der Fälle auf multiple Neuritis zurück-
führte und die Mehrzahl der Neurologen ihm beistimmte. Die Blei-
lähmung, diphtherische Lähmungen (P. Meyers Arbeit 1881), die
japanische Kakke (Baelz und Sehe übe 1882) wurden nun auf
Polyneuritis zurückgeführt, für deren Aetiologie Möli (1884) den
chronischen Alkoholismus als wichtiges Moment hervorhob. D e j e r i n e
ermittelte 1883, dass A t a x i e lediglich durch neuritische Veränderungen
der sensiblen Nerven begründet sein kann (Neurotabes peripherica).
1888 hob E. V. Leyden hervor, dass die Polyneuritis als eine Gruppe
von Krankheiten anzusehen sei. (Aufsteigende Landrysche Paralyse^
die infektiösen multiplen atrophischen Paralysen, Bleilähmung, Arsenik-
lähmung, diphtherische Lähmungen, akute Ataxien u. s. w.) In den
letzten Jahren wurden dann wieder die spinalen Veränderungen in
ihren Abhängigkeitsverhältnissen zu den peripherischen mehr unter-
sucht, wozu die sehr verfeinerten Untersuchungsmethoden die
Mittelgaben; eine prinzipielle Bedeutung gewann die Neurontheorie.
(Vergl. E. Remak und E. Fla tau, Neuritis und Polyneuritis,
Wien 1899.)
Auch mehrere ganz moderne Heilmethoden stellten sich neuer-
dings in den Dienst der Nerventherapie, so die Bakteriologie, wie sie
Robert Koch inaugurierte, durch die Bereitung des Antitoxins
(Behring) gegen Tetanus, die Paste urschen Schutzimpfungen
durch die Bekämpfung der Lyssa, endlich die Organtherapie durch
Darreichung der Schilddrüsenpräparate beim Myxödem. Weitere
Versuche, die Organtherapie auf Nerven- und Rückenmarkskrankheiten
auszudehnen (auch das Spermin von Brown-Sequard geh orte
in gewissem Sinne hierher) sind von verschiedenen Seiten gemacht
worden, ohne bisher sichere Ergebnisse zu haben. — Eine reiche
Auswahl von Nervenmitteln brachte die moderne Chemie.
Daneben sind alle jene vielfachen Hilfsmittel der Therapie, wie
sie unter dem Namen der diätetisch-physikalischen Heil-
methoden zusammengefasst und immer mehr ausgebeutet werden^
Neuropathologie. 735
auch den Nervenleidenden erscUossen worden. Zalikeiche offene Heil-
anstalten wenden sie, insbesondere die durch Winternitz u. a.
wissenschaftlich ausgebaute Hydrotherapie, systematisch an. besonders
bei funktionellen Neurosen. Auch für unbemittelte Nervenkranke
sind neuerdings, auf Mob ins' Anregung, Heilanstalten begründet
worden. Zugleich ist die Anleitung und Gelegenheit zu nützlicher
körperlicher Arbeit in das Programm solcher Anstalten als nützliches
Heilmittel aufgenommen worden (G r o h m a n n , F o re 1). Die Personal-
union zwischen Psychiatrie und Neuropathologie, die in den Flitter-
wochen der modernen Nervenheilkunde die Regel war, ist bei dem
wachsenden Umfange der Zwillingsschwestern einer Arbeitsteilung
zwischen den Psychopathologen und den eigentlichen Neuropatho-
logen gewichen, wenn sie auch eine Reihe Grenzgebiete gemeinsam
haben.
Stark interessiert ist schliesslich die Nervenheilkunde an dem
Erfolg der immer stärker anschwellenden Bewegung zur Bekämpfung
des Alkoholismus einerseits, der Syphilis und der Geschlechts-
krankheiten andrerseits, die als Ursachen in der Neuropathologie eine
umfassende und verhängnisvolle Rolle spielen.
Geschichte der epidemischen Krankheiten.
Von
Tictor Fossel (Graz).
Einleitung.
Litteratur.
(A^^sser den bekannten Werken von Sprengel, Hecker, Häser, Hirsch,
Crriesinger, Schnurrer, Lersch): Fracastoro, De contagione et contagiosis
morbis . . ., 1550. — Lancisi, De noxiis pallidum effluviis, 1716. — Boissier de
Sauvage, Nosologia methodica, 1763. — Crrant, Beob. üb. d. Natur . . . der Fieber,
1775. A. d. Engl. — Sydenhain, Werke. Deutsch v. Mastallier, 1786. — Lepecq
de la Cloture, Anleitg. f. Aerzte, epid. Krankheiten zu beobachten, 1788. — D'An-
trechau, Merhv. Nachrichten . . . v. d. Pest in Toulon, 1794. — Finel, Philosoph.
Nosographie, 1800. ■ — Ozanatn, Allgeni. u. besond. Geschichte d. epid. Krank-
heiten, 1820. — Fodere, Legons sur les epidemies . . . 4 Bde., 1822 — 24. — Marx,
Origines contagii, 1824. — Huxham, Opera, 1829. — Ehrenberg, Die Infusions-
thicrchen als vollkommene Organismen, 1832. — Schönlein, Allgem. u. spec. Patho-
logie, 1839. — Henle, Pathol. Untersuchungen, 1840. — Canstatt, Hdb. d. med.
Klinik IL Bd. 1847. — Bürenspr^ung, lieber Volkskrankheiten, 1851. — lAeher-
mneister, lieber d. llrsaclien d. Volkskrankheiten, 1865. — Corradi, Annali dellc
epidemie, VII vol. 1876 — 92. — Löffler, Vorlesungen üb. d. gesch. Entwicklung d.
Lehre von den Bacterien, 1887. — CreigJiton, History of the epidemies in
Britain . . . 2 voll. 1891 — 94. — Behring, Gesammelte Abhandlungen, 1893. —
Behring, Die Bekämpfg. d. Infectionskrankheiten, 1894. — Behring, Die In-
fectionskrankheiten im Lichte d. modern. Forschg., D. m. Wochsch. 1894. — Pusch-
■niann, Die Gesch. d. Lehre v. d. Ansteckung, Wien. med. Wochsch. 1895. —
CrTuber, Pasteur's Lebensiverk . . . Wien. Min. Woch. 1895. — Peypers, lln
ancien pseudo-precurseur de Pasteur, Janus I, 1896—97. — Gottstein, Allgem.
Epidemiologie, 1898. — Weichselbauni, Epidemiologie, 1899. — Cttrschniann,
Hungernöthe im Mittelalter, 1900. — Niedner, Die Kriegsepidemien des 19. Jahrdt.
u. ihre Bekämx)fimg, 1903. (Bezüglich der ausführlichen Literaturangaben, denen
hier kein Platz offen stehen konnte, vergl. u. a. insbes. H. Iläser, Lehrb. d. Gesch.
d. Medicin und d. epid. Krankheiten, III. Bearbeitg., HL Bd. 1882, iind A. Hirsch,
Handb. d. hist.-geogr. Pathologie, 2. Au^., L und IIL Bd. 1881—1886.)
Die grossen Seuchen der Vergangenlieit, so tiefeingreifend in die
Schicksale der Völker, umfassen zugleich die lehrreichsten Blätter in
der Geschichte der Heilkunde. Die Schärfe der ärztlichen Erkenntnis
und Beobachtung, die Nutzanwendung herrschender Theorien, die
Autorität der medizinischen Schulen erlangt während der Herrschaft
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 737
gewaltiger Volkskrankheiten die ihnen gebührende Geltung im Gefüge
des öffentlichen Lebens. Die Geschichte der Epidemien lehrt, weit
mehr, als es die reichsten Schriftdenkmale jemals wiederzugeben im
Stande gewesen sind, den nachkommenden Geschlechtern in lapidaren
Zügen Wert und Unwert ärztlicher Doktrinen und lässt uns ihre
Rückwirkung auf die Interessensphäre der Allgemeinheit prüfend und
abwägend vergleichen. Zu allen Zeiten, von den Anfangen der Heil-
kunde im mythischen Zeitalter bis zur jüngsten Vergangenheit, tritt
in der Auffassung und in der Lehre von den Epidemien die Grenze
menschlicher Einsicht in die Xaturvorgänge überhaupt am greifbarsten
zu Tage. Wie von dem schwankenden, wechselvollen Verständnis der
Ursachen eines plötzlich hereinbrechenden Erkrankens und Sterbens
der breitesten Volksraassen gibt die Seuchengeschichte ein unparteiisches
Zeugnis von der Ohnmacht oder den Erfolgen ärztlicher Weisheit und
Thätigkeit. Denn weit über die Erkrankung des Einzelnen hinaus
waren die grossen Wanderzüge einer Seuche allezeit der scharfe Prüf-
stein, um zu ermessen, wie tief die ärztliche Erkenntnis in das Wesen
der Volkskrankheit gedrungen und wie weit die Heilkunde befähigt
gewesen war, die unheilvollen Verheerungen des Todes von der Ge-
samtheit abzuwenden.
Naturgemäss spiegelt sich in den Epidemien eines jeden Zeitalters
die Summe des medizinischen Wissens und Könnens wieder: in ihrer
geschichtlichen Darstellung nimmt die herrschende Voi-stellung von den
ätiologischen Faktoren, die dominierende Krankheitslehre und die gegen
Seuchengefahr ins Werk gesetzte private und öffentliche Hygiene den
ihr geziemenden Platz ein. So geringwertige und unfruchtbare Pflege
die Epidemiographie durch lange Zeitabschnitte der medizinisch-his-
torischen Geschichtsschreibung erfahren hat, so lässt sich doch nicht
verkennen, dass vom 16. Jahrhundert an, in welchem ein freierer Geist
auf dem medizinischen Arbeitsgebiete sich zu rühren begonnen hatte,
epidemiologische Berichte an das Tageslicht treten und, wenn auch
nui' stückweise, die Kenntnisse der Zeitgenossen bereichern und ver-
tiefen. Andererseits ist zu gewissen Zeiten wiederum mit voller Klar-
heit zu ersehen, wie die mit elementarer Gewalt über Länder und
Völker anstürmenden Seuchen die Aufmerksamkeit und den Scharfsinn
der Aerzte in lebhaftere Bewegung gesetzt und auf die im Autoritäts-
glauben befangene Heilkunde im allgemeinen energischen und heil-
samen Impuls geübt haben. So hat die grosse Verbreitung der
Syphilis am Ausgang des Mittelalters, die Seuchennot des Fleckfiebers
und des Englischen Schweisses im Zeitalter der Reformation zum
guten Teil die Unfehlbarkeit der galenischen Doktrinen erschüttert.
Auch im abgelaufenen Jahrhundert war es trotz aller Schrecknisse
dem ersten europäischen Zuge der Cholera zu danken, dass vor allem
in der deutschen Medizin, die sich in naturphilosophischen Grübeleien
und unerquicklichen Spekulationen völlig verloren hatte, eine wohl-
thätige Ernüchterung Platz griff und an die Stelle gefälschter Kom-
mentierungen der Naturgesetze das vorurteilsfreie Studium reeller
Vorgänge allmählich wieder sich einzubürgern begann. Die grossen
Epidemien erwiesen sich zu allen Zeiten als strenge Lehrmeister, die
die Schwächen und Verirrangen der medizinischen Traditionen der
Zeit aufgedeckt, der Forschung neue Gesichtspunkte eröffnet und dem
ärztlichen Stande Beobachtungen geboten haben, alte Erfahrungen und
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 47
738 Victor Fossel.
neue Beobachtimg-sobjekte miteinander zu verknüpfen und im Sinne
geläuterter Anschauungen auszunützen.
Doch nicht bloss ein medizinisches, auch ein allgemeines kultur-
historisches Interesse nehmen die grossen, gewaltigen Seuchenzüge der
Vergangenheit in Anspruch. Die Verwüstungen, die im Gefolge von
Epidemien über ganze Länder und Völkerschaften sich ausgedehnt,
die ungezählte Menschenleben vernichtet, blühende Ansiedlungen ent-
völkert, Wohlstand und Besitz zerstört haben, sind oft genug der
Menschheit zu härterer Bedrängnis geworden, als sie die blutigsten
Kriege, schwere Hungersnöte oder die durch elementare Katastrophen
bewirkte Schädigungen und Verluste herbeizuführen im stände waren.
Die durch lange Zeiträume sich hinziehenden und nicht selten mit
erifeuerter Bösartigkeit nach kurzer Pause wiederkehrenden Seuchen-
plagen der Vergangenheit, mit dem ganzen Kulturleben eines Volkes
zusammenhängend, waren von verhängnisvollen Erschütterungen des
geistigen und materiellen Wohles der Nationen begleitet. Sie haben
die Kampfbereitschaft grosser Heeresmassen empfindlich geschwächt,
der Kulturentwicklung ganzer Völker zersetzenden Nachteil gebracht
und selbst die Lebenskraft einzelner Staatengebilde auf lange hinaus
gelähmt oder deren Machtbestand dauernd untergraben. Wie Athen
und seine politische Selbständigkeit nach der grausamen Pest zur Zeit
des peloponnesischen Krieges sich nicht mehr zur früheren Blüte erholen
konnte, so waren die unaufhörlichen Seuchen, die das sinkende Kömer-
reich heimgesucht, neben anderen Ursachen mitbeteiligt an dem Nieder-
gange seiner weltgebietenden Herrschaft. Welche gewaltige Wand-
lungen hat nicht die grösste Weltseuche, der schwarze Tod des
14. Jahrhunderts auf den Geist der Menschen ausgeübt, Besitzstand
und soziale Verhältnisse vom Grund aus verschoben?
Wenn wir an der Hand der historischen Kenntnisse Rückschau
halten über die Vorstellungen, die den Seuchen in den einzelnen Zeit-
abschnitten zu Grunde gelegt wurden, so begegnen wir in den urältesten
Perioden der Völker dem Glauben an die übernatürlichen Ursachen
der Volkskrankheiten. Die ursprüngliche, noch heutzutage bei rohen
Naturvölkern herrschende Auffassung der Krankheit als eines Werkes
böser Mitmenschen oder feindseliger Dämonen wird in höherer Kultur-
stufe von der Ueberzeugung verdrängt, dass die Götter die Seuchen
über die Menschheit verhängen, um sie für begangene oder vermeint-
liche Missethat zu strafen. Wie das Leiden des Einzelnen, wird die
Seuche dem Zorne der Gottheit zugeschrieben, die wieder nur durch
Gebet und Opfer besänftigt werden kann. Im trojanischen Krieg ist
es Apollon, der das Sterben der Menschen und Tiere gewollt hat,
bei den Römern sendet der Kriegsgott Mars die mörderischen Krank-
heiten der Menge und im alten Testamente züchtigt Gott der Herr
das auserwählte Volk mit Pestplagen aller Art.
Im Gegensatze zu der Vorstellung des überirdischen Ursprungs
der Seuchen trat die hellenische Heilkunde der Annahme, dass die
epidemischen Krankheiten auf natürlichen Ursachen beruhen, schon
um einiges näher. Ungewöhnliche Naturereignisse, vulkanische Aus-
brüche, Ueberflutungen oder abnorme Dünste des Luftkreises werden
als seuchenerzeugend betrachtet. Hippokrates, in dessen Schriften
das ünerklärbare in der Krankheitsätiologie in dem bekannten Worte
,,To d-elov^^ zusammengefasst erscheimt, erklärt andererseits die Ent-
stehung der Volkskrankheiten durch eine Reihe physikalischer Faktoren,
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 739
unter denen die Luft, der Boden, die Jahreszeiten und besondere klima-
tische Verhältnisse genannt sind. Die im Corpus Hippokraticum
niedergelegten Lehren von den Einflüssen der Witterung im allge-
meinen, von der Jahreszeit, der Windrichtung, der Luftbeschaffenheit
und anderen Ursachen auf die Entwicklung der Krankheiten sind
mehr der Ausdruck unbestimmter ßückwirkungen der Atmosphäre und
ihres wechselnden Verhaltens auf die jeweilig herrschenden oder einem
gewissen Zeitabschnitte angehörigen Ki-ankheitsformen überhaupt. In
diesem Sinne wurde der Begriff der Krankheitskonstitution verstanden,
von Späteren aber willkürlich ausgelegt und missdeutet. Die strengere
Auffassung der Epidemien als Infektionskrankheiten ist in den hippo-
kratischen Schriften wie im ganzen Altertum völlig unklar; bei den
griechischen Autoren finden sich nur spärliche und schwankende De-
finitionen jener Merkmale, die uns ein schärfer umgrenztes Bild von
dieser oder jener Volksseuche wieder erkennen lassen. Galen s
vielcitierter Ausspruch: „Wenn eine Krankheit viele Menschen befällt,
so ist sie epidemisch; wenn sie auch viele von ihnen tötet, so ist es
die Pest"', darf als Kardinalsatz der hellenischen Krankheitslehre
hingestellt werden, dessen dominierende Geltung bis in die neuere
Zeit sich erhalten hatte.
Wie bei den Griechen und Römern die Krankheiten als Störungen
des gesamten Organismus zusammengefasst und nur in geringem Masse
nach den einzelnen charakteristischen Symptomen beschrieben er-
scheinen, so dürftig sind die Belege, die für die Kenntnis oder Nach-
forschung der ätiologischen Momente in der antiken Heilkunde Auf-
schluss geben. Doch fehlt es nicht an Beispielen, die bezeugen, wie
die Voraussetzung gemeinsamer Ursachen bei Volkskrankheiten den
Beobachtern sich aufgedrängt und die Begriffe des Kontagiums und
Miasma ins Leben gerufen hatte. Die in der Atmosphäre und ihren
Verunreinigungen gelegenen Schädlichkeiten spielen in der Lehre von
dem miasmatischen Ursprünge der Seuchen die Hauptrolle, die Luft
wird zum Bildungsherd oder Vermittler der krankmachenden Agentien.
Wie Hippokrates, so führt Galen zum Unterschied von den
sporadischen Krankheiten die Epidemien auf die Einwirkung der
Atmosphäre zurück; beide lehren, dass an der Entwicklung der epi-
demischen Krankheiten nicht die Diät, sondern die Luft als Haupt-
übel beteiligt sei, ja Hippokrates bezeichnet im allgemeinen die
mit ungesunden Unreinigkeiten geschwängerte Luft (Miasma) als die
Quelle der Seuchen. Neben den Emanationen stehender Gewässer und
Sümpfe wurden Ueberschwemmungen , Verwesungsdünste der unbe-
erdigten Leichen von Menschen und Thieren als Brutstätten von
Epidemien angesehen. Die gesundheitlichen Gefahren eines verdorbenen
Wassers, die hygienischen Nachteile eines von Fäulnisstoffen impräg-
nierten Bodens und der Zusammenhang dieser Gebrechen mit der
Entwicklung und Ausbreitung von Seuchen in volkreichen Städten
war bei den Römern dem vollsten Verständnis begegnet und die
grossartigen Assanierungswerke, die sie geschaffen, erregen noch heute
unser Erstaunen.
Begreiflicherweise war es den Aerzten des Altertums schon früh-
zeitig klar geworden, welchen mächtigen Faktor der menschliche Ver-
kehr bei Entstehung und Verschleppung epidemischer Krankheiten
bildet. Schon D i o d o r erklärte als Hauptursache der attischen Seuche
die Ueberfüllung der Stadt Athen mit von allen Seiten zusammen-
47*
740 Victor Fossel.
strömenden Volksmassen und die dadurch bewirkte Luftverderbnis.
Thukydides hingegen, die gleiche Ansicht teilend, fügt bei, die
Seuche sei von vielen auf eine Vergiftung der Brunnen zurückgeführt
worden. Die enge Verbindung von Krieg und Pestilenz war den
Griechen eine geläufige Tatsache. Auch die erhöhte Gefahr der An-
steckung für jene Personen, die zur Zeit einer Seuche mit Kranken
umgehen, entging nicht dem Blicke der Beobachter und die Aus-
dünstung der Kranken galt für den hauptsächlichsten Weg der In-
fektion. Die Anfänge der parasitären Theorien von den Infektions-
krankheiten bei den Eömern werden an späterer Stelle gestreift werden.
Während des ganzen Mittelalters kam die Seuchenlehre nicht über
die Grenze hinaus, die in den Schriften des Altertums vorgezeichnet
gelegen war. Der blinde Autoritätsglaube zog der Prüfung und Wür-
digung von Tatsachen die engsten Schranken, obgleich kaum eine
Periode der Geschichte von so zahlreichen, mörderischen und oft un-
entwirrbaren Seuchenzügen erfüllt gewesen war, wie gerade dieses
Zeitalter. Nur in geringen Abweichungen von den galenischen Dogmen
traten bei den arabischen Aerzten selbständige Meinungen hervor. Mit
den weitgehendsten Erklärungen kommentierten sie die Humoral-
pathologie, wie sie in den Werken des grossen Arztes von Pergamos
überliefert worden war, die Fäulnis des Blutes, die „verborgenen Qua-
litäten" beherrschten mit souveräner Macht die ganze Lehre von den
epidemischen Krankheiten. Selbst die berühmt gewordene Trennung
der akuten Exantheme, die Eh az es (850 — 930) den Hauptformen nach
in Pocken und Masern unterschieden hatte, stützte sich in der Aetio-
logie auf die Verderbnis der Säfte, er schrieb die Variola dem Auf-
brausen des Menstrualblutes während des kindlichen Uterinlebens, die
Morbillen den Aenderungen der Galle zu. Wenn Avicenna (f um
1037) die bemerkenswerte Ansicht ausspricht, es nehmen bei anstecken-
den Krankheiten gewisse von Kranken herrührende Krankheitsprodukte
den Weg in das Trinkwasser oder den Boden und wenn er demnach
in letzteren die wichtigste Quelle der Vervielfältigung solcher dele-
tärer Krankheitsstoffe erblickt, so haben wir darin vortreffliche Ge-
danken anzuerkennen, deren Verwertung jedoch gänzlich unbeachtet
gelassen blieb.
In der als „Schwarzer Tod" benannten Pestpandemie des 14. Jahr-
hunderts trat auf dem Boden der strengen Gläubigkeit und gestützt
von dem kirchlichen Geiste, der alle Naturerkenntnis durchzog, die alte
Vorstellung von der himmlischen Sendung der Seuche und dem Straf-
gerichte Gottes über die sündige Menschheit mit erneuerter IJeber-
zeugung in das Bewusstsein der Völker. Astralische Einflüsse, tellu-
rische Umwälzungen wurden als pestbringend gefürchtet, eine im
massenhaften Absterben des Pflanzenwuchses und der Tierwelt sich
kundgebende allgemeine Fäulnis galt nach dem Glauben der Aerzte
und Laien als sicherer Vorbote der Pest. Dabei war man aber eifrig
bemüht, die Wege der Infektion, die offenkundig allen einleuchtete, zu
ergründen. Nur wenige zweifelten an der Ansteckung von Person zu
Person, mochte man darunter einen giftigen Pesthauch verstehen oder
die unmittelbare Berührung der Kranken, ihrer Kleider oder Habselig-
keiten als Vermittler obenan stellen. Wo aber in so vielen, un erklär-
baren Vorkommnissen der Faden der Krankheitsübertragung, die Ver-
schleppung und sprungweise Verpflanzung der Seuche nicht verfolgt
werden konnte, oder wo sich deren Ausbruch scheinbar an ungewöhn-
Geschichte der epidemischeu Krankheiten. 741
liehe Naturereignisse, abnorme Wetterstände u. dgl. angereiht hatte,
galt es für ausgemacht, es müsse eine besondere pestilentielle Kon-
stitution vorwalten, die allen lebenden Wesen verderblich sei und durch
die von ihi* ei-zeugte Fäulnis das allgemeine Erkranken vorbereite
und bedinge. Gleichzeitig und im Zusammenhange mit dieser Hypo-
these kam die uralte Yoi-stellung von der autochthonen Entstehung
der Pest wieder zu Ansehen und Geltung, um bis auf unsere Tage
herab von Aerzten und Nichtärzten verteidigt zu werden. Schon wäh-
rend der Herrschaft des Schwarzen Todes schieden sich die Anhänger
und Gegner der direkten Seuchenübertragung durch den persönlichen
Verkehr in die beiden Hauptlager der Kontagionisten und Antikon-
tagionisten. deren Widerstreit bis zui' jüngsten Vergangenheit die
Seuchengeschichte durchflochten hat.
Erst das 16. Jahrhundert brachte in die Auffassung der epidemi-
schen Krankheiten einigen Fortschritt. Die schärfere Beobachtung
der einzelnen Formen der Seuchen, die man bisher unter dem Namen
der „Pest" zusammengeworfen hatte, führte wenigstens zur Erkenntnis,
dass es Epidemien von verschiedenem Charakter gäbe, dass die ihnen
zu Grunde liegenden Krankheitsformen nach Erscheinung, Verlauf und
Bösartigkeit nicht überall und jedesmal übereinstimmen. Von der
eigentlichen Bubonenpest wurden nach dem Vorbilde Fracastoro's
(1483 — 1553) die pestilentiellen oder malignen Fieber abgetrennt, doch
letztere mehr als gi-aduelle Abarten und nicht immer als differente
Krankheiten an sich verstanden. Von der Grundanschauung aus-
gehend, dass sich je nach den örtlichen oder zeitlichen Verhältnissen
die müdere Form in die schwerere umzusetzen vermag, wurde der
Lehre von der Transmutatio morborum Thür und Thor geöffnet und
damit bis tief in das 19. Jahrhundert hinein ein verhängnisvoUer
Fehler in der Darstellung der Epidemien fortgeschleppt. Immerhin
war es ein kleiner Gewinn, dass man in den epidemiographischen Ar-
beiten jener Zeit begonnen hatte, den Begleiterscheinungen der
Seuchen erhöhtes Augenmerk zuzuwenden und den Gelegenheits-
ursachen ihrer Verbreitung einigermassen nachzuforschen. Elend, Nah-
rungsmangel, hygienische Missstände im allgemeinen werden in den
Beschreibungen der damaligen Epidemien besser gewürdigt, die be-
.sonderen accidentellen Umstände des Ausbruches und der Ausbreitung
ansteckender Krankheiten, wie Kriegszüge, Lagerleben bei den pest-
artigen Fiebern eingehender berücksichtigt; doch war es mehr ein
theoretisches Interesse, das man dem Gegenstand entgegenbrachte,
die praktischen Fragen blieben unerörtert, es fehlte noch an Einsicht
und Verständnis.
Während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts blieb die Epi-
demiologie in ihren Hauptzügen unverändert erhalten und nur soweit,
als die Krankheitslehre an sich Aufschluss über das Wesen und
die Erscheinungen der Volksseuchen zu geben im stände war. fanden
sich die Aerzte auch hierin bereit, neben den galenischen Doktrinen
von der Fäulnis des Blutes den chemiatrischen Ideen und mechanischen
Hypothesen des Zeitalters willige Gefolgschaft zu leisten.
Einen gewaltigen Umschwung erfuhr die Lehre von den epide-
mischen Krankheiten durch die bahnbrechenden Grundsätze, die
Sydenham (1624 — 1689) in der Seuchenlehre mit der Ausbildung
des Begriifes der epidemischen Konstitution aufgestellt hatte.
Nach ihm sind die Epidemien nicht wie andere, wenn auch verbreitete
742 Victor Fossel.
Krankheiten bloss von der Witterung und den Jahreszeiten abhängig-
(C 0 n s t i t u t i 0 a n n u a) , sondern ausserdem bedingt durch unbekannte
tellurische Ursachen, oder wie er sagt, durch „eine verborgene, uner-
klärbare Aenderung in den Eingeweiden der Erde selbst" (Consti-
tutio epidemica). Die epidemische Konstitution, gekennzeichnet
durch die Herrschaft einer bestimmten Volkskrankheit, drückt allen
anderen, auch interkurrierenden Krankheiten ihren eigenartigen
Charakter auf und wirkt auf sie mit so dominierender Macht, dass
selbst gleichzeitig vorhandene epidemische Krankheiten einer anderen
Gattung das Gepräge der Hauptseuche annehmen. Die Jahreszeiten
üben auf die epidemischen Krankheiten nur insofern Einfluss, als sie
ihrer Natur nach sich als Frühlings- oder Herbstkrankheiten mani-
festieren; die Hauptseuche tritt immer im Herbst hervor. Jede epi-
demische Konstitution ist von einem ihr eigentümlich zukommenden
Fieber begleitet (Febris stationaria), dessen Typus in allen zur
Zeit grassierenden Krankheiten zu Tage kommt, also zum herrschenden
Fieber wird und dessen Grundzüge selbst in heterogenen Krankheiten,
die ja nur als Abarten der Hauptkrankheit der epidemischen Kon-
stitution erscheinen, wiederkehren. Unter diesem Gesichtspunkte
werden die örtlichen Aifektionen gewisser Krankheitsformen, wie bei-
spielsweise Exantheme, Bubonen, dysenterische Stuhlgänge und dergl.
nur als Symptome des regierenden Fiebers aufgefasst oder als kritische
Ablagerungen oder Ausscheidungen der Materia peccans angesehen.
Wenn auch die einzelnen epidemischen Konstitutionen an sich Varia-
tionen darbieten, zuweilen ganz anomal verlaufen oder mit einer
zweiten Konstitution gemengt auftreten können, so herrscht doch
innerhalb der jeweiligen Konstitution in allen Krankheiten eine Kon-
formität der Fieber- und anderer Erscheinungen, die in ihrem Ge-
samtbilde zusammengehören und von jenem anderer Konstitutionen
wesentlich differieren. Epidemische Konstitutionen und deren Grund-
krankheiten wiederholen sich in bestimmter Eeihenfolge, sie treten
aber auch modifiziert auf, andere hingegen verschwinden temporär
oder treten für immer zurück, indes neue Formen entstehen und zur
Ausbildung gelangen können,
Sydenham, der mit seinen auf hippokratischen Prinzipien be-
ruhenden Grundanschauungen in der Pathologie und Therapie den
Namen eines medizinischen Eeformators erworben hat, eröffnete auch
in der Epidemienlehre eine geschichtlich bedeutsame Epoche, Sein
Geist durchwehte das ganze 18. Jahrhundert und das von ihm pro-
klamierte Kausalverhältnis von Seuche und Krankheitskonstitution
wurde zum Gemeingut ärztlicher Generationen. Die epidemiologischen
Lehren des grossen englischen Arztes mit ihrer mystischen Krank-
heitsätiologie wurden gläubig aufgenommen und befriedigten gerade,
weil sie von einem Naturgeheimnis ihren Ausgang ableiteten, den
geistigen Geschmack und die Weltanschauung der Zeitgenossen ; dazu
kam, dass Sydenham, ohne ein System zu beabsichtigen, eine ab-
geschlossene Erklärung der Ursachen und Wandlungen der Seuchen-
species an die Hand gab, deren vermeintliche Abhängigkeit von
höheren Potenzen sich unschwer in die medizinischen Systeme ein-
fügen Hess, die während des 17, und 18, Jahrhunderts einander abge-
löst hatten.
Aetiologische Forschungen lagen der Krankheitslehre jener Zeit
im allgemeinen mehr ferne; die Krankheitskonstitutionen leisteten
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 743
dem Glauben an den miasmatisclien Ursprung der Epidemien den
denkbar weitest gehenden Vorschub. Dennoch wäre es verfehlt, an-
zunehmen, als hätten sich die manifesten Beweise des direkten und
indirekten Kontagiums der Forschung entzogen. Keineswegs! Es
wird sich bei Besprechung der historischen Pathologie der einzelnen
Seuchen Gelegenheit ergeben, auf die klaren, gesunden Vorstellungen
zurückzukommen, die in den JVIeinungen damaliger Aerzte über die
Ansteckungsmodalitäten und -Gefahren vieler Volkskrankheiten ihren
beredten Ausdruck gefunden haben. Dem von Sydenham ausge-
sprochenen Gedanken, dass die Körperflüssigkeiten infolge giftiger,
kontagiöser Agentien infiziert werden können, und letztere dann spe-
zifische, essentielle Krankheitserscheinungen hervorzurufen im stände
sind, lag eine geniale Ahnung unserer heutigen Anschauungen zu
Grunde. Ebenso drückt sich in den Ausführungen, mit denen er die
Heilkraft der Chinarinde rühmend begleitet, die prophetische Erkennt-
nis spezifischer Heilmittel unverkennbar aus. Was aber am Ausgange
des 17. und im Verlaufe des ganzen 18. Jahrhunderts der Theorie des
Kontagiums und Miasmas den Eang abläuft, ist die von Sydenham
mit neuen, verführerischen Argumenten gestützte Doktrin der Trans-
mutatio morborum, die einseitige Auffassung des Fiebers in akuten
Krankheiten, in denen sich Entzündung und Fieber zur Hauptsache
erheben und endlich die von vielen Gelehrten unternommene aprio-
ristische Klassifizierung der Krankheiten im allgemeinen. Mit dem
Bestreben, pathologische Prozesse lediglich nach den Gesichtspunkten
der Fieberlehre in willkürlich abgegrenzte Gruppen und Unterarten
zu verteilen, verfiel man in den Fehler, auch für die Volksseuchen
die nähere oder entferntere Verwandtschaft dogmatisch festzustellen
und sie damit ihrer spezifischen Eigentümlichkeit oft völlig zu ent-
kleiden. Je nach dem Standpunkte der nosologischen Systeme bezog
man die Krankheitsursachen auf Fäulnis und Zersetzung, auf Ver-
derbnis der Lebensgeister oder auf die Umänderung der Kardinalsäfte.
Die ..Schärfen" des Blutes, der Galle und des Schleimes wurden bald
zur Signatur vieler infektiöser Krankheiten und mit dem neuen Namen
änderten sich nicht selten die Begrifi'e von deren Wesen und beson-
derem Charakter. Schon allein die Tatsache, die Malaria als unterste
Stufe der Fieber anzusehen und aus ihnen die schwereren Species der
petechialen, pestiformen Krankheiten, ja selbst die Pest hervorgehen
zu lassen, schliesst für die historische Deutung vieler Epidemien un-
lösbare Schwierigkeiten und Rätsel in sich. Zu den intermittierenden,
remittierenden Fiebern traten die putriden, malignen und pestilen-
tiellen Formen; nunmehr gesellten sich zu ihnen die katarrhalischen,
die Schleim- und Gallenfieber, die wiederum je nach der Influenz der
regierenden Krankheitskonstitution noch mit dem Beisatze ihrer
„faulichten'", inflammatorischen, biliösen, gastrischen, skorbutischen u. a.
Eigenschaften gekennzeichnet sind. Auf der anderen Seite suchte
man die augenfälligsten Symptome in der Nomenklatur der Krank-
heiten zu versinnbildlichen und verschaffte damit beispielsweise den
erysipelatösen Anginen, den mesenteriellen und intestinalen Fiebern,
der Febris lenta, comatosa, nervosa einen gesicherten Platz in der
Pathologie. Als Sauvages (1706 — 1767) in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts den Versuch eines Klassifikationssystems unternahm
und die akuten Krankheiten nur nach dem Massstab des Fieberver-
hältnisses bestimmen wollte, kam in die Lehre von den Seuchen neue
744 Victor Fossel.
Schwankung und Verwirrung, die noch mehr an Umfang sich ver-
grösserte, nachdem Cullen (1712—1790), Brown (1715—1788) und
deren Nachfolger ihre neuropathologischen Ideen in der Medizin inau-
guriert und die sthenischen und asthenischen Fieber als Typen der
Infektionskrankheiten hingestellt hatten.
Glücklicherweise traten vor dem Lichte, das über die Entwick-
lung und den Aufschwung der Heilkunde während des ganzen 18. Jahr-
hunderts ausgebreitet gelegen war, die Schwächen und Irrtümer, die
den Systemen und Schuldoktrinen angehaftet, in den Hintergrund.
Der mächtige Fortschritt, den die gesamten Disziplinen des medizi-
nischen Wissensgebietes erfuhren, die gründliche Pflege, die den theo-
retischen wie den praktischen Fächern zuteil geworden war, übte
auch auf die Lehre von den epidemischen Krankheiten einen heil-
samen, reformatorischen Einfluss. Nach allen Eichtungen speichern
sich neue Kenntnisse und Erfahrungen auf, Resultate von bleibendem
Wert bereichern den Gesichtskreis der Aerzte und das lebendige In-
teresse, das während des ganzen Säkulums, in Kriegs- und in Friedens-
zeiten an die grossen, immer wiederkehrenden Seuchen geknüpft ist,
wird durch den regen Austausch der Grundsätze und Meinungen ge-
fördert und in Fluss gebracht. Eine an Umfang und Inhalt gleich
anwachsende Litteratur, die rüstige Arbeit gelehrter Gesellschaften
bemächtigt sich zahlreicher Fragen, die auf Gang, Ausbreitung, Ver-
lauf und Bekämpfung der Epidemien Bezug haben, und überliefert
dort, wo die Ergrüudung der Ursachen und Erscheinungen vor den
Schranken der Erkenntnis ihre temporäre Grenze findet, den kommenden
Generationen wertvolle Anhaltspunkte zu weiterer Untersuchung. Die
Geschichtschreibung muss das Zeitalter der Aufklärung zu den frucht-
barsten Perioden der Epidemiographie zählen. Die innige Verbindung
von Theorie und Praxis hatte trotz aller vorhin angedeuteten Fehler-
quellen die Mediziner befähigt, nächstliegende Thatsachen schärfer zu
beobachten, besser unterrichtet an die Aufgaben des ärztlichen Han-
delns heranzutreten und meist dann erst die Zuflucht zu den Systemen
und ihren Dogmen zu ergreifen oder theoretischen Spekulationen nach-
zuhängen, wenn es galt, eigene Erfahrungen mit dem vollen Gepränge
der Gelehrsamkeit wirksam ins Treifen zu führen.
Von Sydenham an beginnend, dem seine Landsleute Willis
(1622—1675), Morton (t 1698), gleichzeitig E a m a z z i n i (1633—1714)
in Padua, Dieme rbroeck (1609 — 1674) in Utrecht u. a. Männer
würdig zur Seite gestanden waren, hat die Epidemiologie andauernd
den Weg des Fortschrittes betreten. Die Schule des grossen B o e r -
haave (1668 — 1738) in Leyden und die im Geiste seines Lehrers
von van Swieten (1700 — 1772) begründete Wiener Schule nahmen
an dem Ausbau der Seuchenlehre rührigen Anteil. Eine kaum über-
sehbare Menge epidemiographischer Arbeiten aus allen Ländern be-
zeugt selbt an minderwertigen Produkten den Ernst und guten Willen,
den die damaligen Aerzte auf das Studium und die Schilderung der
Epidemien verwendet haben. Gediegene Schriften von tiefem Gehalt
und von mehr als historischem Interesse stammen aus jener Zeit und
es möge genügen auf die vortreiflichen Berichte hinzudeuten, die
Lancisi (1654—1720), Huxham (1694—1768), Pringle (1707
—1782) u. a. m. veröffentlicht haben. Die unaufhörlichen Züge der
typhösen Seuchen, die ungeschwächte Herrschaft der Variola und der
anderen akuten Exantheme, die Ausbreitung der Euhr, die schweren
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 745
Ausbrüche der Pest die Yerwüstungen der Diphtherie, kurzum die
herrschenden Epidemien aller Art beschäftigten den Geist der Zeit-
genossen im hohen Masse. Die Versuche, die Störungen des Organis-
mus an der Leiche aufzudecken und die Anfänge der pathologischen
Anatomie der Erforschung infektiöser Prozesse nutzbar zu machen,
waren freilich unzureichend und haben selbst dort, wo sie positive
Aufschlüsse, wie beispielsweise für den Abdominaltyphus zu ver-
sprechen schienen, nicht die gebührende Beachtung gefunden. Weit
aber über allen Leistungen, die im 18. Jahrhundert das Gebiet der
epidemischen Krankheiten umfassen, steht am Ausgange dieses Säku-
lums die grösste und segensreichste Entdeckung in der Medizin, die
Einführung der Yaccination durch W. Jenner (1749 — 1823).
Die Grundanschauuungen, die an der Wende des 18. Jahrhundert-
über die Natur und Verbreitung der Volkskrankheiten herrschend ge-
wesen wareo, lassen in den folgenden Dezennien nur geringe Abt
weichung und Wandlung verspüren. Die Heilkunde jener Zeit, mit
ihren Unterströmungen und üebergängen, obgleich durch wertvolle
Ausgestaltung einzelner rein theoretischer wie praktischer Disziplinen
ausgezeichnet, umschliesst für die Pathologie im engeren Sinne eine
unergiebige Periode. Die Krankheitslehre war zu einem wüsten Ge-
dränge einander bekämpfender Lehrmeinungen und theoretischer Spe-
kulationen geworden, aus welchem nur wenige reelle Forschungen
hervorgegangen sind. Es war die Zeit der Ausläufe des Brownianis-
mus. der in Rasori's (1762 — 1837) kontrastimulierender Methode und
in Röschlaubs (1768 — 1835) Erregungstheorie neue Formen ge-
funden und grossen Anhang gewonnen hatte ; es war die Zeit, wo der
Vitalismus der Schule von Montpellier die ganze Xaturanschauung
von dem Leben des Organismus auf höchst einseitigen Voraussetzungen
zu konstruieren suchte, und endlich die traurige Zeit, in welcher die
Naturphilosophie wie ein unheimlicher Alp auf der deutschen Medizin
gelastet und mit ihren abenteuerlichen Ideen, ihren bizaren Ana-
logien und Allegorien ein Menschenalter hindurch den Geist der
Aerzte auf falschen Wegen herumgeführt hat. Man mühte sich da-
mals ab, nach äusserlichen Merkmalen oder nach scheinbar zusammen-
gehörigen Symptomen Krankheitsbilder und Krankheiten zu dedu-
zieren, ohne sich um die Aetiologie zu kümmern. Die sogenannten
Ontologien, wonach die Krankheiten als selbständige, abgeschlossene,
dem Organismus aufgepfropfte Wesen erklärt wurden, kamen wieder
in Aufschwung und damit neue, willkürliche Gruppierungen auch in
die Lehre von den Infektionskrankheiten, unter denen schon die
„essentiellen Fieber" genug Verwirrung angerichtet hatten. Es liegt
jedoch unserer Aufgabe ferne, hier auf die Entwicklung und Läute-
rung der Krankheitslehre während des 19. Jahrhunderts einzugehen
oder die Einflüsse charakterisieren zu wollen, die die Ausbildung
der pathologischen Anatomie im Zusammenhange mit der schärferen
klinischen Beobachtung auf die Vervollkommnung der Forschungs-
methoden und damit auf die Erweiterung der ältlichen Kenntnisse
genommen hat.
So geringwertig bis zu den fünfziger Jahren die epidemiologischen
Fortschritte im allgemeinen sich ausnehmen, weil der Glaube an die
Allmacht des Genius epidemicus, an die autochthone Entstehung und
Umwandlung der Seuchen nur wenig an Anhängern eingebüsst hatte,
fallen doch in diese Periode Arbeiten, die geschichtliche Merksteine
746 Victor Fossel.
für alle Zeiten bilden. Bretonneau's (1771 — 1862) Studien über
die Diphtherie, die von französischen und englischen Aerzten ge-
lieferten Untersuchungen über die Natur und Differenzierung der
typhösen Krankheiten waren Leistungen, die freilich nicht so bald die
allgemeine Anerkennung fanden, aber von denen aus eine strengere
Auffassung anderer Infektionskrankheiten in genere datierte und im
Zusammenhalte mit den Umwälzungen, die die moderne Medizin vor-
bereitet hatten, zugleich die Grundlagen der heutigen Epidemiologie
geschaffen haben. Jahrzehntelang beherrschten noch die mit doktri-
närer Schulweisheit interpretierten Begriffe des Kontagiums und
Miasmas den ärztlichen Gesichtskreis; je nachdem die direkte In-
fektion offen zu Tage lag oder die Ursache einer Epidemie auf un-
definierbare, von aussen stammende krankmachende Einflüsse zurück-
geführt wurde, unterschied man kontagiöse und miasmatische Krank-
heiten, liess aber dort, wo die ätiologischen Faktoren sich vorderhand
als unerforschlich erwiesen, Uebergänge und Verbindungen der beiden
Kategorien zu.
Die Speziflzität der ansteckenden Krankheiten wurde jedoch be-
reits um die Mitte des Jahrhunderts erkannt und gewürdigt. Ins-
besondere ist es Henle (1809 — 1885), der in seinen „Pathologischen
Untersuchungen" schon im Jahre 1840 mit prophetischem Blick ver-
kündet hat, dass kontagiöse und miasmatische Krankheitsprozesse aut
der Einwanderung spezifisch wirkender, organischer Krankheitskeime
in den tierischen und menschlichen Leib beruhen, eine Lehre, die
jedoch bei den Zeitgenossen nur wenig Anklang finden sollte.
Weit grösseren Beifall errang zur Zeit die Vorstellung, es handle
sich bei den ansteckenden Krankheiten um einen der Gärung ana-
logen Vorgang, womit zugleich die Frage der Eeproduktion des
Krankheitsstoffes in oder ausser dem tierischen Organismus gewisser-
massen eine befriedigende Lösung fand. Und doch vermochten die
chemischen Erklärungsversuche nicht über die Thatsache hinweg zu
helfen, dass ursprünglich gemeinsame Ursachen spezifischer Natur vor-
handen sein müssen, um die gleichartigen, charakteristischen Krank-
heitserscheinungen hervorzurufen, und somit der Schwerpunkt der
Forschung auf die Erschliessung der ätiologischen Faktoren, der spe-
zifischen Ursachen zu richten sei. Einen neuen Abschnitt in der Lehre
von den Seuchen eröffnete Pettenkof er (1819—1901) mit seinen im
Jahre 1854 begonnenen Studien über die Verbreitungs weise der Cholera,
denen er in der nächsten Folgezeit seine Forschungen über die ört-
liche und zeitliche Entwicklung des Abdominaltyplius folgen liess.
Wenngleich auch Pettenkofers sorgfältige Beweisführungen in
erster Linie die Abhängigkeit der beiden Infektionskrankheiten von
bestimmten Bodenverhältnissen zum Ziele hatten und er der Annahme
eines zur Verbeitung der genannten Krankheiten notwendigen, beson-
deren Krankheitskeimes nur einen sekundären Wert beizulegen bemüht
war, so gebührt ihm doch vor allem die Anerkennung, die noch in
den dreissiger Jahren in voller Blüte gestandene autochthonische Lehre
von den Volkskrankheiten beseitigt und überhaupt die Wege und
Methoden aufgeschlossen zu haben, wie Epidemien zu beobachten und
alle in Betracht kommenden Faktoren, die von ihm so vielfach be-
tonten „epidemiologischen Thatsachen" in die Forschung einzubeziehen
seien.
Die Pathologie der letzten Jahrzehnte, auf dem Boden exakter
Geschichte der epidemischen Kraukheiten. 747
üntersuchungsmethoden fortschreitend, hat durch Entdeckung und
experimentelle Xachweisung" pathogener Mikroorganismen für eine
grössere Zahl von epidemischen Krankheiten neue Gesichtspunkte er-
öffnet. Sie hat mit dem Nachweise spezifischer Krankheitsursachen
den Begi'iff der Infektionskrankheit vom Grund auf festgelegt und
nach allen Eichtungen wesentlich erweitert. Doch wir enthalten uns,
wo im Augenblick noch so viele Fragen, die die Epidemiologie be-
rühren, ungelöst der Prüfung und Entscheidung harren, jeder weiteren
Besprechung der Bestrebungen der Gegenwart. Indem die geschicht-
liche Entwicklung der Lehre von den belebten Krankheitskeimen in
einem besonderen Abschnitte des vorliegenden Werkes, jenem von der
Geschichte der Bakteriologie bearbeitet erscheint, wollen wir hier an-
hangsweise nur auf die wichtigsten Merksteine hinweisen, um an ihnen
die langsam fortschreitende Erkenntnis der Krankheitserreger organischer
Natur in kurzem Rückblick darzulegen.
Das Contagium vivum s. animatum fand schon im Alter-
tum seine Vertreter. Die im 1. Jahrhundert v. Chr. in Eom lebenden
Schriftsteller Varro und Columella führten die schädlichen Wir-
kungen der Sumpfluft auf kleinste, in den Sümpfen vorhandene, un-
sichtbare Tierchen zurück, die durch die Luft eingeatmet im mensch-
lichen Körper die schwersten Erkrankuugen erzeugen können. Mehr
als ein Jahrtausend sollte aber vorübergehen, bis die Idee, es liegen
den Volkskrankheiten belebte Keime zu Grunde, wieder zum Ausdruck
gelangte. A.Kirch er behauptete im Jahre 1658, dass alle faulenden
Materien von einer zahllosen Brut von Würmern wimmeln, die zwar
dem unbewaffneten Auge nicht erkennbar, aber mit dem Mikroskope
wahrnehmbar seien, wie er sich selbst von der Existenz solcher Tiere
im Blute und Buboneneit er Pestkranker überzeugt habe. Leeuwen-
hoek hat im Jahre 1675 mit Hilfe verbesserter Mikroskope die
Aufgusstierchen entdeckt und später im Speichel, im Zahnschleim und
Darminhalt verschiedener Tiere minimale Gebilde nachgewiesen, die
sich bewegten, eine stäbchenförmige, fadenförmige, rundliche oder
schraubenähnliche Gestalt besassen, ohne dass deren Entdecker sich
über ihre Bedeutung Rechenschaft geben konnte. Viele Gelehrte des
damaligen Zeitalters griffen mit Lebhaftigkeit diesen Fund auf, Lan-
cisi kam auf Varros Vorstellung von den Sumpftierchen zurück,
Vallisnieri, Goiffon und Lebecq nahmen im Laufe der ersten
Dezennien des 18. Jahrhunderts an, dass die Pest, die 1720 — 1722
in der Provence geherrscht, aus unsichtbaren Würmchen ihren Anfang
genommen habe. Während Linne (1707—1778) mit allzu lebhafter
Phantasie den verschiedenartigsten Krankheiten organisierte Keime
unterschieben wollte, sprach 1762 der Wiener Arzt Plencicz die
Ueberzeugung aus, es liege im Contagium ein „principium quoddam
seminale verminosum" vor, wie auch die Bildung von Gährung und
Fäulnis auf der Anwesenheit solcher Animalcula, deren Eier und Ex-
cremente beruhe. Doch bald verlor die Lehre von den belebten
Krankheitserregern den Boden, sie fiel dem Spotte der Aei7:te anheim
und blieb als eine angeblich wunderliche Hypothese lange hindurch
unbeachtet und vergessen.
Ei-st vom 4. Dezennium des 19. Jahrhunderts an, als Ehren berg
im Jahre 1838 von neuem die Infusionstierchen demonstriert und
weiterhin die Gärungstheorie Schwanns (1810 — 1882) die allgemeine
Anerkennung gefunden hatte, drängte sich wieder der Gedanke vor
748 Victor Fossel.
dass analog der Gärung auch Krankheiten durch kleinste Lebewesen
erzeugt werden. Diese Annahme erhielt noch kräftigere Unterlage,
als Bassi 1837 den Beweis erbrachte, dass die unter dem Namen
Muscardine bekannte Erkrankung der Seidenraupen durch einen Pilz
verursacht werde, als Schönlein (1793 — 1864) den nach ihm be-
nannten Favuspilz gefunden, Stannius 1835 die Krätzmilbe wieder
entdeckt hatte und andere Parasiten als Ursachen bestimmter All-
gemein- und Lokalleiden erkannt worden waren. Henle ist, wie
schon angedeutet, im Jahre 1840 mit bewundernswertem Scharfsinn
dafür eingetreten, dass das Kontagium ansteckender Krankheiten
pflanzlicher oder tierischer Natur sein müsse, dass aber erst dann an
einen kausalen Zusammenhang solcher Gebilde mit den kontagiösen
Krankheiten zu denken sei, wenn es gelänge, diese Organismen kon-
stant nachzuweisen, zu isolieren und auf ihre spezifische Wirkung zu
prüfen.
Von nun an entfaltete sich ein rühriges Bestreben in der Er-
forschung niederster Organismen, von welchen man pathogene Eigen-
schaften abzuleiten suchte. Wie gross war doch die Eeihe der Ex-
perimente im Zeiträume 1840 — 1870, die auf die Auffindung von
Cholerakeimen gerichtet waren! Wenngleich diese Bemühungen vor-
läufig erfolglos blieben, so hatte die „Pathologia animata" immerhin auf
dem Gebiete anderer Infektionskrankheiten positive Resultate aufzu-
weisen. Pollenderund Brau eil lieferten (1849) den Nachweis der
charakteristischen Milzbrandstäbchen, während Davaine (1850) durch
seine Impfversuche mit milzbrandhaltigem Blute klarlegte, dass diese
Stäbchen die Träger des Milzbrandvirus seien. Von grosser Trag-
weite auf die Förderung ähnlicher Untersuchungen waren Paste urs
(1822 — 1895) epochemachende Studien über die spezifischen En^eger
der verschiedenen Gärungen. Pasteur hat ausserdem sich hohe Ver-
dienste um die Erkenntnis der Infektionskrankheiten erworben, indem
er für das Milzbrand virus im Jahre 1877 mittels Fortzüchtung der Rein-
culturen deren pathogene Constanz festgestellt und auf diesem Wege
eine Reihe von Mikroben in der Pathologie als Krankheitserreger ein-
wandfrei dargelegt, späterhin bekanntlich an den grossen Fragen der
Abschwächung der Virulenz, der Immunisierung und der Schutzimpfung
hervorragenden Anteil genommen hatte. Aus der von dem berühmten
französischen Forscher entwickelten Keimtheorie zunächst schöpfte
L i s t e r 1867 die fruchtbare Idee, die Entstehung der Wundkrankheiten
in dem Zutritt äusserer, krankmachender Keime zu suchen und darauf
seine geniale Wundbehandlungsmethode aufzubauen. Die von Botanikern,
wie Hallier, Cohn, Naegeli u. a. in Angriff genommene Be-
arbeitung der Natur der Formen, Eigenschaften und Unterschiede der
pflanzlichen Mikrooganismen, die daraus gezogenen medizinischen Kon-
sequenzen, die grundlegenden Aufklärungen, welche die Aetiologie der
Infektionskrankheiten in eine ganz geänderte Beleuchtung rückten,
lassen sich hier nicht einmal andeutungsweise wiedergeben.
Es bedurfte zahlreicher, mühevoller Versuche, verbesserter und in
den optischen Mitteln vervollständigter Prüfungsmethoden, um die
Bakteriologie zu jener Stufe zu erheben, die sie unter den medizinischen
Hilfswissenschaften heute einnimmt. Wie begreiflich, fehlte es nicht
an Missgrilfen, an negativen Resultaten und unüberwindlich scheinen-
den Schwierigkeiten, die vorerst aus dem Weg zu räumen waren.
Welchen Aufwand an kritischer Ueberlegung zog nicht die Ergründung
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 749
der EiTeger der accidentellen Wundkrankheiten nach sich, wie schwer
fiel es, die pathogenen Bakterien von anderen, unschädlichen Arten
auszuscheiden, die infizierende Wirkung bestimmter Miki'oorganismen
an und für sich von dem durch ihre Einwanderung im Organismus
hervorgerufenen Intoxikationsprozesse zu trennen? Im raschen Schritte
jedoch folgten die positiven Ergebnisse in der Mikrobiologie. An
die Entdeckung der Rekurrensspirillen durch Obermeyer im Jahre
1873 reihten sich die wichtigen Aufschlüsse, welche Koch im Jahre
1876 über den Milzbrandbazillus und dessen genetischen Zusammenhang
mit dieser Krankheit publizierte. Diese sowie die zwei Jahre später
von demselben Forscher gelieferten „Untersuchungen über die Aetiologie
der Wundinfektionskrankheiten" erwiesen sich als fundamentale Leis-
tungen, nicht nur bewundernswert wegen ihres wissenschaftlichen
Wertes, sondern zugleich bahnbrechend durch die Einführung des Tier-
versuches, exakter Kultur- und Untersuchungsmethoden und mikro-
skopischer wie technischer Neuerungen. Mit Benutzung dei-selben
gelang es, für eine Eeihe von Infektionskrankheiten die pathogenen
Mikroorganismen aufzudecken. So hat Xeisser (1879) bei der viru-
lenten Gonnorrhoe, Laveran bei der Malaria, Hansen bei der Lepra,
Eberth und Gaff ky beim Typhoid (1880;84), Schütz und Löff 1er
beim Rotz (1882), Koch bei der Tuberkulose (1882) und der Cholera
(1883), Löff 1er bei der Diphtherie (1884), Frank el bei der in-
fektiösen Pneumonie (1886), Pfeiffer bei der Influenza (1892), Kita -
sato und Ter sin bei der Bubonenpest (1896), Weichselbaumund
J a e g e r (1899) bei , der epidemischen Genickstarre die spezifischen
Krankheitskeime entdeckt und beschrieben.
Die Fortschritte der Bakteriologie haben unsere Kenntnis von
den Infektionskrankheiten vollständig umgestaltet, die Wege der Ver-
breitung der Epidemien zum grossen Teil unserem Vei-ständnis näher
gebracht und die Prophylaxe und Bekämpfung der Yolkskrankheiten
auf neue, zweckmässige und gesicherte Prinzipien gestellt. Die von
Koch und Pasteur geschafienen Grundlagen, die zahlreichen Ar-
beiten, die aus den Schulen der beiden Meister hervorgegangen sind,
haben auch für die Therapie der Infektionskrankheiten unermesslichen
Gewinn und Vorteil abgeworfen. Mit der Vervollkommnung der Im-
munisierungsverfahrens, der Durchbildung der gegen einzelne Krank-
heiten erfolgreich angewendeten Schutzimpfungen und mit den durch-
schlagenden Resultaten der Serumtherapie wurde eine neue Epoche
der Heilkunst erschlossen und schon heute darf mit Stolz gesagt werden:
ihre Leistungen haben der Menschheit den grössten Segen gebracht.
I. Beulenpest.
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Sanitätswesen.
In den Ueberlieferungen der Völker des Altertums wird vieler
Seuchen Erwähnung- gethan, mit denen die erzürnte Gottheit das
Menschengeschlecht heimgesucht. Düstere Naturereignisse gingen meist
den Ausbrüchen der Epidemien voraus und häufig kündigten, wie nach-
träglich gemeldet wird, Misswachs, Verderbnis alles pflanzlichen Lebens,
Erkrankung und Tod der Tierwelt an, dass dem Volke das Verhängnis
eines allgemeinen Sterbens bevorstand. Die mosaischen Bücher, die
hellenischen und römischen Autoren erzählen von Seuchen, die in vor-
historischer Zeit plötzlich über friedliche Völkerschaften oder kampf-
bereite Heere hereingebrochen und von entsetzlichen Verwüstungen
unter allen Lebenden begleitet gewesen seien. Worin aber die Krank-
heit bestand, unter welchen Formen Tausende von Menschenleben er-
griffen und vernichtet worden sind, darüber ist nur spärliche und un-
klare Kunde auf uns gekommen. Mj'^thus und Dichtung verschleiern
das Bild bis zur vollständigen Unkenntlichkeit und wo selbst an der
Thatsache weitverbreiteter Epidemien kaum gezweifelt werden kann,
vermag die Geschichtschreibung nicht zu enträtseln, wie ihre Er-
scheinungen zu deuten, unter welchen pathologischen Prozesen sie nach
unserer heutigen Erkenntnis zusammenzufassen sind. Sie alle werden
in den Schriften des Altertums und bis über das Mittelalter hinaus
kurzweg als „Seuche" aufgezählt oder unter dem Namen der Pest
{loif.tbg, koif.tiüörjg vöoog, pestiS; pestilentia) genannt, ohne dass es der
historischen Forschung bisher gelungen wäre, aus diesem Kollektiv-
Geschichte der epidemischen Ejankheiten. 751
begriffe auch niu' annähernd die hauptsächlichsten Merkmale und
unterschiede der einzelnen Krankheitsspecies festzustellen. Selbst die
Schriften der Hippokratiker geben hierüber keinen Aufschluss; die
wenigen Stellen, die von „Bubonen in schweren, fieberhaften Ki-ank-
heiten" handeln, werden von namhaften Historikern als zu ungenügend
erkannt, um daraus den Schluss auf die Schilderung der Beulenpest
zu gestatten. Ebensowenig verwertbar erscheinen — wie schon hier
bemerkt werden mag — die bei Aretäus und Galen vorfindlichen
und an Hippokrates sich anschliessenden Bemerkungen über die
Pest, während Rufus mit grösserer Bestimmtheit die wesentlichsten
Symptome der Bubonenpest als charakteristisch hervorhebt und ihres
epidemischen Vorkommens in Lybien, Aegypten und Syrien gedenkt.
Die grosse Schwierigkeit in der Auslegung verheerender Volks-
seuchen tritt uns sogleich entgegen, wenn wir uns der grossen atti-
schen Seuche, der als Pest des Thukydides berühmt ge-
wordenen Epidemie zuwenden , die im Zeiträume 430 — 425 v. Chr.
während des peloponnesischen Krieges in Athen und Attika gewütet
hat. Nach der klassischen Schilderung, die uns Thukydides hinter-
lassen hat, der Augenzeuge der Epidemie gewesen und von ihr er-
griffen worden war, brach die Seuche in der von flüchtendem Land-
volke überfüllten Stadt plötzlich aus, nachdem sie im Piräus, der
Hafenstadt Athens, ihren Anfang genommen hatte. Dass sie aus einem
anderen Lande eingeschleppt worden sei, ist um so naheliegender an-
zunehmen, da Thukydides berichtet, die Seuche habe sich vordem
in Aegypten und einem grossen Teil von Vorderasien verbreitet. In
zwei aufeinander folgenden Jahren überfiel sie die Bevölkerung Athens,
jedesmal von Massenerkrankungen und exorbitanter Sterblichkeit ge-
folgt und kehrte nach 1^., jähriger Pause zum dritten Male zurück.
Etwa ein Drittel der Bewohner der Stadt war ihr erlegen. Unver-
mutet erfasste die Krankheit die Leute, eine brennende Hitze des
Kopfes, Entzündung der Augen, blutrote Verfärbung des Schlundes
und übelriechender Atem waren durchwegs die ersten Erscheinungen.
Alsbald gesellte sich Heiserkeit, Husten, Singultus und galliges Er-
brechen hinzu, es folgte massige Rötung und livide Färbung der Haut,
die sich „mit kleinen Bläschen und Schwären" bedeckte. Am uner-
träglichsten wurde den Kranken die innere Hitze, so dass sich viele
derselben, um die Qualen des Dui-stes zu löschen, in die Cisternen
stürzten. Der Tod trat meist infolge der inneren Hitze am 7. oder
9. Tage ein, diejenigen aber, welche diese Frist überdauerten, ver-
fielen der Schwäche, indem sich Verschwärungen des Unterleibes und
Durchfall einstellten. Hatten die Kranken auch dieses Stadium über-
wunden, so wurden die Schamteile, die Spitzen der Hände und Füsse
von der Krankheit ergriffen, viele von ihnen kamen, dieser Teile be-
raubt, davon, andere aber trugen den Verlust der Augen, wieder
andere eine vollständige Einbusse des Gedächtnisses davon. Jede der
üblichen Krankheiten ging in die Seuche über, der alle erlagen, die
mit den Infizierten verkehrt hatten. Wer die Krankheit einmal
überstanden, blieb wenigstens vor den todbringenden Folgen einer
zweiten Erkrankung verschont.
Die Natur der von Thukydides geschilderten Seuche, deren
Hauptmerkmale hier nur in wenigen Schlagworten wiedergegeben
werden konnten, ist seit langem das vielumstrittene Objekt der histo-
risch-pathologischen Forschung, an der sich Aerzte ebenso lebhaft Avie
752 Victor Fossel.
Philologen beteiligt haben. Es ist hier nicht der Ort, auf die für
lind wider die Bestimmung der Krankheit erbrachten Argumente
näher einzugehen. Die Litteratur, die die Behandlung der Frage ge-
zeitigt hat, ist heute schon eine reichhaltige, ohne eine befriedigende
Lösung herbeigeführt zu haben. Während einzelne Schriftsteller die
attische Seuche als Beulenpest ansprechen wollen, vermissen die Gegner
dieser Anschauung in der thukydideischen Zeichnung die charakte-
ristischen Symptome der Bubonenpest, mit welcher auch überdies der
Verlauf, der Eintritt des lethalen Endes, die Nachkrankheiten und
andere Momente nicht übereinstimmen. Mit einer gewissen Berech-
tigung haben Forscher wie Willan, Krause, Littre u.a.m. aus
dem Vorhandensein des Exanthems auf Blattern geschlossen, während
z. B. Daremberg eine mit schwerem Typhus komplizierte Pocken-
epidemie annimmt. Die einen suchten die Krankheit als Gelbfieber,
epidemische Genickstarre, Scharlach oder Influenza zu interpretieren;
andere hingegen — und zwar in grosser Zahl — bemühten sich mit
einem nicht zu verkennenden Aufwände von Scharfsinn und Gewandt-
heit aus dem Gesamtbilde der Krankheit den Nachweis zu liefern,
dass es sich um keine andere Infektionskrankheit, als um den Typhus
exanthematicus gehandelt haben könne. Heck er erklärt sie für
eine „untergegangene" Typhusform, Häser als typhusartiges Uebel,
Hirsch dagegen für ein Gemisch verschiedenartiger Krankheiten,
unter denen die Anteilnahme der Pest möglich gewesen, aber nicht
bewiesen sei. Kobert hat die geistvolle und vielfach bestrickende
Hypothehe aufgestellt, dass die Pest des Thukydides eine Epidemie
von Pocken bei einer an latentem Ergotismus leidenden Bevölkerung
gewesen sei. Ob und inwieweit diese oder eine der vorerwähnten
Deutungen der Wahrheit nahekommt, ist heute noch eine unlösbare
Frage. Schon aus der Verschiedenartigkeit der unternommenen Er-
klärungsversuche, aus dem weiten Spielräume der aufgestellten Mei-
nungen und Kommentare allein erhellt die Schwierigkeit des Nach-
weises der Natur dieser Seuche, deren Bestimmung gleichwie bei
anderen Epidemien der Vergangenheit, wie jüngst Ebstein zuge-
standen, an der Unzulänglichkeit der auf uns gekommenen Nach-
richten, wie an den Grenzen unseres eigenen Erkenntnisvermögens
ihre Schranke findet.
Die unter den grossen Seuchen der folgenden Zeit hervorragende
Pest des Anton in (165 — 189 n. Chr.), welcher Galen als Augen-
zeuge mehrfach in seinen Schriften gedenkt, jedoch darüber nur un-
zusammenhängende Bemerkungen hinterlassen hat, kann keineswegs
strikte zu den Epidemien der Beulenpest gezählt werden. Aus den
asiatischen Provinzen durch die Heere nach Rom und ganz Europa
verschleppt, hat die Seuche in furchtbarer Weise an der Entvölkerung
des römischen Reiches mitgewirkt. Ihre mörderische Kontagiosität
wird von den Zeitgenossen einstimmig bestätigt, ja Galen ist ge-
neigt, diese Epidemie der attischen Seuche nahezustellen. Die vor-
wiegendsten Symptome waren pustulöse Exantheme, eingeleitet oder
gefolgt von heftigen Durchfällen, die fast immer zum lethalen Ende
führten. Fraglich bleibt es, ob das Exanthem als Variola aufgefasst
und die Darmerscheinungen auf Ruhr bezogen werden dürfen, denn uns
mangeln ausreichende Anhaltspunkte für die Beurteilung des Wesens
der Krankheit, oder besser gesagt, der etwa konkurrierenden ver-
schiedenartigen Krankheitsprozesse.
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 753
Die Unsicherheit, welche selbst der von dem gi'ossen Pergame-
nischen Arzte erhaltene Epidemiebericht der Forschung bereitet, wlyö.
um so grösser und begreiflicher, wenn uns über eine Seuche der Vor-
zeit nur Aufzeichnungen von Laienhand vorliegen. Es ist dies die
im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung durch 15 Jahre (251 — 266
n. Chr.j über die ganze damals bekannte Erde verbreitete Seuche,
welche nach ihrem Hauptdarsteller, dem Bischof von Karthago, die
Pest des Cyprian genannt wird. Ihre Verheerungen, die mit den
ersten Vorstössen der Völkerwanderung einhergingen und mit dem
Beginne der Christenverfolgungen zusammentrafen, waren grauenvolle ;
ganze Städte und Landstriche wurden entvölkert, wiederholt kehrte
die Seuche in die verödeten Gegenden und Plätze zurück, das
Menschengeschlecht schien dem Aussterben nahe zu sein. Die Krank-
heit manifestierte sich nach den Angaben der Zeitgenossen unter
heftigen Durchfällen, Erbrechen, Entzündung der Augen und der
Schlundorgane, bei vielen &anken stellte sich brandige Zerstörung
oder Lähmung der Extremitäten ein, andere wurden von Blindheit
oder Taubheit befallen. Unmöglich ist es, hierin ein bestimmtes
Krankheitsbild zu erkennen, am wenigsten die eigentliche Beulenpest
daraus abzuleiten. War es überhaupt eine dem ganzen Zeiträume
gemeinsame, einheitliche Krankheitsform oder müssen wir nicht \iel-
mehr ein Gemisch mehrerer Infektionskrankheiten annehmen und
darauf verzichten, sie nach unseren heutigen Begriffen näher be-
zeichnen zu wollen? Eine voUe Einsicht in -das Wesen der genannten
Seuchen fehlt uns dermalen und mit ihren Lücken hat die Geschicht-
schreibung zu rechnen.
Ebenso ungenau lauten die Nachrichten über gi'osse, todbringende
Epidemien der nächstfolgenden Jahi'hunderte. Nur eine der schwersten
Seuchen, die durch die Länge ihrer Dauer und. die furchtbaren Zer-
störungen eine traurige Berühmtheit erlangt hat, tritt aus dem Dunkel
der Ereignisse schärfer hervor: Die Pest des Justinian, 531 — 580
n. Chr. Ihr gingen, wie die Chronisten berichten, ungewöhnliche
Naturerscheinungen voraus, Erdbeben von erschreckender Wirkung ver-
nichteten in jener Periode viele volkreiche Städte und Länder, Ueber-
schwemmungen und Hungersnot waren die Begleiter des grossen
Sterbens, das über ein halbes Jahrhundert hindurch, wie Prokopius
als Augenzeuge erzählt, den Erdkreis durchschritt, alle ergriff ohne
Unterschied des Geschlechtes und Alters. Schon im J. 531 brach die
Krankheit in der byzantinischen Hauptstadt aus und blieb vorerst
auf einen verhältnismässig kleinen Umkreis beschränkt. Von neuem
erhob sie sich 542 in Pelusium, verbreitete sich über Nordafrika, Klein-
asien und seine Nachbarländer und durchzog im raschen Laufe die
weiten Gebiete des ost- und weströmischen Reiches bis in das ,,Land
der Barbaren". Zeitweilig stille stehend, fand sie doch nirgends
eine Schranke und selbst in Stätten, wo die Todesernte an den tausenden
von Opfern schon gesättigt schien, riss urplötzlich und mit unge-
schwächter Bösartigkeit die Seuche wieder ein, stets von den Küsten-
gegenden in das Binnenland fortschreitend. Viele erlagen, wie vom
Blitz getroffen, im ersten Ansturm der Krankheit; dasselbe Geschick
ereilte jene, deren Haut sich rasch mit schwarzen Pusteln bedeckt
oder wo unversehens Blutbrechen den kräftigen Körper befallen hatte.
Andere, bei denen sich dumpfer Kopfschmerz, Blutunterlaufung der
Augen, Schwellung des Gesichtes und Entzündung des Schlundes ein-
Uandbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 48
754 Victor Fossel.
gestellt, starben oft am ersten Tage. Jene wiederum, bei denen
Durchfall und Beulen zugleich aufgetreten, wurden schon am 2. oder
3. Tage dahingerafft, nur wenige genasen, deren Bubonen sich er-
weicht und in Eiterung ausgereift hatten. Die Sterblichkeit war eine
erschreckende, sie stieg beispielsweise in Konstantinopel zur Zeit der
höchsten Not auf 5000 und sogar 10000 Todesfälle an einem Tage^
es fehlten bald die Plätze zur Beerdigung der Leichen, die man end-
lich in das Meer zu versenken gezwungen war. Die Nachwirkungen
dieser Seuche waren unerm essliche; sie haben wesentlich beigetragen
zur Umwälzung des ganzen staatlichen Lebens und zum Niedergang
des byzantinischen Reiches, von dessen Bewohnern mehr als die
Hälfte vom Tode weggerafft worden war.
Die wertvollen Berichte, die uns Prokopius, Evagrius und
Agathias hinterlassen haben, schildern die eminente Kontagiosität
der Krankheit, ihre Gesamterscheinungen und Varietäten, den Aus-
bruch und Verlauf des Uebels samt allen seinen Komplikationen mit
einer Treue und Gewissenhaftigkeit, so dass wir darin bis in die
Einzelheiten das vollständige Bild der Bubonenpest wiederzuerkennen
im stände sind. Mögen immerhin andere Infektionskrankheiten, wie
etwa die Blattern in dieser langwährenden Epidemienreihe an dem
Verderben der Völker mitgewirkt haben, den Hauptanteil nahm daran
die Pest, wie auch die Zeitgenossen sie als „Pestis bubonum",
„clades glandularia" oder „morbus inguinarius" bezeichnen.
Bei den ärztlichen Schriftstellern jenes und der folgenden Jahr-
hunderte suchen wir vergeblich nach eigenen Beobachtungen über
die Pest. Sie gedenken ihrer ebensowenig, wie anderer Volkskrank-
heiten. Auf Laienberichte allein ist hier die medizinische Geschicht-
schreibung angewiesen, sie entbehrt daher der all ernötigsten Grund-
lage, um über die Epidemien vom 6. bis zum 14. Jahrhundert ein
halbwegs gesichertes Urteil schöpfen zu können. Die Chronisten ver-
säumen allerdings nicht, in der Aufzählung der Begebenheiten auch
heftiger Seuchenausbrüche zu erwähnen und solche gemeinhin als
„Pest" zu bezeichnen. Sie legen das Hauptgewicht ihrer Erzählung
auf die Verluste an Menschenleben, deren Zahlen oft nur auf unge-
nauen, oberflächlichen Schätzungen beruhen. Ueberdies geht aus
vielen solchen Berichten hervor, wie die Darstellung einer Epidemie
schon darum ins Ungemessene gesteigert wird, um das Interesse an
den Vorkommnissen zu erhöhen und dem Aufruhr der Natur, der dem
Sterben stets voranzugehen pflegte, gebührenden Platz zu schaffen.
Bei der Gleichförmigkeit chronistischer Seuchenberichte aus jener Zeit
müssen wir von weiteren historischen Nachrichten Umgang nehmen
und auf die allgemeine Thatsache hinweisen, dass die Jahrhunderte
von mörderischen Epidemien erfüllt waren, deren Natur aber nur
schwer sich näher bestimmen lässt.
Erst mit dem 14. Jahrhundert tritt unsere Kenntnis über den
Charakter und die Verbreitung der Seuchen in ein neues, helleres
Stadium. Die grosse Pandemie der Bubonenpest, die unter dem Namen
des „Schwarzen Todes" zu den schwersten Schicksalschlägen der
Menschheit zählt und durch die Verwüstungen unter den Bewohnern
des damals bekannten Erdkreises eines der düstersten Blätter der
Weltgeschichte ausfüllt, bildet auch im geistigen und kulturellen
Leben der Völker einen denkwürdigen und entscheidenden Abschnitt
der Entwicklung. Millionen von Opfern hat diese Seuche binnen
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 755
weniger Jahre gefordert, ganze Ländergebiete in menschenarme Ein-
öden verwandelt und die Gemüter mit beispiellosem Entsetzen und
Schrecken erfüllt. Die furchtbaren Drangsale, die das „grosse Sterben"
über alle Länder und Schichten der menschlichen Gesellschaft ge-
bracht, gingen gleichzeitig mit tiefgreifenden Erschütterungen einher,
die die Verhältnisse der Einzelnen wie die Ordnung des gesamten
bürgerlichen und staatlichen Gemeinwesens lockerten und lösten.
Den zahlreichen Nachrichten der Laien des 14. Säkulums stehen
nur wenige ärztliche Berichte entgegen; die darin enthaltenen Auf-
zeichnungen gemnnen aber um so erheblicher an Wert, weil sie von
Augenzeugen herrühren, die inmitten des Seuchenelends ihren ärzt-
lichen Beruf ausgeübt und demnach eigene Erfahrungen uns hinter-
lassen haben. Unter diesen Schriften nehmen jene der beiden päpst-
lichen Leibärzte Guy von Chauliac und Chalin de Yinario,
Beobachter der Pest in Avignon, das meiste Interesse in Anspruch;
ihnen zunächst kommen die Mitteilungen des zur Zeit des Schwarzen
Todes in Oberitalien thätigen Arztes Dionysius Colle, des damals
in Avignon lebenden Belgiers Simon von Covino und mehrerer
spanischer Aerzte, wie Ibnulkhatib u. a. m. Unter den nichtärzt-
lichen Schriftstellern stammen die wichtigsten Angaben von dem
1344—46 im Orient weilenden italienischen Eechtsgelehrten Gabriel
de Mussis, dem kaiserlichen Berichterstatter Kantakuzenes,
dem Historiographen Nicephorus in Konstantinopel, während wir
die ergreifenden Schilderungen Boccacios und Petrarcas als die
bekanntesten Schriften aus der Fülle der im Abendlande aufge-
speicherten Dokumente über die grösste Pest von ungefähr heraus-
greifen.
Wie ärztliche und Laienberichte übereinstimmend melden, war
es überall dieselbe Krankheit, die echte Beulenpest, die in allen
ihren Formen und Varietäten zur Erscheinung gelangt war. Besonders
häufig trat sie als Lungenpest auf und war an einzelnen Seuchenherden
oder während bestimmter Epidemieperioden, z. ß. bei ihrem ersten Aus-
bruche in Avignon, die alleinig herrschende Krankheit. Bei solchen
Kranken kam es meist nicht zur Entwicklung der Bubonen, sie starben
schon innerhalb 12 — 24 Stunden. Einmütig bezeichnen Aerzte wie
Laien den Bluthusten als ein gefahrvolles Symptom und die ,.Peri-
pneumonia pestilentialis" als die schwerste Form der Seuche. Bei
anderen Befallenen bildeten sich unter gelinde einsetzenden oder
stürmisch verlaufenden Prodromen die charakteristischen Schwellungen
der Inguinal- und Axillardrüsen, nicht selten auch solche im übrigen
Lymphapparate mit und ohne den legitimen Pestefflorescenzen, Pete-
chien, Blasen, striemenförmigen x\usschlägen , Hautblutungen, Kar-
bunkeln. Die Mehrzahl der unter diesen Symptomen Erkrankten
starb gewöhnlich am 3. oder 5. Tage. Endlich erwähnen die Bericht-
erstatter der in jeder Pestepidemie vorkommenden Fälle von blitz-
artiger Infektion, wo der plötzliche Tod jedwede Entwicklung der
Krankheit abschnitt. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, das viel-
gestaltige Krankheitsbild, wie es der Beulenpest eigentümlich ist und
auch zur Zeit des Schwarzen Todes beobachtet wurde, näher zu be-
leuchten. Die volle Gleichheit der Pest des 14. Jahrhunderts mit jener
der Gegenwart enthebt uns der Verpflichtung, auf die lange hindurch
erörterten Bedenken und Zweifel einzugehen, die gegen die Identität
der in Rede stehenden Weltseuche mit den Pestausbrüchen des
48*
756 Victor Fossel.
19. Jalirlmuderts erhoben worden sind. Die frühere medizinische Ge-
schichtschreibung war vielfach bemüht, für die Entstehung des
Schwarzen Todes eine Reihe von aussergewöhnlichen Naturereignissen
namhaft zu machen, neptunische und vulkanische Revolutionen als
drohende Vorboten der Seuche hinzustellen, meteorologische Aende-
rungen und andere Erscheinungen im „Leben des Erdorganismus" als
vorbereitende Ursachen des Ausbruches und der enormen Verbreitung
der Krankheit erklärend heranzuziehen. Unsere heutigen Kenntnisse
von der Aetiologie der Volkskrankheiten widersprechen diesen An-
nahmen schon im voraus und lassen es schwer begreiflich erscheinen,
in welchem kausalen Zusammenhang derartige Phänomene mit dem
Gange der grossen Epidemie gebracht werden können. Zudem stützen
sich, wie Honig er nachgewiesen hat, die bis ins Fabelhafte über-
triebenen Nachrichten von dem die Seuche einleitenden „Aufruhr der
Natur" durchwegs nur auf spätere, unsichere und immer wieder von
neuem kopierte Erzählungen, während die moderne historische Forschung
in den Geschichtsquellen des Mittelalters keinen einzigen beglaubigten
Beleg für das Vorkommen solcher abnormer Naturvorgänge zu eruieren
vermocht hat.
Ueber den Ursprung und die erste Ausbreitung des Schwarzen
Todes stehen uns nur lückenhafte und einander vielfach widersprechende
Ueberlieferungen zu Gebote. Die Zeitgenossen nennen einstimmig
den Osten Asiens den Ausgangspunkt der Seuche, der Mehrzahl nach
bezeichnen sie das Land „Katai" d. i. China als ihre Wiege, während
Fracastoro in seinem 1584 erschienenen, berühmt gewordenen Ge-
dichte über die Syphilis die grosse Wanderpest des 14. Jahrhunderts
an den Ufern des Ganges entstehen lässt. Die Anfänge des „grossen
Sterbens" entbehren genauer Angaben und werden bei der Unklarheit,
mit welcher die Chronisten über ferne Länder unterrichtet waren,
ganz verschieden bestimmt. Soviel steht fest, dass wir den Ausgang
des Schwarzen Todes nach dem Innern des asiatischen Festlandes zu
verlegen haben, von wo aus die Seuche nach Indien und anderen Ge-
bieten des Kontinents übergriff und auf mehrfachem Wege nach dem
Westen vordrang. Nach chinesischen Litteraturquellen hat man die
ersten Verheerungen der Pest in diesem Lande auf die Jahre 1333 — 1334
zurückdatiert, ohne dafür sichere Beweise erbracht zu haben. Andere
Zeitgenossen, wie Gabriel de Mussis sprechen von dem Vordringen
der Krankheit im Jahre 1346 nach der Krim, wo sie durch kriege-
rische Ereignisse und zahlreiche Flüchtlinge nach anderen Ländern
verschleppt worden sein sollte. Jedenfalls zählten die an den Ufern
des Schwarzen Meeres sesshaften Völkerstämme zu den frühesten
Opfern des Schwarzen Todes, der nach den Aufzeichnungen der Ge-
währsmänner im gleichen Jahre über einen grossen Teil von Asien
und seine Nachbarländer Verbreitung gefunden hatte. Es liegt nahe
zu vermuten, dass auch damals die asiatische Seuche die Hauptver-
kehrswege des mittelalterlichen Handels einhielt, von denen die eine
Route über die Krim und das Schwarze Meer nach Konstantinopel, die
zweite durch Herat nach den Ufern des Kaspischen Meeres, nach
Kleinarmenien und Kleinasien und endlich der dritte Weg durch
Mesopotamien nach Arabien und Aegypten führte. Ende 1346 und
Anfang 1347 war bereits Vorderasien, Aegji^ten und der grösste Teil
von Südeuropa durchseucht. Von den Gestaden des Aegäischen Meeres
schritt die Krankheit nach den Küstenstädten und Inseln des mittel-
Greschichte der epidemischen Krankheiten. 757
ländischen Seebeckens fort und ergriff im Laufe des Jahres 1347 mit
erschreckender Wut die volkreichen Seestädte in Sizilien. Italien. Dal-
matien und Südfrankreich. Es wird ausdrücklich berichtet und von
Gabriel de Mussis durch eine Episode seiner eigenen Heimkehr
veranschaulicht, wie gesunde Flüchtlinge den Pestkeim vermittelt
haben und wie aus verseuchten Gegenden stammende Waren zum
Träger der bösartigsten Ansteckung geworden sind.
Von Genua. Marseille u. a. Hafenorten aus bahnte sich die Seuche
den Weg in das innere Land; sie drang nach Spanien vor und hatte
bis zur Mitte des Jahres 1348 über ganz Italien und den grössten
Teil von Frankreich ihre Herrschaft erstreckt. Von hier nach den
Niederlanden übergreifend, erschien sie auf dem Seewege im August
desselben Jahres in England, während Irland und Schottland erst in
den beiden darauffolgenden Jahren zum Schauplatze ihrer Verheerungen
ausersehen wurden. Schon im Sommer 1348 zog die Pest von Ober-
italien aus nach Tirol und Baj'ern, wenige Monate später nach
Kärnthen, Steiermark und sandte, möglicherweise auch von Ungarn
aus, ihre Vorposten bis Böhmen und Mähren. Noch vor Jahresschluss
wurden die Schweiz und Süddeutschland, zumeist von der Westseite
her befallen, während das Jahr 1349 die schwerste Pestzeit für Europa
und insbesondere für Deutschland bildete. Am Rhein wie an der
Donau, in Schwaben, Thüringen, dem Elsass und allen übrigen Gauen
des Eeiches verbreitete sich die Krankheit, sie riss in Ungarn und
Polen ein, um hier wie anderwärts nicht vor Jahi-esfrist zu ver-
schwinden. In der zweiten Hälfte dieses Pestjahres zeigte sich die
Seuche in Schweden, Norwegen, Jütland und Dänemark, wohin sie
durch den lebhaften Schiffahrtsverkehr aus England gelangt war.
Auf dem Seewege kam sie auch bis nach Grönland. Von Norden und
Süden zugleich wurden die niederdeutschen Gebiete ergriffen, von wo
aus die Seuche 1350 nach den Ostseeprovinzen sich fortpflanzte, erst
in den beiden nächsten Jahren die weiten Landstriche des russischen
Eeiches durchwanderte, um endlich 1353 an den Ufern des Schwarzen
Meeres, ihrer ursprünglichen Ausgangspforte, zu erlöschen.
Dies in knappen Umrissen der Gang des Schwarzen Todes, dessen
Ausbrüche in einzelnen Ländern und Städten nicht immer und überall
genau festzustellen, ja für eine grössere Zahl von Orten und
Landschaften des europäischen Kontinents in vollständiges Dunkel
gehüllt sind. Selbst dort, wo Zeitangaben vorliegen, ist es oft zweifel-
haft, ob dieselben auf die ersten Sterbefälle, auf die Höhe der Lokal-
epidemien oder deren Nachschübe zu beziehen sind. Denn nicht im
raschen Fluge zieht die Krankheit ihre Bahnen, nur auf dem Seewege
schreitet sie verhältnismässig rasch dahin, auf dem Festlande hält sie
mit der Schnelligkeit der Verkehrsmittel gleichen Schritt, überfällt
sprungweise die Gebiete, verschont zeitweilig oder gänzlich weite
Strecken und umzingelt die Wohnsitze der Menschen sachte vor-
dringend, ,.non simul et semel, sed successive", wie ein Chronist
bezeugt.
Die Verluste, welche der Schwarze Tod herbeigeführt, waren un-
geheure. Nach verlässlichen Aufzeichnungen wurden in vielen Städten
die Hälfte der Bevölkerung, in anderen zwei Dritteile und darüber
von der Seuche hinweggerafft, ungezählte Orte gänzlich entvölkert.
Es fehlt uns trotz der vielfach bekannt gewordenen Zahl der Sterbe-
fälle jegliche Handhabe für die Feststellung der relativen Sterblichkeit,
758 Victor Fossel.
SO dass wir nur aus den absoluten Ziflfern ein annäherndes Bild von
der Bösartigkeit der Krankheit zu gewinnen vermögen. Hecker
hat nach ungefährer Schätzung für Europa die Gesamtsumme der
Opfer des Schwarzen Todes auf ein Viertel der damaligen Bevölkerung,
also auf 25 Millionen berechnet, eine Annahme, die von der einen
Seite als zu hoch, von der anderen als zu niedrig gegriffen bestritten
wird, im grossen und ganzen aber einen Massstab für den Umfang
der Menschenverluste bilden mag.
Die sittlichen und wirtschaftlichen Folgen der Seuche können
hier nur angedeutet werden. Schon allein die rapide Entvölkerung
war von tiefeinschneidender Wirkung auf alle sozialen Verhältnisse.
Besitz und Eigentum verschob sich urplötzlich, der Kirche als der
Vermittlerin des göttlichen Erbarmens in diesen Zeiten der Eeue
und Zerknirschung fielen unermessliche Reichtümer zu, andererseits
gelangte die unbemittelte Schar des Volkes über Nacht zu einem
Erbe, das rasch vergeudet vom neuen die Gier nach herrenlosem Gute
reizte. Alle Zucht und Ordnung geriet dabei ins Wanken, Arbeit und
bürgerlicher Erwerb wurde gering geachtet, es gebrach an Kräften
zum Betriebe des Handwerkes, zur Bestellung von Haus und Feld.
Die Verteuerung der Produkte ging mit einer Verschlechterung der
Münze einher, die Steigerung der Preise und die unerschwingliche
Höhe der Arbeitslöhne führte z. B. in England zu einer gänzlichen
Reform des Land- und Ackerbaues.
Unter den Bewegungen, die den Gang des Schwarzen Todes be-
gleiten, ist endlich der Judenverfolgungen und der Geisslerfahrten
kurz zu gedenken. Beide Erscheinungen von Land zu Land sich er-
neuernd, sind der Ausdruck der ungeheueren Aufregung, die sich der
Gemüter bemächtigt hatte. Von dem uralten, noch heute lebendigen
Wahne erfüllt, die Pest von einer Vergiftung der Brunnen abzuleiten,
richtet sich vorerst die Wut des Volkes gegen Reiche und Vornehme,
alsbald aber gegen die Juden, die als Urheber dieses Frevels bezichtigt
und mit unmenschlicher Grausamkeit verfolgt und vernichtet werden.
Zu gleicher Zeit drängen sich dieselben Volksmassen zu den Scharen
der Geissler, die durch Reue und Busse das von Gott über die Mensch-
heit verhängte Strafgericht zu mildern und zu bannen suchen. Jede
dieser Richtungen schwillt aber im Laufe der Zeit zu einer tief-
greifenden sozialen Gärung an. die immer weitere Kreise erfassend,
den Kampf gegen die Besitzenden, gegen den Staat und die Kirche
hervorkehrt und ihrer kulturhistorischen Bedeutung nach erst in
jüngster Zeit von der Geschichtsforschung im rechten Lichte gekenn-
zeichnet wurde. Heute wissen wir, dass Judenmord und Geisseifahrt
nicht als Folgewirkungen der Pest, sondern vielmehr als Vorläufer
derselben an vielen Orten zu Tage getreten sind.
Inmitten der Verwilderung, die mit der Seuche eingerissen war,
fehlt es nicht an ungezählten Beweisen der Nächstenliebe und Opfer-
willigkeit. Rühmend gedenken die Chronisten des edelmütigen Wirkens
der Geistlichkeit und des ärztlichen Standes. Die Berufstreue der
Aerzte ragt auch in jener Zeit leuchtend hervor und was ihrer Kunst
versagt geblieben, waren sie mit wenigen Ausnahmen durch Un-
erschrockenheit und Aufopferung zu ersetzen bemüht. In den Vor-
stellungen des Zeitalters befangen, haben sie in widriger Konjunktion
der Planeten die Wurzel des Uebels gesucht und nach den Lehren
Galens und der Araber die faulige Verderbnis der Luft und die Auf-
Geschichte der epidemischen Kranhheiten. 759
nähme des hierdurch erzeugten Pestgiftes in den menschlichen Orga-
nismus als nächste Ursache der Seuche angesehen. Das von der
Pariser Fakultät im Oktober 1348 abgegebene Gutachten vertritt in
breiter Form diesen Standpunkt, erhebt sich aber in seiner Nutz-
anwendung nicht über allgemeine diätetische Ratschläge. Hingegen
yerschliessen Chauliac, Chalin u. a. aufgeklärte Aerzte keineswegs
ihren Blick vor der ,.neuen und unerhörten Krankheit"', sie suchen
deren Wesen, Erscheinungen und Verlauf nach dem Stande damaligen
Wissens zu ergründen und gelangen übereinstimmend zu der für jene
Zeit bemerkenswerten Erkenntnis von der unfehlbaren Kontagiosität
der Pestilenz. Sie sind überzeugt, dass durch direkte Berührung In-
fizierter, durch den Verkehr mit den aus gesunden und verpesteten
Orten angekommenen Personen, durch Wohnräume, Kleider und Hab-
seligkeiten Erkrankter und Verstorbener die Ansteckung vermittelt
werde, ohne jedoch daraus mehr als die subtilen Wege der Verbreitung
des Giftes abzuleiten. In der Nosologie war die Fäulnis des Blutes die
Hauptsache, aus ihr entsprangen Fieber, Schwäche, Bluthusten, Beulen
und alle übrigen Prozesse. In diesem Sinne bewegte sich auch die
Therapie. Fäulniswidrige und herzstärkende Arzneimittel stehen
obenan, Blutentziehungen werden zur Ableitung der korrumpierten
Säfte im Uebermasse angewendet, jedoch schon von Colle und
Chalin wegen ihrer Gefährlichkeit verworfen. Die chirurgische
Hilfeleistung beschränkte sich meist auf möglichst frühzeitige Er-
öffnung der Drüsen Schwellungen mittels des Messers und des Glüh-
eisens. Oeffentliche Massnahmen zur Abwehr der Pest gelangten zur
Zeit des Schwarzen Todes — wenn wir von den Reinigungsfeuern auf
den Plätzen der Städte oder den wegen üeberfüllung der Kirchhöfe not-
wendig gewordenen besonderen Pestfriedhöfen absehen, in vereinzelten,
unzulänglichen Vorkehrungen zur Ausführung. Nur Mailand hatte
1348 durch strenge Schliessung der Stadtthore vorübergehend die
Seuche von seinen Mauern abgehalten, an anderen Orten erwies sich
eine ähnliche Unterbrechung des Verkehrs als völlig wirkungslos.
Es ist für die Geschichte der Pest von untergeordneter Bedeutung,
den Abschluss des Schwarzen Todes auf das Jahr 1353 anzusetzen
oder aber seine Herrschaft bis gegen Ende des 14. Jahrhunderts gelten
zu lassen. Wenn wir der ersteren Auffassung folgen, lassen wü' es
dahin gestellt sein, zu untersuchen, ob und welche Pestepidemien in
Europa vom Jahre 1353 an als direkte und im kausalen Zusammen-
hange stehende Nachschübe des „grossen Sterbens" anzusehen sind.
Sicherlich war eine grosse Zahl damaliger „Pesten", worüber Augen-
zeugen berichten, das gleiche Uebel, wie vordem; andererseits nennen
Chronisten und Aerzte die späteren Epidemien die ..zweite Pest",
welche weder in ihren Erscheinungen noch in ihrer Bösartigkeit von
jenen der grossen Weltseuche verschieden sich gestaltet hat.
Das 15. Jahrhundert ist gleichfalls eine an Pestepidemien
reiche Epoche in der Geschichte der Krankheit. In allen europäischen
Staaten, und, soweit die Nachrichten reichen, auch im Oriente, treten
schwere Epidemien auf, die in ihrer Mortalität an vielen Orten den
Schrecknissen des Schwarzen Todes gleichkommen. Besonders harte
Pestjahre waren für Deutschland 1449, 1460—1463, 1473 und 1482
bis 1483. Die seither gewonnenen Erfahrungen fanden bei der steten
Wiederkehr der Seuche insoferne die kräftigste Bestätigung, als sich
immer mehr die Ueberzeugung von der Kontagiosität des Uebels Bahn
760 Victor Fossel.
brach. Die unter den verschiedenartigsten Verhältnissen und lokal
divergierenden Umständen gemachten Beobachtungen der Krankheit
und ihrer Verbreitung hellten langsam den örtlichen und zeitlichen
Zusammenhang der einzelnen Pestausbrüche auf. Sie bestärkten Aerzte
wie Laien in dem Bestreben, die oifenkundige Gefahr der Ansteckung,
die aus dem Verkehre zwischen verseuchten und bedrohten Gegenden
entsprungen war, durch Beschränkung oder Aufhebung der Kommuni-
kationen abzuwenden und die Einschleppung der Seuchen durch Ab-
sperrungsmassregeln zu verhindern. Italien, bisher als Eingangspforte
am schwersten betrolfen, ging in solcher Abwehr mutig voran. So
wird berichtet, dass der Rat von Ragusa schon 1375 die ersten Kon-
tumazvorschriften gegen die Pest erlassen, ebenso die Stadt Reggio
in Modena (nicht in Kalabrien, wie Häser berichtet) zu gleicher Zeit
die strenge Isolierung Infizierter verfügt und 1383 pestverdächtigen
Reisenden den Zutritt bei Todesstrafe verboten hatte. Diesem Bei-
spiele folgten andere Städte, zumal die Hafenplätze des Mittelmeeres
und der adriatischen Küste, deren Handelsverbindungen mit dem
Oriente eine erhöhte Vorsicht erheischten, deren vitales Interesse
dazu drängte, sich nach Möglichkeit der Seuche zu erwehren und die
ersten sanitätspolizeilichen Einrichtungen ins Werk zu setzen. So war
es Venedig, das im Jahre 1485 einen eigenen Gesundheitsrat als
Seuchenbehörde einsetzte, ungefähr zu derselben Zeit auf den nahe-
gelegenen Inseln die ersten Pestlazarette zur Unterkunft verdächtiger
Fremdlinge errichtete, zur Aufnahme Pestkranker in der Stadt ein
besonderes Hospital bestimmte und ausserdem die Anordnung traf,
Genesene und die mit solchen in Verkehr getretene Personen auf einer
eigenen Insel, in dem sogenannten neuen Lazarette, durch 40 Tage
zurückzubehalten. In diesen Anlangen lagen die fruchtbaren Keime
der für die Pestabwehr so wichtig gewordenen Quarantäneeinrichtungen
am Mittelmeere, aus denen sich hier wie in den Binnenländern neben
der Schaffung eigener Pestlazarette ein ganzes System von pestpolizei-
lichen Vorbauungs- und Tilgungsmassregeln allmählich entwickelt hat.
Am Ausgange des Mittelalters stand trotz aller in der zweiten
Hälfte des 14. und während des 15. Jahrhunderts vorübergegangenen
Epidemien in Wesenheit die Pestlehre noch auf der Stufe, welche
das ärztliche Wissen zur Zeit des Schwarzen Todes einnahm. Mit
Ausnahme der Erkenntnis der Kontagiosität der Krankheit, deren
praktische Verwertung für die öffentliche Wohlfahrt nicht hoch genug
zu veranschlagen Avar, blieben die medizinischen Fortschritte nur dürf-
tige. Noch stand der Glaube an die Wirkung astralischer Einflüsse
auf die Erzeugung des Pestgiftes in un geschwächtem Ansehen, noch
bewegten sich die Meinungen der Aerzte in blinder Anhänglichkeit an
die Lehren Galens und Avicennas, in breiten, gleichförmigen Er-
örterungen behandelten die Schriftsteller das alte Thema von der aus
verborgenen Ursachen entsprungenen Fäulnis. Die aus diesem ätio-
logischen Momente ausschliesslich abgeleiteten putriden Fieber, als deren
bösartigste Form die Pestilenz galt, beschäftigten naturgemäss in her-
vorragendem Masse die medizinische Spekulation, indes die Therapie
noch keine Abweichung von den Vorschriften der Araber ver-
spüren Hess.
Eine unverkennbare Wandlung in der Lehre von den Seuchen
und der Pest im besonderen erbrachte das 16. Jahrhundert, mit
welchem wir überhaupt den Aufschwung der Heilkunde zu begrüssen
r
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 761
gewohnt sind. Die Pestepidemien dieses Zeitraumes, an Häufigkeit
gewiss gegen das vorangegangene Säkulum zurücktretend, umfassten
dennocli eine fortlaufende Kette von Ausbrüchen, die in gewissen
Perioden den Charakter einer allgemeinen Ausbreitung angenommen
haben. So bildete Deutschland, Holland, Frankreich und Italien schon
innerhalb der ersten zwei Dezennien den Boden ausgedehnter Ver-
heerungen, denen sich in den folgenden Jahrzehnten ein nicht minder
stüimisches Auftreten der Pest zur Seite stellt. Insbesondere nimmt
vom Jahre 1550 an die Krankheit an epidemischer Ausdehnung zu
und ihre nach kurzen Intervallen stets wiederkehrenden und heftigen
Nachschübe in Italien, Spanien und den Niederlanden bieten den
Aerzten reiche Gelegenheit zu Beobachtungen und Vergleichen. Das
Zusammentreffen neuer epidemischer Krankheiten, wie des Englischen
Schweisses und der Lustseuche war für das Studium der Seuchen ein
kräftiger Ansporn und eröffnete zugleich die Bahn selbständiger Unter-
suchung. Namentlich erweiterte sich in der Pestlehre des 16. Jahr-
hunderts der Begriff des Kontagiums und die Unterscheidung der An-
steckungswege, welche naturgemäss zu einer Sonderung der verschie-
denen, bisher keineswegs in ihrer Eigenart genügend erkannten Formen
der kontagiösen Krankheiten geführt hat. So hat Hieronymus
Fracastoro aus Verona 1546 zuerst die Anschauung von einer durch
Berührung, durch Träger und die Luft d. i. auf Entfernung bewirkten
Ansteckung ausgesprochen („contactu, per fomitem et quae ad distans
fiat"), und diesen Modalitäten die Entfaltung bestimmter Krankheits-
keime (seminaria) zu Grunde gelegt, die immer weitere Generationen
erzeugen und, auf andere Körper übertragbar, die Infektion vermitteln.
Immer müssen die Keime dieselben sein, die gleiche Kraft besitzen,
denn die gleiche Ursache ruft auch das gleiche Kontagium hervor.
Von diesen bemerkenswerten Voraussetzungen ausgehend, gelangt
Fracastoro zur Differenzierung der wahren Pest (febris vere
pestifera) von dem pestartigen Fieber (febris pestilens), dessen stets
unter Fäulnisbildung einhergehende Erscheinungen er wieder auf be-
stimmte Grundursachen und auf die Entwicklung besonderer Keime
zurückleitet.
Es wird sich bei der Besprechung des Fleckfiebers Gelegenheit
ergeben, auf die scharfsinnigen Gedanken Fracastoros zurückzu-
kommen, der mit Recht der bedeutendste Epidemiologe seiner Zeit ge-
nannt wird. Ihm zunächst kommen seine Landsleute AI es sandro
Massaria und Victor de Bonagent ibus, die an den ver-
schiedenen Arten der Pestkrankheit die wichtige Thatsache demon-
strieren, dass das Uebel niemals von selbst, noch aus einem Verderbnis
der Luft entstehe, sondern immer durch Verschleppung seine Ver-
breitung finde. Im gleichen Sinne sprachen sich Forestus, In-
grassia Boccangelino, Prosper Alpinus u.a.m. aus, die als
sogenannte Kontagionisten und als Männer des Fortschrittes, wie dies
für alle Stadien der Entwicklung der Wissenschaft zutrifft, von den
Gegnern auf das heftigste bekämpft wurden. Für die Gruppe der
Antikontagionisten war das Dogma der Alten allein massgebend, und
sie fand eine willige Unterstützung an der Schar jener Aerzte, die
den Ideen der Neuplatoniker ergeben, aus dem geträumten Zusammen-
hange überirdischer, geheimnisvoller Kräfte mit den dunkeln Vor-
gängen in der organischen Welt von neuem eine Begründung der
Krankheitslehre abzuleiten sich bemüht hatte.
762 Victor Fossel. i
Aus dem Streite der Meinungen, deren Stärke allerdings mehr
auf theoretischer Seite gelegen war, ging zunächst die Aufstellung
der „wahren, echten Pest" neben den pestilentiellen Fiebern hervor,
ohne jedoch sichere Kennzeichen für die Diagnose und Nosologie fest-
zustellen. Als Arten einer und derselben Krankheit, kam ihnen nur
ein gradueller Unterschied zu, der entweder in der Malignität an sich,
oder in ätiologischen Ursachen gesucht wurde. Nur die Pest habe
ihren Ursprung in der Luft, die bösartigen Fieber verpflanzen sich
durch die Nahrung und das Trinkwasser. Während unter den auf-
fälligsten lokalen Erscheinungen die Bubonen der Pest, die Petechien
den pestartigen Fiebern als charakteristische Symptome zuerkannt
wurden, wollten andere Aerzte darin gemeinsame Merkmale erblicken,
von deren Vorwalten und Letalitätsgrade es abhinge, ob und welche
Pestform vorlag. In dem Bestreben, den Zwiespalt zu lösen, verstand
man sich dazu, den Uebergang der einen Form in die andere zuzu-
gestehen und die Verbreitung der Epidemien bald dem „Kontagium",
bald einer Undefinierten Summe von Bedingungen zuzuschreiben, die
in der Folgezeit als „epidemische Konstitution" den weitesten Spiel-
raum geboten und den Kontagionisten wie ihren Wiedersachern Rech-
nung getragen hat.
Entsprechend der fortschreitenden Auffassung der Verteidiger der
direkten Ansteckung, erfuhren die prophylaktischen Schutzmittel eine
Erweiterung und Verschärfung. Zu oberst stand freilich das alte
Mahn wort, die Kontagion zu fliehen in ungeschwächtem Ansehen.
„Mox, longe tarde, cede, recede, redi" war das Leitmotiv für alle,
die die Scholle verlassen konnten. Immerhin gewann die Therapie
durch die bessere Einsicht der Mehrheit der Aerzte an Vereinfachung.
Diätetisches Verhalten und reine Luft wurden als das beste Mittel
zur Verhütung und Behandlung empfohlen, hingegen die üblichen
Purganzen, Präservative und der Aderlass vielfach als schädlich er-
kannt. Andererseits waren die Aerzte des 16. Jahrhunderts mehr
denn je von der Vi^irksamkeit der Gegengifte bei Bekämpfung der
Pest überzeugt und ermüdeten nicht, in ihren Schriften mit allen
"Waff"en ihren Standpunkt zu vertreten. Theriak und Mithridat standen
als Antidota obenan, Kampher, armenischer Bolus, Bezoar und Edel-
steine hatten als gift- und fäulniswidrige Mittel noch nicht an An-
sehen eingebüsst und die Zahl der Amulette vermehrte sich durch die
Anhängsel von Tieren, Pflanzen und Mineralien, denen der Aberglaube
des Zeitalters neuen Wert verlieh.
An Bösartigkeit und Ausdehnung standen die Pestepidemien des
17. Jahrhunderts jenen der vorangegangenen Perioden keinesfalls
nach. Während der ersten zwei Drittel des Säkulum bildete nahezu
der ganze europäische Länderkreis den Schauplatz ihrer wiederholten
Verheerungen. Schon in den ersten Jahren wurde Russland, in den
Jahren 1603 — 1613 Deutschland, die Schweiz, Frankreich, die Nieder-
lande und England ergriffen und die Centren der Bevölkerung immer
wieder von neuem durch Nachschübe der Pest befallen. Italien, das
im Süden schon 1620 schwer unter dem Uebel zu leiden hatte, wurde
von demselben in den Jahren 1629 — 1631 in seiner nördlichen Hälfte
mit furchtbarer Härte betroffen. Die Drangsale der Mailänder Pest
des Jahres 1630 haben bekanntlich Manzoni den Stoff zu einem er-
greifenden Gemälde geboten. Wie die Lombardei wurden auch die
angrenzenden Staaten Ober- und Mittelitaliens zu einem Pestherde
Geschichte des epidemischen Ki-ankheiten. 763
ausersehen, für dessen Umkreis Corradi die Verluste an Menschen-
leben innerhalb der Jahre 1630 und 1631 auf mehr als eine Million
berechnet hat. Wenige Jahre später ist es Frankreich und Holland,
wo inmitten kriegerischer Ereignisse die Pest und andere Lager-
seuchen grosse Verheerungen nach sich zogen. Welchen Anteil der
Pest unter den mörderischen Epidemien zufällt, die während des
30jährigen unheilvollen Krieges über Deutschland hereingebrochen
waren, lässt sich trotz Lammer ts sorgfältiger Schilderung der
Seuchenot dieser Zeit heute nur schwer ermessen, Jahr für Jahr
haben uns die Chroniken Aufzeichnungen hinterlassen von dem Elend
und Verderben, welches Pestilenz und andere Volkskrankheiten über
das von der Kriegsfurie verwüstete Eeich gebracht, doch nur spärlich
fliessen die Quellen, die uns näheren Aufschluss über die Natur dieser
Seuchen geben würden.
Zu einer pandemischen Verbreitung erhob sich die Pest um die
Mitte des 17. Jahrhunderts. Von Frankreich und Spanien grilf sie
nach Italien über, wo sie über ein Jahrzehnt lang nicht zum Stillstand
gelangte und u. a. in Neapel, Rom und Genua 1656 — 1657 von einer
entsetzlichen Sterblichkeit begleitet war. Gleichzeitig war sie von
der Türkei und Russland aus nach dem Westen vorgedrungen und
über Dänemark und Deutschland nach Holland und weiter nach Eng-
land gewandert. In London, das schon 1603 und 1625 die Schrecken
der Pest erfahren hatte, wütete die Seuche das ganze Jahr 1665 hin-
durch und forderte noch im folgenden Jahre ihre Opfer, deren Ge-
samtzahl mehr als 70000 Tote betrug. Dieses als die „gi-osse Pest"
vom Volke bezeichnete Sterben war jedoch glücklicherweise der Ab-
schluss der Pestausbrüche in Britannien. Auch auf weiten Gebieten
des Festlandes vollzog sich von dieser Zeit an ein Rückgang der Pest,
die in einzelnen Ländern von nun an vollständig erlosch, in anderen
nur noch vorübergehende lokale Ausbrüche im Gefolge hatte. So
blieben Schweden, Dänemark und Italien schon vom Jahre 1657 an
von epidemischen Pestseuchen befreit, Holland, die Niederlande.
Belgien, Frankreich (ausschliesslich der Epidemie im Jahre 1720 im
Süden des Landes), die Schweiz und das westliche Deutschland
zählten die letzten Pestjahre im Zeiträume 1667 — 1669. auch in Spanien
erreichte die Pest mit der Periode 1677 — 1681 ihr Ende.
Während der Westen unseres Kontinents schon grösstenteils von
den Schrecknissen der Seuche erlöst war, fand sie im Jahre 1675
neuerlich den Eingang vom Osten her, wohin sie aus Asien und Nord-
afrika zugleich verschleppt worden war. Die europäische Türkei.
Ungarn, Polen, Oesterreich und ein grosser Teil von Deutschland
bildeten den Boden, auf welchem die Pest verheerend fortschritt und
ihre Herrschaft bis zum Jahre 1683 erstreckte. Es schien, als hätte
auch auf diesem Zuge die Seuche nichts an ihrer Kraft eingebüsst,
denn erschreckend lauten die Berichte über die Höhe der Menschen-
verluste. So wurden 1679 in Wien annähernd 80000 Menschen da-
hingerafft, ungefähr die gleiche Anzahl Einwohner verlor Prag im
Jahre 1681. in vielen deutschen Städten wurde mehr als ein Drittel
der Bevölkerung die Beute des Todes.
Wenn auch die andauernde Pestnot den Aerzten aller Länder ein
reiches Feld der Beobachtung bot, so ist dennoch der Litteratur des
17. Jahrhunderts nur eine geringe Klärung und Förderung der medi-
zinischen Anschauungen zu entnehmen. Nach wie vor standen sich
764 Victor Fossel.
Kontagionisten und An tikont agionisten im Kampfe der Meinungen
gegenüber; der Streit um das Kontagium, in zahllosen gelehrten
Schriften von neuem erörtert, war nicht darnach beschaffen, nüchternen
Erwägungen Raum zu gönnen. Der Wesenheit nach blieb die Pest-
lehre weit über die Mitte des Jahrhunderts hinaus unverändert stehen
und erhielt nur durch die Ideen der Jatrochemiker einen neuen, aber
unfruchtbaren Zuwachs an Erklärungsversuchen des Krankheits-
prozesses. Eine nicht zu verkennende Schwierigkeit lag für die da-
maligen Aerzte zweifellos in dem gehäuften gleichzeitigen Vorkommen
der Pest und der „pestilenti eilen Fieber", aus welchem Dilemma
wiederum der Glaube an die Entwicklung schwerer Pestformen aus
milderen ,,Fiebern" neue Nahrung zog. Die von Athanasius
Kirche r in dunklen Vorstellungen geahnte Lehre, minimale, nur dem
bewaffneten Auge sichtbare Lebewesen als Keime der Ansteckung
aufzufassen, scheiterte naturgemäss an der Unzulänglichkeit der
Forschungsmittel und wurde, so sehr sie auch den Kontagionisten
kräftige Stütze lieh, vor allem im Sinne der souveränen Fäulnistheorie
lebhaft ausgemünzt. Die Pestschriften des Jahrhunderts sind von
einer gewissen Eintönigkeit nicht frei zu sprechen, namentlich jener
Aerzte, welche den Galenischen Traditionen blind ergeben waren. Die
Konziliatoren, wie Dieme rbroek, dessen im Jahre 1646 erschie-
nenes Werk das grösste Ansehen unter den Zeitgenossen gefunden
hatte, leisteten mehr der Befestigung hergebrachter nosologischer und
therapeutischer Doktrinen, nicht aber dem Fortschritte einen Dienst.
Nur vorsichtig pflichten sie den Verteidigern der Kontagiosität bei,
welche jedoch durch die Energie ihrer Beweisführung und — was
selbst dem starren Zweifler nicht entgehen konnte — durch die
alltäglich wiederkehrenden Thatsachen immer weiteren Boden für die
praktische Verwirklichung ihrer Ziele fanden. Welchen tiefeingreifenden
Einfluss endlich Sydenham auf die Lehre von den epidemischen
Krankheiten geübt hat, wurde schon in den einleitenden Worten zu
skizzieren versucht. Wie sein Lehrgebäude über ein volles Jahr-
hundert der Heilkunde zur Richtschnur geworden ist, so blieben auch
seine Grundanschauungen über die Aetiologie, das Wesen und die
Behandlung der Volksseuchen dominierend für das medizinische
Zeitalter.
Während sich die Pest im Laufe des 18. Jahrhunderts vor-
wiegend auf den Osten Europas zurückgezogen hatte, gelangte sie
dennoch darüber hinaus auf unserem Kontinent zu vereinzelten,
explosiven Ausbrüchen. Schon am Beginne des Säkulums waren Kon-
stantinopel, die europäische Türkei und ihre Nachbarländer der Sitz,
ausgedehnter Epidemien der Beulenpest, die in den Jahren 1707 — 1714
in Russland, Polen, in den Ostseeprovinzen, Norddeutschland ihre Nach-
schübe zeitigte und auf exponierte Küstenstädte von Dänemark und
Schweden übergriff'. Ueberall war die Seuche in voller Bösartigkeit
aufgetreten und an vielen Orten von anderen kontagiösen Krankheiten
begleitet. So zählte u. a. 1710 Kopenhagen 20000, Stockholm 40000
Opfer der Pest. Vom Jahre 1709 an zog sie sich nach Ungarn und
Oesterreich, kam hier jedoch erst im Jahre 1713 zur epidemischen
Entwicklung und hielt noch im folgenden Jahre ihre Herrschaft auf-
recht. Wien, Prag, die Sudetten- und Alpenländer litten schwer unter
diesem Seuchenzuge, mit welchem aber endlich im Jahre 1714 die
Pest von der deutschen Erde verschwand. Länger erhielt sie sich in
Greschichte der epidemischen Krankheiten. 765
Ungarn, Siebenbürgen. Polen, in der Ukraine und den Donauländern,
wohin sie im Jahre 1714 neuerlich aus der Türkei importiert und
durch kriegerische Bewegungen weiter verstreut worden war. Ebenso
wiederholte sich, wie wir vorgreifend schon hier bemerken wollen,
infolge der fortdauernden Türkenkriege die Verbreitung der Seuche
innerhalb der Jahre 1738 — 1745 auf dem vorerwähnten Ländergebiete
und dessen Nachbarschaft, ohne jedoch die deutsche Grenze zu über-
schreiten.
Eine denkwürdige Episode in der Geschichte der Beulenpest
bildet ihr Auftreten in Südfrankreich in den Jahren 1720 — 1722.
Durch ein am 25. Mai 1720 aus Syrien angekommenes Fahrzeug in
Marseille eingeschleppt, fand sie in dieser Stadt in kürzester Zeit eine
rapide Ausbreitung und raffte binnen 15 Monaten 40000. nach anderer
Angabe 64000 Menschen dahin. Zur Zeit der Akme belief sich an
einzelnen Tagen die Zahl der Pesttodesfälle auf 1000 und wiederholt
ereignete es sich, dass ebensoviele Leichen ungeborgen auf der Strasse
lagen, deren Beseitigung nui' mit Hilfe von Galeerensklaven bewältigt
werden konnte. Bald nach ihrem Auflodern in Marseille brach die
Pest in den meisten Städten der Provence aus, in denen sie ebenso
wie in den Landbezirken während der nächsten zwei Jahre fürchter-
liche Ernte hielt. Ueberwältigt von den Schrecknissen des allgemeinen
Sterbens, griff mau zu den schärfsten Massregeln und war angesichts
der offenkundigen Einschleppung bemüht, aus dem jeweils glücklichen
Erfolge der ins Werk gesetzten Absperrung des menschlichen Ver-
kehres und der Vertilgung verdächtiger Waren, Kleider u. s. w. neue
Argumente für die Durchführung einer strengen Pestpolizei zu er-
bringen. Hierzu bot nach zwei Jahrzehnten die Erfahrung, die man
aus dem gänzlich isoliert gebliebenen Pestausbruche in Messina ge-
zogen, neuen Anlass. Die Stadt, seit 1624 von der Pest verschont,
wurde im Jahre 1743 wie vordem Marseille durch ein infiziertes Schiff
von der Seuche betroffen und verlor innerhalb weniger Monate
30000 Einwohner. Nur die strengste Absperrung gegen die schwer
geprüfte Stadt verhütete ein weiteres Umsichgreifen des Uebels.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verengert sich das
Herrschaftsgebiet der Beulenpest im Südosten Europas auf ein noch
mehr beschränktes Territorium, für welches die Türkei mit einer ge-
wissen Gleichförmigkeit als die Pforte der Invasionen sich verfolgen
lässt. So wurden in den Jahren 1755—1757 Siebenbürgen, 1770 — 1772
während des russisch-türkischen Krieges die Moldau und Walachei, Klein-
russland und Podolien, darauf wieder Siebenbürgen, ferner Polen und
Russland von der Seuche ergriffen. In Moskau, wo die Epidemie im
Sommer 1771 den Höhepunkt erreicht hatte, wui'den nicht weniger als
52000 Opfer der Pest gezählt. Weiterhin entwickelt sie sich infolge
von Einschleppungen 1783 in Dalmatien, 1786 abermals in Sieben-
bürgen, 1795 in Syrmien. 1798 in Volhynien,
Ueber die epidemische Ausbreitung der Pest ausserhalb unseres
Kontinents in diesem Zeiträume liegen nur unvollständige Berichte
vor. Aus ihnen ist zu entnehmen, dass Aegypten — bis zur Mitte
des 19. Jahrhunderts als beständiger Pestherd geltend — nach kurzen
Intermissionen immer von neuem der Schauplatz verheerender Aus-
brüche der Krankheit war und diese wiederholt nach der Nordküste
Afrikas Eingang fand. Nicht weniger zahlreiche Pestepideraien ent-
fallen auf den asiatischen Boden, insbesondere auf Syrien, die Klein-
766 Victor Fossel.
asiatische Küste und die ihr vorgelagerten Inseln. Der Ausbruch der
Seuche in Aleppo im Jahre 1761 hat durch die sorgfältige Darstellung
R u s s e 1 s ein allgemeines Interesse erweckt. Mesopotamien wurde um
das Jahr 1773 von der Pest schwer heimgesucht. In Persien herrschte
die Seuche, wie Tholozan berichtet, in den Jahren 1725—1726,
1757—1758, 1760-1761, 1773—1774, 1797—1798, meist im Nord-
westen des Reiches beginnend und nach Süden allmählich vorrückend.
Je mehr sich die räumliche Einschränkung der Pest im Laufe der
18. Jahrhunderts vollzogen hatte, desto schärfer trat sie dem Blicke
der Beobachter entgegen und umso durchsichtiger wurden die bisher
unaufgeklärt gebliebenen Wege ihrer Verbreitung. Wenn auch die
Aufmerksamkeit der Aerzte sich ihrem Wesen zugewendet hatte, so
gelang es nur langsam, in der Nosologie und Epidemiologie bessere
Begriffe festzustellen und damit die hergebrachten Einseitigkeiten und
Fehlerquellen in der Pestlehre zu beseitigen. Noch standen sich am
Ende dieser Periode die Anwälte und Zweifler an der Kontagiosität
des Hebels unversöhnt gegenüber, die traditionelle Auffassung, als sei
die Pest nur die schwerste Form und die bösartigste Steigerung der
verschiedenen Gattungen der „Fieber" beherrschte in voller Gewalt
die ärztlichen Schulen. Aus dieser Konfundierung allein ergaben sich
die unheilvollen Irrtümer, die schweren Konsequenzen, die insbesondere
in den Anfangsstadien der Seuche Aerzte und Behörden zu den
schlimmsten Missgriffen verleiteten. Doch lässt sich nicht verkennen,
dass mit der genaueren Verfolgung einzelner Ausbrüche, ihres zeit-
lichen und örtlichen Ganges die epidemiologischen Berichte an Wert
gewonnen und der staatlichen Fürsorge auf dem Gebiete der öffent-
lichen Gesundheitspflege einen gewichtigen Dienst geleistet haben.
Die Kontagionisten, die schon seit der letzten Pestkatastrophe in der
Provence eindringlicher denn je zuvor die Gefahren der Ansteckung
nachgewiesen, errangen über ihre Gegner entschiedenen Vorsprung und
drängten diese immer mehr in die Stellung der Defensive. Wir müssen
uns hier begnügen, auf Männer wie Muratori, Kanold, Mead,
Chenot, Howard und Rüssel hinzuweisen, die an der Hand der
Thatsachen die vorbauende Bekämpfung und energische Abwehr der
Beulenpest mit kritischer Schärfe gelehrt, jedoch bei der Ungunst der
Zeitverhältnisse nicht immer und überall für die Verwirklichung ihrer
Ratschläge Gehör gefunden haben.
Ueberblicken wir den Gang der Pest im 19. Jahrhundert, so
haben wir vorerst nachzutragen, dass sie noch am Ende des 18. Jahr-
hunderts in Aegypten und den Berberstaaten erschienen war. Gleich-
zeitig herrschte sie vom Jahre 1798 bis gegen das Jahr 1818 in Kau-
kasien, 1800—1801 in Mesopotamien und Syrien. Angeblich durch
französische Truppen wurde die Seuche von den Ufern des Nils nach
Konstantinopel eingeschleppt, wo sie in den Jahren 1802 und 1803
mit voller Heftigkeit sich behauptete. Fünf Jahre darauf, wahr-
scheinlich mit dem kaukasischen Seuchenherde im Zusammenhange
stehend, überfiel sie abermals die türkische Hauptstadt inmitten der
Wintermonate. Auf den gleichen Ursprung darf die Invasion der
Pest zurückgeführt werden, die 1807 über das russische Gouvernement
Astrachan, 1808 über Saratow sich ausgedehnt hatte. Vom Jahre
1811 an nahm die Krankheit einen neuen Anlauf, um in Aegypten
wie im südöstlichen Europa ihre Schrecken zu verbreiten. Wiederum
p, vermittelte ihr die europäische Türkei den Weg nach den Nachbar-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 767
ländern nnd wie Konstantinopel wurden im Jahre 1812 Odessa,
Podolien. die Krim, Walachei und Siebenbürgen auf das schwerste
betrofien. Auch in den folgenden Jahren drang die Pest in Europa
vor; sie suchte 1813 Bukarest in einem heftigen Ansturm auf, dem
mehr als ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer fiel. In Bosnien,
welches schon durch eine vorangegangene Hungersnot auf das härteste
mitgenommen worden war, erlag die Hälfte der Bewohner der Seuche,
die sodann in den Jahren 1814 — 1815 nach den Balkaninseln zog und
in der österreichischen Militärgrenze wie in Dalmatien Fuss fasste.
Innerhalb dieses Zeitraums dauerte die Pest in Aegypten fort, sie
verbreitete sich von Alexandrien nach Malta, wo im Jahre 1813 un-
gefähr 6000 Menschen umkamen und richtete 1815 in Kairo entsetz-
liche Verwüstungen an.
Mit dem Yorstosse der Pest nach der dalmatinischen Küste hing
zweifellos der isoliert gebliebene Ausbruch in Apulien zusammen, der
in dem Städtchen Noja im Jahi^e 1815 — 1816 sich ereignet und in der
Seuchengeschichte durch die Strenge der gegen die Infektion gerich-
teten Massregeln eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Eine weit
eingehendere Herrschaft gewann die Krankheit in den Jahren 1816
bis 1820 in Konstantinopel, an der arabischen und nordafrikanischen
Küste. Von letzterer wurde sie 1820 nach den Balearischen Inseln
verschleppt und insbesondere auf Mallorka zu einer schweren Geissei
der Bevölkerung.
Wenden wir uns, in der Chronologie der Pest fortfahrend, vorerst
dem europäischen Festlande zu. so haben wir gegen Ende des 3. De-
zenniums des erneuerten Umsichgreifens der Seuche in Griechenland
und der Türkei zu gedenken. Wiederum waren es kriegerische Er-
eignisse, welche im Jahre 1828 der Verschleppung der Krankheit aus
Aegypten nach der seit langem pestfreien griechischen Halbinsel Vor-
schub leisteten. Gleichzeitig trat sie in den Donau-Fürstentümern
unter den russischen Truppen in heftiger Weise auf, unter denen sie
in Gemeinschaft mit anderen Seuchen noch im Jahre 1829 furchtbare
Verwüstungen bewirkte. Lange Zeit hindurch wurde das Vorkommen
der Pest in Abrede gestellt und für „Typhöses Wechselfieber" erklärt,
bis endlich vor der Wucht der Thatsachen die Wahrheit nicht mehr
zu verbergen war. Inmitten der desparatesten Gesundheitsverhält-
nisse, unter denen die Soldaten wie die Civilbevölkerung zu leiden
hatte, entwickelte sich der Hauptherd der Pest in Adrianopel, von
diesem aus entsprangen Lokalepidemien in Kronstadt und in Odessa,
ohne jedoch weiter um sich gegrifi'en zu haben. Neuerliche Pest-
ausbrüche auf europäischem Boden ereigneten sich in den Jahren 1834.
1836, 1837 und 1839, hauptsächlich in der Türkei. Nur im Jahre 1837,
wo innerhalb weniger Monate die Pest in Konstantinopel 20000—30000
Opfer forderte, erschien sie gleichzeitig in Odessa und auf der
griechischen Insel Porös, um aber binnen kurzem daselbst zu er-
löschen. Seit dem letzten Auftreten der Pest in Konstantinopel im
Jahre 1841 ist die europäische Türkei bis zur Gegenwart von einer
Epidemie dieser Seuche verschont geblieben.
Auf afrikanischem Boden war seit altersher Aegypten ein bevor-
zugter Pestherd. Auch die Ereignisse seit dem Jahre 1820 schienen
diese Thatsache in Niederägypten zu bestätigen. Seit dem Altertum,
wie Ruf US bezeugt, galt das untere und mittlere Nilland als die
eigentliche Ursprungsstätte der Pest. Von Prosper Alpinus an
768 Victor Fossel.
bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Aerzte darin einig, alle
Züge der Seuche auf Aegypten und Syrien zurückzuführen. Die mit
der französischen Invasion an der Wende des 18. Jahrhunderts zu-
sammenfallenden und seitdem an Ort und Stelle fortgesetzten medi-
zinischen Studien und Beobachtungen über die Krankheit liehen der
Theorie von der autochthonen Entwicklung der Pest in Aegypten
neue Stützen. Man säumte nicht zur Befestigung dieser Lehre die
klimatischen, die Boden- und Bewässerungsverhältnisse des Landes,
die durch eine mangelhafte Leichenbestattung angeblich bedingte
Fäulnis und Reproduktion des Pestgiftes ätiologisch zu verwerten.
Im Zusammenhange mit der traditionellen Herrschaft der Pest in
Aegypten waren gerade ihre wiederholten Ausbrüche während des
Zeitraumes von 1820 — 1844, ungeachtet der lebhaften Widersprüche
von gegnerischer Seite danach angethan, die Annahme einer ende-
mischen Lokalisation der Krankheit zu bekräftigen. Nicht weniger
als zehnmal trat hier die Pest innerhalb des genannten Zeitabschnittes
auf und erreichte in mehreren Jahren eine grössere Extensität sowie
eine längere Dauer der einzelnen Epidemieperioden. Räumlich blieb
sie nahezu ausschliesslich auf das Unterland beschränkt und drang
mit Ausnahme ihres begrenzten Aufflackerns in Algier und Tripolis
im Jahre 1837 längs des Mittelmeerufers nicht weiter gegen die west-
liche Nachbarschaft vor. Mit dem Jahre 1844 fand jedoch die epi-
demische Verbreitung der Pest in Aegypten ihr vorläufiges Ende bis
zur Gegenwart herab und mit dieser geschichtlichen Thatsache hat
auch die Lehre von der Heimat der Krankheit im Pharaonenlande
den wesentlichsten Halt verloren.
Von hervorragender Bedeutung für die historische Pathologie der
Beulenpest sind die Nachrichten, welche über das Vorkommen der
Krankheit auf dem asiatischen Festlande im Laufe des 19. Jahr-
hundert bekannt geworden sind. Die Geschichte der asiatischen Seuche
nimmt trotz der anfänglich dürftigen und bisher noch lückenhaften
Berichte ein besonderes Interesse in Anspruch; sie hat das Dunkel,
das vordem über die östliche Grenze der Pestzone geherrscht, nicht
nur aufgeklärt, sondern auch die Vorstellungen von dem Geltungs-
gebiete der Krankheit grundlegend umgestaltet. Mit der Erweiterung
dieses epidemiologischen Gesichtskreises wurde auch der Blick auf
jene lange Zeit hindurch unerforscht gebliebener Länderkomplexe ge-
lenkt, in denen wir bei aller Mangelhaftigkeit unserer Kenntnisse von
der Vergangenheit uralte Sitze der Bubonenpest vermuten dürfen.
Zudem setzen uns die in neuerer Zeit auf asiatischer Erde gewonnenen
Aufschlüsse über die Formen und das Verhalten der Seuche in den
Stand, gewisse Schlussfolgerungen abzuleiten, welche sowohl die An-
nahme einer seit den ältesten Epochen der Geschichte ununterbrochenen
Kontinuität der Krankheit, wie die volle Kongruenz der Gründzüge
des durch Zeit und Raum unverändert gebliebenen Bildes der Pest
als gesichert hinstellen.
üeberblicken wir zunächst den Zeitraum vom Jahre 1820 bis zur
Mitte des Jahrhunderts, so ist in Vorderasien nahezu gleichzeitig mit
dem Auftreten der Pest in Aegypten während der Jahre 1820 — 1843
eine Kette von Ausbrüchen derselben in Syrien, Kleinasien und Armenien
zu verzeichnen und deren temporäres Erscheinen in levantinischen
Hafenstädten beobachtet worden. Doch mit dem Jahre 1843 war
auch auf diesem Gebiete die Seuche erloschen. In Arabien war sie
I
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 769
seit 1815 nur einmal, und zwar im Jahre 1832 an der Küste in bös-
artiger Weise aufgetreten, drang selbst in das Innere des Landes vor,
ohne aber Mekka, den verhängnisvollen Propagationsherd der Volks-
krankheiten, berührt zu haben. Auch in Mesopotamien und im nord-
westlichen Persien beschränkt sie sich, wenn auch verderbnisvoll ge-
worden, auf eine vom Jahre 1828 — 1835 reichende epidemische Aus-
breitung, mit welcher 1828—1830 die Epidemie in Kaukasien gleichzeitig
einherging. Im letzteren Lande rekrudeszierte die Seuche in weiterem
Umfange in den Jahren 1840 — 1843.
Ueber die Herrschaft der Beulenpest in Indien, welcher moha-
medanische Geschichtsschreiber schon im 16. und 17. Jahrhundert ge-
denken, stammen die ersten verwertbaren Nachrichten aus dem Jahre
1815. Ihre Verheerungen nahmen auf der Insel Katch den Anfang,
griffen in den folgenden Jahren auf die Provinzen Gudscherat, Sindh,
Katjawar, weiterhin auf die angrenzenden britischen Besitzungen, auf
die Distrikte Buriad und Dollerad über und fanden ei-st 1821 in Ahme-
dabad ein Ende. Vom Jahre 1823 an besitzen wir Kunde von einer,
sicherlich schon seit langer Zeit in Nordindien endemischen, als
„Mahamari" oder ,,Phutkiya Eog"* bezeichneten Krankheit, welche die
englisch-ostindischen Aerzte identisch mit der wahren Beulenpest er-
klären. Hir Sitz ist das im Südwesen des Himalaya gelegene hohe
Gebirgsland der Provinzen Garhwal und Kumaun, in denen von jener
Zeit an bis zur jüngsten Gegenwart eine nur von kurzen Pausen
unterbrochene Reihe von Pestausbrüchen bekannt geworden ist. Damit
standen vermutlich die von Hirsch erwähnten Epidemien der legi-
timen Beulenpest in den Provinzen Delhi und ßohilcand 1828 — 1829
ebenso im Zusammenhange wie die 1836 vom Handelsplatze Pali aus-
gegangene, als „Pali- Pest" genannte Epidemie, welche zwei Jahre
hindurch vornehmlich die ßadschputana-Staaten sowie die Staaten
;Marwar und Merwar schwer heimgesucht und welche die frühere
medizinische Geschichtsschreibung als eine besondere, eigenartige
Spezies unter dem Namen der „indischen Pest"' irrtümlich von
der Hauptseuche differenziert hatte.
Ganz ungenaue Angaben liegen über die anfängliche Verbreitung
der Pest innerhalb des chinesischen Reiches vor. Nur dunkle Tradi-
tionen bezeichnen die Berglandschaften der Provinz Jünnan als einen
endemischen Herd der Krankheit, die dort unter der volkstümlichen
Benennung ,.Yangt-zu" ungefähr seit dem Jahre 1844 bekannt ge-
worden und nach Manson durch eine den jedesmaligen Ausbrüchen
vorangehende Rattenpest und ein seuchenartiges Absterben der Haus-
tiere charakterisiert gewesen ist. Ob die Heimat der chinesischen
Pest, wie Koch annimmt, nach Thibet zu verlegen sei, gründet sich
mehr auf hypothetische Schlüsse, als auf Thatsachen, doch sprechen
neuere Forschungsergebnisse immer deutlicher zu Gunsten dieser
Annahme.
Von der Mitte des Jahrhunderts angefangen, datiert mit dem Er-
scheinen der Pest an der Nordküste von Afrika, mit den fortgesetzten
Ausbrüchen der Krankheit auf dem asiatischen Kontinent und ihrem
Auftreten auf europäischen Boden, an den Ufern der Wolga die neuere
Periode der Geschichte dieser Seuche.
In Afrika war es die an der Nordküste des Landes gelegene
türkische Provinz Tripolis und deren Hafenstadt Benghasi, die in den
Jahren 1856 — 1857, 1858 — 1859 in schwerer Weise von der Pest be-
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. id
770 Victor Fossel.
fallen worden war, die dann noch einmal im Jahre 1874 auf diesem
Platze sich erhoben und landeinwärts fortschreitend die spärliche Be-
völkerung des Hochplateaus vom Cyrenaika grausam betroffen hatte.
Auf welchen Wege die Bubonenpest nach der tripolitanischen Küste
eingeschleppt worden war, ist bis vor kurzem un ermittelt geblieben.
Erst in allerjüngster Zeit haben Koch und Zupitza anlässlich der
in Kisiba, im Nordwesten von Deutsch-Ostafrika gepflogenen Studien
über die unter dem Namen „Rubwunga" dort seit dem Jahre 1890
grassierenden Beulenpest festgestellt, dass dieselbe seit unvordenklichen
Zeiten in Uganda endemisch sei. Beglaubigten Nachrichten zufolge
werde die Krankheit durch Sklaventransporte nach weit entfernten
Gegenden verpflanzt und es sei demnach mehr als wahrscheinlich, den
Ursprung früherer Pestepidemien in Aegypten sowohl, wie jener er-
wähnten Ausbrüche in Tripolis auf diesen Herd im Innern Afrikas
zurückzuführen.
Einen bedeutsamen Schauplatz der Pest in dem uns beschäftigen-
den Zeitabschnitte bilden Arabien, Mesopotamien und Persien. Was
zunächst die arabische Halbinsel anlangt, war hier die Seuche zum
letzten Male im Jahre 1832 erschienen. Im Jahre 1853 zeigte sie sich
in dem Berglande von Assir an der Westküste des Landes und ver-
breitete sich hier in grösseren Dimensionen. Von neuem nahm die
Pest im Jahre 1874 in Assir ihren Ausgang, überzog das arabische
Binnenland, wütete daselbst unter den sesshaften Volksstämmen, ohne
jedoch Mekka berührt zu haben. Neuere Ausbrüche der Krankheit in
Assir, welche hier sich eingenistet zu haben schien, fallen in die
Jahre 1879, 1889, 1890, 1892—1893 und 1895. Die in Djeddah, dem
an der arabischen Westküste gelegenen und für den mohamedanischen
Pilgerverkehr so überaus wichtigen Hafenorte, in den Jahren 1897
bis 1899 aufgetretenen Pesterkrankungen hängen, soweit die Nach-
forschungen ergeben haben, nicht mit dem endemischen Herde in Assir
zusammen, sondern wurden durch den maritimen Verkehr aus gleich-
zeitig verseuchten Gegenden des asiatischen Ostens eingeschleppt.
Mesopotamien, seit dem Jahre 1835 durch zwei Dezennien von der
Pest verschont, erfuhr im Jahre 1856 eine neue Invasion der Seuche
die vornehmlich in der Provinz Bagdad (Alt-Babylonien, Irak-Arabi)
sich verbreitete. Von neuem erhob sie sich im Jahre 1867 und ge-
staltete sich zu einer mörderischen Epidemie, die hauptsächlich die am
rechten Ufer des Euphrat gelegene Ebene von Hidijeh befiel. Ohne
in den darauffolgenden Jahren zu erlöschen, nistete sie sich in unge-
zählten Ansiedelungen ein, exacerbierte daselbst oftmals in foudroy-
anten Erkrankungsfällen und wurde mittels der landesüblichen Leichen-
transporte nach weiten Entfernungen übertragen. Immer mächtiger
war die Krankheit im Lande angewachsen, die im Jahre 1873 als
Epidemie den grössten Teil Mesopotamiens überzog, nach der persi-
schen Provinz Chusistan übergriff, im Westen bis zur Syrischen Wüste,
im Süden bis Divianah vordrang, und fünf volle Jahre nicht zum Still-
stand kam. Diese als „grosse babylonische Pest" bezeichnete Epi-
demie, die in Dagarra und Affij in ihrer Akme dem ganzen Bilde des
Schwarzen Todes vergleichbar war und zahlreiche Dörfer gänzlich ent-
völkert hatte, forderte ungeheuere Opfer, deren Höhe jedoch nicht
einmal für die Stadt Bagdad, wo sie 1874—1876 gewütet, annähernd
sich ermitteln liess. Anfänglich von den Aerzten für „Intermittens
bubonica remittensque" gehalten oder als „Typhus loimoides non con-
r
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 771
tagiosus" ausgelegt, wurde die Seuche ihrem eigentlichen Wesen nach
ei-st erkannt, bis die rapide Sterblichkeit und die Häutigkeit der unter
den Erscheinungen der Pestpneumonie lethal verlaufenden Fälle den
Blick der Beobachter geschärft hatte.
An diese bis in das Jahr 1878 hinüber reichende Epidemie in
Mesopotamien, die mit den gleichzeitigen und heftigen Ausbrüchen der
Seuche in Persien gewiss in ursächlichen Zusammenhang zu bringen
ist, schloss sich der Zeitfolge nach die denkwürdige Invasion der Pest
im russischen Gouvernement Astrachan. Wie von dem verspätet ein-
getroffeneu europäischen Kommissionen nachträglich festgestellt werden
konnte, war die Krankheit im Herbst 1878 in die am unteren Laufe
der Wolga gelegene Ortschaft Wetljanka eingeschleppt worden, griff
unter den Dorfbewohnern um sich und erreichte, nachdem etwa ein
Fünftel der Bevölkerung ihr erlegen war, um die Mitte Januar 1879
spurlos ein Ende, während die Verluste in mehreren gleichzeitig in-
fizierten Nachbardörfern nur geringe waren. Die Frage, ob diese Auf-
sehen erregende Lokalepidemie mit den Yfanderungen der Pest in
Mesepotamien und Persien im Konnex gestanden war, entzog sich da-
mals der Nachforschung, wird aber heute, wo einigermassen das Dunkel
über die Wege der Krankheitsverbreitung erhellt ist, kaum anders als
im bejahenden Sinne beantwortet werden können.
Auch nach Ablauf des Jahres 1879 war die Pest in Mesopotamien
ebensowenig wie in Persien zur Ruhe gekommen. Ton den kurdischen
Bergen, welche Tholozan als Ursprungsstätte der mesopotamischen
Pestausbrüche angesehen wissen will, von Kurdistan bis hinab in die
vom Euphrat und Tigris durchströmte Ebene zog sich die Seuche fort,
entwickelte sich 1880—1881 in Bagdad zu einer schweren Epidemie,
deren Ausläufer noch drei Jahre lang andauerten, während im übrigen
Lande erst mit dem Jahre 1886 ein entschiedener Nachlass zu ver-
zeichnen war. Leber die im Jahre 1892 in Bagdad, Kut, Nasrie und
Bassora aufgetretene Beulenpest konnten wir nichts näheres ermitteln.
In Persien war die Krankheit seit dem Jahre 1835 erloschen. Sie
zeigte sich erst wieder 1863 im persischen Kurdistan, tauchte 1867 in
der Provinz Chusistan und deren Hauptstadt Schuster in stärkerer
Weise auf, wohin sie durch Pilgerkarawanen aus Mesopotamien ver-
schleppt worden war. Ende 1870 \mräe das westliche Grenzgebiet
von Kurdistan verseucht und eine grosse Zahl von Dörfern völlig ent-
völkert. Dem im Jahre 1876 in der Provinz Chorassan erfolgten
Pestausbruche reihte sich im folgenden Jahre eine über die am Süd-
ufer des Kaspischen Meeres gelegenen Provinzen Aberbeidschan und
Gilan ausgedehnte Epidemie an. Ueber Chorassan fortschreitend, be-
wegte sich der Seuchenzug zunächst in der Richtung gegen die Stadt
Rescht, weiterhin gegen Osten über Herat nach Afghanistan, während
die Krankheit, die gleichzeitig im Westen Persiens aufgetreten war,
hier noch im Jahre 1878 anhielt. Schon 1880 entwickelte sich die
Bubonenpest im persischen Kurdistan und in der Provinz Chorassan
von neuem an mehreren Plätzen, wanderte, ohne grössere Dimensionen
anzunehmen, 1881 — 1883 auf diesem Gebiete umher und erhob sich
erst 1884 in Luristan, 1885 in der Umgebung von Hamadan, 1886 in
Asterabad und 1887 in Mesched zu epidemischer Gestalt. Mit letzteren
Infektionscentren dürfen wir aller Wahrscheinlichkeit nach die im
Zeiträume 1884 — 1886 unter den russischen Besatzungstruppen der
Zitadelle von Merv sowie die 1887 in Tauris aufgetretenen Pest-
49*
772 Victor Fossel.
erkrankungen in ursächliche Verbindung bringen. Innerhalb der Jahre
1889 — 1891 war das Vorkommen der Krankheit im persischen Reiche
auf engere Kreise beschränkt. Hingegen erfolgte 1892 ihr neuerlicher
Ausbruch in Asterabad, wohin sie aus der mesopotamischen Totenstadt
Kerbela verschleppt worden sein soll; von dem genannten Herde griff
sie nach Turkestan über und raffte in Askabad binnen sechs Tagen
von den 30000 Einwohnern 1303 hinweg. Ebenso plötzlich, wie die
Seuche erschienen, war sie wiederum verschwunden.
Bemerkenswert erscheinen die von europäischen Aerzten des
Landes, wie Tholozan, Adler, Bertoletti mitgeteilten Be-
obachtungen, wonach die Pest in milderer Form und durch längere
Zeit auf einzelne Dörfer oder nur auf bestimmte Behausungen begrenzt
blieb, nach wechselnden Intervallen daselbst wieder zum Vorschein
kam, um dann oft plötzlich an weit von einander gelegenen Sitzen
aufzuflammen und zu einer förmlichen Epidemie sich zu gestalten.
Einstimmig werden die Pilger- und Handelswege als bevorzugte Pest-
routen bezeichnet und die grossen Totenkarawanen, die alljährlich
tausende von Leichen nach den geheiligten Grabstätten der Schiiten,
Kerbela und Nedjef in Mesopotamien sowie nach Mesched in Persien
befördern, als gefahrvolle Vermittler der Seuchenzerstreuung be-
schuldigt.
In Vorderindien war die Pest seit den fünfziger Jahren in mehr
oder weniger ausgedehnten Ausbrüchen vorwiegend in Garhwal und
Kumaun aufgetreten und wiederholt nach dem Pandschab und nach
der Provinz Delhi gelangt. Hier im Nordwesten Hindostans knüpft
sich die Propagation der Pest, analog der Cholera, hauptsächlich an
die Wege des Karawanen- und Pilger verkehr es. Auch mag, wie
Hank in angibt, der Umstand wesentlich zur Verstreuung des Krank-
heitskeimes beitragen, dass die Bewohner von Garhwal und Kumaun
ihre Dörfer verlassen, wenn die Seuche durch ein massenhaftes Eatten-
sterben sich anmeldet.
Die an der Küste Vorderindiens in den letzten Jahren bekannt
gewordenen Pestepidemien hängen mit den gleichzeitigen Zügen der
Seuche in China so eng zusammen, dass es der Uebersicht halber an-
gemessen erscheint, dieselben unter einem zu besprechen. Welche
Pestereignisse sich in der Provinz Jünnan, dem Stammsitze des Uebels,
in den letzten Dezennien abgespielt haben mögen, ist bisher nicht in
die Oeffentlichkeit gedrungen. Schwere Epidemien sollen hier 1871 —
1873 und 1879 gewütet haben. Vom Jahre 1893 an griff die Beulen-
pest nach der chinesischen Provinz Kouang-Si über, erschien nach
Süden sich wendend, in Pakoi, um weniges später, den Handelstrassen
in östlicher Eichtung folgend, in Kanton, wo 1894 eine beträchtliche
Epidemie den Anfang nahm und erst zwei Jahre darauf erlosch.
Dem Kantonflusse entlang schritt die Seuche 1894 an der südchine-
sischen Küste fort und setzte sich in Amoy, Swatow, sodann auf den
Inseln Formosa, Hainan und Hongkong fest. Die Epidemie auf Hong-
kong, unter welcher die Hauptstadt Viktoria schwer zu leiden hatte,
bildet in der Geschichte der Krankheit einen wichtigen Abschnitt,
denn sie bot Gelegenheit, dass Kitasato und Y ersin voneinander un-
abhängig daselbst im Jahre 1894 den spezifischen Mikroorganismus
der Pest entdeckt und damit die neue Pestlehre begründet haben.
Auf Hongkong rekrudeszierte die Seuche in den nächsten zwei Jahren,
sie fand 1895 Eingang in Makao und wurde im August 1896 nach
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 773
Bombay verschleppt, ohne dass festzustellen war, ob die Infektion auf
dem Seewege von China aus oder durch Pilger aus Nordindien dahin
gekommen war. In der Stadt Bombay sowohl, wie in der gleich-
namigen Präsidentschaft, besonders in Kurrachee, Pooua u. a. 0. ge-
wann die Seuche einen bedeutenden Umfang. Wenn auch im Sommer
1897 ein erheblicher Xachlass zu verzeichnen war, so erfolgte doch
binnen wenigen Monaten ein gewaltiger Nachschub der Epidemie, die
auf dem ganzen Gebiete in diesem und dem folgenden Jahre anhielt
und nach dem Hinterlande, nach dem Dekan, Pandschab und den
Nordwestprovinzen vordrang, sowie 1898 in Calcutta Einkehr hielt.
In der Präsidentschaft Bombay zogen sich die Ausläufer der Pest bis
in das Jahr 1899 hinüber. Nach S i m o n d betrug in der Stadt Bombay
vom August 1896 bis August 1898 die Zahl der Opfer 32000. In
den verseuchten hindostauischen Landesteilen wurde innerhalb dieser
Periode die Höhe der durch die Pest herbeigeführten Todesfälle auf
ungefähr eine Viertelmillion berechnet. Die Epidemie in Bombay, mit
dem ganzen Aufgebote moderner Forschungsmethoden von den aus
Deutschland, Oesterreich und Russland im Jahre 1897 dahin entsendeten
ärztlichen Kommissionen beobachtet, wurde bekanntlich zum Ausgangs-
punkte bahnbrechender Aufschlüsse über die Nosologie und patholo-
gische Anatomie der Beulenpest, deren nähere Beleuchtung jedoch heute
noch nicht den Gegenstand geschichtlicher Besprechung bilden kann.
Wie in Ostindien war in China die Seuche in den Jahren 1898 —
1899 auf vielen Plätzen, u. a. in Kanton, Hongkong, Amoy, Formosa
neuerlich erschienen. Von besonderer Wichtigkeit ist ihre seit dem
Jahre 1896 konstatierte Verschleppung nach weitentlegenen Punkten
der Erde. So gelangte sie nach Madagaskar, Mauritius, Südafrika,
den Philippinen, Sandwichinseln, Australien, Djeddah, Alexandrien,
nach einzelnen europäischen und südamerikanischen Häfen. Wenn an
allen diesen, zweifellos durch den maritimen Verkehr infizierten Plätzen
die Pest nicht zu bedrohlichen Epidemien sich steigerte, so hatte sie
doch in Oporto während der zweiten Hälfte des Jahres 1899 eine
grössere Intensität gewonnen und unter 305 Erkrankungen 110 Todes-
falle zur Folge gehabt.
In das Jahr 1898 fielen endlich die Ausbrüche der Pest in der
Mongolei und in der in Zentralasien gelegenen russischen Besitzung
Samarkand. Auf ersterem Gebiete wurde nach Matignon die Krank-
heit im Distrikte Atchinski seit dem Jahre 1888 beobachtet und 1898
in weiterem Umfange herrschend konstatiert. In Samarkand be-
schränkte sich 1898 die Seuche auf das Dorf Anzob, woliin sie an-
geblich aus Turkestan importiert worden war.
n. Fleckfieber.
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Die geringe Beaclitung exanthematischer Krankheitsprozesse hat
dem Fleckfieber während des g'anzen Altertums und Mittelalters keine
umgrenzte Stellung in der Reihe der damals bekannt gewordenen
Krankheitsformen eingeräumt. Die Schwierigkeit, das Fleckfieber in
der älteren Geschichte der Volkskrankheiten auszuscheiden, wird zur
Unmöglichkeit, wenn man seine Aehnlichkeit und Verwandtschaft mit
anderen Infektionskrankheiten in Betracht zieht, die selbst bis in die
neuere Zeit zur Verwechslung des exanthematischen Typhus z. B. mit
der Bubonenpest, mit dem Abdomin altyphus nicht etwa bloss in iso-
lierten Fällen, sondern auch bei gehäuftem Vorkommen bis zur voll-
ständigen Täuschung über den Charakter der Anfangsstadien einer
Epidemie geführt hat.
Dieser Grund vermochte über die Versuche nicht hinwegzuhelfen,
das Alter des Fleckfiebers aus den Schriften der Alten annähernd
bestimmen zu wollen. Es widerspricht unserer modernen Auffassung,
lediglich aus der vagen Bezeichnung eines einzelnen Symptoms die
ganze spezifische Krankheitsform gleichsam rekonstruieren zu wollen.
Demnach kann die in den Schriften der Hippokratiker vorkommende,
als „Ti)(jpog" (Rauch) benannte Umnebelung der Sinne oder die darunter
verstandene Neigung zum Stupor nicht beweiskräftig genug erscheinen,
um in solchen mit derartiger Erscheinung komplizierten Fällen das
Fleckfieber sicher erkennen zu wollen. Abgesehen von der durch
äussere Momente bedingten Konfundierung älterer Epidemieberichte,
ist das obzwar häufige und charakteristische Auftreten des Fleck-
typhus inmitten von Kriegen, Hungersnöten und anderen Kalamitäten
noch immer nicht massgebend genug, um daraus feste, jedoch historisch
nicht motivierte Rückschlüsse auf die Verbreitung der Krankheit in
früherer Zeit abzuleiten, obgleich die Vermutung keineswegs von der
Hand zu weisen ist, dass in vielen Seuchen der Vergangenheit dem
Fleckfieber wahrscheinlich auch in dem Gemenge von Infektions-
krankheiten ein gewisser und vielleicht beträchtlicher Anteil zuge-
kommen sein mag. Erst mit dem XVI. Jahrhundert tritt der Typhus
exanthematicus aus dem Dunkel, das er bisher in der Pathologie über-
haupt und in seiner steten Vermengung mit der Bubonenpest im be-
sonderen eingenommen hatte, klarer hervor. Es ist das grösste Ver-
dienst des Veroneser Arztes, Hieronymus Fracastoro in seinem
klassischen Buche „De contagione et contagiosis morbis"
I
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 775
die erste und sichere Schilderung des Flecktyphus niedergelegt zu
haben. Er unterschied unter der Gruppe der „contagiösen Fieber'^
die wahre Pest von den nicht pestilentiellen Fiebern und stellte
zwischen beide Kategorien eine besondere Art als: ,. lenticulae,
vel puncticulae aut peticulae", welche Fieberform, obwohl
sie den ärztlichen Vorfahren nicht unbekannt geblieben, zum ersten-
mal in Italien in den Jahren 1505 und 1528 aufgetreten und aus
Cvpern und seinen benachbarten Inseln eingeschleppt worden sei.
Unter genauer Beobachtung des gesamten Krankheitsprozesses, unter
anschaulicher Darstellung der wesentlichsten Symptome und strenger
Differenzierung derselben von der Pest (Febris vere pestilens) betont
F r a c a s 1 0 r 0 den Zusammenhang der Seuche mit Misswachs, Hunger
und Krieg, ihre Kontagiosität und Verbreitung aus Italien nach an-
deren Ländern durch Infizierte. Charakteristisch war für die Be-
zeichnung, welche Fracastoro der Krankheit gegeben, deren eigen-
tümlicher, roter und flohstichähnlicher Ausschlag. Wenngleich bei
diesem Autor die Nosologie des Fleckfiebers mit voller Deutlichkeit
abgehandelt und ausdrücklich hervorgehoben wird, dass dasselbe nicht
die wahre Pest, wohl aber „an der Schwelle derselben" stehend sei und
auch in der Heftigkeit der Ansteckung gegen letztere zurücktrete, so
vermag sich Fracastoro von der Galenischen Lehre der verborgenen
Ursachen und der Fäulnis des Blutes nicht zu befreien und erklärt als
die vornehmste Ursache der Krankheit eine ..Infektion der Luft",
welche ihrer fauligen Beschaffenheit nach auch das kritische Exanthem
produziere, dessen rasche Entwicklung sogar als ein günstiges Heil-
bestreben der Natur angesehen werden müsse. Im gleichen Sinne und
kaum von der herrschenden Pestlehre abweichend beurteilen andere
hervorragende Aerzte des 16. Jahrhunderts die „neue Krankheit" die
ihrer Analogie wegen bald mit dem Namen ..Petechialfieber*' oder
„Pestilenzfieber" in specie belegt, jedoch noch lange hinaus nicht
strenge genug von der Drüsenpest geschieden, vielmehr als eine mil-
dere Abart derselben angesehen oder den sogenannten malignen
Fiebern zugezählt wird.
Das 16. Jahrhundert bot reichliche Gelegenheit zur Beobachtung
des exanthematischen Typhus, besonders während seines ersten Auf-
tretens in den südlichen Ländern Europas. Der Epidemie vom Jahre
1505 in Italien, welcher schon Fracastoro gedenkt, folgte im Zeit-
räume von 1524 — 1530 eine über die ganze Halbinsel sich erstreckende
Seuche, welche zwar gleichzeitig neben der wahren Pest einherschritt,
doch zum grossen Teile in der Herrschaft des Flecktyphus bestand.
Insbesondere war es das französische Kriegsheer, das im Jahre 1528
während der Belagerung Neapels furchtbar darunter zu leiden und
an 30000 Soldaten an diesem Lagerfieber verloren hatte. Ebenso
wurde Italien noch in den folgenden Dezennien von der Krankheit
in wiederholten Lokalausbrüchen heimgesucht. In Spanien, wo schon
im Jahre 1489 bei der Belagerung von Granada die Truppen Ferdinand L
durch eine angeblich durch Truppen aus Cypern eingeschleppte und
kaum anders als Petechialtyphus zu deutende Seuche in harte Be-
drängnis geraten und ihr im ganzen 17000 Mann erlegen Avaren,
grassierte die gleiche Krankheit in der eisten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts in vehementem Masse. Sie wurde ,,Tabardillo" oder
„Pintas" (wegen der roten Flecken der Haut) genannt und von den
spanischen Aerzten in wertvollen Schilderungen beschriebe!- In
776 Victor Fossel.
Frankreich gewann, vielleicht im Zusammenhange mit den unglück-
lichen Kriegsereignissen vor Neapel, der Flecktyphus schon im Jahre
1528 eine rasche Verbreitung und erhielt aus der Thatsache, dass er
gerade jungen kräftigen Männern der vornehmeren Gesellschafts-
klassen gefahrvoll geworden war, den Namen „Trousse-gallant".
Nach Angabe damaliger Geschichtsschreiber hat sich von 1528 an
die Krankheit auf französischem Boden nicht mehr gänzlich verloren
und in den Jahren 1545 — 1546 zu einer über ganz Frankreich, Savoyen
und Spanien verbreiteten Epidemie erhoben.
Auch in Deutschland fällt das erste epidemische Vorkommen des
„Fleckfiebers" in das Jahr 1528, nachdem es durch Landesknechte
aus Italien nach dem Harz und anderen mitteldeutschen Landschaften
eingeschleppt worden war. So häufig auch der exanthematische Typhus
im Gefolge von Kriegszügen neben Pest, Kuhr u. a. Lagerseuchen
schon in diesem Zeitabschnitte sich geltend gemacht und vielfache
Verwechslung mit anderen Volkskran kheiten erfahren hatte, so haben
doch deutsche Aerzte wie Vochs, Kepser u. a. seine Eigenform
damals gebührend gewürdigt und ihn als „Febris puncticularis" oder
als „caeca et notha pestilentia" von der „Pestis legitima" unter-
schieden. Frühzeitig wird in Deutschland die vulgäre Bezeichnung
des Leidens als „Hauptkrankheit" oder „Haupt weh" allgemein
angenommen und geradewegs zur charakterischen Volksbenennung
erwählt.
Zu einer allgemeinen Ausdehnung über ganz Europa gelangte
der Flecktyphus in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zunächst ist
Frankreich der Schauplatz seines Auftretens; die denkwürdige Lager-
seuche, die im Heere Carl V. vor Metz im Jahre 1552 grassiert und
dem grossen Chirurgen A. Pare ein weites Feld seiner Thätigkeit
eröffnet hatte, wurde zum Ausgangspunkte einer über das Land fort-
schreitenden Fleckfieberepidemie. Wieder erfuhr die Krankheit im
Jahre 1557 die ausgedehnteste Verbreitung in der Gegend von Poitiers,
Angouleme u. a. 0., deren Einzelheiten Coytard beschrieben hat;
die Kriegsseuchen in den Belagerungsarmeen vor Ha vre 1563, vor
La Eochelle 1583 waren schwere Ausbrüche des Flecktyphus. Nicht
weniger hat sich in den Niederlanden 1572 — 1573 zur Zeit des
spanischen Feldzuges unter den Einheimischen wie unter den fremden
Truppen an vielen Orten die Krankheit in bösartiger Weise fühlbar
gemacht, während Spanien selbst seit 1557 durch volle 15 Jahre also
bis zum Jahre 1572 von einer zusammenhängenden Kette von Lokal-
ausbrüchen des „Tabardillos" heimgesucht wurde.
Eine besondere historische Bedeutung hat von jeher jene
mörderische Seuche in Anspruch genommen, welche zum ersten Male
im Jahre 1542 in Ungarn unter dem gegen die Türken kämpfenden
deutschen Reichsheere beobachtet und als „Ungarische Krank-
heit" (Morbus hungaricus) bezeichnet worden war. Ihr neuerliches
Auftreten im Jahre 1566 unter den Kriegsvölkern Maximilian IL,
namentlich bei der Belagerung von Komorn und Raab, bot dem
Kaiserl. Feldarzte Jordanus Anlass, ein getreues Bild desselben
aufzuzeichnen, woraus die Uebereinstimmung der „ungarischen Haupt-
krankheit" mit dem exanthematischen Typhus zur vollen Evidenz
hervorgeht. Als die wichtigsten Symptome führt Jordanus auf:
Intensiven Kopfschmerz bis zu Delirien sich steigernd, unerträglichen
Magemdruck (deshalb der Name „Herzbräune"), unlöschbaren Durst,
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 777
Petechien. Durchfälle, nicht selten Vereiterung der Parotiden und
Gangrän der Extremitäten.
Mit Jordanus übereinstimmend, erklärt u. a. Ruland nach
eigenen Beobachtungen die Identität des .Morbus hungaricus" mit
der „Febris petechialis". Auffälligerweise soll die Seuche die Ungarn
und Türken nahezu verschont, dafür die aus den verschiedensten
Nationen zusammengewürfelten Söldnerscharen der Reichstruppen auf
das heftigste befallen haben. Sie waren es auch, die nach Beendigung
des Feldzuges entlassen und heimkehrend, den Keim der Infektion
nach Wien, über Deutschland, Holland und Italien verstreut hatten.
Wie Györy in überzeugender Weise darlegt, war die ..Lues pan-
nonica" nichts anderes, als der exanthematische Typhus, keine Mischung
verschiedener Infektionsformen und an der Seuche die Malaria einzig
nur als prädisponierender Faktor beteiligt.
Eine geschichtlich bemerkenswerte Form der Verbreitung zeigte
das Fleckfieber in England, wo die Krankheit schon frühzeitig als
„Schiffs- und Kerkerfieber" zur Beobachtung gekommen war. Ihr
Auftreten in elenden, überfüllten Gefängnissen, die rasche Infektion,
welche die Insassen der Kerkerräume auf Richter, Geschworene und
andere Personen übertragen hatten, ist in der Geschichte unter dem
Namen der „schwarzen Assisen" bekannt geworden. Der erste dieser
Ausbrüche ereignete sich 1522 in Cambridge, wo ein grosser Teil der
Mitglieder des Gerichtshofes dem „Gaoi fever" zum Opfer fiel. Die
zweite Infektion knüpfte sich an die berüchtigten Oxforder Assisen
vom 5. und 6. Juli 1577, wo an diesen Tagen selbst mehrere an
Ketten geschmiedete Gefangene dem Fleckfieber, wenige Tage darauf
einzelne Gerichtsbeamte dem als „Febris ardens" bezeichneten Uebel
erlagen, und weiterhin unter der Bevölkerung der Stadt und ihrer
nächsten Umgebung innerhalb eines Monates 510 Personen, ausschliess-
lich männlichen Geschlechtes weggeraift wurden. Ein neuerlicher
Ausbruch erfolgte im Jahre 1586 während der Assisen in Exeter, wo
die Seuche angeblich durch portugiesische Matrosen in die Gefängnisse
eingeschleppt und den englischen Häftlingen mitgeteilt worden sein
soll. Auch hier fielen vorerst Richter und Beamte und erst nach
Verlauf von zwei Wochen viele Bewohner der Stadt und der Land-
schaft der Krankheit zum Opfer.
Die zahlreichen Lagerepidemien, welche den kriegerischen Er-
eignissen in Deutschland im Laufe der zweiten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts gefolgt waren, entziehen sich bei dem Dunkel der gleich-
zeitig nebeneinander herrschenden Volkskrankheiten einer schärferen
Trennung, denn Pest und pestilentielle Fieber wurden nur ausnahms-
weise auseinander gehalten. Hingegen liegen über gi'össere Fleck-
fieberepidemien innerhalb der letzten Dezennien dieses Säculums sorg-
fältige Beschreibungen aus Italien vor. Aus ihnen gewinnen wir
allerdings einen Einblick in die langsam fortschreitende Erkenntnis
des Wesens des Petechialfiebers, keineswegs lässt sich aber den
damaligen Schriften entnehmen, dass die dagegen geübte Therapie
irgendwie von dem schablonenhaften Missbrauche des Aderlasses und
der gegen die Bubonenpest gerichteten giftwidrigen oder herzstärken-
den Arzneimittel abgewichen wäre.
Zur vollen Höhe der Bösartigkeit erhob sich der exanthematische
Typhus im 17. Jahrhundert, dessen Geschichte, ausgefüllt von un-
aufhörlichen Kriegen und Hungersnöten in allen Ländern Europas,
778 Victor Fossel.
zugleich eine der traurigsten Perioden des menschlichen Elends und
der Seuchenplage in sich schliesst. Speziell die Verwüstungen, die
von der Kriegsfurie über alle Teile des Kontinents getragen wurden,
sind ausnahmslos von den schwersten Epidemien begleitet und die
„Kriegspest" eine stehende Erscheinung inmitten der Drangsale, die
den Völkern beschieden waren. Schwer fällt es jedoch, bei dem
Mangel brauchbarer medizinischer Berichte genaueren Aufschluss zu
erhalten über die einzelnen Krankheitsformen, aus denen sich die
von den Zeitgenossen geschilderten Lagerseuchen zusammengesetzt
haben mögen. Neben der Beulenpest, die in ihrer In- und Extensität
kaum gegen frühere Geschichtsabschnitte zurückwich, sind es Malaria,
Ruhr und Skorbut, die — soweit ärztliche Nachrichten vorliegen —
zeitlich und örtlich zusaramentreifen und eine halbwegs übersicht-
liche Trennung der verschiedenen, in einander greifenden Infektions-
krankheiten vereiteln. Ganz besonders wird die epidemiographische
Bearbeitung des Petechialtyphus erschwert durch die in allen ärzt-
lichen Schriften eingebürgerte Grundanschauung, dass diese Krank-
heit, obgleich in ihren wichtigsten Merkmalen nosologisch gekenn-
zeichnet, als mildere Abart der Pest angesprochen und gleichsam
zu einem Durchgangsprozess erklärt wird, welchen „die Fieber" je
nach äusseren Verhältnissen oder nach unbekannten inneren Ursachen
annehmen, um sich von den gelinden Varietäten bis zur malignen und
endlich bis zur wahren Pestform zu entwickeln.
Gleichwohl tritt aus dem Gewirre der Kriegsseuchen der exan-
thematische Typhus nicht selten in deutlicher Gestalt hervor, so dass
wenigstens für einzelne Epidemien deren Charakter sich verfolgen
lässt. So kam in den ersten Jahren des 17, Jahrhunderts das Fleck-
fieber in Spanien in epidemischen Zügen von und gewann im Jahre
1606 eine derartige Verbreitung, dass der Volksmund dasselbe als
„afio de los tabardillos" bezeichnet hat. Auch Russland wurde wäh-
rend der in den Jahren 1606—1613 sich hinziehenden Kämpfe mit
Schweden und Polen von der Pest und pestilentiellen Fiebern schwer
betroffen. Am schwersten aber litt Deutschland im Verlaufe des
30 jährigen Krieges. Es gab keinen Heereskörper, dem nicht mörde-
rische Seuchen gefolgt waren und unter den namhaft gewordenen Volks-
krankheiten unter deren Wut die Reihen der Krieger mehr als durch
Waffengewalt gelichtet worden waren, wird überall die Pest und das
pestilentische Fieber (die „ungarische oder hitzige Kopfkrankheit") an
erster Stelle genannt. Es liegt unserer Aufgabe ferne, den Gang und
die Verbreitung der Krankheit im Deutschen Reich auch nur an-
nähernd für die Dauer des langen und entsetzlichen Krieges erzählen
zu wollen. Nach Lammert, der die Seuchenchronik des 30 jährigen
Krieges für die deutschen Länder aufgezeichnet, wiederholen sich
Jahr für Jahr und auf allen Gebieten, die der Krieg überzogen hatte,
die furchtbaren „Sterbensläufte" zu denen die Truppen aus aller
Herren Länder ein ebenso hohes Kontingent beitrugen wie die von den
schlimmsten Drangsalen bedrohten Bewohner der Städte und Dörfer.
Nicht um vieles besser stand es in Frankreich, wo gleichfalls die
erste Hälfte des 17. Jahrhunderts hindurch Pest, pestartige Krank-
heiten und „böse Ruhren" nicht zum Stillstand gelangten und in
vielen Städten oft mehr als die Hälfte der Einwohner innerhalb einer
Epidemieperiode dahin rafften. Hier wie in den Niederlanden heftete
sich der Ausbruch der Seuchen (die „mansfeldische Seuche") an die
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 779
Durchzüge fremder und einheimischer Soldaten, an die Belagerungen
befestigter Plätze und an die durch Hungersnot und Ueberfiillung
der Städte wie der Kriegslager geschaffenen Missstände. Auch Ober-
italien wurde im 3. und 5. Dezennium dieses Jahrhunderts von schweren
Epidemien heimgesucht, an denen die Pest und ..kontagiöse Fieber"
weitaus den grössten Anteil hatten. Dem gleichen Geschicke unterlag
England zur Zeit der Bürgerkriege, wo namentlich das Fleckfieber im
Jahre 1643 nach den Angaben Willis eine aussergewöhnliche Sterb-
lichkeit zur Folge hatte.
In der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts erschien zunächst der exan-
thematische Typhus in Frankreich, verbreitete sich 1651 in Poitou,
1652 und 1666 in Burgund und nahm insbesondere in den letzten
Jahrzehnten unter den Armeen, die Ludwig Xr\'. teils als Gegner
teils als Verbündeter nahezu mit allen europäischen Staaten in Be-
rührung gebracht hatte, den pandemischen Charakter einer ..Kriegs-
pest" an. So kam es, dass in diesem Zeitabschnitte der Petechial-
typhus das ganze Festland abwechselnd überflutete, in Deutschland,
Ungarn, Dänemark und Schweden ebenso seine Herde schuf, wie in
einzelnen Teilen der italienischen Halbinsel und Grossbritanniens. In
England speziell suchten Willis, Whitmore u. a. Autoren das
epidemische Fleckfieber als ..Synochus putridus" oder „Febris ano-
malis" nach vielfachen Beobachtungen von der Bubonenpest zu unter-
scheiden.
Verfolgen wir nunmehr die Geschichte des exanthematischen
Typhus im 18. Jahrhundert, so tritt uns die Krankheit als eine kon-
tinuierliche Plage des europäischen Kontinents entgegen. Gleichzeitig
begegnen wir seiner nur durch kurze Zwischenpausen unterbrochenen
HeiTSchaft auf dem britischen Inseli'eiche. Trotz der Häufigkeit der
Krankheit war die Mehrzahl der damaligen Aerzte über ihre Xatur
und Aetiologie keineswegs zu geklärteren Auffassungen gekommen.
Die vortrefflichen Schilderungen, die Huxham. Pringle, Grant
u. a. Männer dem epidemischen Vorkommen und Verhalten des üebels
verliehen, blieben vorderhand ohne nachhaltigen Einfluss. Von den
meisten zeitgenössischen Schriftstellern wird das Fleckfieber nur
dürftig als spezifische Volkskrankheit betont, sondern unter dem
Dogma der besonderen jeweiligen Krankheitskonstitution als Mittel-
glied zwischen den gutartigen und bösartigen Fiebern eingereiht.
Schon am Beginne des 18. Jahrhunderts zogen die vorerwähnten
Ausbrüche der Krankheit in allen Staaten Europas vielfache
Nachschübe nach sich. Die Lagerfieber, welche im Verlaufe des
spanischen Erbfolgekrieges und des grossen nordischen Krieges gras-
sierten und grösstenteils dem Flecktyphus angehört haben mögen,
trugen wesentlich zur Entwicklung der Seuche im weitesten Umkreise
bei. Irland, der berüchtigste Herd des Uebels, hat in den Jahren
1708—1709, 1717—1721, 1728—1731 neben elenden Ernten schwere
Typhusepidemien erlitten, die noch im weiteren Verlaufe der 1. Hälfte
des Säkulums sich in heftiger AVeise wiederholten. In den Jahren
1740 — 1741 sind im Lande allein rund 80000 Menschenleben dem
Hunger- und Fleckfieber zum Opfer gefallen. In mehreren dieser
Typhusperioden hat das Uebel nach England und Schottland über-
gegriffen und mit den schwersten Verlusten die Bevölkerung heim-
gesucht. In dieser Periode erneuerte sich das düstere Schauspiel der
^schwarzen Assisen" in England, so 1730 in Taunton, 1742 in Laun-
780 Victor Fossel.
ceston und 1750 zu Old Bailey (London), wo jedesmal von den Ge-
fangenen die Krankheit auf Eichter und Geschworne übertragen worden
war. Weit häufiger noch wurde im 18. Jahrhundert der Flecktyphus
als sogen. Schilfsfieber beobachtet und mit gutem Grunde die insalubre
Einrichtung der Fahrzeuge, Ueberfüllung und schlechte Ernährung
als prädisponierende Ursache namhaft gemacht.
An allen Kriegszügen, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts
Europa mit dem Getöse der Waö'en erfüllten, nahm nebst anderen
verheerenden Krankheiten der Flecktyphus als Begleiter hervorragenden
Anteil. So finden wir ihn während der Jahre 1733—34 weitverbreitet
in Polen und Ostdeutschland, fast zu gleicher Zeit heftig entwickelt
unter den französischen Truppen am Rhein und in Italien, ebenso im
Zeiträume von 1740—1748, innerhalb welcher Jahre der österreichische
Erbfolgekrieg seinen Schauplatz über ganz Mitteleuropa erstreckte
und die Veranlassung geboten hatte, dass die gefurchtesten Lager-
seuchen jener Zeit, Fleckfieber und Euhr die weiteste Ausdehnung
und gefahrvollste Steigerung erlangten. In Prag allein waren zur
Zeit der Belagerung im Jahre 1742 nicht weniger als 30000 Soldaten
dem „Faulfieber" erlegen, eine Mortalität, die allerdings durch die
beispiellose Therapie der französischen Aerzte , durch den scheuss-
lichen Missbrauch der Aderlässe, der Brech- und Abführmittel haupt-
sächlich herbeigeführt worden war. Während der an diese Kriegs-
ereignisse sich anschliessenden Feldzüge der englischen Armee in
Deutschland, Flandern und Brabant hatte Pringle 1742 — 1748 reiche
Gelegenheit, den Kriegstyphus zu beobachten und dessen Identität
mit dem Hospital-, Kerker- und Schiffsfieber aufzudecken. Er erkannte
die mit Entbehrungen aller Art einhergehende Ueberfüllung, Luft-
verderbnis und faulige Ausdünstung beengter Räumlichkeiten als
wichtigste Quelle des Uebels. Die grauenvollen Zustände der da-
maligen Spitäler, ihr Schmutz und die Zusammen häuf ung von den
verschiedenartigsten Kranken, die meist zu 3 — 4 Personen, darunter
mit Sterbenden oder Rekonvaleszenten eine gemeinsame Liegerstatt
inne hatten, erklären es zur Genüge, wie das gefürchtete Hospital-
fieber zum ständigen Gast der Krankenhäuser und Lazarette werden
konnte.
Von neuem gewann der exanthematische Typhus an Boden, als
der siebenjährige Krieg ausbrach und gegen Ende desselben gleich-
zeitig England und Spanien in feindselige Verwicklungen geraten
waren. Vom Jahre 1757 an verbreiteten sich zunächst in Oesterreich
und Deutschland andauernde Kriegsseuchen, unter denen das Fleck-
fieber, die Dysenterie und der Abdominal typhus vornehmlich in die
Erscheinung traten. Aus den medizinischen Berichten der Zeitgenossen,
wie Hasenöhrl, Grimm, Monro u. a. geht hervor, dass das
Petechialfieber von einfachen Formen bis zum vollen Bilde der Pest
vorkam und die Kontagiosität vieler als „gut- oder bösartige Faul-
fieber" bezeichneten Erkrankungen gerade in Spitälern sich zeigte.
Wie Deutschland wurde 1760 — 1761 Frankreich und 1763 die pyre-
näische Halbinsel von Ruhr und Faulfiebern schwer betroffen, die sich
dann im Zeiträume 1763 — 1769 über ganz Italien verbreiteten.
Sicherlich gehörten viele dieser Epidemien, die abwechselnd die
italischen Länder von den Alpen bis zur Insel Sizilien überzogen
hatten, dem Typhus exanthematicus und zwar in Gestalt der schwersten
Hungerseuche an; jedoch wird, wie an späterer Stelle gezeigt werden
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 781
soll, ein grosser Anteil der „epidemischen Fieber" dem Abdominal-
typhns zugeschrieben werden müssen. Bei dem Mangel schärferer
Krankheitsbeschreibungen der damals so häufig beobachteten und
epidemisch vorkommenden ,. Gallenfieber" und „Schleimfieber", die
überdies noch als mit Frieselausschlag kombinierte „Wurmfieber" in
der Litteratur genannt erscheinen, bleibt es fraglich, welcher Infektions-
krankheit sie beizuzählen sind. Auch die ..katarrhalisch bösartigen
Fieber" jener Zeit werden zum Teil hierher zu rechnen sein.
Dieselbe Unsicherheit trübt vielfach das Urteil, wenn wir die
gi-osse Seuchenperiode der letzten drei Dezennien des iS. Jahrhunderts
in eine historische Uebersicht zusammenfassen. Heck er hat in
seiner Darstellung der „Volkskrankheiten von 1769 — 1772" ein er-
schöpfendes Bild der vielgestaltigen Seuchenzüge entworfen, die in
jener Zeit über die bewohnte Erde sich verbreitet hatten. Speziell
für Mitteleuropa gedenkt er in ausführlicher Weise der unter der
Gruppe der „Faulfieber" zusammengefassten Epidemien, in denen das
Fleckfieber mit allen seinen Begleiterscheinungen einen hervorragenden
Platz einnimmt. Den trostlosen Zuständen, welche Krieg und Hungers-
not in den meisten der befallenen Länder vorbereiteten, folgten
überall die „einfachen Faulfieber", die „malignen, putriden Fieber",
welche Heck er als wahren Petechialtyphus auffasst, dessen Natur
er aber von dem anscheinend identischen ..Hungerfieber" differenziert
wissen will. Welche Rolle etwa hierbei das Rückfallfieber gespielt
haben mag, ist eine ofiene Frage. Die grossen Epidemien des Fleck-
typhus jener Zeit führten dazu, das gehäufte Vorkommen dieser
Krankheit mit allgemeinen sozialen und alimentären Missständen in
gewisse enge, um nicht zu sagen, kausale Beziehungen zu bringen.
So kam es, dass die Engländer vom Jahre 1765 an, um welche Zeit
eine industrielle Revolution im Lande einsetzte, das Fleckfieber
schlechtweg als „industrial typhus" bezeichnet haben.
Innerhalb der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts nahm
der Flecktyphus von Russland aus, wo er seit 1767 ununterbrochen
geherrscht hatte, den Weg nach Westen zu weiterer epidemischer
Verbreitung. Zunächst gelangte er nach den Ostseeländern, nach
Dänemark (durch dänische Kriegsschiffe gleichzeitig nach Minorka
importiert), nach Skandina\ien, Polen, Ungarn und nach den Donau-
ländem. Eine zweite Invasion führte zui- Ausbreitung der Seuche im
nördlichen und östlichen Deutschland, in Böhmen und Mähren, wo
dieselbe neben anderen Volkski-ankheiten und einer denkwüi-digen.
folgenschweren Teuerung aller Lebensmittel in den Jahren 1770
und 1771 die Bevölkerung in die bitterste Notlage versetzte. Während
Süddeutschland um vieles weniger unter der Krankheit zu leiden
hatte, zog das Faulfieber und die als „Alpenstich" bekannt gewordene
epidemische Pneumonie im Jahre 1771 in der Schweiz mit Ausnahme
der westlichen Landesteile die grösste Sterblichkeit nach sich.
Ebenso bildeten sich gleichzeitig in den Niederlanden, in Frankreich
und Oberitalien gefahrvolle Herde des exanthematischen Typhus.
Hieran schlössen sich 1764 — 1787 die auf der pyrenäischen Halbinsel
weitverbreiteten Fieber, deren Natur zwar ungewiss ist, welche aber
„unter dem blendenden Namen der Tertianae subintrantes eine halbe
Million Menschen hinwegrafften".
Es Ist hier nicht am Platze, in die von der Wiener Schule aus-
gehende und namentlich von St oll propagierte Lehre der Umwand-
782 Victor Fossel.
lung der „biliösen" Krankheitskonstitution in die „putride" Form
uns näher einzulassen, von der Sprengel bemerkt, sie habe sich
unter mancherlei Masken versteckt. Doch können wir die Tatsache
nicht übersehen, dass die epidemiographischen Nachrichten aus den
beiden letzten Dezennien des 18, Jahrhunderts, insbesondere jene der
deutschen Aerzte von dieser Doktrin erfüllt und in therapeutischer
Eichtung vollends beherrscht sind. Der Streit um die Vorzüge der
antiphlogistischen Behandlungsweise, um den Nutzen der von d e H a e n
widerratenen und von St oll lebhaft empfohlenen Brechmittel in der
Bekämpfung der Gallenfieber nimmt nahezu das ganze Interesse der
Autoren in Anspruch, wobei sinngemäss der Erkenntnis des von allen
gesuchten „Wesens" der Fieber kein Vorteil erwuchs, vielmehr die
schon vordem unklare Bestimmung der wahren Natur der Infektions-
krankheiten noch mehr darunter Schaden nahm. Es ist geradezu
eine Unmöglichkeit, den aus jener Zeit stammenden Berichten, in
denen die biliösen, putriden, Schleim- und Gallenfieber durcheinander
geworfen erscheinen, halbwegs einige Deutung zu geben. Noch
schlimmer gestaltete sich diese, der Theorie zu liebe in Aufschwung
gebrachte Wirrnis, als man anfing, die Fieberlehre mit den Dogmen
der Irritabilitätslehre zu verknüpfen und neben den zur Genüge vor-
handenen Formen noch die „asthenischen, adynamischen und Nerven-
fieber" aufzustellen.
Trotz alledem ist in der Geschichte der Krankheiten, die im
letzten Abschnitte des 18. Jahrhunderts in zahlreichen Epidemien über
alle Staaten unseres Kontinents sich dahinwälzten , der Flecktyphus
so prädominierend, dass allein schon die beglaubigten Mitteilungen
hinreichen, uns über sein massenhaftes Vorkommen zu unterrichten.
Wiederum hängt sich der exanthematische Typhus an die Kriegs-
züge jener Periode, sowie an die Umwälzungen, welche die franzö-
sische Revolution für ganz Europa nach sich gezogen hatte. So
herrschte das Fleckfieber 1788 — 1789 in heftiger Weise unter den
Land- und Seetruppen Schwedens, im Jahre 1793 und 1794 in einem
grossen Teile Frankreichs, wo die Hafenstädte Brest und Toulon
besonders schwer betroifen wurden. Von Frankreich aus fand die
Verschleppung der Krankheit nach Deutschland und Holland statt,
und gewann insbesondere auf der apenninischen Halbinsel, auf welcher
die Seuche schon seit einem Jahrzehnte nicht erloschen war, von
neuem eine furchtbare Ausdehnung. Die mörderische Typhusepidemie
die anlässlich der Belagerung von Mantua im Jahre 1796 und 1797
unter der österreichischen Besatzung, wie unter den französischen
Belagerungstruppen gewütet hatte, wurde zum Ausgang von schweren
Epidemiezügen, die über Oberitalien, Südfrankreich und Spanien sich
in der Folgezeit verbreiteten. Eine heftige Katastrophe unter den
Kriegsseuchen jener Tage bildete der von Rasori beschriebene Aus-
bruch des Fleckfiebers in den Jahren 1799 und 1800 während der
Belagerung der Stadt Genua, wo innerhalb sechs Monaten 14600
Menschen der Krankheit erlegen waren. Endlich ist in den letzten
Jahren des zur Neige gehenden Säkulums in Grossbritannien und vor
allem in Irland das Fleckfieber in schwerer Form wieder zur Erscheinung
gekommen und erst mit dem Jahre 1802 zum Stillstand gelangt. Die
massenhafte Ausdehnung der Krankheit hat, wie Murchison be-
richtet, Veranlassung geboten, im ganzen Lande zahlreiche Spezial-
hospitäler für den Typhus zu errichten.
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 783
Im unmittelbaren Zusammenhange mit den am Schlüsse des
18. Jalirhunderts über ganz Europa verbreiteten Epidemien erhob
das Fleckfieber von neuem sein Haupt, als die napoleonischen Kriegs-
züge den Kontinent zu einem ungeheuren Watfenplatz umwandelten.
Mit ihnen gewann der Flecktyphus den Charakter der gi'össten und
fürchterlichsten Kriegspest des Jahrhunderts. Im Süden ^ne im Norden
Europas waren ungezählte Herde der Seuche vorhanden: die Feld-
lazarette und die in der Not des Augenblicks zur Unterkunft kranker
und verwundeter Soldaten umgestalteten Behausungen wurden ver-
hängnisvolle Brutnester des exanthematischen Typhus, dessen Aus-
breitung unaufhaltsam in den vom Kriege betroffenen Ländern um
sich griff, dann aber infolge des Verkehrs selbst in jene Gebiete ge-
tragen wurde, die unter den Bedrängnissen der Durchmärsche oder
der Kantonnierungen von Truppen nicht unmittelbar zu leiden hatten.
Am schlimmsten gestaltete sich das Elend in den Ländern, wo die
Heeresmassen vor oder nach entscheidenden Schlachten zusammen-
gedrängt waren und die trostlosesten Verhältnisse der Verpflegung
und Bequartierung an sich schon Not und Krankheit heraufbeschworen
hatten. So wurden in den Jahren 1805 und 1806 die schweren Tage
von Austerlitz und Jena zu neuen Etappen der Lagerkrankheiten,
die von Freund und Feind nach den verschiedensten Eichtungen weiter
fortgepflanzt, überall den fruchtbarsten Boden fanden. Wie Deutsch-
land litt auch Oesterreich furchtbar unter dieser Seuche. Böhmen
allein wies im Jahre 1806 rund 24 000 Todesfälle an Flecktyphus auf.
Nicht weniger war Frankreich in jener Zeit an vielen Orten von den
heftigsten Typhus-Epidemien heimgesucht, die 1807 und 1809 von
neuem hier überall aufloderten und im letztgenannten Jahre mit den
Kriegsereignissen in Spanien noch weitere Ausdehnung erlangten.
Zu seiner höchsten Entwicklung kam der „Kriegstyphus" in den
Jahren 1812 und 1813 während des denkwürdigen Feldzuges der
-grossen" französischen Armee gegen Eussland. Zu den Entbehrungen
und Strapazen, denen die Truppen namentlich nach ihrem Eintritte
in Eussland ausgesetzt waren, gesellten sich alsbald in verheerendster
Weise „Nervenfieber- und Euhr und nahmen binnen wenigen Monaten
derart überhand, dass von einzelnen Korps infolge der Krankheiten
und Verwundungen nur ein Drittel im kampffähigen Stande erhalten
blieb. Nach dem Gefechte von Ostrowo (25. Juli 1812) betrug — um
nur ein Beispiel anzuführen — die Zahl der Kranken 80000 Mann.
Die Hospitäler, unzureichend und von der traui'igsten Beschaffenheit,
überfüllt und von den allern ot wendigsten Behelfen der Krankenpflege
entblösst, wurden selbst den leichtblessierten oder maroden Soldaten
zum Fluch, denn hier herrschte das Fleckfieber und der Hospitalbrand,
von denen nur wenige befreit blieben. Noch furchtbarer aber stieg die
Not, als die Armee den verhängnisvollen Eückzug antrat. Tausende
von Soldaten starben binnen wenigen Tagen dahin, ihre Leichen be-
deckten die Heeresstrassen, und niemand wusste, welchen Anteil
Hunger, Kälte oder Krankheit an dieser grauenvollen Todesernte ge-
nommen hatte. Neben der Dysenterie war es der Typhus, sowohl die
exanthematische wie die abdominelle Form, die den rückkehrenden
Kontingenten der französischen Armee auf dem Fasse folgte. Von
den in Wilna in Gefangenschaft geratenen 30000 Franzosen waren im
Dezember 1812 und Januar 1813 nicht weniger als 25000 der Seuche
erlegen, von welcher auch die Bevölkerung dieser Stadt und anderer
784 Victor Fossel.
Plätze schwer ergriffen wurde. Wie die Kontingente der „grande
armee" unterlagen die russischen Truppen dem Verderbnis der Seuchen,
auch unter ihnen raffte das „Nervenfieber" tausende von Menschen-
leben dahin. Nicht weniger hatten Deutschland und seine Nachbar-
länder unter der Ausbreitung des Typhuskeimes zu leiden und die
Jahre 1813 und 1814 umfassen das Höhenstadium des Fleckfiebers auf
dem ganzen Kontinent. Es gab kaum eine Stadt, einen Marktflecken
oder Weiler, in denen nicht die Krankheit Eingang gefunden und oft
bis zu mörderischer Sterblichkeit sich entwickelt hätte. Am furchtbarsten
kam sie in belagerten Plätzen wie Saragossa, Torgau, Mainz u. a. 0,
vor, obgleich hier ebenso der Ileotyphus seine Herrschaft inauguriert
hatte. In Torgau starben binnen 4 Monaten 20000 Menschen, die
gleiche exorbitante Mortalität wurde in Mainz beobachtet. In Danzig
erlagen in demselben Jahre zwei Dritteile der französischen Truppen
und etwa ein Viertteil der ansässigen Bevölkerung. Aehnliche An-
gaben liegen aus vielen anderen Orten vor.
Obschon die Krankheit im Zeiträume von 1800 — 1815 nahezu
überall sich eingenistet hatte und die ärztliche Beobachtung und Er-
fahrung hinlänglich mit ihr vertraut geworden war, so erkennen wir
in damaligen medizinischen Schriften nur eine geringe Förderung der
Kenntnisse über die Stellung und Bedeutung des Flecktyphus unter
den Volkskrankheiten. Vor allem war noch die Grundanschauung in
voller Geltung, dass Euhr und „Nervenfieber" Modifikationen des
gleichen Krankheitsprozesses seien, der je nach örtlichen oder indi-
viduellen Verhältnissen und Bedingungen, insbesondere aber abhängig
von dem geheimnisvollen Einflüsse des „Genius epidemicus" in dieser
oder jener Species zum Ausdruck kam. Dazu trat die schwerwiegende
Thatsache, dass das „Nervenfieber" einen generellen Begriff darstellte,
unter welchem verschiedene Krankheitsformen, zunächst der exan-
thematische- und Abdominaltyphus verstanden wurden. Selbst die
von einzelnen damaligen Beobachtern überlieferten Sektionsergebnisse
gestatten nicht immer sichere Rückschlüsse ; sie sind oft in den vagen
Kunstausdrücken jener Zeit abgefasst, die für die heutige Krankheits-
lehre keinen oder nur zweifelhaften Aufschluss ergeben. Nur nach
äusserlichen Merkmalen, am wenigsten mit Zuhilfenahme pathologisch-
anatomischer Befunde, unterschied man die petechiale oder akute
Form von dem „schleichenden" Nervenfieber, zu welchem letzteren
wiederum von Vielen die Dysenterie hinzugerechnet wurde. Schon
aus dieser Auffassung allein konnte die ärztliche Welt zu keiner halb-
wegs klaren Erkenntnis der Spezifität der Krankheit gelangen. Wenn
Hartmann in seinem klassischen Bilde des „ansteckenden Typhus"
mit voller Ueberzeugung für die spezifische Natur desselben eintrat,
ihn „für eine Fieberkrankheit eigener Art, sowie z. B. die Pocken-
krankheit" erklärt und von den Nerven- und Faulfiebern unterschieden
wissen will, so war die Beweisführung des scharfsinnigen Forschers
unter dem Drucke des herrschenden Doktrinarismus und einer künst-
lichen Klassifizierung der typhösen Fieberformen nicht kräftig genug,
um bei seinen Zeitgenossen eine kritische Sichtung der verworrenen
Meinungen herbeizuführen. Gerade die deutschen Aerzte huldigten
den Anschauungen der Erregungstheorie in zügellosem Ausmasse und
selbst besonnene Männer vermochten sich dem Schwergewichte der
naturphilosophischen Strömung, unter welcher bekanntlich die nüch-
terne vorurteilsfreie Krankheitsbeobachtung stark zu Schaden ge-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 785
kommen war, nicht zu entziehen. Obgleich es nicht an theoretischen
Erklärungsversuchen mangelte und beispielsweise Xarkus und einige
englische Aerzte auf den Gedanken gerieten, den ansteckenden Typhus
lediglich als eine Gehirnentzündung hinzustellen, so blieb doch vorder-
hand die herkömmliche Lehre von den ..Xervenfiebern" aufrecht er-
halten. Nicht um -vieles besser stand es im allgemeinen um die The-
rapie, am schlimmsten um die Prophylaxis. Die Infektionsgefahr
wurde allerdings von den einsichtsvollen Aerzten anerkannt, aber die
Drangsale der Zeit und gewiss auch die unsicheren Vorstellungen von
der Wirksamkeit hygienischer Massnahmen Hessen irgendwelche sani-
tätspolizeiliche Vorkehrungen nur zu ohnmächtigen Erfolgen kommen.
In der Therapie standen die Erregungsmittel in unerschütterlichem
Ansehen. Opium, Kampher und Alkohol wm-den in unglaublichen
Mengen an Typhuskranke verschwendet, denselben auch je nach den
Grundsätzen der Schule Brech- und Abführmittel in bedenklichen Gaben
verabreicht oder wo man ein antiphlogistisches Eegime für geraten
fand, die stärksten Aderlässe zu teil. Nur wenige Aerzte huldigten
einem exspectativen Verfahren und legten auf die Salubrität des
Krankenzimmers das Hauptgewicht ihrer Anordnungen.
Verfolgen wir die weitere Geschichte des Flecktyphus, so tritt
uns die auffällige Thatsache entgegen, dass derselbe in Europa vom
Jahre 1815 an meist nur in vereinzelten Ausbrüchen von geringer
territorialer Ausdehnung sich zeigte und erst mit dem Jahre 1846 in
grösseren epidemischen Zügen wiederkehrte. Eine Ausnahme hiervon
bildeten Grossbritannien und Italien. Für das britische Inselreich, wo
sich eine Typhusepidemie im Zeiträume 1816 — 1819 entwickelte, war
neuerlich Irland der Herd, von welchem 1618 die Krankheit ausging
und nach England und Schottland in den nächsten Jahren verbreitet
wurde. Die Zahl der Kranken soll sich auf 800000, nach anderer
Berechnung sogar auf Vj^ Millionen belaufen haben. "Wie einstimmig
von englischen Beobachtern konstatiert ist, war jedoch in dieser
Epidemie das Eückfallfieber weitaus die vorherrschende Erkrankungs-
form, die auch in der ungewöhnlich milden Mortalität ihre Bestätigung
fand. Die Ausbrüche des Fleckfiebers in den Jahren 1821 — 22,
1826—28, mehr auf Irland und Schottland beschränkt, waren gleich-
falls mit dem rekurrierenden Typhus vergesellschaftet, während
letzterer in der nächsten grösseren Epidemie des Typhus, im Jahre
1836—38 vollständig verschwunden war.
Italien wurde in den Jahren 1816 — 1818 ebenfalls vom Fleck-
typhus ergriffen, der mit ausserordentlicher Heftigkeit über die ganze
Halbinsel und Sizilien eine geradezu pandemische Verbreitung erlangte.
Die zahlreichen Epidemien der folgenden Jahrzehnte, welcher auf
italischem Boden vorgekommen waren, erstreckten sich auf einzelne
Provinzen, Bezirke und Städte.
Sodann ist der oftmaligen Ausbreitung der Seuche in einzelnen
Städten und Gouvernements von Russland, Polen, sowie in den Ostsee-
provinzen zu gedenken, deren Quelle Hirsch mit Recht im russischen
Reiche gelegen nennt und dasselbe gleich Irland als einen endemischen
Typhusherd auf europäischem Boden bezeichnet. Speziell für das öst-
liche Deutschland, für Galizien und Ungarn war von jeher die
Nachbarschaft Russlands zum verhängnisvollen Vermittler der Typhus-
seuche geworden, die hier sowie in Böhmen, Niederösterreich und
Wien auch in der Periode 1820 — 1846 wiederholt in lokalen Epidemien
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 50
786 Victor Fossel.
erschienen war. Sie alle aber blieben zurück gegen die Verbreitung,
welche das Fleckfieber in den Jahren 1847 und 1848 in Oberschlesien
erlangt hat. Virchow hat die elenden sozialen und hygienischen
Zustände, die Lebensgewohnheiten der dortigen Bevölkerung als Augen-
zeuge der Epidemie geschildert und mit summarischer Kürze als
„grauenhaft jammervolle" bezeichnet. Wirtschaftliche Kalamitäten,
Misswachs und Hungersnot, eine weitverbreitete Dysenterie sollen dem
Fleckfieber vorangegangen sein. Dasselbe, von vereinzelten Rekurrens-
Erkrankungen begleitet, fand binnen kurzer Zeit nahezu in ganz
Oberschlesien seine Ausbreitung; in einzelnen Kreisen stieg die Er-
krankungs- und Sterbeziffer auf eine ungewöhnliche Höhe empor und
die Gesamtzahl der in der Provinz durch Hunger und Krankheiten
hinweggerafften Menschen betrug 20000. In einer nur um weniges
geringeren Intensität grassierte in den Jahren 1846 — 1849 das Fleck-
fieber in Galizien, Böhmen und Oesterreich-Schlesien. Sein gleich-
zeitiges Auflodern in Belgien, zumal in den Provinzen Ost- und West-
flandern ging mit tief eingreif enden kommerziellen Störungen, Aus-
ständen und Brotlosigkeit der arbeitenden Bevölkerung einher.
In diesem Zeiträume wurde Irland neuerlich von einer überaus
schweren Epidemie des Fleckfiebers betroffen. Wie in früheren. Seuchen-
perioden hatte ein allgemeiner Notstand der Krankheit gleichsam Vor-
schub geleistet, die im Jahre 1846 mit unerhörter Ausdehnung in
irischen Städten beginnend, 1847 nach England und Schottland sich
fortpflanzte und in diesem Jahre überall den höchsten Stand erreichte.
In Irland allein war über eine Million Menschen am Typhus erkrankt,
(nach Murchison vorwiegend in exan thematischer, doch auch in ab-
domineller Form und als Recurrens vorkommend). England zählte
mehr als 300000 Typhusfälle, am meisten Liverpool mit 10000 daran
Verstorbenen. Von den 75000 Iren, welche im Jahre 1847 ihre
Heimat verliessen und nach Kanada sich einschifften, starben 10000
unterwegs oder bald nach ihrer Ankunft auf dem amerikanischen
Festlande als Opfer der Seuche.
Sehen wir von kleineren Lokalepidemien des Fleckfiebers während
der folgenden Zeitperiode ab, so haben wir seines bedeutenden Auf-
tretens während des Krimkrieges in den Jahren 1854 — 1856 zu ge-
denken. Schon zu Beginn der Feindseligkeiten hatten Cholera und
Skorbut unter den kämpfenden Heeren beträchtliche Verwüstungen an-
gerichtet, überdies das Fleckfieber in der russischen Armee schon so
weiten Umfang angenommen, dass deren Kontingente empfindlich unter
der Seuche zu leiden hatten. Im Jahre 1855 nahm, nachdem gleich-
zeitig die Cholera ihre Nachschübe ausgesendet, der Flecktyphus von
neuem zu. Anfänglich waren es die englischen Truppen, die in be-
sonders ungünstigen Lagerplätzen und bei unzureichender Verpflegung
den härtesten Bedrängnissen ausgesetzt, dem Typhus zum Opfer fielen.
Als aber die hygienischen Verhältnisse der Briten wesentliche Ver-
besserungen erfuhren, trat der Abdominaltyphus und das Fleckfieber
in ihren Lagerstellen und Spitälern auffallend rasch zurück, um dafür
die französische und russische Armee um so schwerer und hartnäckiger
heimzusuchen. Insbesondere im Winter 1855/56 hatten die Franzosen
unter den traurigsten Missständen zu leiden. Sie zählten im Februar
1856 schon 19648 Erkrankungen mit 2460 Todesfällen auf der Krim,
in Konstantinopel 20088 Kranke mit 2527 Toten. Neben zahlreichen
Fällen von Typhus abdominalis und recurrens dominierte jedoch das
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 787
Fleckfieber während dieser traui'igen Winterepidemie und raffte über
10000 Mann des französischen Heeres dahin. Es konnte nicht ver-
mieden werden, dass die Seuche vom Ej'iegsschauplatze weiterhin ver-
schleppt wurde und zu lokalisierten Ausbrüchen in Frankreich, Eng-
land und im Innern des russischen Reiches den Anlass bot. Ob die
gleichzeitig in Oberschlesien, in mehreren Kronländern Oesterreichs
und in Wien beobachteten Fleckfieberepidemien mit dem Auftreten
der Krankheit auf der Halbinsel Krim in unmittelbarem Zusammen-
hange gestanden waren, ist nicht sicher nachzuweisen; nach früheren
und späteren Erfahrungen darf hier die direkte Infektion aus Euss-
land, Eussisch-Polen und Galizien mit grosser Wahi-scheinlichkeit in
Anschlag gebracht werden.
Im Zeiträume 1860—1870 begegnen wir dem epidemischen Fleck-
fieber vorerst 1861 auf dem italienischen Kriegsschauplatze, in den
Jahren 1862—1866 in Grossbritannien und Irland, 1863 in Nord-
amerika, 1866 — 1868 in St. Petersburg, den Ostseeprovinzen, in Ost-
und Westpreussen. In den beiden zuletzt genannten Provinzen brach,
wie Xaunyn und Passauer berichten, die Epidemie im Jahre 1866
während des Bahnbaues aus, wo Tausende von Arbeitern, unter den
desparatesten Verhältnissen zusammengedrängt, vom Abdominaltyphus
und dem Fleckfieber ergriffen wurden. Letztere Seuche, noch 1867
heftig andauernd, fand von diesem Herde aus ihre Verschleppung nach
Berlin, Breslau und anderen deutschen Städten. 'Mit diesen heftigen
Exacerbationen der Krankheit — es starben beispielsweise in den
Jahren 1867 — 1868 in Finnland allein 59588 Bewohner am Fleck-
typhus — stand dessen Ausbreitung in vielen Gegenden Skandinaviens
in dem Zeiträume 1865 — 1871 in Verbindung. — In das Jahr 1868
fiel die grosse Fleckfieberepidemie, welche in Algier und Tunis furcht-
bar unter den Einwohnern gehaust hatte.
Auch im folgenden Dezennium rekrudeszierte das Fleckfieber in
vielen Landstrichen und Städten, in denen es wenige Jahi-e vorher
Eingang und Verbreitung gefunden hatte. So wucherte die Seuche
im östlichen Deutschland fort; sie zog seit 1869 in BerUn erhebliche
Nachschübe nach sich und war 1868 und 1871 in Wien, 1867 und
1869 in Prag epidemisch aufgetreten. Eine bedeutende Steigemng
erfuhr die Krankheitsverbreitung im europäischen Russland und in
Sibirien. Nach dem Zeugnisse Hermanns erhob sich der Fleck-
typhus, der in St. Petersburg seit einem Jahrzehnte nicht erloschen
war, im Jahre 1874 zu einer beträchtlichen Epidemie. Neben zahl-
reichen Erkrankungsfällen an Rekurrensfieber dominierte der Petechial-
typhus in der russischen Hauptstadt bis tief in das Jahr 1875 hinein,
während daselbst in der Epidemie der Jahre 1879 und 1880 das Rück-
fallfieber das entschiedene Uebergewicht erlangt^,
In Norddeutschland nahm das Fleckfieber im Jahre 1873 in Berlin
den Charakter einer epidemischen Verbreitung an und explodierte an
vielen anderen Orte in zahlreichen sporadischen Erkrankungen. Prag
wies in den Jahren 1874 und 1876, Wien im Jahre 1875 ein stärkeres
Anschwellen der Krankheit auf Zu einer epidemischen Höhe ge-
staltete sie sich innerhalb der Jahre 1876 und 1877 in Oberschlesien,
wo gleichzeitig zahlreiche Fälle von Rekurrensfieber zur Beobachtung
gelangt waren. Insbesondere hatten die Kreise Beuthen, Kattowitz
und Pless schwer darunter zu leiden. Im Regierungsbezirke Oppeln
belief sich während dieser Periode die Zahl der Erkrankungen an
50*
788 Victor Fossel.
exanthematischem Typhus auf 6091, jene der Sterbefälle auf 644.
Guttstadt hat für den Zeitraum 1877—1882 die Summe der in
preussischen Spitälern aufgenommenen Fleckfieberkranken auf 10600
berechnet.
Während im grossen Kriege, den Deutschland mit Frankreich in
den Jahren 1870 — 1871 geführt, das Fleckfieber einzig und allein auf
die Bewohnerschaft der belagerten Festung Metz beschränkt geblieben
war, entfaltete dasselbe seine volle, an die grausigen Bilder der Kriegs-
und Lagerseuchen gemahnende Bösartigkeit in den Jahren 1877 und
1878 auf dem Schauplatze des russisch-türkischen Feldzuges. Vor allem
wurde die russische Armee auf das härteste von der Krankheit be-
troffen; mehr als 100000 Erkrankungen und gegen 50000 Todesfalle
kamen, wie Michaelis berichtet, auf Rechnung des exanthematischen
Typhus. Die elenden Quartiere, der Mangel jedweder Isolierung der
Kranken, die steten Marschbewegungen der infizierten Truppen-
abteilungen trugen wesentlich zur Ausbreitung der Krankheit bei, die
gleichzeitig vielen Aerzten und Pflegepersonen verhängnisvoll ge-
worden w^ar.
Mit Beginn der achtziger Jahre war ein erheblicher Rückgang
des epidemischen Fleckfiebers eingetreten. Lokale Ausbrüche hingegen
ereigneten sich in ziemlicher Stärke in verschiedenen Städten, so 1880
in Dublin, 1881—1882 in Riga, 1880—1882 im östlichen Deutschland,
wo es namentlich in Königsberg zu grösserer Ausdehnung gekommen
war. Auch die Periode 1893 — 1894 schloss eine grössere, räumliche
Ausdehnung der Seuche in Ost- und Westpreussen in sich. Für das
östliche Deutschland und für Oesterreich-Ungarn ist zu allen Zeiten
die endemische Herrschaft der Krankheit in Russland, Russisch-Polen
und in Galizien gefahrvoll geworden. Immer zwingender weisen die
in den letzten Dezennien gemachten Erfahrungen darauf hin, spora-
dische Fleckfieberfälle, wie solche in Herbergen, Massenquartieren,
Arresten vorkommen, auf eine Einschleppung durch Vagabunden oder
Obdachlose, die irgendwie mit verseuchten Lokalitäten oder infizierten
Personen in Berührung gestanden waren, zurückzuführen. Für Irland
steht diese Thatsache, die allerdings während der letzten beiden Jahr-
zehnte erheblich an Aktualität abgenommen hat, nach dem Zeug^jisse
der Geschichte fest; nicht weniger deutlich erweist sich für Mittel-
europa Russland und Galizien als Ausgangspforte der Krankheit.
Wenn für die Länder des Zarenreiches nur spärliche Angaben vor-
liegen, so sprechen die Ausweise der in Galizien behördlich gemeldeten
Flecktyphuserkrankungen, deren Zahl alljährlich 3000 — 6000 beträgt,
beredt genug für die Annahme eines konstanten Seuchenherdes in
diesem Lande.
III. Rückfallfieber.
Litteratur.
Engel, Oest. med. Jahrb. 1846. — Ztielzer, Die Epidemie d. recurr. Typhus
zu St. Petersburg 1864 — 1865 — 1867. — Meissner, Ueber Febris recurrens, Schmidt
Jahrb. Bd. 126 ff., 1865 ff. — Griesinger, l. c. — Herrmann u. Küttner, Die
Febris recurrens in St. Petersburg, 1865. — Mnrchison, l. c. — Ohernieier,
Ueber das rückkehrende Fieber, Virch. Arch. 47. Bd. 1869. — Pribrain w.
Mobitschelc, Studien üb. Febr. recurr., Prag. Vierteljsch. II. Bd. 1869. — Lebert,
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 789
Äeüologie und Statistik d. RückfaUfiebers, D. Arch. f. kl. Med. VII. Bd. 1870. —
fTessen, Zur Aetiologie u. neueren Geschichte d. Febr. recurr., 1872. — Reit-
linger, lieber Geschichte . . . des Recurr ensfiebers, 1874. — Lebert, in Ziemssen
Hdb. d. sp. Path. u. Therapie, I. Bd. 1874. — lÄtten, Die Recurrens-Epidemie in
Breslau im Jahre 1872173, D. Arch. f. Min. Med. XIII. Bd. 1874. — Wyss, Das
Rückfallfieber, in Gerhardts Hdb. d. Kinderkrankh. IL Bd. 1877. — Warschauer,
Allg. Wien. med. Zeitg. No. 44, 1878. — Friedrich, Das Atiftreten der Febr.
recurr. in Deutschland, D. Arch. f. kl. M. 25. Bd. 1880. — Heschede, Die Re-
currens-Epidemie V. J 1879 u. 1880 in Königsberg, Virchow Arch. 87. Bd. 1882. —
Guttstadtf Flecktyphus und Rückfalltyjyhiis in Preussen, D. m. W. No. 39, 1882.
— JRossbach, Das Rückfallfieber, Ziemssen's Hdb. III. Aufi.. 1886. — Loetven-
thal. Die Recurrens-Epidemie in Moskau i. J. 1894, D. Arch. f. kl. Med. 57. Bd.
1896. — Egfjebrecht, Febris recurrens, NothnageVs Hdb. d. sp. Path. u. Therap.
in. Bd. 2. Theil 1902.
Die als ßückfallfieber bezeichnete Infektionskrankheit, deren
Natur durch die Spirochäta Obermeieri sowie durch den typischen
Verlauf der Fieberbewegungen und deren Wiederkehr charakterisiert
ist, tritt geschichtlich erst im 18. Jahrhundert deutlicher aus den
Epidemieberichten hervor. Es wurde von dem schottischen Arzte
Spittal (1844) versucht, die von Hippokrates im I. Buche der
Epidemien geschilderten Fieber auf Thasos als Relapsing fever zu
deuten, womit jedoch nur eine hypothetische Auslegung erreicht, in
Wirklichkeit die Annahme als weit wahrscheinlicher bekräftigt wurde,
dass es sich dabei um schwere Formen des remittierenden Malaria-
fieber gehandelt habe. Das häufige Vorkommen des Typhus recurrens
neben der epidemischen Ausbreitung des Flecktyphus gestattet den
Schluss, dass die Krankheit zweifelsohne in früheren Jahrhunderten
nicht weniger zahlreich als im 19. Jahrhundert aufgetreten, aber in
ihrer Eigenart nicht genug gewürdigt, sondern mit anderen Krank-
heitsprozessen, wie Flecktyphus, Malaria oder mit Rückfällen im Ab-
dominaltyphus verwechselt worden ist. Die ersten verlässlichen An-
gaben stammen von dem irischen Arzte Rutty aus dem Jahre 1739,
wo derselbe das eigentümliche Verhalten des Fiebers in Dublin zum
erstenmal zu beobachten Gelegenheit fand und auch im Jahre 1741
wieder von ausgesprochenen Fällen des Fleckfiebers strenge auszu-
sondern in die Lage kam. Nach ihm hat Huxham in England die
gleichen Wahrnehmungen gemacht, während am Ende des 18. Jahr-
hunderts Stark für Schottland, Bark er und Cheyne für Irland
die Ausbreitung des RückfaUfiebers in der Armenbevölkerung unter
dem gebräuchlichen Namen „Febricula" beschrieben haben.
Die an anderer Stelle erwähnte Epidemie des Flecktyphus, welche
in der Periode 1817 — 1819 auf ganz Britannien sich erstreckt hatte,
war mit der gleichzeitigen Herrschaft des Rekurrens verbunden, ohne
dass man bei dem Umstände, als beide Krankheiten als Modifikationen
eines und desselben Grundleidens galten, die parallele Ausdehnung
zweier Volkskrankheiten im Sinne unserer modernen Diagnostik ver-
folgt hat. Nur soviel lässt sich nach Murchison aus den Zahlen-
berichten der Hospitäler entnehmen, dass am Beginne der Epidemie
der rekurrierende, am Schlüsse derselben der exanthematische Typhus
bei weiten prävalierte. Das letztere Verhältnis konnte man wieder
in der irischen und schottischen Epidemie der Jahre 1826 — 1827
beobachten, in welcher die strengere Scheidung beider Krankheits-
formen durchgeführt und namentlich die ungleich geringere Lethalität
des RückfaUfiebers unzweifelhaft nachgewiesen worden war. Auch
die unter dem Namen des biliösen Typlioids heute anerkannte schwere
790 Victor Fossel.
Abart des Relapsing fever g-elangte während dieser Epidemie zur Er-
scheinung, fand aber nicht als solche, sondern bei den Berichterstattern
Graves und O'Brien als Gelbfieber seine Deutung und Erklärung.
Wie Creighton sagt, war die Landstreicherei der Hauptweg, auf
dem sich die Seuche, zugleich mit Dysenterie einhergehend, im Lande
verbreitet und zwischen den grossen Epidemien der folgenden Jahre
hingezogen hat.
Die nächsten Nachrichten über den rekurrierenden Typhus stammen
aus Eussland, wo man sein Vorkommen 1833 in Odessa zuerst beob-
achtet hat. Noch schärfer wurde die Krankheit während ihres epide-
mischen Auftretens im Winter 1840—1841 in Moskau verfolgt und
in ihrer einfachen wie in der biliösen Form von Hermann, Pelikan
und Levestamm beschrieben. »
Im Jahre 1842 gewann die Febris recurrens im britischen Insel-
reiche neuen Boden, indem sie von Irland ausgehend in enormer Ver-
breitung nach Schottland übergrifi; hier wie in dem schwächer be-
fallenen England über den gleichzeitig herrschenden Flecktyphus bei
weiten überwog und erst gegen Ende der Epidemie 1844 durch die
rascher ansteigende Anzahl Fleckfieberkranker überholt worden war.
In der Stadt Glasgow stieg während der Epidemie des Jahres 1843
die Zahl der Rekurrenskranken auf 32000. Ein neuer Ausbruch in
Grossbritannien und Irland fiel in das Jahr 1847, wo der exanthema-
tische und rekurrierende Typhus gemeinschaftlich zu epidemischer
Ausdehnung kamen und die beiden folgenden Jahre hindurch in un-
gewöhnlicher In- und Extensität sich behaupteten. Besonders hart
wurde die irische Bevölkerung betroffen und von den beiden Volks-
krankheiten nicht minder, wie von Ruhr und Skorbut auf das ärgste
mitgenommen. Nach Kennedy zählte man in Dublin während der
Jahre 1847 und 1848 allein 40000 Rekurrensfälle. Die Not trieb die
Einwohner Irlands zu Massenauswanderungen und mit ihnen ge-
langte das Rückfallfieber nach Nordamerika, wo es 1848 von New York
aus rasche Verschleppung fand.
In Deutschland bot die oberschlesische Epidemie des Fleckfiebers
1847 — 1848 zugleich die erste Gelegenheit, die gemeinsame Verstreuung
des exanthematischen und Rückfalltyphus zu beobachten. Soviel den
damaligen Berichten zu entnehmen ist, beschränkte sich die ärztliche
Forschung nur auf allgemeine epidemiologische Studien, ohne in eine
Sichtung der speziellen Formen eingegangen zu sein. Weiter zurück
reichen die Spuren der Krankheit im Osten Oesterreich - Ungarns.
Engel hatte schon seit 1831 in der Bukowina alljährlich zur Winters-
zeit Gelegenheit gehabt, ein unter der ärmeren Bevölkerung zu Tage
tretendes „epidemisches Nervenfieber", durch ausgeprägte Rückfälle
und grosse Kontagiosität charakterisiert, zu verfolgen. In der Nach-
barprovinz Galizien wurde gleichfalls 1832 das Rekurrensfieber zuerst
schärfer von ähnlichen Erkrankungen gesondert, nachdem es im Lande
zahlreich aufgetreten und namentlich in den Gefängnissen von Krakau
als biliöser Typhoid epidemisch zur Erscheinung gekommen war. Wie
Warschauer berichtet, war in Krakau seit dem Jahre 1843 das
epidemisch grassierende Fleckfieber eingerissen, das 1847 seine Akme
erreicht und neben welchen man zahlreiche, damals nicht genau de-
finierte, durch Rückfälle gekennzeichnete Krankheitsfälle beobachtet
hatte. Die anfänglich mit dem Namen einer Febris gastrica-
biliosa bezeichneten Erkrankungen stellten sich in der Folgezeit
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 791
als völlig identisch mit dem einfachen und biliösem RekuiTensfieber
heraus.
Diese Gemeinschaft des Vorkommens des exanthematischen und
rekurrierenden Tj^dIius und die besonderen Eigentümlichkeiten und
Abweichungen in den Bildern beider Krankheiten hatten schon
frühzeitig die ärztliche Forschung beschäftigt und irische, englische
wie russische Beobachter zur Sonderstellung des Relapsing-Fever in
der Krankheitslehre hingeführt. Vor allem hat Jenner 1850 die
Differenzialdiagnose der Krankheit festgestellt, ihre Trennung vom
recidivierenden Fleckfieber einerseits, von der Malaria andererseits
und deren epidemiologisches Verhalten mit Genauigkeit hervor-
gehoben. Ihm zunächst kam Griesinger, der 1857 in seiner
klassischen Arbeit die von ihm zuerst 1851 in Aegypten beobachteten
Fälle der „Febris recurrens" und des ,.biliösen Typhoid"
als Formen einer und derselben Krankheit bezeichnet und die Litte-
ratur der Infektionskrankheiten mit einer der wertvollsten Schilde-
rungen bereichert hatte.
Während das Eückfallfieber im Laufe des sechsten Dezenniums
in den Seuchenberichten auf dem Kontinente völlig zurückgetreten, nur
im Jahre 1851 vorübergehend in London und Glasgow erschienen und
auf dem Schauplatze des Krimkrieges unter den Belagerungstruppen
vor Sebastopol. zuerst in der englischen, dann in der französischen
Armee zum Ausbruch gelangt war, nahm es vom Jahre 1863 an
seinen neuerlichen Ausgang von Russland, um sich nunmehr in längerer
Dauer auf der Höhe mehr oder weniger ausgedehnter Lokalepidemien
zu erhalten. Schon 1863 w^urde die Krankheit in Odessa beobachtet,
entwickelte sich hier im folgenden Jahre zu einer Epidemie, sie
wurde im Sommer 1864 sporadisch vorkommend in St. Petersburg
nachgewiesen, wo in der Folgezeit zahlreiche Nachschübe sich ein-
stellten, so dass gegen Ende des Jahres neben dem gleichzeitig
herrschenden Fleckfieber der Recurrens zur prädominierenden Seuche
geworden war. Nach Hermann und Kernig wurden 1864 — 1866
in das Obuschoffsche Hospital 7128 Rekurrenskranke aufgenommen,
wovon 11.9 "„ mit Tod abgingen. Hierbei fehlte es keineswegs an
ziemlich zahlreichen Erkrankungsfällen, die sich als Mischformen
beider Infektionskrankheiten manifestierten. Während der Jahre 1865
und 1866 erhielt sich das Rückfallfieber sowohl in seiner einfachen
Form wie in der Gestalt des biliösen Typhoids in der russischen
Hauptstadt, wie im Gouvernement Petersburg. Die Epidemie hat an
Hermann und Küttner, anBotkin, Zuelzer u. a. sowohl nach
der epidemiologischen wie nach der pathologischen Richtung vortreff-
liche Darsteller gefunden. Zu derselben Zeit grassierte die Febris
recurrens in mehreren Gouvernements des europäischen Russlands
und in Sibirien, an vielen Orten später rekrudeszierend. Nahezu
überall blieb die Seuche auf die ärmeren Volksklassen eingeschränkt,
ging meist aus einer Gruppe von Haus- und Strassenepidemien zu
weiterer Ausbreitung über und, wo ihre zeitliche und örtliche Be-
wegung schärferer Aufmerksamkeit begegnete, konnte nachgewiesen
werden, dass sie eine hochgradige Kontagiosität und besondere Vor-
liebe zeigte, sich in jenen menschlichen Wohnsitzen einzunisten, in
denen Schmutz, Elend, Ueberfüllung und andere Bedingungen der In-
salubrität vorhanden waren. Die überwiegende Zahl der Beobachter
stimmte darin überein, dass das Rückfallfieber wie das Fleckfieber
792 Victor Fossel.
an soziale Missstände sich anzuschliessen pflegt; im Gegensatze zu
Murchison hatten jedoch neuere Autoren hervorgehoben, dass der
Nahrungsmangel an sich, auch selbst in seiner Ausgestaltung zu all-
gemeiner Hungersnot in vielen, genau verfolgten Epidemien keine
prädisponierende Eolle gespielt hat und demnach die eingebürgerte
Bezeichnung des Leidens als „Typhus famelicus" einer ätiologisch
begründeten Stütze entbehrte.
Wie im Innern des russischen Reiches entwickelte sich das Rück-
fallfieber vom Jahre 1865 an in Livland, Finnland, Russisch-Polen
und Galizien zu Epidemien, griif 1868 auf eine Reihe norddeutscher
Städte über, wie Königsberg, Stettin, Greifswald und Berlin, wo es
nahezu ausnahmslos auf bestimmte Herbergen und die Wohnungen der
fluktuierenden Bevölkerung beschränkt geblieben war. Im Laufe des
Jahres verbreitete sich die Seuche im Osten Deutschlands, in Mittel-
deutschland, namentlich in der Provinz und im Königreiche Sachsen.
Zu einer grösseren Verbreitung kam die Krankheit im gleichen Jahre
in Tarnopol und Prag, wo sie mit dem stärker hervorgetretenen
Fleckfieber koinzidierte, während sie in der Breslauer Epidemie 1868 —
1869 unmittelbar nach Ablauf der Fleckfieberepidemie einsetzte und
auffälliger Weise von denselben unsauberen Quartieren ihren Ausgang
nahm, in denen kurz vorher der Petechialtyphus herrschend gewesen
war. In Breslau, Berlin und Magdeburg erhielt sich die Epidemie bis
zum Frühjahr 1869.
Die in den genannten Städten und Ländern über die Provenienz
des Rückfallfiebers gewonnenen Erfahrungen Hessen keinen Zweifel
aufkommen, dass es aus Russland seinen Weg nach dem westlichen
Europa genommen habe. Desgleichen wurde in Grossbritannien die
Krankheit, die daselbst seit dem Jahre 1855 nicht wieder vorgekommen
war, durch polnische Juden im Jahre 1868 zunächst nach London ein-
geschleppt und gewann hier in den von zahlreichen Iren bewohnten
Armenvierteln eine beträchtliche Ausdehnung. Auch in anderen
Städten des britischen Inselreiches kam das Rückfallfieber zu epi-
demischen Ausbrüchen, so 1869 in Manchester, 1870 in Liverpool, Edin-
burg und Glasgow, von welchen Centren aus seine Verschleppung
durch irische Auswanderer nach Newyork und Philadelphia stattfand.
In Grossbritannien trat erst im Jahre 1873 ein Rückgang der Morbi-
dität ein.
Eine neuerliche Invasion der Febris recurrens befiel einzelne
Städte des nördlichen Deutschland, wie Greifs wald, Posen, Stettin und
Berlin innerhalb der Jahre 1871 — 1873, ohne aber eine epidemische
Gestaltung anzunehmen. Nur Breslau wurde im Winter 1872 auf
1873 härter betroffen; nach Litten etablierte sich hier in 466 Fällen
die Krankheit in einer fortlaufenden Kette von Stubenepidemien oder
trat vorwiegend in den Asylen für Obdachlose auf.
In der Geschichte des Rückfallfiebers bildet das Jahr 1873 einen
bemerkenswerten Abschnitt, denn es brachte die denkwürdige Ent-
deckung Obermeier's, der zuerst den spezifischen Mikroorganismus
dieser Krankheit, die nach ihm benannte Spirochäte, im Blute und in
den Organen der vom Relapsing Fever Befallenen nachwies. Wie
zahlreiche Kontroiversuche dargethan haben, wurde der Krankheits-
erreger in keinem Falle echter Rekurrenserkrankung vermisst, anderer-
seits konnten einzig nur in einem solchen die genannten Mikroben
aufgefunden werden. Heydenreich und Moczutkowsky haben
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 793
später die Spii'ochäte Obermeiers im Blute der an biliösem Typhoid
Erkrankten aufgedeckt und damit die schon von Griesinger klinisch
festgestellte Indentität beider Formen sowie deren einheitliche Aetio-
logie über jeden Einwand erhoben.
Seit dem Jahre 1873 war das Rekurrensfieber in Europa in ver-
hältnismässig geringerem Umfange hervorgetreten und selbst dort, wo
es in epidemischer Expansion zur Erscheinung gelangt war. von einer
gegen frühere Perioden kleineren Erkrankungsziffer begleitet. In
seiner einfachen sowie in der biliösen Form entwickelte sich die
Seuche innerhalb der Jahre 1873 — 1876 in Odessa zu einer neuerlichen
Epidemie; 1875 trat sie in Krakau sporadisch, hingegen 1877 — 1878
in stärkerem Masse auf; insbesondere bildeten hier Logierhäuser wie
Arreste ihren Sitz und einer im Spitale ausgebrochenen Hausepidemie
waren auch Aerzte und Wartepersonen nicht entgangen. Im Jahre
1876 kam die Krankheit in Böhmen in weiterer Verbreitung vor,
namentlich zählte Prag eine grosse Zahl von RekuiTenskranken, In
Riga war seit dem Jahre 1865 das Rückfallfieber niemals erloschen
und exarcerbierte im Jahre 1875 nicht unbeträchtlich; ähnlich verhielt
es sich in Helsingsfors. wo nach den Epidemiejahren 1867 — 1868 nur
vereinzelte Fälle sich ereigneten, hingegen 1876 deren rasche Zu-
nahme und lokale Ausbreitung zu konstatieren war.
Soweit ärztliche Nachrichten Aufschluss geben, ist die Krankheit
1878 im russischen Reiche weitverbreitet gewesen; damit darf deren
Aufflackern in Finnland und auf vielen norddeutschen Plätzen während
des Zeitraumes 1878 — 1880 gewiss in ursächlichen Zusammenhang ge-
bracht werden. Auf die gleiche Ursprungsquelle weist das Rückfall-
fieber und das biliöse Typhoid hin, welches während des "Winters
1877 — 1878 auf dem russisch-türkisciien Kriegsschauplatze unter den
russischen Truppen epidemisch aufgetreten war und auf die bulgarische
Bevölkerung übergegiiffen hatte. Ein stärkeres Ueberwiegen des
Rückfallfiebers unter den Volkskrankheiten wurde in den Jahren 1879
und 1880 auf deutschem Boden beobachtet. Im Herbst 1878 in
Breslau einsetzend und nach Oberschlesien ausstrahlend, griff die
Krankheit während des darauffolgenden Winters im ganzen nördlichen
Deutschland epidemisch um sich, trat im Sommer 1879 an den meisten
Herden zui'ück, um dann im Winter 1879 — 1880 im Norden wie im
Süden des Reiches von neuem in zahlreichen Lokalepidemien sich
wiederum einzustellen. Im Zeiträume 1883—1888 kam das RekuiTens-
fieber in Deutschland nur in massigem Umfange vor. Die zuletzt
bekannt gewordenen Recnrrensepidemien auf europäischem Boden sind
jene in St. Petersburg in den Jahren 1885 — 1886 und 1894, in Moskau
gleichfalls 1894, wo die Seuche seit 12 Jahren nicht mehr in grösserem
Umfange hervorgetreten war.
Wenn wir von den unsicheren Mitteilungen über das Vorkommen
des Rekurrensfiebers in den Mittelmeerländem absehen, wo ins-
besondere in Aegypten, Nubien, Abessynien und Algier das biliöse
Typhoid zahlreich beobachtet, nicht weniger häufig aber auch mit
remittierender Malaria oder Typhusrecidiven verwechselt worden war,
so haben wir kurz des Rückfallfiebers in Indien zu gedenken, welches
Land analog dem russischen Reiche und Irland als ein beständiger
Herd der Krankheit angesehen werden kann. Nach Lyons reichen
die ersten Spuren der Febris recurrens in Indien bis zum Jahre 1810
zurück; als weitere Epidemiejahre sind 1819, 1824 und 1828 bekannt
794 Victor Fossel.
geworden. Das Eelapsing fever, in früherer Zeit meist für Inter-
mittens oder ,,typhöses Fieber" schlechtweg gehalten und erst seit
1856 auch innerhalb Indiens in seiner Eigenart erkannt, gelangte
seither an vielen Plätzen des Pandschab, in Bengalen und in den nord-
westlichen Provinzen des Landes, namentlich während der Jahre
1863—1868, 1876—1877 vorwiegend in der Form des biliösen Typhoids
epidemisch zur Beobachtung. Vorwiegend vermittelten die Gefäng-
nisse die Verbreitung der Seuche. Mit ihrem Vorkommen in Hindostan
hing die durch Kulitransporte veranlasste Verschleppung der Krank-
heit auf dem Seewege zusammen, wie eine solche 1865 von Calcutta
nach Reunion, 1867 von Bombay nach Mauritius erfolgt und auf
beiden Inseln von schweren Ausbrüchen der Krankheit begleitet war.
Gleich Indien wurde China in den Jahren 1864 — 1865 vom Rückfall-
fieber und gemeinsam vom Fleckfieber schwer heimgesucht; nament-
lich in Peking, Hongkong und anderen Hauptorten des Reiches war
das biliöse Typhoid unter dem Bilde des Gelbfiebers erschienen. End-
lich ist noch zu erwähnen, dass die Febris recurrens 1854 — 1856 in
grosser Heftigkeit in Peru geheiTscht, als „Pest der Cor dil leren"
bezeichnet, geradezu ausschliesslich auf die Höhenlagen über 5000 Fuss
sich beschränkt und weiterhin die Bergdistrikte von Chile und Bolivia
durchseucht hat.
IV. Abdominaltyphus.
Litteratur.
Hasenörl, Historia med. morbi epidemici . . . 1760. — Boissier de Sau-
vage, l. c. — Sarcone, Geschichte der Krankheiten in Neapel i. Jahre 1764,
1770. — ßöderer et Wagler, Tractatus de morbo mticoso, 1783. — Petit et
Serres, Traite de la fievre enter o-mesenterique, 1814. — Bretoneau, De la
Dothinenterite, Ärch. general. 1826. — Willis, l. c. — Huxhani, l. c. — Baglivi,
Opera, 1827. — Louis, Recherches anatomiques . . . 1829. — Eiseninann, Die
Krankheitsfamilie Typhus^ 1835. — Choniel, lieber das Typhusfieber, 1835. —
Cless, Gesch. d. Schleimfieber-Epidemie 1783—1836, 1837. — Gaultier de Claubry,
Recherches sur les analogies et les differences entre le typhus et la fievre typhoide,
1838. — Sauer, Der Typhus in vier Cardinalformen, 1841. — . Seitz, Der
Typhus . . . in Bayern, 1847. — Jenner, On the identity . . . of typhus, 1850. —
Buhl, Ein Beitrag z. Aetiol. d. Typhus, Zeitsch. f. Biol. I. Bd. 1865. — Murchison,
l. c. — Griesinger, l. c. — Pettenkofer, Ueb. d. Schwankungen d. Typhus-
Sterblichkeit in München von 1850—1867, Zeitsch. f. Biol- 1868. — Pettenkofer,
Zur Aetiologie des Typhus, 1872. — Woodward, Typho-Malaria-Fever, 1876. —
Virchow, Kriegstyphus und Ruhr, l. c. 1871. — Weichselbauni, l. c. — Cursch-
niann, Der Unterleibstyphus, Nothnagel Hdb. d. sp. P. ii. Th. III. Bd. 1900.
Die schon bei Besprechung des Flecktyphus erwähnten Schwierig-
keiten der sicheren Deutung und Nachweisung wiederholen sich noch
in weit erhöhterem Grade, wenn man daran gehen wollte, den Ileo-
typhus aus den Schriften der alten Griechen und ihrer unmittelbaren
Nachfolger herauszufinden. Ob die von den Hippokratikern be-
schriebenen Krankheiten: Phrenitis, Kausos und Koma als Typhus
abdominalis aufgefasst werden dürfen, wurde schon von Littre und
H ä s e r als unbegründet hingestellt und die Zugehörigkeit der an sich
schwankenden Krankheitsbilder zu den schweren Formen der Ma-
laria als weit näher liegend hervorgehoben. Die gleiche Unklarheit
waltet über den Hemitritaeus Galens, welche Fieberart von späteren
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 795
Autoren, namentlich in jenen Fällen, welche den sogenannten biliösen
Charakter darboten, auf Ileotyphus bezogen wurden. Es liegt kein
halbwegs verlässliches Kriterium vor, um dieser Auslegung eine Stütze
zu verleihen, obgleich es selbstverständlich nicht von der Hand zu
weisen ist. das Vorkommen der Krankheit im Altertum und Mittel-
alter zuzugestehen. Die Geschichte des Abdominaltyphus oder des
Typhoids ergibt erst mit dem 17. Jahrhundert einige wenn auch vor-
sichtig zu verwertende Spuren in den ärztlichen Schriften, die aber
noch lange hinaus, wie wir zeigen werden, mehr den Charakter äusser-
licher Vermutungen an sich tragen und nicht einmal dort die strengere
und schärfere Abgrenzung des Krankheitsbildes im modernen Sinne
gestatten, wo dessen ärztliche Beobachtung mit dem Nachweise gröberer
anatomischer Läsionen sich deckt, die bestenfalls mit der Lokalisation
des typhösen Prozesses auf der üarmschleimhaut in einen gewissen
Einklang gebracht werden könnten. Unter diesen Voraussetzungen
fällt es daher nicht leicht, in den Schilderungen der Autoren des 17.
und 18. Jahrhunderts absolut verlässliche Angaben über den Ileo-
typhus in grösserer Zahl aufzuspüren; andererseits begegnen wir bei
denselben immerhin einer Reihe von Belegstellen, die die Entwicklung
des sporadischen und epidemischen Typhoids immerhin über die Grenze
der Wahrscheinlichkeit erheben. Ob die von Spieghel, Bartho-
linus u. a. mitgeteilten Fälle von unregelmässig remittierenden Fiebern
mit Diarrhoe, empfindlichem Abdomen, Schlaflosigkeit oder Lethargie
sowie post mortem aufgedeckter Entzündung und Sphacelus des Dünn-
und Dickdarms hierher zu rechnen sind, möge unentschieden bleiben.
Mehr Aehnlichkeit mit dem Typhoid darf jene Krankheit beanspruchen,
die Willis als „Febris putrida maligna" von der Febris pestilens.
also dem Flecktyphus unterschied, die sich durch längere Dauer,
Mangel eines Exanthems, öftere Neigung zu lokalen Komplikationen
differenzierte und an der Leiche durch eine der Variola gleichkommende
Bildung von Pusteln und Geschwüren auf der Schleimhaut des Dünn-
darms charakterisierte. Auch die von demselben Schriftsteller be-
schriebene ,.Febris lenta" mit der dabei beobachteten Neigung der
Mesenterialdrüsen zur Entzündung und Infiltration scheint hierher zu
gehören. Bei Sydenham, der einer mit mehreren Symptomen des
abdominellen Typhus zusammenfallenden Abart des Pestilenzfiebers er-
wähnt, mangelt allerdings die Angabe eines Leichenbefundes. Letzterei-
wird aber in ziemlich deutlicher Form angedeutet von Baglivi, der
dem römischen Hemitritaeus wegen der Darmerscheinungen und der
Schwellung der Mesenterialdrüsen direkt als „Febris mesenterica" be-
zeichnet und auf die Steigerung der Malariawirkung zurückführt. In
gleichem Sinne legt Lancisi die bei Obduktion von Fieberkranken
öfter wahrgenommenen Geschwüre und Perforationen des Darms aus,
leitet aber letztere Erscheinungen von vorhandenen Eingeweidewürmern
ab. Andererseits gedenkt Lancisi gewisser Lagerseuchen, deren
Ursprung er auf Kloaken- und Latrinenmiasmen zurückführt. End-
lich erwähnt F. Hoff mann eine vom Petechialfieber differente Krank-
heit, die 1699 und 1728 in Halle epidemisch vorkam, im Leben durch
schmerzhaftes Abdomen, Diarrhoe, an der Leiche durch Verschwärung
des Darmes manifestiert war. Er gab derselben den Namen ^Febris
petechizans vel spuria".
Die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Strother
und Gil Christ in England und Schottland veröffentlichten Berichte
796 Victor Fossel.
Über Epidemien des „Slow fever" oder des „schleichenden Nerven-
flebers" entsprechen nach ihrem symptomatischen Gepräge dem Ab-
dominaltyphus, eine Annahme, die durch den erstgenannten Gewährs-
mann um so näher gebracht wird, als er unter den Begleit-
erscheinungen die Entzündung und Geschwürsbildung in den Ge-
därmen, sowie die Volumszunahme der Milz und Leber an den Leichen
der Verstorbenen als charakteristischen Befund erkannt hat. Von be-
sonderem Interesse ist die Zeichnung des schleichenden Nervenflebers,
welches Huxham 1737 in Plymouth zu beobachten Gelegenheit hatte.
Er hielt in der Darstellung der Fieber eine scharfe Grenze zwischen
den schleichenden nervösen Fiebern und den putriden malignen Pete-
chialfiebern ein, er hob die grossen Unterschiede und die daraus er-
wachsenen diagnostischen Irrtümer hervor und wies der „Nervosa
lenta" schon ihres abweichenden Verlaufes wegen eine besondere
Aetiologie zu. Wenn anatomische Beweise den damaligen Beobachtern
noch nicht die volle Gewähr bei Aufstellung differenter Formen der
in Rede stehenden Fieber geboten haben, so erhellt doch aus ihren
Aufzeichnungen, dass sie die Krankheitsbilder voneinander getrennt
und aus dem sorgfältigen Studium des ganzen Verlaufes die einzelnen
Momente des Erkrankungsprozesses nach dem Stande ihres anatomi-
schen Wissens betrachtet haben. Wie Huxham hat auch sein eng-
lischer Landsmann Manningham die von dem Petechialtyphus ab-
weichende Form der Febricula oder „little fever" gut gekennzeichnet
und ihre Identität mit dem heutigen Ileotyphus voraus erkannt.
Die von England um die Mitte des 18. Jahrhunderts ausgehende
kritische Sichtung der petechialen Typhusformen in Gestalt des Kerker-,
Hospital- und Schiffsfiebers von den mehr und mehr gewürdigten „In-
testinalfiebern", sowie die Aufmerksamkeit auf die augenfälligsten
Unterschiede beider Krankheiten wurde zunächst in Deutschland teil-
weise fortgesetzt. So hat Riedel die „Darmfieber" (in Erfurt 1748)
unter Angabe von — freilich nicht einwurfsfreien — Leichenbefunden
als besondere, von spezifischen Ursachen bedingte Prozesse aufgefasst.
Der zwischen Pringle und de Haen geführte Streit über die Be-
handlung der Fieber durch Aderlässe ergab die bemerkenswerte
Thatsache, dass die von dem berühmten Wiener Kliniker als „Febris
miliaria" bezeichnete Form in der Mehrzahl der Fälle nichts mit dem
von Pringle behandelten Petechialfieber zu thun hatte, sondern
dem Typhus abdominalis weit näher gestanden zu haben schien.
Die von Röderer und Wagler in den Jahren 1757 — 1762 in
Göttingen beobachteten Epidemien gaben Anlass zu der von den beiden
Aerzten im Jahre 1760 veröffentlichten Schrift von der Schleimkrank-
heit, „de morbo mucoso". Die berühmt gewordene Abhandlung sucht
im Sinne der von Sydenham gelehrten Abstammung der ver-
schiedenen Volkskrankheiten aus einem und demselben Grundleiden
die innigste Verwandtschaft der Malaria, der Ruhr und des Schleim-
fiebers und ihre wechselweisen Uebergänge festzustellen. Der Morbus
mucosus wird nach seiner schleichenden und akuten Form gezeichnet
und zwar, was dem Berichte höheren Wert verleiht, auf Grundlage
von Sektionsbefunden. Als die wichtigsten Erscheinungen an der
Leiche werden Entzündungen der Darmschleimhaut, Schwellung der
Follikel, dysenterische Ulceration des Dickdarms, Vergrösserung der
Milz und pneumonische Veränderungen der Lungen aufgezählt. Mit
Recht haben namhafte Historiker in einzelnen dieser Autopsien das
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 797
leibhaftige Bild des lleotyphus wiedei-zuerkenuen geglaubt, während
sie in anderen Obduktionsergebnissen kaum eine Uebereinstimmung
mit demselben finden konnten.
Dass der Abdominaltyphus in den zahlreichen Epidemien, die
während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insbesondere 1764
— 1769 auf der apenninischen Halbinsel geheiTscht hatten, einen nicht
unwesentlichen Anteil genommen hat, wird durch die Schiiften von
S a r c 0 n 6 und C o t u g n o über die Seuche von Neapel ziemlich ausser
Frage gestellt. Ebenso finden sich bei Morgagni sichere Angaben
über die anatomischen Veränderungen, die dem lleotyphus als cha-
rakteristische Merkmale zukommen. — Unter den zahlreich be-
schriebenen Faulfiebern, Schleim- und Gallenfiebern der letzten De-
zennien des 18. Jahrhunderts wird zweifelsohne dem Abdominaltyphus
ein beträchtliches Kontingent zuzuweisen sein, ohne dass wir aber
liinsichtlich seiner Existenz reelle Nachweise in grösserem Umfange
erbringen könnten. Aus vielen Epidemieberichten jener Zeit darf
der Wahrscheinlichkeitsschluss gezogen werden, dass eine grosse
Zahl der ,, Nervenfieber" mit intestinalen Lokalisationen verbunden,
jedoch von den ,.putriden. kontinuierlichen Fiebern" der Wesenheit
nach verschieden war.
Für die geschichtliche Darstellung wäre es vergebliche Muhe,
innerhalb der grandiosen Seuchenzüge, die den Zeitraum 1770 — 1815
umfassen, die Ausbrüche der heute als Bauchtyphus bezeichneten
Krankheit festzustellen. Sie haben sich den Berichten der Zeitge-
nossen gänzlich entzogen und unter den vielsagenden Namen der
Nervenfieber, der biliösen, gastrischen und Schleimfieber, des Synochus
und anderer Erkrankungen versteckt oder wurden schlechtweg der
Dysenterie zugeschoben.
Die melu- auf symptomatische und empirische Beobachtung sich
stützende Differenzierung der ,.schleichenden nervösen Fieber" von
dem malignen Fieber, wie solches bei seinem zahlreichen Auftreten
in Gefängnissen, Armeen u. s. w. bekannt geworden war, empfing
allmählich ihre Ergänzung durch die von der französischen Schule
angebahnte Entwicklung der pathologischen Anatomie. Schon im
Jahre 1804 lenkte Prost in Paris die Aufmerksamkeit darauf, wie
häufig nach mucösem und adynamischem Fieber an der Leiche der
Darm entzündet und ulceriert sich vorfand. Im ähnlichen Sinne be-
zog Broussais diese Darmerscheinungen auf die von ihm unge-
bührlich in den Vordergrund gestellte ..Gastro-Enterite". Brous-
sais, der das Fieber nur als Symptom einer lokalen Entzündung
betrachtete, gelangte in seinem Ideengange naturgemäss dazu, der
Blutentziehung im lleotyphus das grösste Lob zu spenden, dem aus-
giebigsten Aderlass das Wort zu reden. Schärfer verfolgten Petit
und Serres in ihrer 1813 veröffentlichten Arbeit über die „Fievre
mesenterique" die anatomischen Erscheinungen, die in vielen Merk-
malen mit jenen des Typhoids zusammenfallen. Nach ihrer Anschauung
ist die Entzündung und Schwellung der Darmschleimhaut und der
Drüsen eruptiver Natur, analog der Entwicklung der Variola auf der
Hautdecke und je nach dem Grade ihrer Ausbreitung die Ursache
des milderen oder heftigeren Fiebers. Die von beiden Autoren betonte
Spezifität der Krankheit, deren Zustandekommen sie mit der Wirkung
eines einverleibten Giftes treffend vergleichen, sowie die daraus ab-
geleiteten Ratschläge in der Therapie waren ein glücklicher Fort-
798 Victor Fossel.
schritt in der Typhuslehre, in welcher freilich die Auslegung des
intestinalen Befundes als einer Art inneren Exanthems, wie solche
von den Zeitgenossen in Frankreich mehrfach versucht worden war, noch
zurückstand. Selbst Breton neau, welcher 1826 eine Typhusepidemie
in Tours beobachtet und hierbei zahlreiche Autopsien vorgenommen
hatte, huldigte der gleichen Auffassung der Krankheit als eines
exanthemalischen Leidens, das er mit den Namen „D o t h i e n e n t e r i t e"
belegte. Er wies darauf hin, dass der von anderen Darmerkrankungen
verschiedene Prozess sich in den Drüsen des Ileums manifestiere, je-
doch dieser örtlichen Affektion kein bestimmtes Verhältnis zu dem
Gesamtverlaufe der Krankheit zukomme. Weit präziser umgrenzte
1829 Louis die Stellung der vom ihm benannten „Fievre typhoide"
in anatomischer wie nosologischer Richtung unter den bekannten
Fieberformen und ihre Trennung von der Gastroenteritis. Dennoch
haben die französischen Autoren an dem Glauben festgehalten, dass
alle typhösen Erkrankungen auf pathologischen Veränderungen des
Intestinaltraktes beruhen und darüber die Unterschiede des Abdo-
minaltyphus von dem seit 1815 in Frankreich immer seltener ge-
wordenen Flecktyphus übersehen. Die englischen Aerzte hingegen,
welchen, wie schon erwähnt, in den ersten 3 Dezennien des Jahr-
hunderts reichliche Gelegenheit geboten war, beide Formen des
Typhus, die auffällige Verschiedenheit der Kontagiosität unter denselben
wie nicht minder die charakteristischen Darmerscheinungen des Ileo-
typhus kennen zu lernen, vermochten letztere in der überwiegenden
Mehrzahl der Typhusleichen nicht nachzuweisen, nachdem sie es hier
vorwiegend mit dem Typhus exanthematicus zu thun hatten. Sowie
in Frankreich und England blieben auch in Deutschland trotz der
von Hildenbrand, P omni er, Bischoff, Heusinger u. a. ver-
öffentlichten Arbeiten über den sporadischen, „nicht kontagiösen
Typhus" und sein abweichendes Verhalten von dem „ansteckenden
Typhus" die Anschauungen der Aerzte ungeklärt. Selbst die bahn-
brechenden Aufschlüsse, welche Schönlein 1839 dazu geführt hatten,
die Krankheit unter dem Namen des „Abdominal- oder Ganglientyphus"
noch strenger, als dies seine Vorgänger gethan, als eine besondere Form
zu kennzeichnen, waren nicht im stände, die medizinischen Vorstellungen
von der Zusammengehörigkeit der typhösen Fieber umzustimmen.
Wie Eisen mann, haben andere Autoren eine ganze „Krank-
heitsfamilie Typhus" konstruiert und darin die heterogensten Er-
krankungsformen untergebracht. Sowie man von einem Pneumotyphus,
Puerperaltyphus, Cerebraltyplms sprach, wurden verschiedene Krank-
heiten, die früher „maligne", später „adynamische" Messen, nunmehr
als „typhöse" bezeichnet und damit die Auffassung des Typhus als
eines generellen Prozesses noch weiter in der allgemeinen Konfun-
dierung befestigt. Dazu kam, dass seit Sydenhams Tagen die
Hauptlehre noch aufrecht stand, wie nach dem Genius epidemicus
leichte Erkrankungsformen in schwere übergehen und sonach die
mannigfachen Infektionskrankheiten „typhösen Charakter" annehmen
konnten. Die Vielgestaltigkeit des Krankheitsbildes im Typhus
drängte vor allem die Aerzte zur Aufstellung der verschiedenen
Arten des Typhus.
Ohne in die Einzelheiten der in allen Ländern seit dem Jahre 1830
fortgesetzten Studien über die Natur des Ileotyphus einzugehen oder
die seither zahlreich bekannt gewordenen Lokalepidemien aufzuzählen,
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 799
beschränken wir uns daran zu erinnern, dass die Krankheit unzählige-
male in Städten, in umschriebenen Landdistrikten, in Garnisonen oder
geschlossenen Anstalten zu epidemischer oder endemischer Entwicklung
gekommen ist. Gerade in Mitteleuropa trat seit dem dritten De-
zennium mit dem Zurückweichen des Fleckfiebers die Vorherrschaft
des Abdominaltyphus zu Tage, eine Thatsache, die andererseits die
schärfere Erkenntnis der Natur der Krankheit zur Folge hatte.
Wenn in jener Zeit vielfach behauptet worden war, das Typhoid
sei eine neue Krankheit, so lag hierfür nicht die geringste Be-
rechtigung vor.
Den wichtigsten Schritt in der Lehre von den bisher noch nicht
strenge voneinander gesonderten Typhusformen unternahmen 1836
und 1837 Gerhard und Pennock in Philadelphia. Beiden For-
schern gebührt das Verdienst, die wesentlichen Unterschiede des
exanthematischen und des abdominellen Typhus nach der Kontagio-
sität, dem anatomischen Befunde und der ganzen Symptomenreihe bis
zur Divergenz der Petechien und der Roseola aufgedeckt zu haben.
Im gleichen Sinne, nur noch genauer, hob der englische Arzt Stewart
1840 die Unterschiede des Typhoid und des Fleckfiebers hervor und
erfuhr die Genugthuung, dass Louis in der 1841 erschienenen 2. Aus-
gabe seiner Schrift über die „Fievre typhoide" für die Xichtidentität
der beiden Krankheiten eingetreten war. Nach- wie vordem ist aber
dieser Lehrsatz vielfachen Einwendungen begegnet, und von den Ver-
fechtern der Identität, unter denen wir für das Dezennium 1840 —
1850 den Engländer Davidson, Gaultier de Claubry in Frank-
reich und Lindwurm in Deutschland nennen wollen, lebhaft be-
stritten worden. Den schlagendsten Beweis für die Richtigkeit der
von Gerhard und Stewart vertretenen Anschauungen erbrachten
die Untersuchungen, welche Jenner in London 1849—1851 über die
völlige Verschiedenheit des abdominellen und exanthematischen Typhus
durch sorgfältige Prüfung aller in Betracht kommenden Momente an-
stellte und in dem Satze zusammenfasste , dass beide Formen ebenso
voneinander abweichen, wie zwei Exantheme, weil das spezifische
Krankheitsgift immer wieder nur dieselbe Krankheit erzeugen könne.
Die daran geknüpften Beobachtungen englischer, amerikanischer und
französischer Aerzte sammelten weiteres Material für das tiefere
Verständnis dieser Frage. Einen der gewichtigsten Beiträge zu
deren Lösung haben die gleichzeitig im Krimkriege gewonnenen
Erfahrungen geleistet und wesentlich klarlegende Beweise für die
Dualität des Typhoids und des FlecktAT)hus geliefert.
Der Kreis der Anhänger der Theorie von der Identität der zwei
Typhusformen begann sich langsam zu lichten. Denn die Fortschritte
der pathologischen Anatomie mehrten sich in rascher Folge und
stellten immer klarer die Abweichungen des Leichenbefundes in beiden
Formen fest. Epidemiographische und klinische Erfahrungen trugen
weiterhin bei, das Verständnis für die spezifische Eigenart der nur
dem Namen nach zusammenhängenden Krankheiten zu vertiefen.
Insbesondere haben sich Murchison in England und Griesinger
in Deutschland ein wesentliches Verdienst erworben, indem sie die
völlige Differenz des Ileotyphus vom FlecktjT)hus ül3erzeugend dar-
legten.
Das zeitliche und örtliche Auftreten des Typhoids im Verlaufe
des 19. Jahrhunderts zu verfolgen, würde den uns zugemessenen Raum
800 Victor Fossel.
weit Übersteigen. Kaum eine Stadt oder ein Landstrich war von der
Krankheit freigeblieben, sie trat in Europa wie anderen Erdteilen an
zahlreichen Stellen auf. Auch als Kriegsseuche war der Abdominal-
typhus wiederholt zur Herrschaft gekommen. Seiner Ausbrüche zur
Zeit der Napoleonschen Feldzüge im ersten und zweiten Dezennium
des Säkulums wurde an anderer Stelle gedacht. In neuerer Zeit war
es der nordamerikanische Sezessionskrieg und der deutsch-französische
Krieg, in denen das Typhoid bedeutende Ausdehnung erfahren hat.
Auf dem erstgenannten Kriegsschauplatze zählte man 57368 Er-
krankungen und 27 056 Todesfälle, in den Kriegsjahren 1870 — 1871
betrug auf deutscher Seite allein» die Zahl der Typhuserkrankungen
73 396, jene der Todesfälle 8789, gleich 60 Prozent der Gesamt-
mortalität. Die in allen Ländern gemachten Beobachtungen über das
endemische und epidemische Auftreten der Erkrankungen gingen
gleichzeitig mit ätiologischen Forschungen einher, die wegen ihres
Zusammenhanges mit der vorerwähnten Wandlung der Anschauungen
über die Natur des Ileotyphus auch vom historischen Standpunkte eine
kurze Besprechung verdienen. Schon im 2. und 3. Dezennium des
19. Jahrhunderts, gleichzeitig mit dem Streite über die abweichenden
Formen des exanthematischen und abdominellen Typhus, begegnet man
der lebhaften Erörterung der Unterschiede in der Kontagiosität beider
Krankheiten. Während die meisten französischen Forscher die An-
steckung in Abrede gestellt und den enterischen Typhus, wo dieser
überhaupt als solcher anerkannt wurde, als ein spezielles Akklimatisations-
fieber hingestellt hatten, traten andere, wie Bretonneau,Gendron
entschieden für die kontagiöse Natur der Krankheit ein, indes
Piedvache und Trousseau dieser Frage gegenüber mehr eine
vermittelnde Stellung einnehmen zu müssen glaubten und die autoch-
thone Entstehung ebenfalls gelten lassen wollten. Die Meinungen der
Aerzte blieben lange hindurch geteilt und selbst der Erfahrungs-
thatsache, dass im Gegensatze zum Fleckfieber eine direkte Ueber-
tragung des enterischen Typhus von Person zu Person nicht bestehe,
^vurden die vielfach beobachteten Fälle von Haus- und Spitalinfek-
tionen entgegengehalten und für die Lehre von der unmittelbaren
Ansteckung herangezogen. Indes die Gegner ihre Anschauungen
weiter verfochten, war man bemüht, die Quelle der Ansteckung zu
ermitteln. Wieder griff man zu der alten Fäulnistheorie zurück,
wonach die Zersetzung organischer Materien an sich und die daraus
abgeleiteten Emanationen die Entstehung des Ileotyphus veranlassen
sollten. Murchison, der hervorragendste Forscher in der Typhus-
lehre, war einer der ersten, der hinwies, wie bei Dysenterie und
Cholera auch beim enterischen Typhus die Fäces „das hauptsächlichste,
wenn nicht das einzige Medium der Mitteilbarkeit sind." Er nahm
an, dass aus der Fäulnis der menschlichen Defekte an sich, also ohne
Zuthun eines Kranken, das spezifische Typhoidgift infolge fäkaler
Fermentation sich entwickle, dass sich dasselbe, aus Kloaken und
Senkgruben stammend, auf dem Wege der Luft, des Wassers, der
Nahrungsmittel u. a. Vermittler sich verbreite; er belegte daher, um
schon äusserlich seine Doktrin zum Ausdruck zu bringen, den Ileo-
typhus mit dem Namen: „pythogenic fever". Dem gegenüber haben
vornehmlich Budd und Gietl gleichzeitig im Zeiträume von 1856
— 1860 hervorgehoben, dass das Gift des Typhoids unmittelbar aus
dem Körper eines Infizierten herrühre, weil es in demselben und nicht
Geschichte der epidemischen Kraukheiteu. 801
ausserhalb des erkrankten Individuums gebildet und demnach als
spezifisches Virus im Darm und in den Stuhlgängen des Menschen
reproduziert, nicht aber spontan unter dem Einflüsse einer beliebigen
Fäulnis ei*zeugt werde. Mit diesen Argumenten, welche Budd in
scharfsinniger Weise weiter verfolgt und gerade die leichter zu über-
sehenden Untersuchungsergebnisse über das Vorkommen und die Ver-
breitung der Krankheit in ländlichen Distrikten berücksichtigt hatte,
war der "wichtigste Schritt gethan. um die Spezifität des Typhus-
keimes in den Vordergrund der Diskussion zu stellen und in prak-
tischer Richtung die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass der ab-
dominelle Typhus niemals autochthon entstehe, sondern immer durch
einen erkrankten Menschen nach einer bestimmten Oertlichkeit ein-
geschleppt werden müsse, um hier weiter Kontagiosität zu bewü-ken.
Aber gerade die AVege der Ansteckung, an deren Thatsächlichkeit
wohl nur wenige noch Zweifel hegten, sollten in der nächsten Folge-
zeit zu den lebhaftesten Erörterungen Anlass bieten. So sehr man
der alten Hypothese des miasmatischen Ursprunges vieler Volkskrank-
heiten zuliebe bestrebt war. in den wechselnden Verhältnissen des
Klimas, der Jahreszeiten, der Witterung und der atmosphärischen
Niederschläge das Für und "Wider in der Ergründung ätiolgischer
Einflüsse nachzuweisen, so drängte trotz vieler Fehlschlüsse immer
mehr die Fülle der Erfahrungen und Beobachtungen zu der Er-
kenntnis, dass gewisse, wenn auch bisher noch unaufgedeckte Ur-
sachen lokaler Natur mit im Spiele sein müssen, um die Fortdauer
^ies Typhusgiftes, seine Weiterverbreitung und Uebertragbarkeit gleich
am zu erhalten. Davon hat die sogenannte lokalistische Theorie
ihren Ausgang genommen und in der berühmt gewordenen Lehre von
Buhl und Pettenkofer ihre geistvolle Ausgestaltung erreicht. Beide
Münchener Gelehi'te erkannten in den Wechselbeziehungen zwischen
den Schwankungen des Grundwassers und den Einflüssen der Jahres-
zeiten und der Genese des Abdominaltyphus einen gesetzmässigen
Kausalnexus, nach welchem mit dem Steigen des Grundwassers die
Typhusfrequenz abnehmen, umgekehrt mit dem Fallen des Grund-
wasser unter gleichzeitiger Mitwirkung der zeitlichen und örtlichen
Disposition der spezifische Typhuskeim sich entwickeln und nach
seiner Ausreifung mehr durch die Luft als durch das Wasser, sonach
auf dem Wege einer Giftemanation dem menschlichen Organismus
einverleibt werden sollte. Die ..Grundwassertheorie", deren
Licht- und Schattenseiten zu den interessantesten Kapiteln der Ge-
schichte der neueren Gesundheitspflege gerechnet und dieser über-
lassen werden muss, hat vor allem, wenn auch in einseitiger Weise,
die Koincidenz des Bodens und seiner etwaigen ,.Siechhaftigkeit" in
neuerliche Verhandlung gezogen. Der ,,inverse Parallelismus von
Typhusfrequenz und Grundwasserstand" war zunächst der Anlass,
dass die Aufmerksamkeit der Forscher den näheren Bedingungen der
Abhängigkeit des Typhus abdominalis von lokalen Ursachen sich
erneuert zugewendet und auch auf die Eruierung eines unbedingt in
Anschlag zu bringenden spezifischen Agens erstreckt hat. Ohne hier
in die Einzelheiten der in den letzten Dezennien geleisteten Arbeiten
einzugehen, sei hervorgehoben, dass es Eber th im Jahre 1880 ge-
lungen war, den spezifischen Bacillus des Ueotj'phus nachzuweisen,
dessen nähere Natur und biologisches Verhalten Gaffky späterhin
in glänzender Weise festgestellt hat.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 51
802 Victor Fossel.
Im engsten Zusammenhange mit der Ausgestaltung der biologischen
Kenntnisse über den Krankheitserreger des Abdominaltyphus stand die
sorgfältige kritische Prüfung der lokalen Beziehungen zur sporadischen
endemischen oder epidemischen Entwicklung der Krankheit. Die Lehre
vom Einflüsse des Grundwassers auf die Genese des Abdominaltyphus
galt von ihrem Anbeginne nur als ein Gesetz von beschränkter Gel-
tung; von gegnerischer Seite energisch bestritten und weiterhin in
seinen Hauptstützen schwankend geworden, stand es gleichwohl bei
vielen in ungeschwächtem Ansehen. Es bedurfte längerer Zeit und
mühevoller Arbeit, um die ätiologischen Grundlinien für die Entstehung
und Weiterverbreitung des Typhoids und verwandter Infektions-
krankheiten mit den gleichzeitig errungenen Fortschritten der Bak-
teriologie in dauernden Einklang zu bringen. Gerade vom historischen
Standpunkte ist es beachtenswert, wie die Grundwassertheorie den Im-
puls gegeben hatte, die anfänglich hypothetischen Einflüsse des Bodens
und seiner Wasserschwankungen in der Praxis damit zu demonstrieren,
dass nicht so sehr das Grundwasser und sein Verhalten, sondern das
Trinkwasser und seine Verunreinigung mit speziflschen Typhuskeimen
der Propagation der Krankheit den wesentlichsten Vorschub leiste.
Mit dieser Wandlung der Anschauungen, die sich auf, die aller-
orten zu Tage tretende Abnahme der Typhusfrequenz infolge der Ein-
führung geordneter Wasserversorgungsverhältnisse zu stützen ver-
mochte, kam thatsächlich die schon vor Dezennien von Budd u. a.
vertretene Lehre siegreich zum Durchbruch. Denn was schon damals
behauptet worden war, erhielt nunmehr durch die hygienischen
Leistungen im grossen Stile seine Bestätigung, nämlich dass zwischen
dem im Körper des Typhuskranken gebildeten Keime, seiner Lebens-
fähigkeit und Fortpflanzung ausserhalb des kranken Organismus ein
kausaler Zusammenhang bestehe, und sonach die Dejekte des Kranken
die hauptsächliche Infektionsquelle bilden. In erdrückender Fülle
haben die an ungezählten Orten angestellten Untersuchungen er-
wiesen, dass auf dem Wege des Grundwassers und des Bodens die
spezifischen Typhuskeime dem Trinkwasser zugeführt und zum Aus-
gang neuer Infektionen werden können. Die Nahrungsmittel, ins-
besondere die Milch spielen gegenüber dem Trinkwasser als Krank-
heitsvermittler naturgemäss nur eine sekundäre Eolle. Diese von der
Mehrheit der deutschen Kliniker alsbald mit kritischer Beweiskraft
vertretene Lehre hat unsere Kenntnis von den Ursachen und der
Verbreitung des Abdominaltyphus durchdrungen und in den seither
gewonnenen glänzenden Eesultaten der Vorbeugung und Bekämpfung
der Krankheit ihre volle Bestätigung und Verwirklichung gefunden.
V. Cholera asiatica.
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1892193, Zeitsch. f. Hyg. Ed. 15. 1893. — Gaffky, Die Ch. in Hamburg. Arb. aus
d. k. Gesundheitsatnte Bd. X 1896. — Die Cholera im Deutschen Beiche im Herbste
1892 und Winter 1892)93, ibid. Bd. X 1896. — Wutzdorff u. A., Das Auftreten
d. Ch. im Deutsch. Reich tcährd. d. Jahres 1893. ibid. Bd. XI 1895. — Kubier
ii. A., Das Auftret. d. Ch. im D. B. im Jahre 1894, ibid. Bd. XII 1896. —
Liebermeister, Cholera asiatica et nostras, Xothnagel Hdb. d. sp. P. u. Th.
IV. Bd. 1. Th. 1896. — Veröffentl. d. kais. Gesundheitsamtes. — Oesterr. Sanitäts-
icesen.
Das ausgedehnte Tiefland der indischen Provinz Bengalen, vom
Gangesdelta durchschnitten, im Osten vom Brahmaputrastrome, im
Westen vom Hughlifluss begrenzt und vom Meere nordwärts bis zum
Fuss des Himalaya reichend, bildet die Heimat der asiatischen Cholera.
Hier behauptet sie Jahr für Jahr ihre endemische Herrschaft, von
hier hat sie unzähligemale ihren Ausgang in das übrige Indien, nach
den ausserindischen Gebieten Asiens und nach den anderen Erdteilen
genommen.
üeber das Vorkommen der Cholera in Hindostan finden sich
schon Angaben in den medizinischen Sanskritwerken, ebenso werden
choleraartige Seuchen in Asien während des Mittelalters von arabischen
Schriftstellern erwähnt; beide Quellen erweisen sich aber unzuver-
lässig und gestatten nur Vermutungen über den eigentlichen Charakter
der Krankheit, die ebenso gut für Cholera nostras oder für Dysenterie
hingenommen werden könnte. Die ersten Nachrichten über die asia-
tische Cholera, von Europäern geschildert, stammen aus dem Jahre
1503. wo Gaspar Correa sie im Umkreise von Calicut herrschend
erwähnt und 1543 in Goa beobachtet hat. Die nächsten Mitteilungen
rühren von Garcia da Orto her, der die Cholera 1563 in Goa be-
schrieb und sie als eine längst bekannte, mit dem Namen ,.Mordeshin"
oder „hachhaiza" bezeichnete Seuche hinstellte. Aus dem 17. Jahr-
hundert liegen die Berichte des holländischen Arztes Bontius vor,
der die Krankheit 1629 auf Java gesehen, ferner einzelne Aufzeich-
nungen aus den Jahren 1638, 1676 und 1689. Von nun an bis zur
Mitte des 18. Jahrhunderts fehlen nähere Belege über die Ver-
breitung der indischen Cholera, erst vom Jahre 1756 an wird ihrer
wiederum gedacht. In diesem Jahre grassierte sie in Madras und
entwickelte sich, wie Macpherson bezeugt, in den folgenden De-
zennien zu heftigen Epidemien in mehreren Gebieten Hindostans.
Genaue Daten besitzen wir über ihre Verwüstungen in den Jahren
1768 — 1771 in der Umgebung von Pondichery, wo sie nach Sonnerat
60000 Opfer gefordert haben soll. Die nächsten Epidemien betrafen
1775—1780 die Koromandelküste. 1781 Kalkutta, 1782 ^ladras, 1783
den Pilgerort Hurdwar, wo binnen weniger Tage 20000 ]i[enschen
51*
804 Victor Fossel.
ihr erlegen sein sollen. Gegen Ende des 18. und am Beginne des
19. Jahrhunderts scheint, soweit hierfür historische Kunde auf uns
gekommen ist, die Cholera seltener in Ostindien aufgetreten zu sein;
in Bengalen wurden die Jahre 1804, 1811 und 1813 als Epidemie-
perioden bemerkenswert, während ausserhalb Hindostan der Ausbruch
der Cholera 1790 und 1804 auf Ceylon bekannt geworden ist. Das
Jahr 1817 bildet in der Geschichte der Cholera einen bedeutungs-
vollen Abschnitt, denn mit ihm tritt die Seuche über die engeren
Grenzen ihres endemischen Sitzes hinaus; sie dringt nunmehr im
Laufe der Zeiten nach dem asiatischen Kontinent und seinem Insel-
reiche, nach den anderen Weltteilen vor und verbreitet mit ihren
grossen, pandemischen Zügen Furcht und Schrecken über den grössten
Teil der bewohnten Erde.
Es empfiehlt sich der üebersichtlichkeit halber die Epidemien
der asiatischen Cholera auch im folgenden Geschichtsabrisse nach
ihren Perioden zu besprechen.
Erste Periode 1817—1823.
Schon im Jahre 1816 machten sich in Bengalen, speziell in
Kalkutta choleraverdächtige Erkrankungs- und Sterbefälle bemerkbar,
ohne jedoch epidemischen Charakter angenommen oder sonstwie Auf-
sehen erregt zu haben. Erst mit Frühjahr 1817 verbreitete sich die
Seuche über eine grössere Zahl von Städten Bengalen s, bis sie im
Herbst auf ihrer Wanderung Jessore erreicht und hier zuerst das
Augenmerk der Behörden auf sich gelenkt hatte. In rascher Auf-
einanderfolge drang die Krankheit längs der beiden Hauptarme des
Ganges nach Kalkutta bis zur südöstlichen Küste vor, gelangte nach
Nellore, Madras und den Bandelkhandstaaten , wo die englischen
Truppen unter ihrer Herrschaft enorme Verluste erlitten. Nach
kurzem Nachlasse, der mit den Wintermonaten zusammenfiel, erhob
die Cholera im März 1818 von neuem an den meisten der bisher be-
fallenen Plätze ihr Haupt, zog nach dem Norden und Nordwesten der
indischen Halbinsel, in bergigen Distrikten ebenso wütend, wie in der
Ebene, wälzte sich gleichzeitig längs der Ost- und Westküste in
das Innere des Landes, so dass während des Jahres 1818 nahezu
ganz Vorderindien zum Schauplatz der nicht selten sprungweise fort-
schreitenden Epidemie geworden war. Schon vor Schluss dieses Jahres
w^ar die Krankheit nach Ceylon übergetreten und im folgenden Jahre
über die ganze Insel verbreitet.
Im Jahre 1819 setzte die Seuche, wiederum in Bengalen be-
ginnend, ihre Wanderungen nach Norden in die Provinz Nepal, von
hier in östlicher Richtung nach Burma fort und drang weiter durch
Slam und die Halbinsel Malakka bis Singapure an der Südspitze von
Hinterindien vor. Indessen hatte sie schon im Mai 1819 auf Sumatra
festen Fuss gefasst und von Ceylon aus durch den Schiffsverkehr auf
Mauritius und Reunion Eingang gefunden, von wo sie im folgenden
Jahre nach der Küste von Zanzibar verschleppt wurde.
Im Jahre 1820 hatte neuerdings Bengalen, sowie die Provinz Sindh
und Pandschab schwer unter der Krankheit zu leiden, welche zu
gleicher Zeit auf Java, Borneo und anderen Sunda-Inseln eine Aus-
dehnung gewann, die durch volle drei Jahre an Intensität nicht nach-
gelassen und ungeheuere Opfer an Menschenleben gefordert hat. Ebenso
wurden die Molukken und Philippinen betroffen, zahlreiche Städte des
5
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 805
südlichen Chinas befallen, von denen aus durch zwei Jahre eine mör-
derische Epidemie über das ganze Eeich der Mitte sich verbreitete
und 1822 auf Japan übergriff.
Mit dem Jahre 1821 nahm die Cholera nicht nur auf indischen
Boden ihren ungeschwächten Fortgang, sondern fand von Bombay
aus den Weg nach Maskat an der Ostküste Arabiens, von wo sie
längs derselben nach Mesopotamien und den persischen Golf über-
schreitend in das innere Land vordrang. Während sie im Nordwesten
dem Euphrat und Tigris entlang über Bagdad bis zur Grenze der
syrischen Wüste sich entfaltet hatte, folgte sie im Herbste 1821 von
Bagdad aus persischen Truppen in die nordwestlichen Teile Persiens,
dessen nordöstliche Provinzen übrigens schon vordem durch Kara-
wanenzüge verseucht worden waren.
Nach kurzem winterlichen Stillstand trat die Seuche mit Früh-
jahr 1822 in diesem Gebiete Vorderasiens von neuem auf. Sie kam,
über Mosul hinziehend, nach Kurdistan, auf dem Wege gegen Westen
über Diarbekir und ürfa nach Syrien bis Aleppo, und verbreitete sich
in Persien über Tabris in den am Südgestade des kaspischen Meeres
gelegenen Provinzen Gilan und Mazenderan. Wiederum erlosch im
Winter 1822 — 23 die Krankheit, um im Frühling 1823 sowohl in
westlicher wie in nördlicher Richtung neuen Boden zu gewinnen. In
Syrien war sie über Antiochia und Laodicea nach Palästina und
Damaskus vorgerückt, in Persien überschritt sie die Grenzen des
Reiches, etablierte sich auf russischem Boden in Transkaukasien,
nistete sich in Tiflis und Baku ein, Murde späterhin auf dem Schiffs-
wege sogar bis Astrachan importiert, fand jedoch glücklicherweise mit
Eintritt des Winters ein baldiges Ende. Vom Beginne des Jahres 1824
blieb durch einen Zeitraum von vier Jahren die Cholera auf ihre
engere Heimat beschränkt.
Zweite Periode 1826—1837.
Von Bengalen aus nahm im Jahre 1826 die Cholera zunächst den
Ufern des Ganges entlang den Weg nach dem Pandschab, überall
von grossen Verwüstungen begleitet. Von Labore, wo sie den Mittel-
punkt einer weitgehenden Epidemie gebildet, fand sie 1827 in nord-
westlicher Richtung, den Karawanenstrassen folgend, Eingang in
Afghanistan und verbreitete sich über Kabul und Balkh nach Bochara
und Turkestan. Im nächsten Jahre drang sie von Chiwa ostwärts
in das Land der Kirgisen vor, sprang sodann nach dem russischen
Gouvernement Orenburg über, erschien am 26. August 1829 plötzlich
in der Stadt Orenburg, überdauerte hier wie im ganzen Gouvernement
den Winter 1829 — 30 und nahm erst im Laufe des letztgenannten
Jahres ein Ende.
Im Jahre 1829 trat die Cholera wieder in Persien auf. wo sie
seit dem Jahre 1823 nicht die geringsten Spuren zurückgelassen hatte,
ergriff die Städte Teheran und Tauris, erlosch aber während des
Winters und drang erst 1830 nordwärts über Tiflis und längs der
Westküste des kasi)ischen Meeres nach Astrachan vor. Fast gleich-
zeitig war hierher aucli die Seuche über Orenburg gelangt und die
vereinigten Züge verbreiteten sich jetzt im Stromgebiete der Wolga,
des Ural und des Don über das russische Reicli. Noch im Laufe des
Jahres 1830 wurde ein grosses Gebiet desselben von der Cholera
überzogen, sie war im Norden bis Penn, im Nordwesten bis Now-
806 Victor Fossel.
gorod, im Westen bis Kiew, Podolieii und Vollijnien, im Süden bis
zur Krim, Ukraine und nach Odessa gelangt. Trotz aller Absperrungs-
massregeln war sie Ende September in Moskau zum Ausbruch ge-
kommen, hielt hier ebenso wie im übrigen Russland den ganzen
Winter 1830 — 31 hindurch in heftiger Weise au, um im Frühjahr da-
rauf ihre Wanderungen fortzusetzen.
Bevor wir dem ferneren Zuge der Cholera in Eussland uns zu-
wenden, haben wir des gleichzeitigen Vordringens der Seuche in
Vorderasien zu gedenken. Schon im Jahre 1830 war sie aus Persien
auf den alten Handelswegen westwärts nach Mesopotamien und Arabien
gekommen, trat 1831 in Syrien, Palästina und Arabien besonders
unter den Pilgerscharen in Mekka und Medina mit grosser Bösartig-
keit auf. Bald darauf, über Suez fortschreitend, zeigte sie sich in
Aegypten, wütete in Kairo mit solcher Heftigkeit, so dass ihr in den
ersten Monaten 30000 Menschen zum Opfer gefallen waren. Sie
pflanzte sich den Nil aufwärts bis Theben, stromabwärts nach
Alexandrien fort, überzog das ganze Nildelta und soll durch Pilgerzüge
bis nach Tunis verschleppt worden sein.
Auf russischem Boden war die Cholera mit Frühjahr 1831 von
neuem in vielen der schon 1830 infizierten Gouvernements zum Aus-
bruche gelaugt; zu gleicher Zeit verbreitete sie sich unaufhaltsam
gegen Westen in den Gebieten von Grodno und Wilna, nordwestwärts
über Kurland, Livland, Esthland und Finnland, im Norden in den
Gouvernements Orel und Archangel, und hielt Mitte Juni in Peters-
burg ihren Einzug. Für die Weiterentwicklung der Seuche in Polen
und ihre Verschleppung nach Mitteleuropa waren die damals herr-
schenden Wirren des russisch-polnischen Krieges von folgenschwerer
Bedeutung. Schon Ende 1830 war die „asiatische Brechruhr" in den
östlichen Kreisen Galiziens vorübergehend aufgetaucht, nahm bald
darauf an Umfang beträchtlich zu und gewann mit Frühjahr 1831
eine weitere Ausdehnung über Russisch-Polen, nicht nur unter den
einander gegenüber stehenden Truppen des Czaren und der polnischen
Revolutionsarmee, sondern auch unter der Civilbevölkerung. Nachdem
die Krankheit nach Warschau eingedrungen und infolge des Ueber-
trittes der polnischen Kontingente über die österreichische und
preussische Grenze denselben dahin gefolgt war, wurde hier ein
Seuchenherd geschaffen, gegen dessen Ausbreitung die ins Trefien ge-
führten Absperrungsmassregeln sich als völlig ohnmächtig erweisen
sollten. Die Cholera schritt nun in dreifacher Richtung nach dem
Westen vor. Von Galizien, wo insbesondere Brody, Lemberg und
Krakau schwer zu leiden hatten, war sie im Sommer nach Ungarn,
Schlesien und Niederösterreich gelangt, verursachte geringe Ausbrüche
in Steiermark und Oberösterreich, ergriif Mitte August Wien und im
Herbste Böhmen und Mähren. Gleichzeitig mit der Invasion in Ungarn
erschien sie, von Bessarabien aus vordringend, in der Moldau und
Walachei, in Bulgarien und Rumelien und fand von Galacz aus, dem
Seeverkehre folgend, den Weg nach Konstantinopel, späterhin nach
Smyrna und anderen Küstenstädten Kleinasiens. Die zweite Route,
welche die Cholera von Polen gegen Westen einschlug, führte über
den von der preussischen Regierung bei der Grenzstadt Kaiisch auf-
gestellten Sperrkordon hinweg nach den Provinzen Posen und Schlesien,
und nordwärts dem Stromgebiete der Oder folgend nach der Mark
Brandenburg und Pommern. Bevor aber noch die ersten Erkrankungs-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 807
fälle längs der polnisch-preussischen Grenze aufgetreten waren, zeigte
sich die Seuche schon im Mai in Danzig, wohin sie dui'ch russische
Ki'iegsschiffe aus den Ostseeprovinzen eingeschleppt worden war. Von
da nahm sie den Weg über Königsberg nach den Regierungsbezirken
Köslin und Gumbiunen. Hier im Nordosten Deutschlands vereinigten
sich die beiden Cholei'azüge . um sich nach dem Westen fortzusetzen,
ohne jedoch in den ergriffenen Gebieten mit Ausnahme der Städte
Stettin, Frankfurt a. 0., Küstrin, Potsdam, Berlin eine grössere Ver-
breitung erlangt zu haben. Den gleichen milden Charakter bot im
allgemeinen die Epidemie welle , welche sich west- und nordwärts von
der Elbe über Xiederdeutschland fortzog, die nur an wenigen Plätzen
wie Magdeburg, Lüneburg. Hamburg u. a. eine grössere Sterblichkeit
hervorrief, hingegen an ausgedehnten Landstrecken spurlos vorüber-
gegangen war.
Von Hamburg aus wurde Ende Oktober 1831 die Cholera durch
ein Schiff nach der an der Ostküste Englands gelegenen Hafenstadt
Sunderland verschleppt und verbreitete sich noch vor Jahresschluss
über die schottische Grenze, um dann im Frühjahr 1832 vorwiegend
den Hauptwegen des Land- und Seeverkehres folgend, jedoch die
Berglandschaften fast ganz verschonend, das ganze Inselreich heimzu-
suchen. Von Grossbritannien übersetzte die Seuche, wie dies auch
später in den Jahren 1849 und 1853 der Fall war, den Kanal, er-
schien Mitte März 1832 zu gleicher Zeit in Calais und Paris, über-
flutete in den beiden nächsten Monaten Xordfrankreich , im Juni die
südlichen Departements und Hess nur die gebirgigen Distrikte im
Osten und Süden des Landes völlig verschont. Mit der Expansion
der Cholera auf französischen Boden hing unmittelbar ihr Auftreten
in Belgien zusammen. Hier war sie anfangs Mai in der an Frank-
reich angrenzenden Provinz Hainaut ausgebrochen und weiter in das
Innere des Königreiches und nach Luxemburg vorgedrungen. Ende
Juni erschien sie in den Niederlanden, blieb jedoch in epidemischer
Gestalt während dieses und des darauffolgenden Jahi-es vorzugsweise
auf die Provinzen Xordbrabant. Nord- und Südholland. Friesland,
Groningen und Drenthe beschränkt. Damit standen auch die in der
preussischen Rheinprovinz wähi-end der genannten beiden Jahre ge-
bildeten Krankheitsherde in Verbindung. Indessen war die Cholera
im östlichen Deutschland und in Oesterreich im Laufe des Jahres 1832
von neuem erwacht, rief in Wien und Berlin kürzer dauernde, aber
bösartige Nachschübe hervor und kehrte ebenso in den Regierungs-
bezirken Oppeln und Breslau für einige Zeit zurück.
Für die Geschichte der Cholera im Jahre 1832 ist ihre Ver-
schleppung nach der westlichen Hemisphäre von Bedeutung geworden.
Durch irische Auswanderer, welche im April Dublin verlassen hatten,
wurde die Krankheit anfangs Juni nach Canada importiert, von wo
sie sich mit Schnelligkeit und Heftigkeit über Quebeck und Montreal
nach dem grössten Teil von Ober- und üntercanada. nordwärts dem
Hudson entlang und in südlicher Richtung nach den Vereinigten
Staaten verbreitete. Bald waren Newj'ork. Philadelphia und die
ganze Ostküste ergriffen, im August Maryland und Virginien, im
September Kentuckj', sodann Ohio, Indiana und Illinois. Noch im
November entwickelte sich in Neworleans eine Epidemie, die an den
Ufern des Mississippi fortwandemd, sich über einen grossen Teil der
Südstaaten, im Frühling 1833 über die mittleren Staaten erstreckte
808 Victor Fossel.
und im Westen die Felsengebirge überschreitend bis zu den Gestaden
des Stillen Ozeans ihre Verheerungen ausdehnte. Annähernd zu
gleicher Zeit (Juni 1833) wurde sowohl die Küste wie das Hoch-
plateau von Mexiko von der Seuche befallen, die auch auf der Insel
Cuba erschienen war und wiederum zwei Jahre später auf letzterem
Eiland wie an der Küste von Guayana sich gezeigt hatte.
In Mitteleuropa war die Cholera während des Jahres 1833 in
mehreren Ländern, wie in Ungarn, im Norden Frankreichs und in
Belgien neuerlich aufgetaucht, ohne aber ihre frühere Heftigkeit ent-
faltet zu haben. Einen bisher unberührten Boden eroberte sie sich
auf der pyrenäischen Halbinsel, wo sie anfangs Jänner 1833 durch
ein aus England kommendes Schilf nach dem Hafen Isao de Foz an
der Westküste von Portugal gebracht, sich in mehreren Städten dieses
Landes entwickelte, nach Spanien übergriff und sich hier zunächst
in den westlichen und südlichen Landschaften festsetzte. Noch weitere
Kreise zog die Epidemie im folgenden Jahre, indem sie die östlichen
und nördlichen Gebiete von Spanien befiel und gegen Ende 1834
nach Marseille und der Provence vorrückte, um im März 1835 auch
das übrige Südfrankreich, Piemont und späterhin einen Teil von Nord-
italien bis Toscana heimzusuchen. Im Jahre 1836 recrudeszierte die
Seuche nicht nur in den meisten der bisher ergriffenen Teile Italiens,
sondern wanderte über die apenninische Halbinsel weiter bis Neapel
und kam 1837 nach Sicilien und der Insel Malta. Während ihres
Ganges längst der Poebene sandte sie 1836 ihre Strahlen nach der
südlichen Schweiz aus und gelangte nach Tirol und Bayern, 1837 nach
Istrien, Dalmatien, nordwärts nach Oesterreich-LTngarn bis Galizien
und nach mehreren norddeutschen Provinzen.
Auf aussereuropäischem Gebieten war die Cholera während dieser
Pandemie 1830 in China, 1831 in Japan und, wie schon erwähnt, in
Aegypten zum Ausbruch gekommen. Vom Jahre 1834 an erschien sie
neuerlich in Aegypten, wanderte an der Nordküste Afrikas fort, drang
hier bis tief in das Innere des Landes ein und nahm gleichzeitig den
Weg nach der ostafrikanischen Küste sowie nach dem Sudan, wo sie
gleichwie in den anderen Erdteilen mit dem Winter 1837 — 1838 ein
Ende fand.
Dritte Periode 1846— 186L
Während die Cholera im Dezennium 1830—1840 in Ostindien
mit ungeschwächter Heftigkeit anhielt, war sie in den Jahren 1840
und 1841 nach Hinterindien und China, 1842 nach dem nördlichen
Hindostan, 1844 nach Afghanistan, Turkestan und dem östlichen
Persien vorgedrungen und im Jahre 1846 im ganzen persischen Reiche
zum Ausbruch gekommen. Gleichzeitig setzte sie sich nordwärts über
Kaukasien, Armenien bis zur Küste des Kaspischen Meeres fort, wan-
derte in südlicher Eichtung über die Nachbargebiete des persischen
Golfes weiter nach Arabien und Mesopotamien und erhielt in den ge-
nannten Teilen Vorderasiens durch volle zw^ei Jahre ihre Herrschaft.
Vom Frühjahr 1847 an richtete sich der Zug der Seuche zunächst
nach dem Süden des europäischen Russland und nach Sibirien, ge-
langte innerhalb der nächsten Monate einerseits bis Petersburg und
Archangel, andererseits bis Tobolks. Zu derselben Zeit schlug sie den
Weg nach Westen ein, rückte an die Ufer des Schwarzen Meeres vor,
wo sie im Herbste Trapezunt, dann Konstantinopel ergriff und
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 809
Über ein Jahr lang- nicht zum Stillstand g-elang'te. — Im Jahre 1848
fand die Cholera, die sich über das ganze russische Reich ausgebreitet
hatte, in den Ostseeprovinzen. in Podolien, Wolhynien und Polen
Eingang und erschien an zahlreichen Plätzen der europäischen und
der asiatischen Türkei. Mit ihrer Ausdehnung in Kleinasien erfolgte
während des Sommers der Ausbruch der Krankheit in Aegypten.
Tunis. Algerien und Marokko, in welchen Ländern sie sich nahezu
drei Jahre lang behauptete.
Vom Westufer des Schwarzen Meeres aus hatte die Seuche ihre
Verstösse neuerlich nicht bloss nach der Türkei gerichtet, sondern
auch die Donaufürstentümer und Ungarn erreicht. In diesem Jahre
hatte sie auf Malta und der gi'iechischen Insel Schiatos nur geringe
Entwicklung zu erlangen vermocht, hingegen hier wie im übrigen
Griechenland erst im Jahre 1850 sich zur vollen Intensität erhoben.
Nachdem die Cholera schon um die Mitte des Jahres 1848 teils in Ungarn
vornehmlich auf dem Kriegsschauplatze, teils in Galizien festen Fuss ge-
fasst hatte, schlug sie gleichzeitig und anscheinend von Russland aus-
gehend auf ihrer westlichen "Wanderung den Weg nach Xorddeutsch-
land ein, zunächst nach Pommern, der Mark und der Provinz Sachsen,
zog dem Stromgebiete der Elbe entlang nach Nordwesten, um Hamburg,
Bremen, Hannover und Braunschweig zu überfallen; später trat sie
in Posen, Ost- und Westpreussen und Schlesien auf. Dieselben Gebiete
wurden auch im Jahre 1849 von der Cholera schwer heimgesucht, die
dann auch nach den Rheinlanden übergegrilfen hatte. Indessen hatte
noch im Herbste 1848 die Krankheit die Niederlande und Belgien erreicht
und war durch Schiffe importiert in England, Schottland und Irland
an zahlreichen Plätzen zum Ausbruch gekommen. In Grossbritannien
wie in Holland und Belgien setzte die Epidemie mit dem folgenden
Frühjahr neuerdings ein und erhielt sich in diesen Ländern das
ganze Jahr 1849 hindurch. In das Jahr 1849 fallt ein erneuerter
Ausbruch der Cholera in Indien, die sich in den nächsten zwei Jahren
über einen grossen Teil der vorderindischen Gebiete in heftigster
Weise verbreitete. In Europa war sie ausser den schon genannten
Ländern in Oesterreich und zwar in Galizien, Ungarn, Wien, Prag,
Böhmen, Mähren, Krain und Istrien aufgetreten, so\sie den Bewegungen
der österreichischen Truppen im Königreich Venetien gefolgt Auch
Frankreich wurde an seiner Nordküste von der Seuche befallen, die
im Laufe des Jahres über das ganze Land fortschritt. Noch im De-
zember 1848 erschien die Cholera, durch Emigranten verschleppt im
Hafen von Newyork und Neworleans, wanderte noch vor Jahresschluss
dem Mississippi entlang über einen Teil der Oststaaten vorwärts, fand
in Texas Eingang und erfuhr dann 1848 und 1850 die weiteste, bis
San Franzisco reichende Verbreitung über ganz Nordamerika, das
noch bis zum Jahre 1852 unter einer Reihe von mehr weniger be-
grenzten Epidemien zu leiden hatte. Mexiko, Panama und Neugranada
wurden 1849 auf dem Land- und Seewege infiziert, indes die Antillen
erst im Zeiträume 1850 bis 1854 von der Cholera in furchtbarer Weise
heimgesucht wurden.
Während im Laufe des Jahres 1850 die Cholera auf dem euro-
päischen Festlande in einzelnen norddeutschen Städten, ausserdem in
Polen, Schlesien, Böhmen und Niederösten-eich, speziell in Wien und
Prag epidemisch zum Ausbruch gekommen war, erreichte sie, abge-
sehen von den wenigen und milde verlaufenen Lokalepidemien in den
810 Victor Fossel.
skandinavischen Ländern innerhalb der Jahre 1848 und 1849, erst
1850 eine grössere Ausdehnung in Schweden, ohne jedoch ihre volle
Bösartigkeit zu manifestieren. Im übrigen Europa, wie in Afrika
war sie mit Schluss des Jahres 1850 zum Stillstand gekommen und
nur auf den Kanarischen Inseln zum erstenmale erschienen.
Doch nicht lange währte diese Ruhepause. Schon im Jahre 1852
trat die Cholera, die seit drei Jahren in Indien weit über ihre engere
Heimat hinaus gedrungen war, von neuem ihren Rundgang über einen
grossen Teil der Erde an. In Asien ergriff sie frühzeitig die Sunda-
inseln, Persien und Mesopotamien, wendete sich wiederum dem Nord-
osten zu und überzog Transkaukasien und die Nachbargegenden des
Kaspischen Meeres. Eigentümlich erschien das gleichzeitige Auf-
flackern der Seuche in Polen, ohne dass damals zwischen dem Westen
und Süden des russischen Reiches der Zusammenhang einer Epidemie
nachgewiesen werden konnte. Von Polen aus wurden die westlichen
Gebiete des Zarenreiches und die preussischen Provinzen Posen,
Schlesien, Ost- und Westpreussen, die Mark und Pommern infiziert.
Während des Jahres 1853 erhielt sich die Cholera auf voller epide-
mischer Höhe in Mittelasien und im russischen Reich, um hier nach
vielfach wechselnder räumlicher und zeitlicher Bewegung in ihrer
Heftigkeit erst im Jahre 1862 zu erlöschen. Deutschland hatte im
Jahre 1853 vorzugsweise in seinen nördlichen Landstrichen unter der
Herrschaft der Krankheit zu leiden, wo sie auch in den Jahren 1855
und 1859 zu epidemischer Entwicklung kam. Vom Gestade der Ostsee
war 1853 die Cholera in die skandinavischen Länder vorgedrungen
und hatte nicht nur in diesem Jahre Dänemark, Schweden und Nor-
wegen schwer betroffen, sondern auch wie in Russland und Preussen
in den folgenden Jahren 1855, 1857 und 1859 an zahlreichen Plätzen
ihre Verheerungen wiederholt. Auch Grossbritannien wurde im Früh-
sommer 1853 durch Schiffe aus deutschen Häfen infiziert. Die in
London wie in vielen anderen Hauptorten des Inselreiches hervor-
gerufenen Epidemien überdauerten den ganzen Winter und nahmen
erst mit Schluss des Jahres 1854 ein Ende. Zu gleicher Zeit wie in
England trat die Cholera in den Niederlanden, in Belgien und Frank-
reich auf, um in diesen Ländern, wie wir sehen werden, sich noch
jahrelang in bedrohlicher Intensität zu erhalten. Das Jahr 1853
wurde auch dem Süden Europas verhängnisvoll, nachdem die Cholera
im spanischen Hafen von Vigo importiert, über den Westen des König-
reiches sich verbreitet und hier ein Centrum ihrer Herrschaft ge-
schaffen hatte. Eine weitere Invasion der Seuche fiel im Jahre
1853 auf den amerikanischen Kontinent, wo die Unionsstaaten und
Mexiko teils durch europäische Einwanderer, teils durch Verschleppung
der auf Westindien grassierenden Krankheit befallen worden sind.
Mit erneuerter Wut setzte die Cholera im Jahre 1854 ihre Wan-
derungen fort und entfaltete in vielen der bereits ergriffenen Länder
ihre ganze Bösartigkeit. In Russland, Skandinavien, Grossbritannien,
Holland und Belgien dauerte ihre Herrschaft an ; in Frankreich wurde
Paris zum Mittelpunkt einer fast das ganze Land umspannenden Epi-
demie, die von dem hart bedrängten Marseille aus nach der spani-
schen Küste verschleppt, rasch über die ganze pyrenäische Halbinsel
Verbreitung gewann. Wie in Frankreich gelangte auch in Spanien
und Portugal die Seuche erst im Jahre 1856 zum Ablauf. Von Süden
Frankreichs griff sie nach der Schweiz und Oberitalien hinüber und
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 811
nahm von mehreren zuerst infizierten Häfen den 'Weg in das Innere
des Landes. Savoyen. die Lombardei. Venetien, ganz Mittel- und
Unteritalien sowie Sicilien litten furchtbar unter den Drangsalen der
epidemischen Brechruhr, deren Dauer sich auf dem gi^össten Teil der
apeninischen Halbinsel bis zum Ende des Jahres 1856 fortzog.
Von besonderer Bedeutung wurde das Cholerajahr 1854 für Süd-
deutschland; hier war in den westlichen Gebietsteilen die Krankheit
zwar nur in kleineren Herden aufgetreten, hingegen in München rasch
zu voller Entwicklung gekommen und für die Bevölkerung der bayeri-
schen Hauptstadt wie für jene des Landes verhängnisvoll geworden.
In Oesterreich-üngarn, das sowohl von Bayern her wie vom Südosten
des Reiches verseucht worden war, hatten während des Jahres 1854
nur einige Städte, wie Wien und Budapest unter einer stärkeren
Cholerasterblichkeit zu leiden. Um so heftiger schw^oll im Jahre 1855
die Seuche zu einer nahezu über den ganzen Kaiserstaat sich aus-
dehnenden Epidemie an, die gleichzeitig von Oberitalien aus neue Ver-
stärkungen erfahren und erst mit Jahresschluss ein Ende genommen
hatte. Nicht um vieles weniger entfaltete die Cholera ihre Schrecken
im Jahre 1854 auf dem Kriegsschauplatze an den Ufern des Schwarzen
Meeres; sie verbreitete sich anfänglich unter den Truppen der West-
mächte, sodann auf russischen und türkischen Boden, zog ihre Kreise
im Osten über Kleinasien, im Westen über die Donaufürstentümer,
drang südwärts nach Griechenland vor und erlosch auf dem ganzen
Länderkomplexe erst mit Ende 1855.
Ausserhalb des europäischen Kontinents war die Cholera im Jahre
1854, abgesehen von Ostindien, in Persien, Arabien, China und Japan
von neuem aufgetreten und gleichfalls auf einem weiten Ländergebiete
des amerikanischen Festlandes mit ungewöhnlicher Bösartigkeit zum
Ausbruch gelangt. Aehnliche Wanderzüge zeigte die Seuche im Jahre
1855, die von Vorderasien und Arabien nach Aegypten und längs der
Nordküste Afrikas bis Marokko und in das Innere des Landes nach
Abessinien und Nubien voi'drang und zum ersten Male die Westküste
Afrikas und zwar die Inseln Fogo und Madeii'a ergrifi".
In Europa war es vorwiegend dessen südliche Hälfte, auf welcher
die Cholera im Laufe des Jahres 1855 ihre Verwüstungen fortgesetzt
hatte. Aber auch ßussland und seine Nachbargebiete wurden, wie
teilweise schon erwähnt, von neuen Epidemien heimgesucht, so dass
das Zarenreich, die Ufer des Schwarzen Meeres, die Donaufürsten-
tümer. die Balkanstaaten, Griechenland, Italien und Oesterreich-Ungam
den zusammenhängenden Schauplatz der Seuche in jenem Jahre dar-
stellen. Mit Ausnahme der damals andauernden Herrschaft der Krank-
heit auf der iberischen Halbinsel blieb das westliche Europa mehr ver-
schont, nur Holland und die Schweiz wiesen stärkere Ausbrüche auf,
die ebenso im Norden von Deutschland und in den skandinavischen
Ländern sich zur Höhe weitgedehnter Epidemien erhoben hatten.
Auf der westlichen Hemisphäre, wo — wie bemerkt — schon ein
Jahr zuvor die Cholera ein grosses Territorium erobert und nahezu
die meisten Unionsstaaten, Neugranada und Columbia in Südamerika
erfasst hatte, erschien sie 1855 in Venezuela und in Brasilien, dem
Stromgebiete des Amazonenflusses tief in das Land folgend und zahl-
reiche Küstenstädte ergreifend, ohne im darauffolgenden Jalu-e aus
dem Lande zu verschwinden.
Ueberblicken wir endlich den letzten Abschnitt dieser Pandemie
812 Victor Fossel.
der von dem Zeiträume 1856 — 1863 begrenzt wird, so begegnen wir
einer Reihe neuerlicher und mörderischer Ausbrüche der Cholera zu-
nächst in ihrer Heimat, sodann im ganzen Hindostan, in China, Japan,
auf der Halbinsel Korea und den Philippinen. Die ganze siebenjährige
Periode hindurch gelangte sie ebensowenig in Mittel- und Vorderasien
zur Ruhe. Sie wanderte 1856 von Arabien ausgehend an der Ost-
küste Afrika fort nach Abessinien, schritt in den folgenden Jahren
nach dem Somalilande und Zanzibar weiter, erschien auf den Inseln
Mauritius, Madagascar, den Comoren und auf Reunion. Von Aegypten
verbreitete sich 1856 — 59 die Seuche längs der afrikanischen Nord-
küste über Tripolis, Tunis, Algier und Marokko. Mit Zähigkeit be-
hauptete sie sich noch im Jahre 1856 in Centralamerika , indes sie in
Brasilien und anderen Gebietsteilen Südamerikas nur zeitweilig und
auf einzelne Plätze eingeengt geblieben war. In Europa waren, wenn
man von der ununterbrochenen Seuchendauer in Russland und Spanien
absieht, die Cholera-Jahre 1856 — 1858 nur für die skandinavischen
Länder und einzelne norddeutsche Städte von Bedeutung. Hingegen
erfuhr die Seuche gleichzeitig mit ihrem Anwachsen in Asien und
ihrer raschen Steigerung innerhalb des russischen Reiches im Jahre
1859 plötzlich eine neuerliche Expansion. Im ursächlichen Zusammen-
hang mit derselben standen die schweren Lokalepidemien in den Ost-
seeprovinzen, in Schweden, Norwegen, auf zahlreichen Plätzen des
nördlichen und nordwestlichen Deutschlands, sowie in den Nieder-
landen und in Belgien.
Vierte Periode 1863—1875.
Die Cholera, die schon in den Jahren 1860 — 1862 weit über ihre
bengalische Heimat hinausgetreten war, verbreitete sich 1863 über
ganz Vorderindien und Ceylon und schritt in den beiden folgenden
Jahren nach Osten fort, um den indischen Archipel, China und Japan
mit mörderischen Epidemien zu überziehen. Ihr Vorstoss nach Westen
erfolgte aber diesmal nicht auf dem alten Landwege der Karawanen,
sondern auf dem Seewege des persischen Golfes und des roten Meeres.
Zu Beginn des Jahres 1865 gelangte die Seuche von der Küste von
Bombay durch ein mit Kranken beladenes Fahrzeug nach der im
westlichen Arabien gelegenen Landschaft Yemen und von hier nach
dem heiligen Mekka, wo sie anfangs Mai unter den versammelten
100000 Pilgern furchtbare Ernte hielt und von ungezählten Flücht-
lingen nach allen Richtungen verstreut wurde. So kam es, dass dies-
mal die Cholera nicht auf ihren alten Pfaden über Mittel und A'order-
asien nach Südrussland und weiter nach Europa den Weg nahm,
sondern vom Mittelmeere aus in allerkürzester Frist an den südlichen
Ufern unseres Kontinents Fuss fasste und in die Binnenländer ein-
drang. Von Mekka aus erschien sie mit den ersten zurückkehrenden
Pilgern in Suez und Alexandrien, griif in Unter- und Oberägypten
um sich, indessen sie mohamedanische Wallfahrer von Arabien aus
nach Mesopotamien, Syrien, Palästina und Centralasien importiert
hatten. Bald nach ihrem Ausbruche in Alexandrien trat die Seuche,
durch den Schiffsverkehr vermittelt, in Konstantinopel. Malta, Marseille,
Ancona, Valencia u. a. 0. auf, ergriff von diesen Einbruchstationen
aus die Türkei und deren Hinterländer, Südfrankreich, Spanien, Italien
und wanderte vom Schwarzen Meere nach Russland, Armenien und
Kaukasien landeinwärts. Während in den genannten Gebieten die
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 813
Cholera ein beträchtliches Feld eroberte, erschien sie noch im Herbste
1865 an einigen Plätzen in England und Belgien. OesteiTeich wurde
1865 nur von kleinen Epidemien in Fiume und Triest befallen, hin-
gegen die Kranklieit in Deutschland durch direkt aus Odessa ange-
kommene Eeisende nach Altenburg und von hier nach mehi-eren
Städten des Königreichs Sachsen übertragen. Um so heftiger wütete
im Kiiegsjahre 1866 die Cholera in Oesterreich und Deutschland. In
OesteiTeich kam die Seuche zuerst in der Bukowina zum Ausbruch,
überzog dann Ungarn, Böhmen, Mähren, Xiederösterreich und forderte
unter den Truppen wie unter der Civilbevölkerung eine ungeheuere
Zahl von Opfern. So erlagen in Böhmen 30000, in Mähren nahezu
50000. in Xiederösterreich 10 000, in Ungarn 30 000, in der ganzen
Monarchie 165292 Menschen der Cholera. In Deutschland war die
Cholera zuerst aus Luxemburg nach der Bheinpronnz und nach "West-
falen gelangt, um weniger später an der Ostseeküste aufgetreten und
an zahlreichen Orten des norddeutschen Gebietes, u. a. in Hamburg,
Berlin, den Provinzen Preussen, Posen, Schlesien, Sachsen, im König-
reiche Sachsen, in Mecklenburg und Oldenburg ausgebrochen. Preussen
allein zählte in dieser Epidemie 114683 Todesfälle an Cholera. In
den bayerischen Kreisen Unterfranken, Aschaffenburg, Schwaben und
Xeuburg trat sie epidemisch auf, sie blieb hingegen im übrigen Süd-
deutschland nur auf einzelne bayerische Kreise und Städte der west-
lichen Gegenden beschränkt. Aber auch in den anderen Ländern
Eiu'opas war 1866 eines der schwersten Cholerajahre. Das osmanische
Reich, die Donaufürstentümer, Montenegro und vor aUem das euro-
päische Eussland hatten schwere und ausgedehnte Epidemien zu über-
stehen. Von den skandinavischen Ländern wurde nur Schweden
stärker betroffen, Grossbritannien nur an einzelnen Plätzen heim-
gesucht: dagegen herrschte die Cholera epidemisch in Belgien, den
Xiederlanden, in Frankreich, Spanien und Italien.
Die grosse Verbreitung, die die Cholera im Laufe des Jahres 1865
in den aussereuropäischen Ländern gefunden, schuf Seuchencentren.
von denen aus im Jahre 1866 die Krankheit ungeschwächt ihren
Fortgang nahm. Auf dem asiatischen Festlande riss sie zunächst
in dem von zwei Millionen von Pilgern besuchten indischen Wall-
fahrtsorte Hui'dwar ein und überzog von hier aus neuerdings Central-
und Vorderasien. In Afrika war schon 1865 die Cholera vom
Golf von Aden her nach der Ostküste übergesetzt, hatte Abyssinien,
die Somali- und Gallaländer ergriffen, um in den folgenden Jahren
noch tiefer in das Innere des dunklen Weltteiles einzudringen und
andererseits Zanzibar, Mozambique, Madagaskar und Mauritius zu in-
fizieren. An der Xordküste wurde Algier und Marokko gleichfalls
schon 1865 verseucht, doch fielen die heftigsten Ausbrüche der Cholera
in diesen Ländern, wie in Tunis auf die Periode 1867 — 1868 und
verbreiteten sich 1868 - 1869 zum ersten Male über Senegarabien.
Von gleicher Wichtigkeit erscheinen in diesem Zeiträume die
Epidemiezüge der Cholera auf der westlichen Hemisphäre. Angeblich
von Marseille aus, nach anderer Quelle von Bordeaux kommend, wurde
im Herbst 1865 die Krankheit nach Guadeloupe eingeschleppt, grifi
auf mehrere benachbarte Inseln über und entwickelte sich in den nächsten
Jahren auf S. Domingo, Cuba und S. Thomas zu heftigen Epidemien.
Auf dem Festlande von Amerika kam, von sporadischen Erkrankungen
unter Einwanderern im Jahre 1865 abgesehen, die Cholera eret vom
814 Victor Fossel.
Jahre 1866 an wieder durch europäische Emigrantenschiffe importiert,
zu weiter Ausdehnung. Von Newyork und Neworleans ausgehend,
wanderte sie nach Pennsylvanien und längs der Ostküste fort, drang
von Neworleans, dem Stromgebiete des Missisippi folgend, nach Illinois,
Jowa fasste an einzelnen Hafenplätzen der Südküste und auf central-
amerikanischem Boden in Nicaragua und Honduras festen Fuss. Nach
einer winterlichen Abnahme verbreitete sich die Seuche 1867 über
einen grossen Teil der westlichen Unionsstaaten und über Texas.
Mit ihrem Vorstoss, den die Cholera im Jahre 1866 nach den
amerikanischen Kontinent unternommen hatte, hing auch ihr plötz-
liches Auftreten im April dieses Jahres in den Rio de la Plata-Staaten
zusammen, wo sie durch Truppenzüge rasche Ausdehnung erfuhr und
im folgenden Jahre von neuem ausbrach. Sie überzog die Land-
schaften und Städte längs des Paranaflusses bis Buenos-Ayres, suchte
mehrere Provinzen Brasiliens heim, wo sie überall noch während des
Jahres 1868 fortwucherte. Im letztgenannten Jahre überfiel sie das
bisher verschont gebliebene Montevideo und wanderte 1869 nach
einigen Landschaften der argentinischen Republik, nach Bolivia und
Peru. Mit Ende 1869 war die Seuche in Südamerika erloschen.
Wenden wir uns wieder nach Europa zurück, so haben wir für
das Jahr 1867 in vielen der schon vordem befallenen Länder über
heftige Recrudeszenzen der Seuche zu berichten. Vor allem war es
Oesterreich-Ungarn, das in Dalmatien, Ungarn und Galizien neuerliche
Choleraepidemien zu dulden hatte. Auch in Albanien, Montenegro
und in der Herzegowina hielt die Krankheit unvermindert an. Russ-
land blieb diesmal in seiner Choleramorbidität gegen frühere Jahre
zurück, hingegen wurde Polen von neuem erfasst und hatte Tausende
von Menschenleben an der Seuche verloren. Deutschland wies in seinen
östlichen Gebietsteilen nur massige Epidemien von beschränkten
Umfange auf, dafür war die Cholera, die den Winter 1866 — 1867 in
der Rheinprovinz und in Westphalen überdauert hatte, hier wieder
hervorgetreten und in einzelnen Städten von einer exzessiven Sterblich-
keit begleitet gewesen. Nicht weniger heftig waren die Nachschübe
der Krankheit in Belgien und Holland, die jedoch räumlich auf engen
Grenzen eingedämmt geblieben waren. x\m schwersten wurde im
Jahre 1867 Italien und zwar in allen seinen Provinzen von der Cholera
heimgesucht. Die Zahl der Opfer hatte man annähernd auf 130000
Menschen geschätzt. In Frankreich, der Schweiz und in Gross-
britannien endlich erlangte die Seuche nur eine territorial beschränkte
Verbreitung.
Mit dem Jahre 1868 war in Europa ein vollständiges Erlöschen
der Cholera eingetreten, deren Spur nur in vereinzelten Krank-
heitsherden in Russland zu Tage getreten. Ebenso blieb vom
Jahre 1869 an in den anderen Weltteilen die Seuche nur auf ver-
hältnismässig geringe Gebiete zurückgedrängt. Doch nur ein kurzer
Zeitraum war es, der diese Ruhepause umfasste. Schon im Jahre 1871
wird die Cholera zur abermaligen Landplage für Europa wie für die
Mehrzahl der anderen Erdtheile, denn auch die nächsten beiden Jahre
sind ausgefüllt von einem pandemischen Seuchenzuge, der lebhaft an
die Verheerungen der Krankheit innerhalb des 4. und 6. Dezenniums
gemahnte.
Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Cholera seit dem
Jahre 1865 ohne nachweisbare Unterbrechungen in Persien fortge-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 815
dauert und nameutlich 1870 in Teheran wie im Süden des Reiches
gewütet hatte. Von hier verbreitete sie sich 1871 über die Ostküste
Arabiens, über Mesopotamien und, durch Karawanen verschleppt, nach
dem westlichen Arabien, wo sie bald Medina und Mekka erreichend,
längs der Küste des Hedschas fortschritt. Obgleich die Cholera im
Jahre 1872 in Persien wie in Mekka von neuem ausgebrochen war,
fand dennoch in diesen Ländern bald ihr gänzlicher Xachlass statt.
Nur brachte das Jahr 1875 das ganz vereinzelt gebliebene Aufflackern
der Cholera in Syrien. Andererseits aber hing 1872 mit diesen
Mittelpunkten der Seuche ihre Ausdehnung über Turkestan und
Buchara zusammen, gleichzeitig rückte sie, wahrscheinlich von Arabien
stammend, nach Xubien vor, wo sie bis zum Jahresschluss in heftigem
Masse anhielt.
Auf europäischen Boden blieb inzwischen Russland niemals ganz
von der Cholera befreit. Sie war zwar 1868 nur auf einzelne Städte
und Distrikte eingedämmt, nahm jedoch schon 1869 von weiteren
Landschaften Besitz, verbreitete sich 1870 über 37 Gouvernements
und entwickelte sich nach einem kurzen Winterschlummer in den
ersten Monaten des Jahres 1871 zu einer der schwersten Epidemien
im ganzen Reiche, dessen centrale Teile am empfindlichsten darunter
zu tragen hatten. Weniger ausgedehnt, doch nahezu von gleicher
Mortalität war innerhalb der russischen Grenzen die Epidemie des
Jahres 1872, die insbesondere die südlichen und westlichen Gouverne-
ments betroifen hatte. Im Laufe des Jahres 1873 trat allerdings die
Seuche im Czarenreiche in den meisten Gubernien zurück, nur in Polen
kam sie zu abermaliger, heftiger Entwicklung und erhielt sich liier
auf voller Höhe bis Ende 1874.
Wie in früheren Zeitabschnitten wurde auch diesmal der Aus-
bruch der Cholera in Russland zum Verhängnis für das übrige Europa.
Von Vorderasien und zugleich von Südrussland aus verbreitete sich
die Seuche im Jahre 1871 in der Türkei und den Donaufürstentümern,
erhob sich in Koustantinopel zu epidemischer Gestalt, grilf 1872 nach
der Südküste des Schwarzen Meeres über und gewann, gegen Westen
vordringend, besonders in Rumänien an Ausdehnung, wo sie noch im
folgenden Jahre andauerte und nach Bulgarien und dem Balkan weiter
sich fortsetzte, jedoch Ende 1873 erlosch. Von Polen drang 1872 die
Cholera nach Galizien, österr. Schlesien, Mähren, Böhmen und Ungarn
vor. Sie nahm in diesen Ländern während des Jahres 1873, be-
sonders in Ungarn grosse Dimensionen an, infizierte Wien und wurde
in südlicher Richtung nach Slavonien und Dalmatien verschleppt. In
Ungarn allein betrug innerhalb der Jahre 1872—1873 die Zahl der
Cholera-Todesfälle 190000. Erst mit Schluss des Jahres 1873 war
die Krankheit in Oesterreich-Ungarn zum Stillstand gekommen.
Deutschland wurde 1871 von Russland her von der Krankheit
heimgesucht. Sie war in Ost- und Westpreussen zuerst aufgetreten,
später in mehreren Städten Norddeutschlands zu massigem Umfange
gediehen, überall aber vor Jahresschluss erloschen. Im Jahre 1872
kam sie auf deutschen Boden nur in sporadischer Form zur Beoachtung,
hingegen im Jahre 1873 um so heftiger zur Entwicklung. Nicht nur
auf dem grössten Teile des preussischen Gebietes, auch in Dresden
und Hamburg steigerte sie sich zu bösartigen Epidemien, auch Bayern,
und vornehmlich seine Hauptstadt München wurden in schwerer Weise
heimgesucht. Während am Schlüsse des Jahres die meisten deutschen
816 Victor Fossel.
Gegenden von der Cholera befreit erschienen, setzte sie 1 874 in Bayern
und Oberschlesien von neuem ein und erhielt sich namentlich in letzterer
Provinz bis zum Herbst dieses Jahres.
Das südliche Europa blieb wie der Norden in den Jahren 1871 —
1873 von der Cholera nahezu gänzlich verschont, Schweden und Nor-
wegen allein hatten einzelne Lokalausbrüche zu überstehen. Im Westen
des Kontinents war sie 1873 nur in einigen französischen Departements
zu epidemischer Höhe angewachsen, jedoch vor Eintritt des Winters
wiederum verschwunden.
Nordamerika wurde 1871 abermals durch deutsche Auswanderer
von der Seuche infiziert, die sich jedoch diesmal nur auf einen ge-
ringen Ausbruch in Halifax während des Monates November redu-
zierte. Um so schwerer gestaltete sich im Jahre 1873 die durch
Einschleppung bewirkte Epidemie von Neworleans, die analog dem
Zuge des Jahres 1866 im weiten Umkreise über die dem Flussgebiete
des Mississippi nahe gelegenen Unionsstaaten ausstrahlte.
Endlich ist der ununterbrochenen Herrschaft zu gedenken, die die
Cholera in der Periode 1865 — 1875 in Indien behauptet hat. AVenn-
gleich die Seuche hier niemals erloschen war und alljährlich Tausende
und Tausende von Opfern gefordert hatte, so dehnten sich doch in
ausnehmender Heftigkeit während des genannten Dezenniums ihre
Seuchenherde über das ganze Land aus. Insbesondere sind es die
Jahre 1866, 1869—1870, 1872-1873 und 1875, in denen die Cholera
in ganz Vorderindien den Charakter einer Pandemie angenommen und
selbst in diesem an beträchtliche Erkrankungs- und Sterbeziffern
gewöhnten Gebiete durch eine erschreckend hohe Mortalität gewaltiges
Aufsehen erregt hat.
Fünfte Periode 1883—1895.
Ueber die Grenzen Indiens hinaus war die Cholera im Zeiträume
1875 — 1881 nirgends zu einem bemerkenswerten heftigeren Ausbruch
gekommen und nur 1877—1878 und 1881—1882 unter den Mekka-
pilgern im Hedschas im vorübergehenden Explosionen aufgetreten.
Mit dem Jahre 1881 nahm sie jedoch ihre Wanderzüge wiederum auf,
setzte ihren Fuss vorerst nach Slam, 1882 nach Japan, China und
den Sundainseln. Ein Jahr später, als die Krankheit mit erneuerter
Bösartigkeit in Indien sowohl im Innern des Landes wie an den
Küsten sich verbreitet hatte, wendete sie ihren Lauf nach Westen.
Ihre Invasion in Aegypten, wohin sie aller Wahrscheinlichkeit nach
durch indische Fahrzeuge auf dem Wege über Port Said verschleppt
worden war, nahm am 22. Juli 1883 in Damiette den Anfang. Rasch
drang sie im Nildelta vor, ergriff u. a. Alexandrien, Kairo und zog
den Nil aufwärts bis Esne. Obschon sie überall nur kurze Zeit
hindurch andauerte, war dennoch die Zahl der von ihr dahingerafften
Opfer eine aussergewöhnlich hohe. An und für sich wäre dieser
Choleraausbruch in Aegypten in der Geschichte der Seuche ohne be-
sondere Bedeutung geblieben. Und doch bildet er in der Epidemio-
logie einen denkwürdigen Merkstein, denn von ihm aus nahm die
moderne Choleraforschung ihren Anfang. Im Anschluss an die von
einer französischen Expedition gepflogenen Studien eröffnete hier die
deutsche Kommission unter R. Koch ihre bahnbrechenden Arbeiten,
die, im gleichen Jahre in Calcutta und Bombay fortgesetzt, dazu
geführt haben, dass Koch auf Grund sorgfältig angestellter Be-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 817
obachtimgen die Natur des Krankheitserregers festzustellen ver-
mocht hat.
Verfolgen "v^ir den weiteren Verlauf der Seuche, so begegnen wir
im Jahre 1884 ihrem plötzlichen Erscheinen in Toulon, alsbald in
Marseille, wohin sie durch Truppentransportschiffe verschleppt worden
war. In rascher Aufeinanderfolge verpflanzte sich die Seuche im
Süden Frankreichs, sandte vorerst einzelne Vorläufer nach Paris und
erweiterte ihre Kreise im übrigen Lande. Bis zur Mitte August
hatte sie in 15 Departements Eingang gefunden. Durch massenhafte
Flüchtlinge aus den Häfen Südfrankreichs wurde Oberitalien infiziert
und namentlich Spezzia von einer heftigen Epidemie ergriffen. Bald
darauf erschien sie in Neapel, befiel hier hauptsächlich die schon im
Jahre 1873 heimgesuchten tiefer gelegenen Stadtteile und raffte binnen
kurzem 7152 Einwohner dahin. Wenngleich die Krankheit auf ita-
lienischem Boden im Oktober erloschen war, so nahm sie in West-
europa ihren ungestörten Fortgang. Im Spätherbst wurden die spa-
nischen Provinzen Alicante und Catalonien, gleichzeitig Nordfrankreich,
Paris und Genf befallen. Mit Ausnahme der französischen Hauptstadt,
deren Cholera-Erkrankungsziffer während des Monates November auf
1980 in der Stadt und auf 84 in den Vororten sich belief war die
Krankheit in massigen Grenzen geblieben. Mit Jahresschluss fand
nahezu überall ein vollständiger Nachlass statt, der freilich in ein-
zelnen Gebieten nur von kurzer Dauer war.
Abgesehen von den lokalisiert gebliebenen Rekrudescenzen in
Toulon. Marseille und einigen Orten der Bretagne, trat die Cholera
mit Frühjahr 1885 von neuem und in stürmischer Weise in Spanien
auf. verbreitete sich, von den Provinzen Valencia und Murcia aus-
gehend, über das ganze Land und behauptete sich am Schlüsse des
Jahres noch in voller Heftigkeit in den Provinzen Kadiz und Sala-
manca. Man hat die Zahl der Erkrankungen in Spanien während
des Jahres 1885 auf rund 339000, jene der Todesfälle auf 120000
geschätzt. Am härtesten wurde die Provinz Saragossa betroffen,
denn hier stieg die Choleramorbidität auf 9,1 " o der Bevölkerung. —
Während der Sommermonate war die Seuche auf dem Boden von
Frankreich erschienen, in Marseille, Toulon und den benachbarten De-
partements aufgetreten, im Monate November in die Bretagne ein-
gedrungen, jedoch in diesem Landesteile zumeist auf die Hafenstadt
Brest und deren Umgebung beschränkt geblieben.
OberitaHen hat 1885 der Seuche abermals seinen Tribut gezahlt,
der aber gegen die Verluste des Vorjahres nicht unerheblich sich ver-
minderte. Nur auf der Insel Sizilien gewann die Krankheit in den
Herbstmonaten eine epidemische Gestaltung, besonders in der Stadt
Palermo und der gleichnamigen Provinz. Die Zahl der Opfer, welche
die Cholera während des Jahres 1885 im ganzen Königreiche Italien
gefordert hatte, betrug 26000. Ebenso schwer hatte Italien in den
beiden nächstfolgenden Jahren unter der Cholera zu leiden. Schon im
April 1886 zeigte sie sich in Brindisi und gleichzeitig in Venetien,
erlangte von hier aus sowohl in Norden wie im Süden des König-
reiches eine Ausdehnung, deren Akme auf den Monat August fiel und
deren Niedergang erst gegen Mitte Oktober zu konstatieren war. Im
März 1887 erwachte sie neuerlich in Sicilien, setzte in Calabrien auf
das Festland über und etablierte auf dessen südlicher Hälfte ihre
epidemische Herrschaft, unter welcher sie sich besonders in die Stadt
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 52
818 Victor Fossel.
und Umgebung von Neapel hartnäckig eingenistet hatte. Erst im
Herbste 1887 war die seit 4 Jahren über Italien verbreitete Invasion
der Cholera zum Abschluss gekommen.
Im Anschlüsse an die oberitalienische Choleraepidemie erfolgte
im Juni 1886 die Einschleppung der Krankheit in Triest; die hier
bis zum Ausgang des Jahres in massiger Höhe epidemisierte. jedoch
im unmittelbaren Gefolge eine grössere Eeihe von Erkrankungen und
Todesiällen in den benachbarten Kronländern Istrien, Görz und
Gradiska, Krain und Dalmatien verursacht hatte. Nahezu gleich-
zeitig mit Triest wurde die Hafenstadt Fiume infiziert und bald
darauf die Seuche nach Kroatien und in das Innere von Ungarn
übertragen, wo sie von Raab, Budapest und Szegedin ausstrahlend,
nach verhältnismässig mildem Verlaufe Ende Januar 1887 erlosch.
Im übrigen Europa beschränkte sich die Cholera im Jahre 1886 auf
einzelne lokale Ausbrüche in Spanien und in der Bretagne.
Im Jahre 1887 entwickelte sich die Cholera, wie schon ange-
deutet, auf der apenninischen Halbinsel, und zwar vorwiegend in den
Provinzen Sicilien, Calabrien, Neapel und in Rom zu schweren Epi-
demien. Gleichzeitig war sie auch auf Malta zum Ausbruch gekommen.
Ausserhalb Europas hat die Seuche im Jahre 1886 in Japan auf
das heftigste gewütet; von 155000 Erkrankten waren ihr 109 000
erlegen. Nicht um vieles geringer waren ihre gleichzeitigen Ver-
wüstungen auf der Halbinsel Korea. Auf der westlichen Hemisphäre
wurde die Cholera im November 1886 durch ein aus Genua an-
gekommenes Schifi" in Buenos Ayres eingeschleppt, verbreitete sich
1887 nach Uruguay, der argentinischen Republik, Paraguay und er-
schien zum erstenmal in Chile, ohne aber über Santjago hinauszu-
greifen. Im Laufe des Jahres 1888 dauerten die Verheerungen der
Krankheit in Südamerika fort, die am längsten und schwersten über
Argentinien hereingebrochen war. —
In Europa war mit dem Jahre 1888 eine Cholerapause eingetreten,
die jedoch nur wenige Jahre anhielt.
Sehen wir innerhalb dieser Zeitperiode von der ununterbrochenen
Herrschaft der Seuche in Indien ab, so haben wir doch für das Jahr
1888 ihres Ausbruches auf Manila zu gedenken, an welchen sich der
Zeitfolge nach die Epidemien auf den Sundainseln, den Philippinen
und 1889 jene in Persien und Mesopotamien angereiht haben. In
Vorderasien war jedoch die Cholera nicht bloss auf die letztgenannten
Länder allein beschränkt geblieben, sondern auch 1890 in Kleinasien,
Syrien, Arabien und in Aegypten ausgebrochen. Für die Entwicklung
und weitere Propagation der Krankheit wurden wiederum die unter
den insalubersten Verhältnissen abgehaltenen Pilgerfeste in den heiligen
Stätten von Mekka und Medina zu gefahrvollen Brennpunkten. Eine
im Hedschas eingerissene Epidemie, wahrscheinlich durch Landkara-
wanen aus Yemen eingeschleppt, raifte in kürzester Zeit über 4000
Wallfahrer dahin, während Hunderttausende der heimkehrenden Mo-
hamedaner die Krankheitskeime nach allen Gegenden, vorzugsweise
nach Arabien und seinen Nachbarländern verstreuten.
Ueber diese Gebiete hinaus war die Cholera 1890 in Ostasien,
und zwar in Japan und Shangai, auf afrikanischem Boden in Aegypten
Massaua, Natal und in der Kapkolonie aufgetreten. Selbst Europa
wurde im Sommer 1890 neuerlich durch das Aufflackern der Cholera
in Spanien allarmiert, nachdem sie durch ein vermutlich aus Odessa
sl
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 819
eingelaufenes Schiff in Piieblo de Eugat in der Pi'ovinz Valencia auf-
getaucht war und bald über einen grösseren Teil des Landes sich
ausgebreitet hatte.
Während des Jahres 1891 herrschte die Cholera ausschliesslich
auf dem asiatischen Festlande und auf mehreren dazu gehörigen
Inselgruppen. Wie in Indien die Seuche in bedrohlicher Weise sich
gesteigert und ausgedehnt hatte, so war sie in China und Japan
gleichfalls über die Grenzen der vorjährigen Epidemie emporgewachsen.
Von diesem Herde aus wurden Siara, Ceylon, Java, Celebes und der
sibirische Hafenort Wladiwostok vei-seucht. Unaufhaltsam drang die
Cholera zui' gleichen Zeit im mittleren und westlichen Asien vor,
überzog grössere Gebiete von Afghanistan und Persien, behauptete
sich in Syrien. Mesopotamien und trat in Anatolien wie im Lande
Temen auf. Wie im Vorjahre durch die Sorglosigkeit begünstigt, mit
welcher der Pilgerverkehr namentlich von englischen Schiffsunter-
nehmungen gehandhabt worden war, fand die Seuche neuerlichen Ein-
gang im Hedschas und forderte unter den Besuchern des heiligen
Siekka zahlreiche Opfer. Von den in diesem Jahre auf dem Seewege
angekommenen 46953 Pilgern sollen nur 25553 aus Mekka zurück-
gekehrt sein.
Für diesmal war die Gefahr einer Verschleppung der Cholera,
die zunächst den östlichen Gestaden des mittelländischen Meeres von
Mekka aus gedroht hatte, glücklicherweise ohne Verwirklichung vor-
übergegangen. Dagegen nahm, wie dies schon 1867 und 1879 der
Fall gewesen, die Seuche von einem anderen Zentrum des mohameda-
nischen Pilgerverkehrs, von der indischen Kultiu'stätte Hurdwar aus-
gehend, den Weg nach dem Westen Asiens und nach Europa. Indien,
das seit dem Jahre 1889 unter einer exorbitanten Cholerasterblichkeit
zu leiden hatte, wurde im Jahre 1892 in allen seinen Teilen von
einem der heftigsten Ausbrüche der Krankheit ergriffen. Von der
Gesamtbevölkerung Ostindiens waren im Laufe des Jahres 1892 nicht
weniger als 762 695 Menschen der Cholera zum Opfer gefallen. Unter
den im Monate März in Hurdwar massenhaft versammelten Wall-
fahrern war die Seuche eingerissen und begann nunmehr ihre mörde-
rischen Verheerungen. Tausende von Pilgern waren ihr an Ort und
Stelle erlegen, andere tausende verstreuten den Keim der ^Krankheit
nach allen Eichtungen. Insbesondere die Proräz Pandschab und die
westlichen Nachbarländer wurden in rascher Aufeinanderfolge ver-
seucht. Schon im April und Mai verbreitete sich die Cholera in Af-
ghanistan, Kaschmir, in Persien (im Jahre 1892 betrug die Zahl der
an Cholera Verstorbenen in Persien 64000) bis zu den L^fern des
Kaspischen Meeres und in das transkaspische Territorium, drang von
Baku nach Tiflis, Batum, Asow und Odessa vor, gleichzeitig über
Astrachan die Wolga aufwärts in das innere Eussland, wo die grösseren
Städte die Knotenpunkte der Seuchenausdehnung gebildet haben. So
war die Cholera Mitte Juli zur Zeit der Messe nach Nischni- Nowgorod
und nach St. Petersburg gekommen, hatte alsbald das ganze euro-
päische Mittelrussland sowie ein grosses Gebiet der asiatischen Eeichs-
teile überzogen, war Mitte August in Kiew und im Gouvernement
Lublin, Ende August in Eiga, mehi-ere Wochen später in Eussisch-
Polen aufgetreten und noch bis in den Herbst hinein überall in
voller Zunahme begi'iffen. Bis Ende des Jahres betrug in Eussland
die Gesamtzalil der Erkrankungen 551473, jene der Todesfälle 266200.
ö2*
820 Victor Fossel.
Dieser ausgedehnte Epidemieherd Hess mit Recht eine Invasion für
Mitteleuropa befürchten. Weit früher jedoch, als dies von Osten her
der Fall war, drohte die grösste Gefahr eines Einbruches der Cholera
von Frankreich her. Schon in den ersten Tagen des Monats April
1892 wurde die Krankheit, deren Herkunft unaufgeklärt geblieben
war, im Zuchthause von Nanterre, einem der westlichen Vororte von
Paris und bald darauf ihr Fortglimmen in mehreren abwärts der
Seine gelegenen Nachbarorten konstatiert, indes Paris selbst erst im
Monat Juli infiziert worden war. Um dieselbe Zeit entwickelte sich
die Cholera, eingeschleppt durch einen aus Courbevoie nächst Paris
stammenden Krankheitsfall in Havre zu einem grösseren Herde, trat
im August und September in verschiedenen Hafenstädten der West-
und Südküste des Landes zu Tage und verursachte bis Mitte Oktober
in 20 Departements eine Mortalität von 3184 Todesfällen. Von Havre
wurde Ende Juli die Seuche durch einen Dampfer nach Antwerpen
importiert, wo sie vor allem in dieser Stadt eine stärkere Verbreitung
fand, hingegen in den Provinzen Limburg, Namur, Ostflandern, Lüttich
und Luxemburg weit geringere Dimensionen annahm.
Das grösste Aufsehen erregte der plötzliche Ausbruch der Cholera
in Hamburg-Altona, wo der erste Erkrankungsfall am 16. August sich
ereignete. Trotz sorgfältigster Nachforschung blieb die Quelle der
ersten Infektion unerraittelt. Die rapide Zunahme der Krankheitsfälle
hielt bis Ende August gleichmässig im ganzen Staatsgebiete von
Hamburg an, milderte sich jedoch — geringe Steigerungen ausge-
nommen — vom Anfang des Septembers mit jeder folgenden Woche,
so dass vom 13. Oktober an nur mehr vereinzelte Nachzügler der
Epidemie konstatiert werden konnten. Auffallend und von besonderer
Wichtigkeit für die Beurteilung dieses denkwürdigen Ausbruches war
die Thatsache, dass die Seuche in explosionsartiger, gleichzeitiger
und gleichförmig schwerer Weise über das ganze Weichbild von Ham-
burg, einschliesslich der Vorstädte und Vororte um sich gegriifen hatte,
indes die unmittelbar angrenzende Nachbarstadt Altona einer un-
verhältnismässig geringeren und nur in massigem Tempo zur Aus-
breitung gekommenen Heimsuchung ausgesetzt geblieben war. Während
auf Hamburg in der Zeit vom 16. August bis 23. Oktober 18000 Er-
krankungen und 8200 Todesfälle an Cholera entfielen (auf 1000 Ew.
14, 2) waren in Altona vom 19. August bis Ende Oktober 516 Per-
sonen erkrankt und 316 gestorben (auf 1000 Ew. 2,1), überdies wiesen
darunter 220 Erkrankungsfälle auf Hamburger Ursprung hin. Diese
gravierenden Unterschiede im Gang und Verhalten der beiden Nachbar-
epidemien hat R. Koch mit voller Bestimmtheit auf den Einfluss der
der Wasserversorgung zurückgeführt, die in Hamburg in der Entnahme
des nur mangelhaft gereinigten Eibwassers bestand, indes Altona weit
günstigere Einrichtungen aufwies. Aehnliche bessere Verhältnisse
lagen auch im benachbarten Wandsbeck vor, wo gleichfalls die Cholera
nur eine kleine Zahl von Opfern gefordert hat.
Von Hamburg aus erfolgte eine Reihe von Infektionen im Deut-
schen Reiche; andere Seuchenherde innerhalb des Reiches zeigten aber
entschieden auf die Einschleppung der Cholera aus den westlichen
oder östlichen Nachbarländern hin. Ausserhalb Hamburg wurden im
Deutschen Reiche während der Herbstepidemie 267 Ortschaften von
der Cholera infiziert und 1639 Erkrankungen mit 1255 Todesfällen
gemeldet. Hierbei ergaben die Erhebungen, dass die Verbreitung der
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 821
Krankheit weniger dem Landwege, sondern weit mehr dem Schiflfs-
verkehre auf den Wasserstrassen gefolgt war und sich in dieser Weise
zunächst im Stromgebiete der Elbe in Lauenburg und Boizenburg, im
Flussgebiete der Oder in dem Aufflackern der Seuche in Stettin ma-
nifestierte. Viel geringer war die Anteilnahme des Rheingebiets an
der Lokalisation von Choleraherden, die übrigens auch im Weichsel-
gebiete nur vereinzelt geblieben waren. Durch den Schiffsverkehr
gelangte Ende August die Cholera von Hamburg nach den Nieder-
landen, gewann zuerst in Rotterdam, dann in Dordrecht und verschie-
denen anderen Städten eine jedoch nur beschränkte Ausdehnung,
In Oesterreich konzentrierte sich im Jahre 1892 die Cholera, deren
Herkunft auf eine Importation aus Russland schliessen liess, vor-
wiegend auf Galizien, wo in der Zeit vom 8. September bis 31. Oktober
von 207 Erkrankten 119 der Seuche erlegen waren. Späterhin trat
sie nur in sporadischen Fällen auf und war Ende Januar 1893 er-
loschen. Gleichzeitig war sie Ende September in Budapest erschienen,
entwickelte sich hier zu epidemischer Gestalt, verbreitete sich zumeist
der Donau und ihren Nebenflüssen entlang in mehreren Städten des
ungarischen Tieflandes und griff teilweise mit ihren Ausläufern nach
Kroatien- Slavonien hinüber. Nachdem mit dem Eintritt des Winters
die Cholera fast überall erloschen war, begann am 6. Dezember eine
milde verlaufende Nachepidemie in Hamburg, an welche sich eine
geringe Winterepidemie in Altona und der plötzliche Ausbruch der
Krankheit in der Irrenanstalt Nietleben bei Halle anreihten.
Zu Beginn des Jahi-es 1893 war die im Vorjahre über den
grössten Teil des russischen Reiches ausgedehnte Choleraepidemie in
vielen Gebieten noch nicht im Schwinden. Sie herrschte namentlich
in Podolien, Bessarabien und in den südlichen Gouvernements des
europäischen Russlands ohne Unterlass, nahm ihre Wanderungen mit
Frühjahr von neuem auf und bedrohte insbesondere durch ihre Wieder-
kehr in den westlichen Verwaltungsbezirken wie in Polen die zentralen
Staaten des Kontinents. Immerhin war aber die Seuche diesmal in
Russland beiweiten milder aufgetreten als im Vorjahre, obgleich sie
territorial noch einen grösseren Umfang erreicht hatte.
In Oesterreich - Ungarn erfolgte der Wiederausbruch der über
Winter pausierenden Seuche mit Anfang des Sommers in den an der
oberen Theiss gelegenen Komitaten Ungarns. Sie verzweigte sich
einerseits nach Siebenbürgen, andererseits bis über das rechte Donau-
ufer hinaus, rief in einzelnen Städten stärkere Lokalepidemien hervor
und schritt nach Bosnien, wo sie im Kreise Doljna-Tuzla einen ziem-
lich schweren Ausbruch verursachte. Gleichzeitig mit der Invasion in
Ungarn erschien die Cholera wiederum in Galizien, erreichte hier im
August und September ihren Höhepunkt und nahm erst mit Schluss
des Jahres ein Ende, nachdem von 1523 Erkrankten 896 gestorben
waren.
In Frankreich, wo den Winter hindurch eine geringe, aber fort-
laufende Kette von sporadischen Cholerafällen zur Beobachtung ge-
langte, waren im Frühling 1893 neue und grössere Krankheitsnach-
schübe zu verzeichnen, und zwar in den Departements Morbihan,
Herault, Finisterre, in der Stadt Nantes und an mehreren Hafenplätzen
der West- und Südküste. Eine mittelschwere Zunahme von Cholera-
fällen ereignete sich im Sommer in Belgien, speziell in Antwerpen,
Ostflandern und Hennegau.
822 Victor Fossel.
Das Deutsche Reich blieb im Jahre 1893 gleichfalls von der
Cholera nicht verschont, obgleich es zur Bildung stärker anschwellen-
der Epidemien nicht gekommen war. Nur in den Herbstmonaten fand
in Hamburg, Stettin und Umgebung, endlich in Tilsit in Ostpreussen
eine Bildung kleiner lokaler Herde statt.
In den südlichen Ländern Europas war die Cholera im Sommer
und im Herbst 1893 im Königreiche Italien in Piemont, in Neapel und
Palermo vorübergehend erschienen, während Spanien nur von verein-
zelten kleinen Lokalisationen der Seuche betroffen wurde. Eine
grössere Exacerbation zeigte die Cholera in Rumänien und gegen
Schluss des Jahres in Konstantinopel. Ausserhalb Europas, und ohne
nähere Bedach tnahme auf die Fortdauer der Epidemien in Vorder-
indien, entwickelte sich die Cholera in Persien und Mesopotamien, be-
sonders in Bagdad, später in Basra am persischen Golfe. Wiederum
kam es diesmal unter den Pilgern von Mekka zu verheerenden Massen-
erkrankungen, die durch Verschleppung zu frischen Krankheitsaus-
brüchen in Algier und Tunis Anlass gaben.
Eine teilweise Aehnlichkeit bot der Gang und die Ausbreitung
der Cholera im Jahre 1894. Auch in diesem Jahre war die Seuche
im russischen Reiche, während des Winters kaum zurückweichend, mit
Anfang des Frühlings von neuem ausgebrochen, griff nach Galizien
über, wo sie im Flussgebiete des Dnjestr und der Weichsel epidemisch
sich einnistete und in vielen anderen Bezirken des Landes aufflackerte.
Vom 7. April bis Jahresschluss zählte man in Galizien an 15000 Er-
krankungen und 8200 Todesfälle an Cholera. Ausserdem waren in
der Bukowina mehr als 600 Bewohner der Krankheit erlegen. — In
Frankreich trat, soweit sich die Nachrichten verfolgen lassen, die
Cholera in den ersten Monaten des Jahres im Departement Finisterre
stärker hervor, ebenso im August und September in dem der belgi-
schen Grenze nächstgelegenen Norddepartement, wie in Paris und
Marseille. Belgien und die Niederlande wiesen kleinere Sommer-
epidemien auf, die nur in den Provinzen Lüttich, Limburg und in den
atlantischen Küstenstrichen eine stärkere Krankheitsziffer erreichten.
Innerhalb des Deutschen Reiches blieb die Cholera westwärts der Elbe
nur auf vereinzelte Fälle beschränkt, verursachte aber während der
Monate September und Oktober einige territorial eingeengte und ver-
hältnismässig rasch ablaufende Ausbrüche im Regierungsbezirke Oppeln
wie in Ost- und Westpreussen. In der europäischen Türkei wurden
Adrianopel und Konstantinopel von der Cholera stärker betroffen, die
auch in Kleinasien mehrere Städte und Landschaften eroberte, wo sie
noch im folgenden Jahre geraume Zeit anhielt.
Während des Jahres 1895 hat die Seuche innerhalb der europäi-
schen Staaten nur im westlichen Russland und in Galizien Fuss ge-
fasst. Von Mekkapilgern verschleppt, war sie nach Damiette und
Marokko übertragen worden. In Ostasien hauste sie besonders heftig
in Südchina und Japan. Im Jahre 1896 erneuerten sich die Aus-
brüche der Krankheit in Aegypten, ohne jedoch über das Nilland
hinauszugreifen. Die nächstfolgenden Jahre hindurch bis zum Schlüsse
des Jahrhunderts war die Cholera ausserhalb ihres engeren indischen
Heimatsgebietes nirgends zu einer bemerkenswerten Erscheinung ge-
kommen.
Ueberblicken wir den in seinen hauptsächlichen Zügen dar-
gestellten Gang der Cholera, so müssen wir dieselbe nach ihrer Aus-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 823
dehnung, nach der Vehemenz ihres Auftretens und der Höhe der ver-
ursachten Menschenverluste als die schwerste Weltseuche der neueren
Geschichte bezeichnen. Ihre Verwüstungen entziehen sich jedoch
einer ziffermässigen Abschätzung und selbst die relative Einbusse an
Menschenleben, die sie den einzelnen Völkern und Staaten bei ilirem
jedesmaligen Umzüge beigebracht, lässt sich kaum annähernd be-
rechnen. Die Geschichte der Cholera ergibt, dass sie bei jeder neuer-
lichen Wanderung gewisse Landstrecken und Verkehrswege bevor-
zugt, dabei im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weitere Kreise
gezogen und nahezu die ganze bewohnte Erde berühi't hat. Nur
wenige Länder, wie Australien, einzelne Landstriche von Süd- und
Westafrika, die südlichsten wie die nördlichsten Teile des ameri-
kanischen Kontinents, Island, die schottischen und Faröer-Inseln,
Lappland, die nördlichen Gebiete des europäischen und asiatischen
Russland und endlich einzelne Inseln des Stillen Ozeans sind bisher
von ihrer Invasion verschont geblieben. Unter den von der Seuche
heimgesuchten Ländern gab es aber wiederum einzelne Strecken und
Gegenden, die des mangelnden Verkehres oder anderer Ursachen willen
der Krankheit gänzlich sich entzogen, ohne dass dieser Schutz in einer
bestimmten Beschaffenheit oder Elevation des Bodens begründet ge-
wesen wäre. Ebenso geht aus dem Vergleiche der einzelnen Wander-
züge hervor, dass die Cholera niemals und an keinem Orte ausserhalb
ihrer indischen Heimat autochthon sich zu entwickeln vermocht hat,
denn die hierfür aufgestellten Behauptungen waren lediglich von
oberflächlichen Voraussetzungen und falschen Schlussfolgerungen aus-
gegangen.
Xaturgemäss hat die Cholera von ihrem ersten, in das Jahr 1817
fallenden Bekanntwerden den Geist denkender Aerzte mächtig au-
geregt, um die Ursachen und Verbreitungswege derselben zu ergründen.
Gerade die Cholera, die selbst in ihrer Heimat den damaligen Beob-
achtern als eine völlig neue, rätselhafte Seuche erschienen war, hat
ihre ersten Stürme mit äusserster Bösartigkeit in Szene gesetzt, im
Laufe der Zeit aber mit ganz verschiedenartiger In- und Extensität
die einzelnen Landschaften, Städte und Ansiedelungen heimgesucht.
Nach kürzerer oder längerer Herrschaft war sie auf Jahre hinaus
wieder verschwunden, oder aber bei dem nächsten Zuge nicht selten
in die früheren Sitze zurückgekehrt; andernteils war sie über die vor-
maligen Seuchenherde sprungweise hinweggeschritten, um sich in
nahegelegenen oder ferneren Stellen zum erstenmal einzunisten.
Ueberall trat sie mit voller Gleichartigkeit auf, von denselben Merk-
malen und Begleiterscheinungen gefolgt. Was lag demnach näher, als
besondere von den übrigen Volkskrankheiten abweichende Seuchen-
ursachen anzunehmen, ihre Weiterentwicklung auf eigentümliche, mit-
wirkende Aussen Verhältnisse zurückzuführen? Die anfänglich in Indien
propagierte Erklärung, es handle sich um eine Vergiftung durch ver-
dorbenen Reis, wurde bald als hinfällig aufgegeben. Um so lebhafteren
Beifall errang die Annahme, die Krankheit, die in Sumpfgegenden
entsprungen sei und häufig den Tiefebenen wie den Flussthälern ent-
lang fortschreite, müsse in bestimmten organischen Effluvien bedingt
sein und daher auf miasmatischem Wege ihre Verbreitung erlangen.
Nicht lange hielt jedoch dieser Glaube Stand. Die in darauffolgenden
Epidemien gemachten Erfahrungen, wonach die Seuche unbekümmert
um Niederungen oder Hochgebirge die Völker überfiel, verhalf der
824 Victor Fossel.
Meinung zum Ueb ergewichte, die Cholera sei eine eminent kontagiöse
Krankheit, gegen deren Einschleppung nicht genug schwere Ab-
sperrungsmassregeln ins Werk gesetzt werden konnten. Schon in den
Jahren 1829 und 1830, als die Cholera über Russland zum erstenmal
nach dem mittleren Europa vorgedrungen war, beeilten sich einzelne
Regierungen, die schärfsten Anordnungen über die Grenzsperre und
Reinigung verdächtiger Menschen und Waren zu erlassen, während
andere Staaten, gestützt auf die Nutzlosigkeit aller der gegen die
erste Invasion der Cholera in Russland und Preussen geübten, drako-
nischen Verkehrsbeschränkungen an dem miasmatischen Ursprung der
Seuche festhielten. Getragen von der noch im IV. Dezennium allge-
mein geltenden Lehre der Macht des „gastrisch-biliösen Krankheits-
charakters" neigte die Mehrzahl der damaligen Aerzte zur Theorie
des Miasmas hin, zu deren Unterstützung man bereitwilligst Witte-
rungsverhältnisse und sonstige ungewöhnliche Naturerscheinungen
heranzog.
Während vom ersten Wanderzuge der Cholera auf europäischem
Boden die ärztliche AVeit hinsichtlich der Natur der Krankheit in
Miasmatiker und Kontagionisten gespalten war, lenkte sich unmittel-
bar nach den ersten europäischen Epidemien das Augenmerk der
Forscher auf den parasitären Charakter der Seuche. Man fabelte von
„Choleratierchen", die vom fernen Osten stammend, das Firmament
verdunkelt haben sollten. Später gewann die Hypothese von einem
„Choleragifte", dessen Wesenheit aber keiner Definition zugänglich
war, mehrfachen Anklang. Von der Voraussetzung ausgehend, dass
Mikroorganismen die Träger und Vermittler des Ansteckungsstoffes
seien, war der Eifer der Pathologen frühzeitig darauf gerichtet, im
Blute, in den Se- und Exkreten der Kranken sowie in den Organen
der an Cholera Verstorbenen den vermutlichen Krankheitskeira zu
entdecken. Die anfänglichen Versuche, die sich hauptsächlich mit der
Auffindung von Organismen, analog den Gärungspilzen, befasst hatten
(Böhm 1838, Brittan, Swayne, Pouchet 1849) waren ebenso
erfolglos ausgefallen wie die nachmals von Pacini (1854), Klob,
Thome und Hallier (1867) angestellten Nachweise der vorgeblich
dem Choleradarme eigentümlich zukommenden Formelemente, in welchen
man die spezifischen Cholerakeime erblicken wollte. Gleich unbe-
friedigend blieben die Experimente mit künstlicher Infektion von
Tieren, denen man Blut, Sekrete und namentlich Ausleerungen Cholera-
kranker einverleibt hatte. (Magen die 1839, J. Meyer 1852,
Lindsay 1854, Thiersch 1856 u. a. m.)
Während diese in der Kindheit der Bakteriologie und des Tier-
experiments gelegenen, durch die Unvollkommenheit der Instrumente
und Fehlerquellen der Untersuchungsmethoden bedingten Vorarbeiten
in der Aufdeckung organisierter Krankheitskeime bald als Irrtümer
erkannt und vorderhand in der Lehre von der Choleraätiologie zurück-
gestellt worden waren, blieb die Annahme eines spezifischen Cholera-
giftes, ohne jedoch dessen Existenz nachweisen zu können, im Vorder-
grunde des allgemeinen Interesses. Die Tatsache, dass die Krankheit
durch den menschlichen Verkehr, insbesondere durch Cholerakranke
selbst ihre Verbreitung finde, gewann frühzeitig die Anerkennung
vieler Epidemiologen. Daneben drängte sich aber, zumal bei der
örtlich und zeitlich höchst wechselvollen, und selbst innerhalb eng
begrenzter menschlicher Wohnplätze ganz ungleichartigen Ausstreuung
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 825
des siipponierten KranklieitsstofFes die Ueberzeugung auf, es müsse
letzterer durch bestimmte lokale, atmosphärische und tellurische Ver-
hältnisse seine Vervielfältigung erfahren. Die u. a. schon 1835 an-
lässlich der Epidemie in Südfrankreich von Hergt, Rech und
Dubrueil behauptete Beeinflussung des Kontagiums durch lokale
Verhältnisse liess die Frage offen, ob der Luft, dem Boden oder dem
Wasser der hauptsächlichste Anteil an dem Zustandekommen einer
Epidemie zugeschrieben werden müsse. Die Engländer Snow. Budd
(1849 u. ff.) bezeichneten die Atmosphäre, den Untergrund und das
Trinkwasser als die eigentlichen Medien des Krankheitsgiftes, welche
Ansicht insbesondere im Kreise ihrer Landsleute viele Anhänger er-
warb und 1851 in Deutschland an Bärensprung einen beredten
Vertreter gewann. Ja Snow^ und nach ihm Simon beschuldigten
nach dem Ergebnis der Untersuchungen über die Londoner Epidemien
der Jahre 1849 und 1854 dii^ekt das Trinkwasser als Hauptquelle der
Cholera Verbreitung. Hingegen schrieben 1832 Boubee, 1849 Four-
cault nach französischen Beobachtungen gewissen geologischen Eigen-
schaften des Bodens und seiner Feuchtigkeit einen ausschlaggebenden
Einfluss auf die Ausbreitung einer Choleraepidemie zu, deren Entwick-
lung Farr (18491 jedoch lediglich als von der Elevation eines Ortes
abhängig hinstellen wollte.
Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts diskutierten Auschauungen
über die Pathogenese der Cholera traten in ein neues, bedeutsames
Stadium, als Max von Pettenkofer im Jahre 1855 mit seinen
Studien über die Verbreitungsart der Cholera hervortrat. Die mit be-
wunderungsw'ürdigem Scharfsinn und mit fester Ausdauer verfochtenen
Lehren des verdienstvollen Hygienikers sind so allgemein bekannt, dass
wir in dieser geschichtlichen Skizze nur in knappen Andeutungen
uns auf die Pettenkofer 'sehen Grundsätze beschränken wollen.
Er erkannte in der Beschaffenheit des Bodens, vor allem in seinem
physikalischen Aggregatzustande, in der hierdurch bedingten Porosität
und Durchfeuchtung des Untergrundes wie in dessen Imprägnierung
mit organischen Stoffen das wichtigste und allein entscheidende
Moment in der Verbreitung der Cholera. Dieser als ,,örtliche Dispo-
sition" bezeichnete Einfluss der Lokalität schliesse die temporäre oder
dauernde Immunität vieler Städte oder Stadtteile in sich, während in
der durch die Jahreszeiten, durch die Witterungs- und Bodenverhält-
nisse hervorgerufenen verschiedenen Durchfeuchtung und Durch-
wännung des Untergrundes, in dem wechselnden Stande des Grund-
wassers die „zeitliche Disposition** gelegen sei. Der menschliche Ver-
kehr vermittle den spezifischen Cholerakeim, zu dessen epidemischer
Verbreitung jedoch die disponierten Bodenverhältnisse als unerläss-
liche Faktoren in Mitwirkung zu kommen haben. Ebenso wie die
Cholera nicht unmittelbar von Kranken auf Gesunde übertragbar sei,
ebenso gering sei die Vermittlung des Kontagiums durch das Trink-
wasser zu veranschlagen, das vielmehr durch die Atemluft dem mensch-
lichen Körper einverleibt werde. Hierbei ging Pettenkofer von
der Grundanschauung aus, dass der Cholerakeim an sich nicht konta-
giös sei, seine Entwicklung nur ausserhalb des Menschenleibes er-
fahre, überhaupt zu seiner Virulenz des günstigen Bodens bedürfe,
um sodann im infektionstüchtigen Zustande emporzusteigen und An-
steckung zu bewirken.
Die von Pettenkofer im Laufe der Dezennien festgehaltene
826 Victor Fossel.
und nur in wenigen Beweisführungen modifizierte Lehre von der
Aetiologie und Verbreitung der Cholera, späterhin als ,, loka-
listische Lehre" bezeichnet , fand naturgemäss ihre Anhänger
und Gegner. Die „Bodentheorie" wurde für die Pathogenese des
Abdominaltyphus und der Cholera zum Brennpunkt der Verhand-
lungen und der Kämpfe.
Im Zeiträume 1855 — 1883, dessen Marksteine einerseits die Stu-
dien Pettenkofer's, andererseits die bahnbrechenden Arbeiten
K 0 c h ' s bilden, trat immer deutlicher die Annahme eines spezifischen,
organisierten Cholerakeimes in der Aetiologie der Seuche hervor. Die
Existenz eines solchen Krankheitsträgers wurde, wenn auch als eine
noch unbekannte Grösse, mit einer gewissen Zuversicht in der Cholera-
frage in Rechnung gebracht. Damit im kausalen Zusammenhange
stand die von der überwiegenden Schar der Beobachter festgehaltene
Ansicht, dass das infizierende Cholera - Agens in den Dejekten des
Kranken enthalten sei. Während die eine Partei von dem suppo-
nierten Keime die unmittelbare Ansteckung ableitete, negierte Petten-
kofer diese Voraussetzung und erblickte in der Choleralokalität das
unbedingt erforderliche Zwischenglied für das Zustandekommen einer
epidemischen Ausbreitung. Abweichend von der Münchner Schule waren
die meisten Forscher darüber einig, dass dem menschlichen Verkehre
an sich, namentlich den Kranken, deren Wäsche und Effekten u. s.w.
nach den an allen Orten und zu allen Epidemiezeiten gewonnenen Er-
fahrungen eine ganz besondere Wichtigkeit und Bedeutung zukomme.
Das erdrückende Beweismateriale, welches die konstant wiederkehrende
Verschleppung der Cholera durch den Pilgerverkehr in Ostindien,
Arabien u. a. 0. an die Hand gegeben hatte, musste naturnotwendig
die Beziehungen des Verkehres zur Krankheitsausstreuung in die
schärfste Beleuchtung rücken. Nur die kleine Fraktion der sogen.
Autochthonisten, als deren Wortführer Cuningham und Guerin
genannt sein mögen, stellte den Einfluss des Verkehres in Abrede.
Sie leugneten überhaupt die Hypothese eines spezifischen Infektions-
stofi'esj dessen mittelbare oder unmittelbare Virulenzentwicklung, son-
dern verteidigten den Standpunkt, dass die Cholera, überall als Cholera
nostras vorkommend, zeitweise unter unbekannten atmosphärischen
und tellurischen Einflüssen, unter einem prädisponierenden Genius
epidemicus und unter Mitwirkung eines durch vorangehende Zunahme
der Diarrhöen sich kundgebenden Cholerakonstitution zu epidemischer
Gestalt sich ausbilden könne. Die bizarre Theorie Bryden's, die
Cholera werde aus ihrem endemischen Gebiete nicht etwa durch den
menschlichen Verkehr, sondern durch den Monsun wind als „Cholera-
woge" weitergetragen, hat gebührendermassen allseitige Abfertigung
erfahren.
Der schärfste und erbittertste Streit entbrannte aber innerhalb der
uns beschäftigenden Periode über die Medien der Krankheitsverbreitung,
über die Hilfsursachen der Cholera. Waren zu jener Zeit die Beob-
achter noch nicht in die beiden Hauptlager der Lokalisten und Kon-
tagionisten mit ihrem streng umschriebenen Glaubensbekenntnisse ge-
schieden, so fallen doch schon mit dem Beginne dieses Zeitabschnittes
die festen Ansätze zweier Richtungen zusammen, die wir um des vor-
nehmsten Streitobjektes willen füglich als die Anhänger der Boden-
theorie und der Trinkwassertheorie bezeichnen dürfen. Wir verweisen,
dass die von Pettenkofer formulierten Gesetze der Abhängigkeit
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 827
der Choleragenese von dem wechselnden Zustand des Bodens während
zahlreicher Lokalepidemien keineswegs als sicher zutreffende Beweise
eine Bestätigung gefunden haben, dass die vielbesprochene Immunität
bestimmter Städte und Stadtteile keine absolute und überdies oft in
anderen örtlichen Verhältnissen als nur in der Bodeubeschaffenheit be-
gründet gewesen war. Wie gegen die örtliche Disposition mit den
zu ihren Gunsten aufgestellten Argumenten wurden gegen die all-
gemeine Gültigkeit der zeitlichen Disposition gewichtige Einwendungen
erhoben. Aus den in Europa und Indien gemachten Beobachtungen
wollte man nur eine beschränkte Koincidenz der Cholerafrequenz mit
den Jahi'eszeiten und den durch diese verursachten atmosphärischen
Niederschlägen zugestehen, weiter von der ßegelmässigkeit zwischen
dem Ansteigen der Cholera und dem Sinken des Grundwassers be-
trächtliche Abweichungen erkannt haben. Nicht weniger lebhaft be-
stritt man die von Pettenkofer als Hauptstütze seiner Grundsätze
herangezogene Seltenheiten von Cholera auf Seeschiffen und die Ab-
leugnung des epidemischen Vorkommens der Krankheit auf Schiffen
überhaupt. Die bekannt gewordenen Beispiele von Schiffsepidemien
waren mindestens geeignet, die volle Stichhaltigkeit der behaupteten
Thatsachen in Zweifel zu ziehen. Der gewichtigste Einwurf gegen
die exklusive Abhängigkeit der Cholera vom Boden und Grundwasser
wurde aber aus der grossen Eeihe von Beobachtungen abgeleitet,
welche in einer kaum misszuverstehenden Deutlichkeit den kausalen
Zusammenhang zwischen der Choleraverbreitung und dem Trinkwasser
erbrachten. Wii' erinnern an die bereits angedeuteten Mitteilungen
über die von Snow und Simon in den Jahren 1849 und 1854 in
London geschöpften Erfahrungen über die Ausbreitung von Cholera-
epidemien im Bereiche bestimmter Wasserleitungen, eine Kongruenz,
welche 1866 für London neuerliche Bestätigung gefunden hatte. In
einer grossen Zahl von Städten und Ortschaften in Deutschland, Eng-
land u. a. m. trat zu Zeiten von Cholera die Ausdehnung der Krank-
heit, bezw. das Verschontbleiben ganzer Gebiete oder einzelner Teile
je nach den besonderen lokalen Einrichtungen der Wasserversorgung
augenfällig zu Tage. Eine reiche Zahl eiuschlägiger Beispiele hatten
indische Aerzte bekannt gemacht und nachgewiesen, wie in einzelnen
Städten oder Anstalten die Anlage klagloser Quellenleitungen einen
rapiden Abfall der Choleramorbidität gezeigt habe. Allen diesen That-
sachen aber setzte Pettenkofer ein starres non licet entgegen,
denn er schob die eklatanten Folgen der verbesserten Wasserver-
sorgung lediglich dem Einflüsse einer geordneten Kanalisierung zu.
Einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Lehre von der
Cholera bildet die Entdeckung des Kommabacillus, welchen R. Koch
durch seine 1883 und 1884 in Aegpten und in Ostindien angestellten
Untersuchungen als den spezifischen Krankheitsen-eger der Cholera
indica aufgefunden und als solchen experimentell festgestellt hat.
Trotz der erhobenen Einwürfe und Zweifel, trotz der Narahaftmachung
ähnlicher, aber in Wesenheit völlig differenter Vibrionen (Finkler-
Prior, Denecke, Metschnikowu. a.) hat die ärztliche Welt den
Koch'schen Bacillus als den eigentlichen Krankheitskeim der Cholera
anerkannt. Sein konstantes Vorkommen in allen Fällen von asiatischer
Cholera (im Darm und den Entleerungen der Kranken), seine An-
wesenheit in faulenden und fliessenden Gewässern, u. a. in gewissen
Tanks nächst Calcutta, in welche erwiesenermassen überall eine Ver-
828 Victor Fossel.
unreinigung durch Choleradejekte gelangt war, die durch absichtliche
oder zufällige Einverleibung von Kommabacillen bei Tieren und
Menschen zu Tage getretenen charakteristischen Leichenbefunde, bezw.
Krankheitssymptome und der Nachweis der Koch' sehen Cholera-
vibrionen im Darm der Versuchsobjekte sichern in unwiderleglicher
Weise deren fundamentale Bedeutung in der Choleragenese.
Koch's Entdeckung hat mit einem Schlage die Anschauungen
der Aerzte in neue Richtungen gelenkt und die Diskussion hervor-
ragender Körperschaften auf das lebhafteste beschäftigt. Die Cholera-
konferenzen in Berlin in den Jahren 1884 und 1885, die im Jahre 1885
durchgeführten Verhandlungen der Pariser Academie de Medecine, die
Cholerakonferenz in London und die internationale Sanitätskonferenz
in Rom während des gleichen Jahres gaben ein glänzendes Zeugnis
von der Klärung und Wandlung der wissenschaftlichen Auffassung
über die Entstehung, Verbreitung und Verhütung der Cholera. Die
seit dem Jahre 1883 beobachteten Epidemien in und ausserhalb
Europa vervollständigten, soweit dies überhaupt menschenmöglich ge-
wesen ist, die Grundanschauungen, aus denen die gegenwärtige Lehre
von der Cholera sich aufgebaut hatte; sie boten zugleich das prak-
tische Versuchsfeld im grossen, um an der Hand der modernen
Forschungen auch erfolgreiche Stützpunkte für die öffentliche Ab-
wehr der verhängnisreichen Seuche zu gewinnen.
VI. Ruhr.
Litte ratur.
(Ausser den Schriften von Hippokrates, Celsus, Aretäus, Caelius
Aurelianus, Alexander von Tralles): Sennert, Opera, 1641. — Fabric,
Hildanus, Opera, 1646. — Willis, Opera, 1681. — Morton, Opera, 1696. —
Degner, Hist. med. de dysenteria, 1750. — Zimmermann, Von der Ruhr.,
1765. — Baidinger, Von d. Krankheiten d. Armee, 1765. — Pringle, l. c. 1772.
— Cleghorn, Beoh. üb. die epid. Krankh. auf Minorca, 1776. — Mursinnu,
Beoh. üb. d. Ruhr %<,. die Faulfieber, 1780. — Sydenham, l. c. 1786. — Rollo,
Neue Bemer}cg. üb. d. Ruhr, 1787. — Stoll, Ratio tnedendi. Pars III, 1788. —
van Geuns, Ueb. d. epid. Ruhr, 1790. — Harless, Antiquitates dysenteriae,
1801. — Hörn, Versuch, üb. d. Natur und Heilung der Ruhr, 1807. — Four-
nier, Art. „Dysenterie'''' in Dict. d. sc. med. Tom. X, 1814. — Wunderlich, Hdb.
d. sp. P. u. Th. III. Theil 1846. — JBamberger, in Virchoiv's Hdb. d. sp. P. u.
Th. Bd. VI 1855. — Virchow, Kriegstyphxis und Ruhr, Archiv 52. Bd. 1871. —
Heubner, in Ziemss. Hdb. d. sp. P. u. Th. III. Auf.. II. Bd. 3. Abth. 1886. —
Creighton, l. c 1891J94. — Kartulis, in Nothnagels Hdb. d. sp. P. u. Th.
V. Bd. 3. Abth. 1896. — Scheube, Die Krankh. d. ivarm. Länder, IL Aufl. 1900.
— Ebstein, Ueb. d. Mittheilg. v. Jacob Bontius . . . Janus VII 1902.
Soweit die Schilderung von Krankheiten bei den Schriftstellern
des Altertums sich verfolgen lässt, wird die Dysenterie erwähnt oder
ein Krankheitsprozess beschrieben, dessen Symptome mit jenen der
Ruhr nähere oder entferntere Verwandtschaft besitzen. Schon die von
den Hippokratikern stammende Bezeichnung „Dysenterie", in die
Latinität mit dem Ausdrucke „Difficultates intestinorum" übertragen,
weist auf die Vielgestaltigkeit des Leidens hin, dessen Ursache je
nach der Beschaffenheit der Darmausscheidungen zunächst in dem Vor-
walten einer der Kardinalflüssigkeiten des Körpers gesucht wurde.
Hippokrates unterscheidet Diarrhöen, Tenesmus und Lienterie von
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 829
der Eulir, gedenkt der bei letzterer vorfndlichen Verschwärungen der
durch „Abschaben des Darmes" und durch Blutungen bewirkten cha-
rakteristischen Merkmale. Ar et aus giebt eine vortreffliche Dar-
stellung des Krankheitsbildes und der im Dünn- oder Dickdarme
lokalisierten Geschwüre. Nebst ihm hat C e 1 s u s ( er nennt das Leiden
..tormina"), Galenus, vor allem Caelius Aurelianus die Patho-
logie. Alexander von T r a 1 1 e s die Therapie der Krankheit ge-
würdigt. Die von letzteren Autoren gelehrte Auffassung der Dysen-
terie in ihrer ätiologischen Abhängigkeit von den vier Humores führte
zur Aufstellung einer katarrhalischen (Schleim), entzündlichen ! Blut),
biliösen und atrabiliösen (exulcerierenden) Ruhrform. Es war damit
allerdings der Verschiedenartigkeit des Prozesses Rechnung getragen,
aber zugleich die Konfundierung genetisch voneinander getrennter
Bauchflüsse (rheumatismus intestinorum cum ulcere. fluxus cruentus
cum tenesmo. fluxus dysentericus) mit anderen Darmerkrankungen in
Uebung gekommen.
Die Aufmerksamkeit der Aerzte war zu allen Zeiten auf das Vor-
kommen der Ruhr gerichtet ; in der hellenischen Heilkunde ist es aber
zumeist nur die sporadische und endemische Dysenterie, welche die
Beachtung der Gewährsmänner findet, wählend die epidemische Form
weder im Altertum noch im Mittelalter nähere, verlässliche Aufzeich-
nungen erkennen lässt. Ob den verschiedenen Kriegsseuchen jener
Zeitperioden auch die Ruhr beizuzählen ist, darf mit aller Wahrschein-
lichkeit angenommen werden, denn die Geschichte lehrt, dass die
Krankheit den Heeren der Völker seit jeher gefolgt ist. So soll bei-
spielsweise das persische Heer, das im Jahre 480 v. Chr. unter Xerxes
nach Thessalien und Griechenland gezogen war, unter einer epidemi-
schen Dysenterie schwer gelitten haben. Unter den verschiedenen
Krankheitsformen, die der attischen Pest von späteren Historikem zu
Grunde gelegt wurden, nahm die Ruhr einen heiworragenden Platz ein.
Die Chronisten des Mittelalters haben zahlreiche Ruhrausbrüche
gemeldet über welche aber nähere Angaben fehlen. So wird von
Ruhrepidemien in den Jahren 534 und 538 in Frankreich, 760 in den
nördlichen Ländern Europas, 820 unter dem deutschen Heere in
Ungarn berichtet, späterhin mederholter über grosse Landstriche ent-
wickelter Dysenterieseuchen gedacht und deren Entstehung auf Miss-
wachs, Teuerung. Kriege und Hungersnöte zurückgeführt. Ob es sich
hierbei immer um die eigentliche Ruhr oder aber um andere Volks-
krankheiten gehandelt hat, entzieht sich bei dem Mangel verlässlicher
Nachrichten jeder Beurteilung. Ei-st vom 16. Jahrhundert an datieren
mehr verwertbare ärztliche Aufzeichnungen, die der Epidemiographie
einigen Einblick gestatten. Die im Jahre 1538 über einen grossen
Teil unseres Kontinents verbreitete Ruhrpandemie hat u. a. an Ferne 1
einen Augenzeugen gefunden, nach dessen Aussage kaum ein Ort von
der Seuche verschont geblieben war. England wurde in den Jahren
1540—1541, 1557, 1580—1582, 1596—1598 von epidemischer Dysenterie
ergiiffen, ebenso Deutschland in den Jahren 1583, 1595 — 1596.
Während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird die epide-
mischl Ruhr nur in vereinzelten ärztlichen Berichten ausdrücklich be-
schrieben. Die Autoren, noch vollständig im (reiste der Alten befangen,
betonen nur mit geringem Nachdruck ihre seuchenartige Verbreitung,
sie fassen die Krankheit mehr nach der Symptomatologie und den Ur-
sachen der Darmerscheinungen auf und legen das Hauptgewicht auf
830 Victor Fossel.
die Diätetik und Therapie des Leidens. So hat Paschettus in
Genua im Jahre 1604 die Ruhr auf Ansammlung des vom Gehirn ab-
fliessenden, salzigen Schleimes, auf Verdickung der Galle und hier-
durch bewirkte Anätzung der Gedärme zurückgeführt. Le Pois
(Piso) sah die Krankheitsursache in Störungen der Leberfunktionen,
in alimentären Schädlichkeiten und Einflüssen der Sommerhitze, ne-
gierte aber die Kontagiosität des Leidens. Andere Beobachter hin-
gegen, wie Fabricius Hildanus, wiesen direkt auf die Ansteckungs-
fähigkeit des Ruhrprozesses hin. Piso, der die Krankheit in Brasilien
zu studieren Gelegenheit hatte, war der erste, der im Jahre 1648 die
Ipecacuanha als Specificum bei Dysenterie gepriesen und ihr für mehr
als zwei Jahrhunderte den Ruf als „Ruhrwurzel" verschafft hat. Seine
Arbeit über die Ruhr ist neben jener von Jacob Bontius eine
der wertvollsten Schilderungen der Dysenterie der warmen Länder.
Bontius legte seinem Buche die Erfahrungen zu Grunde, die er im
Jahre 1628 während einer Ruhrepidemie auf Java gesammelt hatte.
Es ist auffallend, dass bis zu diesem Zeiträume die Dysenterie,
wenn auch ihres Vorkommens bei vielen Schriftstellern erwähnt wird,
dies nur im Zusammenhange mit anderen epidemischen Krankheiten
geschieht, so dass man anzunehmen versucht wird, die Aerzte jener
Zeit erblickten gleich den Alten in den „Bauch Aussen" vorwiegend
Begleiterscheinungen der Pest, des Petechialfiebers, ja selbst der
Schlundbräune, nicht eine Krankheit sui generis. Unter diesem Ge-
sichtspunkte lässt sich aus den Seuchenberichten der Zeit die Ruhr
nur unbestimmt aus dem Gewirre der herrschenden Infektionskrank-
heiten abgrenzen. In dieser Periode w^erden als grössere Ruhr-
epidemien genannt: 1623—1625 in Frankreich, den Niederlanden und
Deutschland, 1635 in den Niederlanden, 1649 in Schweden, 1659 in
der Schweiz. Lammert gedenkt in seiner wertwollen Chronik der
Seuchen während des dreissigjälirigen Krieges an ungezählten Stellen
der Herrschaft der Ruhr, die demnach weit häufiger und intensiver
aufgetreten sein mag, als ärztliche Beobachter hiervon Kunde geben.
Von der Mitte des 17. Jahrhunderts an gewann die Lehre von
der Ruhr das erhöhte Augenmerk der ärztlichen Kreise. Insbesondere
waren es die Schriften von Sydenham, Morton und Willis, in
denen die Erfahrungen während der grossen Ruhrepidemie, welche
England in den Jahren 1668 — 1672 durchseucht hatte, niedergelegt
und den Zeitgenossen bekannt gemacht worden waren. Sydenham,
dessen bahnbrechender Einfluss auf die epidemiologischen Anschauungen
seiner und der späteren Zeit schon in der Einleitung zu dieser Arbeit
zu kennzeichnen versucht wurde, vertritt auch in der Lehre von der
Dysenterie den Standpunkt, dass je nach der Krankheitskonstitution
aus dem „stehenden Fieber" verschiedene Epidemien ausgelöst und
sogar differente Formen der Ruhr selbst entwickelt werden können.
So lässt Sydenham die Frage ofi'en, ob die endemische Ruhr der
Irländer mit der herrschenden epidemischen Ruhr verwandt sei oder
nicht; er unterscheidet mit AVillis eine blutige und unblutige Ruhr
und nimmt eine Dysenterie an, bei welcher die Darmentleerungen
keine pathologischen Aenderungen aufweisen. Nach seiner Auffassung
ist die gutartige Diarrhöe (cholera morbus) nur graduell von der
dysenterischen Form verschieden, bei der es nicht immer zur Bildung
von Geschw'üren im Darme kommen müsse. Wie andere akute Krank-
heiten entstehe die Ruhr aus einer „Entzündung des Blutes", aus
Greschichte der epidemischen Krankheiten. 831
welcher eine scharfe und hitzige Materie nach den Gedärmen versetzt
werde und hier Entzündung, ja selbst Gangrän der Schleimhaut bilde.
Sydenham erklärt die Euhr geradewegs als „das auf die Gedärme
gefallene Fieber der Jahreszeit". Als wirksamste Therapie empfiehlt
er den Aderlass. leichte Laxanzen und zur Schmerzlinderung das noch
heute seinen Namen tragende flüssige Laudanum.
Auch Willis, der in der Rulu- ein endemisches und im Herbst
alljährlich wiederkehrendes Uebel der englischen Hauptstadt sieht,
fühlt sie ätiologisch auf eine „Intemperies anni" und dadurch be-
wirkte Effervescenz des Blutes zurück, wodurch anomale Fieber zu
Stande kommen, deren Krankheitsprodukte in den Gedärmen abge-
lagert werden. Die Ruhr und verwandte Darmerkrankungen wurden
in jener Zeit in den Londoner Sterberegistern gemeinhin unter dem
Kollektivbegriffe: ..gripping in the guts" zusammengefasst ; dem ent-
gegen stellt Willis den wesentlichen Unterechied zwischen Diarrhöe
und Dysenterie fest und leugnet die herrschende Anschauung, wonach
die Ruhr hauptsächlich als Folgeübel des Genusses von unreifem Obst
galt. Nach seiner Meinung sei die Ruhr, die auf Schiffen, Lager-
plätzen und in Gefangnissen häufig beobachtet werde, im allgemeinen
nicht kontagiös; an anderer Stelle nennt er sie aber ein Leiden, das
zuweilen wie ein pestilentisches Fieber den Krankheitsstoff durch
Kontagium auf weite Strecken verbreite. Morton hingegen erblickte
in der Dysenterie nur eine Abart der herrschenden intermittierenden
Fieber und pries die Chinarinde als das hauptsächlich wirksame
Heilmittel.
Ausser dieser vielbeschriebenen Epidemie, die 1668—1672 in
London und ganz Grossbritannien grassierte und gleichzeitig an vielen
Orten Deutschlands und Frankreichs sich bemerkbar machte, wurde
die Ruhi" neuerlich in der Periode 1676 — 1679 in den genannten
Ländern sowie in Dänemark und Schweden, im Jahre 1684 als eine
allgemein in den einzelnen Ländern Europas verbreitete Krankheit
beobachtet.
Weit zahlreicher sind die Nachrichten über das epidemische Vor-
kommen der Dysenterie im Laufe des 18. Jahrhunderts. Neben einer
nicht unbeträchtlichen Reihe von Ruhrausbrüchen, die im Zusammen-
hange mit ..exanthematischen Fiebern" genannt, sich schwer als eigent-
liche und selbständige Epidemien der Krankheit nachweisen lassen,
finden wir zunächst in der ersten Hälfte des 18. Säkulums Epidemien,
die über grössere Gebiete sich gleichzeitig erstreckt haben. So be-
gegnen wir dem heftigen Auftreten der epidemischen Ruhr 1702 in
Cleve und Nymwegen, 1707 — 1709 in einem grossen Gebiete von
Deutschland, wo auch in den Jahren 1717- 1719 die Krankheit, vor
allem in den nördlichen Landschaften weithin verbreitet war. Im
Jahre 1719 sollen in Berlin allein, wo allerdings gleichzeitig „exan-
thematische Fieber" grassierten, an 1578 Personen an der Ruhr ge-
storben sein. In demselben Zeiträume herrschte die Dysenterie epi-
demisch in Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz, in Dänemark
und Russland. Wenige Jahre später, 1725 — 1727 trat sie in Italien,
in der nördlichen Schweiz, in Süddeutschland auf und nahm neben
Malaria und „Exanthemen"' einen erheblichen Anteil an der Sterb-
lichkeit in Holland. Durch gemeinsames Vorkommen von Ruhr und
Fleckfieber war in den Jahren 1728 — 1731 eine in Irland herrschende
Epidemie gekennzeichnet.
832 Victor Fossel.
Von besonderem Interesse ist die Epidemie des Jahres 1736 in
Holland, wo Degner deren Ausbruch in Nym wegen beobachtet hat.
Obgleich dieser Autor in seiner hierüber niedergelegten Schrift noch
vollständig auf der Grundanschauung sich bewegt, dass Malaria und
Euhr in engster Verwandtschaft stehen, obschon er mit Vorliebe die
Ursache des dysenterischen Prozesses von einer „fauligen Säfte-
mischung" ableitet, so muss dennoch die Arbeit Degners zu den
besten Darstellungen der Krankheit gerechnet werden, schon deshalb,
weil er mit Treue das symptomatische Bild des vielgestaltigen Leidens
wiedergiebt. Mit Anschaulichkeit zeichnet er den Gang der Epidemie
in Nymwegen, ihre Wanderung von Strasse zu Strasse, wobei das
von der jüdischen Bevölkerung bewohnte, völlig abgeschlossene Stadt-
viertel von der Seuche auffallend verschont geblieben war. Wie
D e g n e r nachweist, war die Ruhr nach der Stadt durch eine einzige
erkrankte Person gekommen und im. Verlaufe der Epidemie durch
Besuche nach entlegenen Dörfern überbracht worden.
Aus dem fünften Dezennium des 18. Jahrhunderts datieren drei
Arbeiten über die Ruhr, die neue Beiträge zur Kenntnis des Wesens
und der Verbreitungsweise der Krankheit lieferten. Es sind dies die
von John Pringle verfasste Schrift über die Krankheiten der
Armee, die von Jakob Grainger dem gleichen Gegenstande ge-
Avidmete Abhandlung und die von George Cleghorn aufgezeichneten
Beobachtungen über die Dysenterie in der englischen Flotte vor
Minorka. Pringle, der die englischen Truppen innerhalb des Zeit-
raumes 1742 — 1748 auf ihren Zügen in den Niederlanden und in
Deutschland begleitet hatte, fand daselbst reiche Gelegenheit, die Ruhr
nosologisch und epidemiologisch zu verfolgen und seine Studien durch
Leicheneröifnungen zu vervollständigen. Als nach der Schlacht bei
Dettingen (27. Juni 1743) die Ruhr im englischen Heere ausgebrochen
war, erkrankten nicht weniger als 1500 Soldaten an derselben, unter
denen später viele vom Fleckfieber ergriffen wurden, vorwiegend die
in Baracken untergebrachte Mannschaft. Pringle erklärt die Dysen-
terie für eine selbständige Krankheit, die nur scheinbar und äusser-
lich mit den intermittierenden und remittierenden Fiebern als „Herbst-
krankheit" gemeinschaftliche Züge aufweise, sich aber von jenen
wesentlich durch die Ansteckungsfähigkeit unterscheide. Für die Be-
gründung dieser Annahme bringt er scharfe Beobachtungen bei, indem
er zeigt, wie die Krankheit in Lagerplätze von einer einzigen Person
eingeschleppt, dann allmählich von Zelt zu Zelt weiterverbreitet, nicht
etwa durch die Unreinigkeit der Luft, sondern vom Menschen zum
Menschen durch Effluvien, Kleider, Betten, Stroh und zumeist durch
die Aborte übertragen werde. Im Gegensatze zu Sydenham's
Lehre, der verschiedene Ruhrarten annahm, stellte Pringle fest, dass
nur eine einzige Form der Dysenterie vorkomme, einerlei ob in kalten
oder warmen Ländern, eine Behauptung, mit der er schon seinen
Zeitgenossen gegenüber sich im Widerspruch befand, und die auch in
der späteren Lehre von der Ruhr keine Verteidigung mehr gewinnen
konnte.
Ausser der vorerwähnten Epidemie im englischen Heere war die
Dysenterie um jene Zeit in Europa weitverbreitet aufgetreten, so in
den Jahren 1739—1741 in Mitteldeutschland, Schweden und Irland,
in den Jahren 1746—1749 pandemisch über ganz Europa, vom
Jahre 1749—1753 in den nordamerikanischen Kolonien Englands.
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 833
Amch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschien die
Dysenterie des öfteren als Seuche auf unserem Kontinent, jedoch in
den ärztlichen Nachrichten nicht immer und überall von gleichzeitig
herrschenden „Fiebern" strenger gesondert. Unter den Lagerkrank-
heiten, die während des siebenjährigen Krieges geherrscht und auch
damals ausserhalb des Kriegsschauplatzes sich entwickelt haben, kam
der Euhr eine hervorragende Stelle zu. Sie wird aber von den Zeit-
genossen meisthin mit den „Faulfiebem" zusammengeworfen, überdies
nach Boerhaave's Ausspruch als ein vielgestaltiger Krankheits-
prozess angesehen, an dessen Genese die Wechselfieber vor allem be-
teiligt waren. Roederer, dessen Arbeit über den „Morbus mucosus"
an anderer Stelle gewürdigt wurde, nennt die Ruhr kurzweg ,.eine
Tochter des Wechselfiebers". In ähnlichem Sinne fasst Zimmer-
mann, der über eine in den Schweizerischen Kantonen Bern und
Thurgau beobachtete Epidemie sein wertvolles Buch: ..Von der Ruhr
unter dem Volke im Jahre 1765" geschrieben hat, die Aetiologie des
Leidens auf. So prägnant und originell darin die Sjuiptomatologie
des Prozesses dargestellt wird, so bewegt sich dennoch die Lehre von
der Krankheitsursache im herkömmlichen Geleise. Nach Ansicht
Zimmermann's gehört das die Ruhr begleitende Faulfieber zum
Wesen der Krankheit, hervorgerufen durch eine infolge von Temperatur-
abnahme bewirkte Unterdrückung der Hautausdünstung, aus welcher
Fäulnis der Säfte und deren Zufluss zu den Gedärmen entstehe.
Eine stärkere Steigerung der epidemischen Dysenterie fiel in die
letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts. Sie war in den Jahren 1778 —
1779 in Frankreich und in den Niederlanden, 1781 in Ostpreussen
und Litthauen, 1783 abermals in den Niederlanden, 1785—1788 in
Schweden weit verbreitet. Schwere Ruhrjahre waren 1787 für Italien,
1790 für Süddeutschland und die Schweiz. Unter den Kriegsseuchen
jener Periode gewann die Ruhr eine ungewöhnliche Ausdehnung im
Jahre 1792 unter den preussischen Truppen während der Campagne
in Frankreich. In den Jahren 1793 — 1798 kam die Krankheit in den
Nordamerikanischen Staaten zur epidemischen Entwicklung.
Am Schlüsse des Jahrhunderts stand in der Lekre von der Ruhr
deren Koincidenz mit Malaria noch unerschüttert in Geltung; einzelne
Autoren , vrie M u r s i n n a , van G e u n s u. a. waren bemüht , der
Krankheit einen festen Platz unter den „gallichten und faulichten
Fiebern" einzuräumen. St oll hinwiederum brachte die alte Vor-
stellung in Erinnerung, die Ursache der Dysenterie lediglich in Ano-
malien der Galle zu suchen und erklärte demgemäss das Leiden als
„Rheumatismus der Gedärme*'.
Im gleichen Masse, wie das Fleckfieber und das Typhoid erfuhr
auch die Ruhr in den durch die französische Revolution eingeleiteten
Feldzügen eine beträchtliche Ausdehnung über ganz Europa. Ueber-
einstimmend verlegen die Zeitgenossen die Akme der Pandemie in
das Jahr 1811, deren Nachschübe bis zum Jahre 1815 anhielten.
Welchen Anteil die Krankheit an den gemeiuhin als ..Nervenfieber"
bezeichneten Kriegsseuchen genommen, welche Quote die eigentliche
Ruhr unter den zahllossen Erkrankungen ,.an Durchfallen" erreicht
und wieviele Dysenteriefälle etwa in Wirklichkeit dem Abdominal-
typhus oder umgekehrt angehört haben mochten, ist schwer zu sagen.
Gleichwohl steht fest, dass die Dysenterie als steter Begleiter den
Truppen aller Kriegsmächte gefolgt war und insbesondere unter den
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 53
834 Victor Fossel.
Angehörigen der „grossen Armee" während ihres unglückseligenJRück-
zuges aus Eussland mit mörderischer Heftigkeit um sich gegriffen
hatte. Angesichts der elenden Zustände, denen Gesunde wie Kranke
ausgesetzt waren, konnte es nicht vermieden werden, dass die Ruhr
überall in militärischen Quartieren und Lazaretten sich einnistete
und in den Garnisonen aller Länder unaufhaltsam auf die Zivil-
bevölkerung übergriff.
Nach Beendigung der Befreiungskriege trat in der Entwicklung
der Euhrepidemien innerhalb der meisten europäischen Staaten ein
längerer Stillstand ein. Ausgenommen war hiervon Irland, wo sie
des öfteren aufgetreten und schon in den Jahren 1817, 1821, dann
1824 — 1826 neben typhösen Seuchen zu einer schweren Landplage
sich gestaltete. Auf dem Kontinent wurde in den Jahren 1824 — 1826
Frankreich, 1826 — 1828 Norddeutschland und Böhmen von epidemischer
Ruhr heimgesucht, die während des letztgenannten Zeitraumes auch
in Schottland und Irland aufgetreten war. Eine heftige Exacerbation
gewann die Krankheit in den Jahren 1834 — 1836 in Frankreich, in
der Schweiz, in Süd- und Westdeutschland. Ebenso nahm sie in der
Periode 1846—1848 einen nahezu pandemischen Charakter an und
gesellte sich in einzelnen Ländern Europas und Nordamerikas zu
dem gleichzeitig herrschenden Flecktyphus. Ihren Hauptsitz haben
das nordwestliche Rnssland, die Ostseeprovinzen, Polen, Ober-
schlesien, Böhmen, Belgien und Irland gebildet. In letzterem Lande
schritt die Ruhr neben dem Rückfallfleber einher und behauptete
sich vorwiegend in Arbeiterquartieren und Gefängnissen. In den
nördlichen und mittleren Staaten Nordamerikas entwickelte sich eine
ausgedehnte Ruhrepidemie in den Jahren 1847 — 1851, die an den
meisten Orten von einer aussergewöhnlich hohen Steigerung der Er-
krankungs- und Sterbeziffer begleitet war. Eine weitverzweigte Ruhr-
seuche auf europäischem Boden ereignete sich in den Jahren 1853 —
1855 und erstreckte sich über Russland, die skandinavischen Länder, die
Schweiz, Süddeutschland und Frankreich. Im letztgenannten Lande er-
folgte ihr neuerlicher Ausbruch in den Jahren 1859 — 1860, von welchem
nur die nördlichen Departements verschont geblieben waren. In Schweden
verursachte die Dysenterie im Zeiträume 1858 — 1860 eine Reihe von
Lokalepidemien, denen sich zerstreute Krankheitsherde im nor-
wegischen Reiche anreihten. Als Kriegs- und Lagerseuche erschien
die Ruhr 1854 — 1856 auf dem Kriegsschauplatze in der Krim, 1859
in Oberitalien, 1861 — 1864 in ungeheuerer Ausdehnung und in schwerer
Lethalität während des nordamerikanischen Sezessionskrieges, während
dessen Verlaufes nicht weniger als 725675 Erkrankungs- und 11560
Todesfälle die Dysenterie verursacht hat. Ferner trat sie 1862 — 1867
unter den französischen Okkupationstruppen in Mexiko auf, während
des deutsch- französischen Krieges im Jahre 1870 — 1871 in der deutschen
Armee mit 38 652 Erkrankungen und 2380 Sterbefällen, endlich im
Jahre 1878 — 1879 während des russisch-türkischen Feldzuges.
Ausser den Epidemien, die den vorerwähnten Kriegsereignissen
gefolgt waren, hat die Dysenterie seit den sechziger Jahren in Europa
erheblich ihre einstmalige Herrschaft verloren. Nur in einzelnen
Ländern, vorwiegend im Süden und Südosten unseres Kontinents hat
sie sich als immer wiederkehrendes, vielfach endemisches Uebel be-
hauptet, in anderen Gebieten vorübergehende Epidemien verursacht,
deren Ausläufer nicht selten über mehrere Jahre sich erstreckten.
Die epidemischen Krankheiten. 835
Die Geschichte der Euhr in den warmen Ländern liegt unserer Auf-
gabe ferne.
Innerhalb der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zeigte
die Lehre von der Dysenterie keine nennenswerten Fortschritte. Die
Vorstellungen von der Malarianatur der Krankheit blieben lange hin-
durch aufi'echt: daneben wechselten, je nachdem das klinische oder
anatomische Bild mehr oder weniger ins Gewicht fiel, die älteren
Theorien in der Gunst der Beobachter, von denen der eine Teil die
Ruhr als Produkt einer krankhaft veränderter Gallensekretion, der
andere Teil als Ablagerung ditferenter ..Fieber" zu erklären suchte.
So wollten beispielsweise Eisenmann und Cannstatt in der
Dysenterie die lokale Manifestation ganz heterogener Krankheits-
prozesse erkennen und stellten in genetischer Eichtung eine rheu-
matische, typhöse, gallige, skorbutische Ruhr auf. Noch unbestimmter
lauten die Aussprüche über die Kontagiosität der Krankheit. Die
verdienstvollen Arbeiten, welche Cruveilhier, Rokitansky und
Virchow über die Leichenbefunde bei der Dysenterie veröffentlicht
haben, wurden zum sicheren Stützpunkt für die anatomische Erkenntnis
des Prozesses. Weniger abgeschlossen erscheint die pathologisch-
klinische Deutung im Rahmen eines festen, einheitlichen Krankheits-
begriffes. Die Frage, ob und welche Bedingungen nach Ort und Zeit
auf die Entwicklung und Verbreitung der Ruhr Einfluss nehmen, wird
erst dann zur Lösung gelangen, wenn es gelungen sein wird, die Ur-
sache der Dysenterie aufzudecken, an deren parasitären Charakter
wohl kaum mehr zu zweifeln ist.
VII. Gelbfieber.
Litteratur.
Arejula, Das Gelbfieber, 1804. — Fournier et Vnidy, Art. ,.Fievre
aune" in Dict. d. sc. med. Vol. XV 1816. — Jloreau de Jones^ Monographie
ist. et med. de la fievre ,jaune des ÄntiUes, 1820. — ßaUy, Fran^ois et Pariset,
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Abhdl. üb. d. G.F., 1828. — Matthäi, Untersuchungen üb. d. G.F., 1828. — La
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kofer, D. Viertljsch. f. off. G. Pfl. V. Bd. 1873. — Brendel, ibid. IX. Bd. 1877. —
lAebermeister, Ziemssens Hdb. d. sp. P. «. Th. II. Bd. 1. Th. 1886. — Stern-
berg, Janns I 1896197. — Scheube, Die Krankh. d. warm. Länder, II. Aufl. 1900.
— JBrault, Janus V 1900. — Azevedo Sodre und Couto, Das Gelbfieber,
NothnageVs Hdb. d. sp. P. u. Th. V. Bd. IV 2 190L
Soweit geschichtlich beglaubigte Nachrichten auf uns gekommen
sind, sprechen die bekannt gewordenen Ausbrüche des Gelbfiebers,
seine geogi-aphische Verbreitung und die besonderen klimatischen Be-
dingungen, unter denen seine Herrschaft sich bisher manifestiert hat,
für die Annahme, die Krankheit als eine spezielle Seuche der warmen
Länder anzusehen. Die Heimat des Gelbfiebers wird von allen For-
schem nach dem westindischen Archipel verlegt, wo insbesondere die
grossen Antillen und die Küsten des mexikanischen Golfes als ende-
mische Herde der Krankheit sich im Laufe der Zeiten erwiesen haben.
Ausserhalb dieses Gebietes ist das Gelbfieber wiederholt an der atlan-
53*
336 Victor Fossel.
tischen Küste von Nordamerika, an der Westküste von Afrika und
von Europa epidemisch aufgetreten, hat sich aber erst um die Mitte
des 19. Jahrhunderts in Brasilien dauernd eingenistet und weitere
Länderstriche des südamerikanischen Kontinents erobert. Wie jedoch
in den meisten, über die engere Heimat des Gelbfiebers hinausreichen-
den Epidemien nachgewiesen oder mit grösster Wahrscheinlichkeit
vermutet werden konnte, fand hier unzählige Male die Einschleppung
der Seuche aus dem endemischen Gebiete der Antillen statt, so dass
die von einigen Schriftstellern aufgestellte Behauptung, das Gelbfieber
habe seinen ursprünglichen Sitz an der afrikanischen Westküste inne-
gehabt und sei von hier aus nach den Tropenländern der westlichen
Hemisphäre importiert worden, auf eine vage Hypothese zurückzu-
führen ist. Wenn auch unbestritten die Küste von Guinea (Sierra
Leone) als ein endemischer Herd der Krankheit im Laufe des 19. Jahr-
hunderts den Ausgangspunkt für deren Verbreitung an dem westafrika-
nischen Meeresgestade und seinen benachbarten Inseln gebildet hat,
so ist es doch weit mehr berechtigt, die Infektion dieses Landstriches
von den Antillen abzuleiten, demnach das genannte westafrikanische
Gebiet als einen sekundären Herd anzuerkennen.
Unsere historischen Kenntnisse über das Vorkommen des Gelb-
fiebers überhaupt reichen nicht über die Mitte des 17. Jahrhunderts
hinaus. Die von spanischen und französischen Autoren, zumeist Laien,
gebrachten Nachrichten über die Verheerungen, die die Krankheit
unter den mit Columbus 1493 auf St. Domingo gelandeten Mann-
schaften und unter europäischen Ansiedlern im Laufe des 16. Jahr-
hunderts angerichtet haben sollte, entbehren jeder sicheren ärztlichen
Beschreibung der Natur der Epidemien und lassen bei dem notorisch
bösartigen Charakter der in Mittelamerika, vornehmlich auf dessen
Küstenstrichen und Flussniederungen herrschenden Malariafieber, die
erwiesenermassen den vordringenden Fremdlingen in der „Neuen Welt"
zum Verderben geworden sind, die begründete Voraussetzung zu, dass
es sich hier weit eher um schwere Formen der biliösen remittierenden
Fieber gehandelt habe, mit welchen bekanntlich auch in späterer Zeit
das Gelbfieber nicht selten verwechselt worden ist.
Die ersten, sicher beobachteten Ausbrüche des Gelbfiebers auf
dem amerikanischen Weltteile fallen in das Jahr 1635, von welcher
Zeit an eine auf der westindischen Insel Guadeloupe beginnende
Epidemie während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu ver-
folgen ist, die von kürzeren oder längeren Intervallen unterbrochen,
über die grossen und kleinen Antillen sich hinzog. Insbesondere ge-
wann diese Epidemiekette in den Jahren 1693 — 1699 ganz bedeutenden
Umfang, sie strahlte nach einzelnen Hafenplätzen des mexikanischen
Golfes, nach verschiedenen Handelsstädten der nordamerikanischen
Ostküste aus und drang südwärts bis Venezuela. In Veracruz war,
wie berichtet wird, bis zum Jahre 1699 das Gelbfieber völlig unbe-
kannt. Seither ist es dort endemisch geworden, hat nach anderen
Punkten der Golfküste häufig den Weg gefunden und in Alvarado,
Tlacotäplam, Laguna und Campeche festen Fuss gefasst. Die von
Azevedo Sodre und Couto berichtete Gelbfieberepidemie, die sich
in den Städten Pernambuco, Bahia und Olinda 1686 entwickelt und
dann bis 1696 im Lande fortgedauert hatte, bietet in historischer
Richtung ein besonderes Interesse, weil nach den genannten brasilia-
nischen Häfen die Krankheit direkt durch ein von der west-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 837
afrikanisclien Insel S. Thome gekommenes Fahrzeug eingeschleppt
worden ist.
Das ganze 18. Jahrhundert hindurch wiederholten sich die Gelb-
fieberepidemien in Westindien und auf dem amerikanischen Festlande.
Als schwere Seuchenperioden werden die Jahre 1745 — 1748, 1793 bis
1799 bezeichnet, namentlich während des letzten Zeitabschnittes
wurden zahlreiche Städte Nordamerikas, sowohl Küstenplätze wie An-
siedelungen au den grossen schiffbaren Strömen in heftiger Weise von
der Seuche heimgesucht. Xewyork. Boston, Neworleans, Bristol, Bal-
timore, Philadelphia u. a. Centren des Verkehres liatten heftige In-
vasionen des ..amerikanischen Typhus" zu überstehen.
Sehen ^ir von der isoliert gebliebenen Einschleppung des Gelb-
fiebers im Jahre 1740 auf südamerikanischen Boden, in Guajaquil. ab,
so begegnen -wir gegen Ende des 18. Jahrhunderts dem neuerlichen
Auftreten des Gelbfiebers an der Westküste von Afrika, wo im Jahre
1778 in der an der Ausmündung des Senegal gelegenen Küstenstadt
St. Louis die Krankheit als Epidemie beobachtet und gleich den späteren
Ausbrüchen auf eine Einschleppung aus der Sierra Leone, dem be-
rüchtigten Stammsitze perniciöser Fieber, zurückgeführt wurde. Auch
in Europa ereigneten sich während des 18. Jahrhunderts wiederholte
Ausbrüche der Seuche, die jedoch auf wenige Hafenstädte der Süd West-
küste der iberischen Halbinsel sich beschränkt hatten. So erfolgte die
erste Einschleppung des Gelbfiebers in Spanien im Jahre 1700 nach
Cadiz. wo dasselbe auch in den Jahren 1730—31. 1733 — 34, 1764 und
1780 epidemisch auftrat, ohne aber über die Nachbarschaft der Stadt
liinauszugreifen. Lissabon hatte im Jahre 1723, Malaga im Jahre
1741 unter der Krankheit schwer zu leiden.
Verfolgen wir den zeitlichen Gang des Gelbfiebers innerhalb der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so finden wir zunächst in Mittel-
und Nordamerika vom Beginne des Säculums an eine die Jahre 1800
bis 1805 erfüllende Epidemie, die auf den grossen Antillen sowohl
wie an der Ostküste von Central- und Nordamerikas sich verbreitet
hatte. Ohne in die einzelnen, rasch einander folgenden Ausbrüche
des Gelbfiebers innerhalb dieses eigentlichen Verbreitungsgebietes ein-
zugehen, begegnen wir wiederholten pandemischen Zügen der Seuche,
die in den Jahren 1819—20, 1837—1839 ganz Westindien, die Golf-
küste von Südamerika, die mexikanische Küste und viele Städte der
nordamerikanischen Unionsstaaten ergriffen hatte.
Weniger ausgedehnt waren in diesem Zeiträume die AVanderungen
des Gelbfiebers auf dem südamerikanischen Festlande. Die im Jahre
1842 erfolgte Verschleppung der Krankheit nach Guajaquil am stillen
Ocean steht ziemlich vereinzelt da. Erst mit dem Jahre 1849 ge-
winnt die Geschichte des Gelbfiebers für Südamerika wiederum Be-
deutung, nachdem das Land seit dem Jahre 1686, also fast zwei Jahr-
hunderte hindurch von der Seuche verschont geblieben war. Durch
ein von Neworleans angekommenes Fahrzeug wurde Bahia infiziert,
die rasch anschwellende Epidemie griff nach Rio de Janeiro, Per-
nambuco, in den nächsten Jahren nach anderen Küstenstädten über
und verbreitete sich längs der Flussläufe im Innern des Landes.
An der Westküste von Afrika datiert der Wiederausbruch des
Gelbfiebers vom Jahre 1816, wo es von der Sierra Leone wiederholt
in der folgenden Zeit seinen Ausgang nehmend nach der Kongoküste,
nach Ascension, den kanarischen und kapverdischen Inseln Ver-
838 Victor Fossel.
schleppungen erfuhr. Ungewöhnlich schwere Epidemien ereigneten
sich in Senegambien in den Jahren 1830 und 1837, innerhalb welcher
nahezu die ganze europäische Einwohnerschaft von der Krankheit
dahingerafft wurde.
Von besonderem Interesse ist die Geschichte des Gelbfiebers
während dieses Zeitraumes auf europäischem Boden. Unmittelbar am
Beginne des Jahrhunderts wurde die Seuche aus Charleston in Cadiz
importiert und bis zum Jahre 1804 über einen grossen Teil der
spanischen Landschaften Andalusien, Granada, Murcia, Valencia, Cata-
lonien und nach der Insel Majorka verbreitet. Die Zahl der Opfer,
die sie in Spanien gefordert hatte, schätzte man auf 53000 Menschen-
leben. Mit dieser Epidemie im Zusammenhange stand der 1804 er-
folgte Ausbruch der Krankheit in Livorno. — Von neuem zeigte sich
dieselbe in Spanien 1810, griif von den Seestädten Cadiz, Cartagena
und Gibraltar in das nächstgelegene Binnenland über, um nach winter-
lichen Ruhepausen erst nach dreijähriger Dauer zu erlöschen. — Die
nächste Epidemie, gleichfalls durch Bösartigkeit und Ausdehnung be-
merkbar, befiel Spanien in den Jahren 1819 — 1821, um welche Zeit,
wie erwähnt, das Gelbfieber auf dem westlichen Kontinent eine pan-
demische Herrschaft erlangt hatte. Wie zwei Dezennien vorher
wurden auch diesmal die südlichen Provinzen arg heimgesucht; der
Ausbruch der Seuche in Barcelona, die hier im Herbst 1821 eine
schreckenerregende Höhe erreichte, zählt neben den kurz darauf
folgenden Gelbfieberepidemien in der katalonischen Binnenstadt Tor-
tosa und in Palma, dem Hauptorte der Insel Majorka zu den schwersten
Invasionen in Europa. In den Jahren 1823 und 1828 blieb die
Krankheit auf den Hafen von Los Passages, bezw. auf jenen von
Gibraltar beschränkt.
Nicht weniger zahlreichen Epidemien des Gelbfiebers begegnen
wir auf der westlichen Hemisphäre innerhalb der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts. In den Jahren 1852—1853, 1855—1856, 1860,
1867—1868, 1873, 1875, 1876—1878 nahm dasselbe den Charakter
einer Pandemie an. Im letztgenannten Jahre wurden in den Ver-
einigten Staaten allein 132 Städte davon befallen und ungefähr
16000 Personen getötet. Ausserhalb dieser Epidemiejahre, zu denen
noch die bösartigen Ausbrüche des Gelbfiebers in der Havanna 1887
und 1892 zu rechnen sind, etablierte sich die Krankheit vorübergehend
an unzähligen Orten von Westindien, Mexiko, den nordamerikanischen
Unionsstaaten, in deren südlichen Territorien auch in den Jahren
1897 — 1899 die Seuche längs der Wasserstrassen und der Eisenbahn-
linien bis tief in das Innere des Landes vordrang. — In Südamerika
erhob sich das im Jahre 1852 innerhalb des brasilianischen Reiches
scheinbar zur Ruhe gekommene Gelbfieber nach kurzer Frist von
neuem, gelangte hier zu einer weiten Verbreitung, fand im Jahre 1854
in Peru, 1857 in den Rio la Plata-Staaten Eingang, wo die Krankheit
auch innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte öfter beobachtet wurde.
Ein heftiger Ausbruch des Gelbfiebers befiel Buenos Ayres iiji
Jahre 1871, wo in der Stadt allein 14 000 Einwohner der Seuche erlegen
sind. In Brasilien wurden vorzugsweise die Hafenstädte Bahia, Rio de
Janeiro, Pernambuco und Santos vom Gelbfieber heimgesucht, das hier
Jahre hindurch epidemisierte und seit 1869 niemals gänzlich ver-
schwunden ist. In Rio de Janeiro waren die Jahre 1880, 1883, 1886,
1889, 1891 und 1894 von heftigeren Ausbrüchen der Krankheit aus-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 839
gefüllt, die 1889 im Staate S. Paulo tief in das Innere des Landes
vorgedrungen und 1892—1895 in Santos mit einer ungewöhnlich hohen
Sterblichkeit verbunden war.
An der westafrikanischen Küste sind Senegambien. die Sierra
Leone, die Goldküste, die Congoküste, Ascension, die Capverdischen
und Canarischen Inseln seit Mitte des 19. Jahrhunderts wiederholt,
namentlich in den Jahren 1862, 1868, 1878, 1891 und 1895 vom Gelb-
fieber heimgesucht worden. Schon der zeitliche Zusammenhang
mehrerer dieser Ausbrüche mit dem stärkeren Anschwellen der Krank-
heit auf der westlichen Hemisphäre lässt die Vermutung französischer
Aerzte, die Augenzeugen der Epidemien in St. Louis am Senegal ge-
wesen sind, als gerechtfertigt zu. dass es sich hierbei um Einschleppung
des Infektionskeimes aus Amerika gehandelt habe.
Auf europäischem Boden endlich tritt in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts die Epidemie, die im Jahre 1857 Lissabon befallen
hatte, als einer der bekanntesten Ausbrüche in der Geschichte des
Gelbfiebers auf der iberischen Halbinsel hervor. Nach Lyons sollen
schon ein Jahr zuvor in der portugiesischen Hauptstadt wie in Oporto
verdächtige Krankheitsfälle sich gezeigt haben. Die schwere Epidemie
in Lissabon nahm aber erst im Juli 1857 ihren Anfang, blieb mit
Verschonung der Vorstädte auf die eigentliche Stadt beschränkt und
erlosch, nachdem sie 19500 Erkrankungen und 6859 Sterbefälle ver-
ursacht hatte, mit Eintritt der Winterzeit. Wie ausser Zweifel steht,
wui^de die Krankheit durch den Schiffsverkehr aus Amerika einge-
schleppt. Gleichzeitig epidemisierte dieselbe in Belam, Olivaes und
Almada. — In der nächstfolgenden Periode wurde das Gelbfieber in
einzelnen englischen und französischen Häfen durch Kranke, die mit
überseeischen Fahrzeugen dahin gekommen waren, unter der unmittel-
bar mit dem Hafendienste beschäftigten Einwohnerschaft verbreitet,
so 1851, 1864, 1865 in Swansea, 1852, 1866 und 1867 in Southampton,
1856 in Brest und 1861 in St. Nazaire. Zu einer bedrohlichen Epi-
demie erhob sich die Krankheit im Jahre 1870 in Barcelona, wohin
sie aus Westindien überbracht, zuerst die nächste Umgebung des
Hafens, sodann die Vorstadt Barceloneta und endlich die innere Stadt
ergriffen und von hier aus in Alicante, Valencia und auf der Insel
Majorka ihre Fortsetzung gefunden hat. — Die letzte, mehr beschränkt
gebliebene Epidemie in Spanien betraf Madrid im Jahre 1878, be-
merkenswert dadurch geworden, dass aus Cuba zurückkehrende
Truppen, die im besten Gesundheitszustande angekommen und auch
später von der Seuche frei geblieben waren, mit ihrer Bagage den
Krankheitskeim eingeschleppt und der Bevölkerung mitgeteilt hatten.
Ueberblicken wir die in gedrängter Erzählung dargelegten Wande-
rungen des Gelbfiebers, so finden vrir dessen Verbreitungsgebiet auf
dem westlichen Kontinent vom 44" 39 N.Br. (Halifax) bis zum
34 " 54 S.Br. (Montevideo), in der alten Welt vom 51 ^ 37 X.Br.
(Swansea), bis zum 10*^ S.Br. (Dondo an der westafrikanischen Küste,
Provinz Angola) begrenzt, lieber diese Zone hinaus ist die Krank-
heit bisher weder in Amerika, Europa oder Afrika vorgerückt, in
Asien und Australien überhaupt noch niemals beobachtet worden.
Wie die epidemiologischen Erfahrungen lehren, bedarf das Gelbfieber
zu seiner Entwicklung und weiteren Verbreitung eines tropischen
oder subtropischen Klimas; sein konstantes Vorkommen beschränkte
sich bisher nur auf Gegenden, deren Wintertemperatur nicht unter
840 Victor Fossel.
20** sinkt, und seine epidemische Herrschaft, die an grössere Luft-
feuchtigkeit und Regenzeiten geknüpft erscheint, erstreckte sich vor-
wiegend auf die Sommer- und Herbstmonate, während die kalte Jahres-
zeit sein dauerndes oder aber nur sein temporäres Erlöschen herbei-
zuführen geeignet ist. Wenn das Gelbfieber an der Meeresküste, an
den Ufern grosser Flüsse zu erscheinen pflegt, so darf gleichzeitig
gesagt werden, dass es in der Regel die Ebene bevorzugt und nur
ausnahmsweise über höhere Bodenelevationen sich erhebt, um dort in
epidemischer Form zu stände zu kommen.
Wie alle bisher ermittelten Modalitäten der Ausbreitung ergeben,
ist es einzig und allein der Schiffsverkehr, auf dessen Wegen das
Gelbfieber seine Verschleppung gefunden hat. Wie weiters bekannt
geworden, ist die Krankheit nicht unmittelbar von Person zu Person
ansteckend, demnach im heutigen Sinne nicht direkt kontagiös, wohl
aber ist die Entwicklung des Gelbfiebers, mag es nun auf sporadische
Fälle eingeengt bleiben oder als verheerende Volkskrankheit sich ent-
falten, an gewisse örtliche Bedingungen angewiesen, unter denen
Scheube den Boden als einen vorzüglich prädisponierenden Faktor
bezeichnet. Hingegen vermag der Krankheitskeim auch auf Schiffen,
die mit verseuchten Häfen oder mit infizierten Fahrzeugen in Ver-
bindung gestanden sind, zum Ausbruch zu gelangen und, wie zahl-
reiche Vorkommnisse Ijezeugen, durch Effekten, Kleider, Tier-
häute u. s. w. auf weite Entfernungen übertragen zu werden, um
dann unter günstigen Verhältnissen die Quelle isolierter oder gehäufter
Erkrankungen zu bilden. Dass auf das epidemische Auftreten des
Gelbfiebers ebenso wie auf jenes anderer Infektionskrankheiten Schmutz
und andere hygienische Missstände im hohen Masse fördernd ein-
wirken und geradezu in vielen schweren Ausbrüchen der Krankheit
sowohl auf Schiffen, wie in Hafen- und Binnenstädten zu belastenden
Hilfsursachen geworden sind, hat die Geschichte der Seuche unwider-
leglich dargethau.
Gedenken wir schliesslich der Stellung, die das Gelbfieber seit
seinem ersten, sicheren Bekanntwerden in der Pathologie eingenommen
hat, so zeigt sich in den Beschreibungen früherer Zeit nahezu regel-
mässig die Krankheit unter die „Sumpffieber" eingereiht und als bös-
artigste Abart der remittierenden Gallenfieber aufgefasst. Später hat
man versucht, nach dem Vorgange von Sau vages das Gelbfieber
als Typhus icterodes den typhösen Seuchen anzugliedern, eine
Systematisierung, die auch noch in neuerer Zeit durch Vortäuschung
isolierter Gelbfiebererkrankungen unter der Diagnose des biliösen
Thyphoids und umgekehrt ihre Reminiscenz erfahren hat. Etwa um
die Mitte des 19. Jahrhunderts hat der eigenartige Verlauf und der
pathologisch-anatomische Befund des Krankheitsprozesses Anlass ge-
geben, das Gelbfieber sowohl in ätiologischer wie in klinischer Rich-
tung als eine Krankheit sui generis anzuerkennen und aus der ver-
meintlich engen Verwandtschaft mit Malaria allmählich loszulösen.
Auch die mit der Erklärung des Gelbfiebers als einer Sumpf- und
ßodenkrankheit zusammenhängende Ansicht, dieselbe nur aus der Zer-
setzung organischer Materien lediglich entstehen zu lassen, musste
unter dem Gewichte der festgestellten thatsächlichen Aufschlüsse über
ihre Verschleppung und Einnistung in Lokalitäten, wo solche Vor-
bedingungen gänzlich mangelten, aufgegeben werden. Wenn wir über
den jahrelangen, hartnäckigen Streit, ob das Gelbfieber den konta-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 841
giösen oder miasmatischen Yolksseuclien angehört, schweigend hinweg-
gehen, so haben wir vom geschichtlichen Standpunkte um so mehr
Grund anzufügen, dass inmitten der langwendigen Erörterungen dieser
Frage immer deutlicher die Anschauung in den Vordergrund des ärzt-
lichen Interesses gerückt war. es müsse dem Gelbfieber gleichfalls ein
spezifischer Krankheitskeim zu Grunde liegen und an dessen Vor-
handensein und Reproduktion die Entwicklung der Seuche gebunden
sein. Man kam freilich lange Zeit nicht überein, ob die Träger des
supponierten Krankheitsgiftes tierischer oder pflanzlicher Natur seien,
bis die Fortschritte der Bakteriologie auch für die Erforschung des
parasitären Charakters der Krankheit die Wege der wissenschaftlichen
Untersuchung vorgezeichnet haben. Seither war eine grosse Zahl von
Aerzten bemüht, die Miki'oben des Gelbfiebers aufzufinden ; wir nennen
unter denen, die in den letzten zwei Dezennien daran hervorragenden
Anteil genommen haben. nurFinaly, Freire, Carmona y Valle,
da Lacerda, Giebier. Havelburg und Sternberg. Die Be-
urteilung, ob und welche Grundlagen Sanarelli mit seinen im
Jahre 1896 begonnenen wertvollen Studien über den Bacillus
icteroides für die Aetiologie und Pathogenese des Gelbfiebers ge-
schafi"en hat, liegt ausserhalb unserer Aufgabe.
Vni. Blattern.
Liüeratur.
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Kinderkh. 1887. — Gerstäcker, Die histor. Entwickig. d Revaccination, D.
Viertel jsch. f off. Gespfl. 20. Bd. 1888. — Ortli, Janus V 1900. — Immer mann,
NothnageVs Hdb. d. sp. P. u. Th. IV. Bd. 1896. — Denkschrift des kais. Ge-
sundheitsamtes 1896. — Kubier, Geschichte der Pocken und der Impfung, 1901.
Die entsetzlichen Verwüstungen, die unermessliche Zahl von Ver-
stümmelungen und Todesfällen, welche die Pocken im Laufe der
Zeiten über die Menschheit gebracht, haben schon frühzeitig die me-
dizinische Forschung mit der Frage nach dem Alter und der Heimat
derselben beschäftigt. Trotz aller Gelehrsamkeit vermochte aber die
historische Pathologie nicht über Vermutungen und Hypothesen hinaus-
zukommen, wenn der Streit darüber erhoben worden war, ob die
Blatternkrankheit im Altertum vorgekommen und von den Aerzten
842 Victor Fossel.
gekannt worden sei. Die in den medizinischen Schriften der Inder,
zunächst im Ayur-Yeda des Susruta zu Gunsten der Pocken ge-
deuteten Angaben boten ebenso geringen Anhalt, wie jene der Hippo-
kratischen Schriften oder andere aus den Werken griechischer und
römischer Autoren herangezogene Belege für die Kenntnis der Seuche.
Selbst die von späteren Aerzten aufgebotenen Untersuchungen hielten
einer strengeren Kritik nicht stand; die mit allen Mitteln philolo-
gischer und medizinischer Beweisführung im 16. und 17. Jahrhundert
aufgewendete Arbeit, das Alter der Pocken in der Vorzeit nachzu-
weisen, ergab ein gleich unbefriedigendes Resultat, wie die scharf-
sinnigen dem gleichen Zwecke gewidmeten Bemühungen der Aerzte
des 18. Jahrhunderts, unter denen Hahn für und Werlhof gegen
die Bekanntschaft der Griechen mit der Variola als Wortführer aiif-
getreten waren. Bei der unsicheren und lückenhaften Krankheits-
beschreibung, welche die hellenischen Meister der Pathologie gerade
den lokalen Symptomen eines Krankheitsprozesses zuzuwenden pflegten,
fällt es überaus schwierig, in ihren Schilderungen die erforderliche
Klarheit von der Erkenntnis und Unterscheidung exanthematischer
Seuchenformen aufzubringen. So ist es heute noch eine umstrittene
Frage ob die von Galen beschriebene Pest des Antonin, die Pest
des Justinian im 6. Jahrhundert und andere mörderische Epidemien
der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung der Pockenkrankheit
zuzuzählen sind oder nicht.
Ebenso unfruchtbar an positiven Ergebnissen ist die Erörterung
der Frage nach der Heimat der Krankheit geblieben. Hir massen-
haftes Vorkommen auf dem afrikanischen Kontinent wurde längst für
die Annahme verwertet, als ob hier der Ursprungsherd der Pocken
gelegen gewesen sei und sie von da aus nach Asien und Europa den
Weg genommen hätten. Dieser lediglich durch neuere Reiseberichte
gestützten Behauptung, die allerdings im Hinblicke auf die unge-
schwächte Fortdauer schwerer Blatternepidemien unter den ,. Völkern
des dunklen Erdteiles" den Schein der hohen Wahrscheinlichkeit für
sich gewonnen hat, stehen glaubwürdige Nachrichten gegenüber,
wonach in Asien seit grauer Vorzeit die Pocken heimisch und in den
ältesten Schriftwerken der Chinesen zwischen dem 12. und 13. Jahr-
hundert V. Chr. als Seuchenplage aufgeführt erscheinen. In Indien
soll nach Moore die Pockenseuche seit unvordenklichen Zeiten ge-
kannt, gegen deren Abwehr eine besondere Pockengottheit verehrt
und ein eigener Tempel dienst in Uebung gewesen sein. Die moderne
Sanskritforschung hat jedoch, wie Orth berichtet, diese Angaben als
irrige nachgewiesen.
Gegen die unsicheren und sagenhaften Nachrichten der Blattern
im Altertum gewinnen die aus dem Mittelalter stammenden Auf-
zeichnungen über die Herrschaft dieser Seuche entschieden an Deut-
lichkeit und Verlässlichkeit. Nach arabischen Schriftstellern , deren
Erzählungen freilich nicht der märchenhaften Ausschmückung er-
mangeln, soll die Krankheit um das Jahr 571 n. Chr. im sogenannten
Elephantenkriege das abessynische Heer vor Mekka vernichtet haben.
Gleichzeitig berichteten Gregor von Tour und Marius von
Avenches über eine in den Jahren 570 und 580 in Frankreich
und Italien grassierende Seuche, welcher sie die Namen: „Lues cum
vesicis", „Pustulae", „Morbus dysentericus cum pusulis",
„morbus cum profluvio ventris et Variola" beilegten und
!
Geschichte der epidemischen Ejankheiten. 843
ausdriicklicli von der Bubonenpest (der ^clades inguinaria") unter-
schieden. Im Volke gab man der Krankheit den Namen ,.C orales"
und suchte den Ausschlag durch Schröpfköpfe. Kantharidenumschläge
zur Entwicklung zu bringen. Gregor von Tours spricht deutlich
von "weissen, harten, schmerzenden Pusteln, die nach erlangter Eeife
von Eiter erfüllt waren und solchen ausströmen Hessen, so dass die
Kleider schmerzhaft am Leibe anklebten.
Den von geistlichen Chronisten überlieferten, wertvollen Angaben
steht aus dem Abendlande kein Zeugnis eines zeitgenössischen Arztes
zur Seite; hingegen gedenkt der im 7. Jahrhundert in Alexandiien
lebende Arzt Ahron in den beiEhazes angeführten Stellen des ver
loren gegangenen Originalschriftstückes in einer klaren Schilderimg
der Pockenerkrankung, die er als ein in den Xilländern endemisch vor-
kommendes Leiden hinstellt. Nach ihm führen arabische Autoren die
Blattern als eine gewöhnliche Krankheit, zumal der Kinder, auf. Die
berühmteste Darstellung der Pocken bildet in der arabischen Litteratui'
die von Rhazes im 10. Jahrhundert verfasste Schrift ,.de variolis
et morbillis". Er unterscheidet darin die als ,.Dschedrij~ be-
zeichneten Blattern von den Masern (..Hasbah") an vielen Stellen,
anderenteils erscheint eine konsequente, streng geübte nosologische
Trennung in dem Werke nicht durchgeführt. Rhazes erblickt in
der Variola eine unvermeidliche Krankheit, der kaum ein Sterblicher
entgehe, er hält sie für minder gefahrvoll als die Masern und will
nur in den Zufällen, die das Auge in Mitleidenschaft ziehen, ernste
Besorgnisse gelten lassen. Die Betonung der kontagiösen Natur der
Variola tritt bei ihm auffälligerweise in den Hintergrund, denn
Rhazes sieht in ihr einen Gährungsprozess, hervorgerufen durch die
Verunreinigung des kindlichen Organismus infolge des in den ,. Poren
des Fleisches" zurückgehaltenen mütterlichen Menstrualblutes. Dieser
wohlthätige Reinigungsvorgang ,.ex impuritate sanguinis matris" sei
gleichsam eine Krise, denn das kindliche Blut müsse aufbrausen, wie
der Saft der Früchte, eine Anschauung, die selbst noch im XIX. Jahr-
hundert ihre Vertreter fand. Die Beschreibung, welche Rhazes von
dem Exantheme giebt. ist in vielen Stücken zutreffend; die Therapie,
welche in der Anempfehlung von kühlenden Getränken anfanglich in der
Verordnung von Dampfbädern und späterhin von öligen Einreibungen
und Adstringentien besteht, erscheint einfach und zweckmässig.
Im gleichen Sinne bespricht Avicenna die Blattern (und Mor-
billen). zu denen noch als dritte und verwandte Fonii die „Humak"
oder ..Blacciae" gezählt werden. Es fällt schwer, dieselben nach
unserer heutigen Terminologie zu deuten, da sie ebenso als Masern
Röthein, Varicellen oder Friesel angesprochen werden können.
Die während des Mittelalters herrschenden Anschauungen der
arabischen und arabistischen Schriftsteller bewegten sich ohne Ab-
weichung in der von Rhazes aufgestellten Lehre des kongenitalen
Ursprungs der Pocken. Ihrer Kontagiosität wird, nachdem die Krank-
heit als ein natürlicher und selbstverständlicher Vorgang galt, nur
selten Erwähnung gethan, obgleich ausgedehnte Blatternepidemien
aus jener Zeit sich bei den Aerzten des Mittelalters vielfach aufge-
zeichnet vorfinden. Mit grosser Sorgfalt wird die Prognose der Variola
abgehandelt ; der unvollständige Ausbruch des Exanthems, oder dessen
massenhafte Eruption und Konfluierung. die faulige Beschaffenheit der
Pusteln, deren Uebergreifen auf einzelne Organe, wie Augen. Ohren,
844 Victor Fossel.
Schlund, Lungen und Darmkanal galt als bedrohliche Anzeichen. Die
Therapie erhielt sich auf dem bereits angedeuteten rationellen Regime
der Araber, vornehmlich suchte man mit Hilfe des allgemein beliebten
Volksmittels heisser schweisstreibender Getränke und übertriebener
Einwickelungen das Leiden zu bekämpfen, allerdings, wie die Ge-
schichte lehrt, mit nur geringem Erfolge. Zur Entleerung voller
Pusteln bediente man sich der Eröffnung mittels Einstiche oder Ein-
schnitte, zur Verhütung entstellender Narben wurde eine Auswahl
diätetischer und kosmetischer Mittel in Anwendung gebracht.
Eine besondere Erwähnung verdient eine Stelle aus dem be-
rühmten Regimen Salernitanum, aus welcher hervorgeht, dass
neben der Hintanhaltung jeder Gelegenheit zur Ansteckung die In-
okulation der Blattern als wirksames Schutz- und Vorbauungsmittel
angesehen und empfohlen wurde.
Es kann nicht Zweck dieser Darstellung sein, die Geschichte
der Pockenepidemien nach den einzelnen Zeitabschnitten und den ver-
schiedenen Länderstrichen eingehender zu verfolgen. Für das Mittel-
alter wäre es vergebliche Mühe, genaue Daten zu erbringen. Die
chronistischen Nachrichten lassen meist mit grösserer oder geringerer
Wahrscheinlichkeit die Annahme zu, dass es sich bei vielen der ge-
meinhin als „Pest" bezeichneten und u. a. durch Hautschwären und
nachträgliche Erblindung charakterisierten Seuchen um Blattern-
epidemien gehandelt haben konnte. Vom X. Jahrhundert an mehren
sich aber auffällig die Berichte und es liegt nahe, die in der folgenden
Zeit immer weiter um sich greifende und oft mit vehementer Heftigkeit
sich manifestierende Herrschaft der Variola dem zunehmenden Ver-
kehre, wie er insbesondere während der Kreuzzüge sich entwickelt hatte
und den Massenwanderungen der „fahrenden Leute" zuzuschreiben.
Kein Landstrich des europäischen Festlandes blieb von Blatterseuchen
verschont, selbst Island, wohin die Krankheit nachweislich durch
Schiffe eingeschleppt worden war, hatte in den Jahren 1241, 1242,
1257, 1258 und in späteren Jahren mörderische Blatternepidemien zu
überstehen. Ebenso wurde Grönland, damals eine blühende nor-
mannische Kolonnie, im Beginne des XV. Jahrhunderts von den Pocken
schwer heimgesucht, nahezu entvölkert und fiel für Jahrhunderte
hinaus der Vergessenheit anheim. In ungeschwächter Heftigkeit zogen
während des XVI. und XVII. Jahrhunderts die Blattern über die
Erde. Die europäischen Aerzte gedenken im Reformationszeitalter
der Krankheit nur vereinzelt, weil ihre Alltäglichkeit kaum besondere
Aufmerksamkeit erheischte. Umso wichtiger erscheint die Thatsache
der Verschleppung der Pocken nach Amerika, wohin sie 1507 durch
die Spanier gebracht worden sind. Die Bevölkerung der westindischen
Inseln, bis dahin von der Seuche verschont, erlag derselben mit jener
furchtbaren Lethalität, die von jeher das erste Auftreten der Krank-
heit begleitet und ihre hohe Kontagiosität unter Naturvölkern gekenn-
zeichnet hat. Dazu kam die gleichzeitig zunehmende Negereinfuhr
aus Afrika, die bis in unser Jahrhundert hinein oft genug den Aus-
brüchen von Blatternepidemien auf der westlichen Hemisphäre den
verderblichsten Vorschub geleistet hat. So sollen 1520 die Pocken durch
einen Negerknaben nach Mexiko verpflanzt worden sein, wo ihnen
binnen kurzer Zeit S^j.y Millionen Menschen zum Opfer fielen. Von
nun an wurde die Seuche zum ständigen Gaste des neuen Kontinents,
i
Geschichte der epidemischeu Krankheiten. 845
sie hat bis heute unter den Eingeborenen Nord- und Südamerikas in
ungezählten Zügen gewütet.
Für die Geschichte der Blattern ist es bemerkenswert, dass um
die Wende des XV. Jahrhunderts in den Schriften der Laien wie der
Aerzte die Syphilis, la grande veröle, die man für eine neue aus
dem Süden Europas kommende Pest hielt, mit Variola verwechselt
oder wenigstens in nahe Beziehungen gebracht wurde. Schon früh-
zeitig führte die Konfundierung in England und Frankreich zur Be-
zeichnung der Pocken als „small pox" und ,,petite veröle",
während in Deutschland sich die alten Namen „Blatter" (ober-
deutsch Blase), ,.Pocke'' (niederdeutsch Tasche, Beutel) und ,.ür-
schlechten" (vom altdeutschen ursiaht, Ausschlag) erhalten haben.
Unter den zahh-eichen Blatternseuchen des XVII. Jahrhunderts
ragt die Pandemie des Jahres 1614 hervor, die von Asien kommend
über Nordafrika und ganz Europa sich erstreckt hatte. "Wenige Jahre
später (1620) drang die Krankheit — ob zum ersten Male bleibt frag-
lich — nach Sibirien und seinen Nachbarländern vor, deren Bevölkerung
wie einstens jene von Grönland dem Aussterben nahe gebracht worden
war. Immer wieder verheerten die Blattern die Staaten Europas, so
dass man auf ihre sichere A\'iederkehr in 4 bis 7jährigen Perioden ge-
fasst war. Eine besonders heftige Epidemie durchseuchte im Zeiträume
von 1660—1669 in wiederholten Anstürmen England, welche nicht so
sehr wegen ihrer verhängnisvollen Folgen, sondern deswegen für die
historische Pathologie von Bedeutung geworden ist, weil Sydenham
daraus seine klassischen Beobachtungen geschöpft und von nun an
die Lehre von der Variola mit seinen rationellen Grundsätzen, na-
mentlich in therapeutischer Richtung befruchtet hat.
Ueber die Verbreitung der Blattern innerhalb der ersten Hälfte des
XVIII. Jahrhunderts liegen nur wenige epidemiologische Berichte vor ;
eine genauere "Würdigung der damaligen Seuchengefahren der Variola
lässt sich erst von der Zeit an verfolgen, als die Inokulation dei-selben
das allgemeine Interesse in Anspruch zu nehmen begann. Immerhin
gebricht es nicht an einzelnen wertvollen Nachrichten, aus denen wir
ein annäherndes Bild gewinnen über die erschreckende Herrschaft, über
die Hartnäckigkeit und die schweren Verwüstungen, welche die Pocken
in diesem Jahrhundert über die Menschheit gebracht haben. Kein
Jahrzehnt verging, ohne dass die Seuche nicht in jedem Lande mit
äusserster Heftigkeit zum Ausbruch gelangt und, kaum erloschen, nach
wenigen Jahren nieder erschienen wäre, um dann unter den verschont
Gebliebenen und unter der nachkommenden Kinderwelt von neuem
frische Beute sich zu holen. Die ..Pockennot" des XVIII. Jahrhunderts
hat in der Geschichte der Seuchen eine traurige Berühmtheit erlangt;
nicht bloss um der unermesslichen Wohlthat Jenners willen, die
endlich Erlösung von dem Uebel bewirkt hatte, bildet sie einen
düsteren Hintergrund, sondern an sich war sie drohend genug empor-
gewachsen, um die volle Aufmerksamkeit der Zeitgenossen und späterer
Autoren auf sich zu lenken. Die trostlose Eintönigkeit der gehäuften
Ausbrüche der Pockenepidemien, wie sie nach allen Ueberlieferungen
keine Periode vordem aufzuweisen hatte, mag es rechtfertigen, wenn
hier nur einzelne geschichtliche Daten Platz finden. Schon in den
ersten zwei Dezennien fasste die Seuche festen Fuss in Italien, Frank-
reich und Deutschland; im Jahre 1719 verbreitete sich eine mörde-
rische Blattern-Pandemie über ganz Europa, der 1723 eine allgemeine
846 Victor Fossel.
Seuche in allen Weltteilen gefolgt war. Die folgenden Jahrzehnte
wurden für Europa nicht minder zu schweren Blatternperioden, ebenso
wütete die Pockenseuche, soweit sich die Nachrichten überblicken
lassen, in den übrigen Teilen der Erde. Die Sterblichkeit war eine
ungeheure und betrug z. B. 1754 in Rom binnen wenigen Monaten
mehr als 6000 Menschen. Aber alle Nachrichten, die uns in den zahl-
reichen Dokumenten der Geschichte über die Verwüstungen der
Blatternkrankheit erhalten sind, bleiben noch immer zurück gegen die
grauenvolle Lethalität, mit der die Pocken seit der Mitte des 18. Jahr-
hunderts in Ostindien sich verbreitet und im Jahre 1770 zu einer
furchtbaren Höhe entwickelt hatten. Der schwarze Tod raubte Eu-
ropa den vierten Teil seiner Bevölkerung in zwei Jahren ; hier wurden
— wie Heck er sagt — drei Millionen Menschen auf einem kleinen
Eaume innerhalb weniger Monate vernichtet!
Während andere Seuchen dem einzelnen Lande oder Volke trotz
der heftigsten Ausbrüche gewisse Intervalle der Ruhe und Erholung
gönnen, nahm die Blatternnot in der II. Hälfte des 18. Jahrhunderts
mit jedem Dezennium immermehr überhand, um endlich im Zeiträume
1790 — 1800 ihren Höhestand zu erreichen. Die ärztlichen Schrift-
steller verzeichnen erschreckende Zahlen der in den einzelnen Epide-
mien Erkrankten, sie geben uns auch annähernd ein Bild von der
Mortalität, mit welcher die Menschheit in dem erwähnten Zeiträume
von dieser Seuche dahingerafft worden war. Es fehlt allerdings an
einem Vergleiche der Blatterntodesfälle am Ausgange des 18. Säku-
lums mit jenen früherer Geschichtsperioden. Milde JEpidemien stehen
jedoch nur vereinzelt da, die Mehrzahl verlief unter den schwersten
Erscheinungen, mehr als die Hälfte der Kranken starb, ja vielfach
wird berichtet, dass kein einziger derselben mit dem Leben davon ge-
kommen war. Naturgemäss unterschieden sich die Epidemien der
Variola je nach Zeit und Ort in ihrer Bösartigkeit. Während wir
vor dem Jahre 1750 nur einzelne verlässliche Angaben über die
Statistik der Erkrankungen und Todesfälle nach den einzelnen Krank-
heitsformen überhaupt besitzen, gewinnen wir von diesem Zeiträume
angefangen über mehrere Länder und Städte ein ganz lehrreiches
Bild von der Ausdehnung und der Malignität damaliger Pockenepi-
demien. Der Berliner Pastor Süssmilch, der Begründer der Be-
völkerungsstatistik, hat um das Jahr 1765 berechnet, dass im 18. Jahr-
hundert der zwölfte Teil des Menschengeschlechtes an den Pocken zu
Grunde ging, ferner nachgewiesen, dass in einzelnen deutschen Ge-
bieten je nach der Intensität der Epidemien der zwölfte, ja oft der
sechste Teil aller vorgekommenen Todesfälle durch Pocken verursacht
wurde. Juncker in Halle schätzte in seinem 1796 — 1798 erschie-
nenen „Archiv der Aerzte und Seelsorger wider die Pockennot" die
jährliche Sterbeziffer an Blattern für das Ende des 18. Jahrhunderts
in Deutschland auf 70000, für ganz Europa auf rund 400000 Todes-
fälle. Nach de la Condamine starben in Frankreich alljährlich
etwa 30000 Menschen an den Pocken und Rosenstein hat für
Schweden ausgemittelt , dass in den Jahren 1749 — 1765 der zehnte
Teil der Geborenen van Variola dahingerafft worden war. Aus den
berühmt gewordenen schwedischen Pocken- Todeslisten ist zu ersehen,
dass in den Jahren 1774 — 1800 von 1000 Gestorbenen 79 auf Variola
entfielen; nach Creighton's genauen Zusammenstellungen kamen
innerhalb des Zeitraumes 1721—1780 in London durchschnittlich auf
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 847
1000 Todesfälle 73 bis 103 an Pocken verstorbene Personen. Aelin-
liche Verhältnisse sind für andere Städte bekannt geworden.
Die Pocken waren vor Je nn er 's Entdeckung- die gefurchteste
Krankheit, namentlich für die Kinderwelt, zu gewissen Zeiten und an
einzelnen Orten war ihr nicht selten die „ganze Jugend'' erlegen.
Nach übereinstimmenden Schätzungen entging kaum der zehnte Teil
der Lebenden der Blatternkrankheit. Kein Stand und Rang blieb
von ihr verschont; man sah in ihr eine „unabwendbare Schicksals-
fügung*' und ergab sich, wie Sarcone sagt, in den Gedanken, dass
der Keim des Uebels dem Menschen vom ersten Augenblick seines
Lebens an in die Adern gelegt sei.
So sehr man bemüht war, der scheusslichen Krankheit Einhalt
zu gebieten, durch Absperrung von Blatternkranken, Räucherung in-
fizierter Wohnungen, Vernichtung von verseuchten Kleidungs- und
Wäschestücken, der Ansteckung vorzubeugen, der P^ffekt der dagegen
aufgebotenen Massregeln würde bei der Vehemenz und örtlichen Aus-
dehnung der Epidemien selbst für eine bessere Sanitätspolizei, als
sie das 18. Jahrhundert aufzuweisen hatte, unbesiegbare Schwierig-
keiten gebildet haben. Angesichts des fortdauernden Blatternelends
blieb kein Mittel unversucht, die Ki-ankheit von dem Einzelnen wie
von der Gesamtheit abzuwenden und umso verständlicher wird es,
wenn im Laufe des 18. Jahrhunderts die künstliche Einimpfung, die
Inokulation der Pocken den vornehmsten Platz unter den Präventiv-
massregeln sich erobert hat.
Die Inokulation der Variola reicht in ihren Anfängen in
graue Vorzeit zurück. Welchem Volke ihre Erfindung zuzuschreiben
ist, wird kaum zu ergründen sein ; ihre allgemeine Verbreitung unter
den Naturvölkern der Gegenwart spricht dafür, dass die Volksmedizin
so vieler räumlich und zeitlich weit voneinander getrennter Stämme
hier wie in anderen Krankheiten aus der gemeinsamen Quelle, der
Beobachtung und Erfahrung die gleichen Mittel und Wege der Ab-
hilfe gewonnen hat. Die uralte Sitte der Blatternimpfung in Hin-
dostan, von den Braminen mittels Skarifikationen geübt, fand in China
ihr primitives Gegenstück in der Bekleidung der Kinder mit von
Blatternstoff imprägnierten Hemdchen oder in der Tamponierung der
Nasenlöcher mit Pockenkrusten. Das „Blatterakaufen" bestand als
alte Sitte sowohl in Xordafrika, wie in Europa. Nach Creighton
war es zu Anfang des 18. Jahrhunderts in Schottland üblich, die
Kinder zu Pockenkranken zu legen oder ihnen Pockenschorfe in die
Haut einzureiben. Seit undenklichen Zeiten wurde bei den Völker-
schaften Vorderasiens, vor allem bei den um die Schönheit ihrer
Töchter besorgten Circassiern und Georgiern in ebenso einfacher als
zweckmässiger Weise die Inokulation der Blattern mittels der Nadel
vollführt und diesem zumeist von heilkundigen Weibern geübten Ver-
fahren ein sicherer und auffallend günstiger Erfolg nachgerühmt.
Von hier aus fand die Inokulation auf ihrem Wege über Thessalien
am Ende des 17. Jahrhunderts Eingang in Konstantinopel und insbe-
sondere unter den dort zahlreich lebenden Griechen raschen Anklang.
Von den glücklichen Erfolgen der Blatternimpfung ermutigt, entschloss
sich die Gemahlin des englischen Gesandten in Konstantinopel Lady
Worthley Montague 1717 ihren 6jährigen Sohn und nach ihrer
Rückkehr in die Heimat in London 1721 ihre Tochter mit echten Pocken
impfen zu lassen. Der günstige Ausfall dieses Unternehmens en-egte
848 Victor Fossel.
Aufsehen, nicht nur in England, sondern in der ganzen Welt. Der
Hof und die vornehmste Gesellschaft Londons folgte dem Beispiele der
edlen Frau und inaugurierte den Beginn der ersten Inokulationsperiode,
die jedoch bei dem Widerstände, auf welchem die Blatternimpfung
in Frankreich und Deutschland stiess, auf England beschränkt blieb.
Doch auch hier führten die vielen lethal verlaufenden Fälle von
Impfvariola zur schärfsten, namentlich von der Geistlichkeit ge-
schürten Gegnerschaft und brachten die Operation, die überdies roh
und unüberlegt von Aerzten und noch mehr von habgierigen Charla-
tans gehandhabt vv^urde, bald in Misskredit. Im Zeiträume von
1726 — 1746 kam die neue Methode zum vollständigen Stillstand und
Verfall. In Deutschland war es vor allen de Haen, der die Ino-
kulation mit heftigster Erbitterung bekämpfte. Nach seiner Be-
hauptung sei die Impfung gegen Gottes Gebot, sie schütze nicht
gegen die natürlichen Pocken, von denen der Mensch auch zweimal
befallen werden könne, den inokulierten Blattern seien öfter die echten
gefolgt, mit der Variolation werde nur das Blatterngift verbreitet und
fände eine Eeihe von anderen Krankheitskeimen Eingang in den
menschlichen Körper.
Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts erhoben sich aus dem
endlosen Streite beredte Fürsprecher der Inokulation, deren klare und
überzeugende Beweisführung der Sache neuen Anhang gewann. Die
Schriften, durch welche de la Condamine in Frankreich, T i s s o t
in der Schweiz und Hensler auf deutschem Boden die Inokulation
verteidigten und zu allgemeiner Durchführung empfahlen, leiteten er-
folgreich die Bewegung ein, die mit G a 1 1 i ' s Auftreten vom Jahre 1760
an zur zweiten Periode, zur Blütezeit der Blatternimpfung, geführt
hat. Angelo Gatti, Professor in Pisa, lernte im Orient die soge-
nannte griechische Methode der Inokulation kennen und ging 1760
daran, dieselbe in Paris einzubürgern. Die glänzenden Erfolge, die
er daselbst erzielte, vor allem die Ueberlegenheit und Sorgfalt des
Verfahrens, die strenge Prüfung und Sichtung der bisherigen Impf-
technik, die überdachte Beherrschung des pathologischen Experiments
sichern ihm für alle Zeiten den Ruhm eines der bedeutendsten Aerzte
des 18. Jahrhunderts, der in wirksamster Weise den Boden vorbe-
reitete, auf dem nach wenigen Dezennien die grosse Schöpfung Jenners
erstehen sollte. Gatti war es, der die üblichen, höchst fehlerhaften,
plumpen und gefahrvollen Methoden der Inokulation bekämpfte; er
verurteilte die bisher allgemein beliebte Vorbereitungskur durch ent-
leerende schwächende Arzneimittel, wollte überhaupt die Variolation
nur auf Gesunde beschränkt wissen und tadelte die qualvolle und
häufig bedrohliche Anwendung der zahlreichen ausgedehnten Haut-
schnitte bei der Inokulation. Er brachte die bewährte Form der Ein-
stiche mittels imprägnierter Nadelspitze zu Ehren und riet dringend
dazu, nicht alten und aufbewahrten, sondern frischen und von leichten
Pockenfällen stammenden Blatterninhalt zu verwenden, der schon
durch mehrere Individuen weiter verimpft worden war. Mit dem In-
stinkte des feinen Beobachters hat demnach Gatti die uns heute ge-
läufige Abschwächung des Blatternvirus durch fortgesetzte Variolation
vorausgeahnt.
In England erwarben sich gleichzeitig die Brüder Sutton den
Ruf glücklicher Inokulatoren , obgleich sie ihr Verfahren in den
Schleier des Geheimnisses hüllten, das aber in Wirklichkeit nur in
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 849
der Xachahmung- der Gatt i "sehen Methode bestand und von Dims-
dale später vervollkommnet wurde. Neben den genannten Männern
machten sich Paul Camper in Holland, Hensler in Deutschland
und Rosenstein in Schweden um die Einführung der Inokulation
verdient. Mit Ausnahme der Schweiz und Italiens fand sie jedoch
nur wenig Anklang, ja selbst in Frankreich, wo man trotz der Er-
folge Gatti's die Inokulation als Quelle der Blatternkrankheit und
ihrer Verschleppung mit Grund beschuldigte, legte 1763 das Parlament
gegen die Fortsetzung der Blatternimpfung Verwakrung ein.
Der verhältnismässig geringe Aufschwung, welchen die Inokulation
genommen, fand seine Erklärung in den nicht wegzuleugnenden Ge-
fahren, von denen das Leben der Operierten bedroht war. Im Mittel
hatte sich das Sterblichkeitsverhältnis bei der Variolation auf 1 : 300
gestellt; dazu kam aber die weitere Thatsache, dass durch die In-
okulation die Krankheit sporadisch und selbst epidemisch verbreitet
und demnach die Gegnerschaft, die sie vom Anfange an unter Aerzten
und Laien gefunden hatte, durch die gemachten traurigen Erfahrungen
immer von neuem bestärkt wurde. Mit Jenner 's genialer Ent-
deckung war das Los über die Inokulation gefallen, sie fristete nur
noch in England ein bescheidenes Dasein, bis sie 1840 gesetzlich ver-
boten wurde. Trotz ihrer Unvollkommenheit, trotz der schweren Be-
denken, die sich der allgemeinen Anwendung mit Recht gegenüber
gestellt haben, war die Inokulation der erste Versuch, eine mörderische
Krankheit durch ihre eigenen Produkte zu bekämpfen. Gegenüber
dem furchtbaren Blatternelend des 18. Jahrhunderts erschien die In-
okulation, besonders unter den nötigen Kautelen ausgeführt, als eine
im Einzelfalle oft erfolgreiche, für die Gesamtheit desto bedenklichere
Prophylaxis, deren Aufschwung nur aus der fortdauernden Blattern-
furcht erklärt werden kann. Die Variolation bildet aber zugleich die
Vorstufe zur Vaccination und demnach eine denkwürdige Epoche in
der Geschichte der Variola.
Wie die Inokulation, wurzelte auch die Vaccination in der
Erfahrung und der Beobachtung des Volkes. Nach glaubwürdigen
Berichten reicht ihre Kenntnis in das alte Indien zurück. A. v. Hum-
boldt begegnete ihr 1803 unter den Hirtenstämmen der mexikanischen
Berge als einem längst bekannten Schutzmittel und wie persischen
Nomadenstämmen war dem Landvolke in England, Deutschland und
Frankreich die Thatsache geläufig, dass die originären Kuhpocken
auf Menschen übertragbar und diese dann gegen die Blatternkrankheit
geschützt seien. Ein englischer Pächter, Benjamin Jesty impfte
wahi'scheinlich als Erster (1774) die Vaccine auf Frau und Söhne,
wie später (1791) der Schulmeister Plett zu Starkendorf bei Kiel in
gleicher Absicht und mit gleich sicherem Erfolge an den Kindern
seines Gutsherrn die Impfung mit der Pockenlymphe von Kühen vor-
nahm. Die Aerzte Sutton und Fewster hatten schon 1768 die
traditionelle Schutzkraft solcher Impfungen gelegentlich geprüft und
bestätigt gefunden, ohne jedoch die Sache weiter zu verfolgen. Erst
Edward Jenner (1749 — 1823), dem edlen Arzte von Berkeley in
Gloucestershire, dem grossen Wohlthäter der Menschheit, gebührt der
Ruhm, die Schutzwirkung der Vaccine durch 30 Jahre mit aller Sorg-
falt verfolgt, durch fortgesetzte, exakte Versuche geprüft und auf dem
Wege des wissenschaftlichen Experiments zu einer der bewunderungs-
würdigsten Leistungen der Heilkunde erhoben zu haben. Ausgehend
Handbnch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 54
850 Victor Fossel.
von der Volkserfalirimg, dass die zufällige Uebertragung der Kuh-
pocken auf den Menschen gegen Variola immunisiere, blieb Jenner
keineswegs bei dieser Thatsache stehen; er war es, der schon am
14. Mai 1796 die erste Impfung mit humanisierter Lymphe erfolgreich
vollzogen und in den beiden folgenden Jahren seine gewissenhaften
Studien dahin erweitert hat, indem er durch 5 Generationen hindurch
das Kuhpockenvirus weiter geimpft und durch die nachträgliche und
resultatlos verlaufende Variolation den sicheren Beweis der Wirksam-
keit des Verfahrens erbrachte. Ihm verdankt die Welt die Ent-
deckung der humanisierten Lymphe, durch deren Verwendung die
Kuhpockenimpfung überhaupt zum Gemeingut der Völker werden
konnte.
Im Jahre 1798 publizierte Jen n er endlich seine Beobachtungen
in der berühmten Schrift: „An inguiri intho the causes and
effects of the Variolae vaccinae", der er in den beiden
folgenden Jahren noch zwei weitere ergänzende Arbeiten über den
Gegenstand folgen Hess. Mit einem beispiellosen Enthusiasmus wurden
diese Veröffentlichungen aufgenommen. In der Heimat des Autors
griffen zunächst P e a r s o n und W o o d v i 1 1 e die Versuche J e n n e r ' s
auf, ihnen schlössen sich in allen europäischen Staaten begeisterte
Aerzte an, die Jen n er 's Gedanken mit aller Thatkraft zu ver-
wirklichen bestrebt waren. Ferro und deCarro in Oesterreich,
Aubert und Husson in Frankreich, Ball hörn, Stromeier,
Sömering u. a. in Deutschland waren die Apostel der neuen Lehre.
Ihren Bemühungen war es zu danken, dass öffentliche und private
Impfinstitute, wie in London, Wien, Berlin u. a. 0. geschaffen wurden.
Keiner von diesen hervorragenden Männern vermochte sich aber mit
den energischen und glänzenden Erfolgen zu messen, die Luigi
Sacco in Mailand aufzuweisen hatte, dem es nicht nur gelang, mit
planmässiger Durchführung der Vaccination bedrohliche Pocken-
epidemien zu unterdrücken, sondern der auch durch seine experi-
mentellen Studien über die Natur der Vaccine, ihres Verhältnisses zu
anderen Tierpocken und deren wechselseitiger Schutzkraft für geraume
Zeit die Grenzen der Erkenntnis festgestellt hat. Seinen Anregungen
blieb späterhin Italien getreu, ja die Sorgfalt, mit welcher alsbald die
dort populär gewordene Schutzpockenimpfung gepflegt wurde, führte
hier schon am Beginne des Jahrhunderts zu den ersten Versuchen der
animalen Vaccination.
In den übrigen Ländern Europas fand Jenner's Schöpfung an-
fanglich den wärmsten Beifall. Doch schon innerhalb des ersten Jahr-
zehntes erkaltete der erste Feuereifer, in England selbst führte der
mit der Vaccination getriebene Missbrauch rasch zu einer ablehnen-
den Haltung der Bevölkerung, die sogar der alten Inokulation teilweise
den Vorzug einräumte, so dass Jenner, der gefeierte Mann seines
Volkes, dem wiederholt die reichsten Belohnungen und Auszeichnungen
des Parlamentes zuteil geworden waren, den Rückgang und Stillstand
seines Werkes erleben musste. In Frankreich, Russland und den
aussereuropäischen Ländern kam die Vaccination keineswegs zu all-
gemeiner Verbreitung; Preussen und Oesterreich begnügten sich mit
der Handhabung des indirekten Impfzwanges, nur die Schweiz, Däne-
mark, die skandinavischen Länder, sowie die süddeutschen Staaten,
Kurhessen, Nassau und Hannover erkannten in der Schutzpocken-
impfung eine für jedermann verbindliche Pflicht und regelten sonach
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 851
die obligatorische Vaccination innerhalb der ersten zwei Dezennien
im Wege der Gesetzgebung.
So siegreich die Vaccination in den ersten Jahren ihres Bestandes
die Teilnahme und Unterstützung aller Menschenfreunde eroberte und
gegenüber zahlreichen Blatternepidemien eine offenkundige Milderung
der Morbidität und Mortalität bewirkte, so hat gleichwohl die Er-
fahrung gelehrt, dass die Schutzkraft der einmaligen Impfung nicht
für das ganze Leben der Individuen ausreiche. In dem später zu er-
wähnenden sogen, englischen Blaubuche vom Jahre 1857 wurde die
Pockensterblichkeit, wie sie in der prä- und postvaccinalen Periode
sich in vielen Ländern herausgestellt hatte, übersichtlich zusammen-
gestellt. Der Rückgang der Mortalität an Variola war überall ein
beträchtlicher, in vielen Gebieten geradezu überraschender. Aber
Jenner's Glaube, dass die Vaccination allen Geimpften unfehlbaren
und dauernden Schutz gewähre, sollte nicht in solchem L'mfange in
Erfüllung gehen. Mehr und mehr drängte sich der ärztlichen Welt
die Ueberzeugung auf. dass Vaccinierte nicht selten späterhin von der
Variola ergriffen wurden und dass sonach der Schutzpockenimpfung
nur eine zeitliche Dauerhaftigkeit zukam. Dabei konnte nach den
in allen Ländern gemachten Beobachtungen nachgewiesen werden, wie
die Durchführung der Vaccination, selbst in Staaten, wo sie gesetz-
lich geregelt war, nicht mit vollem Ernste gehandhabt wurde, ja man
lernte einsehen, dass ein beträchtlicher Teil angeblich Geimpfter
wegen Xichthaftung der Vaccination in Wirklichkeit den Ungeimpften
beigezählt werden musste. Bei der Lässigkeit, mit der sogar impf-
freundliche Regierungen dem immer geräuschvoller auftretenden Ein-
sprüche der Impfgegner gegenüber sich verhielten, konnte es nicht
fehlen, dass die energische öffentliche Fürsorge gegen die Pocken-
abwehr erlahmte und die Wohlthat der Vaccination meist nur dem
lokalen Einflüsse oder dem Belieben des Einzelnen überlassen blieb.
Ueberblicken wir den Gang der Blatternseuche seit dem Anfang
des 19. Jahrhunderts, so war mit Unparteilichkeit die Thatsache in
allen Ländern zu konstatieren, dass innerhalb des ersten Dezenniums
die Erkrankungen und Sterbefalle an Variola in ganz augenfälligen
Dimensionen sich vermindert hatten. Dieser glänzende Erfolg, welchen
Jenner's Entdeckung aufwies, verleitete selbst Aerzte zu der vor-
zeitigen Hoffnung, dass nunmehr die Blattern ausgerottet seien. Trotz
der andauernden Kriegszüge, die in den ersten anderthalb Jahi'zehnten
ganz Europa zu erdulden hatte, traten Pockenepidemien damals nur
selten und in einer Form auf. die die einstige Bösartigkeit der Ki-ank-
heit fast vergessen liess. Doch schon vom Jahre 1813 an war sie in
vielen Gegenden Deutschlands wieder erschienen, vom Jahre 1816 an
erlangte sie in Frankreich, Italien. England und Schottland eine rasch
zunehmende Verbreitung und im Jahre 1817 in der alten wie in der
neuen Welt eine enorme Ausdehnung. Von nun an recrudescierten die
Pocken nach kurzen Zwischenpausen in den verschiedenen Ländern
und Städten, an einzelnen Plätzen mit der ganzen Heftigkeit des alten
Blattemelends, wie beispielsweise 1828 in Marseille, wo mehr als
6000 Personen der Variola erlagen.
Hiebei war der ärztlichen Beobachtung nicht entgangen, dass
neben der schweren Variola eine beträchtliche Zahl von leichteren
Erkrankungsformen zu Tage trat, eine Erscheinung, die allerdings
schon in der prävaccinalen Periode konstatiert worden war, nunmehr
54*
852 Victor Tossel.
aber wegen ihres liäufigen Vorkommens bei Vaccinierten als eine Folge-
wirkung der Kuhpockenimpfung gedeutet wurde. Von neuem ent-
brannte der Streit über die Schutzkraft der Vaccine, über den Cha-
rakter jener als besonderen und von Variola gänzlich differenten Ab-
art angesehenen blatternähnlichen Krankheit, von der sogar bedeutende
Aerzte; im guten Glauben an die infallible, lebenslängliche Schutz-
kraft der Vaccine, annahmen, dass bei deren Bekämpfung die nur
gegen das variolöse Virus wirksame Kuhpockenimpfung zweifelhaft,
wenn nicht ganz ohne Nutzen sei. Und um noch mehr Verwirrung
in die Sache zu bringen, wies man der neuen Spezies die Stellung an
zwischen der Variola und den Varicellen, obgleich man letztere
in der Pathologie jener Zeit keineswegs zu den Pocken gerechnet
hatte. Erst mit Thomson, der 1820 für die gemilderte jedoch
genetisch mit der Variola zusammenhängende Blatternform die Be-
zeichnung Varioloiden gewählt hatte, schien der Kampf beigelegt
zu sein, obgleich eine Eeihe hervorragender Aerzte Frankreichs und
Deutschlands lebhaft dagegen Stellung nahm und im Laufe der Zeit
dieser Form der „modifizierten oder mitigierten Blattern"
die Natur der Variola vera erst dann zugestand, als das Experiment
und noch weit eindringlicher die Bösartigkeit der folgenden Epidemien
die Ueberzeugung befestigt hatte, dass zwischen den echten Blattern
und den Varioloiden in Wesenheit nur ein gradueller Unterschied
bestehe.
Vom Anfang der 30 er Jahre an konnte in den meisten Ländern
Europas die Wiederkehr der Pockenseuche, und zwar in stärkeren
Nachschüben beobachtet werden, wenngleich der Segen der Impfung
dort, wo er gesetzlichen Boden gefunden, unverkennbare Geltung er-
rang. So war der Beginn dieser Periode durch wiederholte pan-
demische Züge der Blattern durch ganz Europa gekennzeichnet, deren
Höhe auf das Jahr 1834 fiel ; mit ihnen traten gleichzeitig verheerende
Epidemien in Asien wie in Nordamerika auf, die u. a. im Westen der
Vereinigten Staaten ganze Indianerstämme vernichteten. Nicht weniger
schwer wurde unser Kontinent im folgenden Jahrzehnte von der
Seuche heimgesucht. Ohne Unterbrechung zogen sich vom Jahre 1 850
an die Blattern durch alle Teile der Welt fort, erreichten in den
Jahren 1856 — 59 in Russland, woselbst die Vaccination seit Anfang
des Jahrhunderts kaum mehr geübt worden war, eine Bösartigkeit,
die an die schlimmsten Zeiten des vorigen Säkulums gemahnte. Im
darauffolgenden Dezennium erlosch die Variola in keinem Lande
Europas, fast jede Stadt wies wiederholte und grössere Epidemien auf,
selbst Süddeutschland mit seinen vortreiflichen Impfgesetzen vermochte
sich der Einschleppung und Zerstreuung der Krankheit nicht zu er-
wehren. England, Italien und Frankreich litten empfindlich unter
den Blattern, die nach geringem Stillstande immer wieder von neuem
zu weit verbreiteten Verheerungen anschwollen und jene denkwürdige
Pandemie vorbereiteten, die während des deutsch-französischen Krieges
den ganzen Kontinent und die anderen Weltteile mit furchtbarer
Elementargewalt überfiutet hat.
Bevor wir dieser traurigen Epoche näher gedenken, müssen wir
des Verständnisses halber auf das Geschick der Vaccination zurück-
greifen, weil nur aus ihrem wechselvollen Entwicklungsgange die
historische Schilderung der Blatternkrankheit im mittleren Dritteile
des Jahrhunderts richtig beurteilt werden kann. Schon im dritten
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 853
Jahrzehnte nach Jenner's Entdeckung, als die ärztliche Welt über
Thomson's Varioloiden diskutierte, begann man immer lebhafter
die Frage zu erörtern, ob bei Geimpften die Disposition zur Variola
völlig auszuschliessen oder nur als eine zeitlich begrenzte anzunehmen
sei. Die damals herrschenden Blatternepidemien und die in allen
Ländern gemachten Beobachtungen, wonach unter den Erkrankten
die Zahl der Geimpften immer mehr zunahm, boten hinreichende Ge-
legenheit, die Lösung dieses zur Zeit noch ungeklärten Problemes in
Fluss zu bringen. Vornehmlich waren es die deutschen Aerzte
AVolfers und Dornblüth, die neben Gregory in England,
Kobert in Frankreich, Herder in St. Petersburg durch sorgfältige
Studien am Krankenbette und durch Vornahme der schon von Jenner
und 1806 von Pearson empfohlenen Wiederimpfungen die Ange-
legenheiten förderten. Ihren Bemühungen war zunächst der Xach-
weis gelungen, dass die Vaccination nach Ablauf einer gewissen Zeit-
dauer an Schutzkraft einbüsse, hingegen nach dieser Frist neuerlich
volle Empfänglichkeit für die Vaccine eintrete und unter Umständen
auch für Variola sich entwickle; folgerichtig sei nach Ablauf des
Impfschutzes die Immunisierung des Menschen durch eine erneuerte
Impfung sicher zu stellen und demnach die Re vaccination als
eine unerlässliche Forderung anzuerkennen. So leidenschaftlich später-
hin die Impfgegner die Wiederimpfung für ihre Zwecke ausgebeutet
und als schlagendes Argument für die Nutzlosigkeit der Vaccination
überhaupt in den Vordergrund ihrer Angriffe gestellt haben, das Re-
vaccinationsverfahren fand alsbald in vielen Ländern Eingang und
den gesetzlichen Schutz vieler Eegierungen. Voran schritt Württem-
berg, das schon 1829 die obligatorische Re vaccination in seiner Armee
angeordnet hatte, welchem Beispiele in rascher Folge die anderen
deutschen Bundesstaaten (mit Ausnahme Oesterreichs) sich anschlössen.
Schweden und die Mehrheit der übrigen Staaten Europas führte erst
später die Wiederimpfung als Zwangsimpfung der Rekruten im Heere
und in der Flotte ein.
Auffällig geringer war die Sorge um das Wohl der Civilbevölke-
rung; nur Schweden, Württemberg. Bayern und Preussen schrieben
die Wiederimpfung vor, ohne jedoch einen Zwang zu üben. Sonst
hatte die Staatsgewalt nirgends ernste Schritte zur Durchführung
der Revaccination unternommen, vielmehr deren Wohlthat mehr der
privaten Einsicht überlassen. Davon konnte aber um so weniger
in jener Zeit die Rede sein, weil die grosse Menge und leider auch
viele Aerzte eines sicheren Urteiles über den Nutzen der Impfung
entbehrten. Wiederum war es England, das auch hierin die ersten
Impulse gab und die Frage der Impfung in einer denkwürdigen Form
der gesamten ärztlichen Welt zur Entscheidung vorlegte. Der Ver-
fall der Vaccination in Grossbritannien, der 1853 vom Parlamente
forcierte, aber schon nach Jahresfrist im Schosse derselben Körper-
schaft bekämpfte Impfzwang bot 1855 dem obersten Gesundheitsrate
in London Anlass, über die Impffrage und ihre wesentlichen Haupt-
postulate die Urteile der bedeutendsten medizinischen Gesellschaften
und der angesehensten ärztlichen Fachmänner der ganzen Welt ein-
zuholen. Nicht weniger als 502 Gutachten bildeten die Antwort auf
diese Umfrage, viele Regierungen stellten überdies reichhaltige sta-
tistische Ausweise über die bisherigen Impfergebnisse und darauf
zielende wissenschaftliche Arbeiten zur Verfügung. Das gesamte, im-
854 Victor Fossel.
posante Aktenmaterial wurde von John Simon, dem würdigen Re-
ferenten der genannten Gesundheitsbehörde in einem erschöpfenden
Berichte zusammengefasst und im Mai 1857 dem Parlament vorgelegt.
Das berühmte Englische Blaubuch, ein monumentales Werk in
der Geschichte der Pockenkrankheit, ergab die nahezu überein-
stimmende Anerkennung des hohen Wertes der Kuhpockenimpfung
und deren Unschädlichkeit, während die Meinungen der Aerzte in
der Frage der Uebertragbarkeit der Syphilis, Skrophulose und anderer
Krankheiten durch die Vaccination auseinander gingen. Der unschätz-
bare Gewinn und Erfolg dieses allgemeinen Scrutiniums war zunächst
der einer gründlichen Klärung und Orientierung in der Impftrage
selbst, bei deren Erörterung jedoch vorderhand die Vorteile der Re-
vaccination auffälligerweise nicht zu näherer Beratung und Formu-
lierung gekommen waren. Positive und praktische Resultate fielen
für die nächste Zeit nur im geringen Masse ab, denn selbst in Gross-
britannien und Irland, wo der allgemeine Impfzwang in den 60er
Jahren noch erweiterte gesetzliche Grundlagen erhielt, blieb die
Durchführung gegen die gutgemeinten Absichten zurück, obgleich die
Abnahme der Pockensterblichkeit unverkennbar ihren ziffernmässigen
Ausdruck in den Mortalitätstabellen gefunden hatte. Auf der. anderen
Seite gaben aber die im Blaubuche niedergelegten Verhandlungen den
Anstoss, die Frage der Impfsyphilis von neuem aufzuwerfen und zu
einem Thema zu erheben, um welches sich der erbitterste Streit der
Impffreunde und Impfgegner in der Folgezeit bewegen sollte. Wenn
auch Gesundheitsschädigungen durch Uebertragung der Syphilis und
anderer Krankheiten seit dem Bestände der Vaccination vorgekommen
waren, so war doch nach aller Erfahrung ein solches Erreignis überaus
selten eingetreten und keineswegs durch solche unglückliche, verein-
zelte Infektionsfälle der Ansturm gerechtfertigt, mit welchem die Impf-
feinde gegen die Segnungen der Vaccination losbrachen, indem sie in
masslosester Uebertreibung die Impfung an sich als gefahrvolle Ver-
mittlerin aller erdenklichen Krankheiten zu brandmarken suchten.
Immerhin führte die lebhaft bewegte Debatte über die Mängel und
Fehler des bisher geübten Impfverfahrens selbst in den Kreisen ein-
sichtsvoller Aerzte zu der Erkenntnis, dass die Provenienz des Impf-
stoffes, seine Beschaffenheit und die dadurch bedingte Schutzkraft
innerhalb der abgelaufenen Jahrzehnte bei der Handhabung der Vac-
cination nicht strenge genug berücksichtigt worden war. Ohne in
die Einzelheiten der über die Eigenschaften der tierischen und mensch-
lichen Lymphe seit dem Ende des vierten Dezenniums angestellten
Beobachtungen einzugehen, unter denen die Studien Ceely 's, Reiter 's
u. a. Männer wesentlich die Klarstellung des Gegenstandes vorberei-
teten, mag an dieser Stelle erinnert werden, wie aus den Verhand-
lungen über die Fortpflanzung der Vaccine allmählich die Frage der
animalen Vaccination emporgetaucht war, um dann nach mehreren
Dezennien zur allgemeinen Anerkennung zu gelangen. Die Rück-
übertragung humanisierter Vaccine auf das Tier hatte schon 1805
Troja in Neapel versucht, dann dessen Landsmann Galbiati im
Jahre 1810 wiederum aufgenommen, damit aber entschiedene Ab-
lehnung erfahren. Erst Negri knüpfte im Jahre 1840 an die „nea-
politanische Methode" an, impfte von Kalb zu Kalb weiter und sah
seine Bemühungen, auf diesem Wege klaglosen Impfstoff in aus-
reichenden Mengen zu gewinnen, vorderhand nur in seinem Wohnorte
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 855
Neapel belohnt. Das Ausland verhielt sich gegen sein Verfahren lange
hindurch skeptisch, obschon 1864 Lannoix in Paris, 1865 Warlo-
m 0 n t in Brüssel und T i s s i n in Berlin N e g r i ' s Methode in vollem
Umfange gewürdigt und "svarm empfohlen hatten.
Kehren wir zu unserer historischen Skizze der Blatternepidemien
zurück. Es wurde schon angedeutet, wie hartnäckig Westeuropa in den
Jahren 1860 — 70 von der Variola heimgesucht worden war. Besonders
war es Frankreich, wo sich gegen Ende dieser Periode die Pocken im
ganzen Lande verbreiteten und in der Hauptstadt eine immer mehr zu-
nehmende Sterblichkeit verursachten. — Mit dem Beginne des Jahres
1870 stieg die Epidemie sowohl in Paris wie in zahlreichen Departe-
ments zu bedrohlicher Höhe an und fand überdies bei Ausbruch des
Krieges in der mangelhaft geimpften Bevölkerung und namentlich unter
den Truppen selbst den günstigen Boden ihrer Ausdehnung. Mit dem
Transporte französischer Gefangener gelangten die Blattern nach
Deutschland, die gleichzeitig nach Belgien, Holland, der Schweiz und
Italien verschleppt worden waren. Von nun an schritt die Seuche
unaufhaltsam nach allen Bichtungen vorwärts und entwickelte sich
zu einer Pandemie. die ganz Europa überflutete, in Asien wie in
Amerika Einkehr hielt und erst im Jahre 1875 ihre Ende erreichte.
AVir können hier nur in wenigen Worten die allgemein beob-
achteten Thatsachen andeuten, die aus dieser Seuchenperiode resultiert
und vor allem die Schutzkraft der Impfung bestätigt haben. So sehr
auch die numerische Höhe der Morbidität und der Mortalität in vielen
Lokalepidemien der Jahre 1870 — 1875 sich beträchtlich gesteigert hatte,
so darf doch behauptet werden, dass die Erkrankungs- und Sterbe-
ziöern im ganzen weit hinter den Blatternverheerungen des vorigen
Jahrhunderts zurückgeblieben waren, obgleich die Bösartigkeit der
Variola an sich gegen frühere Zeiten in nichts eine Aenderung aufwies.
Die Vaccination und deren Vorteil trat in der Statistik aller Länder
und Städte, die zum Schauplatz der Seuche geworden waren, unwider-
leglich zu Tage. Wo die Schutzimpfung seit Jahren mit Umsicht und
Strenge geübt wurde, war die Blatternkrankheit erheblich geringer
aufgetreten, als dort, wo die Vaccination und Revaccination nur lässig
durchgeführt worden war. Nicht nur zeigte es sich, dass die in den
einzelnen Staaten vorgeschriebene Kinderimpfung in den ersten Alters-
stufen eine auffällige Immunität gegen Variola verliehen hatte, es
konnte auch überall der Beweis erbracht werden, dass einmalig ge-
impfte Erwachsene seltener und in milderer AA'eise erkrankten und
dass durch Revaccination geschützte Personen ein noch weit geringeres
Kontingent zu den von Variola Befallenen und zwar zu den leichteren
Infektionsformen gestellt haben. Wenn aber aus dem reichen Materiale
der Beobachtungen über den Anteil von Geimpften und Ungeimpften an
den Epidemien ein schlagendes Argument verdient hatte, zu Gunsten
der Schutzpocken herangezogen zu werden, so war es der Vergleich
der Erkrankungsziffer und der Lethalität der Variola unter den
Truppen des deutschen Heeres gegenüber jenen der französischen Armee.
Auf deutscher Seite, wo seit mehr als einem Menschenalter geordnete
Revaccinationsverhältnisse der Seuchenfestigkeit der Soldaten erheb-
lichen Vorschub geleistet hatten, sehen wir die verhältnismässig kleine
Zahl von 4991 Blatternkranken mit 297 {= 5,97 "/o) Todesfällen, hin-
gegen unter dem französischen Militär, das nur mangelhafte Impf-
zustände aufwies, einen durch die Pocken herbeigeführten Gesamtverlust
856 Victor Fossel.
von 23 400 Mann. Ebenso nachdrücklich belehrten die Verj^leiche der
Blatternmortalität in der dentschen Civilbevölkeriing und unter den
Angehörigen des Heeres in den Jahren 1870/71 über den ungeheuren
Nutzen und Vorteil geordneter Impf Verhältnisse.
Das junge deutsche Reich, so siegreich aus dem grossen Kriege
hervorgegangen, schritt alsbald zur Schaffung eines Friedenswerkes,
zur Regelung des Impfwesens. Mit dem deutschen Impfgesetze vom
8. April 1874 wurde die Impfung und Wiederimpfung allgemein ein-
geführt und damit ein leuchtendes Beispiel staatsmännischer Fürsorge
für das Gesundheitswohl der Bevölkerung gegeben. Unbeirrt von den
lärmenden Agitationen der Impfgegner war die deutsche Reichsregierung
in der Folge bemüht, durch Organisation staatlicher Anstalten zur
Gewinnung animaler Impflymphe, durch Vervollkommnung der Vacci-
nationstechnik die Ausgestaltung des öffentlichen Impfschutzes ziel-
bewusst zu fördern. Seit der Wirksamkeit dieser Massnahmen sind
die Pocken in Deutschland fast zu einer unbekannten Krankheit ge-
worden; die deutsche Impfgesetzgebung hat aber zugleich den Impuls
gegeben, dass die Mehrzahl der europäischen Staaten innerhalb der
letzten Dezennien der Bekämpfung der Pockenkrankheit erhöhte Auf-
merksamkeit zugewendet und erfolgreich an deren Eindämmung mit-
geholfen hat. Selbst in jenen Ländern, in denen die Einführung des
Impfzwanges noch nicht Gesetzeskraft erhalten hat, wird der erfreulich
zunehmende Aufschwung der Volksimpfung mit jedem Jahre mehr und
mehr durch den Rückgang der Erkrankungs- und Sterbeziffer der
Variola auf das glänzendste belohnt.
IX. Scharlach, Masern und Röteln.
Litteratur.
Sentiert, Opera, 1641. — Mead, De variolis et morbUlis, 1747. — Home,
Grundr. der Arznenviss. A. d. Engl. 1771. — Plenciz, Vom Scharlachfieber, 1779.
— Withering, Abh. v. Scharlachf. u. der Schlundbräune, Deutsch 1781. — Roseu-
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Hautkranliheiten, 1799 — 1806. — Struve, Untersuchungen üb. d. Scharlachkrank-
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Bd. 175 1877. — Johannessen, Die epid. Verbreitung d. Sch.-Fiebers in Noru-egen,
1884. — Creighton, l. c. 1894. — Guniploivicz, Casuistisches und Historisches
üb. Böthein, Jahrb. f. Kinderheilkd. 32. Bd. 1891.
Wenn wir im Anschlüsse an die Geschichte der Blattern die his-
torische Pathologie der übrigen akuten Exantheme zusammenfassend
vorführen, so sind es Zweckmässigkeitsgründe und vor allem geschicht-
liche Erwägungen, welche es gerechtfertigt erscheinen lassen, die bis
zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht voneinander unter-
schiedenen exan thematischen Krankheitsformen: Masern, Schar-
lach und Röteln im Zusammenhange zu besprechen. Die Geschichte
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 857
der Masern und des Scharlachs verliert sich im Altertum und im
früheren Mittelalter in ein völliges Dunkel, und selbst zur Zeit, als
die Variola von ihnen in gewissem Sinne ausgeschieden und in ihrer
besonderen Stellung unter den akuten Exanthemen auch epidemio-
graphisch auf den ihr zukommenden eigenen Platz gestellt zu werden
beginnt, bleiben die Morbillen und die Scarlatina als Undefinierte und
ineinander übergehende Formen eines neben den Blattern gedachten
febrilen Hautausschlages gänzlich im Hintergi-unde der Krankheitslehre
sowie der Seuchenberichte. Es wäre ein unnützes Bemühen, aus der
schon besprochenen hochberühmten Schrift des Rhazes ..de vari-
olis et morbillis" herausfinden zu wollen, ob hier im Gegensatze
zu den Pocken unter „Morbilli" die Masern- oder aber die Scharlach-
krankheit zu verstehen sei und ob die als ..Hasbah" den Blattern
(„Dschedrij") verwandten P^xantheme die eine oder andere Form
bedeuten. Noch schwieriger ist auf die Frage Antwort zu geben, wie
die dritte, von Rhazes mit dem Namen „Humak" bezeichnete Aus-
schlagskrankheit im heutigen Sprachgebrauche zu determinieren sein
wird. Dieses von den Arabisten auch als ..Blacciae" aufgeführte
Exanthem kann bei der Ungenauigkeit der Beschi-eibung ebensogut
für Masern, Röteln, wie für Friesel oder Varicellen angesprochen
werden, weil überhaupt in den Schriften der Araber und der ihnen
getreulich folgenden Arabisten ein strenger Unterschied zwischen den
einzelnen akuten Exanthemen nicht gemacht wurde. Es darf vielmehr
behauptet werden, dass bei den engen Beziehungen, die zwischen
den ..Morbillen" und der „Variola" gedacht wurden, es sich nach
arabischer Lehre mehr um Varietäten einer und derselben Grund-
krankheit und nicht um differente Prozesse gehandelt habe. Die
gleiche Unsicherheit ist in den Werken der mittelalterlichen Autoren
wahrzunehmen und viele der Schilderungen, welche die Pathologie
der ..Morbilli" zum Gegenstand haben, scheinen weit mehr dem Bilde,
Verlaufe und den Folgeübeln des Scharlachs als jenen der Masern
entnommen zu sein. Es begreift sich demnach, wenn die VerwiiTung,
die aus der unvollkommenen Unterscheidung der akuten Ausschlags-
formen entspringend und dem konservativen Zuge der damaligen Heil-
kunde entsprechend von Jahrliundert zu Jahrhundert sich fortschleppte,
für die Geschichte dieser Krankheiten nur ein negatives Resultat zu
liefern vermag und wir daher auf nähere Einsicht in das Alter, die
epidemische Verbreitung und ärztliche Kenntnis derselben im all-
gemeinen wie im besonderen zu verzichten haben werden.
Im 16. Jahrhundert blieb, obgleich einzelne Seuchenberichte un-
gezwungen auf das epidemische Vorherrschen des Scharlachs bezogen
werden können, die Trennung desselben von den ,.Morbilli" noch un-
vollzogen und wenn Ingrassia das um das Jahr 1550 in Neapel
unter dem Namen „Rossania" oder „Rossalia" herrschende Aus-
schlagfieber zwischen den Pocken einerseits und den „Morbillen" an-
dererseits einreihte, so unterliess er dabei nicht, die enge Verwandt-
schaft dieser genannten drei Exantheme anzuerkennen, ohne aber daran
wesentliche Unterscheidungsmerkmale zu knüpfen. Grössere Deutlichkeit
spricht aus der Beschreibung, die Ballonius über eine im Jahre
1574 in Paris beobachtete Epidemie von ..Rubiola" geliefert und
worin er eine Reihe charakteristischer Symptome des Scharlachs ge-
zeichnet hat.
Will an, Most, Schnitzlein u. a. Schriftsteller, welche der
858 Victor Fossel.
historischen Pathologie der akuten Exantheme eine besondere Auf-
merksamkeit zugewendet hatten, wollten in den einschlägigen Schil-
derungen von Forestus, Wierus und vor allen in den Nachrichten
der spanischen und italienischen Aerzte über die am Ausgang des 16.
und am Beginne des 17. Jahrhunderts in Südeuropa herrschenden
Diphtherie-Epidemien die unzweifelhaften Anzeichen des scarlatinösen
Krankheitsprozesses, verbunden mit der Angina maligna, also eine
ausgeprägte Scharlachdiphtherie erkennen. Der Mangel bestimmter,
einwandsfreier Beschreibungen des wichtigsten Symptoms des Leidens,
des charakteristischen Exanthems wie anderer pathognomischer Merk-
male des Scharlachs, erhebt aber die geschichtliche Forschung nicht
über Vermutungen hinaus; im Gegenteile, angesichts der Abwesenheit
einer genaueren Würdigung dieser Kriterien bei der als „Garotillo"
gemeinhin genannten Schlundbräune, deren Erscheinungen bis in alle
Einzelheiten von den damaligen Berichterstattern in geradezu klassi-
scher Weise beobachtet und beschrieben worden sind, muss sich weit
eher der Zweifel aufdrängen, ob hier wirklich die epidemische Scarla-
tina vorgelegen war.
Noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts werden Scharlach
und Masern in den Schriften der Aerzte zusammengeworfen und nebst
dem alten Namen der „Morbilli" im weiteren Sinne als Morbilli
ignei, Rubeolae, Rossalia erysipelata oder Erysipelas
schlechtweg aufgeführt. Und doch besitzen wir aus dieser Zeit die
Angaben zweier deutscher Aerzte, Döring und Senner t, die den
Scharlach in seinen wesentlichen Merkmalen erkannt und gezeichnet
haben. Während Döring die Krankheit noch den Morbillen beige-
sellte, stellte Sennert die Unterschiede des von ihm 1619 in Witten-
berg beobachteten epidemisch grassierenden Exanthems von jenem der
Variola und der Morbillen auf; und dennoch wusste Sennert, der
nach seinem eigenen Geständnis dem ihm neuartig erschienenen Aus-
schlagfieber keinen passenden Namen zu geben vermochte, nicht anders
sich zu helfen, als dasselbe für eine modifizierte Form der „Morbilli"
zu erklären. Er schildert die Krankheit, die ihm mit dem von
Forestus als Purpura et rubores oder von Ingrassia als
Rosalia benannten Uebel am meisten Aehnlichkeit zu haben scheint,
nach naturgetreuer Beobachtung in ihren eigenartigen Erscheinungen,
hebt u. a, die Abschuppung in der Rekonvaleszenz, die wassersüchtigen
Anschwellungen treffend hervor und erklärt, dass er die Erkrankung
für eine höchst schwere, gefahrvolle halte, die oft genug einen
lethalen Ausgang nehme. Wir dürfen mit vollem Recht in den
Schriften der beiden genannten Autoren die erste verlässliche Kunde
des Scharlachs erblicken, dessen besondere Eigentümlichkeit und
Verbreitung wir in früheren Seuchenberichten vergeblich suchen.
Von dieser Zeit an finden sich in Deutschland mehrere Angaben über
die Krankheit, die jedoch meist unter dem Namen: Purpura
maligna infantum, Morbilli ignei seu confluentes oder
Febris miliaris rubra von den Zeitgenossen erwähnt wird , indes
die Franzosen vorwiegend die Bezeichnung „Rubeolae", die Eng-
länder „the purpyles" gebraucht haben.
Mit Sydenham, der die Krankheit in den Jahren 1661 — 1675
in London in epidemischen Formen zu beobachten Gelegenheit hatte,
begann die Kenntnis des Scharlachs als besonderen Ausschlagsfiebers
und die bisherige Konfundierung mit den anderen akuten Exan-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 859
themen in das Stadium entschiedener Klärung zu treten. Er hat in
der Beschreibung des Uebels vorurteilsfrei die wesentlichen Züge des Pro-
zesses festsgetellt. dabei auch die Therapie, die vordem in den unsinnigsten
Prozeduren und Arzneiverschwendungen sich ergangen hatte, dui'ch
seine nüchternen Grundsätze wesentlich vereinfacht und verbessert.
Auffallenderweise sah Sydenham in der ^Febris scarlatina**
(ein Name, der sich schon in Italien während des 16. Jahrhunderts
vorfindet) eine milde unschuldige Erki-ankung. was wohl nur auf das
Torkommen gutartiger Epidemien bezogen werden kann. Sein Lands-
mann und Zeitgenosse Morton hingegen betrachtete, obgleich die
von ihm gegebene Darstellung des Scharlachfiebers ganz zutrefiende
Bemerkung enthielt, dasselbe nur für eine Varietät der Masern, das
sich zu diesen ähnlich verhalte, wie die konfluierenden Blattern zu
den einzelstehenden Variolapusteln. Demgemäss drang Morton da-
rauf, den Unterschied von Scharlach und Masern fallen zu lassen und
das unter ersteren Xamen zusammengefasste Leiden seiner oftmals
beobachteten schweren, nicht selten ,.pestillentiellen" Komplikationen
willen als ..Morbilli maligni" aufzufassen. Nur wenige Schrift-
steller erfüllten die letztere Forderung; Sydenham's Benennung
der Krankheit behauptete sich in der medizinischen Terminologie,
keineswegs aber die von ihm gelehrte strenge Differenzierung beider
Ausschlagsgattungen, die nach wie vor von vielen Autoren übersehen
oder kurzweg geleugnet wurde, weil man gewohnt war, dem Fieber
weit mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als den übrigen Symptomen
der Krankheit. Dazu kam die schwerwiegende Thatsache, dass die
Herrschaft der Diphtherie, die im Verlaufe des 18. Jahrhunderts über
nahezu alle eui'opäischen Staaten und Nordamerika Verbreitung ge-
funden hatte, den Glauben festigte, die Bräune bilde eine unzei-trenn-
liche Begleitei-scheinung des Scharlachs. Das Vorkommen der gut-
artigen scarlatinösen Angina war daher inmitten der fortdauernden
VerwiiTung gewiss nur zu leicht geeignet, zu dem Fehler zu ver-
leiten, solche Fälle und Epidemien je nach dem Standpunkte der Be-
obachter zu den Masern oder aber zum Friesel zu rechnen.
Wenn zwar die Nachrichten über das epidemische Scharlachfieber
gegen Ende des 17. Jahrhunderts nur spärlich fliessen , jene über
Masern epidemien aber aus den angedeuteten Gründen nur mit grösster
Vorsicht zu verweithen sind, so besitzen wir gleichwohl Berichte,
welche den Schluss zulassen, dass die „Febris scarlatina" in jener
Zeit häufiger als früher die Achtsamkeit der Aerzte auf sich gezogen
hatte. Neben England und Schottland ist Deutschland der Schauplatz
der Krankheit, die in den Jahren 1690 — 1696 in Sachsen, Württem-
berg, Berlin und Augsburg bösartig aufgetreten war.
Zahlreicher werden die Aufzeichnungen wälirend des 18. Jahr-
hunderts, aber auch sie gestatten nur ausnahmsweise ein richtiges
Urteil über den Charakter der gemeldeten Ausschlagsfieber. Zu den
sicheren Scharlachepidemien darf ein Grossteil des „Fievre rouge*'
gezählt werden, die in den Jahren 1707 — 1712 Paris heimgesucht
hatte. Vom Jahre 1717 an verbreitete sich, von heftigen Nachschüben
begleitet, das Uebel in Thüringen und Sachsen, worüber Storch in
Eisenach auf Grund seiner bis 1740 reichenden Erfahrungen eine ge-
diegene Monographie hinterlassen hat. Gleiches Lob gebührt der
Arbeit des Wiener Arztes Plenciz über den im Zeiträume 1740 bis
1762 beobachteten Scharlach, den der Verfasser in gutartigen wie in
860 Victor Fossel.
bösartigen Epidemien genau verfolgt und dargestellt hat. Das Ge-
samtbild des wahren Scharlachfiebers, wie es 1741 und 1763—1764 in
Stockholm weit verbreitet war, fand an Rosenstein einen kenntnis-
reichen Interpreten, während eine nicht geringe Zahl von Aerzten
nur ungenaue Beschreibungen der exanthematischen Volkskrankheiten
jener Zeit überliefert und mit der unverstandenen, damals in vollen
Aufschwung gebrachten Bezeichnung der mannigfachen Ausschlags-
gattuugen unter dem Sammelbegriffe „Friesel" die eingebürgerte
Verwirrung Jahrzehnte lang aufrecht erhielt. Noch grössere Dimen-
sionen nahm die Konfundierung in der Lehre von den akuten Exan-
themen an, als es nahezu Gemeingut der Aerzte geworden war, die
Angina gangraenosa als das wesentliche Merkmal des Scharlachfiebers
aufzufassen und dabei nur selten oder oberflächlich das Exanthem an
sich zu berücksichtigen. Zugegeben, dass im 18. Jahrhundert ebenso
wie in unserer Zeit die Scarlatina kombiniert mit der Diphtherie in
epidemischer Ausbreitung vorgekommen war, so wurden mindestens
beide Prozesse damals als identisch betrachtet und demnach, wie dies
Will an und Most in der Geschichte des Scharlachs inaugurierten,
schlechtweg viele epidemische Schlundkrankheiten unter Scharlach -
fieber verstanden und beschrieben. Unter diesem Gesichtspunkte fällt
es schwer, die unter dem Zeichen der Scharlach-Diphtherie einherge-
gangenen Epidemien in Nordamerika 1734 — 1736, in Frankreich
während der Jahre 1746—1751 und 1753, in England während
der Jahre 1739, 1749—1751, 1753, die Epidemie im Haag 1748 oder
in Lausanne 1761 u. a. m., trotzdem die Berichte von den ange-
sehensten Männern, wie Malouin, Garnier, Chomel, Navier,
Huxham, Fothergill, de Haen, T i s s o t u. a. auf uns gekommen
sind, hier eingehender und als zuverlässliche Quellenschriften der Ge-
schichte des Scharlachfiebers in specie zu besprechen. Das entschie-
dene Uebergewicht, das der gangränösen Halsaffektion über alle übrigen
Symptome eingeräumt wird und der weitere Umstand, dass nur
zweifelhafte Angaben über die Beteiligung der Hautdecke oder nur
flüchtige Notizen über die eigentümlichen Komplikationen an der Ge-
samterkrankung in deren Schilderungen Aufnahme gefunden haben,
lässt die Bedenken gegen die wahre Natur des Leidens einigermassen
begründet erscheinen, trotzdem dessen Kontagiosität unter allen
Umständen bei der Mehrzahl der Beobachter hervorgehoben wird.
Unverkennbar hat das Scharlachfieber in den letzten drei De-
zennien des 18. Jahrhunderts in Europa an epidemischer Ausbreitung
zugenommen. Die Beobachtungen der Krankheit in Holland, England,
Schweden, Dänemark, Deutschland, Frankreich und Italien, denen
sich mehrfache Epidemien in Nordamerika anreihten, haben, wie aus
der anwachsenden Litteratur jener Periode zu schliessen ist, nicht nur
die Aufmerksamkeit der Aerzte lebhafter beschäftigt, sondern auch
die schärfere Trennung des Uebels von den scheinbar ähnlichen
Prozessen begünstigt. Im allgemeinen trat das Scharlachfleber in
gutartigen Epidemien auf, andere hinwieder, wie z, B. die in den
Jahren 1795 — 1805 in Mitteldeutschland herrschende Seuche, waren
von einer ungewöhnlich hohen Sterblichkeit begleitet, deren Ursache
die Zeitgenossen und spätere Berichterstatter dem Brown'schen
Systeme und seinen in der Therapie des Scharlachs verhängnisvoll
gewordenen Uebertreibungen zuschreiben wollten. Um jene Zeit
(1799) hat Malfatti in Wien die verderbliche Ausbreitung des
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 861
Scharlachs unter Wöchnerinnen beobachtet und als besondere Spezies
der Krankheit unter dem Namen des ^Wochenbettfriesel~ gekenn-
zeichnet, worunter vielleicht eine gi'osse Zahl septischer Puerperal-
prozesse mitgezählt worden sein mag.
Die schärfere Umgrenzung des Krankheitsbegriffes der Masern
erfuhr während des 18. Jahrhunderts keine durchgreifende Umge-
staltung, trotzdem schon Svdenham, dessen Lehre für das ganze
Säkulum tonangebend geworden war. ihre spezifische Eigenart glücklich
aus der Yennengung mit anderen Exanthemen gelöst hatte. Es ge-
nügt, daran zu erinnern, dass namhafte Autoren, wie Huxham die
Morbillen nicht von dem Scharlach differenzierten oder andere Be-
obachter das Bild der Krankheit in derart verzerrten Linien wieder-
gaben, dass er heute schwierig wird, darin das mit diesem Namen
bezeichnete Uebel zu erkennen. Nicht besser ergeht es der histo-
rischen Musterung der damaligen Anschauungen über die Krankheit,
wenn man sich vor Augen hält, wie beispielsweise Willan von
..schwarzen Masern", Sauvages von ,.blatternar tigen
Masern" spricht (MorbilK haemorrhagici et papulosi?) oder wenn
Watson in den Jahren 1763 — 1764 ,.faulichte Masern" be-
obachtet haben will, deren bösartiger Verlauf vielmehr mit jenem der
Scharlach-Diphtherie übereinzustimmen scheint. Nicht unerwähnt kann
bleiben, wie die den Geist der damaligen Aerzte dominierende Ansicht
von dem Uebergange einer Seuchenform in die andere auch bei den
Ausschlagsfiebern zur Geltung gelangt war , so dass Wedemeyer
seinem Epidemieberichte über Göttingen (1780 ff.) ohne Widerspruch
der Zeitgenossen beifügen konnte, es sei aus den Masern ..dui'ch
Umwandlung der diski-eten Flecke in eine gleichmässige Röte~ der
Scharlach hervorgangen. Hält man diese aus der Unklarheit der
Auffassung und Darstellung entsprungenen Tatsachen fest , so kann
die von Rosenstein, Girtaner u. a. Schi-iftstellem vertretene An-
sicht nicht überraschen , wonach sie die Masern als eine die Variola
an Gefährlichkeit weit übertreöende Erkrankung hinstellen. Es ist
demnach den speziellen Seuchenberichten ein geringerer Wert beizu-
messen und nur die Nachrichten, welche bezeugen, wie die Krankheit
in den letzten beiden Dezennien des 18. Jahrhunderts in weitver-
breiteten Zügen, insbesondere im Zeiträume 1796 — 1801 als Pandemie
über Deutschland, Frankreich und Grossbritannien geherrscht hatte,
verdienen wegen der darin niedergelegten genaueren Schüdemngen
eine grössere Glaubwürdigkeit.
Geschichtlich bemerkenswert sind die nach dem Vorgange der
Blatterninokulation unternommenen Vereuche der Ueberimpfung der
Masern von Kranken auf Gesunde. Home in Edinburgh impfte 1758
mit dem Blute eines 3Iasemkranken, das er mittels Baumwolle auf
eine Schnittwunde am Arme übertrug und dort drei Tage lang liegen
Hess. Am 6. Tage stellten sich die charakteristischen Erscheinungen
der Krankheit ein. die aber in allen von Erfolg begleiteten Impf-
fallen einen müden Verlauf gezeigt hatte. Die gleichfalls von Home
geübte Ueberpflanzung des Nasensekretes Masernkranker durch ein
damit imprägniertes Wollenzeug auf die Nasenschleimhaut gesunder
Kinder blieb resultatlos. Obgleich die Impfungen in Schottland weitere
Nachahmung fanden, verloren sie doch bald an Ansehen und wurden
erst ein halbes Säkulum später wieder aufgenommen.
Verfolgen wir nunmehr die Geschichte des Scharlachs im 19. Jahr-
862 Victor Fossel.
hundert, so wird nach Ablauf der mit dem Jahre 1805 abschliessenden
Epidemieperiode in der nächsten Zeit seines ausgedehnteren Vor-
kommens nur selten Erwähnung- gethan, obschon er an vielen Orten
in massigem Umfange, doch meist in gutartiger Form beobachtet
worden war. Erst vom dritten Dezennium an trat die Krankheit in
epidemischen Zügen auf, die mit dem Jahre 1824 beginnend über
Frankreich sich verbreitete, und in den beiden darauffolgenden Jahren
in England, Holland, Dänemark und Norddeutschland schlimme Ver-
heerungen anrichtete. Im Jahre 1827 war das Scharlachfieber als
neue Krankheit auf Island aufgetreten, 1829 zum ersten Male in Süd-
amerika zur Entwicklung gekommen, wo die Seuche auch im nächsten
Jahrzehnte, besonders unter den Indianern Brasiliens wiederholt und
in längerer Dauer um sich griff. Zu gleicher Zeit, 1832 — 1837, über-
zog der Scharlach in pandemischer Ausbreitung die meisten Staaten
Europas und ging überall mit einer erschreckenden Bösartigkeit ein-
her. Nach den Berichten der zeitgenössischen Beobachter waren neben
schweren Rachen aifektionen häufig meningeale Erscheinungen im Ver-
laufe der Krankheit zu Tage getreten und bildeten nahezu ausnahms-
los die sicheren Vorboten eines lethalen Ausganges.
In grösserer Verbreitung erhob sich das Scharlachfieber, abge-
sehen von den zahlreichen Lokalausbrüchen, während des Zeitraumes
1846 — 1849 in Dänemark, Deutschland, England und Schottland. Im
Jahre 1847 wurden zum ersten Male Grönland, 1848 Neuseeland,
1849 Kalifornien von einer Scharlachepidemie heimgesucht. Von der
Mitte des Jahrhunderts angefangen vergingen nur wenige Jahre, in
denen die Krankheit nicht in diesem oder jenem Lande, namentlich in
gi'össeren Städten erschienen wäre oder dazwischen in wechselnder
In- und Extensität nicht epidemisiert hätte. In mustergültiger Weise
hat Johann essen für Norwegen die zeitlichen und örtlichen
Schwankungen des Scharlachs im Zeiträume 1825 — 1878 nachgewiesen.
Es darf gesagt werden, dass das Scharlachfleber in den dichter be-
völkerten Centren zu einer stationären Infektionskrankheit geworden
ist und in gewissen Intervallen aus der ununterbrochenen Kette spo-
radischer Erkrankungsfälle unter unbekannten Einflüssen zu epide-
mischer Höhe sich erhoben hat. Eine solche Exacerbation des Uebels
fiel in die Periode 1852 — 1862, innerhalb welcher gleichzeitig die
Diphtherie ihre verhängnisvollen Wanderungen anzutreten begann.
Ebenso trat in den siebziger und achtziger Jahren, gekennzeichnet
durch die andauernde Herrschaft der Rachenbräune, in den euro-
päischen Ländern der Scharlach ganz erheblich in den Vordergrund
der Seuchengeschichte und des ärztlichen Interesses. Insbesondere
ist es England gewesen, wo das ausgebreitete Vorkommen der Krank-
heit innerhalb dieses Zeitraumes zu ausführlichen statistischen und
epidemiologischen Studien geführt hat, während gleichzeitig die Schrift-
steller des Kontinents mehr der epidemischen Diphtherie, als der
vorwiegenden Seuche ihre Aufmerksamkeit zugewendet hatten.
Eine wenn auch gedrängte Darstellung der Wandlungen und
Fortschritte in der Lehre vom Scharlachfieber während des 19. Jahr-
hunderts überschreitet den Rahmen dieser geschichtlichen Skizze. Es
möge hinreichen zu erwähnen, dass in den ersten Dezennien Eng-
länder und Deutsche die Führerrolle in der Pathologie und Therapie
der Krankheit an sich genommen haben, ohne über das Bemühen
naturgetreuer Schilderungen des Exanthems • und seiner Varietäten
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 863
oder über die sorgfältige Distinktion der Abarten des gesamten Krauk-
heitsverlaufes. des ..entzündlichen, gastrischen, neiTösen. fauligen Schar-
lachs" hinaus eine genauere Kritik des Prozesses und seiner Kompli-
kationen aufzubringen. Mit dem dritten Jahrzehnte hingegen, an-
schliessend an das stärkere Anschwellen der meist in schwerer Form auf-
tretenden Scharlachepidemien, nahm die Veröffentlichung einschlägiger
Beobachtungen, zumeist in Deutschland und Franki*eich erheblich an
Umfang und Vertiefung zu. Es gebührt Schönlein und seiner
Schule, trotz der im Geiste des Zeitalter gelegenen und allzusehr
hervorgekehrten Systematisierung der verschiedenen Ausschlags-
gattungen, das entschiedene Verdienst, die Pathologie der Hautkrank-
heiten im allgemeinen und jene der akuten Exantheme im besonderen
in schärferer AVeise aus dem doktrinären Schema der naturphüo-
sophischen Krankheitsklassen- und Ordnungen in neue Bahnen gelenkt
zu haben. Noch eingehender und fruchtbringender haben zu jener
Zeit französische Gelehrte, unter ihnen Bretonneau mittelbar durch
seine hervorragenden Forschungen über die Diphtherie und deren Ver-
hältnis zur Scarlatina, weiterhin Kayer, Barthez und R i 1 1 i e t u. a. m.
durch klinische und pathologisch-anatomische Untersuchungen die Lehi-e
von den exanthematischen Infektionskrankheiten auf wissenschaftliche
Höhe gebracht. Seither hat das Studium des Scharlachfiebers und
seiner vielgestaltigen Komplikationen unablässig die medizinische
Forschung beschäftigt und die Erkenntnis und Behandlung der Krank-
heit bis zur heutigen Stufe erhoben.
Die Masern zeigten während des 19. Jahrhunderts in ihrem
zeitlichem Auftreten gewisse Analogien mit jenem des Scharlachfiebers.
In den ersten beiden Jahrzehnten des Säkulums wurden sie, soweit
Berichte vorliegen, nur in einzelnen grossen Epidemien beobachtet,
wie beispielsweise in England, wo sie in den Jahren 1807 — 1808,
1811 — 1812 in schweren bösartigen Formen über das ganze König-
reich eine allgemeine Verbreitung erlangten. Ausgedehnte Masem-
epidemien fielen sodann 1822 — 1824 auf Italien, die Niederlande und
Deutschland. 1826—1828 auf die beiden zuletzt genannten Länder,
1834 — 1836 auf den grössten Teil von Mittel- und Xordeuropa,
1842 — 1843 auf die "Weststaaten unseres Kontinents, 1846 — 1847 auf
die meisten Länder von Europa und Nordamerika, 1860 — 1863 auf
Deutschland. — Eine für die Kenntnis der Wege des Kontagiums und
seiner Inkubationszeit bemerkenswertes Ereignis bildet die Ein-
schleppung der Masern auf den Faröern im Jahre 1846, wo sie seit
1781 nicht vorgekommen waren, in dem erstgenannten Jahre jedoch,
wie Panum nachgewiesen, aus Kopenhagen Eingang gefunden und
von den 7782 Bewohnern mehr als 6000 ergriffen hatten. Aehnlich,
doch um vieles milder verhielt sich der Ausbruch der Krankheit 1846
auf Island, das seit dem Jahre 1696 von Masernepidemien frei ge-
blieben war; hingegen waren sie hier in der nächstfolgenden Epi-
demie des Jahres 1882, während welcher nahezu die gesamte Be-
völkerung ergriffen worden war, von einer ungewöhnlich hohen Mor-
talität begleitet. Dasselbe Schauspiel schrecklicher Verwüstungen
wiederholte sich in anderen Ländern, in den nachweisbar die Glasern
zum erstenmale erschienen waren, wie 1846 unter den Indianern des
Hudsons-Bay-Gebietes, oder in Gegenden, wo sie seit langen Pausen
wieder einen Import erfahren hatten, wie 1873 auf den Fidji-Inseln
und auf Mauritius, 1874 in Südaustralien.
864 Victor Fossel.
Mit der fortschreitenden Ausbildung der Nosologie und der
strengeren Differenzierung der Masern von den anderen akuten Exan-
themen erweiterten sich zusehends die Grenzen der epidemiologischen
Kenntnisse über die Krankheit. Hierzu haben die im Laufe des
19. Jahrhunderts wieder aufgenommenen Impfungen der Morbillen
insoferne aufklärend beigetragen, als durch sie sowohl die direkte
Uebertragung des spezifischen Kontagiums, wie auch die Reihenfolge
in der Entwicklung der pathognomonischen Krankheitserscheinungen
festgestellt werden konnte. So haben 1822 Speranza, 1842 K a t o n a
in Ungarn, 1854 Bufalini und andere italienische Aerzte, 1842 und
1852 Mayr in Deutschland Impfversuche der Masern mit positivem,
hingegen 1816 T hemmen und 1890 Thomson mit negativem Er-
folge durchgeführt.
Was endlich die Röteln (Rubeolen der Deutschen, Roseola
epidemica der Franzosen) anbelangt, so ist es allbekannt, wie im Laufe
der Geschichte ihre Spezifität umstritten und heute noch von nam-
haften Schriftstellern geleugnet, zum mindesten bezweifelt wird. Ur-
sprünglich unter dem nosologischen Begriffe der Morbillen oder der
Scarlatina völlig aufgegangen und konsequenterweise deren Konfun-
dierung teilend, wurden die Röteln von der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts an, als man die Masern vom Scharlach schärfer zu
sondern begann, bald als eine Varietät des einen, bald des anderen
Exanthems aufgefasst. Bei der anhaltenden Verwirrung, die in der
Benennung der Morbillen als Rubeolae oder Rougeole gelegen war,
wird es der historischen Nachschau unmöglich gemacht, die thatsäch-
liche Ausscheidung der Röteln aus den Verwandtschaftsgruppen der
Masern und des Scharlachs vor Beginn des 19. Jahrhunderts zu fixieren,
von früheren Zeitperioden ganz zu schweigen. Selbst im 19. Jahr-
hundert entspann sich mit der Aufstellung der Röteln als eines
Krankheitsprozesses sui generis der langwährende Kampf für und
wider ihre Sonderstellung. Während Behrens, Will an, Struve
u. a. die Rubeola morbillosa gelten Hessen, waren Hufeland,
J. P. Frank, Heim und Reil für die Rubeola scarlatinosa einge-
treten, indes Schönlein 's Schule vermittelnd einschritt und die
Röteln als eine hybride Form von Masern und Scharlach erklären zu
müssen glaubte. Unter diesem Zwiespalte der Meinungen war die von
einzelnen immer wieder verfochtene Specifität der Röteln unbeachtet
geblieben, die Mehrzahl nahm von deren Existenzberechtigung keine
Notiz und hervorragende Autoren, wie Cannstatt, Hebra deckten
diesen negierenden Standpunkt mit ihrem Namen.
Und doch Hess sich die Besonderheit und Kontagiosität der
Röteln, noch weniger die Thatsache von der Hand weisen, dass die
Erkrankung an Rubeolen nicht vor Masern oder Scharlach schützte
und umgekehrt. Es bedurfte vieler und umsichtiger Beobachtungen,
um die schon von Wagner, T r o u s s e a u u.a. ausgesprochene Ueber-
zeugung von der Selbständigkeit der Röteln in der Pathologie der
akuten Exantheme in weiteren ärztlichen Kreisen endlich zu be-
festigen. Von den sechziger Jahren an trat der Umschwung zu
Gunsten der Spezifitätslehre der Röteln ein, unter deren Vertretern
wir nur Thomas, Steiner Emminghaus, Roth, Nymann,
Liveing, de Man, Cheadle, Squire und Gerhardt nennen
wollen.
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 865
X. Diphtherie.
Litteratur.
(Ausser den Schriften von H.ippoJcrates, Aretäus, Aetius) MercatxiSf
Opern, 1609. — Bartholituis^ De angina puerorum, 1653. — Wierus, Opera,
1660. — Ghisi, Letfere mediche, 1749. — Ballonius, Opera, 1736. — Fother-
gill. An account of the sore-throat.. 1751. — üosenstein, l. c. 17S7. — Royer-
CoUard, .Croup-' in Dict. d. sc. med. Tom. Till 1813. — Goelis, Tractatus de
angina memhr., 1813. — tTuHne, Abh. üb. d. Croup, 1816. — Bretonneau, Des
inflammations speciales du tissu muqueux et en particulier de la diphfherite, 1826. —
Fuchs, Histor. Untersuchtingen üb. Angina maligna, 1828. — HHxham^ l. c.
1829. — Joffe, Die Diphtherie in epid. «. nosol. Beziehung, Schm. Jahrb. 113. Bd.
1862. — Trotistieau, Med. Klinik. 1866. — Oertel, Die epid. D.. Ziemss. Hdb.
1871. — Seitz, D. und Croup. 1877. — Jttcohi, in Gerhnrd's Hdb. d. Kindkh.
IL Bd. 1877. — Sanue, Traite de la D. 1877. — Rauch fass, in Gerhards Hdb.
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Monti, Croup und D., 1884. — Eichstaedt, Die Diphtherie, 1884. — Francotte,
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Bayeux, La diphtherie depuis Aretee . . . jusqu'en 1894, 1899.
Die Diphtherie war eine dem Altertum wohlbekannte Krankheit.
In den Hippokratischen Schriften wird ihres Vorkommens an mehreren
Stellen gedacht, am deutlichsten giebt von ihren Erscheinungen Nach-
richt die Schrift „de dentitione~, in der die bei Kindern beob-
achteten Geschwüre des Schlundes nach Aussehen und Vorhersage
beschrieben werden. In der Hippokratischen Sammlung wii-d die
Krankheit unter dem Namen „zimyx»;" bezeichnet worunter übrigens
auch andere mit Schlingbeschwerden und Atemnot verbundene Er-
krankungen der Organe des Halses verstanden und dargestellt wurden.
Diesem Kollektivbegriffe entspricht die ..Angina'' der Römer, nach
deren Vorbilde bis über das Mittelalter hinaus eine Reihe von Krank-
heitsformen als Angina mit der näheren Angabe der ergriffenen Teüe
oder des allgemeinen Krankheitsbildes in der pathologischen Termino-
logie aufgezählt erscheint. Eine hervorragende SteUe in der Ge-
schichte der Diphtherie gebührt der berühmt gewordenen Schilderung
des Aretäus über die „syrischen Geschwüre", die dem Bilde
des Leidens Zug für Zug gleichkommt. Die von Archigenes und
Aetius gelieferten Angaben über die „pestartigen und bran-
digen Geschwüre des Schlundes" berücksichtigen die charak-
teristischen Symptome der Krankheit, vornehmlich die Bildung, den
Verlauf und die Folgen des exsudativen Prozesses. Wie bei A r e t ä u s
werden die gangränösen Affektionen im Rachen von jenen der Luft-
wege auseinander gehalten, wobei Aetius die Beobachtung beifügt,
dass die Membranauflagerung vom Schlünde in die Trachea hinab-
steigen könne und nach Ablauf des örtlichen Leidens die Paralyse
des Gaumensegels ein Produkt der lokalen Ausschwitzuug darstelle.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Lai^-ngotomie, deren ei-ste Aus-
tührung dem römischen Arzte Asklepiades zugeschrieben wird,
von Paulus von Aegina und Antyllus sorgfaltig gelehrt und als
lebensrettender Eingriff gegen bedrohliche Zufälle der Schlund- und
Kehlkopfbräune empfohlen wurde.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 55
Victor Fossel.
Im Talmud findet die Halsbräune unter dem Namen „Askara"
Erwähnung, von der es heisst, sie sei die schwerste aller Todesarten
und gleiche einem Taue in der Oeffnung der Speiseröhre.
Bei den Arabern und den abendländischen Aerzten des Mittel-
alters wird des öfteren die „Angina" oder „Squinantia" genannt
oder eine „pestis faucium" aufgezählt, von der es aber völlig un-
entschieden bleibt, ob sie ein selbständiger Prozess oder eine Lokali-
sation anderer Infektionskrankheiten, der Beulenpest, des Typhus, der
Variola u. a. m. gewesen sei.
Etwas durchsichtiger werden die Nachrichten über die Diphtherie
und deren Verbreitung im Laufe des 16. Jahrhunderts. Die von
deutschen und holländischen Aerzten jener Zeit erhaltenen Aufzeich-
nungen über bösartige Anginen gestatten mit hoher Wahrscheinlich-
keit die Annahme, es habe sich hierbei um wahre Diphtherie ge-
handelt. So grassierte im Jahre 1517 in ganz Niederdeutschland, am
Ehein und in Holland eine höchst gefahrvolle Schlundbräune unter
Kindern und Erwachsenen. Nach Forestus, der seine Angaben
dem Berichte des holländischen Arztes Tiengius entlehnte, ist an
dem Bilde der Diphtherie kaum zu zweifeln. — In den Jahren 1544
bis 1545, 1564 — 1565 wiederholen sich Epidemien der Angina maligna
in denselben Gegenden, worüber Wierus (Weyer) eine wertvolle
Schilderung hinterlassen hat. Auch Frankreich scheint damals den
Boden der Krankheit gebildet zu haben. So hat Baillou 1576 in
Paris einen Fall von Larynxmembran beobachtet und beschrieben,
ohne dass er im stände gewesen wäre, dem seltenen Vorkommnis
seiner Praxis eine Deutung zu geben.
Die ersten naturgetreuen Darstellungen der Diphtherie im 16. und
17. Jahrhundert verdanken wir den spanischen Aerzten. Die als
„G-arrotillo" oder als „Morbus suffocans" benannte Krankheit
herrschte in Spanien mehrere Jahrzehnte hindurch (1583—1618) in
furchtbarer Ausbreitung. Anfänglich und abAvechselnd in den einzelnen
Landschaften grassierend, überzog die Epidemie in den Jahren 1610
bis 1618 das ganze Königreich mit grosser Heftigkeit und erreichte
im Jahre 1613 eine solche verderbenbringende Höhe, dass noch lange
im Volke das Andenken an dieses „anno de los garrotillos" sich
erhielt. In Italien war schon im Jahre 1563 die „Angina maligna''
in bösartiger Weise in Neapel und Sizilien ausgebrochen, grassierte
1610 in Oberitalien und rief in den Jahren 1617 und 1618 eine mör-
derische Epidemie in Neapel hervor. Im Jahre 1620 erschien die
Seuche in Portugal, recrudeszierte in Sicilien und gelangte nach Malta.
Im Jahre 1630 ist Spanien deren neuerlicher Schauplatz, 1632 tritt
sie wiederum in Sicilien, 1634 im Kirchenstaate, 1642 in Neapel und
anderen Gebieten der italischen Halbinsel auf und erneuert im Zeit-
räume vom Jahre 1645 bis 1666 ihre Wanderungen in Spanien. Die
medizinische Litteratur des 17. Jahrhunderts umfasst eine ansehnliche
Zahl von Berichten über die Diphtherie in Spanien und Italien.
Unter den Spaniern sind es vor allem Villa Keal, Fontecha,
Herr er a und Mercatus, die sich durch Genauigkeit und Plastik
der Darstellung auszeichnen. Sie betonen die hervorragende Kon-
tagiosität des Leidens, geben eine sorgfältige Beschreibung der nach
In- und Extensität verschiedenartigen Formen des Exsudates und der
allgemeinen Begleiterscheinungen des von den einfachsten Graden bis
zur tödlichen Erstickung wechselvoll in die Erscheinung tretenden
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 867
Prozesses, sie bieten auch in der Lebendigkeit, mit der die patho-
logischen Veränderungen und ihre Stadien vor unser Auge geführt
werden, ein Muster von Krankheitsbeschreibung. Neben den voll ge-
würdigten Lokalaflfektionen im Rachen, Schlund, Kehlkopf und der
Nase wii'd die unter einem adynamischen Fieber einhergehende septische
Diphtherie meisterhaft geschildert. Die dem Leiden folgenden Läh-
mungen, die Störungen der Sprache, die nach Herrera an die Stimm-
alteration syphilitischer Kranker erinnern, finden strenge Berück-
sichtigung. Bei demselben Autor begegnen wir der Bemerkung, dass sich
die brandige Zei-störung nicht selten auf die Haut und auf die Wunden
fortgesetzt habe. An Wert der nosographischen und epidemiologischen
Bearbeitung der Diphtherie stehen die Schriften der Italiener des 17.
Jalirhunderts gegen die spanischen Aerzte nicht zurück. Die von
Carnevale, Foglia, Nola, Cortesius, Bartholini, Seve-
rini, Sgambati, Cleti, Alaymo u.a. gelieferten Arbeiten haben
die im Zeiträume 1610—1650 gemachten Erfahrungen zum Gegenstand.
Die unter verschiedenen Namen („morbus strangulatorius*^,
^morbus gulae", malo in canna-') bezeichnete Krankheit wii'd
ihrer heftigen Ansteckungsfähigkeit wegen der Pest nahegesteUt und
angesichts der Verheerungen, die sie unter der Kinderwelt angerichtet,
„infantum puerorumque strages" genannt. In zahlreichen
Fällen wurde die croupöse wie die septische Fonii des Prozesses von
den angeführten Beobachtern als L>sache des tötüchen Ausganges
betont und der Versuch unternommen, an der Leiche näheren Einblick
iu den Lokalbefund zu gewinnen. Severini hat in der Neapler
Epidemie 1642 bei der Sektion eines unter Suffokationserscheinungen
verstorbenen Knaben wahrgenommen, dass der Kehlkopf von Ge-
schwüren frei geblieben und nur von einer aus verdicktem Schleime
bestehenden Kruste bedeckt war. eine Erscheinung, die schon vor-
dem Villa Real gesehen hatte. Bei Cleti findet sich die be-
merkenswerte Stelle, dass bei Angina maligna der Tod entweder in-
folge der Strangulation der Luftwege oder durch Intoxikation des
Organismus („sua vii'ulentia") herbeigeführt werde. Nach Severinis
Erfahrungen starben viele, die scheinbar genesen und von allen Resten
der Krankheit befreit waren, oft plötzlich unter Erscheinungen des
Kollaps.
Die Therapie bestand in der Anwendung der beliebten Alexi-
pharmaka, örtlicher und allgemeiner Blutentziehungen, in der lokalen
Applikation von Säuren, des schon im Altertum als Spezifium ge-
rühmten Kupfers und endlich in ausgiebigem Gebrauche der Kau-
terien. Ueber den Nutzen der Tracheotomie waren die damaligen
Aerzte in zwei Lager, in die der beredten Fürsprecher und jene der
schärfsten Gegner geteilt.
Am Beginne des 18. Jahrhunderts blieb — soweit geschichtliche
Daten vorliegen — die Diphtherie auf eine im Jahre 1701 auf der Insel
Milo und in der Levante herrschende Epidemie beschränkt. Den nächsten
Zügen der Krankheit begegnen wir erst um die Mitte des Säkulums.
So wurde sie auf der iberischen Halbinsel, wo sie schon im Jahre
1715 in mehreren Provinzen vorgekommen war. innerhalb der Jahre
1749 — 1762 in vielen Gegenden Spaniens und Portugals beobachtet.
Eine allgemeine Verbreitung der Schlundbräune in Nordamerika hat
vom Jahre 1735 ihren Anfang genommen. Stärkere Infektionen zeigte
sie 1739 und 1746 in London, 1743 in Irland und in Paris, 1747 bis
868 Victor Fossel.
1748 in Cremona. Vom Jahre 1749 an ist eine auffallende Morbidität
an Diphtherie unverkennbar, von diesem Zeitpunkte beginnend, ent-
wickelte sich die brandige Bräune in ganz Europa, insbesondere in
Frankreich, Italien, Holland, England, Deutschland und Schweden
innerhalb der nächsten zwei Dezennien zu Epidemien, die entweder
Jahre hindurch in ununterbrochener Kontinuität in einzelnen Gegenden
sich erhielten oder nach wechselnden Intervallen in einzelnen Städten
und Ländern von neuem ausbrachen. In diese Periode fallen auch
die weit um sich greifenden Ausbrüche der Krankheit in verschiedenen
Gebieten Nordamerikas.
Wie zu anderen Zeiten sahen auch die damaligen Aerzte in der
brandigen Bräune eine neue Krankheit. Golden, Douglas und
Middleton, die die Diphtherie in Nordamerika in den Epidemien
während der Jahre 1735—36 und 1752 — 55 beschrieben haben, fanden
die Krankheit häufig mit Hautausschlägen vereint, die nach dem
Stande der herrschenden Lehre zumeist für Friesel gehalten worden
sind. Die häufig beobachtete croupöse Form bei geringer Beteiligung
des Rachens gab Middleton Anlass, das Leiden „x4.ngina t rä-
ch ealis" zu benennen. — Unter den englischen Autoren jener Zeit
verdienen Fothergill, Grant, Starr und Huxham vor allen
genannt zu werden. Nach ihren Beobachtungen trat auch in England
die maligne Halsentzündung oftmals im Gefolge von Exanthemen auf,
die Fothergill in der Londoner Epidemie 1747 — 48, und Huxham
in den Jahren 1751 — 53 in Plymouth mit besonderer Aufmerksamkeit
verfolgt und als erysipelatöse oder pustulöse Ausschläge beschrieben
haben. Inwieweit hier Scharlach oder Variola, die gleichzeitig gras-
sierten, im Spiele standen, entzieht sich einer sicheren Beurteilung,
wiewohl es nahe liegt, aus der von Huxham berichteten nachträg-
lichen Abschuppung der Hautdecke auf scarlatinösen Prozess zu
schliessen. Neben der charakteristischen Geschwürsbildung mit Gangrän
und Jaucheausfluss aus Mund und Nase in zahlreichen Fällen wurde
von den gedachten Gewährsmännern hinwieder bei vielen anderen
Kranken das Vorkommen und Beschränktbleiben der pathologischen
Erscheinungen auf Larynx und Trachea bemerkt. Während der epi-
demischen bösartigen Bräune, die zu jener Zeit in Frankreich wieder-
holt in der Hauptstadt sowohl wie in den Provinzen beobachtet wurde,
trat nach den ausführlichen Beschreibungen, von Chomel und
Malouin, Marteau de Grandvilliers u. a. die Krankheit gleich-
falls häufig in Verbindung mit einem Exanthem auf, das als Scharlach
gedeutet werden darf. Im übrigen stimmt die von den französischen
Aerzten gegebenen Darstellung im wesentlichen mit jener der eng-
lischen Autoren überein.
Ein grössere Selbständigkeit in der Auffassung der Diphtherie
lag in der Schrift, die Ghisi in Cremona über die in den Jahren
1747—48 dort grassierende Krankheit veröffentlichte. Abweichend
von der bisherigen Auffassung erklärte er die Bildung von Pseudo-
membranen nicht als Schorf und Ergebnis der brandigen Zerstörung,
sondern als gallertartige Gerinnsel, ähnlich der Crusta phlogistica.
Von dieser Erwägung und der Erfahrung ausgehend, dass manche
Kranke, bei denen Geschwüre im Rachen gänzlich fehlten, von gefahr-
vollen Auflagerungen auf der Schleimhaut des Kehlkopfes und der
Luftröhre befallen und nicht selten binnen kurzer Frist unter Er-
stickungserscheinungen hin weggerafft wurden, stellte Ghisi zwei
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 869
Formen der malignen Halsentzündung auf: erstens die eigentliche
Schlundbräune mit brandiger Zerstörung und Adynamie, zweitens die
den Schlund freilassende Bildung einer Entzündungsmembran in den
Luftwegen, die expektoriert werden könne oder aber durch Abschluss
der Luftwege zur Suffokation führe. Dabei war Ghisi nicht die
Wahrnehmung entgangen, dass beide Formen des Prozesses, die er
als zusammengehörig und als eine und dieselbe Krankheit anerkennt,
zu gleicher Zeit an einem Individuum auftreten können.
Innerhalb der von denJahren 1749 und 1770 umgrenzten Periode
wurde, wie bemerkt die brandige Bräune zu einer europäischen Seuchen-
plage. So wurde Schweden in denJahren 1755—1758 davon schwer heim-
gesucht. 1761 — 1762 herrschte sie wiederum in üpsala. Rasbo u. a. 0.,
von 1764 — 1768 in Calmar, woran sich später lokale Ausbrüche in ver-
schiedenen Teilen des Landes anreihten. Man nannte sie in Schweden
die Erdrosselungskrankheit, Strypsjuka, ihre besten Be-
obachter waren "Willke, Rosen von Rosen stein, Berg und
"Wahlbom. — Die im Jahre 1751 im schweizerischen Siementhale
aufgetretene Epidemie der Rachenbräune hat Lang h ans aufgezeichnet
und als unverkennbare Diphtherie dargestellt. — Die epidemische
maligne Angina, die vom Jahre 1750 bis 1762 in Madrid ununter-
brochen angedauert hatte, war während dieses Zeitraumes gleichfalls
an zahlreichen Orten Spaniens und Portugals zam Ausbruch ge-
kommen, — Auffallend spärliche Mitteilungen liegen über jene Zeit
aus Deutschland vor. Wedel gedenkt des Auftretens der Bräune
im Jahre 1715 in Jena, v an Bergen beschreibt 1764 eine Epidemie
in Frankfurt a. M.. Michaelis in Göttingen endlich tritt im Jahre
1778 mit einer selbständien Schrift in die lebhaft geführte Diskussion
ein, die sich mittlerweile unter den Aerzten über die Unterschiede
von Croup und Diphtherie (Angina maligna) entsponnen hatte.
Unter den ärztlichen Schriften aus diesem Zeiträume verdienen
ausser der schon erwähnten Arbeit des Cremoneser Ghisi die Schil-
derungen Homes und Bard's eine besondere Erwähnung in der
historischen Uebersicht der Lehre von der Diphtherie. Der schottische
Arzt Home publizierte 1751 seine berühmt gewordene Abhandlung
über den Croup. Nach seiner Auffassung besteht die in der Schleim-
haut des Larynx und der Trachea auftretende Erkrankung in einer
Entzündung mit Bildung eines Schleimes, der sich bis zur Gerinnung
und Entwicklung einer „ki-ankhaften Haut-' der Luftwege steigern
könne. Diese nach seiner Ansicht zu Pseudomembranen umgewandelten
Schleimkonkremente werden bei heftiger Expektoration losgelöst, sie
finden sich aber auch an der Leiche bis in die Bronchien hinabreichend.
Die entweder unter dem Bilde einer katarrhalischen Entzündung oder
in schwerer membranöser Form auftretenden Erkrankungen sind nach
Home zwei verschiedene Stadien einer und derselben Krankheit,
nämlich der „Suffocatio stridula". Sie hängt vorwiegend von
atmosphärischen Einflüssen ab und ist ohne Kontagiosität und nur
sporadisch vorkommend. Von dem bekannten Prozesse der Diphtherie
des Rachens gibt Home, dem übrigens nur ein beschränktes Be-
obachtungsmaterial zu Gebote stand, keine Nachricht, Seine Schrift
erregte unter den Zeitgenossen grosses Aufsehen, die Aufstellung der
mit dem Worte „Croup" bezeichneten Abart der gangränösen Hals-
entzündung als einer Krankheit sui generis wurde von den damaligen
Aerzten bereitwillig anerkannt und hat bis zu den Tagen Breton-
870 Victor Fossel.
neau's und bekanntlich noch weiter darüber hinaus die grösste Ver-
wirrung in den ärztlichen Anschauungen hervorgerufen.
Weit gründlicher ging Samuel Bard in Newyork bei seinen
Studien über die „Angina suffocativa" zu Werke. Seine im Jahre
1771 erschienene Schrift, gestützt auf reiche, zunächst in Vorjahre
erworbene Erfahrungen, giebt ein erschöpfendes Bild der Krankheit.
Ihm waren die leichten Fälle von geringem Belage der Tonsillen
ebensowenig unbekannt geblieben, wie die schweren, brandigen Zer-
störungen des Pharynx und seiner Nachbarschaft, deren Vorkommen
er bei Kindern wie bei Erwachsenen beobachtet hat. Die Haut-
diphtherie, die Lähmungen der Schlingwerkzeuge, die Paresen der Be-
wegungsorgane, der Kräfteverfall und andere Phänomene in der Re-
konvalescenz der Kranken sind in seine Darstellung aufgenommen.
Was aber gegenüber Home dem Berichte des Newyorker Arztes be-
sonderen Wert verleiht, ist die Sorgfalt, mit der er das Fortschreiten
des Prozesses kennzeichnet, der im Rachenraume und an den Tonsillen
mit weisslichem Belage gewöhnlich zuerst sich manifestiere, in anderen
Fällen aber ohne Veränderungen im Rachen mit Atemnot einsetze.
Die Entwicklung und Zunahme der sich verdickenden Beläge und ihr
Uebergreifen auf den Kehlkopf und die Luftröhre, die sich steigern-
den Suffokationserscheinungen bei Ausbreitung der trachealen Schwel-
lungen werden an der Hand von Beispielen von Bard genau vorge-
führt und durch die Befunde von drei Autopsien erläutert. Bard
hielt die einzelnen Formen der Angina maligna, mochten sie unter
vorwiegender Beteiligung des Nasen - Rachenraumes , unter den Er-
scheinungen der Entzündung des Larynx und der Trachea oder unter
Kombination beider Lokalisationen zu stände gekommen sein, für
identisch, ätiologisch zusammengehörig und nur nach der Oertlichkeit
verschiedenartig ausgeprägt. So zutreffend diese Beobachtungen waren
und von der Schärfe des Urteiles ein glänzendes Zeugnis gaben, so
wenig wurden sie von den Mitlebenden gewürdigt und verstanden, ein
Schicksal, dem wir in der Heilkunde des öfteren begegnen. Bard's
Abhandlung blieb den meisten Zeitgenossen unbekannt, die ärztliche
Welt neigte immer mehr zu Home's Auffassung, so dass der ehr-
würdige Kurt Sprengel dieser Richtung folgend, die Signatur der
Krankheit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit den Worten
ausdrücken konnte : „Der Croup oder die häutige Luftröhrenentzündung
scheint an die Stelle der brandigen Bräune getreten zu sein."
Dieses scheinbare Zurückweichen der Diphtherie vollzog sich
jedoch nur in den Schriften der ärztlichen Beobachter. In Wirklich-
keit trat die maligne Angina innerhalb der letzten drei Jahrzehnte
des 18. Jahrhunderts in vielen Ländern neuerlich in bösartigen Epi-
demien auf. So verbreitete sie sich in den Niederlanden, in Frank-
reich, England, Nordamerika und Westindien. Ihre Verbindung mit
Scharlach- oder Frieselausschlägen haben mehrere Berichterstatter
aufgezeichnet, u. a. Johns tone, der in einer Scharlachepidemie 1778
in der Umgebung von Worcester diphtheritische Prozesse im Verlaufe
der Scarlatina nachwies. Unter den übrigen englischen Aerzten, die
epidemiologische Aufzeichnungen über Angina maligna hinterlassen
haben, mag Levison und Rumsey genannt werden. Ersterer
sammelte seine Beobachtungen in der Londoner Epidemie des Jahres
1747, letzterer während der in den Jahren 1788, 1793—1794 aufge-
tretenen Epidemien zu Chesam in Bukinghamsliire. Ueber die auf
Greschiclite der epidemischen Krankheiten. 871
französischem Boden damals an vielen Orten herrschende epidemische
Diphtherie enthält der Bericht des um die Seuchengeschichte ver-
dienten Le Pecq de la Cloture wertvolle Angaben. Das hohe
Interesse, das man seit dem Erscheinen von Home's Abhandlung in
wissenschaftlichen Kreisen der Croupfrage entgegenbrachte, erhellt
aus der Thatsache, dass die Pariser medizinische Gesellschaft im
Jahi-e 1783 eine Preisfrage ausschrieb, ob die in Schottland und
Schweden unter dem Namen des Croup oder der membranösen Angina
bekannte Krankheit in Frankreich überhaupt vorkomme oder nicht.
Die mit dem Preise gekrönte Arbeit von Vieusseux aus Genf
brachte jedoch keineswegs die wünschenswerte Klärung, sondern rief
vielmehr neue Konfusionen hervor, indem der Autor drei Varietäten
des Leidens aufstellte: den entzündlichen, nervösen und chronischen
Croup.
In der Therapie der Diphtherie sind während des 18. Jahr-
hunderts nur geringe Fortschritte zu verzeichnen. Brech- und Ab-
führaiittel standen noch in unerschüttertem Ansehen, der Aderlass fand
trotz der Warnung einzelner Autoren die ausgedehnteste Anwendung.
Ton örtlichen Mitteln sind zu nennen: Salzsäure zur Applikation an
die Rachengeschwüre, Gargarismen von Xitrum. Kampfer. Alaun
u. a. m., von innerlichen Medikamenten: Kalomel. Valeriana, Theriak
und Eoborantia. unter letzteren mit Vorliebe die Chinarinde. Die
Tracheotomie fand nur wenig Anklang unter den Aerzten und Chirurgen
jener Zeit.
Verfolgen wir die Geschichte der Diphtherie im 19. Jahrhundert,
so finden wir in den ersten beiden Dezennien ihr epidemisches Vor-
kommen im allgemeinen seltener als in der kurz vorangegangenen
Zeitperiode erwähnt, und auch die Litteratui*. die die Krankheit näher
berührt, nur auf ein geringes und geringwertiges Material beschränkt.
Eine Ausnahme hiervon hat jedoch Frankreich gebildet. Hier war
die Krankheit in fortdauernden Epidemiezügen zum Schrecken der
Bevölkerung geworden, sie hatte sich ihre Opfer nicht bloss unter
Bürgern und kleinen Leuten, sondern auch aus fürstlichen Palästen
geholt, den jungen König von Holland dahingerafft und dessen Mutter,
die Königin Hortense tückisch überfallen. Diese letzteren Ereignisse
bestimmten Napoleon I. im Jahre 1807 eine Preisbewerbung auszu-
schreiben ,.über die Natur und die Behandlung des Croup". Jurine
aus Genf und Albers aus Bremen teilten sich in den Preis, ohne
aber über die damals geltenden Anschauungen hinauszukommen. Ihre
Preisschriften ergänzten sich durch die Ai'beiten von Royer- Co IIa rd,
Caillau u. a., nach deren Ansicht in L'ebereinstimmung mit der
Lehre Home 's zwei Hauptaiien der Krankheit vorlägen: die Angina
gangi'aenosa der Tonsillen und des Pharj'nx, die Angina maligna tra-
chealis der Luftwege, welche zwar kombiniert an einem und demselben
Kinde sich vorfinden können, deren Zusammengehörigkeit jedoch von
keiner Seite gebührend gewürdigt worden war. Mehr als zulässig
wurde die Bildung von Pseudomembranen in dem Krankheitsbilde
des Croup in den Vordergrund gestellt und damit begonnen, den
„Pseudo-Croup"' mit dem Croup im engeren Sinne zu verwechseln.
Aehnliche Ansichten kehrten auch bei deutschen Autoren ^^ieder, so
beiAutenrieth, Hufeland, Goelis. Letzterer hat in seinem
1813 erschienenen Traktat: über die membranöse Angina den Prozess
als eine Lympheausschwitzung in die Schleimhaut des Kehlkopfes und
872 Victor Fossel.
der Luftröhre erklärt, bei der es unter dem Einflüsse einer katarrha-
lischen Entzündung zur Bildung von Membranen komme. Eine Kom-
plikation der membranösen und der gangränösen Angina wollte
Goelis, dem ein reiches Feld der Erfahrung beschieden war. nie-
mals gesehen haben.
Eine neue und wichtige Epoche in der Geschichte der Diphtherie
nahm von Bretonneau's Arbeiten ihren Ausgang. Als Arzt in
Tours hatte Bretonneau Gelegenheit, daselbst in den Jahren 1818
bis 1821 eine unter den Soldaten beginnende und auf die übrige Be-
völkerung übergreifende Epidemie zu beobachten, der sich im Jahre
1824 und 1825 zahlreiche Fälle von epidemischer Diphtherie in dem
benachbarten Dorfe La Ferriere und 1826 in Chenusson anschlössen.
Bretonneau, ein begeisterter Jünger der damaligen, hochaufstreben-
den französischen Schule, ging daran, das ihm gebotene Beobachtungs-
material an der Hand pathologisch- anatomischer und klinischer That-
sachen von Grund auf zu bearbeiten, unter Vornahme von 60 Sektionen
die anatomischen Befunde kritisch festzustellen und, was seinen Studien
besonderen Eeiz und Wert verleiht, unter gewissenhafter Benutzung
der aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden Nachrichten italie-
nischer, spanischer und nordamerikanischer Aerzte die eigenen Kennt-
nisse zu ergänzen. Seine schon im Jahre 1821 publizierten Epidemie-
berichte hat Bretonneau im Jahre 1826 in der berühmt gewordenen
Abhandlung: „Des inflammations speciales du tissu muqueux et en
particulier de la diphtherite" zusammenfassend niedergelegt und darin
seine bahnbrechenden Anschauungen begründet. Indem er die als
Stomacace bezeichnete Erkrankung der Mundschleimhaut, die Angina
maligna oder gangraenosa des Eachens und endlich den als Croup der
Luftwege benannten Krankheitsprozess analysierte, stellte er vor allem
die bisherige Annahme in Abrede, wonach die maligne Angina ledig-
lich auf eine brandige Zerstörung der Mucosa zurückgeführt worden
war. Bretonneau stellte dem gegenüber die Behauptung auf, dass
allen diesen Krankheitsprozessen eine gemeinsame Ursache zu Grunde
läge, bestehend in einer Entzündung der Schleimhäute, die in der
Ausbildung eines Exsudates charakterisiert sei und das er wegen
seiner Aehnlichkeit mit einem Felle {Jupd-eqa, pellis exuvium, vestis
coriacea) als „Diphtherite" bezeichnete. Bretonneau erklärte
die genannten drei Erkrankungsformen als einheitliche, hob die spe-
zifische und kontagiöse Natur derselben ausdrücklich hervor und unter-
schied von ihnen die Angina scarlatinosa als eine dem Scharlach an
sich zukommende, zwar ähnliche, aber in Wesenheit diiferente Hals-
entzündung. Diese grundlegende Arbeit Bretonneau's, zu deren
Beweisführung er unter anderen Stützen der von ihm verfochtenen
Specificität des Leidens auch experimentelle Versuchsreihen über die
örtlichen Wirkungen der Vesicantien auf Schleimhäuten herangezogen
hatte, umfasste ausserdem eine Sichtung und Prüfung der gangbaren
Therapie, in welcher er für die energische Anwendung einer lokalen
Behandlung im allgemeinen und die Ausführung der Tracheotomie in
bedrohlichen Erstickungsfällen eintrat. Ihm haben wir auch die ersten
hygienisch-praktischen Gesichtspunkte zu verdanken, indem er die
Absperrung der an Diphtherie Erkrankten ebenso strenge gefordert,
wie die Unschädlichmachung der von ihnen stammenden Absonderungs-
produkte als unerlässlich hingestellt hat.
Bretonneau hat mit kritischer Schärfe und mit den ganzen
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 873
seiner Zeit zu Gebote stehenden Hilfsmitteln exakter Forschung das
Dunkel, das bisher über die Diphtherie ausgebreitet lag, zu erhellen
gesucht und zum grossen Teil das AVesen und die Formen der Kj-ank-
heit nach den geläuterten Begriffen der damaligen pathologisch-anato-
mischen Schule festgestellt. Sein fundamentales Werk bildete zugleich
den Ausgangspunkt neuer, fruchtbarer Leistungen und bis auf die
allerjüngste Gegenwart knüpfen die über die Diphtherie gesammelten
Beobachtungen an die berühmte Schrift des Arztes von Tonics an.
Bevor wir jedoch den weiteren Fortschritten und Wandlungen in
der Lehre von der Diphtherie eine kurzgedrängte Besprechung widmen,
erscheint es am Platze, der in der Periode 1825 — 1860 bekannt ge-
wordenen Hauptepidemiezüge der Krankheit zu gedenken. Im zeit-
lichen Auftreten ihrer epidemischen Verbreitung war, abgesehen von
isolierten Ausbrüchen der Angina maligna und des von ihr häufig
getrennt geschilderten Croups in den verschiedenen Ländern, das Vor-
herrschen der Krankheit innerhalb der Jahre 1825 — 1836 nahezu aus-
schliesslich auf Frankreich beschränkt geblieben. Die Hauptstadt
und die grossen Handelsplätze des Landes, zahlreiche Ortschaften der
Provinzen waren der Boden, auf dem die Diphtherie in wechselnder
Stärke zu Epidemien anschwoll. Hire Wanderungen, die auf weitere
Kreise sich erstreckten, wurden insbesondere in der Touraine, in
Anjou. in der Bretagne. Xormandie, Picardie und in Isle de France,
demnach vorwiegend im Nordwesten des Reiches beobachtet. Ausser-
halb desselben war sie nur im Jahre 1826 in den schweizerischen
Kantonen Waadt und Genf, und 1831 in Philadelphia zu bösartiger
Entwicklung gekommen. Auch im Anfange der vierziger Jahi-e trat
die epidemische Diphtherie fast nur in Frankreich auf, so 1841 in
Paris, Autin, Nantes u. a. Städten. Vom Jahre 1845 an gewann sie
in diesem Laude nach den zunehmenden Seuchenberichten zu schliessen,
mit jedem Jahre mehr an räumlicher Ausdehnung und durchzog im
nächstfolgenden Jahrzehnte mit besonderer Bevorzugung die nördlichen
und östlichen Departements. Ihr wiederholtes Umsichgreifen unter
der Kinderwelt der französischen Hauptstadt, wo sie 184^1848, 1852
und 1855 in zahlreichen und schweren Formen vorgekommen war,
ging gleichzeitig mit stärkeren Ausbrüchen in den übrigen Teilen
Frankreichs einher. So hatten u. a. die Städte Avignon 1853, Bou-
logne 1855 — 1836 unter ihrer Hen-schaft schwer zu leiden.
Unter den übrigen Staaten Europas waren es Dänemark und
Norwegen, die in jenem Zeitabschnitte eine grössere Morbidität an
Diphtherie aufzuweisen hatten. Die in den Jahren 1844 — 1848 im
dänischen Inselreiche verbreitete Krankheit epidemisierte besonders
heftig in Jütland und Seeland. Auf der skandinavischen Halbinsel
war sie auf norwegischem Gebiete schon in den Jahren 1845 — 1847
in verschiedenen Bezirken erschienen, hatte in Schweden 1852 — 54 au
mehreren Punkten eine bemerkbare Zunahme erfahren, jedoch erst
vom Jahre 1855 an in beiden Ländern eine allgemeine Ausdehnung
angenommen. Die gleiche Erscheinung wiederholte sich in Belgien,
in den Niederlanden und in England, wo überall in den unmittelbar
vorangegangenen Jahren einzelne heftigere Lokalepidemien sich er-
eignet hatten und namentlich 1854 das stärkere Hervortreten des
Croups allenthalben zu beobachten gewesen war. In Italien und der
Schweiz blieb die Schlundbräune auf wenige Ausbrüche innerhalb
dieser Periode begrenzt. Dasselbe gilt für Deutschland, wo Epidemien
874 Victor Fossel.
1843 und 1846 im Herzogtum Nassau, 1844 in Pommern und 1849—1851
in Königsberg bekannt geworden sind. Aus Nordamerika datieren
aus jener Zeit Nachrichten über das Vorkommen der epidemischen
Diphtherie, die in den Jahren 1845 und 1848 in Philadelphia und
1847 — 1849 in den Staaten, die dem Stromgebiete des Mississippi an-
gehören, ihre Verbreitung gefunden hat.
Wie Epidemiologen und Historiographen einstimmig hervorheben,
trat um die Mitte des Jahrhunderts und zwar in den Jahren 1855—58
in Europa sowohl wie in Nordamerika eine auffällige Steigerung der
örtlich und zeitlich rasch einander folgenden Ausbrüche der Di-
phtherie zu Tage; ihr nunmehr gehäuftes Vorkommen, auch in über-
seeischen Ländern von jetzt an beginnend, kann nicht ausschliesslich
auf frühere mangelhafte Nachrichten, sondern auf eine thatsächlich
pandemische Entwicklung der Krankheit zurückgeführt w^erden, so
dass wir von dieser Zeitperiode an die Diphtherie durch mehrere
Dezennien als "Weltseuche bezeichnen müssen, die in den verschie-
densten, räumlich weit voneinander getrennten Punkten der Erd-
oberfläche sich einzunisten begann und für die folgende Zeit zu einer
der verderblichsten Krankheiten wurde. Von gewissen Herden aus,
in denen sie überdies nicht selten langsam und dafür stetig an-
schwellend und jahrelang zähe anhaltend sich vermehrte, griff die
Krankheit strahlenförmig oder sprunghaft um sich und kehrte an
ungezählten Orten nach mehr oder weniger kurzen seuchenfreien
Intervallen mit allen ihren Schrecken zurück.
Ueberblicken wir die Entwicklung dieser Pandemie, so finden wir
ihren Ausgang wieder in Westeuropa, vor allem in Frankreich. Schon
im Jahre 1856 wurde die Diphtherie in einzelnen Gegenden des
Landes beobachtet und von vielen Aerzten als eine neue Krankheit
betrachtet. Im Jahre 1857 überzog sie die Küste von Boulogne sur
mer bis Havre, ergriif gleichzeitig die östlichen und südlichen Departe-
ments, in denen sie zwei Jahre hindurch andauerte, an manchen Orten
erst um vieles später erlosch. In Paris stieg gleichfalls innerhalb der
nächsten Jahre die Zahl der Kranken periodisch zu ungewöhnlicher
Höhe. Ihre Kontagiosität und die Bösartigkeit der namentlich in den
Kinderspitälern zugewachsenen Erkrankungsfälle haben Trousseau,
Bricheteau und andere Beobachter ausdrücklich als eine Signatur
der Zeit hingestellt. — In Portugal und Spanien nahm die Schlund-
bräune mit dem Jahre 1857 gleichfalls einen epidemischen Charakter
an, den sie auch noch in späteren Nachschüben, die in die Jahre
1861 — 1863 fallen, gezeigt hat. Für die Niederlande begann mit der
Epidemie in Amsterdam 1857 — 1858 die Herrschaft der Diphtherie,
die im darauf folgenden Dezennium über das ganze Reich sich ver-
breitet, den Berichten zufolge aber durch einen verhältnismässig
milden Verlauf sich bemerkbar gemacht hatte.
In Grossbritannien datiert vom Jahre 1856 an das Ansteigen der
Morbidität an Bräune, die über den grössten Teil Englands sich aus-
dehnte und, wie berichtet wird, mit Scharlach kombiniert oder damit
gleichzeitig einherschreitend im Jahre 1859 den Höhepunkt erreichte.
Seither verschwand die Krankheit nicht mehr im Lande und stieg
auch in Schottland im Jahre 1863 zu einer ungew^öhnlich hohen Er-
krankungsziifer empor. In Deutschland zeigte sich die Diphtherie
im Jahre 1856—1858 in Königsberg, von 1861 an in Ostfriesland, um
von hier aus längs der Ost- und Nordseeküste weiter zu wandern.
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 875
Um weniges später trat sie im russischen Reiche, zunächst 1858 in
den Ostseeprovinzen auf und rief im darauffolgenden Jahre in
St. Petersburg. Moskau und im Gouvernement Orel bösartige Epidemien
hervor. In den übrigen nordischen Staaten kam die Krankheit erst
im nächsten Dezennium zu gi'össerer Entwicklung, nur in Island war
sie schon im Jahre 1856 eingebrochen und hatte nach geringen
Remissionen bis zum Jahre 1864 über die ganze Insel sich verbreitet.
Auf der westlichen Hemisphäre wurde ebenso wie in Europa eine
auffallende Zunahme der Diphtherie vom Jahre 1856 angefangen be-
obachtet. Mit einer heftigen Epidemie in Califomien in diesem Jahre
beginnend, fand sie 1857 in Xewyork Eingang und gewann in den
folgenden Jahren nahezu in allen Unionsstaaten auf längere Zeit die
volle Herrschaft. In jene Periode fallen auch heftige Ausbrüche der
Krankheit auf mehreren westindischen Inseln und in Peru.
Die exzessive Ausbreitung der Diphtherie während des 6. De-
zenniums erregte in allen hiervon betroffenen Ländern ungeheures
Aufsehen und rief in der ärztlichen Welt von neuem die eingehendsten
Studien über die Natur. Kontagiosität und Symptomatologie der Krank-
heit hervor. Die Pathologie und Therapie des Leidens war schon
seit dem Erscheinen der epochemachenden Arbeiten Bretonneau's
mit Eifer und Scharfsinn zu f(3rdem gesucht worden. Neben den
französischen Aerzten, die in über^viegender Mehrzahl diesem ihren
Landsmanne in den Grundzügen seiner Lehren gefolgt und nur ver-
einzelt mit gegenteiligen Ansichten hervorgetreten waren, haben eng-
lische, amerikanische und deutsche Autoren die Litteratur der Di-
phtherie in der Periode 1830—1860 mit wertvollen Beiträgen bereichert.
Zunächst war es die Identität von Croup und Diphtherie, um die sich
ein lebhafter Streit bewegte, sodann die Erörterung der infektiösen
Natur des Leidens und seiner Allgemeinerscheinungen, das klinische
Bild, unter welchem die örtlichen und sekundären Krankheitsprozesse
zu Tage traten, endlich hat die Therapie eine schier unübersehbare
Menge von Schriften gezeitigt. Unter den französischen Beobachtern
verdienen Boudet, Guersant, Maingault. Rilliet und
Barth ez. vor allem aber Trousseau genannt zu werden, die die
Lehre im Sinne Bretonneau's befestigt und vertieft haben. Ge-
%\issermassen in Ergänzung der von den Franzosen gelieferten ätio-
logischen und nosographischen Darstellung haben in Deutschland die
grossen pathologischen Anatomen Rokitansky und Yirchow, nach
ihnen Wagner und Buhl die anatomische Seite der Krankheit klar-
zulegen gesucht. So hat Yirchow schon im Jahre 1847 auf Grund-
lage streng pathologisch-anatomischer Untersuchungen im Gegensatze
zu der in Frankreich herrschenden Auffassung begonnen, die Diphtherie
vom Croup zu trennen und neben diesen beiden Formen der Schleim-
hautentzündung noch den katarrhalischen Prozess aufzustellen. Die
aus der Scheidung der anatomischen Läsionen hervorgegangene Theorie
von einer croupösen und diphtheritischen Entzündung bezw. Exsudation
als wesentlich heterogener Krankheitsbegriffe stiessen auf vielseitigen
AViderspruch, auch unten den deutschen Aerzten. Die Anschauungen
darüber traten in ein neues Stadium, als sich Ende der fünfziger
Jahre die Forschung auf die parasitäre Natur der Krankheit aus-
gedehnt und eine Reihe von wichtigen Vorarbeiten zum Vei-ständnis
ihres Wesens geliefert hatte, ohne jedoch damals bis zu den bakterio-
logischen Aufschlüssen der späteren Zeit vorgedrungen zu sein.
876 Victor Fossel.
Seit dem Beginne der 60 er Jahre hatte, wie bemerkt, die
Diphtherie nahezu in ganz Europa eine pandemische Ausbreitung an-
genommen, die im Verlaufe der nächstfolgenden Dezennien in lang-
gedehnten Epidemien oder in wiederkehrenden kürzeren Lokal-
ausbrüchen ausstrahlte. In einer grossen Zahl von volkreichen Städten
war die Krankheit seit der Mitte des Jahrhunderts völlig endemisch
geworden und hatte in einzelnen Jahrgängen durch die von ihr ver-
ursachte Kindersterblichkeit die Gesamtmortalität in empfindlichster
Weise beeinflusst. Eine Uebersicht der zeitlichen und örtlichen Be-
wegung der Diphtherie innerhalb jenes Zeitraumes ergibt, dass in
Frankreich ihre Verbreitung mit jedem Jahre sich erneuert und nur
wenige Gegenden des Landes verschont hat. Selbst die über den Gang
der Krankheit auf dem Boden Frankreichs aus jüngster Zeit vor-
liegenden Berichte konstatieren noch im Jahre 1890 ihre andauernde
Zunahme in vielen Gebietsteilen des Landes. Wie Spanien und Por-
tugal wurden Holland und die Niederlande seit dem 6. Dezennium
von schweren Bräuneepidemien heimgesucht. In England und Schott-
land war den Berichten zufolge die Diphtherie von 1855 bis 1859 in
stetem Ansteigen begriffen, verminderte vom Jahre 1867 an ihre
Häufigkeit, um dann wieder an einzelnen Plätzen stärkere Nach-
schübe zu zeitigen. Irland scheint unter ihr weniger gelitten zu haben.
In Deutschland, wo die ersten Epidemien im Norden und Osten
mit dem Jahre 1861 den Zug der Seuche eröffnet hatten, dehnte sich
die Diphtherie alsbald über die Ostseeküste, Sachsen, Thüringen aus,
erschien vom Jahre 1864 an, immer weitere Kreise umfassend, in ganz
Norddeutschland und hatte u. a. in Berlin 1868 — 1869 zu einer schweren
Epidemie Anlass geboten. Innerhalb der Periode 1874 — 1883 wurde
die Sterblichkeit der Stadt Berlin an Scharlach und Diphtherie nur
von wenigen europäischen und amerikanischen Grossstädten übertroffen.
Aehnliche Verhältnisse wies die Krankheit in den süddeutschen Staaten
auf, wo sie von 1863 — 1869 stetig nach allen Richtungen sich aus-
dehnte, nach mehrjährigem Nachlasse im Jahre 1873 wiederum an
Stärke zunahm und hier wie überhaupt im ganzen Eeiche in den
Jahren 1877 — 1884 ihre Verheerungen erneuerte. Eine entschiedene
Verminderung der durch Diphtherie bewirkten hohen Erkrankungs-
und Sterbeziffer begann für das deutsche Reich erst im Jahre 1888
Platz zu greifen. Verhältnismässig später ist die Diphtherie in epi-
demischer Form in Oesterreich-Ungarn aufgetreten. Ihrer grösseren
Ausdehnung begegnen wir erst im Jahre 1870 in Siebenbürgen, wohin
sie aus Rumänien Eingang gefunden haben soll. Vom Jahre 1873 an
überzog sie langsam, aber an Bösartigkeit zunehmend die Länder der
ungarischen Krone, griff 1875 in Wien um sich und war gleichzeitig
in den nördlichen und südlichen Kronländern des Kaiserstaates epi-
demisch zu Tage getreten, um von da an überall, analog wie im be-
nachbarten deutschen Reiche, ein volles Dezennium hindurch ihre
Herrschaft zu behaupten.
Auch Italien wurde im Jahre 1861 zum Schauplatz der epidemischen
Bräune, die in Florenz beginnend über Toskana sich rasch verbreitet
und namentlich in Oberitalien Fuss gefasst hatte. Im Jahre 1871
nahm ein neuerlicher Epidemiezug von Toskana aus seinen Anfang,
verursachte in Florenz eine erschreckende Sterblichkeit und schritt
nach der Lombardei weiter, um hier bis zum Jahre 1875 nicht zu
erlöschen. Gleichzeitig war die Diphtherie über die ganze apenninische
Geschichte der epidemischen Rraiikheiten. 877
Halbinsel bis Sicilien gewandert und in Rom, Neapel u. a. Städten
mit Vehemenz eingerissen. Eine abermalige und allgemeine Verbreitung
hat sie in Italien im Jahre 1882 gefunden, späterhin, obwohl sie im
ganzen Königreiche endemisch geworden war, hauptsächlich in den
Epidemien eine exzessive Steigerung erfahren, von denen im Jahre
1885 Apulien und Sicilien, 1891 die Lombardei betroffen worden sind.
Nicht um vieles milder hat die Diphtherie vom Jahre 1861 an-
gefangen Dänemark, Schweden und Norwegen heimzusuchen. Zur bös-
artigsten Seuche gestaltete sich aber damals die Krankheit im russi-
schen Reiche, die allmählich über die mittleren Gouvernements sich
verbreitend, im Jahre 1869 nach den südlichen Gegenden vorgerückt
war und hier in den Jahren 1872 — 1880 eine furchtbare Mortalität
im Gefolge hatte. Am ärgsten wütete die Bräune in den Gouverne-
ments Charkow und Poltawa. wo sie nach den Mitteilungen Filatows
in den .Jahren 1878—1879 den Höhepunkt erreicht und in einzelnen
Departements fast alle Kinder dahingerafft hat. Von ihren Ver-
wüstungen in Bessarabien meldet ebenfalls ein Bericht aus jener Zeit,
dass „die Kinder verschwunden waren". — Rumänien, die Türkei,
Griechenland und Malta blieben während dieser Periode von epi-
demischer Diphtherie gleichfalls nicht verschont.
In Amerika hat die Krankheit ungefähr in gleicher Stärke wie
in Europa ihre Verbreitung erlangt und vom Jahre 1860 an in den
Unionsstaaten und deren nördlich gelegenen Nachbarländern, in Mexiko
und auf der südlichen Hälfte des Kontinents in verderblichen, jahre-
langen und gruppenweise zusammenhängenden Lokalepidemien an-
gedauert. In den Vereinigten Staaten ist erst seit dem Jahre 1890
eine konstante Abnahme der Sterblichkeit an Diphtherie wahrzunehmen.
Die über das epidemische Vorkommen der Diphtherie in Asien, Afrika
und Australien bekannt gewordenen Nachrichten sind zu dürftig, um
hier nähere Berücksichtigung finden zu können.
Mit der gewaltigen Expansion der Diphtherie in allen Kultur-
staaten liat sich naturgemäss das litterarische Material über die
Epidemiologie, Aetiologie, Pathologie und Therapie der Krankheit ins
ungemessene angehäuft. Alle Nationen haben zur Beobachtung und
Klärung dieser im Vordergi-unde des ärztlichen Interesses stehenden
Infektionskrankheit beigetragen und die bedeutendsten Forscher an
ihrer Erkenntnis und Bekämpfung mitgewirkt. Die Litteratur-
geschichte der Krankheit, auch nur auszugsweise über die letzten
Dezennien beizubringen, würde den Rahmen unserer Aufgabe weit
überschreiten, weshalb wir auf die zahlreichen Lehr- und Hand-
bücher, in denen der Gegenstand seine ausführliche Besprechung findet,
verweisen. Die schon an früherer Stelle berührten Forschungen über
die parasitäre Natur der Diphtherie führten im Laufe der nächst-
folgenden Jahrzehnte zu zahlreichen Beobachtungen und Versuchen,
die jedoch vorderhand noch unbefriedigende Ergebnisse liefern sollten.
Die von hervorragenden Pathologen und pathologischen Anatomen
versuchten Nachweise specifischer Bakterien bei Diphtheriekranken
begegneten vielfachem Widerspruche und begründeten Einwänden.
Erst mit der durch R. Koch angebahnten ätiologischen Forschungs-
methode war es gelungen, den Krankheitserreger der Diphtherie aufzu-
decken. Nachdem Klebs im Jahre 1883 den Bacillus der Diphtherie
aufgeschlossen hatte, war es L off 1er, der im darauffolgenden Jahre
mit voller Sicherheit und experimenteller Beweiskraft den nach ihm
878 Victor Fossel.
benannten Mikroorganismus als den specifischen Krankheitserreger
der Diphtherie feststellte. Mit diesem Ergebnis im innigsten Zu-
sammenhange standen die von Roiix und Y er sin im Jahre 1888
und kurz darauf von Löffler gelieferten Arbeiten über die Gift-
wirkung der Diphtheriebazillen und die daraus abgeleitete Lehre vom
Diphtheriegifte und seiner Bedeutung in der Aetiologie und Verhütung
der Krankheit, Von ihnen ausgehend hat Behring im Jahre 1892
die Serumtherapie der Diphtherie in die Heilkunde eingeführt und
damit bei der Bekämpfung des tückischen Leidens ein neues und an
Erfolgen reiches Mittel den Aerzten an die Hand gegeben.
XI. Influenza und Dengue.
Litieratur.
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Dengue, Nothnagel Hdb. d. sp. P. u. Th. IV. Bd. 11 Th. 1. Abth. 1896. — Scheube,
Die Krankheiten d. warmen Länder, IL Aufl., 1900. — Van der Burg, Janus
VI 1901.
Zu allen Zeiten hat die Influenza angesichts der Schnelligkeit,
mit der sie über Kontinente dahin eilte, und wegen der hohen Mor-
bidität, mit der sie ihre Herrschaft stets eröffnete, den Geist der Aerzte
beschäftigt. Die Unabhängigkeit von Witterung, Jahreszeit und
Klima, von Easse und Geschlecht erhöhte nur das Geheimnisvolle der
Herkunft und des VTesens der Krankheit, die Huxham im Jahre
1754 als „morbus omnium maxime epidemicus" bezeichnet hat. Das
Interesse, das der Erforschung des Alters der Influenza von jeher zu-
gewendet war, hat viele Autoren dazu geführt, das Vorkommen der
Krankheit im Altertum und Mittelalter nachzuweisen oder wenigstens
wahrscheinlich zu machen. Einige wollen in der bei Hippokrates
(Epid. Lib. VI sect. VII) erwähnten Seuche die Influenza erkennen;
andere sprechen den von Diodor geschilderten Lagerseuchen des
Jahres 395 v. Ch. den Charakter der epidemischen Grippe, zu ohne
über Vermutungen hinaus zu kommen, oder, was noch schwerer ins
Gewicht fällt, lediglich einer Hypothese zu Gefallen die in einer hohen
Sterblichkeit ausgesprochene Gefährlichkeit des Leidens näher zu be-
rücksichtigen. Nicht weniger unsicher erweisen sich die Versuche,
die bei den Chronisten des Mittelalters erwähnten epidemischen
Katarrhfleber mit der Influenza zu identifizieren, Avofür jede nähere
Beschreibung der Krankheitserscheinungen fehlt.
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 879
A. Hirsch bezeichnet als erste, nachweisbare Influenzaepidemie
jene des Jahres 1173, Zeviani die vom Jahre 1239. Ginge jene
vom Jahre 1323, während Seh weich, Haeser. Biermer. Kip-
per ger u. a. erst in der Epidemie des Jahres 1387 sichere Influenza
finden wollen. Erwägt man jedoch, dass die damaligen Schilderungen
der verlässlichen Deutlichkeit entbehren und selbst im Laufe des
15. Jahrhunderts das Bild des ,.Catarrhus epidemicus" ver-
schiedene Auslegung gestattet, so wird man diesen vorerwähnten
Altersbestimmungen gegenüber sich kaum anders als skeptisch ver-
halten können. Unter den Verhältnissen jener Zeiträume war es un-
vermeidlich, dass der Ausblick und die Erfahrung des einzehien Be-
obachters meist an den Grenzen der eigenen Heimat eine Schranke
fand und daher bestenfalls nicht von dem ganzen Verbreitungsgebiete
eines und desselben Seuchenzuges, sondern nur von einer territorial
umschriebenen Epidemie die Eede sein konnte. Es gewinnt sonach
der Standpunkt jener Forscher, welche die beglaubigte Gescliichte der
Influenza erst vom Beginne des 16. Jahi'hunderts an datiert wissen
wollen, eine gewisse Berechtigung und wir zögern nicht, uns gleich-
falls dieser Anschauung anzuschliessen.
Im XVI. Säkulum begegnen wir einei* grösseren Zahl von Pande-
mien der Influenza, wovon die ärztlichen Zeitgenossen zwar hin-
reichenden Aufschluss über das Wesen der Krankheit, aber nur un-
zulängliche Angaben über den Gang und die Verbreitung der Seuchen-
züge überliefert haben.
So trägt die Epidemie vom Jahre 1510 die unverkennbaren Züge
der Krankheit an sich, von ihrer Ausbreitung "bissen wii- nur, dass
sie angeblich von Malta kommend über Italien, Spanien und Frank-
reich nach dem nördlichen Europa gewandert und den damaligen
Aerzten als eine neue von hoher Mortalität begleitete Seuche er-
schienen war. Dieselbe Unsicherheit haftet den Nachrichten über den
Gang der Epidemie des Jahres 1557 an, obgleich übereinstimmend
ihrer abwechselnden Verbreitung in ganz Europa gedacht und aus
verschiedenen Ländern, namentlich Frankreich und Jäolland berichtet
wurde, dass nahezu kein Mensch der Erkrankung entgangen war.
Ausführlichere Kenntnis ist auf uns gekommen über die Influenza-
pandemie des Jahres 1580. Aus dem Oriente kommend, breitete sie
sich im Frühjahre zunächst über die Mittelmeerländer aus, rückte im
Sommer nach Mitteleuropa vor, um mit Schluss des Jahres an den
Küsten des baltischen Meeres ihre letzten nachweisbaren Spuren zu
hinterlassen. Die Schilderung des plötzlich über eine Stadt oder
einen Landstrich hereinbrechenden „epidemischen Katarrhal-
fiebers" stimmt mit dem Bilde der Influenza unserer heutigen Zeit
vollständig überein, wenn auch die Bezeichnung der Krankheit, die
Würdigung der am meisten hervortretenden oder je nach dem Stand-
punkte des Autors als charakteristisch angesehenen Symptome nicht
immer volle Einheitlichkeit aufweist. Die Aerzte jener Zeit nennen
die Krankheit Catarrhus epidemicus, Tussis epidemica,
Cephalalgia contagiosa, im deutschen Volksmiinde \NTirde sie
als Schafhusten. Ziep, Pipf, Hühnerweh. von den Italienern
Mazuchi (Male della zucca= Kürbiskrankheit), Cocculucus,
Malo di castrone, von den Franzosen Cocheluche u. s. f. be-
zeichnet. Dass die den galenischen Doktrinen ergebenen Aerzte in
der Seuche ein putrides, pestilentisches Fieber erkannt haben, kann
880 Victor Fossel.
nicht überraschen. Es war das Gesamtbild der Influenza, die häufig
unter vorwaltend gastrischen Störungen auftrat und derentwillen von
einigen Autoren als biliöser Katarrh aufgefasst wurde. Die Aus-
dehnung der Epidemie war die der Influenza eigentümliche ; fast keine
Person blieb von ihr verschont, doch war ihre Gefährlichkeit ver-
schwindend gering, nur Asthmatiker, Phthisiker und Greise wurden
von ihr dahin geralft. Man leitete die Krankheit von einer „levis
corruptio" der Atmosphäre ab, stritt darüber, ob das Leiden eine
„synocha putrida" oder ,,non putrida", ob es kontagiös sei oder nicht.
Die Aerzte lernten frühzeitig die Schädlichkeit des bei „inflamma-
torischen" Erkrankungen unvermeidlichen Aderlasses kennen und be-
schränkten sich auf Diaphoretica, Laxantia und roborierende Mittel.
Wo gegen die Influenza der unsinnige Gebrauch der Venäsektion in
ungeschwächten Ansehen geblieben war, wie in Italien und Spanien,
war auch die Sterblichkeit eine erschreckend hohe, und Forestus
warnt vor den Blutentziehungen mit den Worten: „Seminaria con-
tagionis sanguinis missione non possunt educi".
Vom Ausgang des 16. Jahrhunderts an trat die Influenza in
Europa wie in Nord- und Südamerika noch häufiger auf. Während
sie 1593 in Europa einen pandemischen Charakter angenommen hatte,
blieb sie 1626 auf den Süden des Kontinents beschränkt. Sie überzog
im Jahre 1647 die westliche Hemisphäre in bedeutender Ausdehnung,
trat 1657 — 1658 vorwiegend in England auf, erschien hier im Jahre
1675 von neuem und bedrängte gleichzeitig mit einer ausgedehnten
Invasion Deutschland, Oesterreich und Ungarn. Grossbritannien
bildete in den Jahren 1688 und 1693 abermals den Herd der epi-
demischen Grippe, die im letztgenannten Jahre auch nach Nordfrank-
reich und Holland sich verbreitet hatte.
Die ärztlichen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts, unter denen
Willis, Sydenham und Ettmüller den epidemischen Katarrh
am besten beschrieben haben, stellen epidemiologische Betrachtungen
und Nachforschungen über die Wege der Krankheit mehr in den
Hintergrund. Hingegen zeigt die Influenzalitteratur während des
18. Jahrhunderts nach Form und Inhalt der Arbeiten einen gewissen
Fortschritt, es tritt daraus auch das Bestreben der Autoren hervor,
allmählich untereinander Fühlung zu erreichen uud damit in die zeit-
liche und örtliche Verbreitungsweise der Seuche besseren Einblick zu
gewinnen.
Im Jahre 1709 herrschte die Influenza in den meisten Ländern
Europas und recrudeszierte 1712 annähernd im gleichen Umfange.
Die grosse Pandemie der Jahre 1729 — 1730 nahm, wie zum ersten
Male sicher nachgewiesen ist, ihren Ausgang von Russland. Sie wird
als „kontagiöses Katarrhalfieber", als „legrand rhume",
als „Synocha catarrhalis" bezeichnet. Im Frühjahr 1729 in
Eussland verbreitet, durchzog die Seuche während der Sommer- und
Herbstmonate ganz Mitteleuropa und das britische Inselreich, rückte
gegen Ende des Jahres nach dem Süden des Kontinents vor, wo sie
im Frühjahr 1730 in Neapel ein Ende fand. Doch schon nach zwei-
jähriger Pause erhob sich die Influenza im Spätherbst 1732, vermut-
lich von Russland stammend, in Polen, wanderte nach Deutschland
und der Schweiz, im Januar 1733 nach England, Frankreich und
Italien, ergriff in den darauffolgenden Monaten Spanien und soll
später den ganzen amerikanischen Kontinent überzogen haben. Inner-
Geschichte des epidemischen Krankheiten. 881
halb der Jahre 1734—1737 kam die Inflnenza auf europäischen Boden
keineswegs zur Ruhe, in allen Ländern entwickelten sich kräftige,
länger andauernde Nachschübe.
Ob die Epidemien dieses achtjährigen Zeitraumes als eine fort-
gesetzte Kette einer und derselben Invasion anzusehen sind, wird aas
den damaligen Berichten keineswegs ersichtlich. Es ist aber nach
unseren heutigen Erfahrungen gewiss gestattet, anzunehmen, dass jene
rasch einsetzenden Wiederholungen untereinander im kausalen Zu-
sammenhange standen und die einzelnen Epidemiejahre in ^^'irkKch-
keit einer abgeschlossenen Influenzaperiode angehörten. Während
dieses Zeitabschnittes haben die Aerzte im allgemeinen das charakte-
ristische Gepräge der Krankheit wiederum bestätigt. Bemerkenswert
ist. dass in Italien und England an fielen Kranken Gehimsvmptome
(leichte Delirien, Alterationen des Geschmackes und Geruches) beob-
achtet wurden. Einige Berichterstatter sprechen von friesel artigen,
petechienförmigen Hauteruptionen, von denen das epidemische Katarrh-
fieber begleitet war. Die Morbidität war eine enorme, selbst Haus-
tiere sollen, wie vielfach erzählt wird, von der Influenza ergriffen
worden sein. Die Sterblichkeit hingegen war eine auffallend milde.
Der Gutartigkeit wegen nannten die Deutschen das Leiden die
„Modekrankheit", der zumeist nur alte und geschwächte Leute
zum Opfer gefallen waren.
In den nächsten Dezennien sind es die Jahre 1742—1743, 1757
bis 1758. 1761—1762. 1767, 1775, 1779—1780, in denen sowohl Europa
wie Amerika von Influenzaepidemien heimgesucht worden ist. Nicht
jederzeit lässt sich aber historisch verfolgen, in welchem Zeitmasse,
noch weniger in welcher Richtung die Seuche ihren Weg genommen
hat. Auch Anfang und Ende des Zuges auf dem engeren Länder-
gebiete verliert sich in ungewissen Nachrichten, so dass der Be-
hauptung, die Influenza habe wiederholt aus Amerika kommend, den
Weg nach der alten Welt eingeschlagen, die Meinung gegenüber
gestellt wurde, sie habe in Europa stets den Kurs von Ost nach West
und ausserdem vom Norden nach dem Süden eingehalten.
Der grössten Invasion der Influenza während des 18. Jahrhunderts
begegnen wii- in den Jahren 1781—1782. Ihr erster Schauplatz wird
nach übereinstimmenden Zeugnissen nach Ostindien verlegt, wo im
Herbste 1781 die britische Armee unter ihrem Drucke schwer zu
leiden hatte. Ueber Asien fortschreitend, gelangte sie im Dezember
1781 nach Russland, hielt im Januar 1782 ihren Einzug in St. Peters-
burg, erschien im Februar in Finnland und wälzte sich in der darauf-
folgenden Zeit nach Dänemark, Deutschland. Schweden. England fort.
Vom Mai an überzog sie Oesterreich, wanderte westwärts über Süd-
deutschland und den Rhein entlang nach den Niederlanden und Frank-
reich, endlich südwärts nach Spanien und Italien. Ueberall hat die
Krankheit, die seit 1743 von den Franzosen mit „Grippe**, von den
Engländern mit ..Influenza" und nunmehr wegen der Plötzlichkeit
ihres Ausbruches als ..Blitz katarrh" bezeichnet wurde, eine exor-
bitante ^lorbidität hervorgerufen, ja in einzelnen Städten nahezu die
gesamte Einwohnerschaft befallen. Aehnliche Pandemien der Influenza
fielen in die Jahre 1788-1790, 1798—1803. Der Zug der Seuche
innerhalb des letztgenannten Zeitraumes stellte sich als eine zu-
sammenhängende Kette von grossen Länderepideraien dar, an welche
Handbach der Geschichte der Medizin. Bd. II. 56
882 Victor Fossel.
sich dazwischen laufende und von Intervallen unterbrochene heftige
Nachschübe auf vorher durchseuchten Gebieten anschlössen.
Vom Jahre 1805—1827 trat die Influenza wiederholt in Europa
und Amerika auf. Aber alle diese Ausbrüche blieben weit hinter der
Pandemie zurück, die in den Jahren 1830—1833 der Influenza den
Stempel einer Weltseuche aufgeprägt hatte. Im Januar 1830 in China
beginnend, verbreitete sie sich im September desselben Jahres nach
Manila, Polynesien und den grossen Sundainseln, gelangte mit Eintritt
des Winters nach Russland, von wo sie im Frühjahr 1831 nach
Deutschland, Oesterreich und Dänemark übergriff. Während der
Sommermonate suchte sie Schweden, Frankreich, Belgien und Gross-
britannien heim, indes Italien erst im November und Spanien nach
Schluss des Jahres befallen wurde. Damit erreichte der europäische
Seuchenzug vorderhand seinen Abschluss. Nordamerika, das gleich-
zeitig mit Italien schon im November 1831 die ersten Ausbrüche des
epidemischen Katarrhs zu überstehen hatte,, erlitt in den ersten beiden
Monaten des Jahres 1832 eine neuerliche und vehemente Ausdehnung
der Influenza. Im weiteren Laufe des Jahres 1832 blieb die Krank-
heit auf Vorderindien eingeengt. Doch schon im Beginne des Jahres
1833 erhob sie sich, von Vorderasien einbrechend, neuerdings im russi-
schen Reiche, pflanzte sich in den folgenden Monaten in analoger
Richtung wie zwei Jahre vorher von NO nach SW nach den übrigen
Ländern Europas fort und nahm überdies schon im Monate März, ver-
mutlich vom Schwarzen Meere ausgehend, ihren Weg nach Syrien und
Aegypten. Eine reiche Litteratur bezeugt das Interesse, das die
Aerzte aller Staaten der Pandemie entgegengebracht hatten, ohne
wesentlich über frühere Erfährungen hinaus zu gelangen. Man forschte
mit besonderem Eifer nach den Ursachen des „Miasma", suchte die-
selben in einer „katarrhalischen Konstitution", in gewissen Beziehungen
des Mondes zur Erde, in den angeblichen Einwirkungen unheilver-
kündender Kometen, und die Romantiker der deutschen Medizin zogen
einen „Intoxitacionsprozess der Atmosphäre" oder deren Uebersätti-
gung mit Elektrizität herbei, um eine Erklärung dieser Volksseuche
zu finden.
Die gleiche Wahrnehmung gilt für die zahllosen Berichte, welche
die Influenzapandemie der Jahre 1836 — 37 umfassen. Diesmal war es
Australien, Südafrika und Hinterindien, von wo im Oktober 1836 die
Krankheit ihren Ausgang nahm, um mit einer bis dahin nicht beob-
achteten Schnelligkeit auf dem Wege über Russland, das schon im
Dezember 1836 befallen worden war, nach dem Kontinente und zwar
in zweifacher Richtung fast gleichzeitig nach dem Westen und Süden
zu fluktuieren. Binnen weniger Monate war Europa wiederum von
der Seuche befreit, welche in ihrer Extensität von früheren Zügen nicht
wesentlich differierte, aber nach den Mitteilungen namhafter Augen-
zeugen in vielen Städten von einer ungewöhnlich hohen Sterblichkeit
begleitet war.
Von den Influenzaepidemien, welche in den folgenden Jahrzehnten
nach ein- bis mehrjährigen Zwischenpausen bald auf der östlichen,
bald auf der westlichen Hälfte des Erdballes zur Entwicklung gelangt
sind, nimmt jene der Jahre 1847 — 1848 wegen ihrer allgemeinen Ver-
breitung ein erhöhtes Interesse in Anspruch. Schon während des
Winters 1846 — 1847 epidemisierte die Krankheit im nördlichen und
westlichen Europa, zeigte aber im darauffolgenden Frühling und
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 883
Sommer überall, mit Ausnahme von Russland, einen entschiedenen
Nachlass. Von neuem gelangte sie im Herbste 1847 zur Entwicklung,
allem Anscheine nach diesmal von den Gestaden des Mittelländischen
Meeres ausgehend. Nacheinander wurden Frankreich, Deutschland,
Dänemark, die Niederlande, Grossbritannien, die Schweiz, Italien,
Spanien, Griechenland, Aegypten und Algier ergriffen. Vom Januar
1848 an erschien sie in Nordamerika, im Laufe des Jahres in "West-
indien u. a. Teilen der neuen Welt. Die späteren Epidemien, die der
Jahre 1850—1851, 1855, 1857—1858, 1874—1875 bieten wenig Be-
merkenswertes, wenngleich einzelne derselben auf verhältnismässig
engerem Gebiete eine beträchtliche Ausdehnung aufgewiesen haben.
Die gewaltigste Pandemie, die die Geschichte der Influenza kennt,
ist jene vom Jahre 1889 — 189Ö. Sie ist nicht nur durch die In- und
Extensität ihres Auftretens in allen Teilen der bewohnten Erde denk-
würdig geworden, sondern auch darum der historisch wichtigste Aus-
bruch dieser Volkskrankheit, weil die strenge und sorgfältige Beob-
achtung, die ihr in der Litteratur aller Kulturländer zuteil wurde,
unsere epidemiologischen und pathologischen Kenntnisse von der
Krankheit grundlegend befestigt und erweitert hat. Die unübersehbare
Menge ärztlicher Detailberichte, die wertvollen Ergebnisse der allent-
halben eingeleiteten Sammelforschungen über Auftreten, Bewegung und
Erscheinungen der Seuche haben an der Hand der modernen klinischen
und statistischen Forschungsmethode die eingehendste Bearbeitung ge-
funden. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn wir die Influenza zu den
bestgekannten epidemischen Krankheiten zählen, deren kontagiöse
Natur wohl heute ebenso ausser Zweifel steht, wie deren Charakter
als specifischer Infektionsprozess, dessen Krankheitserreger R. Pfeiffer
im Jahre 1892 entdeckt und als „Bacillus influenzae" bezeich-
net hat.
In der Geschichte dieser jüngsten Pandemie springt vor allem die
Gleichartigkeit der Influenza in epidemiologischer wie pathologischer
Beziehung in die Augen. Sie ist dieselbe Krankheit geblieben, die
wir aus den Schilderungen früherer Jahrhunderte kennen gelernt
haben, unverändert in ihrem Symptomenkomplex, ungeschwächt in der
Wucht, mit der sie allezeit die Menschheit überfallen hat.
Die ersten Anfänge der Pandemie 1889 — 1890 weisen nach dem
Innern von Asien hin. Schon Mitte Mai 1889 war in Buchara in
Turkestan die Influenza in heftiger Weise zum Ausbruch gekommen.
Gleichzeitig herrschte sie, wie beglaubigt erwiesen ist, in Grönland
und Britisch-Nordamerika. Dem gering entwickelten Verkehre ent-
sprechend, schritt die Influenza von Turkestan in auffällig langsamem
Tempo nach Sibirien und dem europäischen Russland weiter, erschien
erst gegen Ende Oktober in St. Petersburg und in den nächsten
Wochen in den verschiedenen Gebieten des Zarenreiches. Von nun
an änderte aber die Seuche ihre Gangart; sprungweise eilte sie über
WTite Länderstrecken dahin, mit einem Male hier und dort ihr Er-
scheinen ankündend. Von jeder Stadt und jedem Flecken, den sie be-
setzte, erweiterte sie gleichsam wellenförmig ihre Kreise nach allen
Richtungen, deren zeitliche Intervalle in der Folgezeit kaum mehr zu
erkennen waren.
Von Russland aus nahm nun die Influenza ihren Weg nach dem
Westen Europas. Mitte November tauchte sie in Berlin und einigen
norddeutschen Städten auf, schon am 26. November stellte sie sich in
56*
884 Victor Fossel.
Paris ein, wo die plötzlichen Massenerkrankungen im Magazin du
Louvre die grösste Bestürzung hervorgerufen und den Ausgangspunkt
für die folgende Epidemie in Paris und in ganz Frankreich gebildet
haben. "Wenige Tage später häuften sich die Grippefälle in den
Hauptorten des deutschen Reiches, mit Anfang Dezember traten zahl-
reiche Erkrankungen in Stockholm, Kopenhagen, Wien u. a. 0. auf, und
vom 10. Dezember an ist bereits ein beträchtliches Gebiet des deutschen
Reiches von der Influenza ergriffen. Gleichzeitig hält sie in Brüssel
und London ihren Einzug und schiebt ihre Vorposten nach Oesterreich-
Ungarn, den Balkanstaaten, Italien, Spanien, Grossbritannien und
Nordamerika vor. Um den 2Ö. Dezember schwillt in den vorgenannten
Ländern wie in Frankreich und der Schweiz die Seuche zu enormer
Höhe an, sie wandert nach den Küsten und Inseln des Mittelländischen
Meeres IdIs Aegypten und dringt im Norden Europas vor, wo sie in
Christiania, in Schottland und Irland festen Fuss fasst.
Anfangs Januar 1890 gleicht das ganze Europa und der grösste
Teil von Nordamerika einem Riesenherde der epidemischen Grippe.
Um diese Zeit setzt sie auch nach Algier und Tunis über, kommt in
Persien zum Ausbruch und wird durch ein infiziertes Fahrzeug nach
Capstadt verschleppt. Mitte Januar breitet sich die Influenza in
Norwegen und in Centralamerika aus, gegen Ende des Monats wird
sie in Honkong importiert, innerhalb der nächsten Wochen auf Ceylon,
in Japan und Südamerika. Mitte Februar findet sie u. a. auf Grön-
land und den Hebriden Eingang, anfangs März in Vorder- und Hinter-
indien, China, den Sundainseln und Australien. Im weiteren Verlaufe
der Monate März und April erfolgt die Invasion der Krankheit an
zahlreichen Punkten der ost- und westafrikanischen Küste wie in
Arabien, während viele hier nicht im einzelnen aufgezählte Land-
striche und Inseln von Asien, Afrika, Amerika und Australien im
Sommer und Herbst 1890 von der Seuche heimgesucht werden. Mit
Jahresschluss war ihr Rundgang um die Erde beendet.
Wie den früheren, grossen Epidemien der Influenza ist auch ihre
Sturmflut 1889 — 1890 binnen Jahresfrist ein mehr oder weniger
heftiger Nachschub gefolgt. Abgesehen von den lokalen Spätausbrüchen
des Jahres 1890 trat anfangs 1891 die Seuche in Nord- und Süd-
amerika von neuem auf. Gleichzeitig kehrte sie im Norden von Eng-
land, in Schweden, Norwegen und Dänemark zurück und gewann in
diesen Ländern wie auf dem westlichen Kontinent eine grosse Ver-
breitung. Wie jedoch epidemiologisch sicher gestellt ist, sind diese
erneuerten Ausbrüche nicht auf eine frische Verschleppung von Land
zu Land, sondern vielmehr auf ein Wiederaufspriessen der zurück-
gebliebenen Infektionskeime zurückzuführen. Auf die gleiche Ur-
sprungsquelle deutet der Wiederbeginn der Influenzapandemie hin, die
im Herbste 1891 ganz Europa und die anderen Weltteile überzogen
und bis Mai 1892 angedauert hat. Endlich darf die Nachepidemie des
Winters 1893/94 hierher gerechnet werden, ein im verkleinerten Mass-
stabe kopiertes Bild der infektiösen Grippe der letzten Jahre. Diese
Ausläufer und Recidiven erinnern an die oftmaligen En- und Epidemien
im Gefolge fi'üherer Seuchenzüge, ebenso unbegrenzt in ihren Auf-
flackern, wie unbestimmbar in ihrer örtlichen und zeitlichen Bewegung.
Auch hinsichtlich der ungleich längeren Dauer an Ort und Stelle, und
der höheren Sterblichkeit bei relativ geringerer Erkrankungsziffer
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 885
gemahnen diese Nachzügler an das eigentümliche Abklingen der In-
fluenza in der Vergangenheit.
Das Denguefieber,ein akuter Infektionsprozess, charakterisiert
durch heftige Gelenks- und Muskelschmerzen, sowie durch ein im An-
fangs- und Endstadium auftretendes variables Exanthem gekenn-
zeichnet, gehört den Krankheiten der warmen Länder an. Die reiche
Nomenklatur, die das Leiden im Laufe der Zeit erworben hat, um-
schreibt in mehi' oder weniger glücklicher Weise das eine oder andere
Hauptsymptom des Uebels, und spricht schon an sich für sein oft-
maliges Vorkommen bei den Yei"schiedenen Völkern. Nach Vambery
soll das Wort ,.Dengue" altarabischen Ursprungs sein und soviel
wie Abgeschlagenheit bedeuten; andere sehen in demselben die kor-
rumpierte Form von ..Dandyfieber", womit die gezierte Haltung
und der gespreizte Gang der Kranken gemeint sei. Wegen der
iSchmerzhaftigkeit in den Kniegelenken wurde es von den Holländern
..Knockelkoorts" (Knöchelfieber), von den Amerikanern „Break
bone~ oder ..Brocken wing~ bezeichnet, in Indien das ..three
days fever"' genannt, anderwärts wegen des fleckigen initialen Aus-
schlages mit dem Namen „Giraffe"', „Bouquet", „Colorado" u. s.w.
belegt.
Die Heimat des Denguefiebers sind die tropischen und subtropi-
schen Länder, deren Grenzen die Krankheit nur ausnahmsweise über-
schritten hat. Durchwegs in seinem Vorkommen auf die warme
Jahreszeit beschränkt, bevorzugt sie in ihrer Ausbreitung die Meeres-
ufer und die grossen, schiffbaren Flüsse und gleicht in dieser Ab-
hängigkeit vom maritimen Verkehre dem Gelbfieber. Ob die Propa-
gation des Dengue auf rein kontagiösem Wege oder durch Mitwirkung
örtlicher Bedingungen erfolgt, ist noch eine unausgetragene Streit-
frage der Epidemiologen. Soviel steht fest, dass Dengue und Influenza
nicht, wie man vor nicht langer Zeit angenommen, identisch, sondern
zwei grundverschiedene, spezifisch getrennte Infektionskrankheiten
sind, die nur in der ungeheuren Zahl der plötzlich eintretenden Er-
krankungen und in der Gutartigkeit des Verlaufes eine gewisse,
nähere Vei-wandtschaft besitzen.
Unsere Kenntnisse über den Dengue datieren erst aus den Jahren
1779 und 1780, wo er in Bata\da und annähernd zu gleicher Zeit in
Kairo, Alexandrien, an der Coromandelküste. in Arabien und Persien
beobachtet wurde. Ebenfalls in .Jahre 1780 trat er in den heissen
Sommermonaten in Philadelphia auf, vier Jahre später in Cadix und
Sevilla, wo man die Krankheit als „piadosa" d.h. die „milde" be-
zeichnet hat. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wird seiner Ver-
breitung auf Grenada (einer der kleinen Antillen) Erwähnung gethan,
während die nächst bekannt gewordene Epidemie 1818 in Lima zum
Ausbruch gelangte. Erst vom Jahre 1824—25 an lenkte das Dengue-
fieber zufolge seiner weiten Ausdehnung über Vorder- und Hinter-
indien die Aufmerksamkeit der ärztlichen Welt auf sich, die noch ge-
steigert wurde, als 1826 — 1828 von Savannah aus über die wgini-
schen Inseln, ein grosser Seuchenzug über Westindien, die grossen
und kleinen Antillen, die südlichen Gebiete der Vereinigten Staaten
Nordamerikas und die nördliche Küste Südamerikas sich entwickelt
hatte.
In den folgenden drei Dezennien ist der Dengue an vielen Ort€n
und Ländern der östlichen und westlichen Hemisphäre in epidemischen
886 Victor Fossel.
oder lokalisierten Ausbrüchen zur Erscheinung gelangt. Wir er-
wähnen hier nur diejenigen Schauplätze, wo die Seuche wiederholt
oder in massenhafter Ausdehnung grassierte. Es sind dies Vorder-
und Hinterindien, wo zahlreiche Hafenorte oder an den Hauptströmen
im Innern des Landes gelegene Städte und deren Umgebung von
grösseren Epidemien in den Jahren 1830, 1835—36, 1844—48, 1853
bis 1854 heimgesucht wurden. Ebenso fielen in diesen Zeitraum
heftige Vorstösse der Krankheit nach Arabien (1835), Aegypten (1845),
Senegambien (1845, 1848), nach der Insel Reunion (1851), nach Taiti
und anderen Südseeinseln (1852—53). In beträchtlichem Umfange er-
schien zu jener Zeit und zu wiederholten Malen die Dengueseuche auf
der westlichen Hemisphäre. So war sie im Jahre 1848 in Neworleans
weit verbreitet und überzog 1850 den Süden der Unionsstaaten in
weitem Umfange. Schon im Jahre 1846 tauchte das Denguefieber in
Rio Janeiro auf, blieb anfänglich auf den Hafen beschränkt, erstreckte
sich zum zweiten Male aber über die ganze Stadt. Aehnliche Aus-
brüche wiederholten sich hier in den Jahren 1848 und 1849. In Peru
grassierte die Krankheit 1852, zwei Jahre später auf mehreren west-
indischen Inseln.
Während des Jahrzehntes 1860 — 1870 kam auf der östlichen Erd-
hälfte der Dengue auf Cypern und Syrien (1861 und 1868) zu stärkerer
Entwicklung, auf afrikanischem Boden 1864 — 1865 in Tripolis, auf den
Kanarischen Inseln, auf der Insel Goree, in Senegambien, ostwärts auf
Zanzibar und Madagaskar. Die Epidemie, welche im Jahre 1868 Port
Said und Kairo betroffen hatte, blieb auf diese Orte eingeengt. Das
Vorkommen der Krankheit auf der westlichen Hemisphäre konzen-
trierte sich auf Martinique und die Bermudainseln in den Jahren 1860
und 1863. Im letztgenannten Jahre, offenbar mit dem Ausbruche in
Westindien im Zusammenhange stehend, wurde sie durch Truppen-
schiffe nach der europäischen Hafenstadt Cadix eingeschleppt, sie griff
von da aus nach Xeres, Sevilla und anderen Städten Andalusiens
sowie der Nachbarprovinzen über und fand auch im Jahre 1867 in
Cadix auf dem gleichen Wege Eingang, ohne jedoch besondere Aus-
dehnung erlangt zu haben.
Zu einer ganz excessiven Verbreitung erhob sich das Dengue-
fieber in den Jahren 1871 — 1873. Die aus dieser zweijährigen Periode
bekannt gewordenen Epidemien stellten sich nachweislich als Glieder
eines und desselben Seuchenzuges dar, dessen zeitliche und örtliche
Bewegungen anscheinend an den menschlichen Verkehr gebunden ge-
wesen waren. Von der ostafrikanischen Küste beginnend, schritt die
Seuche nach den arabischen Häfen fort, wo sie namentlich in Aden
und Dschedda rasch sich entfaltete und in Mekka und Medina aus-
brach. Bald darauf erreichte sie Port Said, wurde von hier aus durch
ein Auswandererschiff nach Java und annähernd zu gleicher Zeit
durch ein von Aden auslaufendes Fahrzeug unmittelbar nach Bombay,
Cannanoor und Calcutta importiert. Von diesen Plätzen aus nahm
die Epidemie im Laufe des Jahres 1872 den Weg nach den ver-
schiedenen Provinzen Hindostans, vorwiegend den Eisenbahnen und
Dampfschiffrouten folgend; sie fand ihre Fortsetzung in China, auf
den Sundainseln, späterhin an der persischen Küste, auf Mauritius
und Reunion und schloss 1873 mit den heftigen Invasionen in Tripolis
und Senegambien ab. Ueberall war die Morbidität eine enorme, an
zahlreichen Orten entging fast niemand der Erkrankung. Mit den
Greschichte der epidemischen Krankheiten. 887
Ausläufern dieser Pandemie ^ngen im Jahre 1873 gleichzeitige Aus-
brüche des Dengue im Süden der nordamerikanischen Unionsstaaten
einher.
Innerhalb der letzten Dezennien war vor anderen Ländern das
westliche Asien der Hauptsitz des epidemischen Denguefiebers, das
hier in den achtziger Jahren in den Häfen des Roten Meeres, in
Syrien. Kleinasien ausgebrochen war, einzelne Inseln des Aegäischen
Meeres heimgesucht, auf Kairo und 1888 selbst nach Gibraltar über-
gegiiffen hatte. Zu einer ausgedehnten Epidemie schwoll die Ej*ank-
heit auf dem vorerwähnten Ländergebiete im Jahre 1889 an, wo sie
der unmittelbar daraufgefolgten Influenzaepidemie voranschritt. Das
Denguefieber fand diesmal Eingang in Palästina, im griechischen Ar-
chipel, Athen, Konstantinopel, Salonichi, Trapezunt und Varna. Die
Massenerkrankungen, welche auf diesem Boden vorerst von dem
Dengue, alsbald darauf von der Influenza verursacht worden sind,
sprechen, wie Leichtenstern hervorhebt, mit Nachdruck fiii- die
Verschiedenartio;keit beider Volkskrankheiten.
XII, Epidemische Schweisskrankheiten.
Litteratur.
Schiller, Comment. de peste Britanica, 1531. — Allioni^ Tractat. de mHianim
origine. 1792. — Meydellet, Art. ^Suette-^ in Dict. d. sc. med. Tom. 53, 1821. —
Knolz, Oest. med. Jahrb. 29. Bd. 1837. — Kellermann, ibid. 30. Bd. 1842. —
Seitz, Der Friesel, 1843. — Marwall, Der englische Schiceiss, 1849. — Taussig,
Wien. med. Wochsch. Xo. 7 ff. 1855. — Foucfwt, Ref. in Cayistatt. Jahresb. 1856.
— Masarei, Wien. m^d. Wochsch. 1860. — KeesbacJier, Memorabilien, 1882. —
Zuelzer, Ziemssen Hdb. d. sp. F. u. Th. III. Bd. 1886. — Brouardel, L'epidemie
de suette du Poitou, Ref. in Virchow-Hirsch Jahresb. 1887. — JParmentier,
Epidemie de suette miliaire, Ref. in Schmidfs Jahrbb. 217. Bd. 1888. — Dräsche
UHfl Weichselba lim, Ueber Miliaria, Wien. med. Bl. 1892. — Creighton, l. c.
1894. — Immermann, Der Schtceissfriesel, Nothnagel Hdb. d. sp. P. u. Tit.
V. Bd. 4. Th. 3. Abth. 1898.
Die historische Pathologie kennt zwei Yolkskrankheiten, den
Englischen Schweiss und den Seh weiss friesel. Während
der englische Schweiss, der innerhalb eines bestimmten Zeitraumes
wiederholt zur Erscheinung gelangte, von Pathologen "wie von His-
torikera als eine besondere Seuche aufgefasst wird, die tür mehr als
zwei Jahrhunderte aus der Geschichte verschwindet, um dann vor-
übergehend .ein einziges Mal auf engbegrenztem Boden zum Ausbruch
zu gelangen, wird bekanntlich mit dem Namen des ,.Schweiss-
f rieseis" oder der ,,S nette miliaire" jene epidemische Schweiss-
sucht bezeichnet, die vom Beginne des 18. Jahrhunderts an in zahl-
reichen Lokalepidemien bis in die allerjüngste Zeit beobachtet worden
ist. Wiewohl die Versuchung naheliegt, den „Sudor anglicanus**
und den ,,Schweissfriesel^ für eine und dieselbe Krankheit zu
halten, haben dennoch nach dem Vorbilde von Heck er und Hirsch
die Forscher der Gegenwart Abstand genommen, den genannten Krank-
heiten volle Identität zuzuerkennen und wollen letztere nur mit Vor-
sicht ihnen zugestanden wissen. Hingegen ^^i^d zwischen beiden
Affektionen eine nahe Verwandtschaft angenommen, so dass nach
heutiger Lehre unter beiden Formen der Schweisssucht nur ein gra-
Victor Fossel.
dueller Unterschied besteht und der Englische Schweiss als potenzierte
Abart des Schweissfriesels sich darstellt. In diesem Sinne mögen die-
selben getrennt voneinander hier Platz finden.
Die als Englischer Schweiss, „Pestis britannica",
„Ephemera britannica" bezeichnete Schweissfieberseuche war,
wie die gründlichen Untersuchungen von Hecker, Häser und
Hirsch ergeben, bis zum Ausgang des Mittelalters eine unbekannte
Krankheit. Vom Jahre 1486 bis 1551 trat sie in fünf Epidemiezügen
auf, von denen vier auf dem Boden Englands beschränkt geblieben
sind, indes nur eine Epidemie auf den europäischen Kontinent über-
gegriffen hat.
Die erste Epidemie brach 1486 im Heere Heinrichs VII. von
England aus, kurz bevor er sich gerüstet hatte, seinen Gegner
Eichard III. die Schlacht bei Bosworth (22. August) zu liefern. Mit
vehementer Heftigkeit verbreitete sich die Krankheit unter Heinrichs
Streitern, folgte dem Zuge derselben von Wales nach London, um hier
vom 21. September an mit blitzartiger Geschwindigkeit um sich zu
greifen und durch ihre Verheerungen die Bevölkerung der Hauptstadt
in panischen Schrecken zu versetzen. Die „Schweisssucht"
(sweating sickness), die schon kurz vorher in anderen Städten und
Gegenden Englands erschienen war, scheint während ihrer fünf-
wöchentlichen Dauer in London den Höhepunkt ihrer Herrschaft er-
reicht zu haben. Nicht nur die ungezählte Menge von Erkrankungen^
auch die erschreckende Zahl von Todesfällen, von denen sie begleitet
war, verlieh der plötzlich hereingebrochenen Volkskrankheit die At-
tribute einer neuartigen Pest. Vor den Palästen der Grossen des
Reiches hielt sie ebensowenig stille, wie vor der Hütte des Bettlers^
sie suchte sich mit Vorliebe ihre Opfer unter den kräftigsten Männern,
die in der Blüte ihrer Jahre standen, und, was das Entsetzen auf das
Aeusserste trieb, wer des Abends oft noch in voller Gesundheit sich
des Lebens erfreute, war am folgenden Morgen von dem tückischen
Uebel dahingerafft. Nicht einmal den Trost, der bei Pest und Blattern
ein einmaliges Ueberstehen der Krankheit für die Zukunft gewährte,
durften die von der Schweisssucht Genesenden für sich in Anspruch
nehmen. Viele Personen erkrankten drei- bis viermal daran, jedesmal
mit ungeschwächter Heftigkeit Erst mit Ende des Jahres erreichte
die Seuche ein Ende, die im ganzen Lande gewütet und enorme Opfer
gefordert hatte.
Ueber die Erscheinungen und den Verlauf dieser ersten Epidemie
liegen nur spärliche Berichte vor. Die Krankheit wird als ein über-
aus heftiges Fieber beschrieben, das ohne alle Vorboten plötzlich, meist
zur Nachtzeit mit kurzem Schüttelfroste und darauffolgender, bren-
nender Hitze einsetzte. Unter quälendem Angstgefühl, Herzklopfen,
Atemnot, unter dem Gefühle von zusammenschnürenden Magendruck,
Kopfschmerz und Uebelkeit brach alsbald ein strömender, übelriechender
Schweiss über die ganze Hautdecke aus, der zuweilen von einem
fleckigen oder bläschenartigen Exanthem begleitet gewesen war. In
gutartigen Fällen traten die genannten Symptome unter Nachlass der
profusen Schweisssekretion innerhalb 1 — 2 Tagen zurück und die Ge-
nesung erfolgte nach Verlauf von 1—2 Wochen. Wo jedoch das
Leiden gleich vom Beginne an sich ernst und besorgniserregend ge-
staltete, waren es vor allem rapider Kräfte verfall, heftige Cerebral-
erscheinungen. Delirien und Sopor, die die höchste Lebensgefahr an-
Geschichte der epidemischen Kraukheiten. 889
kündeten, die, wie berichtet wird, unfehlbar zu tödlichem Ausgang"
führte, wenn die Kranken nicht aus dieser unüberwindlichen Schlaf-
sucht aufgerüttelt wurden. Der Tod trat meist innerhalb der ersten
24 Stunden (oder noch früher) ein, unter dem Bilde allgemeiner Er-
schöpfung. Von mehreren Schriftstellern wird erwähnt, dass die im
Höhestadium des Krankheitsverlaufes zur Entwicklung gelangten
Bläscheneruptionen mit solcher peinigender Schmerzhaftigkeit ver-
bunden waren, dass selbst der Wechsel der Wäsche zu einem qual-
vollen Ereignis wurde, das man überdies schon darum ängstlich zu
vermeiden trachtete, weil jede Art von Abkühlung während der
Schweissperiode nach dem Glauben der Zeitgenossen zu den schlimmsten
Komplikationen führte und vielen Kranken unfehlbar den Tod brachte.
Angesichts der Hilflosigkeit der Aerzte griif das Volk zu einem
Regime, das unter dem Namen des „altenglischen Heilverfahrens"
einen gewissen Ruf in der Geschichte dieser Krankheit erhalten hat :
Vermeidung heftig wirkender Arzneien, massiges Warmhalten, Fasten
und ruhiges Ausharren binnen 24 Stunden, bis die Entscheidung
eintrat.
Die zweite Epidemie, gleich der ersten in einem regenreichen
Sommer beginnend, trat im Jahre 1507 in England auf, blieb auf
dieses Land allein beschränkt und nahm schon im Herbste ein Ende.
Dir Verlauf war ein auffallend milder.
Der dritte Ausbruch erfolgte nach elljähriger Pause im Juli
1518, diesmal mit einer Heftigkeit, die selbst die Erinnerungen an
das Jahr 1486 zu überbieten schien. Ungezählte Opfer erlagen dem
Uebel schon binnen 2 — 3 Stunden, so dass man den ersten Schauer
des Fiebers als Zeichen des unvermeidlichen Todes ansah. Alle Volks-
schichten hatten unter dem Wüten der Seuche zu leiden, die nächste
Umgebung des Königs blieb nicht von ihr verschont, massenhaft starben
diesmal die armen Leute dahin, an manchen Orten raffte sie ein Dritteil,
ja selbst die Hälfte der Einwohnerschaft dahin. Die Dauer der
Epidemie betrug sechs Monate, nur England allein hat ihren Schau-
platz gebildet, von Schottland und Mand war sie gänzlich fem ge-
blieben.
Die V i e r t e Epidemie vom Jahre 1529 hingegen unterschied sich
von den früheren Ausbrüchen der Schweisssucht vor allem dadurch, dass
sie nicht auf den Boden Englands allein sich begrenzte, sondern als-
bald über einen grossen Teil des europäischen Festlandes dahin eilte.
Von diesem Jahre an belegte man die Krankheit ihrer Heimat wegen
allenthalben mit dem Namen des „Englischen Schweisses".
Wiederum sollen Regengüsse und dichte Nebel der Seuche voran-
gegangen sein, als sie Ende Mai plötzlich in London einriss und mit
Schnelligkeit im ganzen Königreiche um sich griff. Wie im Jahre
1518 fielen ihr die Infizierten oft schon nach 4 — 5 Stunden zum Opfer,
die Sterblichkeit übertraf noch jene vor 11 Jahren und lange noch
lebte im Gedächtnisse des englischen Volkes das Bild von dem „grossen
Sterben", dessen Schrecknisse eine gleichzeitig herrschende Hungersnot
auf das empfindlichste verschärft hatte.
Während die Seuche noch in England wütete und bis zur
schottischen Grenze, ohne sie zu überschreiten, sich ausdehnte, er-
schien sie mit einem Male Ende Juli in Hamburg, wohin sie durch
ein aus England am 25. Juli 1529 angekommenes Schiff eingeschleppt
worden sein soll. Binnen wenigen Tagen war die epidemische Seh weiss-
890 Victor Fossel.
sucht unter der Hamburger Bevölkerung- ausgebrochen, innerhalb
dreier Wochen tötete sie ungefähr 1100 Menschen. Gleichzeitig trat
die Krankheit an vielen Orten Norddeutschlands auf, unaufhaltsam
schritt sie nach allen Richtungen weiter, setzte oft sprungweise über
weite Landstrecken hinweg, um plötzlich entfernte Städte und Gegen-
den mit Schrecken zu erfüllen. Im Laufe der Monate August und
September durchzog sie Deutschland, sie erschien u. a. in Wien
während der ersten Türkenbelagerung und lichtete mit gleicher Ge-
walt die Reihen der Verteidiger der Stadt wie jene von Solimans
Scharen. Im Norden Deutschlands immer mehr fortschreitend, er-
reichte sie Ende September Dänemark, die skandinavische Halbinsel,
die Ostseeprovinzen, Polen und Russland, während sie in einzelnen
mitteldeutschen Reichsstädten, in Süd- und Westdeutschland erst in
vorgerückter Herbstzeit ihren Einzug hielt. Zu gleicher Frist fand
das Schweissfieber vom Rhein aus seinen Weg nach den Niederlanden,
am spätesten wurde die Schweiz (erst im Monat Dezember) davon
befallen.
Es war sonach ein beträchtliches Gebiet, auf dem diesmal die
Schweisssucht in pandemischer Gestalt sich entwickelt hatte. Auf-
fallend erscheint die Thatsache, dass Schottland und Irland, so nahe
der Heimat des Uebels gelegen, und auch diesmal wiederum verschont
geblieben waren. Ebensowenig wurden Frankreich und das ganze
südliche Europa hiervon berührt.
Wie die Nachrichten aus den heimgesuchten Ländern gleich-
lautend melden, währte der Englische Schweiss an allen Orten nur
äusserst kurze Zeit. So betrug seine Dauer in Amsterdam, Antwerpen
und in vielen deutschen Städten nur 5 — 7 Tage, anderwärts wenige
Wochen, nur ausnahmsweise hielt seine Herrschaft länger an. Noch
verschiedenartiger gestalten sich die einzelnen Ortsepidemien nach
ihrer Bösartigkeit. So soll z. B. Livland zwei Drittel seiner Be-
völkerung durch das Schweissfieber verloren haben; in Augsburg er-
krankten in den ersten fünf Tagen 15000 Personen, wovon 800
starben. In anderen Städten bewegte sich jedoch die Sterbeziffer in
massigen Grenzen, die Zahl der von der Seuche Dahingerafften
reduzierte sich auf verhältnismässig wenige Opfer.
Die fünfte Epidemie vom Jahre 1551 verlief abermals nur
innerhalb des englischen Königreiches. Sie nahm ihren Ausgang von
Shrewsbury, der Hauptstadt von Shropshire, wo am 13. April plötz-
lich ein allgemeines Erkranken ausbrach, so heftig und bösartig, dass
viele der Seuche in wenigen Stunden erlagen und die Bevölkerung,
von Entsetzen getrieben, in eiligster Flucht ihre Rettung suchte. In
Shrewsbury zählte man binnen einiger Tage 960 Opfer der Krank-
heit, meist kräftige, junge Männer. Auffälligerweise hatten sich
Kinder und Greise einer gewissen Immunität zu erfreuen. Weit lang-
samer, als dies in früheren Perioden der Fall war, verbreitete sich
die Schweissucht diesmal von ihrem Ursprungsherde nach dem übrigen
England; dafür hielt sie beträchtlich länger, als sonst, im Lande an,
und entwickelte überdies an vielen Orten eine besondere Lethalität.
Die Sterblichkeit stieg in einzelnen Städten auf eine aussergewöhn-
liche Höhe, in anderen Landschaften blieb sie jedoch gegen die Ver-
luste früherer Perioden weit zurück. Die Kunde, es seien während
dieser Epidemie die in den Niederlanden, in Frankreich und Spanien
lebenden Engländer inmitten einer völlig intakt gebliebenen Um-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 891
gebiing vom Schweissfieber dahingerafft worden, hat schon längst
allen Anspruch auf Glaubwürdigkeit eingebüsst. — So bösartig dieser
ausgedehnte Epideraiezug auf englischem Boden sich auch gezeigt
hatte, nahmen doch die Aerzte von der Seuche keine Notiz, nur die
Schilderung, welche John Kaye von der Krankheit entworfen, bildet
das einzige medizinische Dokument der Zeit.
Analog den vorangegangenen Perioden trat auch wähi*end dieser
letzten Epidemie das Schweissfieber in unveränderter Gestalt auf.
obschon einzelne Merkmale der Krankheit bei den späteren Bericht-
erstattern verschiedene Beurteilung gefunden haben. Die Therapie
bestand, wie schon angedeutet, in England seit dem erstmaligen Zuge
der Seuche in dem volkstümlichen Eegime des kühlen Verhaltens bei
geringer Nahrungsaufnahme und beschränktem Getränke. Auf dem
Festlande jedoch war im Jahre 1529 das Gegenteil in üebung ge-
kommen, Aerzte wie Laien wetteiferten in der unsinnigsten An-
wendung künstlicher, forcierter Diaphorese, in der verschwenderischen
Verabreichung ..herzstärkender" Arzneien. Man suchte die Kranken
um jeden Preis in Schweiss zu bringen, deckte sie zu diesem Zwecke
mit Federbetten, Pelzen u. dgl. bis zum Ersticken zu, ja man nähte
sie selbst in Betten ein (..man benähte sie"). In unzähligen Flug-
schriften wurde diese Heilprozedur — das „niederländische Regiment" —
gerühmt, vom Volke gläubig befolgt und erst dann, und zwar langsam
und widerwillig verlassen, als die Einsicht der Aerzte, vor allem die
tägliche Erfahrung be\^iesen hatte, um wie vieles günstiger das
exspektative Verfahren der Engländer den Verlauf und Ausgang des
Leidens zu beeinflussen im stände war. Die Autoren des 16. Jahr-
hunderts, überwältigt von der Rapidität des Ausbruches und des Ab-
laufes dieser neuartigen ..Infektion", suchten deren Ursache zunächst
in siderischen und tellurischen Influenzen. Und noch bis tief in das
19. Jahrhundert hinein wurde von Geschichtsschreibern der genetische
Einfluss von ungünstiger "Witterung, dichter Nebelbildung, von Regen-
güssen und Ueberschwemmuugen auf die Entwicklung der Schweiss-
fieberseuche hervorgehoben. Auffallenderweise haben die Zeitgenossen
die Kontagiosität der Krankheit geleugnet, hingegen einstimmig be-
richtet, sie habe ohne Unterschied des Alters und der Lebensstellung
die Menschen erfasst. dabei gerade Leute im kräftigsten Mannes-
alter am meisten ins Verderben gestürzt.
In der Geschichte der Volkskrankheiten gehört der Englische
Schweiss zu den denkwürdigsten Erscheinungen. Mit einem Male
über England hereinbrechend, überfällt er das Land in -v^ieder-
holten, bösartigen Wanderzügen, lässt das unmittelbar benachbarte
Schottland und Irland zu jeder Zeit unberührt und nimmt nur ein
einziges Mal den Anlauf, um einen grösseren Teil Europas binnen
weniger als Jahresfrist zu überziehen. Mit dem Jahre 1551 ent-
schwindet er der ärztlichen Beobachtung und verliert sich aus dem
Gedächtnis der Völker. Erst nach 250 Jahren gelangt er auf isolierter
Stelle abermals zu flüchtigem Ausbruch, um hier völlig die gleichen
Erscheinungen zu manifestieren.
Es war im Jahre 1802, als gegen Ende November inRöttingen,
einem fränkischen Städtchen, nach vorangegangenen heftigen, atmo-
sphärischen Niederschlägen urplötzlich die Einwohner, darunter meist
die jüngeren Männer vom Schweissfieber ergriffen wurden. Mit der
ganzen Wucht jener charakteristischen Symptome, die dem Sudor
892 Victor Fossel.
anglicus eigen waren, brach die Krankheit aus, nicht wenige fielen
ihr schon nach eintägigem Leiden zum Opfer, andere, die den ersten
Anprall glücklich überstanden hatten, wurden alsbald zum zweiten
Male von dem tückischen Uebel erfasst und nunmehr rasch dahinge-
rafft. Das Entsetzen der Bewohner war unbeschreiblich, die Sterb-
lichkeit innerhalb der ersten Tage glich jener der Pestzeit, der
Schrecken gestaltete sich um so grösser, als weder in näherer noch
weiterer Umgebung des Städtchens ein ähnlicher Krankheitsfall vor-
her bekannt geworden war. Als der Würzburgische Landphysikus
Sinn er endlich erschienen war, erkannte er, dass hier unglaubliche
Schwitzkuren das Unglück nur vermehrt und bei den meisten Kranken
den üblen Ausgang herbeigeführt oder beschleunigt hatten. Das nun-
mehr eingeführte milde, kühlende Heilverfahren führte in der That
zu einer raschen Aenderung des bisherigen Krankheitsverlaufes. Von
den bei Ankunft Sinn er 's (3. Dezember) vorhanden gewesenen
84 Kranken starb nur noch einer, und vom 5. Dezember an trat kein
weiterer Erkrankungsfall auf. Die Kongruenz des Bildes der Röttinger-
Epidemie mit jenem des Englischen Schweisses wurde ausserdem
durch die kurze, 10 — 12 Tage umfassende Dauer der Seuche vervoll-
ständigt. Sie vermittelt zugleich, wie Immermann treffend sagt,
den historischen Uebergang zwischen dem epidemischen Schweissfieber
des Jahres 1551 und den epidemischen Schweissfriesel des 19. Jahr-
hunderts. Beide Formen sind, wenn auch nicht vollkommen identisch,
gleichwohl durch so augenfällige Familienzüge gekennzeichnet, dass
ihre nahe Verwandtschaft wohl ausser allem Zweifel steht.
Wenden wir uns der Geschichte des Seh weissf rieseis zu, so
stammen die ersten, verlässlichen Nachrichten über sein epidemisches
Vorkommen erst aus dem Beginne des 18. Jahrhunderts. In den
ärztlichen Berichten des 16. und 17. Säkulums fehlt es freilich nicht
an Schilderungen von Hautaffektionen, die man alsFebris miliaris,
Purpura bezeichnet oder mit dem deutschen Namen Frie sei belegt
hat. Insbesondere wurde dieses Exanthem an Wöchnerinnen vielfach
beobachtet und beschrieben. Nach den gründlichen Untersuchungen,
die A. Hirsch dem Gegenstand gewidmet hat, bleibt es fraglich,
welcher Form von Hautausschlägen im heutigen Sinne diese und
ähnliche, als „Friesel" angesprochene Eruptionen der Hautdecke
beizuzählen sind. Bei der damals üblichen, oberflächlichen Unterschei-
dung solcher Prozesse konnte es sich ebenso um Scharlach oder Masern
oder um die bei den differentesten Erkrankungen auftretende Miliaria
(Sudamina) gehandelt haben. Der in der deutschen Literatur einge-
rissene Missbrauch mit dem Terminus „Friesel" führte u. a. zur schul-
gemässen Aufstellung eines puerperalen, rheumatischen, katarrhalischen
Frieseis. Damit verschob man die nosologische Begriffsbestimmung
immer mehr und mehr und gelangte schliesslich dahin, die „spora-
dische Frieselbildung auf der Haut nach reichlichem Schwitzen" mit
dem epidemischen Schweissfriesel völlig zu konfundieren und letzteren
als eigenartige Krankheitsform in Abrede zu stellen.
Diese Verwirrung in der Auffassung des Frieseis hielt bis zur
Mitte des 19. Jahrhunderts an, bis A. Hirsch an der Hand histo-
rischer und geographischer Daten die Lehre von der Krankheit klar-
gestellt hat. Zu den aus früherer Zeit bekannt gewordenen Friesel-
epidemien in Frankreich, Deutschland und Italien, die Hirsch ge-
sammelt und seiner Arbeit zu Grunde gelegt hatte, kamen seither
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 893
neue Beobachtungen über das epidemische Schweissfieber . worunter
die später zu erwähnenden Studien französischer Aerzte aus dem
Jahre 1887 besonderen Wert beanspruchen dürfen.
Wir kennen das Auftreten des epidemischen Frieseis notorisch
erst seit dem 2. Dezennium des 18. Jahrhunderts, wo er 1718 in ver-
schiedenen Gegenden der Picardie und einigen benachbarten Provinzen
Frankreichs zum ersten Male beobachtet und als ..Suette des
Picards", oder „Suette miliaire*' bezeichnet wurde. A.Hirsch
gab dieser Infektionskrankheit zur Unterscheidung von dem grw^öhn-
lichen Friesel den Namen Schweissfriesel, welcher Aus-
druck nunmehr unter allen deutschen Autoren das Bürgerrecht er-
worben hat.
Der Schweissfriesel charakterisiert sich als eine fieberhafte Krank-
heit, die nach einem 2 — 3 tägigen Prodromalstadium meist in der Nacht
mit abundantem Schweissausbruche , Präkordialangst , Druck in der
Magengrube und Herzklopfen auftritt. Nach Ablauf von 3 — 4 Tagen
verliert sich die abnorme Schweisssekretion und macht einem reich-
lichen Frieselexantheme (Miliaria cristallina, alba und rubra) Platz,
welches nach wenigen Tagen in eine lebhafte Abschuppung übergeht,
mit dessen Ausgang zugleich im günstigen Falle die ganze Erkrankung
beendet ist. Als schwere Komplikationen stellte sich nicht selten
schon in den ersten Tagen hochgradige nervöse Aufregung, rasche
Prostration der Kräfte ein, der Tod erfolgt unter dem Bilde des
Kollaps, dem nur ausnahmsweise tiefere anatomische Störungen zu
Grunde liegen. Während einzelne Epidemien gutartig verlaufen,
weisen andere eine hohe Sterblichkeit auf, die in der Eegel 10 — 20 Pro-
zent der Erkrankungsziifer beträgt, je nach Zeit und Verhältnissen
aber auf 30 — 50 Prozent und selbst darüber gestiegen ist. Schon
durch die Gleichmässigkeit des sprungweisen oder von einem Mittel-
punkt ausstrahlenden Fortschreitens, wie durch die Morbidität und
Lethalität wird die Aehnlichkeit des Leidens mit dem Englischen
Seh weisse nahe gerückt; noch mehr aber springt die Affinität beider
Krankheitsformen in die Augen, wenn man die Dauer der Epidemien,
die in der Mehrzahl der lokalen Ausbrüche in 1 — 2 Wochen, selten
über 3 Wochen hinaus ihren Abschluss gefunden haben, berücksichtigt.
Seit seinem ersten Auftreten im Jahre 1718 in der Picardie hat
der Schweissfriesel im 18. Jahrhundert in einer grossen Zahl von
zeitlich und räumlich getrennten Lokalepidemien Franki'eich heimge-
sucht, er blieb anfänglich auf den Norden und Osten des Landes be-
schränkt, erschien erst 1772 — 73 in der Provence und nahm im neun-
zehnten Jahrhundert immer mehr auf französischem Boden an ende-
mischer und epidemischer Ausdehnung zu. A. Hirsch hat die über
den Gegenstand verötfentlichte , reichhaltige Literatur gesichtet und
für den Zeitraum 1718 — 1874 nicht weniger als 194 Epidemien des
Schweissfriesels in Frankreich verzeichnet. Die übergrosse Mehrzahl
derselben entfiel auf den Nordosten des Landes, indes die mittleren
und südlichen Departements weit seltener, dafür in stärkerer Inten-
sität und auf mehr begrenztem Gebiete befallen wurden. Seit dem
Jahre 1874 trat die ..Suette miliaire" ^^iede^holt in Frankreich auf,
so 1880 in einigen Dörfern des Departements la Somme, Seine et Oise,
1881 auf der zum Departement Niedercharente gehörigen Insel Oleron,
wo ungefähr 1000 Bewohner erkrankten und 42 gestorben sind. —
Ein besonderes Interesse rief die Epidemie des Poitou im Jahre 1887
894 Victor Fossel.
hervor, die von einer speziellen Kommission, unter Führung- Brou-
ardel's beobachtet wurde. Nach dem offiziellen Berichte brach im
Frühjahr 1887 das epidemische Schweissfieber im Departement Vienne
aus und verbreitete sich ungemein rasch über die angrenzenden Be-
zirke, die das ehemalige Herzogtum Poitou gebildet haben. Es er-
krankten mehr als 2600 Einwohner, von denen 206 mit Tod abgingen.
Es war „wohlcharakterisiertes, unzweifelhaftes Schweissfieber", dessen
klinische Bilder mit den bekannten Merkmalen der Krankheit über-
einstimmten. Neben milde verlaufenen Erkrankungen gab es foudro-
yante Fälle, die innerhalb 48 Stunden lethal endeten; wenn die ersten
4 — 5 Krankheitstage überstanden waren, ereignete sich nur ganz
selten ein tödlicher Ausgang, hingegen gelangten Recidiven öfter
zur Beobachtung.
Nächst Frankreich ist Italien durch das Vorkommen des Schweiss-
friesels ausgezeichnet. Auch hier wird seines epidemischen Auftretens
zum ersten Male um das Jahr 1718 gedacht, ohne dass die ärztlichen
Berichte bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts genauere Angaben über
den Charakter der Epidemien gebracht haben. Von da an gewinnen
die Nachrichten mehr an Deutlichkeit, namentlich wird die „Febbre
migliare", die in den Jahren 1755 und 1774 in Piemont, 1775 im
Modenesischen, 1790 in Verona aufgetreten war, von ähnlichen Volks-
krankheiten schärfer unterschieden. Den nächsten Ausbrüchen des
Schweissfriesels in Italien begegnen wir 1817 in Novara und Vicenza,
1821 — 1823 in der Provinz Alessandria. Seither ist die epidemische
wiederholt an einzelnen Städten und Landschaften von Venetien und
der Lombardei, in räumlich und zeitlich kürzeren Abständen auch in
Toskana beobachtet worden, üeber Mittel- und Süditalien liegen
hinsichtlich der Herrschaft des Schweissfiebers nur spärliche No-
tizen vor.
Deutschland und Oesterreich war seit dem Ende des 18. Jahr-
hunderts des öfteren der Schauplatz der Krankheit. Die aus früherer
Zeit stammenden Berichte über Frieselepidemien in Deutschland
besitzen nur geringe Verlässlichkeit. Meist wird darin der Friesel
lediglich als Begleiterscheinung anderer Krankheiten hingestellt, zu-
dem fast nur von dem Ausschlage (Purpura maligna, P. benigna)^
nicht aber von anderen pathognomonischen Symptomen gesprochen.
Noch in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts schildern deutsche
Autoren die Verbindung des weissen oder roten Frieseis mit Blattern^
Scharlach, Faulfiebern; viele von ihnen leiten den wirklichen oder
vermeintlichen Friesel von einer bestimmten Krankheitskonstitution
ab, wonach der Friesel beispielsweise aus Schleimfiebern, Tertian- oder
Quartanfiebern unter dem Einflüsse einer „geänderten Lebensstimmung"
sich entwickelt habe, ilndere Autoren, die in den subtilen ätio-
logischen Lehrmeinungen der naturphilosophischen Schule nicht ihr
Genügen fanden, griffen nach älteren Doktrinen, führten die Genese
des Frieseis auf die Alkalescenz oder saure Beschaffenheit der Säfte
zurück, oder hielten den Prozess nach dem Vorgange de H a e n's für
ein durch Diaphorese hervorgerufenes Kunstprodukt, das durch ent-
sprechendes Eegime unschwer zu beseitigen sei.
Zunächst ist es Süddeutschland, wo in den ersten Dezennien des
19. Jahrhunderts an verschiedenen Orten kleinere Frieselepidemien
beobachtet wurden, Eine grössere Ausdehnung zeigte die Krankheit
während der Jahre 1828—1836 in Baden, Württemberg und Bayern^
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 895
zn welcher Zeit auch in Frankreich eine stärkere Intensität der
^S nette miliaire** zn erkennen war. Von mehr epidemiologischen,
al^ historischen Interesse ist das Bestreben einiger Schriftsteller, in
in der zeitlichen und teils örtlichen Koinzidenz des epidemischen
Schweissfriesels dieser Periode mit dem ersten Seuchenzuge der
Cholera gewisse causale Beziehungen unter beiden Volkskrankheiten
aufzustellen, ein Versuch, dem bisher jede sichere Grundlage gemangelt
hat. — Vom 4. Jahrzehnte an nahm das Schweissfieber in den ge-
nannten süddeutschen Staaten mehi- lokalen Charakter an und erhob
sich nur im Sommer und Herbst 1844 über einen beträchtlichen Land-
strich von Ober- und Niederbayern in grösserer Verbreitung. Im
mittleren und nördlichen Deutschland blieb die Krankheit auf einige
engbegrenzte Ausbrüche beschränkt.
Auf österreichischem Boden sind Frieselepidemien bekannt ge-
worden: Im Jahre 1835 und Mitte der fünfziger Jahre an mehreren
Orten der Steiermark, 1836 in Oberösterreich, 1839 in Tarnow in
Galizien und im Saazer Kreise in Böhmen, 1859 in Ybbs und 1860
in St. Polten in Niederösterreich. Ein verhältnismässig gehäufteres
Vorkommen zeigte die Schweisssucht in Krain, wo sie im Jahre 1873
in 45 Ortschaften mit 672 Erkrankungen und 36 Todesfällen auf-
getreten ist. sowie zweimal in den achtziger Jahren und zuletzt im
Jahre 1892 im Gui^elder Bezirke (57 Kranke, 11 Verstorbene) ge-
herrscht hat. Die im Frühjahre 1893 im steirischen Kurorte Aussee
beobachtete Epidemie erstreckte sich auf 159 Erkrankungen, wovon
sämtUche Fälle mit Genesung endeten.
Endlich datieren aus Belgien beglaubigte Nachrichten über den
epidemischen Schweissfriesel, der sich 1838 im Henegau, 1849 in Namur
und Lüttich, 1850 und 1866 in mehreren Bezirken von Luxemburg
entwickelt hatte.
Xm. Epidemische Meningitis.
Litteratur.
BroMSsais, Bef. in Schmidt's Jbb. 44. Bd. 1844. — Boiidin, Histoire du
tuphtis cerehro-spinal. 1854. — Draper, Schmidt's Jbb. 125. Bd. 1865. — Meissner^
ibid. 129. Bd. 1866, und 136. Bd. 1867. — Pimser, Wien. med. Wochsch. Xo. mff.
1868. — Schuchardt, Zeifsch. f. Epidemiologie Xo. 1 u. 2 1870. — DiamatU-
opidos, Wien. m. Pr. Xo. 34 ff. 1870. — Kotsonopulos, Yirchow Arch. 52. u.
57. m. 1871173. — Kratschmer, W. m. W. Xo. 26 f. 1872. — Letjden, Klinik
d. Bückenmarkskh. I 1874. — Eittininghaus, GerJiard's Hdb. d. KinderkJi. IL Bd.
1877. — Media, Ref. im Jahresb. v. Y. u. H. 1880181. — 'Taffe, Arch. f kl. M.
30. Bd. 1882. — Zieinssen, Hdb. d. sp. F. u. Th. 1886. — Jäger, Die Cerebrosp.-
Meningitis als Heeresseuche, 1901.
Unter den Krankheiten, die den Gegenstand unserer geschicht-
lichen Betrachtung bilden, kommt der epidemischen Meningitis ein
jugendliches Alter zu, nachdem sie erst im 4. Dezennium des 19. Jahr-
hunderts ihrem Wesen nach erkannt und in ihrer epidemischen Aus-
breitung richtig gedeutet worden ist. Wenn die Krankheit, wie kaum
daran gezweifelt werden kann, schon vor dem Beginn des 19. Säkulums
vorgekommen war, so hat sie sich der schärferen äi-ztlichen Beobach-
tung entzogen und wurde unter anderen Prozessen, unter denen
namentlich der exanthematische Typhus häufig zu Verwechslungen
g96 Victor Fossel.
Anlass geboten hatte, verstanden und beschrieben. Die Versuche
französischer und amerikanischer Aerzte, der Cerebrospinalmeningitis
epidemica zu einem höheren Alter zu verhelfen und ihr Vorkommen
an Stelle ausgesprochener Fleckfieberepidemien des 16. und 17. Jahr-
hunderts nachträglich feststellen zu wollen, sind seit dem Bekannt-
werden der der Krankheit eigentümlichen anatomischen wie klinischen
Befunde, als haltlos und verfehlt zurückgewiesen worden.
Die ersten verlässlichen Kenntnisse über die Meningitis epidemica
stammen aus dem Jahre 1805, als sie epidemisch in Genf und der
nächsten Umgebung der Stadt aufgetreten war. Sodann wurde die
Krankheit im Jahre 1814 unter den Garnisonen von Grenoble und
Paris, im darauffolgenden Jahre unter den Truppen der Festung Metz
und gleichzeitig unter der Civilbevölkerung einiger Ortschaften der
Provinz Genua beobachtet. Die nächsten Epidemien ereigneten sich
im Jahre 1822 in V^esoul im französischen Departement Obersaöne, im
Winter 1822/23 in Dorst in Westfalen, und im Winter 1830 auf 1831
in Sunderland. — Weit zahlreichere Nachrichten bezeugen die Herr-
schaft der Krankheit innerhalb der ersten Dezennien in den Unions-
staaten Nordamerikas, wo sie 1806 — 1816 in verschiedenen Gebiets-
teilen in heftigen Epidemien eine weite Verbreitung gefunden hat.
Allgemein wurde die Seuche von den dortigen Aerzten als „sinking
typhus" oder wegen der an den Kranken wahrgenommenen
petechialen Hauteruptionen als „spotted fever" beschrieben, eine
Bezeichnung, die an sich vielfache Irrtümer in sich barg und mit dem
Anklang an die alte Verwechslung der epidemischen Meningitis mit
dem „Fieckfieber" zu heillosen Konfundierungen Anlass bot.
Ein neuer Zug der Krankheit nahm mit dem Jahre 1837 seinen
Anfang; zunächst war es Frankreich, wo sie sich in grossem Um-
fange verbreitete und bis zum Jahre 1851 in zahlreichen Ausbrüchen
nahezu über alle Teile des Landes erstreckte. Im erstgenannten
Jahre erschien die Seuche fast gleichzeitig im Süden Frankreichs, in
den Städten Bayonne, Joix, Narbonne und in deren Umgebung
(Departement Landes). Während in Bayonne sowie bald darauf in
Bordeaux und La Rochelle nur die garnisonierenden Truppen befallen
worden waren, ergriif hinwider in Joix und Narbonne die Krankheit
nur die Civilbevölkerung. Im Jahre 1838 war sie mit einem aus dem
verseuchten Departement Landes nach Rochefort verlegten Regimente
dahin gekommen, gegen Ende des Jahres im Bagno unter den Sträf-
lingen und den daselbst bediensteten Militär- und Civilpersonen mit
ziemlicher Heftigkeit aufgetreten. Gleichzeitig entwickelte sich, eben-
falls von dem Departement Landes ausgehend, im Süden Frankreichs
ein neuer Infektionsherd in der Umgebung von Toulouse, unter den
Garnisonen von Nismes, Toulon, im nächsten Winter unter den Truppen
in Avignon. In diesem Jahre (1839) hielt die Meningitis mit dem
vorerwähnten Regimente, das nach kurzer Frist Rochefort verlassen
hatte, ihren Einzug in Versailles, blieb hier jedoch, obgleich in epi-
demischer Form, während der nächsten zwei Jahre andauernd auf die
Mannschaften dieses und anderer Truppenkörper beschränkt.
Vom Jahre 1840 an hat sich die Krankheit neue Bezirke im
Nordwesten und Nordosten von Frankreich erkoren ; sie war zunächst
im Stromgebiete der Loire in Laval, Le Maus, in der folgenden Zeit
in Poitiers, Tours, Blois, Nantes und anderen Orten zu epidemischen
Ausbrüchen gekommen, an denen sowohl die Militär- wie die Civil-
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 897
bevölkerung" beteiligt war. Im Nordwesten sprang die Meningitis im
Winter 1840/41 nach Brest, Caen und im Frühling 1841 nach Cher-
bourg über, wo sie ausschliesslich die Land- und Seetruppen heim-
gesucht hat. — Im Nordosten des Landes war es Metz, unter dessen
Besatzung die epidemische Meningitis während des Winters 1839/40
sich zuerst zeigte; im Herbst 1840 trat sie in Strassburg auf, anfäng-
lich nur auf das Militär beschränkt, verbreitete sich aber im Sommer
1841 auch unter der übrigen Einwohnerschaft; fast zu gleicher Zeit
nistete sie sich an mehreren Orten des Elsass unter den Truppen
ein und wurde auch 1841 in Nancj' 1842 in Kolmar lediglich unter
den Angehörigen der Armee beobachtet. Die gleiche Einschränkung
der Epidemien auf die Kasernen zeigte sich in den Jahren 1841 — 1842
in Perpignan, Montbrison, Marseille, Lyon; nur in Aigues-Mortes hatte
vorwiegend die Civilbevölkerung unter der in bösartiger Weise um
sich greifenden Seuche zu leiden.
Nach einer mehrjährigen Pause, innerhalb welcher die epidemische
Meningitis nur in sporadischen Fällen aufflackerte, erhob sie sich in
mehi^eren französischen Städten von neuem in den Jahren 1846 — 1848,
wiederum zum grössten Teil unter den Truppen grassierend.
Der allgemeinen Ausdehnung auf französischem Boden im Jahre
1840 war gleichzeitig die Invasion der Seuche in Algier auf dem Fusse
gefolgt, wo mehrere Garnisonen in der Provinz Constantine, 1841 die
Stadt Algier und im Winter 184142 an vielen Orten der Provinzen
Algier und Constantine das Militär und die sesshafte Bevölkerung er-
griffen wurde. In den darauf folgenden Jahren kehrte die Meningitis
in verschiedenen algerischen Garnisonen ein und schwoll im Jahre
1846 47 zu einer heftigen Epidemie an, die, über das ganze Land
sich ausdehnend, auch unter den Einheimischen zahlreiche Opfer ge-
fordert hat.
Um weniges später, als die Krankheit in Frankreich ihre Wan-
derung begonnen hatte, trat sie im südlichen Italien epidemisch auf.
Der erste Ausbruch fiel im Winter 1839 40 auf die nördlichen Distrikte
des Königreichs Neapel, sodann rückte die Seuche nach Neapel und
nach Procida vor, hauste in schwerem Masse unter den hier unter-
gebrachten Galeerensklaven und verbreitete sich in der Provinz
Calabria ulteriore seconda, wo sie im Winter 1843/44 rekrudeszierte
und im Frühjahr 1844 in Sicilien eine epidemische Herrschaft erlangte.
Endlich erschien sie 1845 wieder in den zuerst ergriffenen Nord-
distrikten des neapolitanischen Eeiches und gewann in der Terra di
lavoro unter der einheimischen Bevölkerung, in den Jahren 1846 bis
1849 in der Eomagna unter den französischen Truppen eine weite
Ausbreitung. Im übrigen Italien kam die epidemische Meningitis nur
im Jahre 1842 in Piemont und zwar vorwiegend in Turin zur Beob-
achtung.
Auch in den übrigen europäischen Staaten zeigte sich vom 5. De-
zennium des laufenden Jahrhunderts an die epidemische Genickstarre.
So wurde Dänemark in den Jahren 1845 — 1848 von einer Reihe be-
trächtlicher Epidemien derselben durchzogen, dabei zuerst und am
schwersten Jütland, dann Fünen, Laaland und Seeland betroffen;
Kopenhagen selbst hatte eine grössere Epidemie zu überstehen. Auch
in Stockholm herrschte sie in den Jahren 1848 — 1851 unter den In-
sassen des grossen Waisenhauses. — In Spanien entwickelte sich 1843
die Krankheit in Gibraltar zu einiger Höhe. — In Corfu erschien sie
Handbuch der Oeschichte der Medizin. Bd. II. &7
898 Victor Fossel.
zum ersten Male 1840 in massiger Ausbreitung, griff in den nächsten
Jahren mehr um sich und erhob sich zu epidemischer Höhe im Jahre
1843. — In Irland hielt sie im Jahre 1846 ihren Einzug und rief in
mehreren Arbeitshäusern in Dublin, Bray und Belfast lokale Ausbrüche
hervor ; von den späteren Epidemien dieser Periode ist nur die neuer-
liche Invasion des Jahres 1850 in Dublin bemerkenswert. — In
Deutschland ereigneten sich im damaligen Zeiträume an einzelnen
Orten zahlreiche Erkrankungen an „Encephalitis" und „Hydrocephalus
acutus", die Hirsch auf epidemische Meningitis beziehen will, so
u. a. 1834 in Meiningen, 1835 in der Rheinprovinz, 1843 in West-
falen, 1851 in Würzburg.
Einen weit grösseren Umfang als in Europa (mit Ausnahme von
Frankreich) nahm die epidemische Meningitis in den Unionsstaaten
von Nordamerika an, w^o sie vom Jahre 1843 — 1850 in verderblichen
Zügen verschiedene Landschaften durchwanderte. Im Staate Tenesee
und Alabama, demnach an zwei beträchtlich voneinander entfernten
Gebieten im Jahre 1842 beginnend, rief sie 1845 im mehreren Orten
des Staates Illinois schwere Epidemien hervor, grassierte in den Jahren
1846 und 1847 in Arkansas, Mississippi, Missouri und 1848 unter
einem in der Nähe von New-Orleans bequartierten Regimente von
Rekruten. Im nächsten Jahre kehrte sie nach dem Staate Alamba
zurück, tauchte im westlichen Pennsylvanien in schweren Formen
auf, ebenso in Massachusetts und 1850 unter der Negerbevölkerung
in New-Orleans.
Nur kurze Zeit verstrich, bis die Krankheit von neuem auftrat
und diesmal, in der Periode 1854 — 1875 nicht nur durch die unge-
wöhnlich lange Dauer der einzelnen Epidemien, durch ihre öftere
Wiederkehr nach bereits verseuchten Plätzen bemerkbar geworden,
sondern auch durch die weite Verbreitung in Europa, Nord- und Süd-
amerika und einzelnen Gegenden von Vorderasien und Afrika von
ihren früheren Ausbrüchen wesentlich verschieden war. Schon 1854
machte die epidemische Meningitis einzelne Verstösse auf der skandi-
navischen Halbinsel, indem sie in Göthaborg beginnend, nach Blekinge
und Kalmar fortschritt und hier während des Winters 1854 — 1855 zu
einer bösartigen Epidemie anwuchs, die im Sommer anscheinend er-
losch, im nächsten Winter jedoch in den schon vordem infizierten Be-
zirken neuerlich einsetzte, zugleich nach Norden vordrang und hier
neue Kreise um sich zog. Im Jahre 1857 wiederholte die Seuche den
gleichen Gang ihres Fortschreitens und dehnte sich über einen grossen
Teil der östlich und nördlich vom Wernernsee gelegenen Landschaften
aus. Noch extensiver herrschte in diesem Lande die epidemische
Meningitis im Jahre 1858, nachdem sie von den zuletzt ergriffenen
Distrikten neuerlich ihren Ausgang nahm, nahezu den ganzen mittleren
Teil Schwedens durchzog, nordwärts bis zum 63" n. Br. sich erstreckte
und selbst in dem bisher verschont gebliebenen, südlich gelegenen
Kronoborgs-Län in heftigster Weise die weiteste Verbreitung fand.
Damit hatte der Seuchenzug sein Höhestadium erreicht. Im
nächsten Jahre trat die Krankheit nur in einzelnen der schon vordem
heimgesuchten Gegenden des mittleren und südlichen Schwedens auf,
noch mehr machte sich im Jahre 1860 ihr Rückgang im Lande
bemerkbar, wenngleich sie an wenigen, einzelnen und isolierten
Herden von neuem ausgebrochen, auch in den Jahren 1861 — 1864 in
kleineren Nachschüben und 1865 — 1867 in lokalen Epidemien wiederum
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 899
vorgekommen war. Nur wenige Gebiete des schwedischen Eeiches
blieben während dieser Periode von der Krankheit verschont, es waren
dies die nördlichen Bezirke und die südlichen Provinzen Gottland und
Halland. — In Norwegen beschränkte sich die Seuche auf zwei Lokal-
ausbrüche in den Jahren 1859 und 1860, ebenso trat sie in Dänemark
nur einmal, im Winter 1873 74 im nördlichen Jütland epidemisch auf.
Nächst der Epidemienreihe, die die Meningitis auf schwedischen
Boden innerhalb der Periode 1854 — 1875 gezeitigt hat. war unter den
europäischen Staaten vornehmlich Deutschland zum Schauplatz der
Krankheit geworden, die mit dem Jahre 1863 ihre Herrschaft ange-
treten und in den darauffolgenden drei Jahren ein grosses Gebiet er-
obert hat. Schon 1863 wurde sie in Liegnitz und im Neissethale in
Schlesien beobachtet. 1864 erschien sie in epidemischer Form an fielen
Orten von Ost- und Westpreussen, Posen, Pommern, der Mark Branden-
burg, Hannover und der fränkischen Kreise Bayerns. Mit erneuerter
Macht erhob sich die Seuche im Winter 1864 — 65; sie kehrte nicht
bloss nach vielen der bereits heimgesuchten Gegenden zurück, sondern
nahm sowohl in Nord- wie in Süddeutschland in erschreckendem Masse
überhand, befiel im Frühling 1865 neuerlich zahlreiche Städte und
Landschaften, so dass neben dem schon erwähnten Gebiete die epi-
demische Ausbreitung der Meningitis sich ausserdem über Braun-
schweig, Thüringen, Oberpfalz, Schwaben. Kurhessen und Baden er-
streckte, ungerechnet die grosse Zahl von Plätzen, an welchen die
Krankheit mehr oder weniger gehäuft in Einzelfällen erschienen war.
Während des Jahres 1866 sank jedoch ihre Frequenz stetig und
überall, epidemische Ausbrüche ereigneten sich ausnahmsweise, nur im
Winter 1869 — 70 hatte man solche in Danzig, Königsberg und Berlin
in massigen Dimensionen beobachtet.
Oesterreich-Ungarn litt in diesem Zeitraum weit weniger unter
der Seuche, die 1863 im Wiener Waisenhause, 1865 — 66 in Gömörer
Komitate, im Winter 1866-67 und 1887—68 in Pola, Triest und
Umgebung und ein Jahr darauf an einigen Stellen in Galizien auf-
getreten war. —
In Russland erhob sich die epidemische Meningitis nur während
des Winters 1867—1868 in der Krim zu einer bemerkenswerten Höhe,
auch in Rumänien und der Türkei gewann sie 1869 einige Verbreitung;
hingegen wurde Griechenland zu gleicher Zeit von ausgedehnten Epi-
demien heimgesucht, die in den beiden nächstfolgenden Wintern sich
wiederholt haben. Im übrigen Europa hatten innerhalb der sechziger
Jahre Irland, die Niederlande, Frankreich und Portugal beschränkte
Ausbrüche der Krankheit zu verzeichnen. In Italien durchzog sie
1874 — 1876 ein weiteres Gebiet im Süden des Landes und erreichte
hier an \ielen Orten während der Wintermonate eine beträchtliche
epidemische Verbreitung.
"Wenden wir uns nun nach der westlichen Hemisphäre, so zeigt
die epidemische Meningitis auch in dieser Periode eine ungewöhn-
lich weite Verbreitung in den Vereinigten Staaten von Nordamerika,
in denen sie nahezu alljährlich über grössere oder kleinere Land-
strecken ihre Ausdehnung manifestiert hatte. Nachdem sie schon
vom Jahre 1856 an in verschiedenen Staaten aufgetreten war, ge-
wann sie 1861 — 1863 während des Secessionskrieges sowohl unter
der Civilbevölkerung wie unter den Truppen bedeutenden Umfang.
Auch in den folgenden Jahren entwickelten sich an zahlreichen
57*
900 Victor Fossel.
Punkten des Landes schwere Epidemien und bis zum Jahre 1874 be-
hauptete die Krankheit an vielen Herden ihre volle Hartnäckigkeit;
Ohne in die territoriale Ausbreitung, welche die epidemische Menin-
gitis durch fast zwei Dezennien in Nordamerika gefunden hat, näher
einzugehen, muss gesagt werden, dass hier die Seuche die grösste In-
und Extensität erlangt und selbst die französischen, schwedischen
und andere Epidemien an Wucht der Propagation und Bösartigkeit
ihrer Erscheinung weit übertroffen hat. Soweit die von A. Hirsch
gesammelten Nachrichten reichen, hat die Pandemie der Krankheit
während der Jahre 1856 — 1874 in den Unionsstaaten den Höhepunkt
ihrer Herrschaft überhaupt gebildet.
Vom Jahre 1876 an lässt sich ein konstantes Zurückweichen der
epidemischen Genickstarre erkennen. Nur in begrenzten Bezirken, in
einzelnen Städten und während der Winter- und Frühjahrszeit hat
sie sich in mehreren Ländern Europas in milder verlaufenden Epi-
demien gezeigt und an den vielen sporadischen Erkrankungsfällen, die
jahraus, jahrein sich ereignen, die Aufmerksamkeit der Aerzte und
der Bevölkerung überall wach erhalten. Hierbei ist es von besonderem
Interesse, den sorgfältigen Studien H. Jaeger's zu folgen, der die
Cerebrospinalmeningitis als Soldatenkrankheit innerhalb der letzten
zwei Dezennien monographisch bearbeitet hat. Nach Jaeger hat
die Genickstarre im deutschen Heere gegen frühere Zeitabschnitte seit
dem Jahre 1884 ganz beträchtlich zugenommen, ebenso in der öster-
reichisch-ungarischen wie in der italienischen Armee seither grösseren
Umfang erfahren. Für das deutsche Eeich lieferten die südwestlichen
Armeekorps auffallend häufige Erkrankungs- und Todesfälle, gleich-
zeitig war — abgesehen von der strengeren Meldepflicht — in den
südwestdeutschen Staaten eine stärkere Beteiligung an der epidemi-
schen Meningitis im allgemeinen zu konstatieren. Eine ungewöhnlich
hohe Verbreitung der Krankheit wurde 1887 und 1889 in Norwegen,
1890 in Schweden, 1896 und 1897 in mehreren nordamerikanischen
Städten, wie Boston u. a. 0. beobachtet.
Die epidemische Meningitis, die nach dem historischen Bilde
ihrer Wanderungen während des 19. Jahrhunderts nur wenige Teile
Europas und Nordamerikas verschont hat, bietet trotz der sorgfältigsten
epidemiologischen Untersuchungen und der ätiologischen Studien, die
auf die Erkenntnis der Genese und Verbreitung dieser Infektions-
krankheit abzielten, der Forschung noch viele Rätsel. Wenn auch
ihr spezifischer Charakter vollständig klar gelegt und der in früherer
Zeit verfochtene Zusammenhang des Leidens mit typhösen Prozessen
oder mit Malaria als gänzlich unhaltbar fallen gelassen wurde, so ist
dennoch in manchen und zwar den wichtigsten Fragen über die
Natur und epidemische Entwicklung der Krankheit noch eine ab-
schliessende Antwort ausständig. Wie die Einzelfälle und die Massen-
erkrankungen zeigen, tritt die epidemische Meningitis oft gleichzeitig
an verschiedenen, räumlich weit voneinander getrennten Punkten auf,
ihre Ausbreitung beschränkt sich zuweilen nur auf kleinere Herde,
anderenfalls, wie dies in Frankreich, Nordamerika und besonders in
Schweden auffällig zu Tage getreten war, rückte sie stufenweise, von
dem schon einmal eingenommenen Sitze nach kurzer Unterbrechung
wiederum ausgehend in bestimmter Richtung vor, oder aber sie
etablierte sich sprungweise, beträchtliche Gebiete völlig verschonend.
Die auffällige Erscheinung, dass innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte
Geschichte der epidemischen Krankheiten. 901
die Genickstarre in vielen Städten Nordamerikas einen endemischen
Cliarakter angenommen hat, ist im Zusammenhange mit der Erfahrung,
dass in Europa vorwiegend die Hafenstädte von der Krankheit be-
troffen werden, sicherlich geeignet, den Blick der Epidemiologen
auf die Mitwirkung des Personenverkehres in solchen Handelscentren
zu lenken.
Wie die Berichte übereinstimmend melden, fielen die sporadischen
Erkrankungen ebenso wie die Epidemien nahezu ausnahmslos in den
Winter und Frühling. Ebenso wiederholte sich in allen Zügen der
Seuche die Thatsache, dass an derselben zumeist das Kindesalter und
Personen bis zur Alterstufe von 30 — 40 Jahren beteiligt sind und dass
äussere, hygienisch ungünstige Lebensverhältnisse in einer bisher noch
unaufgeklärten AVeise auf die Entstehung und Verbreitung der
Krankheit entschieden Einfluss nahmen. Von besonderem Belange für
die eigentümlichen Einwirkungen solcher lokaler Schädlichkeiten haben
sich die in Kasernen, Waisenhäusern, Gefängnissen und Arbeiter-
kolonien zu Stande gekommenen Epidemien erwiesen; nicht weniger
auffällig erschien die Beobachtung, wie in manchen Städten gewisse
Strassen oder Häusergruppen bezüglich der Einnistung der Krank-
heit eine besondere Disposition erkennen Hessen. Dieselbe Erfahrung
wurden in zahlreichen Militärepidemien in Frankreich und anderwärts
gewonnen, wo die Genickstarre ausschliessKch oder doch in grösster
Prävalenz in einem und demselben Truppenkörper, in einzelnen un-
sauberen Kasernen, in bestimmten, schlecht gelüfteten Baracken sich
gezeigt hatte. Andererseits liegen zahlreiche Berichte vor, wonach
die Krankheit mit dem von einer nach anderen Garnisonen dislocierten
Militär gleichsam in latentem Stadium verschleppt und dann in den
neuen übicationen nach kurzer Frist vom frischen ausgebrochen war.
Die bekannte Thatsache, dass der Ansteckungskeim von Person zu
Person, sowie durch dritte (gesund gebliebene) Personen oder durch
leblose Gegenstände vermittelst des menschlichen Verkehres übertragen
wird, gewinnt in Uebereinstimmung mit den angedeuteten äusseren
Einflüssen eine wichtige Bedeutung für das charakteristische Verhalten
der epidemischen und endemischen Meningitis.
Die in die allerjüngste Zeit (1899) fallenden Aufschlüsse über
die ätiologischen Faktoren der Krankheit, wonach der von Weichsel-
baum und Jaeger nachgewiesene Diplococcus intercellularis
meningitidis als deren einheitlicher Erreger anzusprechen ist,
werden vielleicht in nicht zu ferner Zukunft die Wege erhellen, auf
denen die Infektion dieses Mikroorganismus erfolgt und damit sichere
Grundlagen gewinnen lassen, um die Verhütung und Bekämpfung der
Genickstarre ins Werk setzen zu können.
Geschichte der Tuberkulose.
Von
A. Ott (Berlin).
Das als Lungenschwindsuclit von uns bezeichnete Krankheitsbild
war bereits den ältesten Aerzten genau bekannt, wie aus der geradezu
klassisch zu nennenden Schilderung hervorgeht, die Hippokrates von
der Phthisis gegeben hat. ^) Dieser grosse Beobachter hat bereits den
lange in Misskredit geratenen und erst in der neuesten Zeit wieder
zu Ehren gekommenen Satz aufgestellt, dass die Phthise in all ihren
Formen heilbar ist, wenn sie nur früh richtig behandelt wird. Etwas
Spezifisches erkannte er jedoch der Krankheit keineswegs zu; sie tritt
immer als natürliche Folge ein, wenn Schleim und Blut aus der
Lunge nicht ausgeworfen werden können und deshalb in Eiter sich
umwandeln. Man hat zwar eine Zeit lang geglaubt, dass Hippo-
krates bereits Tuberkel als Ursache der Lungenschwindsucht gekannt
habe; Virchow hat jedoch zur Evidenz bewiesen, dass die als Tuberkel
aufgefassten „Phymata" nichts anderes bedeuteten, als gewöhnliche
Eiterherde. Die späteren Autoren blieben alle durchweg auf dem
von Hippokrates angenommenen Standpunkt stehen. Eine Keform
der Anschauungen wurde erst möglich mit den Aufblühen der Ana-
tomie im 16. und 17. Jahrhundert. Mit dem allgemeiner werdenden
Obduktionen menschlicher Leichen fielen den Anatomen sehr bald
^) Des beschränkten Raumes wegen kann hier nur in grossen Zügen auf die
geschichtliche Entwicklung der Lehre von der Tuberkulose eingegangen werden;
für eingehenderes Studium sei verwiesen auf: Waidenburg, „Die Tuberkulose,
die Lungenschwindsucht und die Skrophulose", Berlin 1869; Predöhl, „Die Ge-
schichte der Tuberkulose", Hamburg 1888, beide Werke sind für die ältere Geschichte
im nachfolgenden Aufsatz benutzt — und Johne, „Geschichte der Tuberkulose",
Leipzig 1883; hier ist vorzugsweise die Eindertuberkulose berücksichtigt. Die
neueste Litteratur findet sich abgesehen von „Schmidt's Jahrbüchern" und den
„Virchow-Hirsch'schen Jahresberichten" in den neu gegründeten SpezialZeitschriften:
„Revue de la tuberculose" (Paris, Masson), „Zeitschrift für Tuberkulose und Heil-
stättenwesen" (Leipzig, A. Barth), „The Journal of tuberculosis" (Asheville, Mc.
Quilkin), „Revue international de la tuberculose" (Paris, rue Rougemont 9) und
endlich „Tuberculosis" (Leipzig, A. Barth), Monatsschrift des internationalen Central-
bureaus zur Bekämpfung der Tuberkulose, sowie in des Verf. jährlichen Sammel-
berichten über die Tuberkuloselitteratur in der „Deutschen Aerzte-Zeitung".
Geschichte der Tuberkulose. 903
harte Knoten in der Lunge auf. die sie mit dem Namen Tuberkel
bezeichneten, ein Ausdruck, der seit Celsus für jeden Knoten, gleich-
gültig welcher Beschaffenheit gebräuchlich war. Man dachte aber an-
fangs noch gar nicht daran, diese Tuberkel mit der Lungenschwind-
sucht in Beziehung zu bringen; erst Sylvius ist derjenige, welcher
wenigstens für einen Teil der Phthisisfälle die Vereiterung dieser
Tuberkelknoten als Ursache annimmt. Möglicherweise hat Sylvius
auch schon Miliartuberkel gekannt, wenigstens lässt sich seine Be-
zeichnung Tubercula minora recht gut in diesem Sinne deuten. Die
Tuberkel entstehen nach seiner Annahme aus kleinen dem Auge ent-
gehenden Drüsen, welche bei einer gewissen erblichen Körperanlage,
der skrophulösen Konstitution, wachsen und so zu kleineren oder
grösseren Knoten werden. Bei Sylvius finden wir demnach, wie
XValdenburg sich ausdrückt, den ersten fruchtbaren Keim zur Lehre
von der Tuberkulose gelegt; zugleich hat sich aber die Ansicht von
der Indentität der Lungentuberkel mit Skropheln eingeschlichen, welche
einer schnelleren Fortentwicklung der neuen Lehre hemmend in den
Weg trat. Die Zeitgenossen von Sylvius blieben meist bei dessen
Auffassung stehen; zu erwähnen ist nur, dass von Mang et (1700)
bereits Beobachtungen von allgemeiner Miliartuberkulose gemacht
WTirden. die aber der Vergessenheit anheimfielen. Nur Morton (1689)
ging einen gi'ossen Schritt weiter, indem er die Lungenschwindsucht
stets aus Tuberkeln, niemals auf andere "Weise sich bilden lässt.
Nach ihm ist jede Lungenschwindsucht, so "viele Spezies derselben er
auch annehmen mag. eine knotige, tuberkulöse; der Tuberkel wird
bei ihm zum ersten Male eine notwendige Vorstufe der Lungen-
ulceration. Die nächsten 100 Jahre brachten dann keine Fortschritte
mehr auf unserem Gebiete; ja die durch die letztgenannten Autoren
betretene Bahn wurde teilweise wieder verlassen, ihre Lehren viel-
fach ignoriert und vergessen. Erst von Stark (1785) ab datieren
weitere Errungenschaften. Derselbe hat das Verdienst, die Miliar-
tuberkel, die bis dahin nur nebenbei als seltene Befunde erwähnt
wurden, zuerst ausführlich beschrieben und ihnen den ihnen zu-
kommenden Platz in der pathologischen Anatomie der Lungen an-
gewiesen zu haben. Reid (1785) ging noch einen Schritt weiter, er
trennte die Tuberkulose von der Skrophulose vollständig und stellte
die Tuberkel als etwas von den Drüsen ganz Verschiedenes dar. Ein
weiterer wesentlicher Fortschritt lä^st sich dann kurz darauf bei
Baillie (1794) erkennen, indem derselbe die grossen Lungenknoten
aus den Miliartuberkeln durch Konfluieren derselben hervorgehen lässt;
ausserdem beschreibt er bereits auch Tuberkulose anderer Organe.
Der eigentliche Begründer der Lehre von der Tuberkulose ist
jedoch Bayle (1810). Er ist geradezu der Entdecker der allgemeinen
Miliartuberkulose zu nennen. Er fand ganz gleiche Miliartuberkel
wie in den Lungen, auch in vielen anderen Organen, die zwar schon
Autoren vor ihm gesehen hatten; indes sein grosses Verdienst liegt
darin, dass er erkannte, dass die Tuberkel aller dieser verschiedenen
Organe eine gleiche Beschaffenheit und einen gleichen Entwick-
lungsgang hatten, und dass sie auch in einem genetischen und
klinischen Zusammenhang standen. Die Phthisis tuberculosa war
somit nach ihm kein lokaler, allein auf die Lungen beschränkter Pro-
zess, sondern eine den ganzen Körper heimsuchende Allgemeinkrank-
heit; somit wurde er der Schöpfer des als diathese tuberculeuse und
904 A. Ott.
später einfach als Tuberkulose bezeichneten Krankheitsbegriffes. Er
hob ferner hervor, dass weder Hämoptoe noch einfache Entzündungen
der Lunge jemals die Phthise verursachen, sondern nur die tuberkulöse
Kachexie und dass bereits die Anfangsstadien des Leidens, in dem
sich die Tuberkel erst entwickeln, auch wenn noch keine Zeichen
der Abzehrung vorhanden seien, doch bereits zur Phthise gerechnet
werden müssen. Ihre weitere Ausbildung fand die Bayle 'sehe Lehre
durch Laennec (1819). Wesentlich ist dabei, dass er, was bei dem
grössten Teil seiner Vorgänger trotz Eeid nicht der Fall gewesen
war, auch bei Bayle nicht, definitiv mit der alten Lehre bricht über
das Verhältnis der Tuberkel zu den Skropheln, allerdings in anderer
Weise als Reid; während dieser jeden Zusammenhang zwischen
beiden Erscheinungen leugnete, konstatierte Laennec, dass die
Skrophulose lediglich eine Lokalisation der Tuberkulose sei und zwar
die Lokalisation in den Lymphdrüsen. Wenn auch Laennec's
Lehre bald, namentlich in Frankreich, weite Verbreitung fand, so
fehlte es ihr doch nicht an einflussreichen Gegnern, unter denen
namentlich Broussais, Andral und Reinhardt zu nennen sind,
während von ihren Anhängern Louis, Rokitansky und Lebert
Erwähnung verdienen. Der Streit drehte sich im wesentlichen darum,
ob die Tuberkel ursprünglich Neubildungen oder Entzündungsprodukte
sind. Natürlich findet sich bei den verschiedenen Autoren nicht immer
vollständige Uebereinstimmung, sondern die verschiedensten Modifika-
tionen werden laut, so dass zu der damaligen Zeit ein grosser Wirr-
warr auf unserem Gebiete herrschte, in den Licht zu bringen Vir-
chow (1852) berufen war. Durch Baillie hatte der Begriff tuber-
kulöse Materie seinen Einzug in die Medizin gefunden und viele
Autoren hatten geglaubt, nicht im Tuberkel, sondern in der tuber-
kulösen, käsigen Masse das Charakteristische der Tuberkulose erblicken
zu müssen, und dass man demnach alle Tuberkel, die keine Verkäsung
zeigten, als etwas von der Tuberkulose Verschiedenes anzusehen habe.
Virchow zeigte nun, dass die Verkäsung bei den Tuberkeln zwar
besonders häufig vorkommt, dass sie aber kein notwendiges Produkt
derselben darstellt und dass andererseits auch bei den verschiedensten
anderweitigen Prozessen, chronischen Eiterungen, Krebs, Nekrose
u. dergl. es nicht selten zur Verkäsung kommt, und dass man somit
derselben alles Spezifische abstreiten müsse. Der Miliartuberkel,
welche die notwendige Vorbedingung zur Entstehung der Tuber-
kulose ist, gehört nach Virchow zu den heteroplastischen,
lymphatischen Geschwülsten, d. h. drüsenähnlichen Geschwülsten,
die an Orten entstehen, wo sich kein Drüsengewebe findet. Aber
auch diese Virchow 'sehe Ansicht bedurfte längerer Zeit bis
zu ihrer allgemeineren Anerkennung, während inzwischen noch
eine weitere Theorie auftrat, die von Robin (1854) begründete
und von Empis (1865) weiter ausgebaute, nach der man zwischen
Tuberkulose und Granulie, als zwei ganz verschiedenen Krankheiten zu
unterscheiden habe. Nach dem genannten Autor wohnt den Tuberkeln,
die er deshalb Granulationen nennt, durchaus nicht die Neigung inne,
tuberkulös, d. h. nach seiner Begriffsbestimmung käsig zu werden ; an
sich sind sie keineswegs so deletär, wie man gewöhnlich annimmt, ja
sie können nicht selten heilen; zur Schwindsucht führen sie nur dann,
wenn sie sich, was allerdings recht häufig der Fall ist, mit einer
zweiten Krankheit, der Tuberkulose, kombinieren und nun verkäsen
Geschichte der Tuberkulose. 905
und sich in Ulcerationen umwandeln. E m p i s ' Theorie fand nur
wenig Anhänger. So finden wir in den sechziger Jahren eine Reihe
der verschiedensten Theorien bezüglich der Tuberkulose. Wenn auch
eine grosse Anzahl der Autoren dem Vircho w'schen Standpunkte
beitrat, so hatten doch auch die Ansichten von Laennec und
Louis. Andral und endlich Empis ihre, zum Teil nicht geringe
Zahl von Anhängern.
Diesen Widerstreit der ^Meinungen sollten plötzlich die Epoche
machenden Untersuchungen Villemin's über die Uebertragbarkeit
der Tuberkulose in neue Bahnen lenken. Es waren zwar bereits
früher Uebertragungsversuche vorgenommen worden und von zufälligen
Uebertragungen bei Sektionen berichtet worden ( L a e n n e c) und zwar
scheint Kort um (1789) der erste gewesen zu sein, der derartige Ver-
suche angestellt hat. Dieselben verliefen jedoch zum grossen Teil negativ,
zum anderen Teil wurden sie nicht beachtet, speziell die schönen Ex-
perimente von Klencke ('1843) hatten dieses Schicksal. Erst die
zahlreichen positiven Resultate, die Villemin erhielt, zogen die all-
gemeine Aufmerksamkeit auf sich. Die erste Mitteilung Villemin's
geschah 1865, die zweite 1866 und die dritte 1868. Aus seinen an
Kaninchen angestellten Versuchen ergab sich folgendes: Die Lungen-
phthise ist, wie die tuberkulösen Krankheiten im allgemeinen, eine
spezifische Affektion. Ihi-e Ui^ache liegt in einem überimpfbaren
Agens. Diese Ueberimpfung lässt sich vom Menschen auf das Kanin-
chen leicht volltühren. Somit gehört die Tuberkulose in die Klasse
der virulenten Krankheiten und verdient in der nosologischen Reihe
ihren Platz neben der Syphüis, steht aber vielleicht dem Rotz noch
näher. Was ihr Vorkommen bei Tieren anbetrifft, so kommt eine
Empfänglichkeit dafür nur dem Menschen. Affen, Kühen und Kanin-
chen zu. Die übrigen Tiere sind ganz oder teilweise immun dagegen;
beim Rinde tritt die Tuberkulose unter einer besonderen Form auf,
die man als Perlsucht bezeichnet hat. Seine Resultate hat Villemin
teils mit Tuberkeln und käsigen Massen tuberkulöser Menschen und
Tiere, teils mit Sputum erhalten. Es liegt also der Tuberkulose, so
schliesst er in seiner letzten Arbeit ein spezifisches Virus zu Grunde;
nur durch dieses Virus und auf keine andere Weise kann die Krauk-
heit hervorgerufen werden. Sie entsteht nicht spontan im mensch-
lichen Haushalt; weder Schwäche, noch Elend, noch Wärme, noch
Kälte. Heredität oder Einfluss der Profession und dergleichen mehr
können sie entstehen machen, ebenso stehen vorangehende Krank-
heiten in keinem direkten ursächlichen Zusammenhang mit der nach-
folgenden Phthise; es bedarf hierzu eines von aussen kommenden, in
der Atmosphäre befindlichen, das eigentümliche Tuberkelgift enthalten-
den Keimes, dessen Ueberimpf barkeit beweist, dass er sich in den
organischen Medien der Tiere und Menschen fortpflanzt. Die Tuberkel
haben überhaupt in ihrem anatomischen und histiologischen Bau nichts
Spezifisches, nichts, was sie von anderen verwandten Bildungen trennt.
Das einzig sichere Kriterium für die Natur des Tuberkels ist das in
ihm enthaltene, durch Impfbarkeit sich dokumentierende Gift.
Dass diese durchaus neuen Anschauungen einen wahren Sturm
in der vsissenschaftlichen Welt entfesselten, liegt auf der Hand.
Zwar hatte sich in Laienkreisen die Ansicht von der Ansteckungs-
fahigkeit der Tuberkulose vielfach Bahn gebrochen, in der Wissen-
schaft war jedoch der Glaube daran fast ganz geschwunden. Mit
906 A. Ott.
ausserordentlichem Eifer warfen sich deshalb die Forscher aller
Länder auf die Nachprüfung der Vil lern in 'sehen Versuche und fast
alle mussten die üebertragbarkeit bestätigen, wenngleich das Vor-
handensein eines spezifischen Virus anfangs noch vielfach geleugnet
wurde. Der erste war Lebert (1866), der seine Rusultate noch vor
dem Erscheinen der zweiten Arbeit Villemin's veröffentlichte.
Villerain selbst hatte alle seine Versuche mittelst Verimpfung tuber-
kulösen Materials angestellt. Seine Nachuntersucher bedienten sich
teils dieser Methode, teils gingen sie weiter und stellten auch In-
halations- und Fütterungs versuche an. Es ist natürlich nicht an-
gängig, alle Nachuntersuchungen hier aufzuzählen, nur die wichtigsten
sollen kurz berührt werden. Vor allem sind da zwei grosse Ver-
suchsreihen von Colin (1867 und 1868) zu erwähnen, ferner Clark
(1867), beide mit positivem Resultat; trotzdem leugnen die Autoren
aber das Vorhandensein eines spezifischen tuberkulösen Virus. K 1 e b s
(1868) trat hingegen warm für die virulente Natur der Tuberkulose
ein, ebenso eine grosse Reihe späterer Autoren auf Grund ihrer posi-
tiven Versuchsresultate und zwar beschränkten sich dieselben nicht
nur auf menschliches Material, sondern es wurde in zahlreichen Fällen
auch Perlsuchtmaterial mit ausgezeichnetem Erfolg angewendet. Nur
ganz vereinzelte Versuche ergaben ein negatives Resultat, so dass die
Thatsache der üebertragbarkeit der Tuberkulose bald fast unange-
fochten dastand. Allein über die Deutung dieser Thatsache erhob sich
bald ein lebhafter Widerstreit der Meinungen, der die ärztliche Welt
anfangs in drei Parteien schied. Nach der einen nächst Villemin
besonders von Klebs verteidigten ist es ein spezifisches, den tuber-
kulösen Produkten anheftendes Virus, durch dessen Uebertragung die
Tuberkulose des Impftieres entsteht. Die zweite Ansicht, welche
Langhans aussprach, hält die Impfresultate für zweifelhaft und bis
dahin wenigstens für nichts beweisend; der menschlichen Tuberkulose
sei aber gleichwohl Spezifität zuzuerkennen. Die dritte Ansicht end-
lich erklärte die Impftuberkel einfach für Produkte mechanischer Irri-
tation, welche nichts Spezifisches an sich haben, sondern durch Auf-
nahme fein verteilter korpuskularer Elemente ins Blut und deren Ab-
lagerung in den Organen entstehen sollen. Letztere Theorie wurde
besonders von Lebert eifrig verfochten und ihr schloss sich anfangs
eine grössere Zahl von Autoritäten an, unter denen besonders Clark,
Sanderson, Cohnheim und B. Fränkel, Gerlach, Talma
und M. Wolff zu nennen sind. Diese Autoren zeigten, dass in den
Organen der Versuchstiere nicht allein durch tuberkulöse Massen,
sondern auch durch gesunde Organbestandteile von Leichen, Krebs-
massen, Abscesseiter, ja sogar durch ganz heterogene Dinge, wie
Papier, Baumwolle, Zinnober, Quecksilber etc. Gebilde zu erzeugen
waren, die makroskopisch und mikroskopisch dem echten Tuberkel
genau entsprachen. Allmählich klärte sich indes auch dieser Wider-
spruch auf, als sich einerseits zeigte, dass bei den Versuchstieren
manchmal spontane Tuberkulose auftritt, andererseits es entweder bei
dem Versuche selbst oder durch nachherige Infektion der Wunde zu
einer unbeabsichtigten Nebeninfektion mit dem in unreinen Ställen so
häufig vorkommenden tuberkulösen Virus kommen kann; ausserdem
entstehen auch durch feinkörnige Fremdkörper wohl tuberkelähnliche
Knötcheneruptionen, die zwar histologisch dem Tuberkel fast völlig
gleichen, aber sich durch ihr weiteres Verhalten wesentlich von dem-
Geschichte der Tnherkulose. 907
selben unterscheiden: sie verkäsen nicht und sind nicht weiter ver-
impfbar. Besonders war es Baumgarten, der diese Dinge ent-
schieden betonte und Cohnheim und B. Fränkel schlössen sich
dem bald an. besonders nachdem eine Wiederholung ihrer Versuche
an anderen Orten (die ersten hatten im Berliner pathologisch-anato-
mischen Institut stattgefunden) vollständig negativ ausgefallen war.
Von besonderem Werte zur Klärung der IJebertragungsfrage er-
wiesen sich dabei die intraokulären Impfungen, bei denen man im
Stande war, den Verlauf der ganzen Krankheit direkt zu verfolgen.
Hier waren vor allem die Versuche Baumgarten's (1880) von
grosser Bedeutung. Merkwürdigerweise hatte derselbe anfangs mit
Uebertragungsversuchen menschlichen Materials nur Misserfolge, wäh-
rend mit Perlsucht die Uebertragung ausnahmslos gelang. Später
stellte sich dann heraus, dass die Uebertragung mit menschlichem
Leichenmaterial um so besser gelingt, je früher nach dem Tode die-
selbe ausgeführt wird, so dass an einem Teil seiner Misserfolge jeden-
falls der späte Termin seiner Impfungen schuld hat.
Von Inhalationsversuchen verdienen die von Tappeiner (1877)
und Weichselbaum (1882) Erwähnung. Tappeiner konnte durch
Inhalierenlassen phthisischen Sputums bei einer grossen Anzahl von
Hunden fast immer Tuberkulose der Lungen erzeugen. Schotte-
lius (1878) hatte demgegenüber zwar behauptet, dass nicht allein
den tuberkulösen Massen, sondern auch gewissen anderen organischen
Substanzen die Fähigkeit tuberkelähnliche Knötchen zu erzeugen zu-
kommt. Das ist nach Weichselbaum auch der Fall, indes besteht
noch ein wesentlicher Unterschied in der Wirkung der genannten
Substanzen. Im tuberkulösen Sputum ist nämlich ein Virus enthalten,
welches ohne Bezug auf die eingebrachte Menge und den Impfungs-
ort ausnahmslos Knötchen von tuberkelähnlichem Bau in grosser Zahl
hervorruft, während andere organische Substanzen nicht tuberkulöser
Natur entweder gar nicht oder nur unter gewissen Bedingungen
Knötchen und nur in geringer Zahl erzeugen.
Ferner wurden von einer grossen Zahl von Autoren Fütterungs-
versuche mit tuberkulösen Massen angestellt, genannt seien nur
Chauveau, Gerlach, Klebs, Bollinger, Orth, Aufrecht
u. A. m. Johne, der diese Versuche kritisch gesichtet hat, zieht darau
s folgende Schlüsse: Die Uebertragung der Tuberkulose von Tier auf
Tier und von Mensch auf Tier durch den Genuss tuberkulöser Massen
ist möglich, wenn auch mit weniger Sicherheit zu erzielen, als durch
Impfungen. Die Uebertragung geschieht am leichtesten durch Fütterung
tuberkulöser Massen, demnächst auch durch Milch tuberkulöser Tiere.
Die Infektion durch tuberkulöses Material vom Menschen gelingt ver-
hältnismässig schwer.
Inzwischen wurde auch auf histologischem Gebiete die weitere
Kenntnis des Tuberkels sehr gefördert, namentlich waren es die Arbeiten
von Langhans (1868) welche hier unsere Kenntnisse wesentlich er-
weiterten, er schenkte insbesondere den Riesenzellen seine Aufmerk-
samkeit und konnte nachweisen, dass dieselben ein fast konstanter
Bestandteil des Tuberkels aller menschlichen Organe sind. Um diesen
Satz drehte sich dann lange Zeit der Streit der Meinungen, bis sich
herausstellte, dass die Riesenzellen sich zwar sehr häufig in Tuberkeln
finden, aber nicht selten darin auch vermisst merden, dass andererseits
auch in vielen anderen Bildungen Riesenzellen sich nachweisen lassen.
908 A. Ott.
Besonders fördernd wirkten hier die zahlreichen Arbeiten von
Schüppel, ferner die Untersuchungen von Buhl, Rindfleisch,
Friedländer, Aufrecht, Ziegler, Baumgarten, Orth,
Cohnheim, Birch-Hirs chfeld u. A.
Auch über die Frage nach dem Verhältnis der Tuberkulose zur
Lungenschwindsucht wurde lebhaft debattiert. Virchow hatte den
Satz aufgestellt, dass man die bei der Phthise so häufige käsige
Pneumonie von den Tuberkeln der Lunge trennen und als etwas da-
von Verschiedenes ansehen müsse. Durch die Arbeiten von Buhl
und Rindfleisch, namentlich aber durch dieBaumgarten's und
Orth 's, kam auch diese Frage zu einem gewissen Abschluss; dass
beide Prozesse eine nosologische resp. ätiologische Einheit besitzen,
wird allerseits zugegeben; während aber Orth auf Grund der histio-
logischen Differenzen eine anatomische Differenzierung aufrecht er-
hält, wird diese von Baumgarten wegen Geringfügigkeit der
mikroskopischen Differenzen bestritten. Beide Ansichten sind von
den genannten Verfechtern derselben noch heutigen Tages nicht
verlassen.
Bezüglich der Aetiologie der Tuberkulose war schon von einer
Reihe von Autoren die Ansicht geäussert worden, dass es sich dabei
vermutlich um ein organisiertes, vermehrungsfähiges Kontagium
handelt; indessen war wohl Klebs (1877) der Erste, der sich auf
Grund seiner Untersuchungen, bei denen er das „Monas tuberculosum"
gefunden zu haben glaubte, mit aller Entschiedenheit die Theorie
aufstellte, dass das spezifische tuberkulöse Virus in bestimmten Bak-
terien gesucht werden müsse. Nach ihm glaubten noch mehrere
Untersucher den spezifischen Erreger gefunden zu haben, indes alle
diese Angaben erwiesen sich später als irrig. Erst dem Genie
R. K 0 c h ' s (1882) blieb es vorbehalten, den Erreger der Tuberkulose
unanfechtbar nachzuweisen. Durch eine eigenartige Färbemethode,
deren Wesen in der Einwirkung alkalisch gemachter Anilin farbstoffe
unter Erwärmen bestand, gelang es ihm in Schnitten von Tuberkeln
zahlreiche stäbchenförmige, sehr dünne Bakterien nachzuweisen, die
teils im Innern, teils zwischen den Zellen lagen und speziell die
Riesenzellen bevorzugten. Damit war allerdings noch keineswegs der
sichere Beweis gegeben, dass diese Bazillen die Ursache der fraglichen
Krankheit seien. Aber auch dieser Beweis gelang Koch in unwider-
leglicher Weise. Mit Hilfe des von ihm eingeführten festen durch-
sichtigen Nährbodens konnte er aus den Krankheitsprodukten die
Bazillen züchten und sie durch mehrfaches Umzüchten von allen an-
haftenden Verunreinigungen befreien ; mit diesen Reinkulturen konnte
er in beliebiger Wiederholung bei Meerschweinchen das Krankheits-
bild erzeugen, das bei denselben durch Verimpfung tuberkulöser Pro-
dukte entsteht, aus diesem Tiere wieder die Bazillen züchten u. s. f.
Damit war der sichere Beweis geliefert, dass die in den tuberkulösen
Substanzen vorkommenden Bazillen nicht nur Begleiter des tuber-
kulösen Prozesses, sondern die Ursache desselben sind. Weitere
Untersuchungen über die Herkunft der Bazillen ergaben, dass dieselben
in ihrer Entwicklung lediglich auf den tierischen Organismus ange-
wiesen sind, da sie nur bei Temperaturen zwischen 30 und 40^ C.
wachsen. Da nun die weitaus überwiegende Mehrzahl der Tuber-
kulosen von den Respirationsorganen ihren Ausgangspunkt nimmt, so
war Koch der Ansicht, dass diese Bazillen mit Staubteilchen einge-
Geschichte der Tuberkulose. 909
atmet würden; in die Luft gelangen sie aber durch das Sputum des
Phthisikers. in dem sie auch nach dem Eintrocknen noch monatelang
lebensfähig bleiben können. Damit war zugleich ein Weg gegeben,
eine der hauptsächlichsten Quellen, aus denen der Infektionsstoff
fliesst, zu verstopfen und zwar durch Unschädlichmachen des Sputums.
Es darf indes nicht verschwiegen werden, dass gleichzeitig und
unabhängig von Koch auch B a u m g a r t e n die Tuberkelbazillen ge-
sehen hat und zwar hat er sie in Schnitten vermittelst Kalilauge
sichtbar gemacht. Da er Züchtungsversuche jedoch nicht unternommen
hatte, äusserte er sich einstweilen nicht über die Frage, ob die
Bakterien nur Begleiter oder die Ursache der Erkrankung seien.
Die meisten Nachprüfungen fand anfangs von den Koch'schen
Mitteilungen die Färbetechnik und hier war man vor allem • bemüht,
die für Sputumuntersuchungen so überaus lästige Zeitdauer, die nach
den Koch'schen Angaben etwa 24 Stunden betrug, zu verkürzen.
Das gelang vor allem Ehrlich, der das Alkali der Koch'schen
Lösung durch Anilinwasser, also eine Lösung eines organischen Alkalis,
ersetzte. B. Fränkel verwandte zu diesem Zwecke ausserdem auch
noch das dem Anilin homologe Toluidin; derselbe machte ferner auf
die Wichtigkeit der Kontrastfärbung aufmerksam und verkürzte die
Färbungszeit dadurch noch weiter, dass er Entfärben und Kontrast-
färben in einem Akt vornahm vermittelst saurer alkoholischer Kon-
trastfarbe. Z i e h 1 konstatierte dann, dass die Färbeflüssigkeit keines-
wegs alkalisch zu sein brauche, sondern dass auch andere Zusätze
die Färbung der Tuberkelbazillen ermöglichen; als besonders prak-
tisch er\\ies sich ihm die Karbolsäure, und die damit hergestellte
sogen. Ziehl'sche Flüssigkeit ist bekanntlich heutzutage vorzugsweise
im Gebrauch. Ehrlich hatte das eigenartige Verhalten des Tuberkel-
bazillus Farbstoffen gegenüber durch Annahme einer Hülle zu erklären
gesucht, die für Farbstoffe nur unter dem Einfluss von Alkalien
durchgängig, für Mineralsäuren dagegen undurchgängig sei; eine An-
nahme, die Z i e h 1 auf Grund seiner Beobachtungen, dass der Tukerkel-
bazillus langer Säureeinwirkung nicht widersteht, bekämpfte. Später-
hat dann Ehrlich seine Hüllentheorie in der Weise modifiziert, dass
er annahm, dass starke Mineralsäuren die Hülle viel langsamer durch-
dringen, als unter dem Einfluss der Beizen die Farbstoffe. Der Er-
wähnung bedarf aus dieser Zeit auch noch die Biedert 'sehe An-
reicherungsmethode bei der Untersuchung des Sputums auf Tuberkel-
bazillen.
Ganz ausserordentlich zahlreich sind die Arbeiten, die sich mit
dem Vorkommen des Tuberkelbazillus in den einzelnen erkrankten
Organen beschäftigen; die ersten ausgedehnten Untersuchungen über
das Sputum rühren von Fraentzel her, der den Satz aufstellte:
„Wo Tuberkelbazillen im Sputum gefunden werden, besteht Lungen-
tuberkulose"; wo hingegen trotz wiederholter und genauer Unter-
suchung keine Tuberkelbazillen nachzuweisen sind, da besteht, wenn
überhaupt Sputa da sind und aus den Lungen stammen, entweder
überhaupt keine Lungentuberkulose, oder es fehlen wenigstens
Schmelzungsherde in den Lungen, welche ihren Inhalt nach aussen
entleeren." Zu der gleichen Ansicht kam auch B. Fränkel, der
noch hervorhebt, dass länger beobachtetes Verschwinden der Bazillen
aus dem Sputum ein günstiges Zeichen ist, während bei dem gewöhn-
lichen Gange der chronischen Phthise die Menge der Bazillen keinen
910 A. Ott.
Anhaltspunkt für den Verlauf gibt. Leyden betont, dass bei
Fehlen des Bazillus im Sputum dasselbe nicht entscheidend ist, sondern
der klinische Befund. Auch in anderen Organen wurden jetzt häufig
bei tuberkulösen Erkrankungen die Bazillen gefunden, so bei Nasen-
aifektionen von Demme, Seh äff er und Nasse, im Kehlkopf von
B. Fränkel, der nicht lange vorher als Erster Miliartuberkel des
Kehlkopfs am Lebenden beobachtet hatte, Craemer, Voltolini, im
Urogenitalsystem durch Nachweis im Harn von Lichtheim, Neel-
sen, Smith, Leyden u. A. m.
Als Quelle für die Ueberschwemmung der Blutbahn mit dem
Virus der Tuberkulose bei akuter allgemeiner Miliartuberkulose hatten
Ponfick und namentlich Weigert schon vor Koch's Entdeckung
grosse Venen- resp. Ductus thoracicus-Tuberkel erkannt; jetzt konnte
Weigert diese Befunde auch noch durch den Nachweis von Tuberkel-
bazillen in diesen Gebilden vollkommen sicher stellen.
Die anfangs noch sehr umstrittene tuberkulöse Natur des Lupus
wurde dann später auf Grund weiterer Untersuchungen Koch's
(1884) bald allgemein anerkannt; ebenso lagen von der sogenannten
chirurgischen Tuberkulose die Beweise, dass sie gleichfalls durch den
Tuberkelbazillus verursacht wird, bald in sehr grosser Zahl vor.
Einen sehr wesentlichen Fortschritt verdankt die Lehre von der
Tuberkulose den Untersuchungen Com et 's (1888). Derselbe hatte
durch zahlreiche Impfversuche nachgewiesen, dass von einer Ubiquität
des Tuberkelbazillus keine Rede sein könne, sondern dass derselbe
sich nur dort dem Staube beigemischt auffinden lasse, wo unreinliche
Phthisiker ihren Auswurf sorglos auf den Boden entleert hatten; der
Phthisiker sei also hauptsächlich durch seinen Auswurf gefährlich, der
auf den Boden entleert, eintrockne, zu Staub werde und so in der
Luft schwebend, zur Einatmung gelange. Daraus folge für die
Prophylaxe, dass es nötig sei, namentlich in geschlossenen Wohnräumen
das Ausspeien auf den Boden unbedingt zu verhindern ; zur Aufnahme
des Sputums müssen Spucknäpfe mit Wasser gefüllt aufgestellt und
diese regelmässig in den Abort entleert oder der Inhalt verbrannt
werden. Cornet hatte bald auch die Genugthuung, dass seine Vor-
schläge in den meisten civilisierten Staaten eingeführt wurden trotz-
dem es ihnen anfangs an starkem Widerspruch nicht fehlte.
Im Jahre 1890 wurde dann die ganze Welt in grosse Aufregung
versetzt durch die Ankündigung Koch's, dass er ein spezifisches
Heilmittel gegen die Tuberkulose entdeckt habe, das Tuberkulin.
Während er in seiner ersten Ankündigung die Herstellung des Mittels
noch nicht bekannt gab, teilte er bald mit, dass es einen glycerin-
haltigen, eingedickten Extrakt von Tuberkelbazillenkulturen darstellt;
dasselbe hat die Eigenschaft, in bestimmten Dosen eingespritzt, bei
tuberkulösen Menschen und Tieren starke, bald vorübergehende Fieber-
reaktion hervorzurufen, die sich schon in den allerersten Anfängen
der Krankheit zeigt, somit also zur Diagnose benutzt werden kann;
häufig wiederholte Injektion sollte dann Heilung des Leidens herbei-
führen. Natürlich wurde das Mittel bald allgemein versucht und es
herrschte anfangs eine grosse Begeisterung über dessen Wirksamkeit,
die aber leider bald zum Teil infolge unrichtiger Anwendung einem
weitgehenden Pessimismus Platz machte. Nur einzelne Autoren, da-
runter B. Fränkel, Goetsch und Petruschky, Hessen sich
durch die Berichte über Misserfolge nicht abschrecken, sondern ver-
Geschichte der Tuberkulose. 911
wandten dasselbe in vorsichtig-er Dosierung unentwegt weiter und sie
haben die Genugthuung, dass infolge der von ihnen mitgeteilten
günstigen Eesultate neuerdings langsam die Tuberkulinbehandlung
wieder an Boden gewinnt. Als diagnostisches Mittel, namentlich auch
bei Rindertuberkulose, blieb dem Tulberkulin die Anerkennung erhalten.
Im Jahre 1897 gab Koch ein neues Tuberkulin bekannt, das Tß,
das nach kurzer Prüfung meist ebenfalls wieder verlassen wurde, und
endlich im Jahre 1901 noch ein anderes, aus zu Staub gemahlenen
Tuberkelbazillen bestehend, das gegenwätig der Prüfung unterliegt,
deren Resultate noch nicht abgeschlossen sind.
Inzwischen erkannte man auch, dass es sich bei der gewöhn-
lichen Lungenschwindsucht meist nicht um eine reine Infektion
mit Tuberkelbazillen handelt, sondern dass, namentlich in den späteren
Stadien, mit denselben vereint, auch die eitererregenden Pilze,
namentlich Strepto- und Staphylococcen, ihr verderbliche Wirksamkeit
ausüben. Die Kenntnis davon verdanken wir den Arbeiten von
Cornet, Spengler, Schabad, Sata, Kerschensteiner und
vieler Anderen.
Die akute Form der Lungentuberkulose, die sogenannte „galoppie-
rende Schwindsucht", fand (1893) durch Fränkel und Troje eine
sowohl in klinischer wie in anatomischer Beziehung mustergültige
Bearbeitung; die Verfasser zeigten, dass dieselbe nichts anderes dar-
stellt, als eine Selbstinfektion durch Aspiration grösserer Mengen
virulenten, tuberkulösen Materials aus einem älteren Spitzenherde
nach den unteren Lungenpartien.
Auf Grund der Cornet 'sehen Untersuchungen hatte man ge-
glaubt, die Einatmung von trockenem Staub, der mit Tuberkelbazillen
verunreinigt war, als die Hauptquelle der Infektion ansehen zu müssen.
Demgegenüber zeigte Flügge (1896), dass noch eine andere wesent-
liche Quelle für die Infektion existiert, nämlich die von Phthisikern
beim Sprechen und namentlich beim Husten verspritzten Tröpfchen,
die in einer grossen Zahl der Fälle lebende Tuberkelbazillen enthalten
und die längere Zeit in der Luft schweben bleiben. Ein Mittel
gegen die Infektionsgefahr von dieser Seite ist das Vorhalten des
Taschentuches oder der Hand vor den Mund beim Husten, wodurch
fast alle Tröpfchen aufgefangen werden. B. Fränkel hat später
zu diesem Zweck das Tragen von Mundmasken mit Gaze seitens der
Kranken empfohlen. Nach anfänglich heftiger Bekämpfung, namentlich
durch Cornet, haben die Flügge' sehen Ansichen sich heute neben
den Cornet'schen volles Bürgerrecht erworben, namentlich auch in-
folge der zahlreichen bestätigenden Nachprüfungen.
Aus der allerneuesten Zeit ist noch kurz zu erwähnen, dass man auch
in der Natur vielfach Bazillen gefunden hat, welche die Farbenreaktion
des Tuberkelbazillus geben, ohne echte Tuberkelbazillen zu sein. Eine
grössere Anzahl von Arten ist jetzt beschrieben und unter dem Namen
Pseudotuberkelbazillen zusammengefasst ; über ihr Verhältnis zu den
echten Tuberkelbazillen herrscht jedoch noch keine volle Klarheit
(Rabinowitsch, Petri, Moeller, Lubarsch U.A.). Beachtens-
wert ist, dass man auch bei einzelnen Krankheiten des Menschen der-
artige Pseudotuberkelbazillen gefunden hat.
Interessant sind ferner die Untersuchungen von Naegeli, der
bei 96 '7o aller Leichen über 16 Jahre bestehende oder geheilte
Tuberkulose fand ; dann die Angaben von Birch-Hirschfeld, nach
912 A. Ott.
denen der erste Anfang der Tuberkulose ein Geschwür der Bronchial-
schleimhaut der Bronchien 3. bis 4. Ordnung darstellt. Das aller-
meiste Aufsehen haben in letzter Zeit jedoch die Mitteilungen
Koch's (1901) erregt, nach denen die Tuberkelbazillen des Menschen
und des Eindes voneinander verschieden sein sollen und eine gegen-
seitige Infektionsmöglichkeit nicht bestehen soll, so dass infolgedessen
die bisherigen Massregeln gegen die Uebertragung der Tuberkulose
durch die Kuhmilch auf den Menschen sehr an Wert verlören. Eine
überaus lebhafte Diskussion hat sich über diese Frage erhoben und
sie ist, trotz mancher Versuche, bis heute noch keineswegs als end-
gültig gelöst anzusehen.
Erwähnt sei endlich noch, dass es von Behring (1902) gelungen
ist, durch Injektion von menschlichen Tuberkelbazillen in sehr ge-
ringen Dosen Einder gegen Eindertuberkulose zu immunisieren, ein
Verfahren, das im Laboratorium zuverlässig, z. Z. in der Praxis auf
seine Brauchbarkeit in ausgedehntem Masse erprobt wird.
Wie anfangs erwähnt, sah bereits Hippokrates die Lungen-
schwindsucht als heilbar an und er hat auch schon den Aufenthalt in
frischer Luft, speziell auf den Bergen und an der See, sowie gute Er-
nährung als Heilmittel empfohlen. Lange Zeit war diese Erkenntnis
in Vergessenheit geraten und noch in der Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts war in den Augen der Aerzte die Diagnose Lungen-
schwindsucht gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Man spricht
gewöhnlich Brehmer (1868) das Verdienst zu, die Heilbarkeit der
Schwindsucht neu entdeckt und ihre Behandlung durch hygienisch-
diätetische Mittel neu eingeführt zu haben. Nach den Angaben von
Tucker-Wise ist es indesen zweifellos, dass 1835 bereits der eng-
lische Arzt Bodington eine Anzahl von Patienten auf diese Weise
behandelt hat; trotz guter Erfolge gab er die Sache jedoch infolge
vielfacher Anfeindungen bald wieder auf. Brehmer hat das grosse
Verdienst, die Sache konsequent weiter verfolgt, die Methode der
Sanatoriumsbehandlung ausgebildet und dem ganzen Verfahren Aner-
kennung verschafft zu haben, eine Anerkennung, die lange Zeit nur
gering war, die ihr jetzt aber, durch die Erfolge, wie sie Dett-
w eil er, Turban u. A. erzielten, nirgends mehr versagt wird.
Seit Koch's Entdeckungen des Tuberkelbazillus und speziell seit
den Corn et 'sehen Untersuchungen über sein Vorkommen ausserhalb
des menschlichen Körpers, ist man bemüht gewesen, den Kampf gegen
die Tuberkulose, die sich als einer der furchtbarsten Feinde des
Menschengeschlechtes herausgestellt hat, aufzunehmen. Haben doch
neuere statistische Untersuchungen die erschreckende Thatsache er-
geben, dass ^7 ^ller Todesfälle dieser Krankheit zuzuschreiben ist.
Während man sich anfangs darauf beschränkte, den Infektionserreger
nach Möglichkeit unschädlich zu machen, ist in der letzten Zeit ein
neues Moment in diesem Kampfe in den Vordergrund getreten, die Sorge
für die Erkrankten, und zwar speziell für die unbemittelten Kranken.
Während die bemittelten Kranken schon sehr früh der Vorteile der
Brehmer-Dettweiler'schen Sanatoriumsbehandlung sich erfreuen
konnten, war das den Unbemittelten, die doch die überwältigende Mehr-
zahl dieser Leidenden ausmachen, wegen des hohen Kostenpunktes
nicht möglich. Erst infolge der sozialen Gesetzgebung konnte man
in Deutschland daran denken, auch für diese Kranken im weiten
Masse fürsorgend einzutreten. Aus diesem Gesichtspunkte heraus hat
Geschichte der Tuberkulose. 913
sich die deutsche Heilstättenbewegung entwickelt, deren Anfänge bereits
bis in das Jahr 1889 zurückreichen, wo Leyden und B. Fränkel
zuerst den Plan fassten, die Errichtung von Heilanstalten für Unbe-
mittelte zu fördeiTi. Verwirklicht wurde der Plan durch die von Dett-
w eil er (1892) in Falkenstein errichtete erste deutsche Heilstätte.
Von da ab mehrten sich, ei^t langsam, dann namentlich nachdem die
deutschen staatlichen Versicherungsanstalten begannen sich der Sache
anzunehmen, schneller die Anzahl der Heilstätten für Unbemittelte, so
dass jetzt in Deutschland bereits etwa 80 solcher Anstalten bestehen,
in denen die Kranken zum Teil zu sehr billigen Preisen, z. T. soweit
sie Versicherte sind, vollständig kostenlos aufgenommen und entweder
geheilt oder doch für längere Zeit dem Leben erhalten werden.
Zur Centralisierung aller dieser Bestrebungen konstituierte sich 1896
in Berlin das deutsche Centralkomite zur Errichtung von Heilstätten
für Lungenkranke, um das, sowie um die ganze Heüstättenbewegung
sich namentlich B. Fränkel, von Leyden und Pannwitz hoch-
verdient gemacht haben. Durch deren Initiative wurde auch im Jahre
1899 in Berlin der glänzend verlaufene Kongress zur Bekämpfung der
Tuberkulose als Volkskrankheit zu stände gebracht, der ungemein
befruchtend auf das allgemeine Interesse für den Kampf gegen diese
Seuche wirkte. Das deutsche Centralkomite beschränkt sich seit-
dem nicht mehr auf die Förderung der Errichtung von Lungenheil-
stätten, sondern hat die Centralisierung aller Bestrebungen auf dem
Gebiete der Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit in die
Hand genommen. Besondere Erwähnung verdienen darunter die von
B. Fränkel so häufig befürwortete Errichtung von Asylen für un-
heilbare Tuberkulöse, wodurch deren Gefahr für Familie und Xeben-
menschen wirksam unschädlich gemacht wird. Unter dem Protekto-
rate der deutschen Kaiserin stehend, hat das Centralkomite in ausser-
ordentlich segensreicher Weise gewü'kt und es berechtigt auch für die
Zukunft unter der uneigennützigen Mitwirkung hoher Staatsbeamter
und hervorragender medizinischer Autoritäten zu den weitgehendsten
Hoffnungen. Als neueste Frucht seiner Bemühungen bleibt noch zu
erwähnen die 1901 erfolgte, der thatkräftigen Initiative von Althoff,
B. Fränkel, von Leyden und Pannwitz zu verdankende
Gründung des internationalen Centralbureaus zur Bekämpfung der
Tuberkulose, dessen Zweck es ist, die internationalen Bestrebungen
auf diesem Gebiete, die ja allein nur zu einem erspriessHchen Ziel
führen können, in jeder Weise zu fördern.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II. 68
Intoxikationskrankheiteii.
Von
Theodor Husemann (Göttingen).
Wie man in älterer Zeit häufig unrichtig epidemische Krankheiten
als Folge von Vergiftung ansah und besonders die Pest auf absicht-
liche Brunnenvergiftung zurückführte, hat man im Gegensatze dazu
eine Anzahl epidemischer und endemischer Aifektionen, die gegen-
wärtig unbestritten als Folge der Einführung teils unorganischer, teils
organischer Gifte galten, von tellurischen oder klimatischen Einflüssen
abgeleitet. Die Erkenntnis der Thatsache, dass ihnen die Einführung
von Giften mit den Speisen oder Getränken zu Grunde liegt, führte
selbstverständlich zu geeigneten prophylaktischen Massregeln, aus denen
namhafte Abnahme ihrer Häufigkeit resultierte, wodurch ihre Be-
deutung als Volkskrankheit wesentlich verringert worden ist. Indessen
kommen manche in bestimmten Gegenden auch jetzt noch in nicht
unbedeutender Ausdehnung vor, und für einzelne ist die Aetiologie
mit Sicherheit erst in den letzten Decennien festgestellt worden.
Endemische Kolik (Colica vegetabilis, Colica sicca s. intertropica).
lAtteratur: Hirsch^ Handb. der histor. geogr. Fathol. III, 192 (mit am-
führlichen Litteraturangaben) . — Lefevre, Rec'herches sur la cause des coliques
Seches, Paris 1859. — Cuynat, Mem. de l'Acad. de Lyon 1843144, 20. — Camp-
bell, Practit. 1885, Dec., 477. — Meese, Amer. med. News 1887, Aug., 227. —
Stewart, ebend., Juni, 676. — 3Iarnata, De la colique seche comme manifestation
de Vanemie tropicale, Paris 1880.
Die in früherer Zeit nicht selten in einzelnen Gegenden euro-
päischer Länder als Massenerkrankung vorkommenden Koliken, die man,
weil man sie vorwaltend von dem übermässigen Genuss des Obstweins
ableitete, als Colica vegetabilis oder auch nach den einzelnen
Gegenden, in denen sie herrschten, als Kolik von Poitou (Colica
Pictonum), von Devonshire, von Madrid benannte, haben sich bei
genauerer Untersuchung als Folge von Bleivergiftung herausgestellt,
wofür schon die völlige Identität mit dem von anderen Koliken und
von Darmkatarrhen mit Kolikschmerzen abweichenden Krankheitsbilde
Intoxikationskrankheiten. 915
der Bleikolik (Verstopfung, schwarze Stülüe) spricht. Das Gift wurde
meist als organisch-saure Verbindung von den als Getränk dienenden
Flüssigkeiten aus den bleihaltigen Aufbew^ahrungsgefässen und in den
Körper aufgenommen. In älterer Zeit geschah dies besonders durch
Aufbewahrung von Cider in Gefässen mit schlechter bleihaltiger Glasur,
in neuerer durch Wasser, das den "Wohnungen der Erkrankten durch
bleihaltige Leitungsröhren zugeführt war. Dasselbe gilt für die eben-
falls als Bleivergiftung aufzufassenden Massenerkrankungen in Nord-
amerika, die als Dry-belly-ache oder Bilious colic bezeichnet
werden, und den meist ebenso genannten Koliken auf den Antillen, in
Surinam, Cajenne und British Guyana, nui' dass hier junger Kum, der
bei der Destillation aus den stark bleihaltigen Röhren Blei aufgenommen
hatte, vorwaltend als Krankheitsursache erscheint. Eine selbständige
Colica inter tropica (abgesehen von den nicht seltenen Fällen von
Colica stercoralis in den Tropen) existiert nicht und die aus anderen
tropischen Ländern berichteten Fälle von Colica sicca sind nach Hirsch
nur in Hafenstädten an der Mannschaft französischer Kriegsschiffe,
die sich auf dem Schiffe Bleikolik zugezogen hatte, beobachtet. Durch
die Erkenntnis der Krankheitsursache sind in den früheren Sitzen
der endemischen Koliken die Koliken so selten geworden, dass gegen-
wärtig von endemischer Kolik nirgendswo die Rede sein kann; doch
kommen Massenerkrankungen durch bleihaltiges Trinkwasser u. a.
bleihaltige Getränke noch hier und da vor.
Die älteste Bleikolikepidemie ..mit Ausgang in Epilepsie oder Paralysis"
herrschte im 7. Jahrhundert nach Paulus von Aegina in Italien u. a. Pro-
vinzen des römischen Reiches. Im 16. Jahrhundert beschrieb Othraeus
eine durch geschwefelten Wein hervorgerufene Kolikepidemie mit Ikterus
und Konvulsionen aus Franken, Burgund, Oesterreich und Rhätien. Die
seit 1572 in Poitou vorkommende, von Citois 1639 beschriebene Colica
Pictonum wurde von ihm teils von siderischen Einflüssen, teils von der
Qualität des Weines abgeleitet. Die zuerst von Huxham (1727) be-
obachtete Kolik von Devonshire erkannte Baker 1767 als Bleikolik infolge
des Genusses von Cider. Schon 1843 zeigte Cuynat, dass eine endemische
Kolik von Madrid und NeukastiHen nicht mehr existiere, sondern nur ein-
zelne Bleikolikfälle aus verschiedenen Ursachen, wie solche auch in anderen
Teilen Spaniens (Andalusien, Catalonien) vorkommen. Das Trinkwasser, das
aus bleiernen Leitungsröhren stammte, wies zuerst Tronchin 1757 als
Ursache einer niederländischen Kolikendemie nach. Im grossen Massstabe
führte solches in Verbindung mit bleihaltigem Sodawasser 1849 in New-
Orleans zu Bilious colic, in etwas geringerem neuerdings 1883/84 in
Tredegar (ilonmouthshire), 1885 in Sheffield und 1886/87 in Dessau zu
ausgesprochenem Satumismus. Nach Campbell (1886) kommt in Eng-
land auch jetzt noch endemische Kolik durch bleihaltige Obstweine durch
Benutzung glasierter irdener Gefässe beim Gärenlassen der Früchte vor.
Auch aus Frankreich werden solche durch das Hineinlegen von Bleikugeln
als Konservierungsmittel in Cider gemeldet. Ueber ausgedehnte Massen-
vergiftungen durch Backwerk, dem Bleichromat zugesetzt wurde, haben
Reese und Stewart 1887 berichtet. Auch bleihaltiges Mehl ist neuer-
dings in Frankreich und Amerika Anlass zu solcher geworden.
Die seit der Einführung der Dampfschiffe auf der französi-
schen Flotte in tropischen Gewässern ausserordentlich häufig gewordene
Schiffskolik, die auf Schiffen anderer Stationen selten und fast nur bei
68*
916 Theodor Husemann.
Heizern (daher die englische Bezeichnung- Fireman's Colic) auftretende
Affektion wurde anfangs als eine durch Erkältung entstandene Sym-
pathicusneurose, dann als Malariaaffektion oder überhaupt als mias-
matisches Leiden aufgefasst. 1859 wies Lefevre überzeugend nach,
dass das symptomatisch der Bleikolik völlig entsprechende Leiden mit
dem enormen Bleikonsum bei Ausrüstung der grossen Kriegsdampfer
(etwa 13000 kg Bleimetall auf eine Fregatte von 50 Kanonen, ausser-
dem Bleioxyd und Bleisalze zu Kitten und Anstrichen) und dem Blei-
gehalte des Trinkwassers, der aus den Zuleitungsröhren des Trink-
wassers stammt und in den heissen Klimaten noch gesteigert wird,
wenn man zu besserer Durstlöschung das Wasser mit Säuren versetzt,
im Zusammenhange steht. Nimmt man die Thatsachen hinzu, dass die
in den französischen tropischen Besitzungen gelieferten Getränke (Spiri-
tuosen, Weine) polizeilich unkontrolliert und oft bleihaltig sind, dass
die Bleikolik nach Tanquerel besonders häufig in der heissen Jahres-
zeit auftritt, so ist die Erklärung für das Beschränktbleiben der Colique
seche in den tropischen Flottenstationen gegeben. Sie trat zuerst
an den westafrikanischen Stationen, auf Madagascar, Eeunion und
den Molukken, und auf den Südseestationen auf, später auch an den
Küsten von Cayenne und den Rio de la Plata-Staaten. Nach der Er-
kenntnis der Ursache depossedierte die verbesserte Schiffshygieine die
Affektion mehr und mehr, so dass seit 1880 die französische medi-
zinische Litteratur ganz darüber schweigt.
Lefevre wies für die französischen Schiffe ausser dem Angegebenen
noch nach, dass das Maschinenfett enorm mit Blei verunreinigt war und
dass die bei der Maschine angewandten Kühlrohre, die Wasserbehälter und
deren Hähne und sogar die Arzneibehälter von Blei waren. Dass manche
tropische Fälle von Kolik ohne Bleisaum u. s. w. auf tropischer Anämie
(Marnata) basieren, ist möglich, doch ist jedenfalls das Gros der Colique
seche Bleiaffektion.
Ergotismus (Ignis sacer, Brandseuche, Kriebeikrankheit, Pelade).
Litteratur: Kohert, lieber die Bestandtheüe und Wirkung des Mutter-
korns, Lpz. 1884. Zur Geschichte des Mutterkorns, Dorpater Histor. Unters. 1889,
1, 1 (mit vielen Litter aturangaben). — Hirsch, Histor. geogr. Pathol. 1883, II, 142.
— K. F. Heusinger, Rech, de Pathol. comparee, 1846, II, 473. — C H. Fuchs,
Das heilige Feuer des Mittelalters, Heckers Ann. 1834, XXVIII, 1 (entliält viel
Litteratur). — Marchand, Etüde historique sur quelques epidemies du mögen äge,
Par. 1873. — Hecher, Geschichte der neueren Heilkunde, 1839, 287 (enthalt nament-
lich Litteratur aus dem 16. und 17. Jahrhundert). — Thuillier, Journ. des savants,
1676, IV, 79. — Lang, Beschreibung des biss dahin dasigen Orten niemahls er-
hörten und zu Zeiten sehr schädlichen Genusses der Kornzapfen in dem Brodte u. s. w..
Lucern 1717. — Salerne, Mem. de VAcad. des Sc. 1747, II, 155. — Bouchet,
Journ. de Med. 1762, XVII, 327. — Jtead, Traite du seigle ergote, Strasb. 1771. —
Jussien, Faulet, Saillant et Tessier, Mem. de la Soc. de Med. de Paris, Annee
1776, 260. — Bordot, Considerations med. sur le seigle ergote, Paris 1818. —
Courhaut, Traite de Vergot du seigle, Chalons SjSadne 1827. — JBai^ier,
Gaz. med. de Lyon, 1855, Nr. 10. — Bald. Rousseus, Opusc. med. 1618,
abgedr. bei Schenck, Obs. med. lib. VI, 1565, 830. — Von einer ungewöhn-
lichen und bis anhero in diesen Landen unbekannten, gifftigen, ansteckenden
Schivacheit, welche der gemeine Mann dieser Art in Hessen die Kribelkrankheit,
Krimpfsucht oder ziehende Seuche nennet u. s. w., Marburg 1597. — Brunner,
Ephemerid. Acad. Leopold, Dec. III, Ann. II, Obs. 224, 1699. — Casp. Schwenck-
feldt, Theriotroph., Siles., Liegn. 1615, 334. — Lh'awitz, Bericht und Unterricht
vom schmerzmachenden Scharbock, Leipz. 1647. — Wedel, resp. Wolf, Diss. de
morbo spasmodico maligno, in Saxonia, Lusatia etc. grassante, Jen, 1717. —
Intoxikationskrankheiten. 917
ScHnci, Sat. med. Sites. IV, 35 (1736). — Bergen, resp. Müller, De morbo
epidemico spasmodico convtilsivo, Francof. ad Viadr. 1742. — Lentin, Beiträge zur
Geschichte der Kriebelkrankheit im J. 1770, 1771. — Taube, Geschichte der Kriebel-
krankheit u. s. «•., Göttingen 1771 (HaupticerkJ. — Tissot, Philosoph. Transact. 1765,
Vol. L, 106. — Zitntnemiänn, V. d. Erfahrung in der Arzneikunst, Zur. 1764,
469. — Lorinser, Ursache und Beobachtungen über die Wirkungen des Mutter-
korns, Berl. 1834. — W. Diez, Versuche über die Wirkungen des Mutterkorns,
Tübing. 1832. — 27«. O. Heiisinger, Studien über den Ergotismus, Marb. 1846.
— Chriepenkerl, Casp. Vierteljahrsschr. 1853. XIII, 1. — Meyr, Wochenschr.
Wien. Aerzte 1861, 377. — Siemetis, Arch. f. Psychiatr. 1880. XI 108. —
Tuczeck, ebend. 1882, XIU, 99; 1887, XVni H. 2. — Hedborn, Upsala läk.
Förenings Förhandl. 1890, XXVII, 363 (für die älteren und neueren schwedischen
Ergotismusfälle wichtig). — C. von JffKWtnian, Fenska Läk. Sällok. Hctndl. 1, 1.
— Krysinski, Pathol. und krit. Beitr. z. Mutterkornfrage, Jen. 1880 (ausführl.
aiphabet. Litteraturverzeichnis). — Crrünfeld, Dorp. histor. Unters. 1889, I, 48,
Janus 1898. I, 104 (für die neueren russischen Epidemien wichtig). — Iteulhif
Journ. de Chim. med. 1829, V, 608.
Die wichtigste aller Intoxikationskrankheiten ist die durch Bei-
mengung reichlicher Mengen der unter dem Namen Mutterkorn be-
kannten Pilzbüdung, die in gefährlicher Quantität sich besonders am
Eoggen, bisweilen auch an der Trespe und in Schweden an der Gerste,
vorwaltend in nassen Sommern und auf sumpfigem, feuchtem Boden
entwickelt, zum Getreide und Benutzung des aus dem damit ver-
unreinigten hergestellten Brotes oder anderer Speisen hervorgerufene
Ergotismus. Die durch die Benennungen Brandseuche, Ergo-
tismus gangraenosus- und Kriebelkrankheit oder Krampf-
seuche, Ergotismus convulsivus symptomatologisch deutlich
gekennzeichneten beiden Formen sind unter den durch schädliches
Getreide hervorgerufenen Morbi ce reales derartig vorwaltend, dass
man dahin verschiedene Massenerkrankungen im Altertum bezogen
hat, obschon diese entweder, wie die von Caesar erwähnte Epidemie
von Massilia infolge Gebrauchs alter Hirse und verdorbener Gerste,
gar nicht beschrieben sind oder wie die bei P r o k o p erzählte Massen-
erkrankung mit gastrischen Symptomen, welche schlechtes Brot bei
den von Belisar gegen die Vandalen geführten Truppen hervorrief,
weder das für Ergotismus gangraenosus charakteristische brandige
Absterben von Gliedmassen noch die krampfhaften Erscheinungen der
Kriebelkrankheit darboten. Für die Deutung der Morbi cereales des
Altertums ist aber das Mutterkorn überhaupt auszuschliessen, weil
Roggen bei Hellenen und Eömern nicht kultiviert wurde.
Die Roggenkultur fand in den ersten Jahrhunderten n. Chr. in Italien nur
bei den Taurineru (Piemont) und auf der Balkanhalbinsel nur in Thrakien
und Makedonien statt (Plinius, Galen). Der Eoggen war im Altertum so
unbekannt, dass dessen römische und griechische Bezeichnungen (secale,
centenum, ßQiCcc) sich nur an drei Stellen alter Schriftsteller finden! Nur
so ist es begreiflich, dass die Alten das auffällige Gebilde des Mutterkorns
nicht beschrieben haben, weil sie es eben nicht kannten. Man ist daher
unberechtigt, die unzweifelhaft auf andere Getreidearten zurückzuführenden
Massenerkrankungen im Altertum, für welche bald verdorbenes, bald mit
Lolch (aiga) vermengtes Korn als Ursache in Anspruch genommen wird,
für Ergotismus zu halten.
Nach der Verbreitung des Eoggens als Kulturpflanze im frühen
Mittelalter kam es nach nassen und kalten Sommern, wenn viel Mutter-
korn sich gebildet und im übrigen Misswachs eingetreten war, zu
zahlreichen oft ausserordentlich mörderischen Massenerkrankungen, der
918 Theodor Husemanii.
brandigen Form des Ergotismus. Diese zeigten die Eigentümlichkeit,
dass sie sich auf gewisse Landstriche beschränkten, wo sie, oft durch
grosse Zeiträume getrennt, stets mit denselben charakteristischen Sym-
ptomen wieder auftraten und Furcht und Schrecken verbreiteten. Be-
sonders wurden verschiedene Provinzen Frankreichs und der Nieder-
lande von der Krankheit heimgesucht, die, anfangs schlechtweg als
Pest bezeichnet, später mit dem wahrscheinlich dem im Mittelalter
soviel gelesenen Virgil entlehnten Namen „heiliges Feuer", Ignis
s a c e r und analogen auf das langsame Vergehen der Gliedmassen oder
auch auf die brennenden Schmerzen hindeutenden Benennungen belegt
wurde. Vom Ende des 11. Jahrhunderts an ist der Name Ignis
Sancti Antonii gebräuchlich, der im Zusammenhange mit der 1089
durch Gas ton geschehenen Gründung eines zur Pflege der an Ignis
sacer Leidenden bestimmten Ordens des heil. Antonius in Vienne
und dem Glauben an die Wunderthätigkeit der daselbst aufbewahrten
Eeliquien dieses Heiligen steht.
Der Name Feu sacre neben „les ardents", „mal des ardens"
und „Ignis plaga" findet sich zuerst bei einer in Paris vorgekommenen
Epidemie. Später erscheinen die Namen Clades s. pestis igniaria, Ignis
silvaticus, I. invisibilis, I. divinus, I. judicialis und I. infernalis. Neben
dem heiligen Antonius gälten auch die heilige Jungfrau und verschiedene
andere Heilige als wunderthätig bei dem Leiden, woher sich die Namen
Ignis Beatae Mariae, I. Sti. Firmani, I. Sti. Martialis ableiten.
Die Epidemien des Ignis sacer sind von keinem medizinischen Schriftsteller
des Mittelalters, sondern nur von Chronisten erwähnt und kurz beschrieben. Die
klassische Medizin gebrauchte den Namen in einem anderen Sinne, in ivelchem er
auch fast durchgängig bei den mittelalterlichen Aerzten sich findet. Nur Virgil
benutzt ihn in der Georgica für eine auf den Menschen übertragbare, mit brennen-
den Blattern beginnende, überaus gefährliche Tierkrankheit, vermutlich die nämliche,
welche Colutnella als bei Schafen grassierend bezeichnet und die man sicher als
Milzbrand zu deuten berechtigt ist. Celsits versteht tmter I. s., den er den bös-
artigen TJlcera anreiht, zioei Formen von Hautausschlägen, die Fuchs als Eczema
imj)etiginodes und E. chronicum cruris deutet; andere fassen die eine als Herpes
esthiomenos. Plinius hebt deutlich als eine Art des I. s. die Gürtelrose hervor,
daneben diverse Herpesformen („alii serpentes^^). Die mittelalterlichen Aerzte iden-
tifizieren I. s. meist mit Erysipelas (vgl. Collectio Salernit. IV, pag. 367) ; in den
mittelalterlichen Uebersetzungen des Hippokrates tmd Galens ist Erysipelas stets
mit Ignis sacer wiedergegeben. Der salernitanische .Tractatus de curatione aegri-
tudinum unterscheidet I. sacer und I. infernalis, ersterer wird mit Wegerichblättern,
letzterer mit Katerfett behandelt. Durch die Uebersetzungen arabischer Aerzte, in
specie des Avicenna, kam dann auch der Ignis per sicus, bei Avicenna eine Art
des Anthrax, in die medizinischen und chirurgischen Werke des Occidents und
wurde vielfach mit Ignis sacer zusammengeicorfen, z. B. von K. v. Megenherg
(„gtiot vor den nagenden sichtum, der ze latein ignis persicus heisst, und haizent in
etlich laien daz hellisch feuer"). Sehr genau unterscheidet Heinrich von 3Ionde-
ville in seiner Chirurgie (ed. Paget, p. 480—481) das Antonsfeuer und den Ignis
persicus, indem er ersteres ausdrücklich für identisch mit dem unter dem Namen
Herpes esthiomenos beschriebenen Brande der Extremitäten erklärt. Nach ihm wird
der Herpes esthiomenos, von dem er verschiedene Formen, darunter eine durch Er-
frieren und eine andere durch zu feste Verbände, unterscheidet, und von ivelchem
er sagt, dass er mit Schwärze der Glieder und schrecklichem Foetor, den er als dem
Leichengeruche identisch erklärt, einhergehe, in Frankreich „malum nostrae Dominae",
in Italien und Burgund „malum Sancti Antonii", in der Normandie „malum Sancti
Laurentii" und in anderen Gegenden in verschiedener Weise benannt. Dass Ignis
Sancti Antonii bis in das 16. Jahrhundert hin als Bezeichnung für Brand ge-
braucht icurde, beiccist das Feldarzneibuch von v. H. Gersdorf (1517).
Als älteste Epidemie des heiligen Feuers erscheint eine 857 am Rhein
grassierende, in den Annales Xantenses beschriebene Seuche, bei welcher
lutoxikationskrankheiten. 919
schwellende Blasen (vesicae turgescentes) auftraten und entsetzliche Fäul-
nis zum Abfallen der Gliedmassen vor dem Tode führte. An diese reiht
sich zunächst die schon erwähnte Pariser Epidemie von 951. Vom Ende des
10. bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts haben wir zahlreiche Epidemien
in verschiedenen französischen Provinzen und angrenzenden Gebieten, die
sämtlich durch brandiges Absterben der Glied massen sich charakterisieren.
"\\'ir finden grössere Epidemien in Guyenne, Angoumois, Perigord und
Limousin, wo 40 000 Menschen daran gestorben sein sollen, 996 in
Lothringen und Burgund, 1009 in Flandern, wo der Ignis sacer in Cambray
und Valenciennes mehrere tausend Menschen dahinraffte, 1042 in Lothringen,
besonders in Verdun, sehr verbreitet 1085 — 1089 in Flandern, Lothringen
und in der Dauphine, wo 1099 alle Befallenen gestorben sein sollen. 1109
treffen wir den Ignis sacer in der Sologne, ausserdem in der schon 1118
wieder affizierten Dauphine, 1128 und 1129 in Paris, wo die Zahl der
Opfer auf 14 000 angegeben wird, in Chartres, Soissons, Cambray, Arras u. a.
französischen Orten, 1141 in Paris, 1152 in den verschiedensten Teilen
von Frankreich ; dann erscheint das Leiden erst wieder nach einem hundert-
jährigen Intervalle 1245 in Poitou und 1251 in Marseille, wo der Name
Ignis infernalis gebraucht wird, dann wiederum 100 Jahre später in der
Bretagna (1347 und 1373), endlich 1530 in Paris,
Bei keiner Epidemie von Ignis sacer wurde die Ursache des
Leidens erkannt und selbst die Natur als Morbus cerealis wird nirgendswo
betont, obscbon allerdings eigentümliches Aussehen des Brotes z. B.
blutrote Färbung in der Epidemie von 1089 und 1125 Beimengung
von dunklem verderbtem Korne angegeben wird und ausserordentlich
häufig ein Zusammenhang mit dem Missraten der Ernte und dem für
die Mutterkornbildung überaus günstigen nassen Sommern, die z. B.
945, 1042, 1085, 1086, nach Fuchs sogar 16 mal unter 29 Ignis sacer
Jahren hervorgehoben wird, unverkennbar ist. Erst 1630, als in dem
im Mittelalter wiederholt von Ignis sacer heimgesuchten unfruchtbaren
Landstriche des Orleannais, der Sologne, w^elche der Landseuche die
französische Benennung Gangrene des Solognais verschaffte,
eine Yolkskrankheit mit den Erscheinungen des brandigen Abstossens
von Fingern. Zehen, Füssen, Händen, ja Armen und Beinen auftrat,
wies Thuillier der Vater nach, dass das Mutterkorn, dessen
Giftigkeit er bei Tieren experimentell darthat, die Ursache sei.
An diese Epidemie reihten sich in Frankreich 1650, 1670 und 1674
drei weitere, die konstant in der Sologne, aber auch in Guyenne. Gatinais
und vorzüglich in Montargis vorkamen. Auch bei der letzten Epidemie
sprach sich der von der Academie nach der Sologne gesandte Dodart
dafür aus, dass es sich nicht um Skorbut, sondern um Mutterkornvergiftung
handle. 1709 finden wir nach einem kühlen und nassen Sommer dasselbe
Leiden in der Umgegend von Orleans und Blois und gleichzeitig in einigen
Kantonen der Schweiz (Luzern, Bern, Zürich), wo auch schon 1674 und
1716 Ergotismus gangraenosus beobachtet wurde und wo jetzt Lang auf
die Beziehungen zu den Kornzapfen (Mutterkorn) hinwies. Eine 1710 in
der Dauphine und in Languedoc grassierende Epidemie, die in 400 Ge-
iieinden etwa 2400 Personen ergriff, ist besonders durch den Umstand
iierkwürdig, dass man in der Abtei des heil. Antonius zu Vienna in der
Affektion den Ignis Antonii wieder erkannte, zu dessen Bekämpfung dort
1089 der Orden des heil. Antonius gegründet war. 1747 war der Ergo-
tismus nach F ödere in der Sologne so heftig, dass ihm in kurzer Zeit
920 Theodor Husemann.
8000 Menschen erlagen. 1749/50 herrschte er in der Umgegend von Lille,
1764 in Arras und Douai, 1770 in Maine, 1770 und 1774 wieder in der
Sologne.
Nachdem Mulcaille 1748 nach seinen Beobachtungen im Gati-
nais und Read auf Grund seiner Studien in Arras das Mutterkorn
als Ursache der Brandseuche erwiesen, zeigte 1776 Salerne, dass
man durch das Mutterkorn auch bei Schweinen und Hühnern Brand
erzeugen könne. Nach der 1774 er Epidemie, welche die Französische
Akademie zu der Untersuchung der Gangrene des Solognais durch eine
aus Faulet, Jussieu, Saillant und Tessier bestehende Kom-
mission veranlasste, die ebenfalls zu der Ansicht gelangte, dass es sich
um Mutterkornvergiftung handle und zugleich die Brandseuche mit
der Ignis plaga von 945 identifizierte, vergingen 40 Jahre bis zum
Wiederauftreten derselben, das 1813, 1814 und 1816 in der Dauphine
(Dep. de l'Isere), Burgund (Dep. Cöte d'or und Saone-et-Loire) und
Bourbonnais (Dep. AUier) erfolgte. Eine weitere grössere Epidemie
wurde 1855 in den Departements Isere, Loire, Haute Loire, Ardeche
und weniger ausgedehnt im Departement du Ehone beobachtet.
Die Identität des Ignis sacer mit dem Ergotismus gangraenosus ist in
Frankreich seit 1776 allgemein festgehalten, während man ausserhalb Frank-
reichs sehr verschiedene Deutungsversuche machte, die 1834 Fuchs mit
grosser Gründlichkeit zurückwies. Die Mehrzahl dieser Deutungen fällt
schon deshalb weg, weil man Ignis sacer mit fieberhaften Krankheiten,
z. B. Bubonenpest (Pfeufer), Scharlach (Hensler), Pocken (Moore,
Krause), Erysipelas gangraenosum, Karbunkelfieber (Schnurr er) iden-
tifizierte. Nach den Schilderungen der Chronisten ist der Ignis sacer aber
ein Morbus tabificus, der nur ausnahmsweise rasch tötet. Gegen alle diese
Krankheiten spricht aber das mehr endemische, auf bestimmte Landstriche
beschränkte Auftreten, in denen noch jetzt Ergotismus gangraenosus vorkommt.
Dass es sich um einen Morbus cerealis handelt, beweist ausser den oben ge-
gebenen Daten auch der Umstand, dass die Krankheit meist in Hungerjahien
unmittelbar nach der Ernte, wo notorisch das Mutterkorn am giftigsten ist,
auftrat und dann in der Regel bis zum folgenden Frühjahre, wo andere frische
vegetabilische Kost zu haben ist, und nur wenn die Ernte zweimal hinter-
einander missriet, dauerte der Ignis sacer zwei Jahre. Dasselbe Verhalten
zeigen auch der Ergotismus gangraenosus und die Kriebelkrankheit, die
auch das mit dem Ignis sacer gemeinsam haben, dass die Kranken durch
Versetzen in bessere Nahrungsverhältnisse (im Ignis sacer durch den Aufent-
halt in Hospitälern der Klöster, die im Mittelalter allein Kornmagazine
hatten und denen in der Regel das beste Korn geliefert wurde) sich wesent-
lich besserten, aber bei Rückkehr in ihre früheren Verhältnisse sich wiederum
verschlimmern. Allerdings passt dies auch für sonstige Morbi cereales und
insbesondere für den Skorbut, für den die Brandseuchenepidemien des
18. Jahrhunderts vielfach gehalten sind und zu welchem möglicherweise
einzelne nicht genau beschriebene Epidemien des Ignis sacer gehören,
während andere, wie die häufig als die erste Ignis sacer-Epidemie bezeich-
nete Seuche des Gregor von Tours (551) mehr den Charakter der Dysenterie
mit einem kritischen Ausschlage haben. Sicher fehlt an den Ignis sacer-
Epidemien die für Skorbut charakteristische "Wundafi'ektion und die multiplen
Blutungen, und wenn man auch zugeben kann, dass man die beim Skorbut
zu beobachtenden Hauthämorrhagien und die daraus resultierende Färbung
mit dem oft beim Ignis sacer hervorgehobenen Kohlschwarzwerden der
Intoxikationskrankheiten. 921
Extremitäten und die skorbutischen Geschwüre an den Beinen mit Gangrän
verwechselt habe, so ist doch der beim Ignis sacer und der Gangrene des
Solognais in eklatanter Weise hervortretende trockene Brand, wodurch
einzelne Finger und Zehen, ja selbst ganze Extremitäten, oft ohne besondere
Reaktion und ohne Wissen des Kranken abstiessen, eine beim Skorbut nicht
vorkommende Erscheinung.
K. F. H e u s i n g e r u. a. haben für manche als Skorbut beschriebene
deutsche und belgische Epidemien vermutet dass es sich um Ergotismus
gangraenosus handelte. Am meisten Wahrscheinlichkeit hat dies für
eine 1483 bei Meissen und im Mansfeldischen herrschende Seuche.
Für die Mehrzahl deutscher Skorbutepidemien ist dies aber sehr
problematisch, weil in Deutschland die konvulsive Form des Ergotis-
mus an Stelle der gangränösen tritt, so dass reine Epidemien der
Brandseuche seit dem 16. Jahrhundert bestimmt nicht vorgekommen
sind. Solche lassen sich ausserhalb Frankreichs, wo der Ergotismus
gangi-aenosus am häufigsten im mittleren und oberen Stromgebiete der
Loire (nach Hirsch unter 47 Epidemien 4 mal), danach im Strom-
gebiete der Ehone (13 unter 47) herrschte, nur in Spanien und Russ-
land, wenige Fälle in England (1110, 1128, 1672) und in Mähi-en
(1856) nachweisen.
In Spanien wird schon 991 eine Epidemie von Ignis sacer erwähnt.
Noch 159U fanden sich dort in verschiedenen Eremitagen des heil. Antonius
mumifizierte Arme und Beine, welche die von Ignis sacer Befallenen dort
aufgehängt hatten. Dasselbe wird 1730 aus Yienne berichtet. In Ungarn
scheint in dem Mutterkornjahre 1770 für Skorbut gehaltene Brandseuche
im Zempliner Komitat geherrscht zu haben. In Russland trat die Brand-
seuche 1785 — 1786 im Gouv. Kiew, 1834 bei den donischen Kosaken und
1871 und 1873 im Gouv. Charkow auf.
In die medizinischen Lehrbücher gelangte der von Lang 1717
genau beschriebene Ergotismus gangraenosus zuerst durch Sau vages
nach der ausführlichen Darstellung von Salerne unter dem Namen
Necrosis ustilaginea. Bouchet (1762) unterschied zuerst drei
Stadien, von denen das erste durch Kriebelgefühl und Kontrakturen
an die konvulsive Form erinnerte und welche auch 1814 von Bordot
und Courhaut in ihren Beschreibungen festgehalten werden. Dass,
wie dies schon in den Ignis sacer-Epidemien vorkommt, neben trocknem
Brande auch feuchter Brand beobachtet wird, hat neuerdings (1855)
Barrier bestätigt. Wie sehr übrigens die Mortalität in diesem Jahr-
hundert heruntergegangen ist, lehrten namentlich Cour h au ts. Re-
sultate, wo von 300 Schwerkranken nur einer starb; auch die
wenigen günstigen Resultate der Aerzte dieser Zeit lassen sich nicht
mit den Mortalitäten des vorigen Jahrhunderts vergleichen, wo z. B.
1747 von 120 im Hotel Dieu in Orleans behandelten Kranken nur 5
am Leben blieben.
Für die konvulsive Form des Ergotismus sind besonders Deutsch-
land, Schweden, Finnland und Russland der Hauptsitz gewesen. Nur
ganz vereinzelt kam sie 1851 in Norwegen vor. Von 62 von Hirsch
gesammelten Epidemien aus der Zeit von 1581 — 1879 (darunter 8 an
bedeutender Ausdehnung) fallen 29 (davon 5 grössere) auf Deutschland.
Hier wurde die Krankheit zuerst von Balduinus Ronsseus nach
einer 1581 in der Parochie Hankensbüttel bei Gifhom im Lüneburgschen
922 Theodor Husemann.
vorgekommenen Epidemie, bei der 123 Personen in 2 Dörfern starben,
als morbus novus et inauditus beschrieben. Seine Beschreibung giebt
sowohl über die Art der Krämpfe als über andere Symptome, z. B.
die eigentümliche Bulimie und die als Nachkrankheiten auftretenden
Neurosen und Psychosen genaue Auskunft, gedenkt aber nicht des für
das Vorläuferstadium charakteristischen Kriebelns, welches der Krank-
heit in einer späteren Epidemie des 16. Jahrhunderts (1596), wo die
Seuche im Kölnischen, in Wittgenstein und Waldeck, Westfalen, Anna-
burg, Koburg und im Breisgau herrschte, den Namen Kriebelk rank-
heit verschaffte, der alle übrigen früher oder später aufgekommenen
Namen verdrängt hat.
So auch den Namen „das Kromma'-\ der ihr in Schlesien, wo sie 1589 und
1592 in der Gegend von Hirschberg, Schmiedeberg und Landeshut epidemisierte,
beigelegt wurde, ferner die Benennungen Hiebelkrankheit, Krampfsucht, Krimpf-
sucht, ziehende Seuche, Ziehe oder Ziehekrankheit, loie sie 1717 in der Lausitz und
noch gegenivärtig in Schiveden [Dragsjuka]^) heisst, Kornstaupe, Schwerenotskrank-
heit, Bauernkrankheit u. a. m.
Von den ausserordentlich zahlreichen Epidemien ist die der Jahre
1770/71 durch die musterhafte Schilderung der von Taube in der
Umgegend von Celle beobachteten, auf 600 Personen (mit 97 Todes-
fällen) sich erstreckenden und durch ihre bedeutende Ausdehnung die
hervorragendste. Besonders betroffen sind in den übrigen ausser Han-
nover und Braunschweig Westfalen, Schlesien, Sachsen, die Mark,
Holstein, Böhmen und in der neuesten Zeit Oberhessen, wo 1855/56
von 102 12 tödlich endeten und 1879, wo in 15 Ortschaften des
Kreises Frankenberg 500 Menschen erkrankt sein sollen.
Von 1600, wo die Kriebelkrankheit in Grünberg an der Wetter
herrschte, bis 1770 finden wir betroffen: 1648/49 und 1675/76 das Vogt-
land, besonders um Plauen, 1676 auch Westfalen, 1700 Thüringen, 1702
das Erzgebirge und Hankensbüttel, 1716/17 Sachsen, die Lausitz, Schlesien,
Mecklenburg und Schleswig-Holstein, 1718 im Lauenburgischen, 1722/23
Schlesien, Vorpommern und die Priegnitz, 1736/37 schlesische Dörfer am Zobten
und am Fusse der Sudeten und böhmische Ortschaften in den Herrschaften
E,eichstadt, Hohenelb, Wartenberg und Niemes (hier 600 Kranke mit 100
Todesfällen), auch im Amte Bodenteich im Lüneburgischen, 1742 die Gegend
von Neuruppin, Stendal und Havelberg. 1770 epidemierte die Krankheit
ausser in Celle auch in Hankensbüttel (303 Fälle mit 56 Todesfällen), im
Amte Rotenburg im Stadeschen, im Holsteinischen, wo einzelne Erkrankungen
seit 1767 alljährlich vorkamen, bei Naumburg, Ziegenhain, Wernigerode
und^Homberg in Hessen. Weiter trat das Leiden auf: 1805 (Neumark),
1815/16 (Potsdam, Pommern, Medebach und Dülmen in Westfalen, Rhein-
land), 1821 (Niederschlesien, Breslau), 1831/32 (bei Luckau und Finster-
münde in der Mark, Niederschlesien, Herford), 1845 (Darkehmen), 1851
(Stregow in Pommern), 1852 (Grossbodungen auf dem Eichsfelde). 1855/56
erkrankten ausser in Oberhessen auch 155 Personen (25 Todesfälle) in
Braunschweigischen Dörfern am Harze und am Sollinge, 30 Personen im
Lippischen (mit 7 Todesfällen), 11 im Waldeckschen, verschiedene in
Thüringen, Nassau und Bayern. 1867 kam Kriebelkrankheit in Auerbach
bei Stollberg (Sachsen), in 5 Dörfern bei Roding, im Regenkreise und in
Ostpreussen vor. In Schweden, wo schon 1709 und 1737 Erkrankungen
durch Brot vorkamen, fällt die erste Epidemie von Dragsjuka auf 1745/46
(Elfborgs Län).
Intoxikationskrankheiten. 923
In den späteren Epidemien sind am häufigsten ßlekinge (1747/48, 1787,
1796 97, 1802) und Kroneborgs Län (1755;56, 1786/87, 1800, 1802/3),
Dalarne (1802, 1813 und wahrscheinlich 1851) und Jonköpings Län (1763 —
1769, wo sie 1765 an 2000 und 1766 nicht viel weniger Erkrankungen
veranlasste, in den übrigen Jahren mehr sporadisch war, 1800 mit 40 Fällen)
betroffen, vereinzelt Carlshamn (1755), Wärmland (1787) und Nerike (1851).
Aus Finnland ist nur die grosse beschriebene Epidemie bekannt,
welche von 1840 — 1842 dauerte und 1800 Erkrankungen mit 200 Todes-
fällen einschloss. Auch der nasskalte Sommer 1843 brachte viel Mutter-
korn und Dragsjuka. Von 1841 — 1845 starben in Finnland 533, 1847 nur
1 2 Personen daran.
In Eussland fallen die ältesten Epidemien der dort als zlaga kortscha
(böser Krampf) bezeichneten Affektion auf die Jahre 1702 (Ostseeprovinzen)
und 1722 (Gegend von Moskau bis zur "Wolga in der Richtung zum Gouv.
Nishni Nowgorod). Grosse, auf mehrere Gouvernements ausgedehnte Epi-
demien herrschten 1804, 1832 und 1837. Die neuesten Epidemien kamen
1872 (Cherson und Tomsk), 1873 (Kiew und Nowgorod), 1881—1883
(Tomsk), 1887 (Kiew), 1888 89 (Kostrema und Wjatke) und 1894^95
(Perm) vor.
Die Epidemie von 1804 erstreckte sich auf Podolien, Minsk, die
Ukraine, "Wolhynien und Jekaterinoslaw ; die von 1832 umfasste die Gouverne-
ments Grodno, Kasan, Kostroma, Nishni Nowgorod und "Wiatka, die von
1837 diejenigen von Moskau, Petersburg, Tula, Twer und Wolhynien.
Ausserdem lieferten von 1832 — 1854 die Gouv. Charkow, Jaroslaw, Je-
katerinoslaw. Kaluga, Kiew, Minsk, Mohilew, Nowgorod, Samara, Simbirsk,
Smolensk, Taurien, Tschernigew und Wiatka, Epidemien, die namentlich in
den ersten Jahren dieses Abschnitts grosse Sterblichkeit zeigten. So starben
in Kasan (1839) 60 von 90 Kranken, in Wiatka (1837) 26 von 57, aber
auch 1863 64 finden sich in Kostroma 90 Todesfälle auf 590 und 1888
sogar 99 auf 221 Erkrankungen. Im Kreise Nolinsk im Gouv. Wjatka
starben 1889 von 2749 Kranken 535 Personen (19,42 Prozent).
Die besten Beschreibungen der Kriebelkrankheit im vorigen Jahr-
hundert gaben Caspar Schwenckfeldt, Serinc und in erster
Linie Taube (1782), in unserer Zeit Carl von Haartmann,
Theodor Otto von Heusinger und Krysinski (1888). Die
schon von Ronsseus, Taube u. a. geschilderten sekundären Psy-
chosen und Neurosen sind neuerdings von Siemens, Tuczek,
Reformatsci und Bechterew sowohl in pathologischer als in ana-
tomischer Hinsicht studiert worden. Die pathologisch-anatomischen
Veränderungen der parenchymatösen Organe beschrieb Winogradow
1895.
Das Vorkommen von Katarakt als Folgekrankheit konstatierte zuerst Feld-
inann 1742 in Xakel bei Nenrnppin, später wiederholt Taube, iieuerdings
Tephjeschin in Russland und Ign. Meier in Kronstadt (1857). Veisiegen der
Milchsekretien und Fehlgeburten tverden vereinzelt aus Brandseucheepidemien (1674,
1814) gemeldet.
Es hat recht lange gedauert, bis man allgemein das Mutterkorn
als Ursache der Kriebelkrankheit erkannte. Allerdings erklärte schon
Caspar Schwenckfeldt, dass die schlesischen Epidemien von 1587
und 1592 vom Korne herrühren, doch lässt er dieses durch Hagelwetter
von einer Manna aerea maligna seu rore venenato et acri befallen
und giftig geworden sein. Das aus dem Jahre 1597 stammende Gut-
924 Theodor Husemann.
achten der Marburger Fakultät über die Kriebelkrankheit bezeichnet
diese als „eine giftige ansteckende Schwachheit" und lässt ausser dem
heisshungrigen Genüsse des ganz warmen und übel ausgebackenen
Brotes auch saure Aepfel und Schwämme als Ursache zu. D r a w i t z
(1647) erklärte sie für eine Art des Scharbocks, und dieser Ansicht
schloss sich noch 1716 Georg Wolfgang Wedel an. Die ersten
Autoren, welche mit Bestimmtheit das Mutterkorn die Ursache der
Kriebelkrankheit erklärten, sind solche, zu deren Kenntnis gemischte
Ergotismusepidemien, in denen ein Teil der Erkrankten an
Gangrän, ein anderer Teil an Krämpfen litt, kamen. Solche wurden
schon im Mittelalter, besonders in Lothringen verschiedene Male (1089,
1129), ferner 1595 im Harze und 1609 und 1617 in der Schweiz be-
obachtet, worauf einerseits Brunn er, andererseits Lang ihre
Ueberzeugung von der richtigen Aetiologie der Kriebelkrankheit
gründeten. Zimmermann und Tissot vereinigten 1764 auf dieser
Grundlage zuerst Brandseuche und Kriebelkrankheit mit einander als
Formen derselben Intoxikation.
In Deutschland sind Kriebelseuche und ausgesprochene Brandseuche zu-
sammen nicht wieder beobachtet, wohl aber 1749 zu Bethune in Flandern
und 1845/7 in verschiedenen Gegenden von Belgien, 1787 in verschiedenen
Teilen Busslands, 1832 im Gouv. Nishni Nowgorod und 1863 im Gouv.
Simbirsk und 1881 im Gouv. Charkow. Dagegen ist das Auftreten von
Brandblasen auf der Haut der Finger und Zehen, Ausfallen der Haare,
Abstossen der Fingernägel oder selbst der ganzen Haut bei Kriebelkranken
in Deutschland häufig vorgekommen (z. B. ] 742 in Nakel, 1770 in der
CeUer Epidemie, in den neueren Epidemien in Lippe und in Oberschlesien),
ferner in Finnland (1840) und in den meisten neueren russischen Kriebel-
seuchen. Dass einzelne Brandseuchenepidemien zeitlich mit Kriebelseuchen
zusammenfallen, lehren die Jahre 1716/17 und 1770/71. Auf die That-
sache, dass das erste Stadium der Gangrene des Solognais durch das Vor-
kommen von Kriebeln und Muskelkontraktionen grosse Aehnlichkeit mit
manchen Fällen von Kriebelkrankheit zeigt, wurde erst 1847 durch K. F.
Heusinger hingewiesen.
Im 18. Jahrhundert verfochten besonders Johann Anton Scrine
(1736), von Bergen und Müller (1742), Cothenius (1755), später
Lentin (1771) und Taube (1782) die Abhängigkeit der Kriebelseuche
vom Mutterkorn, konnten aber keineswegs alle Aerzte überzeugen. Noch
1771 schrieben die Professoren Rudolf Augustin Vogel (Göttingen)
und L. E. Eschenbach (Rostock) Schutzschriften für das verleumdete
Mutterkorn. Die wunderbare Hypothese Linnes, die er 1742 durch seinen
Schüler Rothmann verteidigen Hess, dass das Ackerunkraut Raphanus
raphanistrum die von ihm Raphania genannte Kriebelkrankheit
verschulde, wurde schon 1765 von Magnus Anders "Wahlin widerlegt.
Der Ausspruch von Taube, dass nicht alles Mutterkorn, sondern
nur das vom Honigtau befallene und verdorbene giftig wirke, erklärt sich
aus der Unbekanntschaft mit der erst von Kühn (1856) experimentell
erwiesenen Thatsache, dass der 1836 von Leveille als besonderer
Fadenpilz (Sphacelia segetum) beschriebene Eoggenhonigtau
das erste Stadium des Pilzes ist, deren zweites, das Dauermycelium,
das Mutterkorn, das als Pilz schon 1765 von Otto v. Münchhausen
erkannt und 1789 von Franz v. Schrank als Ciavaria clavus
und 1816 von De Candolle als Spermaedia clavus beschrieben
Intoxikationskrankheiten. 925
wurde. Die Thatsache, dass die Sporen des dritten Stadiums von
Claviceps purpurea Tulasne, das als selbständiger Pilz unter
verschiedenen Namen (Sphaecia, Cordiceps) schon im Anfange des
19. Jahrhunderts beschrieben wurde, wiederum die Sphacelia liefern,
wiesen 1847 — 1849 unabhängig von einander Durien de Maison-
neuve und Kühn nach.
Dass auch Mutterkorn anderer Gramineen Kriebelkrankheit erzeugen
kann, wies 1736 Scrine für das Mutterkorn der Trespe, das auch bei den
neueren Epidemien in Oberhessen und im Solling (1856) im Spiele war,
und 1765 Wähl in für das der Gerste, die in Schweden mitunter reich-
lich Mutterkorn produziert, nach. lieber die angeblich durch Maismutter-
korn (Mais peladero), das an europäischem Mais nicht vorkommt, in
Columbien in den Provinzen Neyva und Mariquita vorkommende Krankheit
P e 1 a d e , die sich bei Menschen durch Ausfallen der Haare und Zähne,
nicht aber durch Konvulsionen oder Gangrän charakterisieren soll, ist seit
Eoulins Mitteilungen (1829) weiteres nicht bekannt geworden.
Die auffallende Thatsache, dass das Mutterkorn in Frankreich
nur Brandseuche, in Deutschland und den meisten Ländern Kriebel-
krankheit erzeugt, führte K. F. Heusinger 1846 auf die differente
Menge des i\Iutterkorns in französischem und deutschem Roggen zu-
rück, seitdem die Untersuchungen Koberts (1884) den Nachweis
lieferten, dass zwei verschiedene aktive Prinzipien, ein krampfer-
regendes Alkaloid, Cor nutin, und einer Getässkontraktion und Brand
eiTegender Stoff, von ihm Sphacelinsäure genannt, enthalten sind,
die wahrscheinlich unter verschiedenen Bedingungen mehr oder weniger
reichlich sich entwickeln, so dass bald die krampferregende, bald die
sphacelierende prävaliert.
In der Sologne tcird die Menge des Mutterkorns auf Vg oder ^4 angegeben, in
Celle war es 1770 nur Vsj dagegen in der Lausitz Vs? in- von Kriebelkrankheit heim-
gesuchten russischen Gegenden schicankte es 1889 meist zwischen 1 und 10 Prozent,
betrug aber in einzelnen Distrikten 27 Prozent, 1894 in Perm sogar 33 Prozent.
Jedenfalls wurde in Frankreich immer mehr Mutterkorn verzehrt als in Deutsch-
land, da man es immer weiter genoss und nicht bald von Regierungsicegen mit
mutterkornfreiem Getreide vertauschte. Die Peindarstellung der aktiven Mutter-
kornstoffe, mit der sich zuerst Wiggers (1831), später besonders Dragendoi-ff
beschäftigten, ist äusserst schwierig; nach Jacohj (1897) ist auch die Sphacelin-
säure ein Gemenge eines in sehr geringer Menge Graugrün des Kammes bei Hühnern
erzeugenden stickstofffreien Harzes mit einer inaktiven Säure.
Von einer medizinischen Behandlung des Mutterkornbrandes im Mittelalter
ist nicht die Rede, da selbst die Kranken in Klöstern und Kirchen Heilung suchten,
die Aerzte bei Erysipelas und Brand die Kranken an die Heiligen verwiesen
(Yj)erinan). In Frankreich überzeugte man sich schon 1747 — 1750, dass Amputation
der brandigen Glieder schlechte Resultate gab. Bei der Kriebelkrankheit galt im
16. Jahrhundert in Schlesien das Elsternfleisch als Antidot. Im 17. und teilweise
auch im 18. Jahrhundert war das von der Marburger Fakultät empfohlene Verfahren,
in einer imrgierenden KriebeUatwerge, einem Kriebeltheriak und einem Kriebelpulver
aus 12 Substanzen bestehend, allgemein gebräuchlich, Linne empfahl Alchemilla als
Specificum, Taube Brechmittel und stärkere Drastica, gegen die Krämpfe auch
(Jpium, GHepenkerl (1855) wegen des Tanningehaltcs Abkochungen der Früchte
von Rumex crispus.
Zur Verhütung der Ausbreitung und des Auftretens von epidemi-
schem Ergotismus sind in Deutscliland schon frühzeitig seitens des
Staates zweckmässige und wirksame Massregeln getroffen worden.
Zweifellos hat der Umtausch des stark mutterkornhaltigen Roggens
gegen alten, den schon 1722 die preussische Regierung in der Prieg-
926 Theodor Husemann.
nitz und 1770 die hannoversche im Celleschen verordnete, grösseres
Unheil verhütet, und zweifellos hat der seit 1770 in dem Celleschen
eingeführte Kartotfelbau dahin geführt, dass ähnliche Not, welche die
ausschliessliche Ernährung mit schlechtem Eoggen unmittelbar nach
der Ernte bedingte, nicht eintreten kann. Auch in Frankreich ist
der Rückgang der Eoggenkultur gegenüber dem Weizenbau von ent-
scheidendem Einflüsse auf das Aufhören der Brandseuche gewesen.
Jedenfalls sind diese Massregeln auch in erster Linie ungesäumt in
den Staaten zu ergreifen, in denen der Ergotismus sich bis in die
neueste Zeit erhalten hat, woneben die natürlich in Mutterkornjahren
unumgänglichen populären Belehrungen, die Verbote des Vermahlens
mutterkornhaltigen Roggens, polizeiliche Untersuchungen des Brotes
nur untergeordnete Bedeutung haben. Dass das Verbot des Ver-
mahlens mutterkornhaltigen Roggens nicht bloss unmittelbar nach der
Ernte, sondern auch noch im folgenden Frühjahr notwendig ist, ob-
schon ja die toxische Wirkung des Mutterkorns abnimmt, zeigt das
von Taube u. a. noch mehrere Montae nach der Ernte beobachtete
Vorkommen von Ergotismusfällen.
Pellagra (Rose von Asturien, Pseudopellagra).
Litteratiir. Ccisal, Historia natural niedica del principado de Asturias,
seguida de la descripcionc conoscida per el vulgo con el nombre de mal de la rosa,
Madrid 1762. — Frapolli, Animadversiones in morbum vulgo Pellagra dictum,
Mediolani 1771. — Odoardi, D^una specie particolare di scorbuto, Belluno 1776.
— Gherardini, Descrizione della pellagra, Milano 1780. — Stratnbio, De
Pellagra Obss., Mediol. 1786 — 1789. — Fanzago, Memoria sopra la pellagra del
territorio Padovano, Padova 1789. — Della Jioiui, Discorso comparativo sojyra la
pellagra etc., Venez. 1791. — Soler, Osservazioni med. prat. che formano la storia
di una particolare malattia, Venez. 1791. — Titius, Pellagra morbi inter Insubriae
agricolas grassantis pathol., Lips. 1793. — Cerri, Ami. universali di med. 1819,
Agosto, 188. — Menis, Saggio di topografia stat. med. della provincia di Brescia,
Brescia 1837. — Vfdlenzasca, Della falcadina, Venez. 1882. — Balardiiii, Della
pellagra, del gran turco quäle causa precipua di quella malattia, Ann. univ. di med.
1845, 1860. — Labtis, La pellagra investigata sopra quasi 200 cadaveri di p)ella-
grosi etc., Milano 1847. — Lombroso, Indagine chimico, fisiologiche e terapeutiche
sul maiz guasto, Milano 1872. — Husemann, Arch. f. exper. Pathol. 1878, IX,
226. — Lussana und Ciotto, Gazz. med. Lomb. 1880, 1. — Winternitz, Viertel-
jahrsschr. f. Dermatol. III, 151, 1876 (mit reichlichem Litteraturverzeichnis über
italienische Pellagraschriften). — Roussel, De la pellagre en France, Paris 1845.
— Scheiber, Vierteljahr sschr. f. Dermat. II, 417, 1875. — Felix, Sur la p)ro-
phylaxie de la Pellagre, Geneve 1882 (mit rumänischer Litteratiir). — Ty2*aldos,
Essai sur la pellagre observee ä Corfou, Athenes 1867. — Pfdtauf und Heider,
Wien. med. Jahrb. III, H. 8, 1889. — Tiiczek, Klinische und anatomische Studien
über die Pellagra, Berlin 1893. — JBelniondo, Riv. sper. 1893, XV, XVI. —
V. JRosen, Die Pellagra in Russland, Petersb. med. Wchschr. 1894, 1. — Vales,
Die Pellagra in Yucatan, Berlin 1896 (reichliche Litteratiir bei Hirsch, Histor.
geogr. Pathol. II, 2, 172).
Der zuerst aus Spanien unter dem Namen der Rose von Astu-
rien beschriebene, jetzt unter der italienischen Benennung Pellagra
(rauhe Haut, pelle agra, nach anderen Schälkrankheit, von palarsi,
sich häuten, abgeleitet) allgemein bekannte Symptomenkomplex, der
mit einer rosenartigen Entzündung der Haut beginnt, woran sich
Störungen der Verdauung und im Anschlüsse daran der allgemeinen
Ernährung und des Nervensystems schliessen, die sich bald als Krämpfe
oder Lähmung, bald als Psychosen (vorwaltend Melancholie, aber auch
Manie u. a.) äussern, ist schon 1791 von Della Bona und Soler
I
Intoxikationskrankheiten. 927
und neuerdings meder von AV. Winternitz (1876) als ein Konglomerat
verschiedener von einander unabhängiger Leiden, die unter dem Ein-
flüsse von Armut und Elend entstehen, aufgefasst worden. Die zweifel-
lose Thatsache. dass diese Vereinigung von Symptomen, die allerdings
nur beim ländlichen Proletariat vorkommt, sich ausschliesslich in
bestimmten Gegenden findet und sich hier seit dem Anfange des
vorigen Jahrhunderts an vielen Tausenden von Menschen gezeigt und
für diese verhängnisvoll geworden ist, lässt aber auf besondere lokale
Ursachen schliessen. Wie dies schon von dem ersten Autor über die
Rose von Asturien, Casal, 1762 behauptet wurde, ist dies der aus-
schliessliche oder doch fast ausschliessliche Genuss von Mais, und
zwar meist in Form des Maisbreis (Polenta der Italiener, Mamalija
der Rumänen, Criichade der Franzosen). Erst mit der Verallgemeine-
rung des Maisbaus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf
der iberischen und apenninischen Halbinsel auftretend, zuerst 1725
im Distrikte Oviedo in Asturien, in Italien vor 1750 in der Gegend
von Sesto Calende beobachtet, hat sie sich aus winzigen Anfängen
zu einer auf weite Distrikte des Maisbaus sich erstreckenden
Endemie ausgebildet, die in einzelnen Jahren zu einer wahrhaften
Epidemie sich steigerte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gritf sie auch
auf das südwestliche Frankreich, seit 1833 und besonders seit 1846
auf Rumänien über und verbreitete sich auch seit 1839 nach Korfu.
In weniger bedeutender Ausdehnung ist Pellagra auch in Bessarabien
in der Grafschaft Görz, in Friaul und in der Bukowina beobachtet,
so dass sie in Europa nur zwischen dem 43. — 46. Breitengrade vor-
kommt. Ausserhalb Europas ist sie nur in Yucatan und Campeche
konstatiert, wo man die daran Erkrankten als Emmaizados („mit Mais
vergiftet") bezeichnet.
In Spanien erstreckt sich das „Mal de rosa''^ oder „Mal roxa''' nicht allein
auf ganz Asturien, sondern auch auf den angrenzenden Teil von Navarra und auf
die Provinzen Zaragoza, Zamora, Cuenca u. a.; 1879 icaren in 56 Gemeinden von
Guadajara etwa 2 % der Bevölkerung pellagr'ös. In Italien trat das Leiden schon im
vorigen Jahrhunderte in der Lombardei und Venetien massenhaft, in Piemont iceniger
häufig auf und kommt gegenwärtig ausserdem in den Landesteilen Emilia, ToscatM,
in den Marken und Umhrien und in der Umgebung von Rom vor. Eine Zählung
von 1879 ergab in den genannten Provinzen 97405 Pellagröse, davon 40038 in der
Lombardei, 29385 in Venetien und 18728 in Emilia, wonach in den beiden ersten
Landesteilen etwas über 3 % der ländlichen Bevölkerung und etivas über 1 "/o
der Gesamtbevölkerung an Pellagra litten (in Emilia 2,36 bzw. 0,S5\). In der
Lombardei stieg die Zahl der Kranken von 1839 — 1856 von 20282 auf 38777 und
bis 1879 auf 40838. und ähnliche Steigerungen fanden in Venetien U7ul Emilia statt.
Am stärksten betroffen sind in der Lombardei die Provinzen Brescia (mit 3,12'* ^
Pell(tgröser), Cremona und Milano, in Venetien, Padova und Rovigo, und in
Emilia, Ferrara, P'uicenza und Parma. In einzelnen Distrikten sind über 5\ der
Bevölkerung pellngrös, so in Verolanuova (Brescia) 5,96, in Bad'ui (Rovigo) 5,46,
in Conselva (Padua) 5,2 affiziert. In Frankreich trat Pellagra zuerst 1818 in der
der Umgegend von Teste-dc-Buche und in der Ebene von Arcachon auf und ver-
breitete sich namentlich in der Gascogne und im Dep. des Landes, später auch in
geringerer Weise in anderen Teilen Frankreichs. In Rumänien ist die Moldau
mehr betroffen als die Wallachei, wo erst 1853 die ersten FäUe vorkamen; sämtliche
Pellagröse in Rumänien nicht ganz 0,1 % der Bevölkerung. In Corfu ist in 27
Uindlichen Distrikten 0,3 % pellagrös (Typaldos).
Die Auffassung des Wesens der Pellagra hat im Laufe der Zeit mannig-
fach gewechselt. In älterer Zeit stellte man das von Insolation (F r a p o 11 i)
abgeleitete Hautleiden in den Vordergrund und benannte danach das Leiden als
Pellagra, Risipola lombarda, Insolato di primavera, Scottatura solare (Titius ,
Gherardini). Schon 1789 erklärte Fanzago die Hautaffektion für
928 Theodor Husemann.
Nebensache und statuierte eine Pellagra occulta, bei der das Exanthem
fehle. Später leitete man dieses von gastrischen Störungen der Krankheiten
innerer Organe (daher die Namen Colica di fegato, Mal della milza, Colica
di primavera) ab und neuerdings hat man die Psychopathien als das Wesent-
liche der Krankheit hervorgehoben. Odoardi führte diese auf Kochsalz-
mangel in der Nahrung zurück und nannte sie Scorbuto alpino. Sehr all-
gemeine Verbreitung fand die zuerst von M e n i s ausgesprochene Ansicht,
dass es sich um eine Folge der unzureichenden Ernährung und der sonstigen
unhygienischen Verhältnisse (schlechte Wohnung, TJnreinlichkeit), also um
einen Morbus miseriae, wie Vaccari die Pellagra benannte, handle.
Diese Ansicht lässt aber, abgesehen davon, dass in anderen Ländern Elend
und Hunger keine Neurose und Psychosen nach Voraufgehen von Erysipelen
und Verdauungsstörungen erzeugen, die Thatsache ausser Acht, dass dicht
an den Herden der Pellagra sich Gemeinden finden, welche die gleichen
oder noch schlimmere elende Verhältnisse bieten, ohne dass Pellagra dort
herrscht. Jedenfalls waren die Verhältnisse der Landbevölkerung von Ober-
italien weder zu der Zeit, wo sich die Pellagra zuerst zeigte, noch später
ungünstiger als in den Abruzzen und anderen süditalienischen Landesteilen,
wo noch jetzt Pellagra nicht existiert.
Dass der Mais die Ursache der Pellagra sei, folgerte C a s a 1 aus der
später von Cerri (1819), Brierre de Beaumont u. a. bestätigten
Heilung des Leidens durch Ersatz der Maisnahrung durch Eleisch und
anderes Getreide. Den Einfluss des Polentakonsums betonte 1786 Strambio
unter Hinweis auf das Freibleiben der lombardischen Distrikte, wo Reis oder
Kastanien die Hauptnahrung bilden. Baiardini führte das schwere Be-
troffensein der Provinz Brescia auf den enormen Maiskonsum zurück, der nicht
durch die eigene Produktion gedeckt ist. Aehnliches zeigte 1842 Vallenzaska
für die Provinz Pielluno in Venetien ; auch sind analoge Erfahrungen in
Bezug auf den Distrikt Canavese in Piemont, auch Toscana und ausserhalb
Italiens auf Rumänien mitgeteilt. Schlagend ist die Mitteilung R o s e n s
(1896), dass in Podolien sporadische Fälle von Pellagra vorkommen, aber
stets e inge wanderte, Mamaliga essende Rum änen betre ff en,
während die vorzugsweise von Roggenbrot, Kohl und Gurken lebenden
Kleinrussen und Juden, obschon sie in schlechteren Verhältnissen leben,
von Pellagra frei sind.
Die Schädlichkeit der Maisnahrung wurde von Strambio, später
von Lussana u. a. auf den geringen Nährwert zurückgeführt, den
der Mais jedoch nur dem Weizen und einigen anderen Getreidearten,
nicht aber dem Eeis und den Kartoffeln gegenüber besitzt. Man be-
trachtet daher jetzt ziemlich allgemein verdorbenen Mais, wie das
schon Casal (1762), Frapolli (1771) und Gherardini (1780) ge-
than, als Ursache der Erkrankungen. Die hierauf sich gründende
Analogie mit dem, Ergotismus, aufweiche schon Strambio und neuer-
dings Hebra hingewiesen hat, führte schon 1823 Sette zu dem Hin-
weis auf die Wahrscheinlichkeit, dass Pilzbildung dabei eine Rolle
spiele. Baiardini zeigte 1845, dass auf muffigem Mais sich häufig
ein grünlich gefärbter Pilz („V er der am e") finde, der dem damit
behafteten Mais die Eigenschaft verleihe, bei Hühnern Abmagerung,
Ausfallen der Federn, Parese und andere nervöse Erscheinungen und
beim Menschen Verdauungsstörungen und Durchfall zu erzeugen. Dass
jedoch dieser von Cesati als Sporisorium Maydis beschriebene para-
sitische Pilz nicht als Ursache der Pellagra angesehen werden könne,
Intoxikationskrankheiten. 929
wiesen Rezzi. der das Yorkommen dieses Pilzes auch in den nicht
affizierten Distrikten Süditaliens betonte, und Lombroso (1869),
welcher die Seltenheit des Sporisorium und die Möglichkeit einer Ver-
wechslung mit dem ganz ungiftigen Aspergillus glaucus hervorhob,
nach. Man gelangt so konsequenterweise zu der anfangs ^iel be-
strittenen Theorie von Lombroso, dass nicht kranker, sondern erst
nach der Einsammlung einem Fäulnis- oder GärungseiTeger unter-
liegender Mais (verdorbener Mais, mais guasto) die Pellagra erzeugte.
Hierfür spricht vor allem, dass alle Momente, welche das Zustande-
kommen derartiger Prozesse begünstigen, auch für das Auftreten der
Pellagra sind, insbesondere das Mhzeitige Einernten noch nicht voll-
kommen reifen Konis, das Einsammeln bei feuchter Witterung und die
Aufbewahrung in feuchtem Zustande.
Besonders beweisend sind hierfür Daten ans Rumänien und Corfu. Xach
Scheiber schüttet in Rumänien die wallachische Bevölkerung das stets
in ungenügender Reife eingesammelte Welschkorn in Gruben, wo es- dumpf
wird und verdirbt, während die trotz ihres Polentakonsums von Pellagra
freien wallachischen Bauern in Siebenbürgen den Mais reif einernten und
in Scheunen und auf dem Boden trocknen. Nach Felix sind es besonders
die bergigen Gegenden, wo der Mais nur selten reif wird, Sitz der Pellagra.
In Corfu, wo wegen TJeberhandnahme der Weinkultur wenig Mais gebaut
wird, ist es nicht der einheimische, sondern der aus Rumänien importierte,
infolge der langen Seereise häufig verdorbene und schimmelige Mais, der
das Leiden herbeiführt (Ty pal dos). In Frankreich führt man das Nicht-
vorkommen der Pellagra in Burgund und in der Franche Comte trotz des
Genusses von PolÄita (cruchade) auf das vorsichtige Trocknen zurück,
ebenso in Mexiko. Von Interesse ist auch die von Tassani hervorgehobene
Gefährlichkeit des Quarantin-Mais, einer Sorte, die wegen ihrer späten Aus-
saat fast nie zur Reife gelangt; ferner das häufige Yorkommen in solchen
Gegenden, wo wegen unangemessener Bodenbeschafi'enheit öfters Missemte
eintritt, z. B. Canavese (Piemont), Dep. des Landes und die ausserordent-
liche Zunahme nach schlechten Ernten, welche zu frühem Einheimsen des
Welschkorns nötigten, z. B. in Italien 1755, 1801, 1815 — 17, 1822 23,
182930, 1838, 1853,54, 1873 74, in Rumänien 1892, wo gleichzeitig auch
die schwereren Formen (Psychosen), in grösserer Menge aufzutreten pflegen.
Die von Cuboni (1886) aufgestellte Ansicht, dass es sich nicht um eine In-
toxikationsh-ankheit, sondern um eine Mykose handle, indem ein eigentümlicher
Bacillus Maydis sich im Darmkanale ausserordentlich vermehre, ist 1887 von
Paltauf und Heider widerlegt. Weder das von Lombroso und Erla aus ver-
dorbenem Mais dargestellte Pellagrozei'n, das nach den Untersuchungen von Huse-
wann und Cortes ein Krampfgift einschliesst. noch das nach Paltauf und Heider
aus Einwirkung von Bacillus Maydis und Bacillus mesentericus fusciis auf Mais
entstehende narkotische Gift reichen zur Erklärung der Entstehung der Pellagra aus.
Gegen die Theorie der Pellagra als eine Intoxikation durch Maisgifte spricht auch
das wiederholte Vorkommen von sog. sporadischer Pellagra (Pseudopellagra
nach Bousttel) nach dem Genüsse von Mehlspeisen aus anderem Mehl nicht, da
nach Balaud auch hei feuchter Aufbewahrung anderer Mehlarten sich giftige
Ptomatine bilden. Dass durch Eimcirkung von Pilzen (abgesehen von Mutterkorn)
im Roggen giftige Stoffe entstehen können, zeigen die in Schweden über den sog.
0er rag. d. h. von Fumago und Cladosporium beschädigten Roggen, der Erbrechen.
Schicindel, Ziehen im ganzen Körper und vorübergehende Blindheit hervorrufen soll
(EHkson, Hetlbom).
Eine detaillierte Beschreibung der Pellagra gab schon Frapolli
(1771j. Ueber den Sektionsbefund sind die ersten ausführlichen Xach-
Handbucb der Geschichte der Medizin. Bd. II. 59
930 Theodor Husemann.
richten von Pietro Labus 1842 auf Grund von 200 in Mailand ge-
machten Sektionen gegeben. In der neuesten Zeit sind besonders die
Veränderungen des Gehirns und Rückenmarks der Gegenstand ein-
gehender Studien von Tuczek und Belraondo (1893) geworden.
Die Erkenntnis der wahren Ursache der Pellagra wird voraus-
sichtlich eine Beschränkung der Krankheit, die übrigens seit den
70 er Jahren in einzelnen Gegenden eine Abnahme erfahren hat, her-
beiführen. So ist sie infolge der Einiührung des Kartolfelbaues in
Bellamo seltener geworden. Die Hygieine wird aber, da die Mais-
kultur nicht zu beseitigen ist, durch die Einführung von geeigneten
Trockenanstalten viel Weh verhüten können.
Acrodynie.
lAtteratur: Hirsch, Hdb. der geogr. Pathol. 1883, II, 172 (enthält die voll-
ständige Litteratur). — Marquez, Gaz. hebd. de med. 1889, Nr. 6.
Mit dem Namen Acrodynie (Mal des pieds et des mains, Erytheme
epidemique) belegt man Massenerkrankungen, als deren pathognomische
Symptome Kriebeln und intensiven Nadelstichen ähnliche Schmerzen
in Füssen und Händen und später Erythem oder erysipelatöse Aus-
schläge an den Extremitäten mit nachfolgender Schrumpfung und
Pigmentierung der Haut, sowie Kontrakturen und Paresen bezeichnet
werden. Die vorwaltend bei der ärmeren Bevölkerung, namentlich in
Kasernen und Gefängnissen beobachtete Acrodynie trat zuerst 1827/28
und 1829 in Paris und anderen Orten Frankreichs auf, wo vor dem
Auftreten der Schmerzen und des Ausschlages, der mehrere Monate
anhielt, Erbrechen, Durchtälle, Konjunktivitis oft vorausgingen. In
späteren französischen Epidemien (1854 in der Krim bei 600 französi-
schen Soldaten, 1859 in Lyon, 1874 im Feldlager bei Satory fehlen
diese prodromalen Symptome, ebenso in der belgischen Epidemie von
1844/45 (in Gefängnissen von Brüssel, Gent und Namur), während sie
bei einer analogen Erkrankung französischer und mexikanischer Sol-
daten (1866 in Mexiko) vorkamen. Das Leiden hat offenbar Aehnlich-
keit mit Pellagra und Ergotismus (in Brüsseler Gefängnissen kam auch
vereinzelt Gangrän vor), noch grössere mit subakutem Arsenicismus,
wie eine 1889 in Hyeres bei 400 Personen beobachtete Vergiftung
durch den Genuss mit arseniger Säure gegipsten Weines iDeweist
(Marquez). Doch lehrt die enorme Ausdehnung der 1828/29 er Epi-
demie, die in Paris 1828 allein 40000 Menschen ergriff, dass Arseni-
cismus nicht im Spiele sein kann.
Lathyrismus.
TAtteratuv: B. Schuchardt, Dtsch. Arch. f. Min. Med. 1887, XL, 320. —
Husemann, Encycl. Jahrb. I, 432 (enthält sämtliche Litteratur). — Mingazzini
und Buglioni, Riv. di Freniatria 1896, XXII, 79, 233.
Durch den infolge Missratens des Getreides wochen- oder monate-
lang fortgesetzten Gebrauch der Samen verschiedener Arten von Platt-
erbsen (Lathyrus), besonders Lathyrus Cicera L. und Lathyrus Cly-
manum L., vielleicht auch von Ervum Ervilia L. in Form daraus
dargestellten Speisen oder damit versetzten Brotes entstehen eigen-
Intoxikationskrankheiten. 931
tiimliche Krankheitserscheinung-en, welche in einzelnen Ländern beim
Missraten der Cerealien in epidemischer Verbreitung beobachtet werden.
Die gewöhnlichste Form, die sich als spastische Spinalparalvse dai-stellt
und sich durch das Fehlen der Konvulsionen und des Kiiebelns vom
Ergotismus spasmodicus unterscheidet, scheint schon im Altertum be-
kannt gewesen zu sein, da in einer pseudohippokratischen Schrift von
epidemisch in Ainos nach anhaltendem Gebrauche von Hülsenfrüchten
als Nahrungsmittel aufgetretener Scliwäche in den Schenkeln die Eede
ist. Vermutlich sind die für Ergotismus spasmodicus gehaltenen mittel-
alterlichen Epidemien in Italien hierher zu ziehen, da bestimmte Er-
krankungen durch Platterbsen im 18. Jahrhundert aus Modena und
Toscana beschrieben sind und bis in die neueste Zeit hinein in Mittel-
und Süditalien (1847 in den Abruzzen. 1873 — 76 bei Neapel, 1880 und
1896 bei Eom, 1882 bei Parma) vorkommen. In Frankreich wurde
Lathyi'ismus im vorigen Jahrhundert in der Franche Comte. 1819
im Dep. Indre-et-Loire und 1829 in Loire-et-Cher beobachtet. Die
ausgedehntesten Erkrankungen Avurden 1829 — 1835 im Territorium
Sangor in Ostindien und 1856 — 1858 in Allahabad Tausende von Er-
krankungen (in einem einzigen Orte 2000 Fälle ausschliesslich bei
Eingeborenen) beobachtet. Eine grössere Anzahl Lathyrismusepidemien,
z. T. über 1000 Pei-sonen umfassend, sind 1860 und 1882 83 von fran-
zösischen Militärärzten aus Algier mitgeteilt worden, wo die AflFektion
nach den als Djüben bezeichneten Lathyrussamen den Namen Djüben-
krankheit führte und ebenfalls nur bei Eingeborenen vorkommt.
Neben der spastisch-paralytischen Form (Lathyrisme meduUaire
spasmodique) kam in Indien und in Algier auch noch eine gangränöse
vor. Die Möglichkeit einer Mitwiikung von Mutterkorn ist aus-
geschlossen, da in den betroffenen Gegenden Indiens überhaupt kein
Korn gewachsen war und die Kabylen keinen Eoggen bauen.
Sehr genaue Beschreibungen des Lathyrismus spastico-paralyticus gaben
Bourlier (1883) und Mingazzini und Buglieni (1896). Die
chemischen Verhältnisse der Platterbsen, in denen nach Marie (1882)
mehrere giftige Alkaloide enthalten sein sollen, beürfen noch genauerer Auf-
klärung. Mehrmals sind auch Vergiftungen von Pferden und Schweinen
durch die in Frankreich als chiche, gesse oder charosse, in Italien als
cicerchia bezeichnete Hülsenfrucht vorsrekommen.
Milchkrankheit (Milk Sickness).
Litterutur: A report disease in Ohio. Med. Repository, Netc York 1812, XV,
92. — Coleman, Western Quart. Rep. 1822, I. 133. — Crookshattk\ Philad.
Journ. of Med. Sc. 1826, 252. — Graff, Amer. joum. of Med. Sc. 1841, p. 351. —
Philipps, Cincinnati Lancet, 1877. p. 130. — Gardner , St. Louis med. Joum.
1880. p. 288. — Kimmen, Vhdlg. des X. intemat. Congr., Berl. 1891, U, 5. Abtk.
p. 148. — Hirsch, Handh. der hist geogr. Path. 2. Bearb. Ahth. 11 p. 177 (mit
reicher Litteratur). — Schuchardt, Janus 1897, II, p. 537, 425 (vollständige
Litteraturüber sieht).
Die in verschiedenen Gebieten der Vereinigten Staaten von Nord-
amerika (Ohio, Missouri, Indiana, Illinois, Virginia, Kentucky, Tennessee,
Georgia und Nordkarolina) seit dem Anfange des 19. Jahrhunderts
bekannte Milchkrankheit (Milk Sickness) ist vielfach als eine infolge
Genusses giftiger Kräuter (Rhus Toxicodendron. Eupatorium ageratoides
u. a.) bei Rindvieh nach dem Weiden auf unkultiviertem und besonders
59*
932 Theodor Husemann.
sumpfigem Boden in gewissen Gegenden auftretende Intoxikations-
krankheit aufgefasst worden, die durch den Genuss der Milch und
daraus dargestellter Produkte (Butter, Käse) oder auch des Fleisches
der kranken Tiere auf den Menschen übertragen wird und in dieser
Weise früher alljährlich, ziemlich ausgebreitete, jetzt seltener und
beschränkter Erkrankungen herbeiführte. Der Umstand, dass die
Affektion ein Inkubationsstadium von 3 — 10 Tagen hat, die Thatsache,
dass die Verbreitung eine Zunahme der Schädlichkeit mit Sicherheit
annehmen lässt, indem kleine Mengen Fleisch der gefallenen Rinder
Schweine tödlich vergiften, deren Fleisch dann wieder auf Hunde, und
das dieser wiederum auf Bussarde tödlich wirkt, weist mit ziemlicher
Bestimmtheit auf eine Infektion durch niedere Organismen hin. Heu-
singer vermutete, dass es sich um Anthrax handle, weil das Leiden
vom Vieh besonders auf Malariaboden acquiriert werde, weshalb man
es in Amerika auch M o o r krankheit (Swamp disease) genannt hat;
doch ist es nicht bloss Sumpfboden, sondern jeder bisher nicht kulti-
vierte Boden, aus denen der Krankheitserreger aufgenommen wird.
Auch stimmt das Krankheitsbild nicht ganz zu dem Milzbrandfieber;
denn obschon die Hauptzüge, die Erscheinungen der Gastritis (daher
der mitunter für die Affektion benutzte Name Stomach Sickness) und
die langsame Rekonvalescenz identisch ist, kommt bei der Milk Sick-
ness niemals Milzbrandkarbunkel oder Milztumor vor. Auch sind ner-
vöse Erscheinungen, besonders Paralyse und Coma (daher die Be-
zeichnung Slows für einzelne Formen) und Zittern (daher der Name
„Trembles", der für die Krankheit der Tiere am gebräuchlichsten ist)
vorwaltend. Die erste Beschreibung des Leidens datiert von 1812,
später haben Coleman, Graff und Kimm eil genauere Nachrichten
darüber gegeben. Crookshank wies 1826 auf das Wasser als Träger
des Giftes hin, das auch direkt beim Menschen die Krankheit erzeugen
kann. Dass im Blute erkrankter Tiere niedere Organismen vorhanden
sind, haben Philipps und Hardner angegeben; doch spricht ersterer
von Spirillen und Sphärobakterien, letzterer vom Bacillus subtilissimus.
Namenregister.
Abadie-Leroy 556.
Abano s. Petras v. Abano.
Abbas, Aü 193.
Abbe 220.
Abdullab 325.
Abel 442.
Abelsdorff 451.
A.I)g1oti3 -l-i^
Abercombie 324. 520. 531. 687. 702. 720.
730. 731.
Abemethy 506. 509. 596.
Abüdgaard, P. C. 660.
Abrahamsoiin 368.
Abulcasim 656.
Abu AbdaUah Fachr ed-Din 194.
Abu AH ibn Zera 192.
Abu Ali Isa 193.
„ Dschafar Ahmed 193.
„ Hamid Nedscbib 194.
„ '1 Berakät Auhad 193.
.. Hassan Ibn en-Nefis 194.
Abul Kheir el-Hassan 193.
Abu Mahammed Abd el-Letif 194.
., Nasr Muhammed 193.
Achülini 15. 199. 216. 633.
Ackermann, J. F. 284.
Ackermann 554.
Acland 269.
Acosta 10. 572.
Actuarius 656. 658.
Adamkiewicz 306. 393.
Adanson 362.
Addisson 142. 554.
Adler 772.
Aeby 300. 306. 424. 549.
Aelianus 185.
Aetius 479. 620. 632. 713. 865.
Afanasieff 436.
Agatharchides 654.
Agnew 321.
Agricola 11. 15.
Agrippa von Nettesheim 13.
Agathias 754.
Ahlfeld 548.
Ahron 843.
Aicholtz 294.
AiHanos s. Aelianus.
d"Ajutolo 554.
Alapy 715. 716.
Alaymo 867.
Albani 227.
Albarran 715.
Albers 523. 530. 871.
Albert 221. 553. 714.
Alberti 277. 700.
Albertini 100. 507. 509. 626. 635. 636.
637. 644.
Albertus Magnus 656.
Albinus 248. 249. 289. 494. 595.
Albrecht, J. W. 275. 280. 549.
R. 664.
Aldini 362.
Aldrovandi 10. 11. 570. 657.
Alesander von TraUes 93. 479. 606. 615.
616. 631. 632. 654. 829.
Algeri 555.
Alibert 514. 531.
Alison 713.
Alkmaion 172. 174. 328.
Allan. R. 521.
Allen 320.
Alpini 10. 570. 663. 705. 761. 767.
Althoff 913.
Altomare 21.
Altomari 633.
Altschul 125.
Amand v. Buseck 5%.
Amatus Lusitanus 21. 483. 568. 569.
577.
Amici 220. 512.
Ammann 71.
Ammon, v. 526. 530.
Ampere 402. 584.
Amtrin 100.
Amr el-Dschähidh 192.
Anaxagoras 175.
Anaximenes 328.
Ancelett 699.
Andernach s. Witther v. A.
Anderson 447.
934
Namenregister.
Andral 137. 389. 515. 532. 622. 624. 626.
640. 698. 904. 905.
Andreae 289.
Andreas 44.
Andreasch 396.
Andreozzi 227.
Andriolli 58.
Andrews 321. 708.
Andry 652. 658.
Anguillara 10. 570.
Annesly 520. 531.
Anschütz 431.
Antomarchi 243.
Antonio Capedino 201.
„ di Padova 201.
Antyllus 865.
Apollonios 182—183.
Aquilonius 400.
Aranzio 235. 331. 482.
Aratos 183.
Arceo 30.
Archigenes 645. 865.
Arcolaui 481.
Ardern 704.
Ardoyno 582.
Aretaeus 478. 606. 615. 626. 631. 632.
656. 701. 751. 829. 865.
d'Argelata 199.
Argenterio 32.
Argutinsky 431.
Aristogenes 183.
Aristophanes 654.
Aristoteles 180. 191. 328. 631. 654. 664.
725
Arlt 150.
Armstrong 101. 522.
Arnaud 509.
Arndt 549.
Arnemann 506. 509.
Arnold 399. 549. 550. 553. 620.
Fr. 218. 274. 285.
Jul. 219. 523
I,' von Villanovä 1. 480. 582. 658.
Aron 731.
Aronsohn 432.
Arrhenius 472.
d'Arsonval 432. 441.
Arthus 440.
Aschoff 557.
Aselli 54. 216. 336.
Askanazy 551. 664.
Asklepiades 478. 631. 632. 865.
Astruc, J. 312. 506. 509.
Athenaeus Attaleus 183.
Athothis 159.
Attaulah 195.
Aubery 42.
Aubert 457. 850.
Auenbrugger 97. 98. 136. 606. 607. 618.
688. 639.
Auerbach 218. 688.
Aufrecht 625. 907. 908.
Augenio 21.
Anrelianus 656.
Autenrieth 116. 118. 128. 223. 364. 371.
677. 871.
Avenzoar 193. 632. 657.
Avery 708.
Aviceuna 193. 616. 713. 740. 760. 843.
Avila, Lovero de 211.
Azam 724.
Baader 118. 498.
Baas 636.
Babes 552. 557.
Baccelli 611.
Baccius 577. 594.
Bachtischua 192.
Backer 366.
Baco s. Roger.
Baco V. Verulam 49. 333. 486. 595.
Badham 621.
Baelz 551. 734.
Baer, K. E. v. 144. 216. 286. 319. 383.
512. 584.'
Baer en Sprung 825.
Baerwlnkel 731.
Baeyer 393. 439.
Baglivi 56. 61. 226. 347. 616. 795.
Baierlacher 728. 734.
BaUlie 141. 497. 508. 510. 623. 639. 645.
903. 904.
Baillou (Ballonius) 20. 619. 633. 857.
866.
Baüly 624.
Baker 915.
Baiardini 928.
Balaud 929.
Baidinger 98.
Balduzio 488.
Balfour 419. "
Ballantyne 558.
Ballhorn 104. 850.
Bamberger 550. 554. 623. 643. 644. 681.
699. 703.
Bancroft 663.
Bang 93.
Banti 558.
Baraban 551.
Barba 575.
Barbaro, Ermolao 10.
Barbato 238.
Barbeirac (Barbej^ac) 68. 617.
Barbette 489.
Barbosa 572.
Barclay 264.
Bard, S. 869. 870.
Bardeleben 221. 222. 224. 306.
Bardenheuer 714.
Barfurth 217. 550.
Barker 789.
Barkow 270. 290. 526. 530.
Baronio 616.
Barrere 496. 626.
Barrier 921.
Barry 608.
Bartels 552. 621.
Barth 110. 295. 478. 611. 623. 645.
Barthez 88. 313. 314. 362. 619. 620. 622
624. 625. 863. 875.
Namenregister.
935
Bartholin 54. 55. 68. 259. 260. 262. 338.
486. 655. 657. 795. 867.
Bartisch 31.
Bartoletti 69. 488. 634. 642.
de Barv 552.
Basch, V. 442.
Basedow 526. 531. 643. 731.
BasUius Valentinus 332. 333.
Bass 499.
Bassi 748.
Bassow 376.
Bateman 519. 531.
Bauchet 516. 531.
Bauer 391. 643.
Bauermüller 284.
Bauhin 272. 273. 277. 483. 574. 594. 698.
Baumann. E. 438. 471. 544. 587.
Baumes 109. 462. 464.
Baumgarten 549. 550. 552. 907. 908. 909.
Rfivpr otO
BaVle 137.' 514. 531. 617. 903. 904.
Baynard 101.
Bazzi 611.
Beard 644. 732.
Beau 643. 645.
Beanlieu 69.
Beaumont 376. 470. 682.
Beaumont s. Brierre de B.
Beaunis 725.
Becerra 234.
Becher 349. 461.
Bechterew 446. 923.
Beck 447. 554.
Becker, K. Fr. 388. 465.
„ 551.
Beclard 314. 366. 511.
Becourt 699.
Becquerel 388. 397. 465. 544.
Beddoes 108. 462.
Beer 450. 454. 627.
Beevor 446.
Behrens 864.
Behring 734. 878. 912.
Beigel 554.
Beitar. Ihn el 651. 664.
Bell 142. 266. 267. 356. 366. 500. 501.
506. 507. 508. 509. 511. 584. 719. 720.
Bell, F. Jefrey 224.
Bellingeri 366. 402.
Bellingham 636.
Bellini 53. 61. 239. 338. 588. 634. 646.
Belmondo 930.
Belon 10.
Benario 549.
Beueden 218. 660.
Benedetti 20. 30. 215. 481. 633. 706.
Benedictus 201.
Benedikt 724. 728.
Beneke 548. 549. 554. 600. 647.
Benivenius 697.
Ben(i)vieni 20. 31. 202. 483. 633. 6S4.
642.
Benkö 505,
Benuet 69. 489. 493.
Benvenuti 503.
Berends 128. 608.
Berengar v. Carpi 30. 200. 216. 229. 48L
633.
Berg 586. 869.
Berge 621.
Bergen, v. 275. 869. 924.
Berger 724.
Bergmann 578.
Bergmann, v. 719.
Beringer 284.
Berlin 252.
Berlinghieri 90.
Bemard, Cl. 325. 377. 407. 413. 423. 432.
433. 434. 441. 456. 469. 470. 544. 545.
585. 588. 683. 698. 699.
Bernard de Palissy s. Palissy.
Bernatzik 586.
Bernhardt 425. 728.
Bernheim 723. 725.
Bemouüi 270. 273. 578.
Bernstein 374. 424. 425. 429. 448.
Berres 296.
Berruguette 234.
Bert, P. 4.^.
Bertapaglia 201.
BerthoUet 389.
Bertin 638.
Bertoletti 772.
Bertrandi 243. 506. 509.
Bertuccio 198.
Berzelius 377. 378. 463. 464. 465. 466.
584. 597.
Bethe 454.
Beverwyck 486.
Bezold, A. V. 409.
., 424.
Bianchi 240. 499. 509.
Bihiena 240.
Bibra. H. t. 470. 544. 596.
BiChat 130. 217. 357. 362. 363. 510. 511.
513. 717.
Bickel 356.
Bicker 110.
Bidder 304. 377. 385. 387. 389. 465. 683.
699.
3idloo 248. 318. 498. 663.
Biedermann 428.
Biedert 624. 909.
Bielschowsky 451.
Biener 300.
Biermann 624.
Biermayer 527. 528.
Biermer 552. 610. 621. 622. 623. 627.
642. 879.
Bigelow 706.
Bilharz 551. 662. 663.
Billard 514. 530. 531.
BUlroth 385. 546. 551. 553. 695. 696.
Bils 246.
Bina^hi 550.
Binninger 490.
Binz 645.
Birch-Hirschfeld 549. 553. 555. 556. 908.
911.
Bird 520. 531.
Bischoff 216. 287. 383. 887. 388. 464. 465.
512. 726. 798.
936
Namenregister.
Biiimi 504.
Bizzozero 223. 549. 550. 551.
Black, Jos. 358.
., 462.
Blackley 622.
Blaes 261.
Blair 502.
Blanchard 551.
Biancaard 54.
Blaukaart 58. 256. 492. 493.
Blasius 490. 698.
Blaudin 315.
Blegny 70.
Bleuland 250. 501. 509. 529.
Bleuler 724.
Blix 411. 429. 448.
Bloch. M. E. 506. 509. 659.
„ I. 654.
Blondlot 376. 682.
Bloss 269.
Blum 554.
Blumenbach 90. 283. 363. 524. 656.
Blumentrost 318.
Boas 692. 695.
Boccaccio 755.
Boccangelino 761.
Bochdalek 300. 302. 553. 624.
Bock 556. 557.
Bock cfr. Tragus.
Bockhorn 553.
Bodenstein 42.
Bodington 912.
Boe s. Sylvius.
Boeckel 258.
Boecking 301.
Boeckler 275.
Boeckmann 111.
Boehm 824.
Böhmer 499.
Boerhaave 74. 75. 348. 502. 575. 596.
636. 668. 669. 672. 675. 677. 701. 709.
744. 833.
Bohn 59. 71. 341. 460.
Bohr 435.
du Bois-Reymond 144. 223. 370. 398. 403.
422. 424. 428. 453. 727.
Boisseau 511.
Bolk 221.
Bell 223. 450. 550.
BoUinger 547. 552. 557. 643. 907.
Bona s. della Bona.
Bonn 252. 254. 501. 508. 509.
Bonafede 570.
Bonagentibus, de 761.
Bondt 246.
Bonet 68. 492. 493. 494. 713.
Bonnet(us) 221. 306. 622. 623. 659.
Bonome 549.
Bonomo 69. 664.
Bont(ius) 69. 489. 803. 830.
Bontekoe 58. 247. 460.
Boot 69. 489. 493.
Borden 86. 87. 313. 314. 362.
Bordot 921.
Borel 489.
Borelli 53. 336. 338. 343. 344. 362. 374.
Born 221. 548.
Borsieri de Kanilfeld 100. 505. 509. 616.
Bosch 665.
Boschi 237. 485.
Bosscha 252.
Bostock 621.
Boström 550. 551.
Botallo 21. 22. 30. 235. 331.
Botkin 791.
Bottazzi 437. 443.
Bottoni 23.
Boubee 825.
Bouchard 423. 552. 555.
Bouchardat 544.
Bouchet 921.
Bouchut 732.
Boudet 625. 875.
Bouillaud 134. 444. 515. 531. 624. 638.
639. 678. 680.
Bouisson 313.
Bourgeois 70.
Bourgfuignon 551. 664.
Bourlier 981.
Bournet 620.
Boussingault 386. 389.
Boveri 218.
Bowditch 425.
Bowman, Sir WiU. 268. 418. 430. 435.
436. 685.
Boyce 557.
Boyden 261.
Boyer 516.
Boyle 59. 333. 341. 360. 460. 595.
Bozzini 707.
Brächet 655.
Brackenau s. Hock.
Braid 724.
Brand 378.
Brande 713.
Brandeis 557.
Brandis 91. 117.
Brandt 464.
Brassavola 22. 570. 577.
Braueil 748.
Brauer 551.
Braun 551. 600. 663.
Braune 223. 224. 305. 404. 431.
Bree 627.
Brehmer 600. 912.
Breisky 553.
Bremburg 317.
Bremser 526. 531. 659.
Brendel 499.
Brenner 728.
Brera 107. 731.
Breschet 314. 315. 317. 388. 465. 517.
531. 641. 642.
Bretonneau 137. 515. 531. 745. 798. 800.
863. 869. 872. 875.
Breuer 448.
Breus 553. 554.
Brewster 398. 399. 400.
BriauQon 611.
Bricheteau 874.
Brie, Jehan de 663.
Brieger 438. 471.
Namenregister.
937
Brierre de Beanmont 928.
Briffht 142. 520. 531. 642. 713.
Brinton 694.
Brissot 22. 215. 616.
Brittan 824.
Broca 444. 724.
Brodie 142.
Brodowski 556.
Broers 529.
Brondgeest 448.
Bronn 652. 660.
Brouardel 894.
Broussais 107. 133. 515. 531. 608. 618.
678. 680. 797. 904.
Browicz 549.
Brown, J. 105.
., ' ß. 218. 382. 425. 661. 677. 678.
718. 726. 744.
Brown-Sequard 418. 423. 441. 544. 545.
729. 730. 734.
B^o^\^le. J. 263.
Bruch 272. 273.
Brücke 144. 298. 398. 408. 409. 414. 430.
470.
Brunfels 10. 568.
Brunn. J. J. 273.
Brnnner 59. €8. 275. 278. 340. 460. 683.
924.
Bmno. G. 14.
Brnns 550. 551. 553. 707.
Brunschwig 30.
Bryden 826.
Bubnoff 549.
Buchheim ö85.
Buchholz 583.
Büchner 466. 472. 550.
Bndd 800. 801. 802. 825.
Buddeus 287.
Budge 306. 374. 399. 420. 446.
Büchner 83. 422. 507. 509.
Bütschli 218.
Büttner 509. 659.
Bufalini 864.
Buglieni 931.
Buhl 390. 550. 661. 801. 875. 908.
Buldsnvder 216.
Bulgetius 634.
Bunge 407. 439. 453.
Bunsen 396. 468.
Buonarotti s. Michelangelo.
Buonfiglioli 239.
Burch, G. 425. 451.
Burchardi 276.
Burchardt 664.
Bardach 116. 133. 222. 303. 304. 371.
471. 524.
Burkart 443.
Burkhard 273.
Burkhardt 273,
Burkhart 554.
Bume 703.
Bumet 490.
Bums 638.
Burow 549.
Bnrq 723.
Busch M9.
Buschan 643.
Bush, F. 688.
C (vgl. auch K).
Cabrol 312. 313.
Cadet 709.
Cadiat 315.
CaeUus Aurelianus 616. 632. 829.
qaiesalpinus 11. 12. 15. 226. 332.
Cagliostro 110.
Cagnati 18.
Cagniard-Latour 466.
Cairn 692.
Cajal, Ramon y 219. 222. 234. 447. 555. 720.
CaiUau 871.
Caldani 241. 356. 529.
Calzolari 570.
Camerarius 566.
Camman 611.
CampaneUa 15.
CampbeU 915.
Camper 251. 254. 497. 509. 849.
CandoUe s. de Candolle.
Cannanus 332.
Canstatt, K. 121. 537. 688. 691. 835. 864.
Capivaccius 687.
Capponi 237.
Caraka 652. 653.
Carcano 236.
Cardano 15. 33. 621.
Carl 81.
Carminati 358.
Carnevale 867.
Carpenter, TV. B. 419.
Carrichter 42.
Carriere 550.
Carro 104. 850.
Carswell 522. 530.
Cartesius s. Descartes.
Carus 116.
Casal 927. 928.
Casper 709. 714.
Cassehohm 279. 288.
Casserio 236.
Castellani 226.
Cato 655.
Catti 235.
Cavendish 358. 360. 362. 462. 578.
Caventou 586.
Cayol 622.
Cazenave 708.
Ceely 854.
Celli 551.
Celsus 478. 616. 631. 632. 655. 700. 701.
705. 829. 903. 918.
Cerri 928.
Cerutti 525. 528.
Cesati 928.
Cestan 620.
Cestoni 664.
Chalin de Vinario 755. 759.
Champier 18.
Chaptal 358.
Charas 577.
Charcot 553. 554. 558. 627. 710. 722.
725. 729. 730. 731. 732. 733.
938
Namenregister.
Charlton 489.
Charrifere 706.
Charron 13.
Cbauveau 334. 416. 423. 427. 433. 645.
907
Cheadle 864.
Chelius 525. 531.
Chenot 96. 766.
Cheselden 263. 506. 509.
du Chesne 42. 566. 567.
Chesneau 490.
Oheston 497.
Chevalier 512.
Chevreul .S61. 392.
Cheyne 93. 142. 789.
Chiarugi 102.
Chifflet 487. 493.
Chirac 62. 313.
Chittenden 394. 470.
Chladni 400.
Chomel 137. 514. 531. 639. 860. 868.
Chopart 357. 505. 509. 717.
Choulant 640.
Christensen 259.
Christisou 588.
Chrysippos 179.
Cicero 631.
Cieza de Leon 573.
Citois 915.
Ciucci 69. 706.
Civiale 706.
Clar 607.
Clark 611. 906.
Clarke 220. 726. 730.
Claudini 487.
Claudius 548.
Clausen 699.
Clauser 21.
Clusius s. de rEcluse.
Clausins 437.
Clausure 513.
Cleef 236.
Cleghom 832.
Clement 70.
Clementinus 21.
Cleti 867.
Cloetta 408.
Cloquet 516. 531.
Coats 407. 556. 644.
Coberus 69.
Cockburn 69.
Cogue 556.
Cohen, G. 625. 731.
Cohn, B. 624.
„ F. 547.
n 748.
Cohnheim 223. 545. 549. 550. 555. 624.
625. 906. 907. 908.
Cohnstein, Js. 448.
Coindet 586.
Coiter 482.
Colasanti 432.
Colden 868.
Cole 53.
Coleman 932.
Colin 906.
Collado 233.
CoUe 755.
Colledge 324.
CoUin 294. 603. 611.
CoUins 491.
Colombo 31. 201. 226. 235. 331. 482. 633.
Colomiatti 556.
Columella 747. 918.
Comparctti 242.
Concato 662.
Condamine, de la 846. 848.
Conil 551.
Concoreggio 199.
Condillac 88.
Conradi 498. 510.
Conring 42. 59.
Consbruch 523.
Constantinus Africanus 195.
Cooper, Astley 142. 520.
Cooper, W. 337. 531.
Copho 480.
„ IL 196.
Copland 626.
Copus 18. 215.
Corbien 702.
Cordus 566. 568. 569.
Comarius 215.
Cornarus 17. 18. 20. 567.
Comet 910. 911. 912.
CornU 550. 552. 554. 555. 557. 730.
Corona 582.
Corradi 480. 647. 763.
Corrado 662.
Correa 803.
Corrigan 622. 635. 639.
Cortes 929.
Cortesi 30. 488.
Cortesius 867.
Corti 400.
Corvino 755, s. auch Simon.
Corvisart 135. 1.%. 377. 514. 531. 607.
638. 639. 642. 682. 699.
Coschwitz 81. 280. 281.
Costa, da 643.
Cothenius 924.
Cotugno 100. 241. 713. 797.
Coudenberg 569. 570.
Councilman 550. 551.
Courhaut 921.
Courtain 208.
Courvoisier 698.
Conto 836.
Cowper, W. 263. 492.
Coytard 776.
Craanen 58. 247.
Craemer 910.
Craigie 521.
Cramer 399. 639. 647.
Crawford 359.
Creighton 790. 846. 847.
Creir, J. F. 634.
Cremer 440.
Creplin 660.
Cresse 310.
Creve 464.
Croc6-Spinelli 434.
Namenregister.
939
Groll 42. 44. 566.
Demme 910.
Crookshank 932.
Demokrit 328.
Crouviard 708.
Demokritos 174.
Cruikshank 267. 357. 709.
Demoor 447.
Crnise 708.
Demonrs 311.
CruveüMer 137. 314. 497. 518. 530. 618.
Deneke 827.
619. 624. 625. 641. 642. 694. 728. 730.
Denis 63.
731. 835.
Denonvülier 314. 315. 517.
Cuboni 929.
Dermont, E. 619.
Cullen 86. 89. 718. 744.
Derosne 586.
Cumming 398.
Cuneo 204.
Dervieux 611.
Desault 505.
Omningham 269. 826.
Descartes 49. 52. 333. 345. 400. 719.
Currie 101.
Descemet 311.
Curschmann 627.
Desormeaux 708.
Cusanus 645.
Despars 205. 258.
Cuvier 116. 372. 517.
Despres 611.
Cuynat 915.
Despretz 389.
Cybidski 442.
Dessenins 42.
Cvon, V. 409. 415. 441. 443. 448. 456.
Dettweiler 912. 913.
Czelkow 408. 427.
Deusing 255.
Czerniak 724.
Deventer 71.
Czerny 549. 696. 714.
Devl, van 512.
Czolbe 422.
Diaz 21.
Dickinson 447.
Da?a Chacon 30.
Dieckhoff 700.
Dale 576.
Diemerbroek 69. 254. 487. 617. 744. 7(
Dalton 386. 400. 463. 584.
Diesing 527. 531.
Dance 702.
Dietl 618. 680.
Daniel 504.
Dietrich 622.
Damlewsky 411.
Dienches 180.
Dapper 686.
Digbv 44.
Daremberg 606. 752.
Dimsdale 104. 849.
Dareste c48.
Diodor 739. 878.
Dariot 42.
Diogenes von Apollonia 173. 328. 631.
Darwin. Ch. 217. 381. 422.
Diokles v. Karystos 179. 615.
„ ' E. 624.
Dionis, P. 167. 310.
Davaine 551. 656. 748.
Dionysius 616.
Davidson 799.
Diosknrides 655. 725.
Davis 640.
Dittel 706. 707.
Davv 361. 463. 584.
Dittmar 415.
Dax" 444.
Dittrich 624.
De CandoUe 924.
Diverso, P. S. 20.
Dechambre 619.
Dodart 62. 919.
Deckers 247.
Dodoens (Dodonaeus) 10. 20. 484. 569.
Deckmann 277.
Dolaens o8.
van Deen 368. 412.
DöUinger 115. 116. 144. 216. 286. 3(
Degner 832.
584
Deidier 313.
Dömling 116.
Deijman 251.
Döring 42. 69. 858.
Deiters 385.
Doeveren 497. 508.
Dejerine 553. 730. 734.
Dogiel 407.
Dekhuvzen 223.
Donato (Donatns) 20. 633.
Delafield 556.
Donders 399. 412.
Delafosse 715.
DonzeUini 20.
Delamarre 729.
Domblüth 853.
Delboeuf 724.
Dorsey 320.
Delestre 514.
Donglas d. Ae. 264. 868.
Della Bona 926.
Dove 400.
Delle-Chiaje 529.
Doveren 250.
Delmas 313.
Doyon 456.
Delpech 313. 516. 531.
Dragendorff 588. 925.
Demarquay 550. 663.
Drawitz 924.
Demaury 377.
Drebbel 54. 337.
Demeny 431.
Drechsel 438.
Demme, H. 274.
Drelincourt 247. 634.
940
Namenregister.
Dreser 435. 437.
Driescli 217.
Drüner 218.
Dryander s. Eichmann.
Dubini 551. 662.
Dubois 231.
„ Ant. 314.
„ FranQ. Jacq. 21.
„ Jacques 207. 215.
„ Raphael 433.
Dubreuil 313. 825.
Dubreuilh 551.
Duchenne 553. 691.
„ G. B. 405. 721. 727. 729. 730.
731.
Dudgeon 646.
Dudith V. Horekowicz 704.
Dürck 557.
Duflos 588.
Duges 313.
Dujardin-Beaumetz 730.
Dulaurens 312. 313.
Dulong 389.
Dumas 383. 710.
„ C. L. 88. 313.
Dumeril 314. 315.
Dunott 320.
Dunus 657.
Dupuytren 141. 314. 516. 518. 531. 702.
703.
Duret 18. 483.
Dutrochet 218. 379. 683.
Dutt 653.
Duval 423. 555.
Duvemey 310.
Duvernoy 279. 280. 318.
Dybkowsky 408.
Ebbinghaus 452.
Eberhard 83.
Eberle 377. 682.
„ J. N. 376. 465.
Eberth 549. 550. 552. 619. 749. 801.
Eble 302. 597.
Ebner 298.
Ebstein 436. 549. 554. 712. 752.
Eckardt 550.
Ecker 272. 273. 286. 552.
Eckhard 292. 356. 404. 409.
de l'Ecluse 10.
Edinger 222. 692. 729.
Egbertszoon 251.
Egeberg 696.
Eglinger 273.
Ehrenberg 293. 512. 747,
Ehrenritter 295.
Ehrlich 219. 223. 427. 440. 472. 549. 552.
555. 720. 909.
Ehrmann 276. 518. 549.
Eichmann 213.
Eichstedt 551. 552. 664.
Einhorn 693.
Einthoven 627.
V. Eiseisberg 552.
Eisenhart 464.
Eisenmann 121. 275. 798. 835.
Elbogen 554.
Elliotson 621.
EUis 268.
Elsholtz 63.
Eisner 90.
Emmerich 21.
Emminghaus 864.
Empedokles 173.
Empis 904. 905.
Encelius 11.
Enders 217.
Eneden, van 724. 725.
Engel, J. 274. 302. 556. 624.
„ 790.
Engelhart 378.
Engelmann, Th. W. 430. 443. 450.
Ennemoser 118.
van Enschut 464.
Eppinger 549. 553. 556.
Epstein 551.
Erasistratos 182. 329. 477. 478. 615. 631.
632.
Erastus 42.
Erb 553. 725. 728. 729. 732. 734.
Ercolani 236.
Erichsen 733.
Erikson 929.
Erla 929.
Ernst 549.
Errard 239.
Eschenbach, C. E. 504.
C. G. 505.
L. E. 924.
Eschenmayer 118,
Escherich 552.
Eschricht 659.
de l'E(s)cluse 10. 569. 573,
d'Eslon 110.
Espel 708.
Esquirol 102. 234.
Estienne 208. 633.
Etschenreutter 594.
Ettmüller 58. 880.
Eudemos 180. 182.
Eulenburg 724. 728.
Euler 378. 399. 578.
Euryphon 175.
Eusta(c)chi 31. 216. 226. 229. 231. 249.
331. 343. 482.
Evagrius 754.
Evert 270.
Ewald, J. R. 445.
„ E. 448. 449.
„ 685. 688. 692. 693. 695.
Ewart 620.
Exner 400. 445. 453.
Eyerel 96.
Eysson 256.
Fabricius 275. 499. 659.
„ ab Aquapendente 177. 236. 249.
332. 335. 687.
Fabricius v. Hilden 70. 484. 657. 830.
Faivre 645.
Namenregister.
941
Falconer 582.
Falcticci 202.
Falkenberg 289.
Falloppio 216. 229. 231. 331. 698.
Fano 437. 440. 443.
Fantoni 354. 499.
Fanzago 530. 927.
Farabenf 314. 315.
Faradav 463. 584. 726.
Farr 825.
Farre 519. 531.
Fattori 242.
Fanchard 102.
Fauvel 621. 640.
Favre 391.
Fechner 401. 451.
Fedele, Fort. 22. 71.
Feldmann 923.
Felix 929.
Ferdinand! 487.
Fernandez 573.
Fernel 15. 32. 207. 633. 667. 697. 829.
Ferrari da Grado 203.
Ferrein 311. 313.
Ferri. Alf. 30.
Ferrier 446. 449. 719.
Ferro, Pasc. Jos. 96. 104. 108. 850.
Feser 547.
Feuchtersieben, E. v. 128.
Fewster 849.
Fichte 113.
Ficino, M. 13. 15.
Fick, A. 391. 400. 411. 417. 427. 430. 431.
433. 442.
Fick, F. L. 523.
Filatow 877.
Filz 700.
Finaly 841.
Finger 553.
Finke 96.
Finkler 432. 827.
Finsen 660.
Fioravanti 42.
Fischer 276. 549. 552.
Emil 439.
„ J. L. 498.
J. M. 295.
„ Otto 431.
Fisher, J. D. 611.
., J. 708.
Fizes 313.
Flachsland 524.
Flajaui 643.
Flatau 734.
Flechsig 222. 446. 553. 729.
Fleiner 690. 691. 695.
Fleischl 431.
Fleischmann 124. 524.
Flemming, P. 440.
W. 218. 220.
277. 300. 549. 550. 554.
Flemyng 83.
Flourens 366. 420. 448. 511. 584. 718. 719.
Flower 321.
Foyer 101.
Fluctibus 8. Fludd.
Fludd 44.
Flückiger 586.
Flügge 552. 558. 911.
Foä 550.
Fodera 366.
Fodere 919.
Foerster 451. 548. 556. 557.
Foesius 17. 18. 567.
Foglia 867.
Fohmann, Y. 285.
Fol 218. 548.
Folchi 529.
Folius 343.
FoUi 240.
Fontana 357. 583.
Fontanus 488.
Fönte 487.
Fontecha 866.
Fonteijn 251.
Forbes 142. 321. 519. 609.
Ford 321.
Foreest (Forestus) 20. 21. 484. 658. 761.
858. 866. 880.
Forel 724. 725. 735.
Forli, Jacopo da 199. 200.
Formey 128.
Forster 471.
Fortezza. G. 201.
Forti 490.
Fothergill 93. 100. 506. 507. 509. 582.
860. 868.
Fourcault 825.
Foiircroy 108. 378. 462. 464. 698. 709.
Fournier 729.
Fovet 595.
Fowe 524.
Fowler 583.
Fracastoro 741. 756. 761. 774. 775.
Fracassati 237. 239.
Fraenkel 435. 552. 619. 641. 709. 749. 911.
B. 906. 907. 909. 910. 911. 913.
Fraentzel 643. 644. 909.
Fragornard 314.
Franco 31. 705. 706.
Frank, J. P. 96. 99. 100. 103. 505. 527.
582. 607. 621. 694. 701. 713. 716. 864.
Frank, Jos. 108. 625. 644. 699.
Frangois-Frank 442. 445.
Frankland 391.
FrapoUi 927. 928. 929.
Fraunhofer 512.
Freind 59.
Freire 841.
Fremy 470.
Frenkel 729.
Freri(^hs 145. 387. 393. 464. 468. 470.
683. 698. 730.
Fresenius 597.
Freud 724.
Freund, W. A. 623.
Frey, v. 407. 427. 429. 442. 448. 623.
„ 0. 421.
Freyer 707.
Friedlaender 552. 619. 908.
Friedlowsky 296.
942
Namenregister.
Friedreich 553. 610. 640. 644. 646. 699.
725. 729. 730. 731.
Frisch 552. 646.
Fritsch 404. 444. 719.
Fristedt 586.
Frobenins 619.
Frohse 221.
Frommann 730.
Froriep 218. 527. 536. 728.
Fuchs, Casp. Fr. 623.
Fuchs, C. H. 121.
,, J. F. 286.
„ L. 10. 18. 568.
,, S. 450. 456.
., 215. 526. 531. 630.
919. 920.
FiirbrinVer 221. 252.
Fürst 624.
Fürstenberg 664.
Fürstenheim 708.
Fürth, V. 442.
Fütterer 556.
Funke 410. 430.
Gabuccini 663.
Gad 417. 429. 441. 443.
Gaertner 442.
Gaffky 552. 749. 801.
Gäfiki 193.
Gairdner 623.
Galbiati 854.
Galeazzi 642.
Galen 176. 177. 185. 190
478. 615. 616. 622. 630
637. 645. 654. 656. 666. 698. 739
752. 760. 829. 842. 917.
Galilei 333. 646.
Gall, F. J. 295. 357. 718.
Galli 227.
Gallini 364.
Galvani 109. 241. 361. 362. 401. 578. 726
Garbe, R. 653.
Garbo 199.
Garcia da Orta s. Orta.
Garcia Carreras 234.
Garnier 860.
Garretson 321.
Garrod, A. H. 419.
Garson 269.
Gaskell 443.
Gassend 48.
Gasser 294. 718.
Gassner 110.
Gaston 918.
Gatti 848. 849.
Gaub 86. 87.
Gaultier de Claubry 799.
Gauss 374. 398.
Gautier 91. 438. 471.
Gautier d'Agoty 250.
Gavarret 139. 389. 515.
Gaylord 557.
Gay-Lussac 463. 584.
Geber 332.
de Geer 664.
329. 330. 345.
632. 633. 634.
751.
Gegenbaur 221. 306.
Geigel, A. 645.'
„ 610. 640.
Geiger 587.
Gelle 313.
Gemma 484.
van Genderen-Stoort 450.
Gendrin 515. bm. 640. 641. 644.
Gendron 800.
Genga 239.
Gennari 501. 509.
Genth 600.
Gentile da Foligno 200.
GeofiFroy 580.
Geoffroy St. Hilaire 517. 630.
Georgius Sanguinaticius 190.
Geppert, A. J. 434.
Gerarde 570.
Gerdes 556.
Gerdi s. Zerbi.
Gerhard v. Cremona 196.
Gerhard 799.
Gerhardt, C. 610. 620.
623. 625. 732. 864.
(Philad.) 625.
Gerlach 219. 598. 906. 907.
Jos. 385. 720.
Gersdorff 30. 918.
Gerszdorff, H. v. 213.
Gescher 506.
Gescher, van 509.
Gesner 11.
„ C. 15. 42. 570.
Geuns 623. 687. 833.
Gherardini 927. 928.
Ghini 570.
Ghisi 868. 869.
Giachino 215.
Giacosa 438.
Gianella 495.
Gianuzzi 221. 421.
Gibbes 557.
Giebier 841.
Gieffert 665.
Gietl 800.
Gilbert 15.
Gilchrist 419. 795.
Gilibert 505.
Gimbemat 507. 509.
Gimeno 232.
Giulio, di 555.
Girardi 241.
Girtanner 107. 677. 861.
Glaser 343.
T H 273
Glauber '460. 595.
V. Gleichen-Rusworm 660.
Glisson 69. 263. 338. 344. 353. 489. 493.
683. 697.
Glockner 551. 554.
Glossy 497.
Gluge 529. 530. 879.
Gmelin 111. 144. 375. 377. 463. 464. 612.
682.
Gockel 491.
Goclenius 44.
Namenregister.
943
Godman 320.
Goelicke 289.
Goelis 101. 871. 872.
Görres 119.
Goethe 399. 400.
Goetsch 910.
Goeze 506. 509. 659. 660..
Gohl 81. 101.
Gohorrv 42.
Goiffon 747.
Goldbeck 703.
Goldscheider 448. 729.
Golgi 219. 222. 244. 446. 551. 720.
Goll 305.
Goltz 445. 446. 448. 719.
Goluboff 626.
Goodsir 265.
Gordon 264. 621.
Gorris, Jean de 18.
Gorter de 86.
Gorup-Besanez 466. 468. 470.
Gosselin 315.
Gotch 425. 429. 446.
Goulard 578. 583.
Goupvl 207.
Graaf, de 55. 255. 340. 347. 490.
Graff 932.
Graham 379.
Grainger, Edw. 267.
Eich. 267.
832.
Gram 555.
Gramann 44.
Grant 96. 779. 868.
Grapengiesser 726.
Graser 710.
Grassi 551. 662. 663.
GrauTogel, v. 125.
Graves, K. 142. 609. 619. 643. 703. 731.
790.
Gravesande 362.
Grawitz 549. 550. 553. 554. 557.
Greding 505. 509.
Green 556.
Gregor v. Tours 842. 843.
Gregorios v. Nyssa 190.
Gregory 89. 93.
853.
Gren 580.
Griepenkerl 925.
Grieselich 124.
Griesinger 410. 551. 553. 646. 661. 662.
721. 791. 793. 799.
Grill 652.
Grimaud 313.
Grimm 780.
Grisolle 618. 619. 620. 625. 640.
Grohmann 735.
Grosglik 715. 716.
Gross, F. 124.
., W. 124.
„ H. 225.
„ S. D. 522.
Grober, W. 296. 319.
Grubv 525. 531.
Grünfeld, J. 709.
Grünhagen 431.
Grützner 431. 436. 452. 724.
Gruithuisen 116. 706.
Grüner 100.
Gscheidlen 456.
Gsell 625.
Guainerio 481.
Gubler 551. 584.
Gudden 222. 446. 551. 553. 664.
Guensburg 557.
Guerin 826.
Guersant 619. 875.
Guevara 233.
Günther (Winther) v. Andernach 207.
Günther 552.
Guenz 501. 509.
Guericke 333.
Guibourt 586.
■Guidi 21. 207.
Guillaume 513.
Guillemeau 31.
Guillot 624.
Guislain 625.
Guldenklee 577.
Gull ö52.
W. 643.
GÜssenbauer 549. 550. 696. 700.
Gutbrod 644.
Gutknecht 553.
Guttstadt 540. 788.
Guy de Chauliac 209. 480. 664. 704. 755.
759
Guyon 706. 710. 711.
Guyot 513.
Gyldenklee 489.
Györy, v. 777.
Haacke 217.
Haase 303.
Habermann 438. 551. 553.
Hack-Tucke 724 (s. Tücke).
V. Hacker 553. 696.
Haeckel 217.
Haen, de 94. 100. 503. 510. 578. 579. 645.
726. 782. 796. 848. 860. 894.
Haeser 591. 607. 752. 794. 879. 888.
Haartmann 923.
Hagemann 433.
Hagenbach 273.
Hagenbut s. Cornarins.
Hagendorn 492.
Hahn 101. 714. 842.
Hahnemann 122. 581.
Haindl 302.
Haken 708.
Haidane 435.
Haies 351. 646.
Hall, Marshall 142. 367. 511. 719. 720.
Halla 552.
Haller, A. v. 85. 280. 300. 349. 362. 399.
423. 425. 456. 477. 499. 509. 578. 679.
5%. 634. 646. 698. 718. 726.
Halliburton 438.
Ballier 748. 824.
Hallion 442.
Hallopeau 555.
944
Namenregister.
Harn 55. 347.
Hamberger 351.
Hamburger 437.
Hamernjk 642. 644. 681.
Hamilton 550. 556.
Hammarsten 438. 440. 466. 470.
Hammond 724. 733.
Handyside 265.
Hankin 772.
Hannover 220. 384.
Hanot 554.
Hansemann 550.
Hansen 452. 552. 724. 749.
Härder 54. 68. 273. 491.
Hardner 932.
Harke 554.
Harlan 320.
Harles 699.
Harless 730.
Harley 663.
Harris 101.
Hartley 83.
Hartmann, Ph. J. 658.
„ K. 108. 128.
784.
Harvet 42.
Harvey, W. 45. 216. 260. 334. 347. 485.
606. 632. 634.
Hasenöhrl 96. 780.
Hasse 523. 530. 622. 625.
Hassenfratz 360. 361.
Hasson 702.
Hauptmann 63. 664.
Hauser 549. 550.
Hausmann 270.
Hautesierk 504.
Havelburg 841.
Hawkins 267.
Haworski 692.
Haycraft 334.
Hayem 223. 642.
Heatb 321.
Heberden 93. 519. 621. 731.
Hebra 150. 551. 552. 664. 864. 928.
Hecker, A. Fr. 117. 128. 508.
„ C. 632.
752. 758. 781. 846. 888.
Hecquet 62.
Hedbom 929.
Heekeren, van 507. 509.
Heger 450.
Heiberg 641.
Heidenhain 221. 433. 435. 452. 683. 699.
724.
Heider 929.
Heim 128. 552. 724. 864.
Heine 722.
„ J. V. 730.
Heineken 111.
Heinroth 101. 119.
Heister 257. 279. 280. 499.
Heitz 468.
Heitzmann 306. 550.
Helferich 704.
Heller, C. 525.
., J. F. 379. 466. 544.
Heller 435. 551.
Hellwig 214.
Helraholtz 144. 372. 388. 396. 397. 399.
400. 401. 415. 424. 450. 465. 470. 719.
Helmont, van 43. 339. 358. 361. 458. 486.
567. 574. 595. 621. 626. 669. 673. 687.
Hempel 303.
Henderson 639.
Henke 224. 291. 300.
Henle 151. 218. 220. 221. 274. 291. 382. 399.
524. 530. 531. 664. 681. 685. 745. 748.
Henneberg 391.
Henneguy 224.
Hennig 556.
Henniuger 275.
Henrici 287.
Hensen 221. 449.
Hensler 93. 848. 849. 920.
Herakleianos 183.
Heraklit 174. 328.
Herbst 217. 661.
Herder 853.
Hergt 825.
Hering, C. 125.
Ed. 407.
„ Ew. 443. 450. 454.
„ jun. 448.
223. 372. 400. 428. 431.
Herissant 687.
Hermann 391. 411. 424. 425. 428. 431,
449. 456. 683. 787. 790. 791.
Hernandez 15. 573.
Herodot 651.
Herold 524.
Herophilos 182. 329. 330. 477. 478. 631.
632. 645.
Herr, v. 675.
Herrera 866. 867.
Herrich 525.
Hertwig 217. 224. 287. 293.
Hervorden, Heinr. v. 594.
Hertz 623. 625.
Herz, M. 93.
Heschl 549. 553. 554. 555. 624.
Hess 451.
Hesse 587.
Hesselbach 284. 285. 526. 528. 531.
Heuber 284.
Heubner 553. 725.
Heuking 549.
Heurne(ius) 20. 21. 246. 487. 668.
Heurteloup 706.
Heusinger 283. 524. 528. 531. 798. 932.
K. F. 921. 924. 925.
Th. 0. 923.
Hewson 266. 320. 361.
Heyde, A. van der 70.
Heydenreich 792.
Heyland, E. M. 664.
Heymans, J. F. 429.
Heynsius 438. 645.
Highmore 263.
Hildebrandt 283. 270. 318.
Hildegardis 656. 657.
Hilden s. Fabriz.
Hildenbrand 96. 798.
Namenregister.
945
Hiltou 531. 661.
Himlv 117.
Hippokrates 362. 605. 606. 615. 616. 644.
653. 654. 658. 665. 693. 698. 700. 733.
738. 739. 751. 789. 828. 865. 878. 902.
^912.
Hippen 173.
de la Hire 399.
Hirn 433.
Hirsch, A. 477. 752. 769. 785. 879. 887.
888. 892. 893. 898. 900. 915. 921.
Hlrscliel 125.
Hirzel 274.
His 216. 220. 221. 222. 223. 224. 272.
273. 292. 404.
Hitzig 444. 719. 728.
Hjärue 596.
Hjelt 317.
Hlasiwetz 438.
Hlava 556.
Hobbes 50.
Hobeisch ben el-Hasan 192.
Hoboken 255.
Hobsou 324.
Hochstetter 298.
Hock V. Brackenau 213.
Hodgkin 520. 639.
Hodgson 519. 531.
Hoeohstetter 488.
Hoefer 69. 490. 493.
HoeÖer 617 (statt Wöllier zu lesen).
Hoeniirer 756.
van t'Hoff 437. 472.
Hoffbauer 101.
Hoffmann, Christ. Ludw. 97.
C. E. E. 272. 273. 305. 642.
Friedr. 77. 82. 100. 101. 348.
461. 471. 494. 502. 507. 578. 579. 595.
596. 646. 668. 669. 671. 677. 693. 694.
698. 795.
Hoffmann. Fr. A. 623.
J. M. 698.
K. E. V. 120.
509. 700.
Hofmann 223. 278. 510.
.J. M. 498.
Hofmeier 549.
Hofmeister 438. 470.
Hoheuheim s. Paracelsus.
Holl. 31. 298.
Holmgren 400. 450. 451.
Holschewnikoff 549.
Home 236. 266. 399. 504. 861. 869. 870.
871.
Honigmann 693.
Hook 54.
Hocke 337. 341.
Hooper 519. 531.
Hoom. van 71.
Hope 521. 530. 531. 6^5. 6:^9. 640.
Hoppe. F. 646.
Hoppe-.Sevler, E. 544.
„ ' F. 394. 395. 427. 434. 437.
4:38. 466. 468. 471.
Horaz 631.
Horekowicz 15.
Hom, van 336.
Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. II.
Hom, E. 128.
,. W. 729.
Hörne 246.
Homer 320. 522.
Homstein 549.
Horslev 446. 719.
Horst. "D. 68.
.. J. D. 489.
;; 488. 595.
Horwath 550.
Houel 518.
Houllier 18.
Houillier 483. 632. (HoUerius) 633.
Hourman 619.
Hoveden. Boger de 655.
Howard 466.
Howell 442.
Howship 519. 531.
Huard 646.
Huarte 15.
Huber 275. 499. 549. 653. 654. 655. 657.
662. 665.
Huchard 644.
Hueck 399. 400.
Huefner 395. 468.
Huenefeld 466.
Hueppe 552.
Huerthle 437. 442. 646.
Hufeland 91. 93. 108. 597. 640. 717. 724.
726. 864. 871.
Hughes 610.
Humboldt. A. v. 108. 362. 401. 463. 726.
849.
Humphrv 419.
Hunauld 311.
Hundt 213.
Hunt 442.
Hunter, J. 99. 102. 140. 141. 266. ;157.
358. 464. 497. 506. 507. 508. 509. 641.
687. 726.
Hunter, Will. 266. 500. 508. 509.
Huppert 4.38.
Huschke 116. 304.
Husemann 471. 586. 929.
Huss 513.
Husson 850.
Hutin 728.
Huxham 93. 503. 621. 744. 779. 789. 796.
860. 861. 868. 878. 915.
Huygens 333. 399.
Hypatus cfr. Georgius Sanguinaticius.
Hyrtl 296. 300. 331.
Jaages, de 412.
Jackson, H. 733.
Jacob, J. 647.
Jacobj 925.
Jacobson 549.
Jaeger 150. 749.
„ H. 900. 901.
Jaenisch 100.
Jaffe, M. 440.
Jahja Ibn ei-Batrik 192.
Jahn, F. 120.
Jaksch, v. 681. •
Janowski 550.
Janssen 54. 337.
W
946
Namenregister.
Janua, Nicolaiis de 201.
Jarjavay 314. 315.
Jarisch 549.
Jasolini 235.
Jaus 294.
Ibmilkahatib 755.
Jeckelmann 271.
Jee 605.
Jeifray, J. 268.
Jenner 103. 623. 745. 791. 799. 845. 847.
849. 850. 851. 853.
Jessen 213.
Jessenins 299.
Jesty 849.
Ilg 300. 301.
Immermann 892.
Ingenhouss 110. 361.
Ingrassia 761. 857. 858.
Ingrassias 234. 331. 482. 664.
Insfeldt 505.
Joachim 651. 652.
Joerg, Ed. 621.
Johannessen 862.
Johannicius 192.
Johne 902. 907.
Johnson 639. 685.
Johnson, G. 713.
Johnstone 870.
Jelly 652. 653. 728. 732. 733.
Jones 106. 556.
Jordanus 776.
Jores 554.
Jortsitz 551.
Joseph 551. 556.
„ G. 645.
Jonbert 32. 33. 209. 312.
Jonx 513.
Isenflamm 504. 525.
Isidor V. Sevilla 195.
Israel 549. 556. 557.
„ J. 714.
Israels 476.
Itard 624. 626.
Juan, San 234.
Juergens 549. 555.
Jürgensen 619. 620. 647. 691.
Jukes 688.
Jnlianos 183.
Juncker 81. 846.
Jung 51. 555.
„ C. G. 272. 273.
Junta 591.
Jurine 108. 871.
Jussieu 920.
Juvenal 631.
Ivanchic 706.
Kaau-Boerhaave 81. 318.
Kadgi 298.
Kaempf 96. 678.
Kaempfer, E. 69. 581.
Kafka 125.
Kahlden, v. 551. 553. 554.
Kahler 553.
Kaiserling 554.
KaUius 221. 223.
Kallisthenes 181.
Kanilfeld 93.
Kanold 766.
Kant 112.
Kantakuzenes 755.
Karg 557.
Kartulis 551.
Katona 864.
Katzenelsohn 476.
Katzenstein, G. 433.
Kaufmann 63. 427. 549. 553. 556.
Kaviratna 652.
Kaye 18. 891.
Keen 321. 734.
Keill 62.
Keith 704.
Kelch 524.
Kelynack 556.
Kennedy 611. 790-
Kentmann 11. 483.
Keppler 333. 342. 646.
Kepser 776.
Kerckring 254. 492. 493. 634.
Kerner 118.
Kernig 791.
Kerschensteiner 911.
Kessler 111.
Ketham 213.
Ketly 730.
Key '317.
Kicit Siuzi 322.
Kielmeyer 115. 116. 584.
Kieser 116. 117. 118. 216. 303.
Kilian 553.
Kimmeil 932.
King 63.
Kircher 63. 747. 764.
Kirchheim 282.
Kirkes 641.
Kitasato 552. 749. 772.
Klaproth 463.
Klebs 220. 538. 547. 548. 649. 551. 552.
553. 554. 555. 556. 619. 699. 877. 906.
908.
Klemensiewicz 553.
Klemperer 692. 693.
Klencke 905.
Klinkosch 300.
Klob 824.
Klohss 730.
Kluge 111.
Knackstaedt 501. 509.
Knape 289.
Knapp 399.
Knoch 663.
Knoll, P. 456. 545.
Knox 265.
Kobert 471. 549. 752. 925.
Koch, K. 427. 547-552. 619. 710. 734.
749. 769. 770. 826. 827. 828. 877. 908. 912.
Koch, P. 695.
Koch, W. s. Copus.
Kocher 553. 698.
Koehler, J. V. H. 508.
Kölliker 153. 216. 220. 222. 223. 224.
236. 287. 380. 383. 385. 416. 447. 548.
549. 553.
Kölreuter 21.
Namenregister.
947
Könior, A. 451. 452.
.,^'273.
Koeppe 437.
Koerte 700.
Koester 550.
Kointos 185.
Kolb 556.
Kolbe 438.
Kolisko 553.
KoUmann 224. 273.
Konrad v. Megenberg 918.
Konstantin s. Constantinus.
Koperuikus 14.
Kopho s. Copho.
Kopp 124.
Kopsch 224.
Koranyi 437. 714.
Kortum 905.
Kossei 438. 549.
y. Kostanecki 548.
Koster 251.
Koyter 31. 237. 255.
Krabbe 660.
Krafftheim 15. 20.
Kratzeustein 101. 726.
Kraus 549.
„ L. A. 621.
Krause d. Ae. 304.
d. J. 305.
;; K. Ch. 303.
., W. 224. 399.
752. 920.
Krawkow 549.
Krehl 442. 643. 658.
Kreidl 448.
TCrf^tz 00*4- o^i
Kreyssig il9. i28. 638. 639. 640. 641.
Kriege 640.
Kries, v. 429. 442. 451.
Krönlein 549. 700. 704.
Krogius 711.
Kronecker 430. 442.-
Kronthal 224.
V. Krümmel 714.
Knikenberg 129. 441. 549. 608.
Krysinski 923.
Kudrewetzky 554.
Kuechenmeister 551. 654. 655. 657. 660.
661. 665.
Küchler, F. 652.
Kühn 924. 925.
Kühne 221. 390. 393. 394. 425. 428 ff.
450. 466. 470. 544. 628. 699.
Külz 414. 438. 439.
Kürschner 644. 645.
KÜSS 276.
Küster 698. 714,
Kuettner 791.
Kundrat 548. 553.
Kunkel 461.
Kunrath 44.
Kupifer 216. 224. 277. 305.
Kussmaul 548. 55:3. 646. 688. 691. 695.
696. 719. 725. 730. 731. 733.
Kutner, R. 709. 715. 716.
Kyber 549.
Kyper 668.
Laboulbene 556.
Labus, P. 930.
Lacerda, de 841.
Lachenal 273.
Lackerbauer 557.
Ladereze 513.
Ladmiral 250.
Laennec 135. 136. 514. 530. 531. 605.
607. 603. 609. 617. 618. 620. 621. 622.
623. 624. 625. 626. 627. 638. 639. 640.
641. 642. 661. 904. 905.
Lafleur 551.
Lagrange 360.
Laguna 18. 21. 211. 567. 570. 706.
Lallemand 313.
Lallier 551.
Lammert 763. 778. 830.
Lamure 313.
Lancereaux 478. 556. 557. 731.
Lancisi 69. 100. 226. 239. 347. 501. 509.
608. 634. 635. 636. 637. 642. 718. 744.
747. 795.
Lande 731.
Landi 201.
Landois 442. 731.
Landouzy 553.
Landry 730.
Lane 267.
Laug 919. 921. 924.
Langenbeck, K. J. M. 285. 525. 531.
Langenbuch 698.
Langendorff 443.
Langer, K. 297. 302.
Langerhans 556.
Langhans 549. 634. 869. 906. 907.
Langley 356. 442. 447.
Langlois 442.
Langrish. Browne 83.
Lannoix 855.
Lanquetin 551.
Lantermann 222.
Lanzoni 492.
La Peyronie 313. 347.
Laplace 360. 361. 389.
Laredo 569.
Lasnier 71.
Lassaigue 377.
Lasseigne 682.
Latz 294.
Laudon 551.
Laulanie 432.
Launois 315.
Laurence 625.
Lauth 275. 276.
Lautter 96.
Lavater 110.
Laveran 551. 749.
Lavoisier 108. ^42. 358. 359. 360. 389.
462. 578. 584.
Lawtance 320.
Lawson, H. 224.
Lazarus, J. 624.
Leared 645.
Lebecq 747.
60*
948
Namenregister.
Le Bei 437.
Leber 294. 300. 550.
Lebert 555. 556. 557. 622. 623. 731. 904.
906.
Le Boe s. Sylvius.
Lecanu 464.
Leche 317.
Le Clerc 314.
Le Dran 503. 509.
Lee, R. 521.
531.
Leeuwenlioek 53. 54. 216. 248. 337. 343.
347. 485. 658. 747.
Lefevre 432. 688. 916.
Legallois 357. 389. 717.
Legendre, Fr. L. 620.
Lehmann, C. 433.
C. G. 376. 387. 390. 466. 544.
600.
Lehmann, L. 600.
470. 552.
Lehr '644.
Leibniz 82. 348.
Leichtenstern 550. 551. 662. 887.
Leidy 661.
Lejumeaii de Kergaradec 611.
Lemery 574. 576.
Lemmeus (Lemnius) 20. 23.
Lemos 18.
Lenhossek 297.
Lentilius s. Linsenbahrt.
Lentin 93. 504. 924.
Leon, Andres de 233.
Leonardo da Vinci s. Vinci.
Leoniceno, Nie. 10. 17. 18. 201—203. 215.
Lepecq de la Cloture 871.
Le Pois (Piso) 69. 488. 493. 830.
Lerch, J. U. 544.
Lersch 591. 596.
Leube 686. 691. 693. 694. 695. 710.
Leubuscher, R. 537.
Leuchs 376. 470. 682.
Leuckart 385. 551. 657. 658. 659. 660. 661.
Leupoldt 119.
Leuret 377. 682.
Leusden 549.
Leutert 549.
Leveille 924.
Levestamm 790.
Levison 870.
Lewi 606.
Lewinsohn 443.
Lewis 551. 580.
Lewis, T. R. 663.
Lewy, B. 644.
Levden, v. 145. 448. 553. 627. 641. 704.
725. 729. 730. 731. 734. 910. 913.
Libaviiis 15. 42. 458. 566. 567.
Licetns 655.
Lichtheim 622. 910.
Liebeanlt 723. 724. 725.
Lieberkühn 289. 293.
Liebermeister, K. v. 432. 600. 642.
Liebig, J. v. 152. 378. 381. 386. 387. 463.
465. 466. 544. 584. 597. 682. 710.
Liebig, G. v. 434. 624.
Liegeois 315. 725.
Lieutaud 100. 312. 496. 510. 699.
Limbeck, v. 552.
Linacre 17. 18.
Lindestolpe 582.
Lindsay 824.
Lindwurm 799.
Linne 578. 579. 581. 583. 617. 659. 747.
925.
Linsenbahrt 492.
Lippmann 424.
Lischwitz 276.
Lister, Martin 491.
Lister 68. 547. 587. 707. 748.
Listing 398. 399. 400.
Litten 549. 624. 792.
Littre 501. 509. 633.
Littre 658. 752. 794.
Litzmann 553.
Liveing 864.
Livingston 324.
Livon 456.
Lizars 265.
Lobelius 10. 570.
Lobstein 275. 276. 517. 518. 530. 532.
Locatelli 107.
Locke 52. 443.
Lockhart 324.
Loder 283. 318. 508. 530. 726.
Loeb, J. 454.
Löbl 642.
Löffler 552. 749. 877. 878.
Loeseke 503.
Loew 439.
Loewit 549. 550. 552.
Loewy, A. 435. 443.
Lombroso 929.
Lomm(ius) 20. 483.
Longet 307. 403. 443. 449. 627.
Lordat 313. 314.
Lorrain 641.
Lorry 354.
Loss 490.
Lotichius 488.
Lotze 152. 416. 451.
Louis 100. 137. 139. 515. 531. 618. 626.
642. 717. 798. 799. 904. 905.
Louyer - Villermay 701.
Lowdham 69.
Lower 54. 63. 263. 341. 490. 634.
Loyseau 488.
Lubarsch 549. 558. 911.
Lubimoif 549.
Lucae 303. 304.
Luceus 616.
Luchsinger 426.
Luciani 449.
Luckjanow 549. 557.
Ludwig, K. 274. 361. 388. 405. 415. 423.
427. 435. 456. 466. 470. 510. 644. 646.
682. 683.
Ludwig, Chr. Fr. 498.
„ Gottl. 100. 500.
„ D. 575.
E. 438.
Lücke 551.
Lugo, de 575.
Lugol 586.
Namenresrister.
949
Luschka 305.
Lnsitanus s. Amatus u. Zacutus.
Lussana 401. 420. 449. 928.
Lustig 558.
Liistrulano 198.
Lutz 551.
Lux 125.
Lykos 185.
Lynch 106.
Lyon 793. 839.
Lyser 261.
Macalister 269.
Macbride 89.
Mach, E. 448. 453.
Maepherson 803.
Madelung 700.
Mader 620.
Maertens 221.
3Iagati 69.
Magendie 140. 356. 364. 399. 414. 418.
443. 511. 584. 718. 719. 720. 726. 824.
Mager 435.
Maggi 30.
Magnus 361. 388. 463. 464. 465.
Mahot 640.
3Iaier 553. 554. 555.
Maingault 875.
Major 63.
Maisonneuve 925.
Malacame 241. 529.
Malassez 551.
Malbranc 688.
Malfatti 117. 860.
Malherbe 708.
Mallory 549.
Malmsten 664.
Malouin 860. 868.
Malpighi 54. 237. 253. 337. 338. 339. 345.
347. 485. 487. 626. 634. 636. 663. 688
718.
Maly 393. 396. 470.
Man, de 864.
Manardo 10. 15. 20. 22.
Manec 320.
Manfred! 63.
Manget 68. 492. 494. 903.
Mannagetta 294.
Mannheim, P. 643.
Manningham 796.
Manson 551. 668. 769.
Manzoni 762.
Maranta 10.
Marc 707.
Marcard 596. 600.
Marcello Donato 484.
3Iarcellus Empiricus 656.
Marchand 466. 548. 549. 550. 551. 553. 554.
Marche 70.
3Iarchetti 238. 489.
Marchettis 54. 55. 343.
Marchi 555. 720.
Marchiafava 551.
Marescot 208.
Marev 334. 416. 424. 429. 431. 433. 544.
646.
3Iarianini 402.
Mariano Santo 30. 705.
Marie 550. 553. 931.
Marinos 183. 184.
Marcotte 333. 399.
Marius v. Avenches 842.
Marjolie 706.
Markus 108. 117.
Marquez 930.
Marshall Hall s. Hall.
Marteau d. Grand vilüers 868.
Martianos 183.
Martin 440.
., X. 443.
Martinez 234.
Martins 644. 646.
Marty 641.
Mascagni 243.
Mason 730.
Massa 20. 202. 229. 633.
Massari 237.
Massaria 20. 761.
Mastalier 101.
Mathis 696.
Matignon 773.
Matthioli 569.
Mattioli 10. 22.
Matterstock 703.
Matteucci 402. 425. 726.
Mattuschka 300.
Mauriceau 70.
Maxwell 44. 399.
May 275.
Mayeda Eiotakou 322.
Mayer, A. F. J. K. 217. 528.
„ F. X. 296.
„ J. Chr. A. 500.
„ J. J. 300.
„ J. R. T. 381. 396.
„ Mich. 295.
„ Sigm. 300.
„ 288. 399.
Mayo 267. 521.
Mayor, Fr. J. 611.
Mayow 342. 349. 358.
Mayr 864.
Mayzel 218.
McCleUan 320.
McClintock 320.
Mo Donneil 619.
McGillavry 221.
McKendrick 419.
Mead 93. 582. 766.
Meckel, J. F. (L) 133. 216. 287. 371. 501.
509. 522. 532.
Meckel, H. 527.
„ Ph. F. Th. 275.
„ 223. 399. 530.
„ V. Hemsbach 711.
Medicus, Fr. C. 90.
Meek'ren, van 490.
Meerderwort, van 322 (s. Pompe).
Megenberg s. Konrad.
Mehnert §0ß.
Meibom 279.
Meier, Ign. 923.
Meissner 272. 273. 380. 385. 302. 3'Jo.
400. 401. 415. 424. 455. 586.
950
Namenregister.
Meister 550.
Melchior 711.
Meletios 190.
Melnikow 554.
Menche 662.
Mendelsohn, A. 622. 623.
Menis 928.
Merbacli 607.
Mercado 21.
Mercatus 866.
Mercuriale 18.
Mering- v. 690. 692. 695. 700. 715.
Merkel, Fr. 224.
Fr. S. 292.
L. 408.
220. 221. 224.
Merrem 696.
Mertsching 549.
Mery 70. 312.
Mesmer 109. 452. 723.
Mesue d. Ae. 192.
Metschnikoff 440. 550. 827.
Metzger 275. 498.
Metzner 440.
Meyen, F. J. F. 526.
Meyer, G. H. 221.
„ H. V. 431.
H. 685.
J. 824.
„ Lothar 361. 388. 464.
„ Moritz 728. 730.
„ 553.
P. 734.
Meyerstein 424.
Meynert 445. 553. 554. 720.
Mezler v. Andelberg 513.
„ Fr. X. 93.
Mialhe 376.
Michaelis 553. 647. 788. 869.
Michel 276.
Michelangelo 203.
Middeldorpf 551.
Middleton 868.
Mieg 273.
Mielicki 548.
Miescher 273.
-His 272.
-Rüsch 438.
Mignot 697.
Mignla 552.
Mihälkovics v. 222. 224. 297.
V. Mikulicz 552. 696. 704.
Millington 263.
Mingazzini 931.
Minkowsky 700.
Minot 321.
Mitscherlich 463. 465. 584.
Miyake 697.
Mnesitheos 180.
Moczutkowsky 792.
Moebins 728. 733. 735.
Moeli 734.
Moeller 911. .j,«^^'
Moenichen 261.
Mohr 525. 588.
Moinichen 489.
Moleschott 412. 420. 421. 435.
Moliere 667.
Molinelli 240. 355. 717.
Molinetti 238. 487.
Moll 724.
Monardes 10. 570. 573.
Mondeville 205. 208. 918.
Mondiere 699.
Mondino 197. 227. 240. 480.
Money 521.
Moniez 551.
Monneret 621.
Monod 549. 728.
Monro 264. 521. 531. 780.
Montagna 201.
Montagnana 480. 633.
Montague 104. 847.
Montaigne 13.
Montana de Monserrat 211,
Montanus 18. 23.
Montaux 505.
Monte, de 18. 633.
Monteggia 107. 500.
Montfalcon 513.
Monti 551. 555.
Moore 442. 842. 920.
Moosbrugger 664.
Morat 456.
Morehouse 734.
Morejon 481.
Morel 70. 276. 557. 641.
Morgagni 97. 100. 241. 355. 495. 510. 606.
617. 620. 623. 626. 630. 635. 636. 637.
642. 644. 659. 694. 698. 699. 701. 713.
797.
Morganti 449.
Morian 548.
Morrison 324.
Morsiano da Imola 200.
Morton 69. 491. 586. 744. 830. 831. 859.
903.
Moscati 107. 243.
Mosing 625.
Mosler 551. 600.
Mosso, A. 435. 442. 452.
Most 857. 860.
Motschutkowski 729.
Moufet 664.
Moulin 53.
Mouquest de la Motte 70.
Moxon 556.
Mracek 642.
Müller, G. A. 494.
„ G. E. 452.
„ H. 399.
„ Joh. 129. 144. 218. 290. 364. 370.
399. 400. 419. 423. 451. 464. 465. 511.
512. 526. 528. 531. 536. 538. 584. 682.
683. 719. 721.
Müller, Moritz 124.
„ 223. 416. 924.
Muenchhausen, 0. v. 924.
Münz 286.
Münzinger 643.
Mulcaüle 920.
Mulder 256. 379. 422. 464. 468. 470.
Mumphry 558.
Mundella 15. 20.
Namenregister.
951
Mimk, H. 444.
.. J. 425. 440. 456. 719.
Muimik? 255.
Maralt 70. 273. 491.
Muratori 766.
Miirchison 782. 786. 789. 792. 799. 800.
MuriUo 2.S3.
Murray 580.
Mursinna 833.
Musculus 710.
Musgrave 89.
Musi 201.
Musschenbroek 726.
Mussis, Gabr. de 755. 758. 757.
Muvbridge 431.
Muys 248.
Xaegele 553.
Naegeü 748. 911.
Nagel, "W. 451.
., 222.
Nakagara Kiowan 322.
Nanni 240.
Naranowitsch 530.
Nasse 464. 465. 685. 910.
.. H. 375.
.. Chr. Fr. 129. 375. 525. 608.
Naunyii 534. 660. 697. 698. 712. 787.
Nauwerk 549. 550.
Navier 860.
Needham 55. 263.
Neelsen 910.
Negri 854 855.
Neisser 551. 552. 557. 749.
Nemesios v. Emesa 190.
Nencki 396. 438. 470. 471.
Nenter 81.
Netter 620. 641.
Neuberger 549.
Neumann, C. 580.
E. 440.
549. 550. 552. 553.
Neumeister 466. 470.
Newton 333. 399.
Neyt 218.
Nicephorus 755.
Nicoladoni 553.
Nicolai 275. 504.
„ E. A. 83.
Nicolaier 712.
Nicolo s. Regino.
Niemever. F. 623. 625.
./ P. 605. 610. 645.
Nietzky 83.
Nikander 665.
Nikiforoft" 550.
Niraier 700.
Nissl 222. 720.
Nitze 707. 709. 713. 714.
Nobili 402.
Nola 867.
V. Noorden 549. 693.
Normand 551. 664.
Nothnagel 554. 623. 725. 733.
Nuck 247.
Nus.'ibaum 435. 703.
Nymann 864.
Obeid Allah 193.
de rObel s. Lobelias.
Obermeier 547. 792.
Obermeyer 749.
Obersteiner 724.
O'Brien 790.
Obrzul 556.
Oddi 23.
Odier 108.
Odoardi 928.
Oechv 300. 524.
Oefele. v. 651. 652. 656.
Oellacher 218.
Oersted 374. 584. 726.
Oertel 647.
Ogston 551.
Oken 115. 116. 118. 216. 584. 677.
Olbers 110.
Oliver 442.
Olivier 100.
Ollinger 570.
Ollivier 730.
Oppenheim 733.
Oppolzer, J. V. 149. 703. 730.
Or(e)ibasios 190. 479. 616. 654. 656. 665.
685.
Orfila 141. 588.
Ormerod 642.
Orosi 585.
d'Orta, Garcia 10. 572. 803.
Ortega 581.
Orth 284. 549. 553. 554. 556. 842. 907.
908.
Osann 597.
üseibia, Ibn Abu 192.
Oser 688.
Oslander 528.
Osler 551.
Ostertag 558.
Ostwald 453. 454.
Othraeus 915.
Otterbourg, J. L. 127.
Otto 290. 303. 471. 523. 528. 530. 534.
588.
Oudemans 586.
Oviedo s. Femandez.
Owen 236. 531. 661.
Ozanam 632. 645. 646.
Paauw 246.
Pacchioni 56. 347.
Paciui 244. 401. 513. 824.
Page 425.
Page 440.
Pagel 591. 636.
Pagenstecher 551. 662.
Paget 519. 551. 661.
Palfyn 71. 228. 258. 498.
Palissy, de 655.
Pallas 659. 661. 663.
Palletta 244. 530.
Paltauf 549. 550. 552. 553. 929.
Panaroli 486. 657.
Pancoast 320.
Pander 144. 216. 286. 319. 512. 584.
Panizza 242. 401. 420.
Pannwitz 913.
952
Namenregister.
Pansch 306.
Panum 413. 435. 548. 624. 863.
Paoli 553.
Paolo 215.
Pappenheira 377. 465.
Paracelsus 34. 332. 458. 565. 591. 595.
644. 647. 666. 723.
Pare 30. 208. 484. 606. 626. 645. 666.
706. 776.
Parisaniis 606.
Parish 320.
Parker 324.
Parkes 390.
Parkinson 733.
Parraenides 174.
Parona 662. 663.
Parrot 619.
Parry 519. 643. 731.
Partibus, Jacobus de s. Despars.
Paschettus 830.
Paschutin 545.
Passauer 787.
Passy 401.
Pastau V. 664.
Pasteur 437. 455. 466. 471. 472. 547. 710.
715. 734. 748. 749.
Paterson 334.
Patin 58. 667.
Paulet 920.
Panlicki 557.
Paulli 259. 261.
Paulus V. Aegina 479. 616. 632. 654. 656.
705. 865. 915.
Pauw 486.
Pawlik 709. 714.
Pawlow 421. 436. 694.
Payne 555.
Peacock 642. 644. 661.
Pean 696.
Pearson, A. 323.
850. 853.
Peaslee 704. 714.
Pechlin 68. 491. 634.
Pecquet 54. 260. 312. 313. 336.
Peiper 551.
Peirie 595.
Pekelharing 440.
Pelikan 790.
Pelletier 586.
Pelops 185.
Pelvet 642.
Pemberton 519.
Penada 500.
Pennock 799.
Penzoldt 695.
Percival 583.
Pereira, J. 586.
Peremescbko 218.
Pergens 450.
Perier 315.
Perl 550.
Perls 548. 549. 554. 555.
Perrault 62.
Perroncito 551. 662.
Pestel 511.
Petit, J. L. 100. 506.
„ M. A. 513.
Petit 135. 311. 509. 531. 797.
Petrarka 1. 755.
Petri 600. 911.
Petruschky 910.
Petrus V. Abano 656.
Pettenkofer, v. 390. 431. 467. 468. 469.
471. 472. 745. 801. 825. 826. 827.
Peucer 14. 42.
Peyer 53. 68. 278. 840. 490. 683.
Peyligk 212.
Pfaffl08. 402. 464. 726.
Pfannenstiel 549. 554.
Pfeffer 437.
Pfeffinger 275.
Pfeifer 551.
Pfeiffer 549. 552. 749.
„ R. 883.
Pfeizer 71.
Pfeufer, v. 151. 920.
Pfeuffer 681.
Pfitzner 549.
Pfiüger, E. 361. 388. 404. 426. 431. 432.
435. 469. 471. 727.
Philipps 932.
Philistion 179.
Philotimos 180.
Phöbus, P. 527. 622.
Physick 320.
Piccolomini 226. 237.
Pick 549. 553. 554. 729.
Pico von Mirandola 13.
Piedache 800.
Pierre de la Ramee s. Raraus.
Pigne 558.
Pinel 101. 130. 362. 505. 618.
Piorry 137. 608. 609. 611. 618. 626.
Pipping, L. 449.
Pirez o72.
Pirogow 319.
Piso s. Pois.
Piso 662.
Pissini 634. 644.
Pitcairn 62.
Pitres 445. 553. 554.
Planer 554.
Platearius 606.
Plateau 400.
Plater, F. 277. 657.
„ Th. 273.
271.
Platner 86.'
Piaton 180. 328. 630.
Platter, F. 20. 32. 482, s. auch Plater.
Playfair 732.
Pleistonikos 180.
Pienoicz 96. 100. 747. 859.
Plenck 506. 509.
Plenk, V. 96.
Plencziz 504 (s. a. Plenciz),
Plett 849.
Plimmer 550.
Plinius 174. 631. 632. 651. 655. 725. 917.
918.
Ploss 688.
Plösz 394.
Plugge, P. C. 586.
Plutarch 654.
Namenregister.
953
Podwyssotzki 550. 551.
Poelchen 554.
Poilronx 514.
Poirier 315.
Pols. Le 68.
Poisenille 365. 646.
Poisexxlles 406.
Polaillon 315.
Politzer 554.
Pollender 547. 748.
Pomet 576.
Pommer 553. 798.
Pompe van Meerderwort 322.
Ponfick 550. 553. 557. 558. 642.
Popp 525.
Posta 342. 566.
Portal 70. 100. 311. 516. 713.
Porter 443.
Portio 58.
Posner 549. 554. 712.
Posthins 284.
Potain 640.
Poterins 488.
Pott 506. 507. 509.
Pouchet 223. 224. 824.
PonUlet 397.
Pourfonr du Petit 312. 355. 717.
Pozzi 204. 231. 645.
Pransnitz 554.
Praxagoras 179. 180.
Predöhl 902.
du Prel 453.
Preuss, H. C. A. 289.
Prevost 383. 464. 730.
Preyer 431. 452. 724.
Priessnitz 149.
Priestley 108. 358. 361. 462. 578. 677.
Pringle 93. 504. 744. 779. 780. 796. 832.
Prior 827.
Prochaska 116. 118. 218. 295. 300. 355.
500. 508. 719.
Prokopius 753. 754.
Prost 135. 513. 514. 797.
Proust 463. 464.
Prout 376. 682.
Protassjew 318.
Prndden 556.
Puchelt 626. 702.
Puff V. Schrick 212.
Purkinje 144. 218. 301. 368. 372. 376. 377.
380. 399. 400. 465. 511. 512. 584. 682.
Punnann 63. 70.
Puschmann 616.
Putens cfr. Pozzi.
Puvsegnr HO.
Pythagoras 174. 328. 630,
Quain d. Ae. 268.
„ . J. 268.
., R. 642.
Quantin 636.
Quarre 71.
Quenu 315.
Qnercetanus s. du Chesne.
Quesuel 398.
Quincke 553. .554.
Quintus s. Kointos.
Rahinowitsch 911.
Eabl 298. 301. 550. 554.
Rademacher 125. 581.
Radlkofer 390.
Radziejewski 440.
Rahn 699.
Raineg 623.
Ramazzini 58. 64. 69. 744.
Ramee, Pierre de la 13.
Ramon y Cajal s. Cajal.
Ramsay 643.
Ramsden 399.
Ramus 15. 23. 206.
Ranchin 312. 313.
Ranke 430. 470. 471.
Ranvier 220. 222. 224. 537.
Rapallo, Bemardo di 705.
Rapp 640.
Rasori 107. 677. 678. 745. 782.
Raspail 218.
Raswedenkow 554.
Rathke 216.
Ratier 708.
Rau 124. 248. 253.
Rauber 306. 319.
Rauchfuss 644.
Rauwolf 10.
Rav 580.
Rayer 514. 531. 685. 713. 863.
Rayger 71.
Razes s. Rhazes.
Read 688. 920.
Reaumur 357. 464. 682.
Reber 597.
Rech 825.
Recklinghausen, v. 425. 548. 549. 550.
552. 553. 554. 555. 625.
Reder 708.
Redi 55. 347. 491. 493. 577. 657.
Reese 915.
Reess 287.
Reformatsci 923.
Rega 83.
Regino 202.
Regnault 389.
Regnier 318.
Rehfeld, C. F. 270.
Reich 109. 463.
Reichert 216. 223. 292. 379. 388. 404.
Reid 506. 903. 904.
Reidelbach 600.
Reü 91. 101. 117. 222. 223. 290. 363. 364.
371. 505. 724. 726. 864.
Reimann, J. 269.
Reinhardt 527. 537. 558. 904.
Reinhold 116. 634.
Reisel 54.
Reiset 389.
Reisseisen 627.
Reissner 220.
Reiter 854.
Remak, E. 734.
R. 153. 216. 218. 293. 369. 384.
385. 622. 727. 728. 729. 730. 734.
Remmelin 214.
Remy 315.
Renaudot 42.
954
Namenregister.
Eenaut 553. 644.
Kenk 471.
Eenoult 663.
van Renterg-hem 724.
Renzi, de 606.
Retzius 222. 316.
Reusner 69.
Rex 298. 301.
Eev 549.
Reynaud 610. 611. 622. 626.
Reynier 315.
Rezia 243. 500. 508.
Rezzi 929.
Rhades 352
Rhazes 192.' 616. 740. 843. 857.
Rhode 489.
Rhnphos s. Rufus.
Ribbert 549. 550. 551. 553. 557.
Ribes 513.
Ricardus Anglicus 205.
„ Heia 213.
Richardus 196.
Richer 725.
„ de Belleval 312.
Riebet 315. 432. 456. 724. 725.
Richter, A. G. 507. 509. 617. 620.
„ P. F. 714.
463. 548.
Ricord 642.
Ridley 68. 354. 502.
Riedel 796.
Riedlin 491.
Rieffei 315.
Riegel 622. 627. 646. 647. 692. 695.
Riehl 549.
Rigler 733.
Riiliet 619. 620. 622. 624. 625. 863. 875.
Rindfleisch 453. 550. 555. 557. 623. 730.
908.
Rinecker 731.
Ringseis 119.
Riolau 21. 42. 260. 308. 355. 486. 667. 698.
Ripperger 879.
Ritter 399. 401. 404. 726.
Riva 63. 69. 492.
Riviere 42. 208. 617.
Rivini 683.
Rivinus 63. 343.
Robert 553. 853.
Robin 224. 423. 544. 558. 904.
Robiquet 586.
Roche 90.
Rodriguez de Guevara s. Guevara.
Roederer 100. 275. 281. 501. 509. 659.
796. 833.
Roehmann, F. 440.
Roehrig 432. 600.
Roell 251.
Roemer 300. 301. 528.
Roeschlaub 108. 677. 745.
Roger 611. 645.
Roger Baco 1. 480.
Rogo witsch 550.
Rokitansky 129. 146. 527. 531. 554. 609.
618. 622. 623. 624. 626. 642. 645. 680.
699. 703. 729. 835. 875. 904.
Rolfink 71. 277.
Rolleston 419
RoUett 424. 430. 436. 441.
Rollin 270.
Rollo 100. 108. 462.
Romain 257.
Roman 284.
Romberg 627. 720. 722. 729. 731. 733.
Rondelet 10. 209. 312. 313. 633. 664.
Ronsil 507.
Ronsseus 921. 923.
van Roonhuysen 71.
Rosa, dalla 298.
Rose 463.
Rosen 928.
Rosen v. Rosenstein 93. 101. 846. 860.
861. 869.
Rosenbach 455, 551. 552. 643. 644.
Rosenheim 695.
Rosenmüller 303.
Rosenstein 714.
Rosenthal, Chr. 289.
J. 287. 425. 432. 443.
270. 550.
Roseuzweig 255.
Roser 681.
Rosin 549.
Ross 599.
Rostan 137. 513. 514. 531.
Rossignol 623.
Rot, J. 273.
Rota 642.
Roth 548. 652. 864.
Rothmann 924.
Rottenberger 300.
Rouanet 645.
Rouelle 378. 709.
Rouget 315.
Roulin 925.
Roussel 929.
Rousset 705. 706.
Roux, W. 217. 221. 287.
„ 548. 878.
Rovsing 711. 715.
Roy 442.
Royer-Collard 871.
Roziere de la Chassagne 99. 136.
Ruhner 432. 471.
Rudbeck 54. 316.
Rudolph! 133. 270. 289. 364. 370. 511.
512. 526. 531. 659. 660.
Ruedinger 224. 291.
Ruelle 10.
Ruete 400.
Ruffer 550.
Rufus 183. 645. 654. 751.
Rüge, G. 252.
Ruiz 581.
Ruland 42. 594. 777.
Rumler 657.
Rumpel 557.
Rumpf 725. 729.
Rumsaeus 686.
Rumsey 870.
Runge 587.
Rush 106.
Rüssel 583. 598. 766.
Rutherford 358. 442.
Namenregister.
955
Ruttv 789.
Euvsch 54. 247. 251. 253. 339. 343. 487.
622. 623. 661. 683.
Saboiirant 357. 717.
Saboiirin 70. 554.
Sacco 850.
Sacerdotti 550.
Sachs 432.
C. 404.
Sachse, j. D. W. 596.
Saenger 551.
Saevus 71.
Sagar 96.
Sahli 704.
Saülant 920.
Saint-Eemv 551.
Sala 566. b67.
Saleme 920. 921.
Saliceto 197. 480.
Salio Diverso 484.
Salkowskv 437. 466. 544. 549.
Salmuth 488.
Salter. H. H. 419.
Sali t'zmaim ^. 274. 275. 490. 498.
Sanionicus 656.
Samuel 545. 550. 555.
Sanarelli 841.
Sanchez 13. 15. 51.
Sanderson 906.
Sandifort 100. 250. 495. 496. 508. 509.
510. 645.
Sanderson, J. B. 425.
Sandra-s 732.
Sanfelice 550.
Saneralli 557. 662.
Santorini 240. 354. 499. 698.
Santorio 645.
Santoro 61. ^41.
Saporta 488.
Sappey 314. 315.
Sarcone 93. 616. 797. 847.
Sassonia 20. 22.
Sata 911.
Sattler 551.
Saucerotte 357.
Saussier 626.
Sauvages 81. 362. 504. 578. 617. 713. 743.
»40. 921.
Saviard 502.
Savonarola 481.
Savory 519.
Scaliger 69.
Scarpa 242. 343. 502. 509.
Schaarschmidt 288.
Schabad 911.
Schäfer 224. 442.
E. A. 456.
J. U. G. 90.
Schaeffer, J. G. 726.
910.
Schalle 554.
Schani Zadeh 325.
Scharling 389.
Schanta 553.
Schedler, P. 641.
Scheele 108. 358. 378. 461. 553. 578. 580.
Scheiber 929.
Scheid 274.
Scheidt 275.
Scheier 554.
Scheiner 343.
Schellenberger 294.
Scheit lihammer 58. 71. 257. 278.
Schelling 113. 5&4.
Schenck v. Grafenberg 20. 31. 484. ^33.
657.
Schenck. F. 429.
Schenk 298. 713.
Scherer 301. 393. 466. 468. 544.
Scheube 551. 734. 840.
Scheunemann 44.
Scheuthauer 476. 651. 6.58.
Schiefferdecker 220. 555.
Schiele 221.
Schiff, M. 420. 435. 436. 441. 448. 449.
Schimmel busch 549.
Schinz 495.
Schirmer 698.
Schieiden 382. 512. 536. 584.
Schlemm 290.
Schlereth 596.
Schlichting 354.
Schlossberger 393. 468.
Schmackpfeffer 699.
Schmall 640.
Schmaiis 549. 556.
Schmidt 117. 222. 427. 549. 551. 683. 699.
AI. 377. 395. 408. 440. 464. 465.
470. 549.
Schmidt, C. 379. 387. 389. 468.
D. 470.
;, J. A. 295.
Schmidt-Möhlheim 440.
Schmiedeberg 406. 409. 438. 470.
Schmorl 549. 554. 557.
Schneider, A. 218.
Schneider, C. V. 55. 278. 338. 489. 493.
621.
Schneider 683.
Schnitzlein 857.
Schnurrer 920.
Schön 450.
Schönbein 376. 395.
Schoenijahn 270.
Schoenlein 121. 144. 429. 525. 531. 536.
608. 680. 748. 798. 863. 864.
Schott 220. 647.
Schotteüus 221. 907.
Schrader 490.
Schrank, F. v. 924.
Schreiber 432.
J. F. 318.
Schrick s. Puff.
Schrenck-Notzing 724.
Schreyer 72. 696.
Schröder, J. Chr. 575.
407. 704.
V. d. Kolk 361. 384. 388. 513.
528. 531. 625.
Schrödter 616.
Schrön 124.
Schröpfer 110.
Schrötter 435. 642.
956
Namenregister.
Schroif 584. 586.
Schubert, G. H. 118.
Schucliardt 550.
Schüppel 550. 641. 908.
Schütz 552. 749.
Schützenberger 438.
Schuh 149. 551.
Schujeninoff 553.
Schulz 551. 728.
Schultze, M. J. S. 219.
M. 385.
223. 548.
W. 224.
Schulze, Joh. Heinr. 83.
Schumburg 434.
Schürf 213.
Schurig 503.
Schwab 696.
Schwalbe 221. 223. 224. 306. 401.
Schwann, Th. 151. 217. 218. 369. 373.
376. 377. 382. 466. 512. 536. 584. 682.
683. 747.
Schwartz 444.
Schwartze 556.
Schwarz 332.
Schweich 879.
Schweigger 402.
Schweigger- Seidel 221. 408.
Schwenckfeld(t) 15. 923.
Schylhans s. Hans v. Gerszdorf.
Scribonius Largus 21. 725.
Scrine 924. 925.
Scudamore 713.
Scultetus 70.
Sebastian 256.
Sebilean 315.
Sebiz 275.
Sedillot 696.
See 315. 644. 692.
Seeligmüller 728. 733.
Seen 700.
Segalas 706. 708.
Seger 261.
Segond 315.
Seguin 389. 596.
Seidel, B. 21.
„ H. 640.
„ J. 270.
Seifert, Phil. M. 621.
Seitz 643. 700.
„ E. 610.
Selenka 287.
Seile 93. 504. 639.
Selmi 420. 438.
Senac 100. 312. 507. 509. 635. 637. 638.
640. 644.
Senator 425. 432. 714.
Senebier 361.
Seneca 631.
de Senis s. Ugo 201.
Sennert 48. 58. 69. 488. 858.
Sefinc 923.
Serres 135. 315. 513. 514. 531. 797.
Sertoli 394.
Sertürner 586.
Servet 22. 28. 331.
Setschenow 446.
Settala 20. 21. 238.
Sette 928.
Severin 42.
Severini 867.
Severino 69. 216. 237. 488.
de Seynes 315.
Sgambati 867.
S'Graeuwen 495.
Sharpey 268.
Shaw, J. 267. 726.
Sheldon, J. 267.
Shepard, C. Y. 393.
Shepherd 321.
Sherrington 356. 447.
Siebert 556.
., L. A. 121.
Siebold, C. C. v. 271. 500. 508.
„ C. Th. V. 659. 660.
J. B. 286.
d. Ae. 284.
660. 662.
Siedamgrotzky 660.
Siegel 694.
Siegfried, M. 440.
Siemens 923.
Sievers 693.
Sigwart 275.
Silbermann 391. 495. 549.
Simon, F. 379. 466.
„ G. 714.
„ J. F. 544.
„ John 854.
„ 531. 553. 825. 827.
„ von Corrino 755.
Simond 773.
Simpson 586.
Sims 698.
Sinner 892.
Sivel 434.
Skoda 136. 146. 532. 609. 610. 618. 623.
625. 626. 640. 644. 646. 680. 681.
Smeth 42. 487.
Smith, J. 512.
„ R. W. 521.
„ 531. 703. 910.
Snip 252.
Snow 825. 827.
Sobernheim 642.
Sodre, Azevedo 836.
Soemmering 133. 220. 282. 502. 509. 510.
697. 699." 717. 718. 726. 850.
Solenander 20. 485.
Soler 926.
Solingen, van 71.
Sommerbrodt 646.
Sommerville 691.
Sonden 434.
Sonnenstein 588.
Sonnerat 803.
Soranus 183. 478. 606.
Sorbait 294.
Sougita Essai 322.
Soxhlet 470.
Spallanzani 358. 360. 426. 464. 682.
Speck, C. 389. 434.
Spee V. 221. 277.
Spence 265.
Xamenreofister.
957
Spener 287.
Spengler 911.
Speranza 864.
Sperber 44.
Spieffhel. v. d. (Spi^eüus) 69. 237. 486.
493. 658. 795.
Spielmann 580. 703.
Spinoza 48.
Spitta 525.
Spittal 789.
Spitzer 325.
Spöring 317.
Sprengel 80. 586. 632. 636. 655. 782. 870.
Sprögel 288._
Spnrzheim 357.
Sqnire 864.
Städeler 396. 468. 470. 684.
Stälielin 273.
Stahl. Ct. E. 77. 101. 348. 349. 3.58. 362.
461. 578. 580. 596. 668. 669. 677. 700. 718.
Stalpart t. d. Wiel 68. 491. 606.
Stampfer 400.
Stanley 519.
Stannins 386. 748.
Stapf 124.
Stark. K. AV. 120.
.. W. 506.
.. 509. 789. 903.
Starr 868.
Staimton 323.
Steenstrup 660.
Stefan, .J. 407.
Steffen 623.
Stein 642.
Steiner 450. 864.
Steiner. Job. 621.
Steinthal 729.
Stelluti 54.
Stengel 556.
Steno iStenson) 54. 247. 262. 338. 343. 683.
Stenzei 503. 582.
Stemberg 841.
Steudel o50.
Stewart 513. 799. 915.
Stieda ;S06. 550.
Stieglitz 108. 128.
Stüiine-, B. 220. 222. 385. 526. 531. 720.
732.'
Stöhr. Ph. 221. 223.
Störck 96. 110. 503. 579.
Stokes 142. 520. 531. 608. 609. 618. 619.
626. 640. 643. 647.
Stoll 95. 100. 504. 509. 607. 621. 781.
782. 833.
Storch 859.
Strambio 928.
Stra.ssburg 435.
Strassburger 218.
Strato 181.
Straus. J. 545.
Strands, J. Chr. 595.
Strecker 377. 392. 393. 470.
Strehl 448.
Strelzoff 550.
van der Stricht 447.
Stricker S. 223. 299. 468. 545. 549. 550.
555. 646.
Stroebe 549. 550.
Stromej-er 104. 850.
Strother 795.
Strümpell 553. 733.
Strniken 549.
Strnthers 265.
Struve 597. 864.
Stubenrauch 553.
Sturm, Job. 270.
Sudhoff 592.
Sue 310. 311.
Suessmüch 103. 846.
Suringar 252.
Susruta 653.
Sutton 104. 321. 643. 848. 849.
Swalve 699.
Swammerdam 54. 71. 216. 247. 253. 337.
347.
Swayne 824.
Si^-ieten, van 94. 294. 503. 579. 620. 625.
626. 657. 659. 676. 731. 744.
Sydenham 64. 69. 460. 575. 619. 620. 621.
628. 668. 742. 743. 744. 764. 795. 796.
798. 830. 831. 832. 845. 858. 859. 861.
880.
Syenesis 173.
Sylvias 56. 247. 340. 459. 491. 493. 574.
'668. 903 (vgl. a. Dubois).
Szöqvist 437.
Tabar 234.
Tabbarani 243. 499.
Tabemaemontanus 10. 568. 594.
Tachen 58.
Tacheron 515.
Tadino 238.
Taenzer 555.
Tagault 208.
Tagliacozzi 30.
Tahir 325.
Tait 704.
Talbor 575.
Talma 645. 906.
Tangl 550.
Tanquerel 916.
Tappeiner 907.
Targioni-Tozetti 503.
Taruffi 548. 555. 633. 644.
Tassaui 929.
Taube 922. 923. 924. 925. 926.
Tauvry 310.
Tauber 924.
Tavel 554.
Tedeschi 644.
Tenner 719. 733.
Tephjeschin 923.
Tessier 920.
Testa 100. 632. 633. 638. 646.
Testut 224.
Thäbit ben Korra 192.
Thaer 90.
Thaies 328.
Theden 504.
Themi.son 478. 665.
Themmen 864.
Theopbilo« 190.
„ Protospath. 479.
958
Namenregister.
Theophrastos 655.
Thierfelder 440. 557.
Thiersch 550. 824.
Thiery 315. 582.
Thiry 415. 436.
Tholozan 766. 771. 772.
Thoma 221. 549. 550. 555. 556.
Thome 824.
Thomas 449. 864.
Thompson 706. 707. 712.
Thomsen, A. 269.
Thomson, Allen 268.
„ John 520.
321. 530. 852. 853. 864.
Thucydides 630. 740. 751.
Thuiilier 919.
Thurneysser 42. 594.
Tiedemann 144. 285. 375. 377. 464. 471.
512. 524. 530. 661. 682.
Tiegel 412.
Tiengius 866.
Tigerstedt 429. 434.
Tillandsz 316. 317.
Timmermann 499.
Tissin 855.
Tissot 93. 96. 848. 860. 924.
Titius 927.
Todd 419. 521. 531.
Toldt 221. 224. 298. 300.
Tommasini 107.
Tommasi-Crudeli 556.
Torer 271.
Tomamira 209.
Torre, della 24.
Torricelli 333.
Tour 151.
Tourtual 528.
du Toy 300.
Tozzi 626.
Tragus, H. 10. 568.
Tralles s. Alexander Tr.
Traube, L. 152. 406. 421. 443. 537. 544.
545. 618. 622. 623. 625. 627. 642. 645.
64fi. 647. 710. 715.
Traube, M. 396.
Travers 141. 142.
Treitz 554.
Trelat 549.
Trendelenburg 707.
Treviranus 116. 118. 218. 361. 364. 380.
Trietheim 13.
Trincavella 20.
Trinks 124.
Trioen 503.
Trnka v. Krzowicz 96.
Troja 506. 509. 550. 854.
Troje 911.
Trojanowsky 623.
Trommsdorff 580.
Tronchin 100. 915.
Trota 100.
Trousseau 620. 639. 694. 698. 729. 733.
800. 864. 874. 875.
Trouve 709.
Troxler 117. 118.
Tscherning 450.
Tschiriew 448.
Tücke. Hack 724, s. a. Hack.
Tucker-Wise 912.
Tuczek 923. 930.
Türck 553. 729. 730.
Tufnell 636.
Tulp(ius) 68. 251. 252. 486. 622.- 633. 634.
657.
Turban 912.
Turner, W. 224. 265. 419. 446. 549. 558.
645.
Turquet de Mayerne 42.
Turrianus 203.
Typaldos 927. 929.
Tyson 657. 658.
Uexküll V. 454.
Uffelmann 692.
Ugo de Senis s. Senis.
Uhle 555.
"ültzmann 711.
Unger 393. 702.
Unna 549. 556.
Unzer 81. 86. 93. 101. 355.
Vaccari 928.
Vahlen 434.
Vaillard 553.
Valdes, y 10.
Valenti 555.
Valentin 369. 377. 401. 4,33. 465.
Valentiner 730.
Valentiui 580.
Valentinus, Bas. 458.
Valeriola 20. 483.
Valette, La 222. 224.
Valla, G. V. Piacenza 201.
Valle, Carmona y 841.
Valleix 619.
Valles 18. 483.
Vallisneri 55. 240. 347. 358. 658.
Vallisnieri 499. 747.
Valsalva 69. 100. 240. 495. 498. 509. 636.
637.
Valverde de Hamusco 233.
Vanlair 550.
Varignana 197.
Varolio 235.
Varro 747.
Vas 437.
Vasseu 211.
Vater 401. 494. 508.
Vauquelin 378. 464.
Väzquez 233.
Vega 18. 21.
Vego, Juan del 63.
Velazquez 233.
Velden, v. d. 692.
Vella 436.
Velpeau 516. 531.
Venel 596.
Verdier 310.
Verduc 70.
Verduyn 69.
Verheyen 257. 487.
Verneuil 315. 698.
Verney, du 55. 70. 71. 487.
Verworn 428. 454.
Namenregister.
959
Ye?al 25. 177. 214. 2t 6. 228. 229. 231.
249. 271. 331. 338. 345. 481. 482. 633.
634. 666. 698.
Vesling 238. 487. 698.
Vetter, A. R. 295. 522. 527. 531. 597.
Vicary 210.
Yicentino s. Fortezza.
Vicq d'Azvr 311. 496. 698.
Vidal 323.' 516.
Vieringen 257.
Vierordt, C. 389.
K. V. 395. 410. 417. 468. 646.
Vierth 549
Vieussens 56. 69. 313. 340. 347. 491. 493.
634. 635. 718.
Vieusseux 871.
Vigamy 234.
Yigouroux 728.
Villa, de 576.
Villa Eeal 866. 867.
Villafane, y 234.
Villanova s. Amoldus.
Villemin 623. 905. 906.
Vinci, Lionardo da 24. 331. 341.
Vintschgau 401.
Virchow, R. 152. 218. 383. 468. 527. 528.
531. 536. 544. 554. 558. 618. 624. 641.
642. 661. 662. 681. 699. 701. 714. 729.
786. 835. 875. 902. 904. 905. 908.
Virdung 284.
Virgil 918.
Vivenot v. 624.
Vives 13. 15. 23.
Vochs 776.
Vogel 530. 531. 549.
.. R. A. 93. 98. 924.
.; Jul. 523. 684. 685. 713.
„ S. G. 100. 596.
Vogt, C. 216. 381. 383.
,. Ch. A. 297.
724.
Voigtel, F. G. 522. 617.
Voit, C. V. 387. 390. 431. 467. 471.
Volhard 393.
Volkmann. A. W. 374. 385. 398. 399. 400.
407. 551. 627. 646. 707.
Volta 361. 362. 401. 578. 726.
Voltolini 910.
Volz, A. 703.
„ R. 120.
Vries, de 437.
Vrolik 252. 254. 529. 530.
Vulpian 585. 730.
Wachsmuth 731.
Wadd 521.
Wagener, G. 293.
Wagler 100. 659. 796.
Wagner, E. 642.
„ E. L. 546.
Job. 304. 527.
Rud. 380. 385. 401. 410. 684.
531. 532. 549. 550. 553. 554.
555. 864. 875.
Wahlbom 869.
Wald 42.
Waidenburg 624. 902.
Waldeyer 218. 222. 224. 293. 447. 550.
553. 554. 720.
Waldschmidt 58. 276.
Wallach 385.
WaUer 420. 428. 446.
Walsh 362.
Walshe 609. 618. 640.
Walter, d. Ae. 288.
d. J. 289.
., Job. GotÜ. 100. 500. 501. 503.
509. 711.
Waltber, A. Fr. 280.
V. 143.
Wählin. M. A. 924. 925.
Ward 688.
Warlomont 855.
Warschauer 790.
Wassmann 465.
Watson 861.
AVatt 462.
de Watteville 428.
Webber 730.
Weber, E. H. 133. 144. 283. 373. 401.
584. 645.
Weber, Ed. 373.
Gebr. a44.
M. J. 804.
Th. 627.
W. 373. 584.
400. 478. 682.
Webstar 320.
Wedel 58. 869.
Wedel, G. W. 924.
Wedemeyer 861.
Wedenskv 428.
Wedl 298. 557.
Webenkell 555.
Weichselbaum 552. 553. 557. 619. 620.
641. 749. 901. 907.
Weidmann, J. P. 506.
509
Weigel 270.
Weigert 219. 446. 549. 550. 555. 558.
720. 910.
Weikard 107.
WeU 626. 645.
Wein, J. N. 275.
Weinrich 485.
Weir-Mitchell 732. 734.
Weismann 217.
Weiss 414. 688. 734.
Weissgerber 554.
Weitbrecht 280. 318.
Welcker 305.
Wells, Sp. 704. 714.
Welsch b8. 69. 71. 492. 493. 656.
Wenzel 463.
Wepfer 56. 69. 278. 347. 489. 493. GOß.
Werigo 428.
Werlhof 93. 842.
Werner, P. Chr. F. 500. 657.
509. 659.
Wefttphal 270. 553. 725. 729. 730. 733.
Weszpremi 96.
Wetterstrand 724. 725.
Weyer 483. 858. 866.
960
Namenregister.
Wharton 263. 338. G83. '
Wheatstone 400.
Whitmore 779.
Whytt 81. 86. 355.
Wichmann 93. 100. 505. 549. 664.
Widenmann 646.
Wiegandt 221.
Wieger 549.
Wienholt 110.
Wierus s. Weyer.
Wiggers 586, 925.
Wild 549.
W^ilder 321.
Wilks 556.
Willan, K. 507. 509. 752. 857. 860. 861.
864.
Williams 551. 554. 608. 609. 622. 623.
640. 642. 646. 653.
Willis 55. 58. 263. 341. 346. 347. 355.
460. 465. 490. 626. 717. 718. 744. 779.
795. 830. 831. 880.
Willke 869.
Wilms 554.
Wilson 267.
Sir Will. 268.
Windischmann 119. 218.
Winge 641.
Winiwarter 696.
Winogradoff 551. 923.
Wiusiow 310.
Winter 86. 249. 437.
Winternitz 735. 927.
Winther v. Andernach 17. 18. 42. 215.
557. 566. 568. 594.
Wiutrich 608. 610. 618. 627.
Wintringham 93.
Wirsung 278. 338. 698.
Wise, T. A. 652. 658.
Wise s. Tucker.
Wiseman 69.
Wislicenus 391. 599.
Wislocki 556.
Wistar 319.
Withering 647.
Wittich V. 410. 470.
Wölfler 221. 553. 696.
W^öhler 378. 392. 463. 465. 493. 682. 683.
Woillez 626.
Wolcott 714.
Wolf, J. 68.
„ J. Chr. 502.
Wolfart 111. 724.
Wolfers 853.
Wolff, Casp. Fr. 216. 288. 318. 512.
„ J. 221.
„ M. 906.
Wolffberg 435.
Wolfstriegel 294.
WoUaston 398.
Woolridge 440.
Wood 662.
Woodhead 556. 558.
Woodville 850. .
Worm 259.
Wren 263.
Wrisberg 271. 282. 500:* 509. 659.
Wucherer 551. 662. 663.
Würtz 30.
Wunderbar 476. ■■ . . . ■ -. ^-
Wunderlich 150. 533. 61S. 61^.- 625. 681
729.
Wundt 400. 452. 453.
Wutzer 528. ',. ' ■
Wyer 15. ••
Wyhe 256.
Xenophon 183. ,
V. Kos 180. •
Yersin 552. 749. 772. 878.
Young, Th. 398. 399.
Yperman 925.
Zaayer 251.
Zacchia 71.
Zacutus Lusitanus 21. 489.
Zahn 549. 551. 553. 554.
Zalesky 393.
Zamminer 610.
Zancari 198.
Zaufal 553.
Zawerthal 222.
Zeder 659.
Zehnder 550.
Zeidler 299.
Zeiss 220.
Zeller 582.
Zenker 549. 550. 551. 553. 554. 623. 642.
661. 662. 730.
Zerbi 199.
Zeviani 879.
Ziegler 549. 550. 553. 556. 558. 908.
Ziehen 453.
Ziehl 909.
Zielonko 550.
Ziemssen 619. 621. 623. 699. 725. 727.
728. 734.
Zimmermann 93. 354. 833. 924.
Zinn 282. 354.
Zoja 243.
Zopf 552.
Zuckerkandl 224. 298. 306. 553.
Zuelzer 791.
Zürn 551.
Zuntz 389. 432. 433. 435. 644.
„ L. 434.
Zupitza 770.
Zwaardemaker 449.
Zwinger, Th. 18. 42. 273. 275.
„ J. 42.
Zwirlein 596.
Zype 257.
Lippeit & Co. (G. Pätz'sche Buclidr.), Naumburg a. S.
8ECT. APR 20 1981
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131 Handbuch der Geschichte
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