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Full text of "Handbuch der Geschichte der Medizin. Bearb. von Arndt [et al.]"

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HANDBUCH 


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DER 

GESCHICHTE  DER  MEDIZIN. 

BEGRÜNDET  VON 
De.  med.  TH.  PUSCHMANN, 

WEILAND    PROFESSOR    AX    DER    ÜXIVERSITÄT    IN  WIEK. 

BEARBEITET  VON 

Geh.  San.-Rat  Db.  Babtels,  Berlin ;  Dr. Wolf  Becher,  Berlin;  Dr.  Iwan  Bloch,  Berlin; 
Professor  Dr.  Boruttau,  Göttingen;  Professor  Dr.  Chiari,  Prag;  San.-Rat  Dr. 
Leopold  Ewer,  Berlin;  Professor  Dr.  Fasbender,  Berlin;  Professor  Dr.  Fossel, 
Graz;  Professor  Dr.  Robert  Fuchs,  Dresden;  Dr.  Geist- Jacobi,  Frankfurt  a.  Main; 
Professor  Dr.  Helfreich,  Würzburg;  Professor  Dr.  Hetmann,  Berlin;  Hofrat  Dr. 
Höfler,  Tölz  ;  Professor  Dr.  Hobstmann,  Berlin  ;  Professor  Dr.  Husemann  (f),  Göttingen  ; 
Professor  Dr.  Ipsen,  Innsbruck;  Oberstabsarzt  Professor  Dr.  Köhler,  Berlin;  Dr.  G. 
Korn,  Berlin  ;  Professor  Dr.  Kossmann,  Berlin  ;  Privatdozent  Dr.  P.  Th.  Müller.  Graz  ; 
Privatdocent  Dr.  Neuburger,  Wien;  Dr.  Freiherr  Felix  v.  Oefele,  Neuenahr;  Dr.  Ott, 
Berlin:  Professor  Dr.  Pagel,  Berlin;  Professor  Dr.  Pausnitz,  Graz;  Dr.  Preuss, 
Berlin;  Professor  Dr.  Rille,  Leipzig;  Dr.  M.  Sachs,  Berlin;  Professor  Dr.  Schaer, 
Strassbubg  i/E.;  Sanitätsrat  Dr.  Scheube,  Greiz;  Professor  Dr.  Schrutz,  Prag;  Privat- 
docent Dr.  Ritter  von  Töply,  Wien;  Professor  Dr.  Vieeordt,  Tübingen 

HERAUSGEGEBEN  VON 
Dß.  MED.  MAX  NEUBURGEB,      xtsd      Dr.  med.  JULIUS  PAGEL, 


DOCENT  an  der  UNIVERSITÄT  IN  WIEN 


PROFESSOR  AN  DER  UNIVERSITÄT  IN  BERLIN. 


ZWEITER    BAND. 


JENA. 

VERLAG  VON   GUSTAV  FISCHER. 
1903. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


131 


Im  vorliegenden  IL  Bande  beginnt  nnnmehr  ganz  nach  dem 
Plane  des  Begründers  dieses  Werks  die  geschichtliche  Darstellung 
der  neuzeitlichen  ^ledizin  und  zwar  geordnet  nach  den  einzelnen 
Sondergebieten  der  Biologie  und  Pathologie.  Ueber  die  Eeihenfolge 
der  Kapitel  giebt  das  nachfolgende  Inhaltsverzeichnis  den  erforder- 
lichen Aufschi uss.  Dass  mehrere  der  Herren  Mitarbeiter  in  kurzen 
Rückblicken  auch  auf  die  ältere  Zeit  eingegangen  sind,  wird  sicher 
das  Verständnis  des  Zusammenhanges  in  der  Entwicklung  erleichtern. 
Aus  gleichem  Grunde  dürfen  wir  hoffen,  dass  die  im  ursprünglichen 
Entwurf  von  Pu  seh  mann  nicht  vorgesehene,  erst  nachträglich  von 
dem  ^litherausgeber  Neuburger  bearbeitete  allgemeine  Einleitung  als 
eine  willkommene  Zugabe  erachtet  werden  wird,  deren  Notwendigkeit 
überdies  keiner  weitereu  Begründung  bedarf. 

Wien  und  Berlin,  im  September  1903. 
Neuburger.        Pagel. 


Inhaltsübersicht. 


Seite 

Die  neuere  Zeit. 

Einleitung  von  M.  Xeuburger 3 

Geschichte  der  Anatomie  von  Eobert  Ritter  von  Töply  (Wien) 155 

Litteratnrübersicht 155 

Der  Orient 157 

Aegrpten  zur  Pharaonenzeit       159 

China 162 

Indien 168 

Tibet 171 

Griechen 172 

Araber 192 

Mittelalter 195 

Nenzeit 214 

Einleitnng 214 

Die  Eeformation  der  Anatomie 226 

Spanien 232 

Italien 234 

Niederlande 245 

Dänemark 258 

England 263 

Deutschland 269 

Frankreich 307 

Schweden 315 

Bnssland 317 

Amerika 319 

Japan 321 

China 323 

Türkei       325 

Geschichte  der  Physiologie  in   ihrer  Anwendung   auf  die  Medizin  bis  zum  Ende  des 

neunzehnten  Jahrhunderts  von  Heinrich  Boruttau  (Göttingen)     .    .    .  327 

Litterarische  Vorbemerkungen 327 

Altertum  und  Mittelalter 327 

Renaissance,  16.  und  17.  Jahrhundert 330 

Das  achtzehnte  Jahrhundert  und  seine  Wende 348 

Das  Zeitalter  Johannes  Müllers 363 

Die  klassische  Periode  der  modernen  Physiologie 381 

Die  Weiterentwicklung  der  Physiologie  bis  zum  Ende  des  19.  Jahr- 
hunderts      423 

Medizinische  Chemie  von  Georg  Korn  (Berlin) 457 


VI  Inhaltsübersicht. 

Seite 

Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen  von  H.  Chiari  (Prag)   .    .  473 

Litteratur        474 

Einleitung 475 

Die  pathologische  Anatomie  bei  den  alten  orientalischen  Kultur- 
völkern        475 

Die  pathologische  Anatomie  bei  den  Griechen  und  Römern   .    .    .  476 

Die  pathologische  Anatomie  im  Mittelalter 479 

Die  pathologische  Anatomie  im  16.  Jahrhunderte 481 

Die  pathologische  Anatomie  im  17.  Jahrhunderte 485 

Leistungen    auf    dem    Gebiete    der    pathologischen  Anatomie    im 

17.  Jahrhunderte 493 

Die  pathologische  Anatomie  im  18.  Jahrhunderte 494 

Fortschritte  der  pathologischen  Anatomie  im  18.  Jahrhunderte  509 

Die  pathologische  Anatomie  im  19.  Jahrhunderte 510 

Fortschritte  der  pathologischen  Anatomie  in  der  ersten  Hälfte  des 

19.  Jahrhunderts 530 

Rokitansky  und  Virchow 531 

Allgemeine  Kreierung  von  pathologisch-anatomischen  Lehrkanzeln 
und  pathologisch-anatomischen   Instituten    in   der   zweiten 

Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 541 

Einfluss  der  pathologischen  Anatomie  auf  die  pathologische  Chemie 

und  experimentelle  Pathologie 543 

Pflege  der  pathologischen  Anatomie  seitens  der  Kliniker  und 
sonstiger  Forscher  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts      545 

Epoche  der  Bakteriologie 546 

Uebersicht   über  die  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  modernen 

pathologischen  Anatomie 548 

Aufgaben  eines  pathologischen  Anatomen  in  der  Gegenwart      .     .  557 

Litteratur  der  pathologischen  Anatomie 558 

Geschichte  der  Pharmal<ologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit  von  Ed.  Scbaer 

(Strassburg) 560 

Litteraturangaben 560 

Das  sechzehnte  und  siebenzehnte  Jahrhundert 565 

Das  achtzehnte  Jahrhundert 577 

Das  neunzehnte  Jahrhundert 683 

Geschichte  der  Balneologie  und  der  Grenzgebiete  in  der  Neuzeit  von  von  Oefele 

(Bad  Neuenahr) 589 

Geschichte  der  Perkussion  und  Auskultation  von  Hermann  Vierordt  (Tübingen)  604 

Lungenkrankheiten    (ausschliesslich    Tuberkulose)    von    Hermann    Vierordt 

(Tübingen) 612 

Geschichte  der  Herzkrankheiten  von  Hermann  Vierordt  (Tübingen)    ....  628 

Dte  klinisch  wichtigen  Parasiten  von  Hermann  Vierordt  (Tübingen)  ....  648 

Verdauungsapparat,   Harn-,   Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten  von  Georg  Korn 

(Berlin) 666 

Neuropathologie  von  Georg  Korn  (Berlin) 717 

Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten  von  Victor  Fossel  (Graz) 736 

I.  Beulenpest 749 

II.  Fleckfieber 773 

III.  Rückfallfieber 788 

IV.  Abdominaltyphus 794 

V.  Cholera  asiatica 802 

VI.  Ruhr 828 

VII.  Gelbfieber 835 

Vm.  Blattern 841 

IX.  Scharlach,  Masern  und  Röteln 856 

X.  Diphtherie 865 

XI.  Influenza  und  Dengue 878 

XII.  Epidemische  Krankheiten 887 

XIII.  Epidemische  3Ieningitis 895 


Inhaltsübersicht.  VII 

Seite 

Geschichte  der  Tuberkulose  von  Ä.  Ott  (Berlin) 902 

Intoxikationskrankheiten  von  Th.  Husemann  (Göttingen) 914 

Endemische  Kolik 914 

Ergotismus 916 

Pellagra 926 

Acrodynie 930 

Lathyrismus 930 

Milchkrankheit 931 

Register 933 


Die  neuere  Zeit. 


Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II. 


Einleitung. 

Von  Max  Neuburger  (Wien). 


Die  Medizin  der  neueren  Zeit  charakterisiert  sich  gegenüber  der 
dogmatisch-kompilatorischen  Heilkunde  des  Mittelalters  durch  das 
Streben  nach  Vervollkommnung  der  hippokratischen  Kunst  auf  dem 
"Wege  denkender  Beobachtung  und  durch  die,  im  Stufengaug  der  Ent- 
wicklung immer  deutlicher  hervortretende  Tendenz,  an  Stelle  der  Kunst 
allmählich  eine  festgefügte  Wissenschaft  zu  schaffen,  welche  die  Kluft 
zwischen  Theorie  und  Praxis  nicht  mit  spekulativen  Hj'pothesen  und 
empirischen  Regeln,  sondern  mit  Naturgesetzen  überbrückt. 

Im  letzten  Grunde  beruht  dieser  Entwicklungsgang  auf  kon- 
sequenter Durchführung  des  Prinzips  der  freien  Forschung,  welches 
die  Heilkunst  des  Altertums  in  steter  Bewegung  erhielt,  und  dessen 
Verlassen  im  Mittelalter  den  Niedergang  der  Medizin  herbeiführte. 

Die  Voraussetzung  hiezu  bildete  demgemäss  vor  allem  die  Be- 
kämpfung des  mittelalterlichen  Geistes,  der  den  Sinn  für  nüchterne 
Beobachtung  und  vorurteilslose  Prüfung  der  Prämissen  unter  dem 
Truggebäude  des  scholastisch-arabistischen  Galenismus  völlig  begraben 
hatte,  und  die  Rückkehr  zu  den,  vom  Autoritätsglauben  freien  Leit- 
sätzen des  Hippokratismus. 

Beide  Ziele  mussten  vorwiegend  den  Inhalt  der  ersten  Epoche 
der  neuereu  Medizin  bestimmen.  Sie  wurden  unter  dem  Einfluss  des 
gewaltigen  Umwertungsprozesses  erreicht,  welcher  sich  am  Ausgang 
des  fünfzehnten  Jahrhunderts  auf  allen  Kulturgebieten  vollzog  und 
nach  der  langen  Nacht  des  Mittelalters  durch  Wiederbelebung  der 
Antike  und  unter  der  Gunst  harmonisch  zusammen wii'kender  Ereignisse 
eine  neue  Aera  des  Fortschritts  eröffnete. 

Obwohl  gerade  das  Interesse  und  Verständnis  für  die  Zwecke  der 
Heilkunst  schon  im  Mittelalter  Männer  wie  Petrarca  zu  Vorkämpfern 
freier  Denkart  machte,  obwohl  die  Geschichte  der  mittelalterlichen 
^ledizin  mit  Stolz  die  Namen  eines  Arnold  von  Villanova  und  Roger 
Baco  in  ihren  Annalen  führt,  ja  selbst  die  schreckliche  Geissei  neuer 
Krankheiten,  welche  in  verheerenden  Epidemien  auftraten,  die  Un- 
zulänglichkeit der  geltenden  Krankheitssysteme  unbarmherzig  bloss- 
legte,  vermochte  sich  die  ärztliche  Wissenschaft  nicht  aus  Eigenem, 
nicht  ohne  fremden  Anstoss  von  den  Fesseln  des  Autoritätsglaubens  zu 

1* 


4  Max  Neubiirger. 

befreien.  Nur  dem  sehenden  Auge  leuchtet  das  Licht  Trotz  wachsen- 
der Widersprüche  verharrten  die  Aerzte  in  den  ausgetretenen  Bahnen, 
bis  endlich  die  kräftigen  Hammerschläge  der  neuen  Zeit  gebieterisch 
auch  an  die  Thore  ihrer  Wissenschaft  pochten  und  einer  freieren  Denk- 
art den  Eintritt  erzwangen. 

Der  Markstein  der  neueren  Heilkunde  ist  kein  anderer  als  der 
Markstein  der  gesamten  neueren  Kultur;  ihre  Umwandlung  ist  nur 
ein  Teilprodukt  der  allgemeinen  kulturellen  UmAvälzung  und  dankt 
ihren  Ursprung  nicht  einem  einzelnen  Eeformator,  sondern  jener  mit 
immanenter  Zweckmässigkeit  waltenden  Notwendigkeit,  die  den  ganzen 
Lauf  der  Geschichte  zu  einem  Drama  mit  Exposition,  Peripetie  und 
Katastrophe  gestaltet.  Das  Werden  und  Wachsen  der  Medizin  der 
Neuzeit  kann  ohne  Berücksichtigung  der  allgemeinen  Kulturverhält- 
nisse nicht  erfasst  werden. 

Die  Geschichte  der  Heilkunde  spiegelt  im  verkleinerten  Bilde  die  ge- 
samte Kulturentwicklung,  jede  ihrer  Hauptphasen  empfängt  die  charakte- 
ristische Signatur  vom  herrschenden  Zeitgeiste,  auf  den  sie  selbst  wieder 
zurückwirkt.  Das  Zeitalter  des  Perikles  weckte  die  hippokratische  Kunst, 
die  Schule  von  Alexandria  repräsentiert  in  ihrer  Sammelthätigkeit  die  Glanz- 
zeit der  Diadochen,  das  Lehrsystem  Galens,  welches  alle  Vorarbeit  der 
Aerzte  zu  einer  höheren  aber  starren  Einheit  tyrannisch  verschmolz,  bildet 
einen  Abglanz  der  Länder  verschlingenden  Weltmacht  Roms.  Derselbe 
Geist,  welcher  im  Mittelalter  die  Wissenschaft  zum  Formalismus  durch 
Syllogistik  erniedrigte,  im  Reich  des  Schönen  sein  Wesen  durch  Arabesken, 
Spitzbogen  und  Strebepfeiler  offenbarte,  auf  sozialem  Gebiet  im  Feudalismus 
seinen  Ausdruck  fand,  schlug  auch  die  Medizin  in  Fesseln,  hier  wie  dort 
ein  Hemmschuh  für  den  Individualismus,  ein  Hindernis  zur  Entfaltung 
wahrer  Freiheit  des  Daseins,  Denkens  und  Schaffens.  Künstlerische  und 
wissenschaftliche,  soziale  und  politische  Verhältnisse  einer  Zeitepoche  sind 
nur  verschiedene  Manifestationen  desselben  Urphänomens,  wenn  sie  auch 
nicht  immer  ganz  gleichzeitig  oder  im  gleichen  Grade  hervortreten,  ähnhch 
den  Einzelstimmen  einer  Fuge,  die  nacheinander  dasselbe  Thema  ergreifen, 
bis  es  zum  dominierenden  Grundgedanken  wird. 

In  der  Fuge  des  kulturellen  Lebens  ergreift  die  Medizin  den  Grundton 
nicht  am  frühesten,  sie  bedarf  einen  stimmungsvollen  Hintergrund  als  sicheren 
Rückhalt  für  ihren  Schauplatz,  und  später  als  auf  manchen  anderen  geistigen 
Gefilden  spriesst  die  Saat,  welche  von  überragenden  Forschern  gestreut 
wird,  die  sich  nicht  gefügsam  in  die  Kette  schliessen  lassen,  sondern  mit 
selbstgeformtem  Stempel  ihre  Meinung  prägen ;  den  betrübendsten  Ausdruck 
findet  diese  Thatsache  in  der  paradoxen  Erscheinung,  dass  nicht  wenige 
Aerzte  machtvoll  in  den  Gang  der  allgemeinen  Kultur  oder  doch  in  die 
Entwicklung  einzelner  Wissenszweige  eingegriffen  haben,  ohne  dass  es  ihnen 
gelang,  den  Fortschritt  ihres  eigenen,  ihres  angestammten  Faches  in  ähn- 
lichem Masse  zu  beschleunigen. 

Das  düstere  Gesetz,  welches  jedes  Kulturgebilde,  gleich  den 
organischen  Wesen  gerade  an  den  Produkten  seiner  höchsten  Lebens- 
thätigkeit,  an  den  äussersten  Konsequenzen  seines  Schaffens  hinsiechen 
lässt,  bereitete  auch  dem  Mittelalter  den  Untergang  eben  durch  solche 
kulturelle  Erscheinungen,  die  gewissermassen  nur  die  höchste  Steige- 
rung seiner  charakteristischen  Grundfaktoren  darstellen.  Die  höchste 
Determination  ist  es,  welche  zur  Negation  führt. 


Einleitung.  5 

Das  Uebermass  religiöser  Inbrunst  erzeugte  Mj'stik,  die  in  Dogmen 
nur  Symbole  sali  und  weckte  jene  antikirchliclien  Bewegungen, 
deren  Höhepunkte  durch  die  Albigenser  und  Waldenser,  durch  Wicliflfj 
Huss  und  Savonarola  [bezeichnet  werden. 

Die  Kreuzzüge,  welche  vom  Ideal  der  respublica  christiana  ihren 
Ausgangspunkt  nahmen,  die  Fehden  zwischen  Papst-  und  Kaisertum, 
aus  universalistischen  Tendenzen  entsprungen,  erregten  das  ein- 
geschlummerte Nation albewusstsein  der  Völker  zu  neuem  Leben. 

Die  Beutezüge  des  Kaubadeis  zwangen  die  Bürger  zur  festeren 
Organisation  und  Hessen  aus  hartem  Kampf  ums  Dasein  den  Stand 
hervorgehen  und  erstarken,  der  späterhin  uicht  bloss  zum  Träger 
des  Gewerbfleisses,  sondern  zum  Hauptträger  der  Wissenschaft  und 
Kunst  ausersehen  wurde. 

Der  auf  die  Spitze  getriebene  subtile  Scholastizismus  wurde  die 
Quelle  des  äussersten  Skeptizismus,  der  an  Glauben  und  Wissen 
verzweifelte  und  dem  erst  durch  neue  Methoden  ein  Damm  entgegen- 
gesetzt werden  konnte. 

Gerade  die  nie  wieder  erreichte  architektonische  Einheitlich- 
keit, welche  den  Stolz  der  mittelalterlichen  Kultur  bildete  und  die 
Macht  des  kirchlichen  Universalismus  zum  Ausdruck  brachte,  bewirkte 
es,  dass  eine  einzige  Bresche,  wo  immer  geschlagen,  das  ganze  System 
erzittern  machte,  dass  die  Auflehnung,  die  sich  anfangs  nur  zögernd, 
dann  immer  ungestümer,  zunächst  bloss  in  einzelnen  formalen  Fragen 
und  nur  auf  kirchlichem,  religiös-philosophischem  Gebiete  erhob,  weiter 
rollend,  bald  auch  in  die  Sphäre  des  sozialen  Lebens,  in  die  Sphäre 
der  Kunst,  der  Wissenschaft  hinübergriff  und  sich  schliesslich  lawinen- 
artig zu  einer  Empörung  des  Individualismus  gegen  den 
Zwang  der  Autorität  auf  allen  Linien  vergrösserte. 

In  der  Wissenschaft  machte  sich  dieses  Streben  in  Form  der  Ab- 
wehr des  allein  massgebenden  Einflusses  der  Kirche  zwar  schon  vor 
Beginn  der  Neuzeit  bei  einzelnen  überragenden  Geistern  schüchtern  be- 
merkbar, bedurfte  aber,  um  aus  der  Unterströmung  an  die  Oberfläche 
und  zur  Herrschaft  zu  gelangen,  kräftiger  äusserer  Impulse,  die  nur 
von  gewaltig  treibenden  Ereignissen  zu  erwarten  waren.  Der  lähmende 
Bann  des  Autoritätsglaubens,  welcher  die  Wissenschaft  durch  Unter- 
bindung der  Kritik  zur  Sterilität  verdammte,  konnte  nur  dann  seine 
unheilvolle  Macht  einbüssen,  wenn  es  gelaug,  den  engen  Umkreis  des 
geistigen  Gesichtsfeldes  zu  erweitern,  neue  Ideale  in  den  Blickpunkt 
zu  rücken  und  das  argerschütterte  Vertrauen  an  das  menschliche 
Leistungsvermögen  durch  Thatsachen  von  psychologischer  Durch- 
schlagskraft neu  zu  erwecken. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  fünfzehnten  und  im  Beginne  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  wui'de  dieses  Postulat  durch  eine  wunder- 
volle Verkettung  von  bedeutungsvollen  Momenten  erfüllt,  welche  Ziel 
und  Richtung  gebend  auf  die  weitere  Gestaltung  der  Gesamtkultur 
einwirkten  und  den  Grund  zu  einer  neuen  Weltanschauung  legten,  die 
erst  im  Werden  begriffen  ist. 

Seine  charakteristische  Signatur  empfing  dieses  herrliche  Zeitalter 
einerseits  durch  Neubelebung  der  Antike,  die  ästhetisches  Verständ- 
nis auf  dem  Zaubermantel  der  schönen  Künste,  den  Sinn  für  Geistes- 
freiheit auf  den  Fittichen  des  eben  erfundenen  Buchdrucks  in  die 
weitesten  Kreise  trug,  andererseits  durch  epochale  geographische  und 
astronomische    Entdeckungen,    welche   eine    Umwälzung    in    den 


6  Max  Neuburger. 

traditionellen  Vorstellungen  katastrophenartig  herbeiführten  und  den 
lang  abgewandten  Blick  des  menschlichen  Genius  auf  das  unermess- 
liche,  geheimnisvoll  waltende  Reich  der  Natur  wieder  hinlenkten. 
Beide  Richtungen,  Individualismus  und  Realismus,  bilden  im 
Gegensatz  zum  doktrinären  und  metaphysischen  Charakter 
des  Mittelalters  integrierende  Züge  der  Neuzeit. 

Die  Anknüpfung  an  die  Ideen  des  klassischen  Altertums  kam 
zuerst  in  Italien  zu  stände,  wo  Schritt  für  Schritt  kostbare  Ueberreste 
von  Kulturdenkmälern  an  die  grosse  Vergangenheit  mahnten. 

Schon  im  14.  Jahrhundert  fielen  Petrarcas  Anregungen  auf  frucht- 
baren Boden  und  erweckten  zunächst  den  Sinn  für  echte  Latinität,  die 
in  Johann  Malpeghino  von  Ravenna  ihren  besten  Lehrer  fand,  für 
edlere  Ausdrucksweise,  von  der  sich  die  Scholastiker  immer  weiter  ent- 
fernt hatten;  das  w^ahre  Verständnis  der  antiken  Denkart  konnte  sich 
aber  erst  von  der  Zeit  an  wieder  erschliessen,  als  man  anfing,  das 
gänzlich  darniederliegende  Studium  der  griechischen  Originalwerke 
mit  grösserem  Eifer  zu  betreiben.  Dazu  gaben  die  gelehrten  Griechen, 
Chrysolaras,  Georgios  von  Trapezunt,  Theodoros  Gaza,  Bessarion, 
Konstantin  Laskaris  u.  a.,  den  Anstoss,  welche  gelegentlich  der  Ver- 
suche, die  griechische  mit  der  römischen  Kirche  zu  vereinigen  und 
nach  dem  Sturze  von  Byzanz  nach  Italien  kamen,  um,  ausgerüstet 
mit  einem  Schatz  von  wertvollen  Handschriften,  einen  Kreis  von  er- 
lesenen Schülern  um  sich  zu  scharen.  Mit  jugendlicher  Begeisterung 
sammelte  man,  ohne  Mühe  und  Kosten  zu  scheuen,  Handschriften  alter 
Klassiker  und  bald  wurde  die  Philologie  von  treiflichen  italienischen 
Bearbeitern  bebaut,  von  Lorenzo  Valla,  Antonio  Beccadelli,  Ermolao 
Barbaro,  Angelo  Poliziano,  Marsilius  Ficinus  u.  a. 

Unter  dem  Schutz  feinsinniger  Fürsten,  der  Mediceer,  der  Visconti, 
der  Gonzaga,  entwickelte  sich  in  gelehrten  Gesellschaften,  Platonischen 
Akademien  ein  glühender  Kultus  des  Hellenentums,  der  nicht  allein 
bei  der  Form,  beim  klassischen  Sprachstudium  verharrte,  sondern  tiefer 
dringend,  den  Geist  der  Antike  zu  erfassen  und  an  Stelle  der  asketischen 
Ideale  der  Kirche  zu  setzen  suchte.  Lechzend  nach  lang  entbehrter 
geistiger  Befriedigung,  welche  in  den  traurigen  politischen  und  kirch- 
lichen Verhältnissen  der  damaligen  Zeit  nicht  zu  finden  w^ar,  berauschte 
man  sich  an  den  Beispielen  antiker  Heldengrösse,  an  der  krystallklaren 
Wahrheit  der  kühnen  Denker,  an  der  dogmenfreien  Ethik  der  edlen 
Sittenlehrer  und  schöpfte  aus  der  lebensfreudigen  AVeisheit  der  Alten 
glutvollen  Schaffensdrang,  der  sich  frohgemut  über  die  abgestorbenen 
Lebensformen  des  Mittelalters  hinwegsetzte.  Ein  neuer  Geistesfrüh- 
ling  hob  die  ersten  Schwingen,  es  erwachte  das  Selbstbewusstsein 
der  Herrennaturen  und  selbst  die  Knechte  spürten  ihre  Ketten. 

Bei  Plato,  den  die  griechischen  Lehrmeister  besonders  verehrten, 
fand  man  jenen  erfrischenden  Hauch  von  Geistesfreiheit,  den  man  ver- 
geblich in  den  verknöcherten  Uebersetzungen  des  Aristoteles  gesucht 
hatte,  in  den  AVerken  Piatos  lernte  man  erst  den  überquellenden 
Sprachschatz,  die  erhabene  Stilistik  kennen,  welche  die  Meister  der 
Antike  zu  unerreichbaren  Vorbildern  erhob.  Hier  waren  Form  und 
Inhalt,  Kern  und  Schale  einander  völlig  entsprechend,  ganz  im  Ein- 
klang mit  den  schwärmerischen  Vorstellungen,  die.  man  sich  vom 
klassischen  Altertum  seit  jeher  gemacht  hatte.  Bildete  anfangs  nur 
das  ästhetische  Empfinden,  welches  durch  die  Sprachroheiten  der  Zunft- 
gelehrsamkeit verletzt  wurde,   die  Quelle   der  Abneigung   gegen  die 


i 


Einleitung.  7 

Scholastiker,  so  wurde  in  dem  Masse,  als  man  vom  blossen  Bewundern 
der  Form  zum  Verständnis  des  Inhalts  fortschritt,  die  Kluft  immer 
tiefer,  die  sich  zwischen  der  nüchternen  aristotelischen  Dialektik  und 
der  warmfühlenden  Begeisterung  der  Platoniker,  zwischen  Schola- 
stikern und  Humanisten  klaffend  aufthat. 

Mehr  und  mehr  kam  man  zum  Bewusstsein,  dass  im  Palimpsest 
das  wahre  Symbol  der  mittelalterlichen  Geisteskultur  zu  erblicken  ist, 
dass  die  Schriften  des  klassischen  Altertums,  das  herrlichste  unerschöpf- 
liche Bildungsmittel,  nur  verwischt  und  üJDersät  von  den  Lettern  der 
finsteren  Mönchszeit,  der  abstrusen  Spitzfindigkeit  des  Arabismus  über- 
liefert wurden,  dass  man  erst  durch  Beseitigung  der  Schnörkel,  welche 
den  ursprünglichen  Text  unlesbar  machten,  zur  Urschrift  des  freien 
Geistes  gelangen  könne.  In  unbezwingUchem  Streben  nach  universeller 
Bildung  schöpften  die  Humanisten  aus  den  Schriften  der  alten  Weisen 
ihre  polyhistorischen  Kenntnisse,  dort  fanden  sie  die  Grundlagen  der 
Philosophie  und  Mathematik,  der  Jurisprudenz  und  der  Naturwissen- 
schaften. Die  AVünschelrute  der  Sprachkenntnis  spürte  die  verborgenen 
Erzadern  vergessener  Wissenschaft  auf. 

Den  tiefsten  Einfluss  äusserte  der  humanistische  Zeitgeist 
auf  die  Kunst,  welche,  angeregt  durch  die  antiken  Vorbilder,  den  Sym- 
bolismus, die  Starrheit  und  Unpersönlichkeit  der  mittelalterlichen 
Richtung  verliess,  um  sich  ungehindert  durch  bindende  Schulregeln  der 
individuellen  Nachbildung  der  Natur  zuzuwenden.  In  der  Tendenz  nach 
Verweltlichung  bereicherten  die  Künstler  den  Stoffkreis  durch  die 
hellenische  Mj'thologie  und  formten  selbst  die  Gestalten  der  jüdisch- 
christlichen Legende  nicht  finster-drohend,  überirdisch-gewaltig,  sondern 
in  schöner,  herrlicher,  verklärter  Menschlichkeit.  Losgelöst  vom  früher 
obligatorischen  Goldgrund  \Mirden  die  menschlichen  Gestalten  mitten 
in  die  Natur  selbst  hineingestellt  und  empfingen  durch  das  persönliche 
Gepräge  des  Malers  dramatisches  Leben  und  Bewegung,  anstatt  bloss 
symbolisch  in  harten  umrissen  die  Verkörperung  abstrakter  Ideen 
darzustellen.  Welch  gewaltiger  Unterschied  zwischen  den  Heiligen- 
bildern des  Fra  Angelico  und  denen  des  Rafaell  Der  ganze  Wandel 
des  Zeitgeistes  offenbart  sich  in  der  verschiedenen  künstlerischen 
Auffassung!  Den  Höhepunkt  erreichte  die  Kunst  in  Eafael  Sanzio, 
Michelangelo  Buonarotti  und  Lionardo  da  Vinci.  Alle  drei  waren 
Maler,  Bildhauer  und  Architekten  zugleich,  in  jeder  dieser  Künste 
Unvergängliches  schaffend,  alle  drei  waren  ..Platoniker".  Der  Letzt- 
genannte repräsentiert  in  der  U^niversalität  seines  Genies  das  Wesen 
der  Renaissance,  welche  den  befruchtenden  Blütenstaub  freier,  auf 
Anschauung  und  Vernunft  gegründeter  Erkenntnis  von  Garten  zu 
Garten  trug.  Lionardo  da  Vinci  war  Künstler  und  geistvoller  Natur- 
forscher in  einer  Person,  er  förderte  theoretische  und  praktische 
Wissenschaften,  empfahl  bereits  die  induktive  Methode,  leistete  Bahn- 
brechendes in  der  Mathematik,  in  der  Astronomie,  Physik,  Ingenieiu'- 
kunst,  in  der  Botanik,  in  der  Geologie  und  überholte  an  physiologischen 
Vorahnungen  alle  seine  Zeitgenossen.  Humanismus,  Kunst  und  Natur- 
forschung traten  in  innigste  Wechselbeziehung,  bald  als  Ursache 
wirkend,  bald  als  Wirkung  erscheinend. 

Von  Italien  aus  drang  der  Humanismus  bald  nach  den  übrigen 
Ländern,  wurde  in  Frankreich  durch  Tj-phernas  und  Alexander,  in 
England  durch  Linacre  und  Grocyn  vertreten;  namentlich  aber  ge- 
wann er  in  den  Niederlanden  und  in  Deutschland,  wo  schon  Aeneas 


8  Max  Neuburger. 

Sylvius,  Nicolaus  Cusanus,  Regiomontanus  die  Bewegung  vorbereitet 
hatten  und  die  Kunst  durch  Dürer,  Cranach  und  Holbein  zur  Blüte 
gelangt  war,  begeisterte  Anhängerschaft.  Mittelpunkte  derselben 
wurden  mehrere  nach  dem  Muster  der  Platonischen  Akademien  ge- 
stiftete gelehrte  Vereinigungen,  wie  z.  B.  die  „Donaugesellschaft". 
Besonders  hervorragende  Bedeutung  erlangte  die  Rheinische  Gesell- 
schaft, sie  zählte  in  ihrer  Liste  Namen  von  berühmten  Klang,  wie 
den  gelehrten  Abt  Trithemius,  den  Nürnberger  Patrizier  Willibald 
Pirkheimer,  den  Dichter  Conrad  Celtes,  ferner  Rudolf  Agricola,  Joh. 
Reuchlin  und  Erasmus  von  Rotterdam,  Namen,  mit  denen  die  Ge- 
schichte des  geistigen  Aufschwungs  untrennbar  verbunden  ist. 

In  Deutschlands  freien  Städten  mit  ihrem  wohlhabenden  und 
ideal  denkenden  Bürgerstand  fanden  die  Bestrebungen  der  Humanisten 
sorgsamste  Pflege  und  verständnisvolle,  thatkräftige  Unterstützung. 
Die  grösste  Förderung  verdankten  sie  der  folgenreichsten  aller  Er- 
findungen, der  Buchdruckerkunst,  welche  als  Sendbote  der  Wissen- 
schaft immer  weiteren  Kreisen  die  Anteilnahme  an  den  geistigen  Er- 
rungenschaften ermöglichte,  die  stille  Denkarbeit  des  Forschers  aut 
den  Markt  des  Lebens  hinaustrug,  dem  entfachten  Gedanken  mit 
Ueberwindung  von  Raum  und  Zeit,  beflügelte  Verbreitung  und  un- 
gemessene Fortdauer  sicherte. 

Guttenbergs  Erfindung  eröffnete  dem  kulturellen  Fortschritt  mit 
einem  Male  neue  breite  Bahnen  und  wurde  zur  gefährlichen  Rivalin 
der  Kanzel,  sie  führte  den  Wissensdurstigen  zur  Quelle  zurück  und 
lieh  den  Denkern  die  wirksamste  Waffe  im  Kampfe  gegen  Autoritäten, 
deren  Macht  nur  im  Dunkel  der  Unwissenheit  wurzelte.  Wie  die 
Erfindung  der  Schusswaffen  der  Raubherrschaft  der  Ritterburgen  ein 
Ende  bereitete,  so  brachte  die  Druckerpresse  die  geistige  Uebermacht 
zu  Falle,  welche  eine  einzelne  Kaste  jahrhundertelang  innegehabt  hatte. 
Im  Zusammenhang  mit  der  wachsenden  Pflege  der  Nationalsprachen 
und  befördert  durch  das  verbesserte  Schulwesen,  das  mehr  und  mehr 
in  die  Hände  der  weltlichen  Macht  überging,  ergoss  sich  die  Bildung 
auf  immer  breitere  Schichten  des  Volkes,  das  im  Mittelalter  nur  als 
Sache  behandelt  worden  war. 

Den  grössten  Vorschub  aber  leistete  die  schwarze  Kunst  der 
Reformation,  welche  neben  dem  Humanismus  und  weiterdringend 
als  dieser  das  Wesentlichste  zur  Befreiung  der  Geister  vom  Joch  der 
Tradition  selbst  auf  religiösem  Gebiete  beitrug.  Auf  den  Verkehrs- 
wegen der  Buchdruckerkunst  wurde  zum  ersten  Male  die  öffentliche 
Meinung  zum  entscheidenden  Votum  aufgerufen,  durch  flammende 
Flugschriften  die  Masse  aus  ihrem  Stumpfsinn  erweckt  und  für  Denk- 
freiheit empfänglich  gemacht.  Die  übersetzte  und  gedruckte  Bibel 
erschloss  fürderhin  jedem  einzelnen  die  Grundlage  des  Glaubens  und 
gewährte  klaren  Einblick  in  dogmatische  Fragen,  die  der  junge 
Protestantismus  ohne  Scheu  der  Vernunft  und  Urteilskraft  zu  unter- 
werfen wagte. 

In  Fragen  der  Wissenschaft  war  schon  vor  dem  Siegeszuge  der 
Reformation  die  Autorität  der  Kirche  und  der  Alten  durch  gewaltige  Er- 
rungenschaften untergraben  worden.  Die  Entdeckung  Amerikas, 
ein  Ereignis,  das  bekanntlich  durch  ganz  falsche  Voraussetzungen  ver- 
anlasst wurde  und  den  Traum  von  der  Atlantis  zur  Wahrheit  machte, 
entkräftete  die  herrschende  Anschauung,  die  aus  dogmatischen  Gründen 
die  Unmöglichkeit  der  Existenz  von  Antipoden  a  priori  statuiert  hatte 


Einleitang.  9 

und  zeigte  die  Unzulänglichkeit  des  bisherigen  Wissens,  das  über 
die  neuentdeckte  Kulturwelt,  über  die  wunderbare  Fauna  und  Flora 
des  neuen  Erdteils  gänzlich  im  Unklaren  liess.  Immer  stürmischer 
erhoben  sich  Zweifel  an  der  absoluten  Zuverlässigkeit  der  Autoritäten, 
und  nach  langer  Stagnation  wurde  die  Wissenschaft  wieder  gebieterisch 
auf  den  Weg  der  eigenen  Forschung  hingedrängt. 

Die  übeiTasch enden  Erfahrungen,  die  auf  den  Entdeckungs- 
fahrten der  Spanier  und  Portugiesen  in  überquellender  Fülle  erworben 
wurden,  entzündeten  die  Liebe  zur  Natur,  die  im  Mittelalter  unter  der 
Herrschaft  asketischer  Grundsätze  wie  etwas  Böses.  Teuflisches  ge- 
mieden worden  war.  Die  Geographie  der  Alten  erweiterte  sich  unge- 
ahnt, und  notgedrungen  schwand  die  beschränkte  Annahme,  welche 
das  Mittelmeer  als  Centrum  betrachtete.  Die  Auffindung  eines  Seewegs 
nach  Indien  durch  Vasco  da  Gama.  dann  Magelhaens"  Weltumseglung 
zerschmetterte  vollends  die  kindischen  Vorstellungen,  die  seit  Lactantius 
ausschliesslich  mit  dem  kirchlichen  Glauben  vereinbar  schienen  und 
bewies,  wie  richtig  schon  Pj^thagoras.  Parmenides.  Aristoteles  und 
Ptolemaios  über  die  Kugelgestalt  der  Erde  gedacht  hatten.  So  folgte 
Schlag  auf  Schlag,  in  rascher  Aufeinanderfolge  wurden  die  traditionellen 
Fabeln  durch  epochale  Thatsachen  Lügen  gestraft.  Die  grösste  Um- 
wandlung erfuhr  die  Astronomie  durch  die  kühnen  deutschen  Forscher, 
Peurbach,  Eegiomontanus,  Beheimb  und  Schoner.  Auf  ihre  Vorarbeiten 
gründete  Kopernikus  die  heliocen frische  Theorie,  deren  fana- 
tische Bekämpfung  die  wissenschaftliche  Autorität  der  Theologen  wohl 
am  meisten  schädigte.  Mit  Flammenschrift  verkündete  diese  Theone. 
dass  das  Heil  der  Wissenschaft  nur  auf  den  Höhen  der  freien  Forschung 
zu  finden  ist. 

Jti  d'  l).evd-£Qov  tivuL  rfj  yvwur^  zov  jui'/j.ovra  (fi/.oaofpeir,  wer  der 
Wissenschaft  wahrhaft  dienen  will,  muss  vor  allem  freien  Geistes  sein, 
sagte  gerade  der  Ptolemaios,  dessen  geocentrisches  astronomisches 
System  die  Kirche  wie  eine  Glaubenssache  verteidigte.  Die  Folge- 
zeit hat  es  bezeugt,  dass  die  Erhabenheit  der  Religion  keine  Einbusse 
erleiden  muss,  wenn  sie  sich  von  den  Schlacken  der  Zeit  befreit,  dass 
das  religiöse  Gefühl  auch  dann  ungeschwächt  fortdauern  kann,  wenn 
man  der  Wissenschaft  auf  ihrem  Gebiete  ungehinderte  selbständige 
Entfaltung  gönnt.  Der  mittelalterliche  Dogmatismus  aber,  der  religiöse 
und  wissenschaftliche  Wahrheiten  für  identisch  erklärte,  die  aus- 
schliessliche Suprematie  forderte,  keine  Wissenschaften  und  Künste, 
sondern  nur  eine  christliche  Wissenschaft,  eine  christliche  Kunst  be- 
stehen lassen  wollte,  hatte  vor  jeder  neuen  geistigen  Bewegung  zu 
zittern  und,  als  sich  die  neu  aufkommenden  Eichtungen  des  Humanis- 
mus, der  künstlerischen  Renaissance,  der  Naturwissenschaft  nicht  mehr 
unterdrücken  Hessen,  musste  er  im  Widerstreit  mit  ihnen  unterliegen. 

Niemals  zuvor  war  der  Umkreis  der  Vorstellungen  in  solchem 
Ausmass  und  so  sprunghaft  erweitert  worden !  Eine  neue  Erde  offen- 
barte sich  dem  erstaunten  Blick,  neue  Quellen  wurden  dem  Wissen 
unerwartet  gegraben,  nutzbringende  Kenntnisse  reihten  sich  eben- 
bürtig an  die  viel  bewunderten  Geistesthaten  der  Alten.  Noch  von 
giiisserer  Tragweite  aber  als  der  empirische  Gewinn,  der  im  Zeitalter 
der  Entdeckungen  der  AVissenschaft  zu  teil  wurde,  war  die  psycho- 
logische Wirkung,  welche  die  neuen  Errungenschaften  auf  die  Ge- 
müter ausübten.  Das  Bewusstsein  des  eigenen  Könnens,  das  im  Mittel- 
alter nahezu  völlig  abhanden  gekommen  war,  die  Erkenntnis,  dass  die 


10  Max  Neuburger. 

Kultur  der  Antike  nur  eine  Entwicklungsphase,  keinen  endgültigen 
Abschluss  bedeute,  durchflutete  das  ganze  Geistesleben  und  Hess  den 
Vergleich  zwischen  Vergangenheit  und  Gegenwart  wieder  zu.  Die 
Kritik  war  geboren,  durchsetzte  als  Ferment  den  ge- 
samten Kulturprozess  und  entfesselte  die  Triebkräfte 
des  P'ort Schritts. 

Von  der  Kritik  hervorgerufen,  erstanden  in  der  Neuzeit  drei 
Wissenszweige,  die  dem  Mittelalter  nahezu  gänzlich  fremd  bleiben 
raussten:  die  Philologie,  die  Geschichtswissenschaft,  die 
Naturforschung.  Die  erst  genannte  Wissenschaft  bildete  die 
Grundlage  der  beiden  anderen,  sie  lieferte  ihnen  nicht  bloss  thatsäch- 
liches  Material,  sondern  wurde  sogar  durch  ihre  Methode  der 
kritischen  Vergleichung  als  Vorbild  massgebend. 

Die  Philologie  nahm  ihren  Ausgangspunkt  von  der  Sammlung  und 
Vergleichung  der  überlieferten  Texte  und  bemühte  sich,  den  Wortlaut 
derselben  auf  Grund  linguistischer  und  sachlicher  Erwägungen  her- 
zustellen. Die  gesichteten  Quellen  bildeten  das  Material  für  die  Ge- 
schichtswissenschaft, welche  ihren  legendenhaften,  allegorischen  Cha- 
rakter abstreifte  und  sich  durch  philosophische  Verarbeitung  des 
Gegebenen  über  die  mittelalterliche  Annalenlitteratur  erhob;  sie  be- 
richtete nicht  mehr  bloss  über  das  Gewesene  und  Gewordene,  sondern 
suchte  das  Werden  selbst,  die  Gesetze  der  Entwicklung  zu  erfassen. 

Nach  dem  Vorbild  und  im  direkten  Anschluss  an  die  Philologie 
entwickelte  sich  auch  die  Naturwissenschaft,  indem  sie  auf  dem  Wege 
der  litterarischen  und  sachlichen  Materialiensammlung,  auf  dem  Wege 
der  Sichtung,  Vergleichung  und  Eeflexion  ihren  Zielen  zustrebte.  An 
die  Kritik  der  Schriften  knüpfte  sich  die  Kritik  der  Thatsachen.  Es 
war  kein  Zufall,  dass  gerade  die  bedeutendsten  Naturforscher  des 
Cinquecento  auch  treffliche  Philologen  waren,  fanden  sie  doch  in  der 
Schule  der  Altertumswissenschaft  nicht  nur  gelehrtes  Rüstzeug,  sondern 
auch  die  beste  Anleitung  zur  wissenschaftlich  exakten  Forschung! 
Vor  allem  verrät  sich  dieser  Zusammenhang  in  den  beschreibenden 
Naturwissenschaften,  welche  sich  wegen  der  Neutralität  ihres  Objekts 
am  frühesten  vom  Zwang  des  Dogmatismus  befreien  konnten  und  da- 
her im  16.  Jahrhundert  bereits  zu  hoher  Blüte  gelangten.  Man  be- 
gann zunächst  mit  der  kritischen  Säuberung  der  Texte  des  Aristoteles, 
Theophrast,  Plinius  und  Dioskurides,  schritt  sodann  fort,  indem  man 
das  überkommene  Wissen  durch  selbständige  Erforschung  der  heimischen 
und  tropischen  Naturprodukte  bereicherte,  und  erklomm  endlich  eine 
empirische  Wissenshölie,  von  der  man,  die  Fülle  des  Stoffes  überschauend, 
ordnend  eingreifen  und  eine  rationelle  Systematik  begründen  konnte. 

Im  Sinne  dieses  Stufengangs  sichteten  zunächst  Ermolao  Barbaro,  Nicola 
Leoniceno ,  Giov.  Manardo ,  Pierandrea  Mattioli  u.  a.  die  alten  Texte  in 
kritischer  Weise,  vermehrten  Otto  Brunfels,  Leonhard  Fuchs,  Hieronymus 
Tragus  (Bock),  Jac.  Theod.  Tabernaemontanus  die  Kenntnisse  über  die  ein- 
heimische Flora,  während  Garcia  d'Orta,  Christobal  Acosta,  Oviedo  y  Valdes, 
Nicola  Monardes,  Leonhard  Rauwolf,  Prospero  Alpini  autoptische  Beobach- 
tungen über  die  Pflanzenwelt  Amerikas  und  Asiens  in  ihren  Reisebeschrei- 
bungen niederlegten.  Maranta,  Anguillara,  Rembert  Dodoens,  Matth. 
Lobelius.  Charles  de  l'Ecluse,  Jean  Ruelle  fassten  das  botanische  Wissen 
ihrer  Zeit  zusammen ;  Belon  bearbeitete  die  Naturgeschichte  der  Vögel ; 
Rondelet   die    Naturgeschichte   der  Fische ;   misse  Aldrovandi   wirkte   bahn- 


Einleitung.  11 

brechend  auf  dem  Grebiete  der  vergleichenden  Anatomie  und  Entwicklungs- 
geschichte. "Wie  Aldrovandi  das  zoologische  Material  von 
grossen  Gesichtspunkten  ausgehend,  ordnete,  so  ersannen 
Gesner  und  Cesalpini  zuerst  für  die  Botanik,  Agricola  für 
die  Mineralogie  eine  brauchbare  Systematik.  Conrad  Gesner, 
der  einen  Schatz  von  bewunderungswürdigen  botanischen  und  zoologischen 
"Werken  hinterliess,  ebenso  wie  A.  Cesalpini,  der  grösste  Botaniker  seines 
Jahrhunderts,  stellten  als  Vorläufer  Linnes  Systeme  auf,  in  welchen  die 
Pflanzen  nach  der  Gestalt  der  Blüten  und  Früchte  klassifiziert  wurden, 
während  Georg  Agricola  den  "S^ersuch  machte,  die  Mineralien  mit  Rücksicht 
auf  ihre  äusseren  Merkmale  in  verschiedene  Gruppen  einzuteilen,  wodurch 
er  sich  neben  Christoph  Encelius  und  Job.  Kentmann  die  höchsten  Verdienste 
um  die  wissenschaftliche  Begründung  der  Mineralogie  erwarb. 

Der  mit  Kritik  gepaarte  Sammeleifer,  welcher  Philologen  und 
Naturforscher  beseelte.  Hess  rasch  die  Früchte  des  Fleisses  heranreifen 
und  zwang  auch  die  Fernerstehenden  zur  Anerkennung.  Der  reale 
Zug.  der  sich  in  den  Fortschritten  der  empirischen  Naturerkenntnis 
sieghaft  geltend  machte,  die  historische  Auffassung  der  Weltbegehen- 
heiten  (seit  Machiavellrs  grundlegenden  Gedanken)  mehr  mit  Wahr- 
heitstreue erfüllte  und  selbst  die  Konzeption  der  Künstler  beeinflusste, 
erscheint  auch  als  kritisches  Korrektiv  in  den  philosophischen 
Spekulationen,  welche  die  genialsten  Repräsentanten  der  Re- 
naissance ersannen. 

Gerade  aus  der  Analyse  der  Zeitphilosophie  ei-fährt  man  am 
besten,  welchen  Grundelementen  eine  Epoche  ihre  charakteristische 
Signatur  verdankt ;  denn  zum  grossen  Teile  bedeuten  die  philosophischen 
Spekulationen  nichts  anderes  als  Spiegelungen  der  Welt  in  den  Zeit- 
strömungen, im  Bewusstsein  zeitverständiger  Denker.  Die  philo- 
sophischen Systeme  repräsentieren  gleichsam  das  Selbstbewusstsein 
ihrer  Zeit,  sie  formulieren  nur  das  in  prägnanter  Schärfe,  was  un- 
bewusst  und  triebartig  in  den  Geschehnissen  ihrer  Epoche  lebt  und 
wirkt. 

In  der  Renaissance,  wo  die  Kulturkräfte  noch  mit  jener  Unge- 
bundenheit,  in  jener  unabgesclüiffenen  Gegensätzlichkeit  walteten,  wie 
sie  der  Status  nascendi  mit  sich  bringt,  stellt  die  Zeitphilosophie  um- 
somehr  ein  farbenfrisches  Abbild  des  geistigen  Ringens  dar.  als  vor- 
wiegend solche  Männer  zusammenfassende  Lehrsysteme  zimmerten, 
welche  ihre  Gedanken  der  pochenden  Brust  des  Lebens  entnahmen 
und  sich  aus  dem  Staubgewühl  des  Kampfes  zur  Warte  überschauender 
Reflexion  emporschwangen.  Die  wunderliche  Mischung  von  Wirk- 
lichkeitssinn und  Mystik,  welche  der  damaligen  Geistesrichtung  eigen- 
tümlich war,  das  Gemenge  von  prophetischem  Tiefsinn  und  absurdem 
Aberwitz,  von  hellster  Einsicht  und  finsterstem  Aberglauben  (Hexen- 
wahn), von  glühender  Begeisterung  und  absolutem  Skeptizismus,  welches 
chaotisch  gärend  im  Leben  und  in  der  Wissenschaft  die  tollsten  Blasen 
warf,  trat  auch  in  der  Philosophie  zu  Tage  und  machte  sie  zum  Sammel- 
platz kontrastierender  Strömungen,  denen  nur  eine  Tendenz  gemein- 
sam innewohnte,  das  Streben,  den  sehnsuchtsvollen  Drang  nach  um- 
fassender Erkenntnis  zu  befriedigen. 

Aber  mitten  im  Lärm  dieser  Wallpurgisnacht  erhebt  sich  als 
Heroldruf  der  neuen  Zeit  die  Stimme  der  realen  Forschung, 
anfangs  scliwacli  und  übertönt,  dann  immer  lauter  und  den  Raum  be- 


12  Max  Neuburger. 

herrschend.  Ihre  grösste  Gegnerin,  die  Scholastik,  war  durch  den 
Humanismus  zum  Schweigen  gebracht  worden  und  seitdem  wurde  ihr 
Wert  nicht  mehr  verkannt,  gleichgültig  ob  der  neu  erweckten  plato- 
nischen oder  aristotelischen  Philosophie  die  Palme  gereicht 
wurde,  oder  ob  eine  neu  ersonnene  schwärmerische  Naturphilo- 
sophie den  Sieg  davontrug;  denn  jede  dieser  Modifikationen  des 
spekulativen  Gedankens  wusste  die  Fortschritte  der  Naturerkenntnis, 
geschickt  verkleidet,  zu  Stützen  der  Deduktion  zu  machen  und  trachtete 
dieselben  nur  als  logische  Konsequenz  ihrer  obersten  Prinzipien  dar- 
zustellen. Der  Unterschied  lag  nur  in  der  grösseren  oder  geringeren 
Beimengung  von  Mystik. 

Die  neue  peri patetische  Schule,  welche  zur  völligen  Scheidung 
der  philosophischen  Wahrheit  und  des  Kirchenglaubens  führte,  leitete 
schon  vermöge  des  ihr  wesentlich  innewohnenden  Eealismus  zur  Natur- 
forschung und  gewann  deshalb  hauptsächlich  die  Aerzte  zu  Anhängern. 
Der  Wortführer  dieser  Schule,  Pietro  Pomponazzi  suchte  in  einer 
1520  erschienen  Schrift  den  Wunderglauben  einzuschränken  und 
führte  vieles,  was  man  zu  seiner  Zeit  für  Hexenkünste  ansah,  auf 
Naturgesetze  (freilich  meistens  astrologische)  zurück.  Einer  der  über- 
zeugtesten Anhänger  und  Verteidiger  des  Aristoteles,  Andrea  Cesalpihi 
(1519 — 1603);  der  den  entschiedensten  Pantheismus  lehrte,  erwarb  sich 
als  Arzt  und  Naturforscher  Verdienste,  welche  die  Geschichte  der 
Naturwissenschaft  rühmend  anerkennt.  Für  ihn  waren  die  Leitsätze 
der  peripatetischen  Schule  auch  in  der  realen  Forschung  Ziel  und 
Eichtung  gebend.  Allerdings  darf  nicht  verschwiegen  werden,  dass 
nur  die  wenigsten  den  realen  Kern  des  Aristotelismus  im  Geiste  der 
Naturforschung  zu  erfassen  verstanden,  während  die  meisten  Anhänger, 
irregeführt  durch  das  Beispiel  der  Scholastiker,  einzig  in  der  erstarrten 
spitzfindigen  Syllogistik,  im  dialektischen  Formalismus  das  Wesen  der 
peripatetischen  Richtung  erblickten  und  daher  lediglich  diese  Seite  des 
Systems,  namentlich  zur  Beweisführung  in  theologischen  Fragen  aus- 
beuteten. Nur  in  diesem  Sinne  und  zu  diesem  Zwecke  wurde  die 
aristotelische  Philosophie  an  katholischen  und  protestantischen  Uni- 
versitäten gepflegt,  an  den  letzteren  von  Luther  und  Melanchthon 
eingeführt.  Das  gleiche  Miss  Verständnis,  welches  den  schief  auf- 
gefassten  oder  mittelalterlich  korrumpierten  Aristotelismus  mit  der 
reinen  Lehre  des  Peripatetikers  identifizierte,  war  auch  die  Ursache, 
dass  viele  hochstehende  Geister  die  letztere  gänzlich  verwarfen  und 
mit  einer  Leidenschaft  bekämpften,  die  einer  besseren  Sache  würdig 
gewesen  wäre.  Li  ihrer  Abneigung  gegen  den  Kirchenphilosophen 
■/.at"  k^oyfjV  warfen  sie  sich  dem  Piatonismus  in  die  Arme  und  glaubten 
in  dessen  Ideenlehre  den  Schlüssel  zur  Erkenntnis  aller  Einzelheiten 
zu  finden. 

Die  platonische  Philosophie  bildete,  wenn  auch  vielleicht 
weniger  als  der  nüchterne  naturalistische  Aristotelismus  zur  Führerin 
geeignet,  kein  Hindernis  für  die  reale  Naturforschung;  wurde  doch  schon 
unter  Cosimo  von  Medici,  wahrscheinlich  durch  Plethons  Einfluss,  in 
Florenz  eine  physikalische  Gesellschaft  gebildet.'  sind  doch  einige  Be- 
gründer der  neueren  Physik  gerade  unter  den  Piatonikern  Italiens  zu 
finden,  zählten  doch  Nicolaus  Cusanus  und  Lionardo  da  Vinci  zu 
ihrem  erlesenen  Kreis. 

Leider  aber  drang  unter  dem  Banner  der  platonischen  Philosophie, 
welche  die  griechischen  Gelehrten  verbreitet  hatten,  auch  die  M3^stik 


Einleitung.  13 

in  die  Kultur  der  Renaissance  ein.  in  Form  des  Xeuplatonismus  und 
Neupythagoreismus,  welcher  in  Byzanz  eifrig  gepflegt  worden  war. 
Die  theurgisch-magischen  Schwärmereien  der  Alexandriner  und  Byzan- 
tiner traten  wieder  an  die  Oberfläche,  die  ganze  Unsumme  von 
phantastisch-spekulativem  Wunderglauben,  von  methodischer  Thorheit, 
welche  der  Orient  über  die  Beziehungen  des  Makrokosmus  zum 
Mikrokosmus  in  Form  der  Korrespondenzlehre,  der  geheimnisvollen 
Sympathie  und  Antipathie  aller  Dinge  seit  Jahrtausenden  aus- 
gesponnen und  aufgespeichert  hatte,  erhob  sich  von  neuem,  die 
Dämonologie,  Emanationslehre,  Astrologie,  Alchemie,  Nekromantie, 
Oneiromantie.  Chiromantie  und  andere  Afterweisheiten  lockten  viele 
der  besten  Geister  vom  Arbeitsfelde  der  empirischen  Forschung  in  ihre 
dämmerigen  Labyrinthe  und  hielten  sie  im  Zaubergarten  der  Mystik 
gefangen. 

Die  erneute  Sprachkenntnis,  welche  die  klassische  Weisheit  der 
Antike,  den  erhabenen  Inhalt  der  Bibel  erschlossen  hatte,  vermittelte 
auch  die  trübe  Wissenschaft  des  Biotin.  Jamblichos  und  Proklos,  des 
berüchtigten  ,.Hermes  Trismegistos",  der  Kabbala.  Der  florentiner 
Arzt  Marsilio  Ficino  (1433 — 1499),  das  Haupt  der  dortigen  berühmten 
platonischen  Akademie,  übersetzte  eine  Reihe  solcher  allegorisch-kosmo- 
sophischer  Werke  und  fand  die  gelehrigsten  Schüler  im  älteren  und 
jüngeren  Pico  von  Mirandola.  Durch  diese  wurde  der  grosse  Reuchlin, 
welcher  sich  rühmen  durfte,  der  Kirche  die  Kenntnis  des  Hebräischen 
wieder  geschenkt  zu  haben,  angeregt,  den  Piatonismus  und  Pytha- 
goreismus  mit  kabbalistischen  Vorstellungen  zu  verschmelzen.  Nach 
ihm  waren  es  besonders  der  abenteuerliche  aber  geistvolle  Arzt  Heinrich 
(Cornelius  Agrippai  von  Xettesheim  (1486 — 1535)  und  der  Lehrer  des 
Paracelsus,  der  gelehrte  Abt  zu  Sponheim  und  Würzburg  Joh.  Triet- 
heim,  welche  diese  Richtung  nach  Deutschland  verpflanzten. 

Aber,  so  sehr  die  Sehnsucht  nach  höherer  Weisheit  durch  das 
Gaukelspiel  der  Phantastik  im  allgemeinen  befriedigt  wurde,  so  sehr 
die  Mystik  in  Anbetracht  der  geringen  Entwicklung  positiver  Xatur- 
kenntnis  Gelegenheit  zur  Entfaltung  der  Denkthätigkeit  darbot,  be- 
währte sich  auch  hier  das  Gesetz,  dass  gerade  die  höchste  Ueber- 
treibung  wieder  zu  den  Wegen  der  schlichten  Vernunft  zurückleitet. 
Der  eifrige  Xeuplatoniker  Giovanni  Pico  schrieb  zwölf  Bücher  gegen 
die  Astrologie  und  Heinrich  von  Xettesheim,  der  eine  phantastische 
Schrift  de  occulta  philosophia  verööentlicht  hatte,  gelangte  später  zum 
äusserten  Skeptizismus,  wovon  das  Buch  de  incertitudine  et  vanitate 
scientiarum  (1530)  beredtes  Zeugnis  liefert. 

Eben  dieser  Skeptizismus  begründete  gesündere  Anschauungen, 
denn  er  forderte,  ohne  an  der  Fähigkeit  des  Menschen  zur  Erkenntnis 
zu  verzweifeln,  eine  frische  Umackerung  der  Wissenschaft  durch  die 
Pflugschar  neuer  redlicher  Forscherarbeit  und  neuer  Methoden.  In 
diesem  Sinne  \drkten  schon  im  16.  Jahrhundert  einige  Philosophen 
als  Vorläufer  Bacons  wie  Pierre  de  la  Ramee,  Luis  Vives,  Montaigne, 
Charron  und  Sanchez.  Die  üeberzeugung,  dass  es  nicht  genügt  und 
gänzlich  nutzlos  ist,  nach  Art  eines  Raimund  Lull,  ohne  jede  reale 
Kenntnis  über  alle  Wissenschaften  schwärmend  zu  spekulieren,  er- 
starkte zunehmend,  und  nirgends  findet  sich  ein  verlässlicherer  Pegel 
für  das  fortschreitende  Anschwellen  dieser  Erkenntnis  als  in  den 
naturphilosopliischen  Systemen,  welche  einige  kühne  italienische 
Denker  in   synkretistischer  aber  kritischer  Verwertung  der   antiken 


14  Max  Neuburger. 

Ideen  und  in  Anlehnung-  an  die  inzwischen  gezeitigten  naturwissen- 
schaftlichen Errungenschaften  aufbauten.  Der  lang  vergessene  Ge- 
danke des  Maximus  Confessor,  dass  Gott  seine  Offenbarungen  in 
zwei  Büchern,  der  Welt  und  der  Bibel,  niedergeschrieben  habe,  kam 
von  neuem  zur  Geltung  und  trennte  wohlthätig  das  Reich  des  codex 
scriptus,  des  Glaubens,  vom  Reich  des  codex  vivus,  der  Wissenschaft. 

In  den  sinnlichen  Wahrnehmungen,  in  der  Natur  allein  suchte  Ber- 
nardino  Telesio,  der  Stifter  der  Consentinischen  Akademie,  die  Quelle 
aller  Erkenntnis,  sentire  est  scire  lautet  der  Wahlspruch  des  Thomas 
Campanella!  Und  wenn  Telesio  an  Stelle  mj^stischer  Sympathien 
wenige  unabänderliche  Naturgesetze  setzt,  die  Stetigkeit  und  Ewigkeit 
der  Materie  lehrt,  die  geistigen  Funktionen  in  letzter  Linie  stets  auf 
Wahrnehmungen  zurückführt,  (selbst  die  Geometrie  bedürfe  der  Er- 
fahrung) eine  grosse  Zahl  von  physiologischen  Erscheinungen  durch 
Kontraktion  und  Expansion  (z.  B.  der  Blutgefässe)  erklärt,  wenn 
Campanella  Vernunft  und  Erfahrung,  nicht  aber  Bibelsprüche  als 
Beweisgründe  der  Naturforschung  gelten  lässt  und  das  Interesse  der 
Schulen  mehr  auf  Mathematik  und  Naturwissenschaft  als  auf  die 
Pflege  der  Grammatik  zu  lenken  empfiehlt,  w^enn  Baptista  Porta,  der 
Begründer  der  neueren  Optik,  der  Erfinder  der  Camera  obscura,  trotz 
seiner  Signaturenlehre  eine  grosse  Zahl  von  „magischen"  Erscheinungen 
von  natürlichen  Ursachen  (in  seiner  Magia  naturalis)  ableitet  und  den 
Hexenwahn  bekämpft,  so  verrät  sich  die  tief  einschneidende  Wandlung, 
welche  die  Naturauffassung  im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts  in  ihren 
Grundprinzipien  durchgemacht  hat. 

Die  Morgensonne  der  neueren  Naturwissenschaft,  welche  nach  Los- 
reissung  vom  Fetischismus  durch  nüchterne  Beobachtungen  und  Er- 
fahrungen den  Grundstein  zu  ihrer  späteren  Grösse  legte,  warf  ihre 
ersten  Strahlen  auf  die  empiänglichen  Geister.  Zwar  mussten  noch 
Opfer  fallen!  Am  17.  Februar  i600  wurde  Giordano  Bruno  auf  dem 
Campo  di  Fiora  verbrannt,  er  starb  als  Märtyrer  für  seine  wissenschaft- 
liche Ueberzeugung,  als  Blutzeuge  der  Denkfreiheit;  neunzehn  Jahre 
später  traf  den  Naturalisten  Vanini  ein  ähnliches  Schicksal.  Der  Lauf 
der  Entwicklung  Hess  sich  aber  nicht  mehr  aufhalten.  Die  Saat,  welche 
am  Beginne  des  16.  Jahrhunderts  ausgestreut  worden  war,  schoss 
mächtig  in  die  Halme,  auf  manchen  Gebieten  errangen  die  refor- 
matorischen geistigen  Bewegungen  ein  glänzendes  Endziel,  auf  manchen 
bahnten  sie  nur  den  VV^eg  zu  Zielen  an,  welche  erst  die  kommenden 
Jahrhunderte  zu  erreichen  vermochten.  Das  wichtigste  Facit  lag  aber 
darin,  dass  die  Naturforschung  sich  endlich  Sitz  und  Stimme  im  Rate 
erkämpft  hatte,  dass  sich  ihrer  befreienden  Wirkung  fürderhin  kein 
Mitstreiter  im  Reiche  des  Geistes  zu  entziehen  vermochte. 

D ie  Kult u r geschichte  möge  es  gerechterw^ eise  lauter, 
als  es  bisher  geschah,  anerkennen,  dass  damals  kein 
Stand  mehr  an  der  geistigen  Emanzipation  mitgearbeitet 
hat  als  dieAerzte,  welche  in  ihrer  grossen  Mehrheit  der 
freiheitlichen  Richtung  angehörten  und  auf  den  ver- 
schiedensten Gebieten  fruchtbringend  wirkten.  Eine 
überraschende  Zahl  von  Sendboten  der  neuen  Ideen,  ja  sogar  manche 
der  grossen  Pfadfinder  gingen  aus  dem  Aerztestande  hervor  oder  ge- 
hörten ihm  zeitlebens  an. 

In  allen  Lagern  des  Fortschritts  waren  Aerzte  zu  finden.  Ko- 
pernikus   studierte   in  Padua  Medizin,   Caspar  Peucer  und  Crato   von 


Einleitung:.  15 

Krafftheim  wirkten  für  Luthers  Sache,  der  hochverdiente  Pflanzen- 
physiologe Cesalpini,  der  Polyhistor  Conrad  Gesner,  die  Mineralogen 
Agricola  und  Schwenckfeld.  der  Aristoteliker  Achillini.  der  Stifter  der 
platonischen  Akademie  Marsilius  Ficinus,  eine  reiche  Zahl  von  treff- 
lichen Philologen  und  Humanisten,  der  Psj'chologe  Juan  Huarte,  der 
Mathematiker  und  Philosoph  Cardano.  der  Skeptiker  Sanchez,  der 
Chemiker  Libavius,  die  Physiker  Gilbert.  Fernel.  der  die  erste  genauere 
Messung  eines  Grades  des  Meridians  vornahm,  und  manche  andere 
hochverdiente  Forscher  auf  den  verschiedensten  Wissensgebieten  waren 
Aerzte.  Es  war  ein  einfacher  Praktiker  aus  dem  Städtchen  Palos, 
namens  Garcia  Hernandez,  der  sich  im  Gegensatz  zur  Universität 
Salamanca  günstig  für  das  Projekt  des  Columbus  aussprach,  es  waren 
Aerzte  wie  Ficinus.  Manardo  und  Mundella,  die  gegen  die  Irrlehre 
der  Astrologie  ankämpften,  und  als  es  galt,  der  traurigsten  Verirrung 
des  Zeitalters  entgegenzuwirken,  dem  Hexenglauben,  trat  ein  edler 
menschenfreundlicher  Arzt  mit  Opfermut  und  unter  Lebensgefahr  in 
die  Schranken  —  Job.  Wyer. 

Andererseits  beschäftigten  sich  gelehrte  Laien,  Humanisten  und 
Philosophen  (Campanella.  Dudith  von  Horekowicz)  mit  Fragen  der 
medizinischen  ^Yisseuschaft.  des  medizinischen  Unterrichts,  und  manche 
unter  ihnen,  wie  Eamus  und  der  „spanische  Bacon",  Luis  Yives.  eilten 
hierin  ihrer  Zeit  weit  voraus.  Geeignete  Centren  für  die  Wechsel- 
beziehung der  Gelehrten  fanden  sich  in  den  wissenschaftlichen  Ver- 
einigungen und  in  den  Universitäten,  welche  gerade  im  16.  Jahrhundert 
unter  dem  Einfluss  des  zunehmenden  Wohlstands  (besonders  in  Spanien), 
unter  der  Aegide  des  Partikularismus  der  Fürsten  und  infolge  der 
religiösen  Spaltung  (in  Deutschland)  ausserordentlich  vermehrt  wurden. 
Die  Vielseitigkeit  der  gelehrten  Aerzte,  von  denen  manche  längere 
oder  kürzere  Zeit  als  Professoren  der  historisch-philologischen  oder  der 
mathemati.sch  -  naturwissenschaftlichen  Fächer  thätig  waren  und  der 
innige  Kontakt  der  Gelehrten  untereinander,  welcher  durch  die  Philo- 
logie (als  Grundwurzel  jedweder  gelehrten  Beschäftigung)  vermittelt 
wurde,  bedingten  es  notwendigerweise,  dass  mit  ihren  Vertretern  auch 
die  medizinische  Wissenschaft  als  solche,  an  all  den  grossen  Bewegungen 
teilnahm,  welche  die  Evolution  der  übrigen  Wissenschaften  beförderten. 

Neben  diesen  persönlichen  Momenten  und  neben  der  Beziehung  zu 
den  Naturwissenschaften,  die  bei  ihrem  Anstieg  die  Mutterwissenschaft 
nicht  isoliert  zurücklassen  konnten,  waren  selbstverständlich  in  noch 
höherem  Masse  jene  materiellen  und  ideellen  Triebkräfte  massgebend, 
welche  den  Lauf  des  gesamten  Kulturlebens  in  eine  neue  Richtung 
gelenkt  hatten,  sie  beeinflussten  auch  die  Medizin  und  führten  in 
letzter  Linie  dahin,  die  Heilkunde  aus  einer  formellen  Geistes- 
wissenschaft, was  sie  im  Mittelalter  war,  in  eine  reale  Natur- 
wissenschaft zu  verwandeln.  Dieser  Umwandlungsprozess  vollzog 
sich  langsamer  als  auf  den  verwandten  Gebieten  und  reichte,  in 
weiterem  Sinne  verstanden,  in  seinen  letzten  Ausläufern  fast  bis  in 
die  neueste  Zeit  herein;  nur  durch  die  unaufhörliche  Wettarbeit  der 
Jahrhunderte  konnte  die  mehr  als  ein  Jahrtausend  alte  dogmatische 
Tradition  überwunden,  konnte  die  in  stets  neuen  Formen  proteusartig 
Aviederkehrende  Scholastik  gänzlich  eliminiert  werden.  Ein  viel- 
verheissende  Anfang  wurde  immerhin  schon  im  16.  Jahrhundert  ge- 
macht, indem  wenigstens  einzelne  Theilgebiete  von  der  freien  empirischen 
Forschung   erobert    wurden    und    selbst    die    Spekulation    statt    der 


16  Max  Neuburger. 

Argumente  und  Belegstellen  neu  beobachtete  Thatsachen  in  den  Bann- 
kreis ihres  Hypothesenspiels  einbezog. 

Die  Brücke  zwischen  mittelalterlicher  und  neuerer  Heilwissen- 
schaft bildet  der  Humanismus,  welcher  auch  hier  die  Blossen  der 
arabistischen  Scholastik  aufdeckte  und  die  Aerzte  zunächst  von  den 
schlechten  lateinischen  Uebertragungen  arabischer  Vorlagen  zu  den 
reinen  Quellen  der  antiken  Medizin  namentlich  zu  Hippokrates  zurück- 
führte. Die  Pflege  des  Griechischen  wurde  zur  Eingangspforte  des 
Fortschritts.  Was  das  unverfälschte  Bibelstudium  für  die  Emanzipation 
in  der  Sphäre  des  Glaubens,  das  bedeutete  das  Studium  der  Original- 
werke der  klassischen  Aerzte  in  der  Sphäre  der  medizinischen  Forschung 
—  Loslösung  von  der  traditionellen  mittelalterlichen  Exegese.  Ein 
Unterschied  zwischen  beiden  Gebieten  besteht  aber  darin,  dass  es  auf 
dem  medizinischen  Gebiete  auf  die  Dauer  nicht  genügte,  einfach  die 
Autoritäten  zu  tauschen,  an  Stelle  der  arabisch-scholastischen  Autoren 
die  antiken  Meister,  Hippokrates  und  Galen  zu  setzen,  sondern  dass 
hier,  um  wirklichen  Fortschritt  anzubahnen,  ein  selbständiger  Anbau, 
ein  eigenes  reales  Forschen  im  Reich  der  Natur  vonnöten  ist.  Glück- 
licherweise liegt  aber  eben  diese  Tendenz  gerade  im  Wesen  des  Hippo- 
kratismus,  welcher  mehrmals  im  Laufe  der  Geschichte  der  Medizin 
nach  Epochen  der  Stagnation  oder  der  spekulativen  Verirrung  den  An- 
knüpfungspunkt für  eine  aufsteigende  Weiterentwicklung  abgab.  Der 
echte  Hippokratismus  erhält  sich  nicht  bloss  in  dauernder  Jugend, 
weil  seine  von  Theorien  freien  Beobachtungen  unbefangen  aus  dem 
unversieglichen  Born  der  Natur  geschöpft  sind  und  daher  unge- 
zwungen in  jeder,  selbst  der  fortgeschrittensten  Phase  der  medi- 
zinischen Entwicklung  ihre  Gültigkeit  besitzen,  er  erfüllt  auch  die 
Forschung,  welche  sich  seinen  Geist  zueigen  macht  mit  frischem 
Jugendtrieb,  weil  er  keinen  wissenschaftlichen  Dogmenglauben  fordert, 
sondern  im  Gegenteil  auf  Schritt  und  Tritt  zu  weiterer  nüchterner 
Beobachtung  anregt. 

Deshalb,  und  nicht  bloss  wegen  seines  nicht  hoch  genug  zu  schätzen- 
den reichen  empirischen  Inhalts,  war  es  ein  Ereignis  von  schwerwiegender, 
entscheidender  Bedeutung,  dass  der  Hippokratismus  im  16.  Jahrhundert, 
wenn  auch  vorerst  noch  in  galenischer  Umhüllung  und  mehr  dem  Buch- 
staben als  dem  Geiste  nach,  die  arabischen  und  scholastischen  Autoren 
verdrängte,  die  infolge  ihrer  abstrakten  Richtung  wohl  an  Scharfsinn, 
an  dialektische  Auslegekunst  hohe  Anforderungen  stellten,  keineswegs 
aber  den  Sinn  für  Naturbeobachtung  zu  wecken  suchten. 

Freilich  vom  Standpunkt  der  Erziehung  des  Menschengeschlechts  be- 
trachtet, war  die  dialektische  Schulung  als  Vorstufe  gewiss  von  Wert,  lehrte 
sie  doch,  in  Vorstellungen  und  Begriffen  das  Gleichartige  zu  verbinden,  das 
Fremde  zu  sondern.  In  diesem  Sinne  wurde  sie  eine  Vorschule  der 
kritischen,  wissenschaftlichen  Beobachtung,  im  Gegensatz  zur  roh 
empirischen  Wahrnehmung.  Der  unheilvolle  Einfluss,  den  die  scholastische 
Methode  auf  die  Medizin  ausübte,  lag  hauptsächlich  darin,  dass  man,  unter 
ihrer  Führung,  Mittel  und  Zweck  verwechselnd  in  der  Vorschule  verblieb, 
statt  ins  Leben  zu  treten,  unter  Voraussetzung  der  endgültigen  Abgegchlossen- 
heit  des  Wissens  die  Beobachtung  gänzlich  vernachlässigte,  statt  des  realen 
Kausalnexus  der  Erscheinungen  nur  den  logischen  Zusammen- 
hang fingierter  Begriffe  erforschte. 


Einleitung.  17 

Der  Weg  vom  Arabismus  zum  Hippokratismus  lässt  mehrere 
Etappen  erkennen.  Aus  dem  Umstände,  dass  die  dialektische  Methode 
durch  die  lange  Herrschaft  des  arabistischen  Galenismus  so  tief  ein- 
gewurzelt war.  dass  die  Aerzte  nur  zögernd  den  ausschlaggebenden 
Wert  der  nüchternen  Beobachtung  erfassten,  erklärt  es  sich,  dass 
der  Sieg  des  Hippokratismus  über  den  Arabismus  anfangs  mehr  philo- 
logisch und  logisch  als  durch  wirklich  naturwissenschaftliche  That- 
sachenforschung  erfochten  wurde ;  auch  musste  doch  die  Scholastik  auf 
allen  Gebieten  zuerst  mit  ihren  eigenen  Walfen  bekämpft  werden. 
Dem  philologischen  0  r  i  g  i  n  a  1  s  t  u  d  i  u  m  der  griechischen  Medizin,  das 
sehr  häufig  die  falsche  Auslegung  von  Seiten  der  scholastischen  Aerzte 
erkennen  liess,  folgte  daher  in  der  historischen  Entwicklung  die  emsige 
Thätigkeit  der  Conciliatoren  und  Kritiker,  welche  die  Lehr- 
meinungen der  hellenischen  und  arabischen  Autoritäten  verglichen, 
eventuell  bei  bestehender  Gegensätzlichkeit  zu  versöhnen  suchten. 
Diese  Vergleichungen  endeten  mit  dem  Siege  der  griechischen  Medizin. 
Entsprechend  dem  auch  in  der  geistigen  Welt  herrschenden  Gesetz 
der  Trägheit  wurde  nunmehr  die  Autorität  des  Hippokrates 
und  Galen  anstatt  der  Araber  proklamiert,  und  nur  langsam  wuchs 
aus  dem  Buchstabenglauben  der  Geist  hervor,  d.  h.  erleuchtete  Aerzte 
bemühten  sich,  dui'ch  eigene  Beobachtung  und  selbst  erworbene  Er- 
fahrung, im  Sinne  des  Vaters  der  Heilkunde,  über  die  Ueberlieferung 
hinauszuschreiten,  sie  wurden  wirklich  H  i  p  p  o  k  r  a  t  i  k  e  r.  Wenn  auch 
nur  diese  letzte  Etappe  dem  modernen  Gesichtspunkt  als  das  einzig 
Wesentliche  erscheint,  so  wäre  es  doch  verfehlt,  den  früheren  ihren 
heuristischen  Wert  abzustreiten,  denn  ohne  die  grundlegende  philo- 
logische Thätigkeit,  ohne  die  Bekämpfung  der  arabischen  Medizin  — 
Resultate  der  intensivsten  Anstrengung  und  der  lebhaftesten  Feder- 
kriege —  wäre  das  Endziel,  dem  die  historische  Entwicklung  zustrebte, 
nicht  erreicht  worden. 

Im  regen  Wetteifer  und  mit  grosser  Opferwilligkeit  veranstalteten 
„philologische"  Mediziner  verschiedener  Nationalität  editiones 
principes  des  Hippokrates,  Aretaios,  Galenos,  Alexander  von  Tralles  etc., 
ja  oft  selbst  die  einzigen  Ausgaben  oder  Uebersetzungen  der  medizinisch- 
naturwissenschaftlichen Meisterwerke  des  Altertums  und  vermittelten 
durch  kritische  Sichtung,  Polemik  und  vergleichende  Exegese  die 
Wiedergeburt  der  antiken  Heilkunst.  Weite  und  rasche  Verbreitung 
von  Land  zu  Land  und  damit  wirklichen  Einfluss  gewann  diese  stille 
ideale  Forscherarbeit  durch  den  Buchdruck,  der  Gelegenheit  gab,  dass 
nicht  nur  Universitäten,  sondern  auch  Private  in  den  Besitz  der  Werke 
gelangen  konnten,  während  vordem  die  Erwerbung  von  Handschriften, 
deren  Herstellung  Jahre  des  angestrengtesten  Fleisses  und  besondere 
Kenntnisse  voraussetzte,  wegen  ihrer  Seltenheit  und  Kostbarkeit  sogar 
den  Hochschulen  nur  schwer  möglich  war.  Welch'  relativ  grossen 
Aufschwung  die  Litteratur  nahm,  erhellt  daraus,  dass  schon  im  Laufe 
der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  ungefähr  800  medizinische 
Schriften  im  Umlauf  waren,  während  noch  hundert  Jahre  vorher  die 
weltberühmte  Pariser  Fakultät  im  ganzen  nicht  mehr  als  9  Werke  besa^s. 

Aus  dem  Kreise  der  philologischen  Medizin  ragen  ganz  besonders 
Nicola  Leoniceno  (1428—1524),  Thom.  Linacre  (1461—1524),  Winther 
(Günther)  von  Andernach  (1487 — 1574),  Johann  Comarus  (1500 — 1558) 
und  Anutius  Foesius  (1528 — 1591)  hervor. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  2 


18  Max  Neuburger, 

Leoniceno,  Professor  zu  Ferrara,  veranstaltete  eine  Uebersetzung  der 
„Aphorismen",  Linacre  aus  Canterhury,  Leibarzt  Heinrich  VIII.,  übersetzte 
den  „Schwur",  "Winther  von  Andernach,  Professor  zu  Löwen  und  Strass- 
burg,  gab  den  zweiten  Teil  des  Caelius  Aurelianus  heraus  und  übersetzte 
viele  Schriften  des  Galen,  ferner  Oreibasios,  Alexandros  von  Tralles,  Paulos 
von  Aegina;  Cornarus  (Hagenbut,  Hanbut)  aus  Zwickau  veröffentlichte  zu- 
erst nach  fünfzehnjähriger  Arbeit  auf  Grund  von  Handschriftenvergleichung 
eine  Ausgabe  und  Uebersetzung  des  Hippokrates ;  Anutius  Foesius,  Arzt 
in  Metz,  hinterliess  zwei  noch  jetzt  höchst  wertvolle  Arbeiten :  Die  Oeconomia 
Hippocratis  (Kommentar  zu  sämtlichen  Schriften)  und  eine  vollständige 
kritische  Ausgabe  nebst  lateinischer  Uebersetzung  des  Hippokrates.  Ausser 
den  Genannten  wären  noch  zahlreiche  andere  zu  erwähnen.  Unter  den 
Deutschen  Wilhelm  Koch  (Copus)  aus  Basel  (1471—1532),  Theodor 
Zwinger  (1533— 1588)  aus  Bischofzell,  Leonhard  Fuchs  (1501  — 1566),  Pro- 
fessor zu  Ingolstadt  und  Tübingen,  Job.  Lange  aus  Löwenberg  (1485 — 1565). 
Unter  den  Italienern:  Giov.  Batt.  de  Monte  (Montanus  [1498 — 1552]), 
Professor  zu  Padua,  Geronimo  Mercuriale  (1530 — 1606),  Professor  in  Padua, 
Bologna  und  Pisa,  berühmt  durch  seine  kritischen  Abhandlungen  über 
schwierige  Stellen  griechischer  und  römischer  Schriftsteller  (Variae  lectiones), 
Marsilius  Cagnati  (f  1610).  Unter  den  Franzosen:  Symphorien  Champier 
(1472—1539),  Jean  de  Gorris  (1505—1577)  [Bearbeitung  des  Nikander, 
medizinische  Terminologie],  Jacques  Houllier  (1498 — 1562)  und  sein  Schüler 
Louis  Duret  (1527— 1586).  Auch  der  Engländer  John  Kaye  (1506— 1573), 
Stifter  des  Kollegiums  der  Aerzte  in  London,  und  die  Spanier  Andreas 
a  Laguna  (1499  — 1560),  Francisco  Valles  (f  1572),  Cristobal  de  Vega 
(1510 —  um  1580)  erwarben  sich  grosse  Verdienste  um  die  Edition  oder 
Kommentierung  klassischer  Werke.  Der  Portugiese  Luis  de  Lemos,  Pro- 
fessor in  Salamanca  (ca.  1580)  stellte  bereits  Untersuchungen  über  die 
Echtheit  der  hippokratischen  Schriften  an. 

Die  humanistischen  Studien  der  Aerzte  brachten,  so  erfrischend 
sie  wirkten,  naturgemäss  zunächst  mehr  formellen  Gewinn  als  sach- 
liche Erweiterung,  insofern  die  Medizin  jetzt  das  Joch  der  antiken 
Autoritäten,  des  Galen  und  Hippokrates,  ebenso  gefügsam  auf  sich 
nahm,  wie  sie  früher  die  Tyrannei  der  Araber  ertrug.  Die  Kritik, 
welche  sich  bei  diesem  Wechsel  der  Herrschaft  gegen  den  Arabismus 
wandte,  führte  daher  den  Kampf  mit  Waffen,  die  anfangs  zum  grössten 
Teil  der  Rüstkammer  der  Philologie  und  nur  in  der  Minderzahl  dem 
Bereich  unabhängiger  Thatsachenbeobachtung  entnommen  wurden. 
Solcher  Art  waren  die  Fehdeschriften  des  Johann  Lange  und  nament- 
lich des  grimmigsten  Gegners  der  Araber,  des  Tübinger  Professors 
Leonhard  Fuchs,  der  sich  von  seinem  leidenschaftlichen  Eifer  sogar 
dahin  reissen  Hess,  den  nationalen  Standpunkt  in  der  Wissenschaft 
geltend  zu  machen. 

Aehnlich  aber,  wie  die  Botanik  und  Zoologie  infolge  der  ozeanischen 
Entdeckungen,  respektive  deren  naturwissenschaftlicher  Ausbeute  vom 
humanistischen  Studium,  von  philologischer  Kritik  zur  frischen  That- 
sachenforschung  vordrangen,  so  wurde  auch  die  Medizin  durch  äussere 
Verhältnisse  auf  den  Weg  der  Erfahrung  geleitet  oder  geradezu  hin- 
gedrängt. 

Der  kräftigste  Impuls  zur  selbständigen  medizinischen  Forschung 
wurde  von  der  Natur  selbst  gegeben:  durch  das  epidemische  Auf- 
treten neuer,  oder  vorher  nicht  entsprechend  gewürdigter  Krankheiten. 


Einleitung-.  19 

Es  Hesse  sich  ohne  Schwierigkeit  nachweisen,  wie  die  Seuchen  auf 
den  Gang  der  gesamten  Kultur  einen  sehr  tiefgreifenden  Einfluss  aus- 
geübt und  namentlich  auf  das  ethische  und  religiöse  Empfinden,  auf 
das  kausale  Denken  der  Menschheit,  auf  Sitten  und  Gebräuche  der 
Völker  wiederholt  umstimmend  eingewirkt  haben.  Dass  die  Medizin 
von  allen  Kulturzweigen  am  meisten  betrotfen  wurde,  ist  im  Wesen 
der  Sache  begründet,  bilden  doch  die  Seuchen  den  Prüfstein  dieser 
Wissenschaft. 

Am  Ausgang  des  15.  und  im  16.  Jahrhundert  war  es  namentlich 
die  massenhafte  Ausbreitung  der  Syphilis,  welche  die  Ohnmacht 
der  bisherigen  Heilkunde  und  die  Hinfälligkeit  ihrer  theoretischen 
Prunkgebäude  schonungslos  offenbarte.  Ja!  man  geht  nicht  zu  weit, 
wenn  man  behauptet,  dass  die  traurigen  Erfahrungen,  welche  die 
Aerzte  hiebei  erwarben,  dass  die  Ratlosigkeit,  von  der  sie  ergriffen 
wurden,  die  ersten  und  schwerwiegendsten  Zweifel  an  der  Zuverlässig- 
keit der  damaligen  Schulmedizin  auslösen  musste.  Hier  blieben  die 
sonst  so  redseligen  Autoritäten  stumm,  hier  versagte  der  sonst  alles 
wissende,  alles  erklärende  Galen.  Die  alten  Autoritäten,  die  nichts 
von  der  tropischen  Pflanzen-  und  Tierwelt  wussten,  sie  schwiegen  auch 
über  die  Syphilis. 

Ein  neues,  ein  wirklich  praktisches  Problem  warf  sich  auf,  aus 
dem  Himmel  der  eingebildeten  wissenschaftlichen  Vollkommenheit,  in 
dem  man  sich  bisher  befand,  wurde  man  auf  die  harte  Erde  grau- 
samer Wirklichkeit  versetzt,  wo  es  noch  so  viel  zu  schaffen  und  zu 
arbeiten  gab.  Das  erste  Zeichen  des  eigenen  Denkens  bildeten  pro- 
phylaktische hygienische  Massnahmen. 

Zwar  fehlte  es  nicht  an  Versuchen,  die  neu  beobachteten  Er- 
scheinungen oder  deren  neu  erkannten  Zusammenhang  mit  dem  Galen- 
scheu  Systeme  in  Uebereinstimmung  zu  setzen  (Fäulnis  des  Leberbluts), 
aber  die  darauf  gebaute  „rationelle"  ausleerende  Behandlungsweise 
Hess  im  Stich,  und  notgedrungen  mussten  die  Aerzte  sich  herbeilassen, 
zu  den  von  Empirikern  mit  bestem  Erfolge  gebrauchten  Quecksilber 
oder  dem  aus  Amerika  eingeführten  Guajakholz  zu  greifen.  Noch 
schwieriger  aber  als  die  Krankheit,  war  die  nicht  zu  leugnende  Wirkungs- 
weise dieser  Mittel  nach  den  Grundsätzen  Galens  zu  verstehen,  trotz- 
dem man  soweit  ging,  die  Heilwirkung  des  von  Galen  so  verpönten 
„kalten"  Gifts,  des  Quecksilbers,  durch  die  Annahme  einer  kritischen 
Ausleerung  der  schlechten  Säfte  auf  dem  Wege  des  Speichelflusses 
(der  bei  der  damaligen  Anwendungsweise  meistens  zur  Beobachtung 
kam)  zu  erklären.  Gerade  die  mannigfaltigen  scharfsinnigen  Be- 
mühungen zur  Lösung  des  Zwiespalts  zwischen  Theorie  und  Praxis 
verrieten  am  klarsten,  wie  sehr  man  bereits  zur  Erkenntnis  der  Wider- 
sprüche des  Systems  gelangt  war. 

Neben  der  Lustseuche  gaben  vornehmlich  die  Epidemien  des 
„englischen  Schweisses"  und  des  Typhus  exanthematicus 
(wozu  auch  die  „ungarische"  Krankheit  zählt),  den  Impuls  zu  uner- 
müdlicher eigener  Forschung,  die  sich  durch  verbesserte  hygienische 
Massnahmen,  durch  genauere  Krankheitschilderungen  sowie  durch  be- 
deutende Fortschritte  in  der  Differentialdiagnostik  und  Aetio- 
logie  der  Seuchen  kundgab.  In  letzterer  Hinsicht  sind  ganz  besonders 
zwei  Errungenschaften  von  bahnbrechender  Bedeutung  für  die  Folge- 
zeit geworden :  die  Auflösung  des  Begriffs  „Pest"  in  mehrere 
scharf  gesonderte,  früher  zusammengeworfene  Formen 

2* 


20  'M&x  Neuburger. 

(namentlich  die  Abtrennung  des  Petechialtyphus)  und  die  B  e  g  r  ü  n  d  u  n  g 
der  Lehre  von  der  Ansteckung  durch  Girolamo  Fracastoro 
(1483 — 1553),  Das  Aufkommen  der  Theorie  von  der  Kontagion  in- 
mitten von  allerlei  theologischen  Deutungen  des  Ursprungs  der  Epi- 
demien, inmitten  eines  Wusts  von  astrologischen  Grillen  bildet  fürwahr 
den  strahlendsten  Lichtpunkt  in  der  praktischen  Medizin  des  16.  Jahr- 
hunderts und  gab  die  reichste  Gelegenheit,  dass  sich  der  Aerztestand 
seiner  hehren  Kulturmission  bewusst  wurde:  der  Bekämpfung  völker- 
psychologischer Wahnideen. 

Die  epidemiographische  Litteratur,  namentlich  die  Pestlitteratur 
nahm  einen  höchst  bemerkenswerten  Aufschwung,  Aerzte  aller  Länder 
wetteiferten  miteinander  und  durften  sich  mancher  ansehnlichen 
Leistung  auf  diesem  Gebiete  rühmen. 

Ausser  dem  eben  erwähnten  Girolamo  Fracastoro,  dem  Erfinder 
des  Krankheitsnamens  „Syphilis",  der  seine  grundlegenden  Beobach- 
tungen in  der  Schrift  de  morbis  contagiosis  niederlegte,  hinterliess 
eine  Reihe  von  italienischen,  deutschen,  holländischen  und  spanischen 
Praktikern  wertvolle  epidemiologische  Werke.  Spanischen  Aerzten 
des  16.  Jahrhunderts  verdankt  man  insbesondere  die  ersten  sorg- 
fältigen naturgetreuen  Beschreibungen  der  Diphtherie  (Garotillo). 

Das  Beobachtungstalent  der  Aerzte,  welches  durch  die  häufigen 
Epidemien  ungemein  grosse  Anregung  fand,  machte  sich  immermehr 
auf  dem  Gebiete  der  gesamten  inneren  Medizin  fruchtbringend  geltend, 
wovon  die  anschwellende  kasuistische  Litteratur  in  Form  von  „Epistulae 
medicinales",  „Enarrationes",  „Consilia",  „Consultationes"  zahlreicher 
Praktiker  Zeugnis  giebt.  Diese  neuartige  Darstellungsart  anstatt  der 
früheren  „commentaria"  verrät  schon  äusserlich  den  geänderten  Zeit- 
geist, der  sich  nicht  mehr  damit  begnügte,  bloss  auszulegen,  was  die 
Alten  lehrten,  sondern  nachzuprüfen  beziehungsweise  zu  verbessern 
wagte.  Anfangs  fesselten  fast  nur  ganz  ungewöhnliche,  seltene  Fälle 
das  Interesse  —  ein  Merkzeichen  jeder  jugendlichen  Forschung  — 
später  aber  widmete  man  auch  den  alltäglichen  Vorkommnissen  eine 
sorgfältige  Untersuchung,  da  der  gesunde  praktische  Sinn  allmählich 
erkannte,  dass  gerade  die  typischen  Erscheinungen  vor  allem  genau 
erfasst  werden  müssen. 

Unter  den  Autoren  solcher  Sammelschriften,  welche  die  Stelle  der  späteren 
medizinischen  Zeitschriften  vertraten,  ragen  namentlich  folgende  hervor. 
Unter  den  Deutschen:  Crato  von  KrafFtheim  (1519 — 1586),  Joh.  Schenck 
von  Grafenberg  (1530  —  1598),  Felix  Platter  (1536  —  1614),  ferner  Joh. 
Lange,  Diomedes  Cornarus  und  ßeinerus  Solenander.  Unter  den  Italienern, 
welche  auch  hierin  vorangingen,  wären  zu  erwähnen:  Antonio  Benivieni 
(1440?— 1502),  Alessandro  Benedetti  (1460—1525),  Giov.  Manardo  (1462— 
1536),  Nicolo  Massa  (-{- 1569),  Aloys.  Mundella,  Francesco  Yalleriola,  Marcello 
Donato  (-{-  um  1600),  Pietro  Salio  Diverso,  Girolamo  Donzellini  (jf  1588), 
Ercole  Sassonia  (1550—1607),  Vettore  Trincavella  (1496 — 1568),  Alessandro 
Massaria  (1510—1598),  Ludovico  Settala  (1552—1632).  Unter  den  fran- 
zösischen Bearbeitern  der  praktischen  Medizin  ist  nur  Guillaume  Baillou 
[Ballonius  (1538 — 1616)]  bemerkenswert  und  durch  die  Beschreibung  des 
Croup  hochverdient,  während  die  Niederländer  mit  ßembert  Dodoens  of 
Doodezoon  [Dodonaeus  (1518 — 1585)],  Josse  van  Lomm  (Lommius),  Lud- 
wig Lemmens  [Lemnius  (1505 — 1568)],  Peter  Foreest  [Forestus  (1522 — 
1597)]   vmd   Joh.  Heum  [Heurnius    (1543 — 1601)]    ein    starkes  Kontingent 


Einleitung.  21 

stellten.  Die  spanischen  und  portugiesischen  Autoren  dieses  Zeitraums  zeigen 
trotz  ihrer  grossen  Verdienste  um  die  Epidemiologie  (Sj-philis,  Diphtherie) 
und  einzelne  Spezialzweige  [Strikturenbehandlung  mit  Bougies  (Andreas  a 
Laguna),  Nieren-,  Blasenkrankheiten  und  Gicht  (Francesco  Diaz)],  noch  stark 
scholastische  Neigungen,  doch  verdienen  die  kasuistischen  Werke  von  Luis 
Mercado  (1520 — 1606),  Amatus  Lusitanus  und  Zacutus  Lusitanus  warme 
Anerkennung.  Der  Vorzug  der  selbständigen  Beobachtung  gegenüber  dem 
früheren  Dogmenglaiiben  findet  eine  grelle  Illustration  durch  die  zahlreichen 
Handbücher  der  praktischen  Medizin,  welche  wenigstens  einigerraassen  ge- 
schmackvoller bearbeitet  sind  als  vorher.  Verfasser  solcher  Kompendien 
waren  unter  anderen  Clementinus,  Altomare.  Augenio,  Guido  Guidi  [j  1569), 
Settala,  Franc.  Jacques  Dubois  (Sylvius),  Jean  B-iolan  d.  Aeltere  (1538 — 
1606j,  der  Spanier  Christ,  de  Vega  und  der  Niederländer  J.  Heurne. 

Im  Geiste  des  grossen  Koers  erweiterten  die  Praktiker  nicht  bloss 
die  Kranklieitslehre  durch  plastische  Schilderungen  einzelner  Affek- 
tionen (z.  B.  der  Syphilis,  der  Pest,  des  Petechialtyphus,  der  Kriebel- 
krankheit.  des  Skorbuts,  des  Keuchhustens),  sie  pflegten  nicht  allein 
im  wissenschaftlichen  Sinn  die  Kasuistik,  sondern  verfolgten  auch  die 
praktische  und  künstlerische  Seite  des  Berufs  mit  ganz  besonderer 
Vorliebe.  Deshalb  wurde  wieder  ganz  besonderes  Gewicht  auf  die 
Zeichenlehre  (Semiotik),  Prognostik  und  Therapie  gelegt,  wobei  sich  viel- 
fach Anlässe  zur  Bekämpfung  arabistisch-galenischer  Dogmen  ergaben. 

Was  zunächst  die  Semiotik  und  Prognostik  anlangt,  um 
welche  sich  neben  anderen  Autoren  besonders  der  vielerfahrene,  weit- 
gereiste Prospero  Alpini  durch  ein  klassisches  vorbildliches  Werk  ,,de 
praesagienda  vita  et  morte  aegrotantium",  Jodocus  Lommius  durch 
synthetische  Zusammenstellung  der  Krankheitszeichen,  Thomas  Fyens 
(t  1585)  durch  sorgfältige  Beobachtungen  verdient  machten,  so  wurde 
die  arabische  Uroskopie.  die  galenisch-arabische  Lehre  ^'om  Puls  und  von 
den  kritischen  Tagen  zum  (gegenständ  neuer  Untersuchungen  gemacht. 

Die  Uroskopie,  mit  der  gerade  die  Quacksalber  den  schreiendsten 
Missbrauch  triebeu,  und  welche  bei  dem  damaligen  Stand  der  Kennt- 
nisse vorwiegend  auf  Selbsttäuschung  oder  Betrügerei  basierte,  stützte 
sich  auf  das  galenische  Dogma,  dass  der  Zustand  des  Leberblutes, 
mithin  der  „natürlichen''  Kräfte  aus  dem  Harn  zu  erkennen  sei. 
Das  Studium  des  Hippokrates  zeigte  aber,  dass  der  Altmeister  der 
Medizin  keineswegs  so  schweres  Gewicht  auf  die  Harnschau  legte, 
wie  es  die  arabischen  und  scholastischen  Aerzte  thaten,  geschweige 
denn,  dass  er  allein  aus  diesem  Zeichen  eine  Krankheit  zu  diagnosti- 
zieren wagte.  Die  Erfahrung  ehrlicher  Praxis  stimmte  ebenfalls  nicht 
mit  den  spitzfindigen  Angaben,  die  sich  von  den  gesunden  Anfängen 
des  Joannes  Aktuarios  allzuweit  entfernt  hatten.  Notgedrungen  musste 
sich  daher  eine  heftige  Eeaktion  erheben,  welche  sich  gegen  einen 
Hauptpunkt  der  arabischen  Medizin  feindlich  wendete.  Ihre  schärfsten 
Vertreter  waren  Clementinus,  Christoph  Clauser,  der  Wiener  Univer- 
sitätslehrer Franz  Emmerich,  Bruno  Seidel,  Adolph  Scribonius,  Johann 
Lange,  Kölreuter  und  Botallo.  Zu  einem  mehr  vermittelnden  Ergeb- 
nis gelangte  Peter  Foreest.  Was  der  grosse  Vertreter  der  Prä- 
renaissance, der  Dichter  Petrarca  schon  längst  vorher  sarkastisch 
verspottet  hatte,  wurde  jetzt  auch  von  den  Aerzten  endlich  energisch 
bekämpft,  ohne  dass  sie  die  Jalirhunderte  überdauernde  Nachwirkung 
im  Volksglauben  auszurotten  vermochten. 


22  Max  Neuburger. 

lu  immer  weiterer  Loslösung  von  tausendjähriger  Tradition  — 
scheuten  sich  doch  italienische  Aerzte  wie  Giov.  Manardo  und  Fortunato 
Fedele  (1550 — 1630)  keineswegs  jeden  Autoritätsglauben  (selbst  au 
Hippokrates !)  im  Prinzip  zu  verwerfen  —  zog  man,  kühner  geworden, 
sogar  gegen  die  subtile  Pulslehre  Galens  und  der  Araber  zu  Felde, 
die  der  Pole  Jos.  Strutliius  in  seiner  Ars.  sphygmica  vergeblich  zu 
galvanisieren  suchte,  nachdem  Forscher,  wie  Ercole  Sassonia  den  her- 
kömmlichen Behauptungen  widersprochen  hatten. 

Die  Lehre  von  den  kritischen  Tagen,  welche  die  Erfahrung 
zu  stützen  schien,  wurde  zwar  keineswegs  verworfen,  aber  nicht  mehr 
blindlings  angenommen;  man  prüfte  nach  und  fühlte  das  berechtigte 
Bedürfnis,  theoretische  Grundlagen  zu  suchen,  um  sie  „rationell"  zu 
gestalten.  Die  latromathematik  in  Form  der  pythagoreischen  Zahlen- 
mystik und  Astrologie  kam  diesem  Begehren  nur  allzuwillig  entgegen. 
Fracastoro,  Amatus  Lusitanus  und  viele  andere  versuchten  sich  in 
höchst  gewundenen  Erklärungen  eines  Phänomens,  welches  übrigens 
auch  das  neunzehnte  Jahrhundert  nicht  gänzlich  zu  enträtseln  ver- 
mochte. 

Am  erbittertsten  wurde  der  Arabismus  in  der  Therapie  bekämpft, 
wo  die  Wahrheit  in  den  Erfolgen  am  durchsichtigsten  zu  Tage  trat. 
Der  durch  sein  unglückliches  Schicksal  bekannte  Spanier  Miguel 
Servede  y  Eeves  (Serveto)  aus  Villanueva  (1509—1553)  bestritt  den 
Wert  der  Syrupe,  welche  durch  die  Araber  in  Gebrauch  gekommen, 
als  Hauptmittel  zur  Beförderung  der  „Kochung"  der  Säfte  allgemein 
angewendet  wurden  und  erkühnte  sich  zu  behaupten,  dass  die  Kardinal- 
säfte mit  Ausnahme  des  Schleims  überhaupt  keiner  „Kochung"  fähig 
seien.  Ebenso  ketzerisch  in  den  Augen  der  Konservativen,  für  den 
Fortschritt  aber  eine  That  bedeutend,  war  der  Protest  des  Pariser  Pro- 
fessors Pierre  Brissot  (1478 — 1522)  gegen  die  arabische  Methode 
des  Aderlasses.  Dieselbe  bestand  nämlich  darin,  dass  bei  entzünd- 
lichen Krankheiten  möglichst  weit  entfernt  von  der  leidenden  Stelle 
venäseziert  wurde  (Revulsion),  während  Hippokrates  den  Aderlass 
gerade  in  der  Nähe  des  erkrankten  Teils  möglichst  ausgiebig  ausführte 
(Derivation).  Bedenkt  man,  dass  die  Yenäsektion  geradezu  den  Kardinal- 
punkt der  herrschenden  Therapie  bildete  und  daher  aus  subtil  gedachten 
Gründen  seiner  Methodik  grösste  Aufmerksamkeit  geschenkt  wurde, 
so  wird  man  die  Erbitterung  begreifen,  mit  der  dieser  Aderlassstreit 
von  beiden  Seiten  geführt  wurde.  Trotzdem  Brissots  Ansicht  von  den 
Gegnern  für  eine  ebenso  gefährliche  Ketzerei  als  Luthers  Reformwerk 
erklärt,  ja  selbst  vor  den  Richterstuhl  Karl  Y.  gezerrt  wurde,  endete 
der  Streit  vorerst  zu  Gunsten  des  kühnen  Neuerers;  doch  flammte  er 
später  wiederum  auf,  als  einerseits  manche  Schüler  Brissots  die  Wirk- 
samkeit des  Aderlasses  bei  „Pleuritis"  überhaupt  in  Zweifel  zogen, 
während  Leonardo  Botallo  (geb.  1530)  geradezu  einen  YampjTismus 
inaugurierte  (bei  akuten  Krankheiten  4 — 5  mal  Aderlässe  von  3—4 
Pfunden). 

Vom  Kampf  gegen  den  Arabismus  zur  Auflehnung  gegen  Galen  war 
oft  nur  ein  Schritt !  Die  Flutwelle  der  empirischen  Forschung  machte 
jetzt  auch  vor  dem  grossen  Griechen  nicht  mehr  Halt !  Reine  Fragen 
der  Praxis  wurden  schon  vom  Standpunkt  der  Erfahrung  kritisch  ge- 
prüft und  bei  bestehendem  Widerspruch  auch  im  Gegensatz  zu  Galen 
gelöst.  Eine  Zeit,  in  welcher  sogar  von  einzelnen  Forschern,  wie 
Mattioli,  Musa  Brassavola  und  Ercole  Sassonia  Experimente  an  Ver- 


Einleitung.  23 

brechern  oder  Tieren  zum  Zwecke  der  Arzueiprüfuiigeu  vorgenommen 
wurden,  in  -welcher  eine  nicht  geringe  Zahl  von  vergessenen  oder  neuen 
Arzneistoifen  zur  Verwendung  kam,  konnte  in  der  Therapie  nicht  beim 
Dogma  verharren. 

Die  über  Hippokrates  und  Galen  allmählich  hinausstrebende  Selbst- 
beobachtung und  Einzelerfahrung,  die  bedeutsamen  Fortschritte  in  der 
wissenschaftlichen  Kleinmalerei  gingen  fast  durchwegs  von  Prak- 
tikern aus.  an  den  Universitäten  hingegen  fuhr  man  fort,  in  herge- 
brachter Weise  mit  Ignorierung  der  Neuerungen  die  alten  Autoren  zu 
tradieren,  zu  kommentieren.  In  hippokratischem  Geiste  Beobachtungen 
anzustellen,  war  nur  den  Praktikei'U  möglich,  den  Universitäten  fehlte 
es  an  geeignetem  Forschungs-  und  Krankenmaterial;  die  Klinik,  die 
Seele  der  medizinischen  Forschung,  des  medizinischen  Unterrichts  war 
noch  nicht  geschaiFen,  auch  verstand  man  ihren  Wert  in  den  mass- 
gebenden Kreisen  noch  nicht  zu  erfassen.  Trotzdem  nicht  bloss  einzelne 
Aerzte,  wie  der  schwedische  Leibarzt  W.  Lemnius,  sondern  auch  vor- 
aneilende geistvolle  Laien,  wie  Luis  Vives  und  P.  Eamus  die  Not- 
wendigkeit klinischer  Lehranstalten  auseinandersetzten,  wurde  die  Idee 
im  16.  Jahrhundert  nur  in  Padua  (durch  Montanus,  Bottoni  und  Oddi) 
vielleicht  auch  in  Montpellier  vorübergehend  verwirklicht.  Begi'eif- 
licherweise  zog  der  medizinische  Konservativismus  aus  diesem  bedauer- 
lichen Mangel  gi'ossen  Nutzen,  konnte  er  sich  doch  unter  Missachtung 
des  praktischen  Korrektivs  hinter  dem  Wall  galenischer  und  arabischer 
Theoreme  verschanzen. 

Der  Einfluss  solcher  äusseren  Umstände,  die  Einwii'kung  der 
technischen  Untemchts-  und  Forschungsbehelfe  auf  den  Fortgang  des 
Wissens  machte  sich  schon  damals  bemerkbar  und  bildete  wohl  auch 
eine  der  Ursachen,  dass  sich  gerade  die  Anatomie  bereits  im 
16.  Jahrhundert  mächtig  entfaltete  und  in  ihrem  Entwicklungs- 
gange alle  anderen  Zweige  der  medizinischen  Wissenschaft  weit  hinter 
sich  zurückliess;  denn  schon  lange  vorher,  wenn  auch  höchst  unvoll- 
kommen, und  schon  zu  einer  Zeit,  in  der  man  den  praktischen  Unterricht 
in  der  Krankenbehandlung  noch  gänzlich  vernachlässigte,  waren  sich 
die  Universitäten  der  Pflicht  bewusst,  die  Studenten  durch  den  Augen- 
schein, nicht  bloss  durch  das  dozierende  Wort  über  die  anatomischen 
Verhältnisse  zu  orientieren.  Mag  er  noch  so  mangelhaft  gewesen  sein, 
es  gab  doch  hie  und  da  bereits  im  Mittelalter  einen  anatomischen 
Anschauungsunterricht!  In  dem  Masse,  als  die  religiösen  und 
sozialen  Vorurteile  der  Laien  abnahmen  oder  nicht  mehr  hemmend 
entgegentraten,  in  dem  ]\[asse.  als  sich  durch  entgegenkommendes 
Wohlwollen  der  Behörden  das  Leichenmaterial  für  ünterrichtszwecke 
mehrte,  hing  es  von  der  Individualität  des  Lehrers  ab,  wie  er  dasselbe 
zum  Fortschritt  der  Wissenschaft  ausnützte.  Und  hierin  gingen  die 
italienischen  Professoren,  durch  Mondinos  leuchtendes  Beispiel  ange- 
regt, allen  übrigen  darin  voran,  dass  sie  es  nicht  verschmähten,  selbst 
zum  Skalpell  zu  greifen,  statt  sich  lediglich  auf  den  Vortrag  galenischer 
Kapitel  zu  beschränken  und  die  Sektion  vom  Chirurgen  oder  Barbier 
ausführen  zu  lassen.  In  Italien  erfreute  sich  deshalb  die  Anatomie 
schon  um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  einer  freieren  Bearbeitung 
als  in  anderen  Ländern,  italienische  Anatomen  begründeten  im  Laufe 
des  Cinquecento  die  ruhmreichste  Epoche  der  Zergliederungskunst 
und  wurden  zu  Lehrern  für  die  Aerzte  der  ganzen  Welt. 

Neben  praktischen  chirurgischen  Bedürfnissen  —  war  doch 


24  Max  Neu  burger. 

die  Professur  der  Chirurgie  mit  der  Anatomie  vereint  —  wirkte  noch 
ein  anderes  Moment  gerade  in  Italien  begünstigend  auf  den  Aufschwung 
der  Anatomie:  die  goldenen  Fäden  der  bildenden  Künste  spannen 
sich  zum  Sezirtisch,  und  in  das  unheimliche  Dunkel  der  Leichenkammer 
warf  der  ideale  Schimmer  der  Kunst,  der  Sinn  für  plastische  Schönheit 
seinen  lichten  Schein.  Künstler  erwarben,  im  Drange  nach  gesundem 
Realismus,  sichere  Kenntnisse  an  der  Leiche  und  erstatten  ihren  Dank, 
indem  sie  ihren  Pinsel,  ihren  Stift  in  den  Dienst  der  Anatomie  stellten. 
Lionardo  da  Vinci  unterrichtete  sich  bei  seinem  Freunde,  dem  Ana- 
tomen Marc  Antonio  della  Torre  (1473 — 1506)  über  Verlauf  und  Form 
der  Muskeln,  über  die  Lage  der  einzelnen  Teile  des  Körpers.  Er 
lieferte  ihm  Zeichnungen  zu  einem  anatomischen  Werk,  er  entwarf 
nach  eigenen  Präparaten  eine  dreizehn  Bände  umfassende  Sammlung 
von  anatomischen  Zeichnungen.  Noch  vorhandene  Zeichnungen  von 
Rafael,  von  Michelangelo,  von  Rosso  de  Rossi,  ebenso  wie  die  Werke 
von  Lionardo  da  Vinci  und  Albrecht  Dürer  über  die  menschlichen 
Proportionen  beweisen  es,  dass  die  ideale  Kunst  den  Felsengrund  ihrer 
Lebenstreue,  ihrer  Grösse,  in  ernsten  realen  Studien  suchte  und  fand. 
Umgekehrt  entwickelten  auch  Anatomen  wie  Berengar  Carpi,  Eustacchi 
und  Volcher  Koyter  ihr  Zeichentalent  zum  Nutzen  ihrer  P^achwissen- 
schaft.  Holzschnitt  und  Kupferstich  vervielfältigten  in  wünschenswerter 
Weise,  was  die  Meisterhand  der  Künstler  entworfen,  und  belebten  den 
trockenen  Text  der  anatomischen  AVerke  mit  erläuternden  Abbildungen. 
Das  reizvolle  Bündnis  zwischen  Kunst  und  Wissenschaft,  zugleich 
mit  dem  erstarkenden  Humanismus  regte  das  Studium  des  Men- 
schen an,  entzündete  das  Interesse  auch  ferner  stehender  Kreise, 
welche  ihr  Wohlwollen  durch  äussere  Förderung  der  anatomischen 
Forschung  zu  bethätigen  suchten;  namentlich  den  kunstsinnigen 
Fürsten  Italiens  gebührt  der  Dank  der  Anatomen  ebenso  wie  der 
Dank  der  Künstler. 

Auch  die  Anatomie  schloss  sich  zuerst  streng  an  die  Lehren  des 
Galen,  der  Araber  und  Mondinos  an,  man  sah  nur  das,  was  in  den 
vergilbten  Folianten  stand  und  begnügte  sich  mit  rohen  Beschreibungen 
der  Körperteile,  welche,  um  den  Schein  der  Wissenschaft  zu  erwecken, 
mit  klassischen  Citaten  und  scholastischen  Tüfteleien  reichlich  ver- 
brämt wurden.  Die  Natur  des  verhältnismässig  leicht  zu  überschauenden 
Objekts  im  Verein  mit  technischen  Fortschritten  brachte  es  aber  mit 
sich,  dass  die  Forscher  (ähnlich  Avie  in  der  Zoologie,  Botanik  und 
Mineralogie)  weit  früher  als  auf  anderen  medizinischen  Gebieten  der 
Anschauung  den  Vorrang  vor  dem  Autoritätsglauben  einräumen  konnten ; 
doch  auch  hier  kam  die  Emanzipation  nicht  sprungweise  zu  stände, 
nur  waren  die  üebergangsstadien  viel  kürzer. 

Wiewohl  sich  die  Anatomen  in  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahr- 
hundert bereits  vom  mittelalterlichen  Mondino,  der  vordem  als  unfehl- 
bare Autorität  gegolten,  abwandten,  so  erkühnten  sie  sich  noch  nicht, 
trotzdem  sie  bei  ihren  Untersuchungen  hie  und  da  auf  die  grossen 
Mängel  der  galenischen  Anatomie  stiessen,  soweit  zu  gehen,  ihre  Be- 
obachtungen dem  Ansehen  des  grossen  Pergameners  entgegenzusetzen. 
Den  Galen  zu  bestätigen,  zu  ergänzen,  nicht  aber  zu  korrigieren,  das 
schwebte  allein  als  Aufgabe  vor,  und  fand  man  grobe  Widersprüche 
mit  der  eigenen  Erfahrung,  so  verbesserte  man  stillschweigend,  ohne 
prinzipiell  gegen  ihn  aufzutreten.  Lieber  verfochten  die  Gelehrten 
den  Satz,   dass   sich  das  Menschengeschlecht  in  seiner  anatomischen 


I 


Einleitung.  25 

Beschaffenheit  im  Laufe  der  Jahi'himderte  verändert  habe,  als  dass 
sie  zugaben,  dass  Galen  sich  geirrt  haben  könne.  Von  solchem  Geiste 
war  eine  Anzahl  von  italienischen  und  französischen  Anatomen  am 
Ende  des  15.  und  im  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  beseelt.  Anatomen, 
welche  sich  um  die  Entdeckung  mancher  Einzelheiten  hoch  ver- 
dient machten,  wie  Achillini,  Zerbi,  Benedetti,  Berengar  von  Carpi, 
Winther  von  Andernach.  Guido  Guidi,  Jacques  Dubois.  Höchstens 
dem  objektiven  Ergebnis  ihrer  Forschung,  nicht  aber  der  Idee 
nach,  wirkten  diese  Männer  als  Vorläufer  der  wissenschaftlichen  Ee- 
formation,  die  ja  im  Prinzip  mit  der  gänzlichen  Verwerfung  der 
galenischen  Anatomie,  mit  einer  sj'stematisch  durchgefüluten  Xeu- 
schöpfung  anheben  musste.  Keinem  anderen  als  dem  grossen  Zer- 
gliederer Andreas  Vesalius  (1514—1565)  gebührt  das  Verdienst, 
mit  kühnem  Freimut,  mit  scharfer  Kritik,  die  Schranke  dui'chbrochen 
zu  haben,  welche  auch  hier  der  Autoritätsglaube  errichtet  hatte. 

Aus  einer  alten  deutschen  Aerztefamilie  stammend,  deren  ursprüng- 
licher Name  Wytinck  nach  dem  Herkunftsort  Wesel  abgeändert  worden 
war.  mit  frühreifem  Anschauungstaleut  und  stürmischem  Wissensdrang, 
mit  besonderer  technischer  Geschicklichkeit  begabt,  hatte  Vesal  im  her- 
kömmlichen oberflächlichen  anatomischen  Unterricht  weder  in  Mont- 
pellier noch  in  Paris  die  rechte  Befriedigung  gefunden.  Schon  während 
seiner  Studienzeit  den  Weg  der  selbständigen  Forschung  betretend, 
benützte  er  später  in  seiner  Stellung  als  Wundarzt  im  kaiserlichen 
Heere,  die  gegebene  Gelegenheit,  unbefangen,  nur  den  Sinnen  trauend, 
zahlreiche  Leichenuntersuchungen  vorzunehmen;  durch  diese  wurde  er 
über  die  Mängel  der  galenischen  Anatomie  so  sehr  aufgeklärt,  dass 
sich  in  ihm  der  Plan  zu  einer  völligen  Xeuschöpfung  des  Gegen- 
stands immer  mehr  festsetzte.  Nur  mit  schwerer  Ueberwindung,  nur 
um  die  Zeitgenossen  nicht  in  ihrem  Dogmatismus  zu  verletzen,  trug 
er.  mit  23  Jahren  als  Professor  nach  Padua  berufen,  daselbst  noch 
dreimal  die  Anatomie  nach  Galen  vor,  dann  aber  verbot  es  ihm  der 
Mannesmut.  die  niederschmetternde  Erkenntnis  der  Allgemeinheit  noch 
länger  vorzuenthalten,  dass  Galen  seine  Kenntnisse  nicht  an  Sektionen 
von  Menschen,  sondern  an  der  Zergliederung  von  Affen  und  Hunden 
erworben  hatte.  Welcher  Mut  dazu  gehörte,  die  Autorität  Galens 
und  namentlich  auf  diesem  Gebiete  zu  bekämpfen,  lässt  sich  leicht 
ermessen,  wenn  man  die  weitverzweigte  Macht  lang  heri-schender 
wissenschaftlicher  Suggestionen  erwägt,  wenn  man  bedenkt,  dass 
die  Grundlage  und  damit  das  ganze  Lehrgebäude  der  Medizin  an- 
gegriffen wurde.  In  demselben  Jahre,  wie  des  Kopernikus  umwälzendes 
Werk  De  revolutionibus  orbium  coelestium  (1543),  erschien  auch  das 
nicht  minder  bahnbrechende  Hauptwerk  Vesals  De  corporis  humani 
fabrica  libri  Septem,  mit  ausgezeichneten  von  Stephan  von  Kaikar 
herrührenden  Holzschnitten,  worin  nicht  allein  auf  Grund  zahl- 
reicher Zergliederungen  mehr  als  200  Irrtümer  des  „unfehlbaren" 
Pergameners  unwiderleglich  nachgewiesen  wurden,  sondern  die  ge- 
samte Anatomie  aufs  sorgfältigste  nach  durchwegs  eigenen  Forschungen, 
zum  Teil  in  Beziehung  zur  Phj'siologie  und  Pathologie  abgehandelt 
ist.  Die  zweite,  verbesserte  Auflage  erschien  im  Jahre  1555.  Wenige 
Werke  der  medizinischen  Litteratur  können  Vesals  Anatomie  an  die 
Seite  gestellt  werden,  sie  besitzt  nicht  bloss  einen  relativen  Wert  für 
den  damaligen  Fortschritt,  sondern  trotz  mancher  ihr  anhaftender 
Unvollkommenheiten  einen  unvergänglich  dauernden,  absoluten  Wert 


26  Max  Neuburger. 

für  alle  Zeiten!  Alle  weiteren  Leistungen  der  Anatomen  sind  nur 
Fortsetzungen,  Erweiterungen,  Verbesserungen. 

Vesal  bewies  durch  Tiersektionen,  womit  er  gleichzeitig  die  ver- 
gleichende Anatomie  inaugurierte,  dass  Galen  die  Resultate  der 
Tieranatomie  (z.  B.  Wundernetz,  allgemeiner  Hautmuskel)  fälschlich 
auf  den  Menschen  übertragen  hatte,  brachte  eine  Fülle  von  aus- 
gezeichneten naturwahren  Beschreibungen  (Becken,  Wirbelsäule,  Band- 
apparate, Herzklappen,  Bauchfell,  graue  Hirnsubstanz  etc.),  bestritt 
alte  irrtümliche  Begriffe  (Parenchym),  empfahl  systematische  Prä- 
parationen und  wirkte  durch  Bekämpfung  des  Vorurteils  der  Aerzte 
gegen  die  praktisch  anatomische  Beschäftigung  sowie  durch  Pflege 
der  anatomischen  Abbildung  geradezu  bahnbrechend  für  die  Verbreitung 
anatomischer  Kenntnisse. 

Die  geistige  Bewegung,  die  Vesal  im  Reiche  der  ]V[edizin  hervor- 
rief, zog  weite  Wellenkreise,  niemand  konnte  in  Neutralität  verharren ; 
wo  der  Galenismus  in  seinem  Herzen  getroffen  war,  konnten  sich  nur 
zwei  Lager  schroff  gegenüberstehen,  die  begeisterten  Freunde  der 
Wahrheit  und  die  in  greisenhaftem  Eigensinn  verbohrten  Anhänger 
der  Tradition.  Während  die  ersteren  die  Thatsachen  für  sich  hatten, 
riefen  die  letzteren,  zeternd  gegen  die  ungeheuere  Ketzerei  Reich  und 
Kirche  um  Hilfe  an,  allen  voran  der  ehemalige  Lehrer  Vesals,  Sylvius, 
der  in  einem  Wortspiel  den  Namen  des  Reformators  in  „Vesanus"  um- 
änderte und  von  ihm  sagte,  er  verpeste  Europa  mit  seinem  Gifthauch. 
Ja!  die  anatomische  Forschung  als  solche  wurde  durch  Aufwühlung 
alter  Vorurteile  wieder  in  Frage  gezogen.  Glücklicherweise  war  das 
Gutachten  der  Universität  Salamanca,  welches  Karl  V.  einholen  Hess, 
günstig  tür  Vesal,  die  theologische  Fakultät  erklärte,  dass  Leichen- 
zergliederungen wegen  des  Nutzens  für  die  Heilkunst  zulässig  erklärt 
werden  müssten.  Die  Macht  der  Wahrheit  erwies  sich  stärker  als 
Vorurteile,  Neid  und  Unwissenheit,  Vesal  aber,  der  ihr  den  Weg  er- 
öffnet hatte,  vermochte  auf  die  Dauer  den  hämischen  Intriguen  seiner 
Feinde  nicht  zu  widerstehen  und  endete  unglücklich. 

Die  geschichtliche  Bedeutung  Vesals.  der  auch  als  Arzt  und 
Chirurg  Tüchtiges  leistete,  beruht  in  erster  Linie  darauf,  dass  er  dem 
blinden  Autoritätsglauben  auf  einem  der  wichtigsten  Gebiete  ein  Ende 
setzte,  der  Medizin  durch  die  sorgfältigste  Bearbeitung  der  Anatomie 
die  wertvollste  Grundlage  gab  und  die  Aufgabe  der  kommenden 
Forschung,  die  Heilkunst  auf  den  exakten  Ergebnissen  der  Anatomie 
und  Physiologie  zu  errichten,  wenigstens  in  den  Umrissen  andeutete. 
Der  Endzweck,  die  theoretische  Wissenschaft  praktisch  zu  verwerten, 
schAvebte  ihm  immer  deutlich  vor  Augen,  deshalb  beschränkte  er  sich 
nicht,  wie  viele  Spätere,  bloss  auf  die  anatomische  Beschreibung, 
sondern  er  versucht,  mittels  zahlreicher  Vivisektionen  die  Ver- 
richtungen der  Organe  zu  ergründen  und  unterliess  es  auch 
nicht,  bereits  manche  dem  Skalpell  zugängliche  pathologische  Ver- 
änderungen ins  Auge  zu  fassen.  Es  ist  besonders  hervorzuheben, 
dass  Vesal  demnach  nicht  bloss  als  Reformator  der  Anatomie  erscheint, 
sondern  dass  er  auch  den  Wert  des  Tierexperiments,  welches  er  den 
mit  der  Anatomie  vertrauten  Aerzten  dringend  empfiehlt,  erfasste  und 
somit  die  Physiologie  aus  dem  Dickicht  der  Spekulation  auf  den  Weg 
der  empirischen  Untersuchung  hinüberleitete.  Den  Glanzpunkt  in 
dieser  Hinsicht  bilden  seine  Versuche  über  Herzbewegung,  über  die 
Folgen   der  Gefässunterbindung,  über  Hirnbewegung,  über  den  Ein- 


Einleitung.  27 

fluss  des  Gehirns  auf  Empfindung-  und  Bewegung.  Wiewohl  er  sich 
trotz  ungefährer  Kenntnis  des  kleinen  Kreislaufs,  trotz  seiner  Ligatur- 
Tersuche  zur  Klarheit  über  die  Blutbewegung  nicht  aufzuschwingen 
vermochte,  so  führte  ihn  doch  später  der  Nachweis,  dass  die  Herz- 
scheidewände undurchbohrt  sind,  zur  Frage,  wie  es  möglich  sei,  dass 
das  Blut,  wenn  auch  nur  in  sehr  geringer  Menge  aus  dem  rechten 
Herzen  in  das  linke  durch  die  dichte  feste  Substanz  hindurchdringen 
könne?  Dadurch  streute  er  die  Saat  des  Zweifels  auch  auf  ein 
anderes  Gebiet,  wo  Galen  noch  unbestritten  herrschte,  er  bereitete 
seinen  Sturz  auch  in  der  Physiologie  schon  langsam  unterminierend  vor. 

Neben  Yesal  wirkten  als  ebenbürtige  Nebenbuhler  Falloppio  und 
Eustacchi;  diesen  Männern  verdankte  die  aufstrebende  Wissenschaft 
das  Meiste,  an  die  Trias  ihrer  Namen  knüpft  sich  die  Glanzzeit  der 
Anatomie.  Im  Vollbewusstsein  des  Kampfes  gegen  den  Galenismus. 
Eeformator,  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes,  war  nur  Vesal,  die 
beiden  anderen  vermochten  sich  der  Suggestion  des  grossen  Perga- 
meners  noch  nicht  zu  entziehen,  Falloppio  nahm  eine  pietätvoll  ver- 
mittelnde Rolle  ein  und  Eustacchi  trat  sogar  trotz  seiner  imposanten 
wissenschaftlichen  Neuerwerbungen  für  Galen  mit  Leidenschaft  ein. 

Den  Spuren  dieser  grossen  Pfadfinder  folgten  Schüler  und  Gleich- 
strebende in  der  Bearbeitung  der  deskriptiven  und  vergleichen- 
den Anatomie,  einzelne  Forscher  widmeten  sich  bereits  mit  spe- 
zialistischer Gründlichkeit  besonders  der  Embryologie  oder  ver- 
legten einen  Teil  ihres  Fleisses  auf  die  Zusammenstellung  von  gröberen 
pathologisch-anatomischen  Fakten.  Die  Saat  spross  üppig 
empor ;  ^\ie  bei  der  Entdeckung  unbekannter  Länder  war  die  Forschung 
vom  Zauber  blühender  Jugendfrische  erfüllt,  und  gleichsam,  wie  der 
Strom  sich  weitereilend  selbst  sein  Bett  gräbt,  wie  die  Funktion  sich 
selbst  ihre  Organe  bildet,  wuchs  mit  den  Fortschritten  auch  die 
Technik  der  Untersuchungsmittel,  deren  anfängliche  Un Vollkommen- 
heit allerdings  noch  viele  Irrtümer  bewirkte.  Italienische  und  deutsche, 
spanische,  und  holländische  Anatomen  erbauten  im  16.  Jahrhundert 
auf  Vesals  soliden  Fundamenten  die  Grundmauern  der  Anatomie  und 
brachten  einzelne  Teile  des  Gebäudes  sogar  zum  vollendeten  Abschluss, 
die  Folgezeit  hatte  die  Arbeit  bloss  fortzuführen. 

Das  verhältnismässig  geringe  menschliche  Leichenmaterial  z^vang 
die  Forscher  häufig,  Sektionen  und  Vivisektionen  von  Tieren  vorzu- 
nehmen, und  gerade  dieser  Umstand  wurde  zum  Hebel  des  Fortschritts 
auf  dem  Gebiete  der  vergleichenden  Anatomie  und  Experimental- 
physiologie.  Man  beschritt  den  Weg  des  Tierversuchs,  um  über  die 
Funktion  der  Organe  ins  Reine  zu  kommen.  Eustacchi  machte  Ver- 
suche über  die  Nierenfunktion  (Injektion  von  Wasser  in  die  Nieren- 
arterie, Erkenntnis  der  fundamentalen  Bedeutung  des  Blutdrucks), 
Volcher  Koyter  berichtete  über  eigene  Experimente  am  Herzen,  über 
Hirnbewegung  und  die  motorische  Funktion  des  Gehirns,  Realdo 
Colombo,  der  Schüler  Vesals,  verdrängte  die  Spekulation  in  der  Lehre 
von  der  Herzbewegung  durch  seine  Beobachtungen  am  lebenden  Tier. 
In  den  Worten  Colombos,  „dass  man  aus  der  Zergliederung  eines 
Hundes  an  einem  Tage  mehr  lerne,  als  wenn  man  beständig  den  Puls 
fühle  oder  mehrere  Monate  hindurch  Galens  Schriften  studiere,"  spricht 
sich  der  gewaltige  Umschwung  aus,  welcher  wenigstens  bei  den 
führenden  Geistern  allmählich  den  Sieg  über  die  Tradition  davontrug, 

^^'ie  nach  einem  vorgefassten  Plane  und  doch  nicht  beabsichtigt 


28  Max  Neuburger. 

von  den  Urliebern  der  Einzelentdeckungen,  näherten  sich  die  divergieren- 
den Forschungsrichtungen  immer  mehr  dem  entscheidenden  Kreuzungs- 
punkte, welcher  die  romantische  von  der  realen  Physiologie  trennt, 
welcher  den  Anfang  der  wissenschaftlichen  Medizin  bildet  —  der  Ent- 
deckung des  Blutkreislaufs.  Zwar  gelangte  keiner  der  Forscher  des 
16.  Jahrhunderts  zu  diesem  Endziel,  selbst  der  Lungenkreislauf  wurde 
mehr  geahnt  als  wirklich  erfasst,  aber  die  Ansätze  zur  Entdeckung  treten 
schon  halbverschleiert  aus  den  Nebeln  zutage,  man  spürt  das  Wehen 
eines  neuen  Geistes.  Miguel  Serveto,  der  berühmte  Bekämpfer  des 
Arabismus,  lehrte  in  seinem  theologischen  Werke  Christianismi  restitutio 
(Viennae  Allobrogum  1553),  dass  das  Blut,  des  rechten  Ventrikels  nicht 
„wie  gemeiniglich  angenommen  wird"  durch  das  Septum  übertrete, 
sondern  auf  dem  Wege  der  Lungen,  in  seiner  Farbe  verändert,  in 
das  linke  Herz  gelange,  dass  die  Arteria  pulmonalis,  wie  sich  schon 
aus  ihrem  Umfang  erschliessen  lasse,  nicht  allein  der  Ernährung  der 
Lungen  dienen  könne.  Vesal  zeigte,  dass  es  anatomisch  nicht  be- 
greiflich sei,  wie  das  Blut  entsprechend  dem  Dogma  Galens,  durch 
die  feste  Substanz  der  Herzscheidewand  hindurchtreten  könne.  Realdo 
Colombo  erwies  durch  seine  Vivisektionen,  dass  die  Lungen venen  Blut 
enthalten.  Sein  Schüler,  der  geniale  Cesalpini,  fand  nocli  mehr  Wider- 
sprüche in  Galens  Lehre  von  der  Blutbewegung  und  machte  nament- 
lich auf  die  Unmöglichkeit  aufmerksam,  dass  die  Lungenvenen  dem 
Herzen  Luft  zuführen  und  andererseits  wieder  den  „Russ"  (die  un- 
verwendbaren Teile)  des  linken  Ventrikels  nach  aussen  treten  lassen. 
Die  Theorie  der  „spiritus  vitales"  haftete  aber  noch  zu  fest  in  den 
Köpfen,  noch  immer  hielt  man  das,  was  den  linken  Ventrikel  er- 
füllt und  in  die  Arterien  strömt,  für  etwas  vom  Blut  verschiedenes, 
der  letzte  Schritt  zur  völligen  Klarheit  konnte  daher  nicht  gethan 
werden,  so  greifbar  ihre  Nähe  schon  erscheint.  Noch  weniger  war 
dies  hinsichtlich  des  grossen  Kreislaufs  der  Fall.  Trotzdem  man  das 
Anschwellen  der  Venen  über  der  Aderlassbinde  schon  längst  nur  durch 
ausgeklügelte  Spitzfindigkeiten  mit  der  galenischen  Lehre  vereinbaren 
kannte,  trotzdem  von  Vesal  und  anderen  die  Erscheinungen,  welche 
nach  Unterbindung  der  Venen  und  Arterien  auftreten,  experimentell 
studiert  wurden,  trotzdem  Jac.  Sylvius,  Vesal,  Cannani,  Amatus  Lusi- 
tanus,  Sarpi  und  besonders  Fabrizio  die  Venenklappen  auffanden,  ver- 
mochte man  zur  so  naheliegenden  Erkenntnis  vom  centripetalen  Lauf 
des  Venenblutes  nicht  vorzudringen.  Der  Grundirrtum  von  der  Be- 
reitung des  Blutes  in  der  Leber  trübte  den  Blick,  und  unter  diesem 
falschen  Sehwinkel  schienen  die  Venenklappen  nichts  anderes  zu  be- 
deuten als  Hemmvorrichtungen  für  das  zu  rasche  Strömen  des  Blutes. 
Die  Thatsachen  sammelten  sich,  es  fehlte  nur  noch  der  unerschrockene 
unbefangene  Denker,  der  ihre  Hieroglyphenschrift  zu  enträtseln  ver- 
stand. 

Immerhin  hinterliess  das  16.  Jahrhundert  einen  Grundstock  physio- 
logischer Erkenntnisse,  welche  die  grossen  Errungenschaften  der 
Folgezeit  vorbereiteten.  Dahin  gehört  unter  anderem  die  Vorstellung 
vom  Lungen-  und  fötalen  Kreislauf,  die  Feststellung  der  funktionellen 
Wirkung  vieler  Muskeln  und  des  Verhältnisses  der  Sehnen  und  Nerven 
zu  diesen,  die  Widerlegung  der  Lehre  von  dem  Auseinanderweichen 
der  Symphyse  bei  der  Geburt,  der  Nachweis  der  Hirnbewegung  u.  s.  w. 

Die  organische  Verbindung  zwischen  der  praktischen  ]\Iedizin 
und  der  Anatomie  und  Physiologie  herzustellen,  dieses  über  den  Hippo- 


Einleitung.  29 

kratismus  hiuausdringende  Ziel  wurde  allerdings  erst  in  den  kommen- 
den Jahrhunderten  mit  Bewusstsein  angestrebt,  doch  lassen  sich  ein- 
zelne Berührungspunkte  auch  schon  in  dieser  Epoche  auffinden.  So 
glaubte,  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  Vesal  die  Regeln  für  den 
Aderlass  bei  der  „Pleuritis"  vom  anatomischen  Verhalten  der  Venen 
ableiten  zu  können. 

Unzweifelhaft  erwuchs  der  Chirurgie  aus  dem  Fortschritt  der 
anatomischen  Kenntnisse  grosser  Gewinn,  ihr  unverkennbarer  Auf- 
schwung im  Vergleich  zu  den  mittelalterlichen  Zuständen  ist  zum  Teil 
auf  den  Einfluss  der  Anatomie  zurückzuführen. 

Wurde  auch  der  Wundarzt  allzeit  schon  durch  die  leichtere  üeber- 
sichtlichkeit  des  Objekts,  durch  den  rascher  erkennbaren  Zusammen- 
hang zwischen  Ursache  und  Wirkung,  von  Spekulation  und  Autoritäts- 
glauben mehr  bewahrt  als  der  interne  „Bucharzt",  liegt  auch  die 
nüchterne  Beobachtung  schon  an  und  für  sich  im  Wesen  der  Chirurgie, 
so  verhinderte  doch  jahrhundertelang  der  Umstand  ihr  Emporblühen, 
dass  sie  nicht  in  den  Händen  von  wissenschaftlich  (anatomisch)  denken- 
den Künstlern,  sondern  in  den  Händen  roher,  ungebildeter  Handwerker 
oder  Quacksalber,  die  an  der  Schablone  hafteten,  lag. 

Eine  soziale  Frage  bestimmte  als  wichtigstes  Moment  vor  allem 
anderen  die  Entwicklung  der  Wundarzneikunst.  Solange  sich  gebildete 
Aerzte  —  ein  atavistischer  Eest  aus  der  Mönchsmedizin  mit  ihrem 
„ecclesia  abhorret  a  sanguine"  —  von  der  praktischen  Beschäftigung 
mit  der  Chirurgie  fernhielten,  solange  den  Wundärzten  nur  eine  ver- 
achtete, niedrige  Stellung  eingeräumt  wurde,  die  sie  engherzig  den 
Barbieren  gleichstellte,  von  der  Erwerbung  wissenschaftlicher  Kennt- 
nisse gänzlich  ausschloss  und  in  die  Grenzen  kurzsichtiger,  über  den 
konkreten  Fall  nicht  hinausdringender  Empirie  festbannte,  war  an  ein 
erspriessliches  Vorwärtskommen  nicht  zu  denken.  Glücklicherweise 
nagte  die  Zeit  auch  an  diesen  hemmenden  Vorurteilen,  der  gesunde 
Sinn  des  Volkes  für  wahrhaft  nützliche  Leistungen,  die  Verdienste, 
welche  sich  Chirurgen  in  Zeiten  der  Gefahr,  im  Kriege,  während  der 
Pestepidemien,  in  der  Behandlung  der  Syphilis  etc.  erwarben,  gaben 
dem  Stande  einen  immer  stärkeren  Eückhalt  und  ermutigten  ihn  zu 
einer  straifen  Organisation,  die  dem  reaktionären  Widerstände  der 
hochmütigen  „Buchärzte"  wirksam  begegnete.  Nirgends  loderte  dieser 
Klassenkampf  heftiger  empor  als  in  Frankreich,  wo  die  Pariser  Fakultät 
so  sehr  das  Interesse  des  Standes  über  das  Interesse  der  Wissenschaft 
stellte,  dass  sie  sogar  die  quacksalberischen  Barbiere  in  ihren  Schutz 
nahm  nnd  mit  offiziellen  Rechten  ausstattete,  nur  um  die  ehrlich 
strebenden  Wundärzte  zu  schädigen.  Dem  zähen  Ringen  der  fran- 
zösischen Chirurgen  um  die  bürgerliche  und  wissenschaftliche  Stellung 
konnten  aber  auf  die  Dauer  noch  so  sorgsam  eingefädelte  Intriguen 
nicht  standhalten,  der  Sieg  wurde  endgültig  von  der  Chirurgenkorpo- 
ration, dem  College  de  St.  Come,  erfochten.  In  Deutschland  währten 
die  ungünstigen  Verhältnisse  viel  länger,  während  sich  in  Italien 
den  (Chirurgen  schon  frühe  eine  ehrenvolle  Laufbahn  erschloss;  dort 
öffneten  ihnen  die  Universitäten  ihre  Pforten,  dort  wurden  akade- 
mische Lehrstühle  für  die  Chirurgie  in  Verbindung  mit  Anatomie 
gestiftet  und  beide  Wissenszweige  in  regen,  befruchtenden  Wechsel- 
verkehr gesetzt. 

Auf  die  Verschiedenheit  in  der  sozialen  Stellung  lässt  sich  die 
Ei'scheinung  zurückführen,   dass  die  italienischen,   französischen  und 


30  Max  Neubiirger. 

spanischen  Chirurgen  des  16.  Jahrhunderts  ihre  deutschen  und  eng- 
lischen Kollegen  mit  spärlichen  Ausnahmen  hinter  sich  zurückliessen ; 
aus  dem  Kinfluss  der  Anatomie,  von  der  übrigens  die  Wundärzte  in 
ihrer  Wirksamkeit  als  Prosektoren  nicht  geringen  praktischen 
Nutzen  zu  ziehen  wussten,  erklären  sich  die  Fortschritte  in  der 
Therapie,  in  der  Technik,  in  der  besseren  Indikationsstellung;  die 
letzte  Triebfeder  des  Umschwungs  ist  aber  ebenso,  wie  bei  der  Natur- 
wissenschaft, wo  die  p]ntdeckung  Amerikas,  wie  bei  der  inneren 
Medizin,  wo  das  Auftreten  der  Seuchen  auslösend  wirkte,  in  einem 
ganz  äusserlichen  Umstand  zu  suchen,  nämlich  in  der  Einführung 
der  Schusswaffen  und  ihrer  allgemeinen  Verwendung  bei  den 
stehenden  Heeren  seit  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts. 

Die  Verletzungen,  welche  durch  diese  erzeugt  wurden  und  ihre 
Rückwirkung  auf  das  Allgemeinbefinden  waren  etwas  ganz  Neues, 
worüber  sich  die  gelehrten  Wundärzte  in  den  Schriften  der  Alten 
keinen  Eat  holen  konnten,  worüber  nur  eigene  Erfahrung  Aufschluss 
gab.  Verbesserung  der  Verbandmethode,  rationelle  Blutstillung  und 
Erweiterung  der  Indikation  zur  Vornahme  der  Amputation  zeugen 
von  dem  erwachenden  Selbstdenken.  In  analoger  Weise,  wie  auf 
den  anderen  Gebieten  vollzog  sich  auch  hier  der  Prozess  der  Los- 
lösung vom  hergebrachten  Autoritätsglauben.  Zum  selbständigen 
Handeln  gezwungen,  gelangte  man  nach  und  nach  zur  Erkenntnis,  dass 
die  mittelalterlichen  Autoritäten,  namentlich  Abul  Kasim  und  Guy  de 
Chauliac  nur  als  Führer,  nicht  aber  als  unumschränkte  Herrscher  im 
Eeich  des  chirurgischen  Könnens  betrachtet  werden  dürfen.  Neben 
der,  durch  die  Not  erfinderisch  gemachten  Empirie  blieb  aber  auch 
das  Originalstudium  der  antiken  Meister  nicht  ganz  ohne  Einfluss,  in- 
dem es  eine  Menge  von  vergessenen  Operationsmethoden  aufdeckte  oder 
zur  Erfindung  derselben  anregte. 

Grosse  Verdienste  um  die  Chirurgie  erwarben  sich  seit  Giovanni  Vigo 
die  Italiener,  von  denen  manche,  wie  Mariano  Santo,  Alfonso  Ferri,  Berengar 
von  Carpi,  Benedetti,  Bartolommeo  Maggi  (Schusswunden),  Leonardo  Batallo 
(Amputation),  Caspare  Tagliacozzi  und  sein  Schüler  Giambattista  Cortesi 
(plastische  Chirurgie)  geradezu  bahnbrechend  wirkten ;  ruhmvolle  Vertreter 
der  deutschen  Chirurgie  waren  Hieronymus  Brunschwig,  Hans  von  Gers- 
dorff  und  namentlich  der  treffliche  Freund  des  Paracelsus,  Felix  Würtz ; 
unvergessen  bleiben  in  einzelnen  Spezialfragen  auch  die  Spanier  Francisco 
Arceo  und  Daga  Chacon ;  als  Reformator  auf  dem  Gesamtgebiete  erscheint 
aber  kein  anderer  als  der  Begründer  der  französischen  Chirurgie,  Ambroise 
Pare,  hinter  dem  selbst  der  Erfinder  des  „Apparatus  altus"  und  der  Sectio 
lateralis,  Pierre  Franco,  an  geschichtlicher  Bedeutung  zurücksteht. 

Was  Vesal  für  die  Anatomie  bedeutete,  dieselbe  Rolle  spielt  in 
der  Geschichte  der  Chirurgie  der  Wundarzt  von  Laval,  der  premier 
Chirurgien  Karl  IX.,  Ambroise  Pare  (1517—1590).  Wie  Vesal, 
adelte  auch  er  zuerst  das  Fach,  dem  er  sich  mit  feuriger  Begeisterung 
gewidmet,  durch  seine  wissenschaftlichen  Grossthaten,  wie  der  unsterb- 
liche Reformator  der  Anatomie,  erkannte  er  im  VoUbewusstsein  seiner 
reformatorischen  Thätigkeit,  dass  nur  durch  den  Geist  der  Freiheit  und 
Selbständigkeit,  nicht  durch  sklavische  Anhänglichkeit  an  die  Lehren 
der  Vorgänger  der  Wissenschaft  gedient  wird,  wie  die  ruhmumflossene 
Gestalt  des  grossen  Deutschbelgiers,  steht  auch  Ambroise  Pare  am 
Eingang  einer  neuen  Epoche,  die  er  durch  umfassende,  unaufhörlich 


Einleitung.  31 

fortwirkende  EiTiuig-enschaften  für  alle  Zeiten  mit  dem  Glanz  wahr- 
hafter Grösse  erfüllte! 

Der  geniale  Zögling  nugelehrter  Barbiere,  welchen  schon  sein 
Wahlspruch  ,.  Je  le  pansay  et  Dien  le  guarist"  zum  Vorbild  aller  tief- 
blickenden Aerzte  erhebt,  hat  so  viele  Fragen  der  Chirurgie  angeregt 
und  aufgehellt,  dass  man  nur  schwer  seinen  Verdiensten  gerecht 
werden  kann.  Unter  anderem  vereinfachte  er  mit  besonnener  Kritik 
die  schwerfällige  Salben-  und  Pflasterbehandlung  der  Wunden,  er 
stellte  die  Indikation  zur  Trepanation  auf  rationelle  Grundsätze,  rief 
manche  vergessene  Methoden,  wie  die  Tracheotomie,  die  Hasenscharten- 
und  Wolfsrachenoperationen  wieder  verbessert  ins  Leben,  brachte  die 
Thorakocentese  von  neuem  in  Erinnerung,  empfahl  die  Verwendung 
von  Bruchbändern,  stellte  den  Missbrauch  der  Kastration  bei  der 
Herniotomie  ab.  konstruierte  eine  Unzahl  von  Instrumenten  u.  s.  w. 
Von  grösster  Bedeutung  aber  wurde  es,  dass  er  die  Gefässligatur 
anstatt  der  damals  gebräuchlichen  blutstillenden  Glüheisenapplikation 
einführte,  die  A  m  p  u  t  a  t  i  o  n  verbesserte,  die  Irrlehre,  dass  die  Schuss- 
wunden vergiftet  seien  oder  Verbrennung  bewirken,  bekämpfte,  die 
Gefahr  der  Verblutung  durch  komprimierende  Einschnürung 
der  Glieder  beseitigte,  die  Technik  der  Bruchoperationen  wissen- 
schaftlichen Grundsätzen  unterwarf. 

Pare  schuf  eine  Schule  und  wurde  massgebend  auch  für  die 
Chirurgen  ausserhalb  Frankreichs;  neben  Pierre  Franco  und 
Jacques  Guillemeau  förderte  er  ausserdem  das  verw^andte  Gebiet 
der  Geburtshilfe,  indem  er  richtigere  Anschauungen  anbahnte,  der 
W  e  n  d  u  n  g  einen  dauernden  Platz  unter  den  geburtshilflichen  Enchei- 
resen  sicherte  und  vor  gar  zu  hastiger  Anwendung  des  Kaiser- 
schnitts, der  damals  bereits  auch  an  lebenden  Kreissenden  gemacht 
wurde,  w^arnte. 

Der  Aufschwung,  den  die  Chirurgie  nahm,  erweckte  den  Sinn  für 
die  spezialis tische  Pflege  der  früher  gröblich  vernachlässigten 
Augenheilkunde,  die  zuerst  durch  den  deutschen  „Schnitt -W^und- 
arzt"  Georg  Bartisch  einigermassen  mit  der  Anatomie  in  Zusammen- 
hang gebracht  wurde,  und  im  Anschluss  an  die  Geburtshilfe  wandten 
die  Aerzte   auch   der  Kinderheilkunde   ein  regeres  Interesse  zu. 

Viel  weniger  als  die  Chirurgie,  verdankte  die  innere  Medizin 
der  Anatomie;  von  einem  organischen  Zusammenhang  derselben  mit 
der  internen  Pathologie  kann  in  diesem  Zeitalter  noch  nicht  die  Rede 
sein.  Um  so  anerkennenswerter  ist  es,  dass  einzelne  w^eitblickende 
Aerzte  dem  Eindringen  des  anatomischenGedankens  w^enigstens 
insofern  Vorschub  leisteten,  als  sie  den  Nutzen  pathologisch-anatomischer 
Untersuchungen  im  allgemeinen  betonten  und  an  sonst  unklaren  Fällen 
auch  erwiesen.  In  Gefolgschaft  des  Benivieni  deuteten  namentlich 
die  grossen  Anatomen  Vesal,  Eustacchi,  Colombo,  Volcher  Koyter,  aber 
auch  manche  hippokratische  Praktiker,  wie  Schenck  von  Grafenberg, 
auf  diesen  Weg  hin,  doch  erstreckte  sich  ihre  wissenschaftliche  Neu- 
gierde nur  vereinzelt  auf  typische  Fälle,  zumeist  beschäftigte  man 
sich  mit  ganz  auffallenden  Raritäten,  namentlich  Missbildungen,  Ge- 
schwülsten etc.  und  nur  selten  führten  diese  Bestrebungen  zur  Auf- 
deckung des  Kausalnexus  zwischen  Symptom  und  Leichenbefund. 

Ganz  ausnahmsweise  w^urde  der  systembildende  Wert  des  ana- 
tomischen Gedankens  für  die  Klassifikation  d  e  r  K  r  a  n  k  h  e  i  t  e  n , 
die  Bedeutung  der  Anatomie   für  die  Lokaldiagnose  erfasst  am 


32  Max  Neuburger. 

schärfsten  von  dem  Pariser  Professor  Jean  Fernel  (1485 — 1558)  und 
dem  Basler  Anatomen  Felix  Platter  (1536—1614). 

Fernel,  dem  die  Widersprüche  des  galenischen  Systems  mit  der 
Erfahrung  nicht  entgingen,  suchte  durch  neue,  der  Anatomie  und 
Physiologie  entnommene  Bausteine  die  Lücken  auszufüllen,  das  er- 
schütterte Gebäude  der  alten  Heilkunde  in  neuem  Glänze  wieder- 
herzustellen. In  einer,  für  sein  Zeitalter  besonders  anerkennenswerten 
Weise  würdigte  er  pathologisch-anatomische  Thatsachen 
und  beschäftigte  sich  sogar  mit  dem  Gedanken,  die  verschiedenen 
Fieberformen  in  bestimmten  Organen  zu  lokalisieren.  Am  be- 
merkenswertesten ist  es,  dass  er  zwischen  Krankheitsursache  und 
Krankheit  eine  schärfere  Trennung  herbeiführte  und  die  erstere  in 
die  Säfte,  die  letztere  aber  in  die  festen  Teile  (Solidarpathologie)  ver- 
legte, während  die  Krankheitssymptome  aus  funktionellen  Alterationen 
erklärt  wurden.  Zu  solchen  pathologischen  Anschauungen  musste  er 
kommen,  weil  er  die  physiologischen  Funktionen  aus  dem  Bau  der 
Elementarteile  (Fasern)  ableitete.  Im  Geiste  der  Anatomie  teilte  er 
die  Krankheiten  in  solche  der  Organe  (organici),  in  solche  der  Ge- 
webe (similares)  und  solche  aus  Lösung  des  Zusammenhangs.  Weiter 
ging  noch  Platter,  der  die  Nosologie  nach  anatomisch-phj'sio- 
logi sehen  Prinzipien  neu  bearbeitete  und  drei  Hauptgruppen 
der  Krankheiten  unterschied:  Störungen  der  Funktionen  (der  Sinne, 
der  Bewegungen);  Störungen  der  Empfindungen  (Schmerzen,  Fieber); 
Fehler  (der  Form,  Lage,  Struktur)  der  Organe,  der  Se-  und  Ex- 
kretion. 

Wiewohl  solche  nosologische  Systeme  die  althergebrachten  regio- 
nären Beschreibungen  a  capite  ad  calcem  vorerst  nicht  zu  verdrängen  in 
der  Lage  waren,  so  darf  man  ihrem  sporadischen  Aufkommen  doch  einen 
nicht  zu  unterschätzenden  symptomischen  Wert  beimessen.  Die  formelle 
Abweichung  vom  Hergebrachten  barg  den  gesunden  Kern  der  Opposition 
gegen  den  erstarrten  Dogmatismus  in  der  Pathologie,  sie  bildete  das  erste 
Anzeichen  einer  neuen  Ideengruppierung.  Man  griff  zum  Teile  auf  das 
antagonistische  System,  die  vergessene  und  verketzerte  Solidarpatho- 
logie zurück,  welcher  gerade  die  anatomischen  Neuerwerbungen  eine  festere 
Basis  zu  geben  versprachen.  Entbrannte  auch  der  Kampf  zwischen  diesen 
beiden  Hauptrichtungen  erst  in  den  kommenden  Epochen,  das  erste  Vor- 
postengefecht fand  schon  im  16.  Jahrhundert  statt  und  hebt  mit  dem 
Momente  an,  wo  anatomis  ch -physiologische  Prinzipien,  wenn 
auch  leise,  zur  Geltung  gelangen.  Diese  waren  es,  welche  Fernel  und 
Platter  zur  Aufnahme  von  solidarpathologischen,  lokalistischen 
Grundsätzen  in  ihr  System  drängten. 

Eine  ähnliche  Tendenz  wie  Fernel,  nur  in  schärferer  Opposition 
gegen  Galen,  verfolgten  Giov.  Arge  uteri  o  (1513 — 1572)  und  Lau- 
rent. Joubert  (1529 — 1583).  Beide  bekämpften  auf  Grund  neuer 
und  freierer  physiologischer  Anschauungen  fundamentale  Axiome 
der  Krasenlehre. 

Argenterio,  welcher  die  Medizin  für  eine  Erfahrungswissenschaft  er- 
klärte und  demgemäss  die  analytische  Methode  empfahl,  bestritt  einerseits 
die  Lehre  von  den  Elementarqualitäten,  indem  er  die  Abhängigkeit  der 
„zweiten  Qualitäten"  (sinnlich  wahrnehmbaren  Eigenschaften)  von  den  ersten 
leugnete  und  suchte  andererseits    die  Verrichtungen  des  Körpers  nicht,    wie 


Einleitung.  33 

Galen,  aus  der  "Wirkung  verschiedener  organischer  Grundkräfte  (,. Spiritus "), 
sondern  von  der  eingepflanzten  "Wärme  abzuleiten.  Krankheit  ist  ihm  keine 
Kachexie,  sondern  eine   -Ametria-   in  der  Zusammensetzung  der  Teile. 

Joubei-t,  der  berühmte  Kanzler  der  Universität  Montpellier  und  Leib- 
arzt der  Katharina  von  Medicis,  reduzierte  die  Zahl  der  organischen  Grund- 
kräfte sehr  bedeutend,  identifizierte  die  „ernährende"  Kraft  mit  der  „bilden- 
den" und  zog  die  Fieberlehre  Galens  (Säfteverderbnis),  namentlich  die 
Päulnistheorie  in  Zweifel  mit  der  strikt  vertretenen  ilotivierung,  dass  im 
lebenden  Körper  nichts  faulen  könne.  Als  seine  höchste  Leistung  erscheint 
aber  im  Lichte  der  Gegenwart  der  Ausspruch,  dass  die  Heilung  nicht 
durch  die  "Willkür  des  Zufalls,  sondern  nach  unabänderlich  waltenden 
Naturgesetzen  streng  gesetzmässig  erfolge,  denen  die  Xaturheilkraft  wie 
jede  andere  unterworfen  sei.  Es  ist  dies  die  zum  erstenmale  klar  formulierte 
Erkenntnis  der  organischen  Physik,  welche  die  fundamentale  Voraussetzung 
der  wissenschaftlichen  Medizin  bildet. 

In  der  Bekämpfung  des  galenischen  Systems  der  Pathologie  fanden 
diese  Forscher  Bnndesgenossen,  welche  nicht  so  sehr  in  den  realen 
Kenntnissen  ihrer  Zeit,  sondern  in  den  naturphilosophischen  Lehren 
des  Xeuplatonismus  die  Hilfsmittel  zu  der  als  notwendig  erkannten 
Eeform  der  Heilkunde  erblickten.  Kann  den  Bestrebungen  dieser 
Art  auch  nur  ein  blendender  und  kurzdauernder,  keineswegs  aber  ein 
nachhaltiger  geschichtsbildender  "Wert  zuerkannt  werden,  so  finden 
sich  doch  bei  diesen  Autoren  so  manche,  später  bestätigte  geniale 
Vorahnungen,  welche  gerade  durch  das  Miss  Verhältnis,  in  dem  sie  zu 
den  realen  Kenntnissen  des  Zeitalters  stehen,  berechtigtes  Erstaunen 
hervorrufen. 

Der  geistvolle,  wenn  auch  höchst  pervers  veranlagte  Arzt,  Mathe- 
matiker und  Physiker  Geronimo  Cardano  (1501—1576)  aus  Mailand, 
von  dem  Haller  bezeichnend  sagte,  „sapieutior  nemo  ubi  sapit,  dementior 
nullus  ubi  errat",  ist  der  Hauptrepräsentant  dieser  Gruppe.  Cardano, 
der  sich  auf  Grund  neupythagoreischer  und  neuplatonischer  Spekulation 
und  umfassender  Kenntnisse  zu  einer  tiefblickenden,  aber  vielfach  ver- 
worrenen und  mystisch-abergläubischen  Xaturanschauung  emporschwang, 
vertrat  in  seinen  medizinischen  Werken  häufig  Meinungen,  welche  zu 
den  Theorien  des  Galenismus  im  Gegensatz  stehen;  erwähnenswert 
davon  ist  besonders  die  AViderlegung  der  Lehre  von  der  Entstehung 
der  Katarrhe  im  Gehirn  und  die  Bestreitung  der  Allgemeingültigkeit 
des  therapeutischen  Grundsatzes :  „Contraria  contrariis".  Trotz  seines 
oft  naiven  Radikalismus  verzweifelte  er  aber  keineswegs  an  der  Mög- 
lichkeit, den  Galenismus,  zu  verbessern  oder  auszubauen;  von  einer 
gänzlichen  Verwerfung  der  Autorität  des  Pergameners,  von  einer 
wirklichen  reformatorischen  oder  gar  revolutionären  gegen  das  System 
als  solches  gerichteten  Tendenz  ist  in  seinen  Schriften  nichts  zu  spüren. 
Ohne  sichtbaren  Einfluss  auf  das  weitere  Schicksal  des  Galenismus, 
ohne  Anhänger  finden  zu  können,  verklangen  seine  Ideen  spurlos  im 
rauschenden  Getöse  der  Zeit.  In  mystischer  Dämmerung  verfehlten 
sie  den  Kernpunkt,  auf  den  es  ankam.  Zu  einem  direkten  Frontangriif 
auf  den  Mittelpunkt  der  Schlachtlinie  der  galenistischen  Dogmatiker 
mangelte  es  Cardano  an  instinktivem  Klarblick,  an  Charakterfestig- 
keit, an  naturwüchsiger  ürsprünglichkeit.  Diesen  Angriff  unternahm 
mit  zielbewusster  Sicherheit  ein  echter  Sohn  des  Volkes,  dessen 
innersten  Wesenszug   solche   Eigenschaften   bildeten:  Theophrast 

Handbach  der  Oeschicht«  der  Medizin.     Bd.  II.  3 


34  Max  Neubiirger. 

von  Hohenlieim,  genannt  Paracelsns  (1493—1541).  In  seinem 
bewegten  Leben  spiegelt  sich  das  Ringen  zweier  Zeitepochen  wieder, 
der  scholastischen  und  naturforschenden. 

Theophrast  von  Hohenheim  wurde  am  10.  November  1493  in  der  Nähe 
des  "Wallfahrtsortes  Einsiedeln  (Kanton  Schwyz)  als  Sohn  des  Klosterarztes 
"Wilhelm  Bombast  von  Hohenheim  geboren.  Seine  erste,  nach  eigenem  Gre- 
ständnis  sehr  rauhe  Erziehung  erhielt  er  in  den  ärmlichsten  Verhältnissen  von 
seinem  "V^ater,  der  1 503  nach  "S^illach  übersiedelte  und  ihn  schon  frühzeitig  in 
der  lateinischen  Sprache  und  in  der  Medizin  unterrichtete.  Von  grösstera 
Einfluss  auf  seine  spätere  Entwicklung  war  es,  dass  er  in  seinen  Lehr-  und 
Wanderjahren  nicht  allein  die  üblichen  Studien  an  verschiedenen  Univer- 
sitäten betrieb,  sondern  durch  den  berühmten  Trithemius  und  andere  geistes- 
verwandte Forscher  mit  der  Alchemie  und  neuplatonischen  Naturphilosophie 
vertraut  gemacht  wurde.  Praktische  naturwissenschaftliche,  chemische  und 
metallurgische  Erfahrungen  wusste  er  sich  besonders  in  den  Hüttenwerken 
und  Laboratorien  des  Grafen  Fugger  zu  erwerben,  ausserdem  verschmähte 
er  es  nicht,  auf  seinen  weiten  Reisen,  die  ihn  (zum  Teil  als  "Wundarzt  in 
verschiedenen  Heeren)  durch  die  meisten  Länder  Europas  führten,  im  ver- 
trauten Umgang  mit  den  verschiedenen  Kreisen  des  Volkes  seine  natur- 
historischen und  medizinischen  Kenntnisse  bedeutend  zu  erweitem.  „Nicht 
allein  bei  den  Doctoren,  sondern  auch  bei  den  Scherern,  Badern,  gelehrten 
Aerztten,  "Weibern,  Schwarzkünstlern,  so  sich  des  pflegen,  bei  den  Alchi- 
misten, bey  den  Klöstern,  bei  Edlen  und  Unedlen,  bei  den  Gescheidten  und 
Einfeltigen."  Dieser  ungewöhnliche  Bildungsgang,  der  sich  auf  reine  Er- 
fahrung stützte^  erweiterte  natürlich  seinen  Blick  in  ungeahnter  "Weise,  ent- 
fremdete ihn  aber  dem  engbegrenzten,  abstrakten  Vorstellungskreise  der 
zünftigen  Mediziner.  Sein  "Wahlspruch :  „Nemo  alterius  sit,  qui  suus 
esse  potest"  kennzeichnet  seine  Geistesfreiheit.  Nach  zehnjähriger  Ab- 
wesenheit in  die  Heimat  wieder  zurückgekehrt,  wurde  Paracelsus  (1526)  auf 
Empfehlung  des  Oekolampadius  Stadtarzt  in  Basel  und  durfte  als  solcher 
auch  Vorlesungen  an  der  dortigen  Universität  halten.  Abweichend  gegen 
alles  Herkommen  wählte  er  das  Deutsche  zur  Vortragssprache  und  eröffnete 
unter  grossem  Zulauf  seine  Vorträge  mit  den  schärfsten  Angriffen  gegen 
Galen  und  Avicenna,  deren  Schriften  er  öffentlich  verbrannte,  um  ein,  in 
jenen  Tagen  beliebtes  Zeichen  davon  zu  geben,  dass  er  mit  denselben  tabula 
rasa  gemacht  habe.  Weder  sein  sehr  gesteigertes  Selbstgefühl,  noch  die 
Freimütigkeit,  mit  der  er  seine  wissenschaftlichen  Ueberzeugungen  vertrat, 
noch  der  Eifer,  mit  welchem  er  als  Stadtarzt  dem  schmutzigen  Kartell- 
verhältnisse zwischen  Apothekern  und  Aerzten  zu  Leibe  rückte,  konnte  ihm 
bei  den  Kollegen  Sympathie  erwecken.  Verschiedene  äussere  Anlässe,  be- 
sonders eine  Honorarklage,  brachten  Paracelsus  endlich  sogar  mit  dem 
Magistrat  in  einen  so  heftigen  Konflikt,  dass  er  schon  nach  zweijähriger 
Wirksamkeit,  um  einer  drohenden  Verhaftung  zu  entgehen,  aus  Basel  bei 
Nacht  und  Nebel  entweichen  musste.  Von  Basel  flüchtete  er  zunächst  nach 
Esslingen,  wo  er  eine  Zeitlang  blieb,  sodann  begann  eine  unstete,  ruhelose 
Wanderfahrt  mit  Entbehrungen  und  Kümmernissen,  in  deren  Verlaufe  er 
nach  Colmar,  St.  Gallen,  Appenzell,  Sterzing  und  Meran,  nach  Pfäffers, 
Augsburg,  Linz,  Mährisch-Kromau,  Wien,  Villach,  endlich  nach  Salzburg 
gelangte,  „allezeit  schreibend,  diktierend  und  Kranke  behandelnd")  von  einer 
Schar  von  Schülern  begleitet,  von  Anhängern  ebenso  übermässig  bewundert, 
wie  von  Feinden  wegen  seiner  angeblichen  üblen  Charaktereigenschaften  ver- 
unglimpft  und    verfolgt.     Am    24.  September  1541    starb    Theophrast    von 


Einleitung.  35 

Hobenheim    iu    Salzburg,   wo    noch   jetzt   sein  Grabmal    gezeigt    wird.     Die 
Grabscbrift  kündet  die  hohe  Verehrung,  welche  er  im  Volke  genoss. 

Wie  manclie  andere,  wahrhaft  gi'ossen,  markanten  Persönlich- 
keiten hat  die  Geschichte  auch  den  Sohn  des  Schweizerlands,  den 
originellsten  Arzt  des  16.  Jahrhunderts,  auf  einen  drehbaren  Sockel 
ofestellt,  bald  zum  Lichte,  bald  mehr  nach  der  Schattenseite  hin,  und 
jeder  der  widersprechenden  Beschauer  bleibt  einseitig  im  Rechte; 
herrscht  heute  auch  keine  Meinungsverschiedenheit  mehr  darüber,  dass 
der  sagenumflossene  Paracelsus  mit  seherischem  Tief-  und  Fernblick 
Ideen  erfasste,  zu  denen  die  Zeit  den  Kommentar  geschrieben  hat, 
deren  Richtigkeit  erst  die  Gegenwart  bestätigte,  so  bleibt  doch  bei 
aller  Anerkennung  auf  Teilgebieten  (väe  in  der  praktischen  Medizin, 
Chirurgie,  Syphilidologie)  seine  soziologische  Bedeutung  für  den  Ab- 
lauf der  wissenschaftlichen  Entwicklung  der  Medizin  noch  immer 
diskutabel,  weil  er  die  Hilfsmittel  seiner  Zeit,  namentlich  die  Anatomie, 
verkannte,  weil  er  wohl  für  sich,  von  den  Zinnen  seiner  überragenden 
Burg  das  ferne  Endziel  der  Geistesbahn  erschaute,  der  Weg  dahin 
aber  zumeist  von  solchen  Forschern  geebnet  wurde,  die  unabhängig, 
ja  selbst  im  schroffsten  Gegensatz  zu  seinen  Leitsätzen,  von  ganz 
anderen  Standpunkten  das  Werk  in  Angriff  nahmen. 

Uns  scheint  sich  der  Zwiespalt  dadurch  zu  lösen,  dass  wir  in 
Paracelsus  in  erster  Linie  die  erhabenste  Verkörperung  jener 
rätselvollen,  intuitiv  antizipierenden  Vernunft  des 
Volkes  erblicken,  welche  aus  dem  unergründlichen  Borne  einer  mehr 
empfundenen,  als  bewusst  erkannten  Erfahrung  schöpfend,  den 
dialektisch  entwickelten  Verstand  der  Schulgel elirsamkeit  nicht  gar 
zu  selten  beschämt.  Wie  die  Weisheit  des  Volkes,  trifft  auch  Para- 
celsus mit  seinen  markigen  Kernworten  den  Nagel  sehr  häufig  auf 
den  Kopf,  ohne  die  Begründung  scharf  formulieren  zu  können  und 
erst  viel  später  gelingt  es  der  nachhinkenden  Wissenschaft,  die  Zwischen- 
glieder der  Gedankenkette  ausfindig  zu  machen;  wie  die  Volksseele, 
verbindet  auch  Paracelsus  lichtvolle,  taufrische,  wurzelechte  Anschau- 
lichkeit mit  dem  Hang  zu  nächtiger  Mystik  und  teilt  deshalb  ihr 
Schicksal,  bald  wegen  prophetischen  Tiefsinns  bewundert,  bald  wegen 
verv,'orrener  Abgeschmacktheit  verhöhnt  zu  werden.  Paracelsus  dachte 
und  sprach  im  Geiste  des  Volkes,  er  wurde  auch  volkstümlich  wie 
kein  anderer  Arzt.  Den  schönsten  Ausdruck  hat  diese  Thatsache 
darin  gefunden,  dass  ihn  kein  Geringerer  als  Shakespeare  den  grössten 
Arzt  seit  Galen  nennt.  Mit  dem  Volke,  zu  dem  er  durch  Erziehung 
und  Lebenslauf  in  innigste  Berührung  trat,  ist  ihm  die  derbe  Sprache, 
der  Hass  gegen  blosse  Bücherweisheit,  die  Verehrung  der  Xatur  in 
ihren  Geheimnissen,  der  Symbolglaube  geraeinsam,  als  echter  Spross 
des  deutschen  Stammes,  der  einen  Tauler,  einen  Böhme  zeugte,  fühlt 
er  den  Drang,  in  die  Tiefen  des  eigenen  Selbst  zu  tauchen  und  findet 
ein  Gegengewicht  in  jener  urwüchsigen  Derbheit,  die  er  nach  aussen 
zur  Schau  trug.  Als  echter  Sohn  des  deutschen  Volkes  nimmt  er  an 
allem  teil,  was  das  deutsche  Herz  bewegt,  fühlt  er  so  warm  für  Luthers 
Sache,  ohne  neuen  Formelzwang  für  den  Glauben  seiner  Kindheit 
einzutauschen,  gewährt  er  als  Erster  in  einer  Zeit,  wo  sich  Gelehrte 
ihres  deutschen  Namens  schämten,  dem  deutschen  Wort  Eingang  in 
die  Wissenschaft  und  verkündet  ohne  Leisetreterei  in  Lauten  seiner 
Muttersprache,  was  er  für  recht  und  wahr  befunden. 


36  Max  Neuburger. 

Auf  diese  Grundanlagen  wirkte  sein  Milieu  im  höchsten  Grade 
entwicklungsf ordernd.  Der  Hang  zur  Opposition  gegen  die  medizinische 
Scholastik  wurde  durch  den  Zeitgeist  erweckt  und  bestärkt  —  Para- 
celsus  schürte  nur  zur  Weissglut,  was  schon  andere  bedächtig  ange- 
facht hatten.  Der  Sinn  für  Empirie  fand  reiche  Befriedigung  in 
seinen  Lehr-  und  Wanderjahren,  in  welchen  ihm,  unabhängig  vom 
Schulwissen  und  statt  abstrakter  Bücherweisheit,  unbefangene,  sinnig 
vergleichende  Naturbeobachtung  eingeflösst  und  im  direkten  Umgang 
mit  dem  Volke  eine  nicht  zu  unterschätzende  Menge  von  natur- 
historischen (Pflanzenkunde),  chemischen,  metallurgischen  und  medi- 
zinischen Thatsachen  (z.  B.  Beobachtung  von  Bergwerks-  und  Hütten- 
arbeiterkrankheiten, Quecksilberbehandlung)  vermittelt  wurde;  der 
mystische  Zug,  der  sich  in  seinem  Zeitalter  mit  grösstem  Klarsinn  oft 
in  einem  genialen  Kopfe  vereinigt  findet,  im  Dämonen-  und  Hexen- 
glauben der  Gelehrten  und  Ungelehrten  am  traurigsten  in  den  Hexen- 
prozessen zutage  tritt,  gelangte  bei  ihm  zu  einem  anscheinend  ratio- 
nellen Abschluss  durch  die  Neuplatonik,  in  deren  symbolistische  Ge- 
heimnisse Paracelsus  durch  seine  alchemistischen  Lehrer  eingeführt 
wurde.  War  es  doch  gerade  die  Alchemie,  welche  schon  im  Mittel- 
alter dem  geknechteten  Wissendrange  das  einzige  Feld  für  ein  freieres 
Kräftespiel  darbot,  Empirie,  ja  sogar  Experimentalforschung  mit 
grübelnder  Wundersucht,  mit  düsterster  Mystik  zu  einem  untrennbaren 
Ganzen  verknüpfte! 

Paracelsus  dankte  aber  nicht  bloss  vieles  seinem  Milieu,  er  war 
nicht  bloss  ein  gelehriger  Schüler,  sondern  wuchs  mit  genialer  Ur- 
kraft  weit  hinaus  über  seine  Lehrer,  über  sein  Zeitalter,  er  leitete 
zielbewusst  Spekulation  und  Erfahrung  dem  grossen  Endzweck  zu, 
die  Naturkräfte  dem  menschlichen  Wohle  dienstbar 
zu  machen.  Darum  versuchte  er  die  Alchemie  in  eine  Wissenschaft 
umzuwandeln,  welche,  statt  in  fruchtloser  Suche  nach  dem  „Stein  der 
Weisen"  ihre  Kräfte  zu  vergeuden,  ihre  Aufgabe  darin  erblicken  sollte, 
nützliche  Heilstoife  rein  darzustellen,  darum  ist  ihm  die  windige  Dia- 
lektik der  scholastisch-arabistischen  Medizin  mit  ihren  abstrakten  Pro- 
blemen in  der  Seele  zuwider,  darum  erblickt  er  in  der  philosophischen 
Naturbetrachtung  nur  das  Mittel  zur  Erforschung  des  menschlichen 
Organismus,  zur  Erforschung  der  heilsamen  Stoffe  und  Kräfte,  darum 
geht  ihm  die  Medizin  im  Heilzweck  auf  Dieser  ausschliesslichen 
Tendenz  entspricht  es  auch,  dass  Hohenheim  der  Anatomie  seines 
Zeitalters  kein  Interesse  abgewinnen  kann,  weil  ihm  der  Zusammen- 
hang derselben  mit  dem  Heilen  nicht  klar  wird. 

Unter  dem  Banner  des  Utilitarismus  leistete  Paracelsus  der 
praktischen  Heilkunst  so  viele  Dienste,  dass  in  dieser  Hinsicht 
seine  überragende  geschichtliche  Bedeutung  nicht  bezweifelt  werden 
kann!  Indem  Paracelsus  die  Chemie  auf  eine  höhere  Stufe  brachte 
und  damit  der  Heilkunst  einen  neuen  Hilfszweig  nutzbar  machte,  den 
Werth  der  Diätetik  erfasste,  den  Gebrauch  einer  grossen  Zahl  von 
mineralischen  Stoffen  (Eisen,  Blei,  Kupfer,  Spiessglanz,  Queck- 
silber) und  andererseits  deren  nachteilige  Wirkungen  kennen  lehrte, 
die  wissenschaftliche  Untersuchung  der  Mineralwässer  (Be- 
stimmung des  Eisengehalts  durch  Galläpfeltinktur)  anbahnte,  indem 
er  die  Pharmazie  mit  seinen  Anhängern  Oswald  Groll  und  Yalerius 
Cord  US  durch  Darstellung  der  Tinkturen  und  Spirituosen  Ex- 
trakte wesentlich  verbesserte,  der  polypragmatischen  Rezeptbeschrei- 


EinleitTing.  S7 

bung  nach  arabischem  Muster  entg-egenarbeitete,  hat  er  sich  wahrhaft 
grundlegende  Verdienste  für  alle  Zeiten  erworben. 

Ebenso  rühmenswert  ist  es  auch,  dass  Paracelsus,  erfüllt  von 
hehrer  Menschenliebe,  die  höchste  Auffassung  vom  ärztlichen  Berufe 
mit  flammenden  Worten  vertrat,  den  Scholastizismus  in  der  Medizin 
schärfer  als  jeder  andere  bekämpfte,  die  Erfahrung  besonders  in 
der  Therapie  zum  einzigen  Prüfstein  erhob  und  im  Streben  nach  all- 
seitiger, umfassender  Thätigkeit  dieVereinigungder  Chirurgie, 
die  er  durch  Vereinfachung  der  Wundbehandlung  rationeller  gestaltete, 
mit  der  Medizin  ebenso  weitblickend,  wie  energisch  befürwortete. 

Das  geschichtsphilosophische  Problem  gipfelt  nur  in  der  Frage, 
ob  Theophrast  von  Hohenheim  als  Reformator  im  Werdegang  der 
Medizin  dieselbe  Rolle  spielt,  wie  Ambroise  Pare  in  der  Entwicklung 
der  Chirurgie,  wie  Vesal  in  der  Geschichte  der  Anatomie  ?  In  dieser 
Beziehung  ist  von  etwaigen  genialen  Antizipationen,  welche  nur  für 
die  individuelle  geistige  Höhe  Zeugnis  liefern,  abzusehen*)  und  aus- 
schliesslich darauf  das  Augenmerk  zu  lenken,  ob  Paracelsus  durch 
direkte  Einwirkung  auf  Zeitgenossen  und  nächste  Epigonen  eine 
Reformation  der  Medizin  in  dem  Sinne  anbahnte,  welchen  wir  als 
Tendenz  der  neuzeitlichen  Entwicklung  betrachten,  mit  anderen 
Worten,  ob  er  durch  Lehre  und  Schriften  Bausteine  zur  Begründung 
einer  wissenschaftlichen  Heilkunst  geliefert  hat.  Unserer  Anschauung 
nach  wirkte  Hohenheim  reformatorisch,  jedoch  nicht  toto  coelo,  sondern 
nur  durch  einzelne  Seiten  seiner  reichen  Schaifensthätigkeit,  ein  grosser 
Teil  seiner  Ideen  kam  erst  im  Verlaufe  des  19.  Jahrhunderts  unter 
anderer  Flagge  zur  Geltung,  nachdem  die  Entwicklung  der  Wissen- 
schaft ihre  Realisierung  mit  ungeahnten  Hilfsmitteln  ermöglicht  hatte. 
Nirgends  spiegelt  sich  diese  Thatsache  unzweideutiger  als  in  der  Be- 
urteilung, die  Paracelsus  im  Laufe  der  Zeit  zuteil  wurde ;  der  Tiefsinn, 
welcher  seine  an  Geistesperlen  so  überreichen  Schriften  durchzieht, 
wurde  erst  im  Lichte  der  modernen  Wissenschaft  in  seiner  Gänze 
oifenbar ! 

Paracelsus'  Lehre  ist  aus  zwei  Hauptelementen  zusammengesetzt, 
aus  einem  empirischen  und  einem  spekulativen  (naturphilosophischen), 
sie  geht  von  zwei  Betrachtungsweisen  aus,  die  zur  höheren  Einheit 
verschmolzen  werden,  der  chemischen  und  der  spiritualistischen.  Beide 
kommen  in  seiner  Grundanschauung  vom  Leben,  in  der  Auffassung 
der  Krankheit,  in  der  Therapie  zur  Geltung.  Beide  sind  die  Frucht 
der  Alchemie,  welche  durch  ihre  analytischen  Methoden  der  Extraktion, 
Destillation,  Sublimation,  Präzipitation  etc.  notwendig  zu  dem  C-fe- 
danken  leiten  musste,  dass  in  der  rohen  Substanz  etwas  Feineres  ver- 
borgen sein  müsse,  das  den  Träger  der  Kraft  und  somit  den  letzten 
Grund  der  Wirksamkeit  auch  der  rohen  Substanz  bilde.  Dynamismus 
und  Chemismus,  beide  wurzeln  in  letzter  Linie  in  der  Alchemie,  die 
darum  so  freudig  den  Bund  mit  dem  Panpsychismus  der  Neupiaton ik 
eingehen  konnte. 

Solche  Anschauungen  waren  schon  seit  dem  Wiedererwachen  der 
Wissenschaften  von  Einzelnen  vertreten,  Paracelsus  aber  entwickelte 


*)  Um  ein  schlagendes  Beispiel  anzuführen,  zeigt  ein  genaueres  Studium  der 
Werke  Swedenborgs,  dass  dieser  geniale  Forscher  viele  Thatsachen  der  Gehirn- 
physiologie und  Gehirnanatoraie  vorausahnte,  die  im  19.  Jahrhundert  bestätigt 
wurden;  niemand  wird  ihn  aber  deshalb  einen  „Reformator"  dieser  Fachwissen- 
schaften nennen. 


38  .   Max  Nenbnrger. 

sie  zum  Höhepunkt  und  entnahm  ihrem  Ideenkreise  die  Waffen  zum 
Kampf  gegen  den  Pergaraener,  den  er  kräftiger,  zielbewusster  und 
wirkungsvoller  als  jeder  seiner  Vorgänger  bekämpfen  musste,  weil 
seine  Grundanschauungen  einen  unüberbrückbaren  Gegensatz  bildeten. 

Als  sinnigem  Naturbeobachter  ei-schien  ihm  jedes  Naturwesen  aus 
einem  bestimmten  Keim  durch  Entwicklung  hervorgegangen,  im  Werden 
und  Wachsen,  wie  in  jeder  Zustandsveränderung  erblickte  er  das 
Walten  einer  treibenden  inneren  Kraft,  den  Inbegriff  des  Lebens,  als 
Chemiker  blieb  es  ihm  nicht  verborgen,  dass  die  angeblichen  Elemente 
der  Alten  nicht  das  letzte,  feinste  Substrat  dieser  Kraft  darstellen 
können.  Die  antike  Anschauung  dagegen  erklärte  die  Entstehung  der 
Naturwesen  durch  zuiällige  Vermischung  der  Elemente,  die  individuelle 
Verschiedenheit  der  Naturkörper  sollte  nur  auf  den  „Qualitäten"  be- 
ruhen, der  Begriff  des  immanenten  Lebens  war  ihr  gänzlich  fremd. 

Dieser  Gegensatz  der  Anschauungen  reizte  Paracelsus  zur  Oppo- 
sition, umsomehr  als  die  vielen  Misserfolge,  welche  die  Schulmedizin  in 
der  Praxis  erzielte,  schon  vorher  in  seinem  Geiste  den  Zweifel  wach- 
gerufen hatten,  ob  die  zugrundeliegende  Theorie  d.  h.  die  Qualitäten- 
lehre richtig  sei.  Das  Ergebnis  seines  Nachdenkens  war  die  Ver- 
werfung derselben.  Daher  seine  leidenschaftliche  Heftigkeit  gegen 
Aristoteles  und  Galen,  gegen  Avicenna  und  Rhazes,  daher  seine 
dringende  Forderung,  den  Autoritätsglauben  abzuwerfen  und  statt 
dessen  die  Natur  selbst  in  ihren  Aeusserungen  in  den  geheimnisvollen 
Wechselwirkungen  zu  studieren,  daher  seine  Mahnung,  sich  nicht  an 
der  äusseren  Erscheinung  der  Dinge  genügen  zu  lassen,  sondern  nach 
dem  innersten  Wesen  der  Dinge,  nach  ihrem  Leben  die  Forschung  zu 
richten.  Während  Vorgänger  und  Zeitgenossen  nur  einzelne  Schäden 
und  Auswüchse  des  Aristotelismus  und  Galenismus  bekämpften,  sucht 
er  viel  weitergehend  die  Wurzel  dieser  Systeme  auszurotten,  weil  sie 
sich  nach  seiner  Meinung  unfähig  erweisen,  das  Leben  in  seinem 
inneren  Wesen,  in  seinen  Beziehungen  zur  Welt,  in  seinen  krankhaften 
Veränderungen  kennen  zu  lernen. 

Paracelsus  ist  der  Erste,  welcher  das  Leben  an  sich  zum  Gegen- 
stand seines  Nachsinnens  macht,  der  Erste,  der  im  Entstehen,  Werden 
und  Wachsen,  im  Stoffwechsel,  das  Charakteristikum  des  Organismus 
erfasst,  der  Erste,  der  in  der  Erkenntnis,  dass  der  Mensch  alle  ein- 
zelnen Formen  des  äusseren  Naturlebens  harmonisch  in  sich  vereinigt, 
das  Postulat  erhebt,  die  Medizin  sei  auf  umfassender  Naturkenntnis 
aufzubauen.  Sein  Bruch  mit  der  Vergangenheit  ist  ein  vollkommener, 
das  Ziel,  welches  der  Medizin  auf  den  neuesten  Stufen  der  Entwick- 
lung voranleuchtet,  die  physiologische,  die  biologische  Be- 
gründung der  Heilkunst,  ist  auch  das  seinige.  Aber  die  Wege,  welche 
die  fortschreitende  Entwicklung  als  die  richtigen  erkannt  hat,  sind 
ihm  fremd!  Im  Fluge  der  neuplatonischen  Spekulation  mit  ihrer 
Korrespondenzlehre,  auf  den  Fittichen  blendender  Analogieschlüsse, 
deren  Prämissen  nur  auf  einseitiger  Erfahrung  ruhen,  glaubt  er  im 
Spiegelbild  des  Makrokosmus  wie  in  einem  Gleichnis  den  menschlichen 
Organismus,  den  „Mikrokosmus"  zu  erschauen  (Vergleich  der  Krank- 
heiten mit  kosmischen  Erscheinungen,  z.  B.  Schlagfluss  mit  dem  Blitz, 
AVassersucht  mit  Ueberschwemmungen,  Atrophie  mit  der  Austrock- 
nung etc.)  und  bezeichnenderweise  übersieht  er,  dass  die  Anatomie 
den  ersten  Schritt  zur  Erkenntnis  des  Lebens  darstellt,  ohne  den 
die  anderen  nicht  erfolgen  können. 


Einleitung.  39 

In  den  Händen  eines  Genies,  wie  Paracelsus  konnte  auch  die 
ni3'stische  Auffassung  exakter  Beobachtungen  in  Form  der  „Philosophie", 
der  ,. Astronomie'',  der  „Alchimie",  welche  er  zu  Grundpfeilern  der 
Naturbetrachtung  und  ärztlichen  Wissenschaft  erhebt,  zu  geistvollen 
Antizipationen  führen,  ihm  war  es  gegönnt,  die  Wichtigkeit  des  Lebens- 
begriffes zu  erkennen,  die  funktionelle  Harmonie  der  Organe  zu  erfassen, 
die  Tita  propria  der  Teile  (bei  der  Assimilation  und  Wärmebildiing) 
klar  zu  formulieren  und  in  so  vielen  anderen  Fragen  durch  Gedanken- 
flug das  zu  erreichen,  was  der  Wissenschaft  erst  im  Schweisse  der 
Arbeit  möglich  wurde;  zu  Bausteinen  konnten  die  gigantischen  Ge- 
dankenblöcke seiner  Physiologie  aber  erst  nach  Jahrhunderten  gehauen 
werden,  in  die  Grundmauern  seiner  Zeit  fügten  sie  sich  nicht  ein,  sie 
blieben  vorerst  als  erratisches  Gestein  fern  vom  Strome  der  Entwick- 
lung unverwendet  liegen.  Keiner  seiner  Schüler  vermochte  ihm  zu 
folgen.  Es  erforderte  die  technische  Kleinarbeit  vieler  Generationen, 
um  den  Weg  zur  Höhe  zu  bahnen,  auf  welche  er  sich  durch  besondere 
Eigenart  des  Geistes  und  im  Fluge  emporgeschwungen. 

Immerhin  bleibt  es  sein  Verdienst,  dass  die  Idee  des  Lebens  von 
der  Medizin  im  weiteren  Verlauf  festgehalten  wurde.  Paracelsus  be- 
trachtet das  Leben  als  eine  über  der  Materie  stehende  Kraft,  durch 
deren  Einfluss  alle  Xaturwesen  aus  dem  Keime  entstehen.  i)a  aber 
die  Wirksamkeit  dieser  Kraft,  des  ,.Archeus"  an  gewisse  Substanzen 
gebunden  ist,  die  als  Grundelemente  jeden  Körper  zusammensetzen, 
aus  denen  sich  die  Organe  aufbauen,  aus  deren  Abnutzung  und  Er- 
neuerung der  Lebensprozess  besteht,  so  eröffnete  er  der  chemischen 
Forschung  in  der  Medizin  eine  Pforte.  Bezeichnete  er  auch  Salz, 
Schwefel  und  Merkur  als  diese  drei  Grundelemente,  so  verstand  er 
darunter  doch  nur  Symbole.  Was  im  Holze  brennt,  das  durch  Feuer 
Zerstörbare  ist  Schwefel;  was  raucht,  was  durch  Feuer  unverändert 
sich  verflüchtigt,  ist  Merkur;  was  durch  Feuer  nicht  zerstört,  in  der 
Asche  bleibt,  ist  Salz.  Alle  organischen  Prozesse  beruhen  auf  chemischen 
Vorgängen,  der  Archeus,  der  Alchemist  des  Leibes  scheidet  aus  den 
Xahrungsstoffen  das  Brauchbare  vom  Unbrauchbaren,  die  Essenz  vom 
Gifte,  bewirkt  in  jedem  Teile  des  Körpers  durch  Anziehung  des 
Brauchbaren.  Abstossen  des  Unbrauchbaren,  Zeugung,  Wachstum, 
organische  Veränderung.  Aufgabe  der  Erfahrung  sei  es,  alle  diese 
Vorgänge  zu  enträtseln. 

Hier  konnte  die  wissenschaftliche  Forschung  seines  Zeitalters,  wenn 
auch  unvollkommen,  einsetzen,  da  Paracelsus  selbst  den  Weg  der  Er- 
fahrung erschloss.  Verkannte  er  die  Anatomie,  so  verwies  er  dafür 
die  Medizin  auf  eine  andere  Hilfswissenschaft:  die  Chemie. 

Wie  in  der  Physiologie,  so  wurde  auch  in  der  Pathologie  nur  ein 
Niederschlag  chemischer  Ideen  zum  Aufbau  der  Wissenschaft  unmittel- 
bar verwendet.  Der  dynamistische  Grundgedanke  des  Paracelsus,  dass 
Krankheit  im  Wesen  eine  Abänderung  der  organischen  Idee,  des 
Archeus,  modern  ausgedrückt,  ein  Leben  unter  veränderten  physio- 
logischen Bedingungen,  darstelle,  welches  erst  sekundär  zur  Veränderung 
der  Kardinalsäfte  führt,  die  Vorstellung,  dass  Krankheit  einen  para- 
sitischen Lebensprozess  mit  selbständigem  Entwickluiigsverlauf  be- 
deutet, weshalb  die  Erblichkeit  zu  berücksichtigen  sei,  konnte  erst 
in  einer  Zeit  zur  Geltung  kommen,  in  der  entsprechende  exakte  Vor- 
bedingungen die  Geister  empfäuglicli  gemacht  hatten.  Den  Zeitgenossen 
und  Nachfolgern   des  Paracelsus  war  bloss   der  chemische  Unterbau 


40  MaxNeuburg-er. 

dieser  Lehre  zugänglich,  der  bei  Paracelsus  gerne  verhüllt  wird,  aber 
in  der  Einteilung  der  Krankheiten  nach  den  zugrundeliegenden 
chemischen  Grundstoffen  (Schwefel,  Quecksilber,  Salz)  und  namentlich 
in  der  Darstellung  der  sogenannten  tartarischen  Krankheiten  zum 
Vorschein  kommt.  Unter  diesem  versteht  er  solche  Affektionen,  wo 
(z.  B.  bei  der  Gicht  und  Stein krankheit)  infolge  fehlerhafter  Thätig- 
keit  des  Archeus  die  vital-chemischen  Prozesse  abnorm  verlaufen,  so 
dass  die  sonst  nach  aussen  entleerten  Stoffe  nicht  entfernt,  sondern 
als  Niederschläge  an  verschiedenen  Stellen  angehäuft  werden.  Er- 
blickt Paracelsus  in  den  veränderten  Säften,  getreu  seinen  Grund- 
vorstellungen, auch  hier  nur  das  Sekundäre,  so  fügte  sich  die  chemische 
Aetiologie  doch  so  sehr  in  den  Rahmen  der  von  ihm  so  bekämpften 
Humoralpathologie,  dass  der  Fortbestand  derselben,  wenn  auch  in  ver- 
wandelter Gestalt,  gerade  durch  die  Konsequenzen  seiner  Lehre  ge- 
sichert wurde.  Thatsächlich  blieb  der  Galenismus,  im  Wesen  unver- 
ändert, nur  formell  durch  das  Eindringen  des  Chemismus  umgestaltet 
noch  200  Jahre  die  dominierende  Lehre  in  der  Pathologie,  so  dass  von 
einer  erfolgreichen  Reformthätigkeit  des  Paracelsus  auf  diesem  Ge- 
biete kaum  gesprochen  werden  kann. 

Besonders  leuchtend  tritt  das  Genie  Hohenheims  in  der  Lehre 
von  der  Genese  der  Krankheiten  (Aetiologie)  hervor.  Vor  allem  ist 
zu  erwähnen,  dass  er  die  astrologischen  Spekulationen  zu  beschränken 
suchte  und  dem  Dämonen-  und  Hexenglauben  in  der  Pathologie  ent- 
gegentrat. Prophetisch  meint  er,  ehe  die  Welt  untergeht,  müssen 
noch  viele  Künste,  die  man  sonst  der  Wirkung  des  Teufels  zuschrieb, 
offenbar  werden  und  man  würde  alsdann  einsehen,  dass  die  meisten 
dieser  Wirkungen  von  natürlichen  Kräften  abhängen.  Die  Blätter 
der  Kulturgeschichte  bezeugen  leider,  wie  langsam  solche  Ideen  durch- 
zudringen vermögen!  Es  ist  bezeichnend,  dass  der  wütendste  Gegner 
des  Paracelsus,  Thomas  Liebler  (Erastus)  auch  als  fanatischer  Ver- 
teidiger der  Hexenprozesse  traurige  Berühmtheit  erlangt  hat. 

Paracelsus  erkannte  bereits,  dass  die  Symptome  eines  Krankheits- 
prozesses sich  mit  dem  Wesen  desselben  nicht  decken,  dass  sehr 
häufig  anscheinend  gleiche  Krankheitsbilder  einen  ganz  verschiedenen 
Ursprung,  ein  verschiedenes  Wesen  haben  und  dementsprechend  auch 
behandelt  werden  müssen.  Er  unterscheidet  fünf  Hauptarten  von 
Krankheitseinflüssen  (Entia):  1.  das  „Ens  astrorum"  (die  kosmischen 
Agentien),  2.  das  Ens  veneni  (die  Krankheitsgifte,  welche  entweder 
aus  schädlichen  Residuen  des  Verdauungsprozesses  (Autointoxikation) 
oder  aus  kontagiösen  Stoffen  bestehen,  ausserdem  Gifte  im  engeren 
Sinne),  3.  Ens  naturale  (Anlage  zur  Krankheit  durch  UnvoUkommen- 
heiten  der  Organisation),  4.  Ens  spirituale  (Schädlichkeiten  aus  der 
geistigen  Sphäre,  z.  B.  verkehrte  Vorstellungen),  5.  Ens  deale  (gött- 
liche Fügung).  Es  ist  wohl  zweifellos,  dass  Hohenheim  besonders 
durch  seine  chemische  Beschäftigung  zu  einer  so  scharfsinnigen 
genetischen  Analyse  der  Krankheiten  gelangte,  deren  Wert  erkannte 
aber  das  galenistische  Zeitalter  nicht  im  mindesten.  Ebensowenig  wurde 
der  Gedanke  gewürdigt,  zu  dem  das  Wanderleben  und  Beobachtungs- 
talent des  Paracelsus  Anlass  gab,  dass  nämlich  die  Krankheiten 
geographische  Verschiedenheiten  darbieten  —  auch  hier  war  er  seiner 
Zeit  allzuweit  vorangeeilt. 

Der  Schwerpunkt  der  Reformthätigkeit  des  Paracelsus  liegt  in  der 
Therapie,  deren  Erfolg  bei  ihm  sogar  zum  diagnostischen  Hilfsmittel 


Einleitnng.  41 

benutzt  wurde,  indem  er  die  Krankheiten  nach  dem  Heilmittel  be- 
nannte. 

Aber  geradeso.  ■v\ie  in  der  Physiologie  und  Pathologie  ging  auch 
hier  nicht  die  ganze  Saat,  welche  der  Meister  streute,  auf.  Die  im 
hippokratischen  Geiste  klar  formulierte  Ueberzeuguug  von  dem  Walten 
der  Xaturheilkräfte,  die  er  besonders  in  den  chirurgischen  Krank- 
heiten betonte,  drang  nicht  in  weite  Kreise,  gebot  der  üblichen  Poly- 
pragmasie kaum  Einhalt.  Der  zweite  fundamentale  Gedanke,  die 
Therapie  nicht  gegen  die  Symptome,  sondern  gegen  die  Krankheits- 
ursache (kausale  Therapie)  zu  richten,  durch  „Arcana"'  (gleich- 
gültig ob  contraria  oder  similia)  gegen  das  Wesen  der  Krankheiten 
anzukämpfen,  konnte  bei  dem  mangelhaften  Einblick  in  die  Aetiologie, 
in  den  Krankheitsprozess.  in  die  Pharmakodynamik,  bei  dem  Mangel 
wirklicher  Speziflka  (mit  Ausnahme  des  Quecksilber)  überhaupt  noch 
nicht  erfüllt  werden. 

Immerhin  wurde  der  Gedanke  wenigstens  theoretisch  festgehalten, 
bei  Paracelsus  war  er  die  logische  Folge  seines  Grundsatzes,  dass  das 
Wesen  der  Krankheiten  nicht  in  den  Säfteabnormitäten  bestehe,  sondern 
in  einer  Alteration  des  Archeus.  Die  Heilmittel  sollten  daher  ent- 
weder die  schlummernde  Naturheilkraft  (Archeus)  anregen  oder  den 
,.Samen"  der  Krankheit  austilgen,  ein  Ideal,  das  vielleicht  erst  die 
Gegenwart  durch  die  antitoxische  Therapie  teilweise  eiTeichthat.  Welche 
Methoden  gab  aber  Paracelsus  an.  um  solche  spezifische  Mittel 
zu  finden?  Einerseits  die  Empirie  (welche  aber  neben  dem  Zufalls- 
geschenk des  Quecksilbei^  tausend  Nieten  bescherte)  und  andererseits 
die  Spekulation  in  Form  der  Signaturenlehre. 

Infolge  der  kosmischen  Wechselbeziehung  aller  Xaturkörper  sollten 
nämlich  schon  gewisse  äussere  Eigenschaften,  wie  Gestalt,  Farbe  etc.  die 
jeweilige  spezifische  Wirkung  erraten  lassen,  beispielsweise  deute  der  gelbe 
Saft  des  Chelidonium  auf  seine  Wii-kung  gegen  Icterus,  die  Gestalt  der 
Orchisknollen  auf  spezifische  Beziehung  zu  den  Hodenkrankheiten,  die 
Stacheln  der  Disteln  seien  das  beste  Mittel  gegen  Stechen,  die  durchbohrten 
Blätter  des  Johanniskrauts  dienen  zur  Heilung  von  Stichwunden  u.  s.  w. 
Welches  sonderbare  Konglomerat  von  abenteuerlichen  Mitteln  als  „Spezifika" 
in  den  Pharmakopoen  figurierte,   bedarf  keiner  weiteren  Andeutung ! 

Das  Doppelgepräge  von  Spekulation  und  Empiiie,  von  Chemismus 
und  Spiritualismus,  welches  den  Paracelsismus  charakterisiert,  kenn- 
zeichnet auch  seine  Pharmakodynamik.  Für  den  Aufbau  der  Wissen- 
schaft war  die  chemische  Seite  von  grösstem  Wert,  insofern  man  dahin 
kam.  die  wesentlichen  Bestandteile  in  Tinkturen,  Essenzen  zu  extra- 
hieren —  ein  hochbedeutsamer  Fortschritt  gegen  früher  — ,  der 
spiritualistische  Grundgedanke  des  Systems  aber,  dass  die  Heilstoffe 
nicht  substantiell,  sondern  vermöge  einer  immanenten  spiritualistisch 
aufzufassenden  Kraft  (Quintessenz,  Arcanum)  auf  den  ebenfalls  geistigen 
Archeus  einwirken,  wurde  zum  Ausgangspunkt  aller  späteren  mystischen 
Schwärmereien. 

Ueberblickt  man  .die  gewaltige  Geistesarbeit  des  grossen  Para- 
celsus. so  ergiebt  sich,  dass  er  seine  ärztlichen  Zeitgenossen  an  Ideen 
um  Jahrhunderte  überragt,  dass  seine  Grundgedanken,  der  spirituellen, 
symbolistischen  Hülle  entkleidet,  von  der  modernen  Wissenschaft  zum 
grossen  Teile  bestätigt  wurden,  erst  in  ihrem  Lichte  den  vollen  Wert 
gewinnen.    Andererseits  aber  darf,  ohne  seiner  individuellen  Leistung 


42  Max  Neuburger. 

Abbruch  thun  zu  wollen,  füglich  behauptet  werden,  dass  er  wohl  das 
kräftigste  Ferment  im  Kampfe  beibrachte,  aber  nur  durch  Heran- 
ziehung der  Chemie  zur  Theorie  und  Praxis  für  den  systematischen 
Aufbau  der  medizinischen  Wissenschaft  fruchtbringend  wirkte,  während 
gerade  die  Kernideen  seiner  Lehre,  auf  die  er  selbst  am  meisten 
Gewicht  legte,  so  lange  latent  bleiben  mussten,  bis  die  Wissenschaft 
unabhängig  von  seinen  Einflüssen,  auf  ganz  anderen  Wegen,  als  er  vor- 
zeichnete, zu  ähnlichen  Resultaten  gelangt  war.  Diese  von  Paracelsus 
verkannten,  ja  sogar  verachteten  Wege  dankt  sie  nicht  ihm,  sondern 
Vesal  und  allen  denen,  die  diesem  Reformator  in  unermüdlicher, 
schrittweise  vordringender  Forscherarbeit  nachstrebten.  Natura  non 
facit  saltum!  Darum  kann  von  einer  direkten  Fortsetzung  der 
Leistungen  des  Paracelsus  nur  auf  beschränktem  Gebiet  die  Rede  sein, 
Ausnahmen  bilden  unter  seiner  zahlreichen  Anhängerschaft  schon  solche 
Männer,  welche  den  Kern  seiner  Lehre  rein  erfassten,  wie  z.  B.  Caspar 
Peucer  (1525 — 1602)  und  namentlich  der  Däne  Peter  Severin  (1540 — 
1602),  der  den  Gedanken  des  Ens  veneni  im  Sinne  der  Pathologia 
animata  ausbaute;  gerade  der  Wittenberger  Aerztekreis,  wo  Theo- 
phrast  die  treuesten  Anhänger  fand,  vermengte  seine  Lehre  frühzeitig 
mit  mystischen  Elementen.  Abgesehen  von  groben  Betrügern,  wie 
Leonhard  Thurneysser  zum  Thurn  (1530 — 1595),  Georg  von  und  zum 
Wald,  oder  schwärmerischen  Selbstbetrügern,  wie  Leonardo  Fioravanti, 
suchten  die  meisten  das  Wesen  des  Paracelsismus  in  den  neuen 
chemischen  Mittel  („spagirische  Medizin"),  und  manche  versuchten  die 
galenische  Theorie  damit  in  Einklang  zu  setzen.  Zu  den  getreuesten 
Anhängern  zählten  Adam  von  Bodenstein,  Bartholomaeus  Carrichter, 
Theodor  und  Jacob  Zwinger,  Conrad  Gesner,  Oswald  Croll  (1560 — 1609) 
und  Martin  Ruland,  welch  beide  letzteren  sich  um  die  Begründung 
der  Pharmazie  hohe  Verdienste  erwarben.  Die  heftigsten  Gegner 
waren  Thomas  Erastus  (1527 — 1583),  Bernhard  Dessenius,  Herman 
Conring,  Hendrik  Smet  (1537  - 1614).  Manche  Gegner  des  Systems 
anerkannten  aber  den  Wert  der  chemischen  Arzneien,  wie  Winther  von 
Andernach,  Michael  Döring,  der  grosse  Chemiker  Andreas  Libavius 
(1540 — 1616).  In  Frankreich,  wo  Jacques  Gohory,  Roch  de  la  Riviere, 
Claude  Dariot,  Claude  Aubery,  Israel  Harvet,  Joseph  du  Chesne 
(Quercetanus)  u.  a.  die  Lehre  von  den  Arcanen  verbreitet  hatten, 
rafften  sich  die  Galenisten  zur  heftigsten  Opposition  auf,  unter  der 
Führerschaft  Jean  Riolans  (d.  Aelteren),  welcher  sogar  ein  Verbot  der 
Benutzung  chemischer  Mittel  vorübergehend  durchsetzte.  In  Paris, 
der  Hochburg  des  Galenismus  erkannte  man  ganz  richtig,  welche  Ge- 
fahr der  „alten  Medizin"  durch  die  „spagirische"  Medizin  erwuchs  und 
führte  den  sogenannten  Antimon-Streit,  der  weit  ins  17.  Jahrhundert 
hineinreichte,  mit  den  vergifteten  Waffen  eines  greisenhaften  Eigen- 
sinns. Man  scheute  sich  sogar  nicht,  Anhänger  des  Paracelsismus, 
wie  z.  B.  Turquet  de  Mayerne  aus  der  Fakultät  auszustossen  und  zu 
ächten.  Das  Ende  war  vorauszusehen.  Dieselbe  Fakultät,  die  den 
Liebling  Richelieus,  den  Arzt  Theophraste  Renaudot  aus  Montpellier, 
wegen  seiner  Propaganda  für  die  chemischen  Arzneien  in  unwürdigster 
Weise  bekämpfte,  musste  1666  den  freien  Gebrauch  der  Antimon- 
Präparate  dekretieren ! 

Der  beste  Beweis,  dass  der  Hochgedanke  des  Paracelsus,  nämlich 
die  Vorstellung  des  Lebens  als  einer  von  innen  herauswirkenden, 
schaffenden  und  sich  stetig  entwickelnden  Kraft,  weder  zu  seiner  Zeit 


Einleitung.  43 

noch  hundert  Jahre  später  festen  Fuss  zu  fassen  vermochte,  liegt  in 
der  Thatsache,  dass  gerade  sein  geistvollster  Interpret,  der  Niederländer 
Joh.  Baptista  van  Helm ont  (1578— 1644),  der  die  Wurzel  des  Lebens 
ergründen  wollte,  mit  demselben  glühenden  Eifer  in  der  Theorie  gegen 
den  Materialismus,  in  der  Praxis  gegen  die  ausleerende  Methode  der 
Galenisten  zu  Felde  ziehen  musste  und  trotz  grösserer  Gelehrsamkeit, 
trotz  gründlicher  Berücksichtigung  der  inzwischen  fortgeschrittenen 
Hilfswissenschaften  (besonders  der  Chemie  und  pathologischen  Ana- 
tomie) keine  Anhängerschaft  gewann,  keinen  Einfluss  auf  die  Ent- 
wicklung der  Medizin  auszuüben  vermochte. 

Helmont,  der  die  Chemie  mit  einer  Fülle  von  Thatsachen  bereicherte 
(Entdeckung  der  Kohlensäure,  Einführung  des  Begriffs  „Gase"),  bekämpfte 
entschieden  die  Annahme,  dass  Mischungsanomalien  das  "Wesen  der  Krank- 
heiten ausmachen,  er  tadelte  es  als  eine  Inkonsequenz,  dass  Paracelsus  durch 
Aufstellung  der  ..tartarischen'-  Krankheiten  dem  Galenismus  ein  Zugeständnis 
gemacht  hatte  und  führte  die  gesamte  Physiologie,  wie  auch  die  Pathologie  auf 
das  Lebensprinzip,  den  Archeus  zurück.  Alles  in  der  Natur  entsteht  aus 
zahllosen  Fermenten,  Samen,  d.  h.  bloss  dynamischen  Wesen,  die  sich  aus 
einei-  allgemeinen  Urflüssigkeit  ihren  Leib  selbst  bilden.  Nicht  aus  einem 
feindlichen  Kampfe  der  Elemente,  sondern  aus  dem  harmonischen  Zusammen- 
wirken der  von  Gott  geschaffenen  Fermente,  geht  das  Leben  hervor.  Auch 
im  menschlichen  Organismus  hat  jeder  einzelne  Teil  sein  dynamisches 
Prinzip,  den  „Archeus  insitus",  allein  diese  ..archei  insiti"  sind  einem 
höheren  Prinzip  „Archeus  influus"'  (mit  dem  Sitz  im  Duumvirate  des  Magens 
und  der  Milz)  untergeordnet,  welches  gegenüber  der  Seele  das  Ernährungs- 
leben repräsentiert.  Die  Krankheitsprozesse,  welche  sich  nach  Helmont  vom 
physiologischen  Leben  nicht  im  Wesen,  sondern  durch  die 
Bedingungen  unterscheiden,  beruhen  auf  einer  Idea  morbosa, 
welche  die  Krankheitsursache  dem  obersten  Archeus  (z.  B.  beim  Fieber,  bei 
allgemeinen  Krankheiten)  oder  dem  „Archeus  insitus"  eines  einzelnen  Teiles 
(örtliche  Krankheiten)  einpflanzt,  wodurch  in  grösserem  oder  geringerem 
umfange  die  funktionelle  Harmonie  der  vitalen  Bewegungen  gestört,  be- 
ziehungsweise aufgehoben  wird.  (Man  könnte  in  diesen  Gedanken  Vor- 
ahnungen der  modernen  Krankheitsauffassung  erblicken !) 

Von  Interesse  ist  es,  dass  Helmont  die  Erblichkeit  mancher  Ki-ank- 
heiten  z.  B.  der  Gicht  (wenn  die  Idea  morbosa  angeboren  ist)  erkannte, 
gewisse  intermittierende  Affektionen  (z.  B.  Epilepsie,  Asthma)  auf  ein  in 
Intervallen  wirkendes  Gift  zurückführte,  und,  im  Gegensatz  zu  Jahrtausende 
altem  Schlendrian  die  Katarrhe  aus  lokalen  Absonderungen  erklärte.  Krank- 
heitsursachen und  materielle  Veränderungen,  welche  er  aufs  sorgsamste 
studierte  (Harnuntersuchungen,  Obduktionsbefunde),  unterschied  Helmont 
ebenso  wie  die  Symptome  streng  von  der  Krankheit  als  solcher,  obschon 
er  zugesteht,  dass  Krankheitsprodukte  (ßetenta  =  pathologische  Residua  des 
Stoffwechsels)  durch  Affektion  der  „Archei  insiti**  sekundär  zu  Gelegenhoits- 
ursachen  werden  können.  Am  schärfsten  tritt  dies  in  seiner  Auffassung  der 
Gicht  und  der  Lithiasis  hervor.  Abnorme  Säurebildung  im  Blutserum  mit 
konsekutiver  Ablagerung  in  den  Gelenken,  respektive  krankhafte  Thätigkeit 
der  Nieren  bilden  zwar  die  Haupterscheinungen  dieser  Affektionen,  ihre 
letzte  Ursache  liegt  aber  in  ererbter  oder  erworbener  krankhafter  Stimmung 
des  Archeus,  in  der  veränderten  organischen  Idee,   dem  „sigillum  podagrac". 

Wie  Paracelsus,  betont  auch  Helmont  die  teleologische  Bedeutung  der 
Naturheilkraft,  die  namentlich  im  Fieber  zur  Geltung  kommt,  wo  der  Archeus 


44  Max  Neuburger. 

eine  Reihe  von  Bewegungen  (Zittern,  Frost)  hervorruft,  um  sich  der  reizenden 
Einflüsse  (z.  B.  fremdartiger  Beimischungen  im  Latex  sanguinis  d.  h.  Blut- 
serum) zu  entledigen.  Demgemäss  legt  er  in  der  Therapie  das  grösste 
Gewicht  auf  diätetisches  Verhalten,  Erhaltung  der  Kräfte  (Einschränkung 
der  herkömmlichen  Aderlässe,  Purganzen,  Vesicantien,  Empfehlung  des 
Weins  bei  Fieberkranken  etc.).  Die  Wirkung  der  Arzneimittel  erklärte 
Helmont  rein  dynamisch  durch  ihre  Aktion  auf  die  „Idea  morbosa"  des 
Archeus,  wobei  die  Grösse  der  Arzneigabe  als  ganz  irrelevant  betrachtet 
wird  (Hahnemann).  Die  Erfahrung  gilt  ihm  als  l^Iittel  zur  Auffindung  der 
,,Arcana",  unter  denen  die  metallischen  (Arsenik,  Spiessglanz,  Quecksilber), 
die  Tinkturen  und  die  Mineralwässer  den  höchsten  Wert  haben. 

Das  Wachstum  der  geistigen  Energie  war  noch  nicht  weit  genug 
vorgeschritten,  dass  die  Wissenschaft  von  so  hoch  komplizierten  Ideen 
Nutzen  ziehen  konnte,  ausserdem  war  der  Begriff  des  Lebens,  wie  ihn 
Paracelsus  und  Helmont  aufstellten,  viel  zu  sehr  von  der  Materie  ge- 
trennt und  erklärte  keineswegs  den  Unterschied,  der  zwischen  Orga- 
nischem und  Anorganischem  besteht.  Die  Lehre  von  den  Krankheiten, 
die  Ansichten  über  die  Krankheitsheilung,  die  darauf  gebaut  waren, 
öffneten  schon  durch  die  symbolistische  Form  ihrer  Darstellung  dem 
Mystizismus  Thür  und  Thor,  ja  sie  gaben  den  unklaren  Köpfen  die 
schönste  Gelegenheit,  ihre  abergläubischen  Vorstellungen  mit  einem 
scheinbar  wissenschaftlichen  Mäntelchen  zu  behängen.  Namentlich 
in  Deutschland  bemäclitigte  sich  eine  in  den  Wirren  der  Zeit  auf- 
tauchende schwärmerische  Sekte,  die  „Rosenkreuzer"  der  para- 
celsischen  Lehre  und  vermengte  ihre  mystische  Theosophie  mit  der 
spagirischen  Medizin.  Diese  merkwürdige  Sekte,  welche  am  Ende  des 
16.  Jahrhunderts  aufkam  und  in  den  ersten  Dezennien  des  17.  Jahr- 
hunderts teils  in  der  schweren  Bedrängnis  des  dreissigjährigen  Krieges, 
teils  in  den  religiösen  Bewegungen  der  protestantischen  Kirche  den 
geeigneten  Wirkungskreis  vorfand,  hielt  sich  nur  an  die  alchemistisch- 
kabbalistisch-theosophischen  Elemente  des  Paracelsismus  und  widmete 
sich  neben  anderen  Zielen  vornehmlich  der  mystischen  Kranken- 
behandlung; dafür  sollten  ihre  Adepten  den  ,.Stein  der  W'eisen"  als 
Lohn  erhalten.  Ebenso  wie  ihre  Tendenz  den  Zielen  des  Reformators 
von  Einsiedeln  gerade  entgegengesetzt  war,  so  stützten  sie  ihre  Lehren 
auf  eine  Schrift,  deren  Autor  gerade  die  Bekämpfung  des  Mystizismus 
beabsichtigt  hatte.  Diese  Schrift  war  die  „Chymische  Hochzeit 
Christians  Rosenkreuz",  welche  ein  wackerer  Geistlicher  zu  Calw  in 
Württemberg,  Valentin  Andreas,  in  der  Absicht,  die  Thorheiten  der 
Alchemisten  und  Theosophen  zu  verspotten,  veröffentlicht  hatte.  Das 
mystische  Gewand,  in  w^elches  das  satirische  Werk  gekleidet  war, 
verlockte  die  Schwarmgeister,  den  Inhalt  als  einen  thatsächlichen 
aufzufassen,  und  so  trat  gerade  der  entgegengesetzte  Erfolg  ein. 
Neben  vielen  Laien  zählte  der  Orden  auch  Aerzte,  wie  Oswald  Croll. 
Julius  Sperber,  Henning  Scheunemann,  Heinrich  Kunrath,  Joh.  Gramann 
u.  a.  zu  seinen  Anhängern.  Verwandten  Bestrebungen  huldigte  auch 
das  mystische  „CoUegium  Rosianum"  in  Frankreich  und  sogar  nach 
England  wurde  die  mystische  Bewegung  besonders  durch  Robert  Fludd 
(de  Fluctibus),  Kenelm  Digby  und  Maxwell  verbreitet,  um  in  der 
Praxis  in  die  Albernheiten  medizinischer  Thaumaturgie  (Magnetische 
Medizin;  Sympathiepulver;  Handauflegen  etc.)  auszuarten.  In  Deutsch- 
land gebührt  dem  „Paracelsisten"  Rudolf  Goclenius  (1572 — 1621),  Pro- 


Einleitung.  45 

fessor  in  Marburg,  das  zweifelhafte  Verdienst,  die  Lehre  seines  Meisters 
durch  seine  „Waifensalbe"  und  andere  Talismane  in  den  Augen  der 
Verständigen  diskreditiert  zu  haben. 

Die  Wissenschaft  wurde  glücklicherweise  davor  bewahrt,  in  den 
Abgrund  des  Mystizismus  zu  stürzen,  denn  ein  Ereignis  von  grösster 
Tragweite,  das  aus  dem  Boden  des  nüchternen  Denkens  und  realen 
Forschens  hervorging,  die  Entdeckung  des  Blutkreislaufs  durch  William 
Harvey  (1578 — 1658),  überstrahlte  in  seiner  einfachen  Wahrheit  die 
erdichtete  Wunderwelt  phantastischer  Schwärmer,  und  bald  gab  es 
für  die  verspäteten  neuplatonischen  Träumer  höchstens  ein  Schatten- 
plätzchen, wo  sie  ihren  occultistischen  Neigungen  sich  hingeben  konnten. 

Nicht  das  Leben,  aber  eine  Seite  des  Lebens  wurde  der  Erkennt- 
nis zugeführt  und  im  Anschluss  hieran,  lernte  man  —  gerade  darin 
bestand  ein  methodologischer  Fortschritt  —  sich  in  der  Problemstellung 
zu  beschränken,  statt  in  tollmütigem  Gedankenflug  den  letzten  Dingen 
nachzujagen,  griff  man  zu  naheliegenden  Fragen,  für  welche  die  vor- 
handenen Forschungsmittel  auszureichen  schienen,  statt  das  Problem 
des  Lebens  mit  dem  Schwertschlag  einer  luftigen  Spekulation  zu  durch- 
hauen, begann  man  einzelne  Seiten  des  gesunden  und  kranken  Lebens 
einer  sorgsamen  Prüfung  zu  unterziehen. 

Die  Erfahrung  gewann  als  Forschungsmittel  immer  mehr 
Freunde.  Mit  ihrem  Bleigewicht  wurde  die  leichtbeschwingte  Phan- 
tasie an  allzukühnem  Flug  gehemmt,  und  schwankten  auch  fürderhin 
die  Pendelschläge  vorschneller  Hypothesen  nur  allzusehr  um  die  feste 
Achse  des  nüchternen  Urteils,  mit  einem  Ende  haftete  die  Spekulation 
doch  stets  am  Pfeiler  der  Erfahrung.  Aber  nicht  nur  jene  Art  der 
Erfahrung,  deren  grobmaschigem  Netz  zumeist  das  feine  Wesen  der 
Dinge  entwischt,  nicht  bloss  die  denkende  Betrachtung  komplexer  Er- 
.scheinungen,  in  denen  allein  das  Seherauge  des  Genies  den  Kern  er- 
späht, wurde  für  die  Forschung  massgebend,  sondern  eine  eigene,  be- 
stimmte Form  der  Empirie,  welche  das  gleichsam  präparierte  Einzel- 
phänomen unter  festgestellten  Bedingungen  zum  Gegenstand  kritischer 
Beobachtung  macht :  das  Experiment.  Die  zählende,  die  messende, 
die  wägende  Methode  fand  Eingang  in  die  wissenschaftliche  Medizin 
des  17.  Jahrhunderts  und  erlangte  nach  den  ersten  vielverheissenden 
Erfolgen  solchen  Einfluss,  dass  man  geradezu  in  ihr  die  Signatur 
dieser  hochbedeutsamen  Entwicklungsphase  erblicken  darf.  Ihre  Vor- 
züge, wie  auch  ihre  Mängel  leiten  sich  aus  der  Experimental- 
methode,  beziehungsweise  aus  der  Ueberschätzung  derselben  deut- 
lich ab. 

Schon  im  Altertum  wurden  planmässig  Tierversuche  angestellt, 
die  mittelalterlichen  Alchemisten  waren  beständig  mit  Experimenten 
beschäftigt,  Vesal  und  seine  Eivalen  hatten  nicht  selten  Vivisektionen 
vorgenommen,  um  einzelne  physiologische  Fragen  zu  entscheiden;  von 
einer  ausgedehnten,  sj^stematischen  Anwendung  des  Experiments  kann 
aber  erst  im  17.  Jahrhundert  die  Eede  sein,  au  dessen  Schwelle  der 
Wert  der  Methode  durch  eine  Errungenschaft  von  fundamentalster 
Bedeutung  erwiesen  wurde.  Dies  geschah  durch  die  Entdeckung 
des  Blutkreislaufs. 

Bildete  auch,  wie  für  jeden  grossen  Entdecker  und  Erfinder  eine 
Hypothese  den  Ausgangspunkt,  so  stellte  William  Harvey  die  Beweis- 
kette für  seine  Annahme,   doch  einzig  allein  durch  eine  Reihe  plan- 


46  Max  Neubiirger. 

massig  erdachter  Versuche  her.  Durch  seine  unvergängliche  Leistung 
erfüllte  er  nicht  bloss  die  Physiologie  mit  einem  Wissensinhalt  der 
alles  üeberkommene  in  Schatten  stellte,  alle  weiteren  Fortschritte  er- 
möglichte, sondern  er  zeigte  auch  die  Richtung,  in  welcher  die  Ziele 
der  Forschung  am  sichersten  zu  erreichen  sind.  Harveys  Meisterwerk, 
die  Exercitatio  anatomica  de  motu  cordis  et  sanguinis  in  animalibus 
(Francof.  1628)  brach  einem  neuen  Begriff  der  Wissenschaft- 
lichkeit Bahn,  sie  führte  eine  neue  Denkmethodik  in  die 
Medizin  ein,  welche  ebensoweit  von  scholastischer  Dialektik  wie  von 
platonischer  Begriffsdichtung  entfernt  war,  sie  demonstrierte  den 
heuristischen  Wert  der  induktiv  erworbenen  Hypothese,  die  aus- 
schlaggebende Beweiskraft  des  Experiments,  auf  deren  glücklicher 
Vereinigung  alle  grossen  naturwissenschaftlichen  Errungenschaften 
basieren. 

Hatte  man  in  der  Renaissance  den  Weg  von  Galen  und  den 
Arabern,  vom  Autoritätsglauben  zur  Natur  gefunden,  war  im  16.  Jahr- 
hundert an  Stelle  abstrakter  Sophistik  eine  ideale  Naturanschauung 
getreten,  so  kennzeichnete  sich  die  Medizin  des  17.  Jahrhunderts 
durch  die  kritisch  experimentelle  Methode,  die  zwar  vor  Irrtümern  in 
der  Naturerkenntnis  nicht  schützt,  aber  ihrem  Wesen  nach  das  Kor- 
rektiv ihrer  Mängel  schon  in  sich  trägt;  fesselte  unter  der  Herrschaft 
des  Piatonismus  die  Fülle  der  Erscheinungen  den  Blick  des  Be- 
obachters, so  wui'de  nunmehr  der  denkende  Forscher  vom  Wunsche 
erfasst,  die  Bedingungen  festzustellen,  unter  denen  die  Erscheinungen 
zum  Dasein  gelangen.  Nicht  allein  die  neu  erstandene  Physiologie, 
sondern  auch  die  Krankheitslehre  versuchte  bereits  die  blosse  Be- 
schreibung der  Thatsachen  zu  einer  kausalen  Natur  erklär  ung  zu  er- 
heben, den  künstlerischen  Standpunkt  in  einen  wissenschaftlichen 
(auf  Gesetze  begründeten)  umzuwandeln. 

Auch  im  17.  Jahrhundert  erscheint  die  wissenschaftliche  Medizin 
nur  als  Exponent  der  allgemeinen  Zeitrichtung,  welche  jetzt  im  Sinne 
der  immanenten  Teleologie  der  Geschichte,  dem  Realismus  auf 
allen  geistigen  Gebieten  zu  einer  vorübergehenden  Herrschaft 
verhalf,  nachdem  der  Idealismus  in  Form  des  Humanismus,  im  Kleide 
der  Platonik,  die  Triebkräfte  aus  tausendjähriger  Erstarrung  zu  neuem 
Leben  erweckt  hatte.  Das  Zeitalter  der  Mathematik  und  Physik,  das 
Jahrhundert  des  Kepler,  Galilei  und  Newton,  die  Epoche  der  Erfahrnngs- 
philosophie  eines  Bacon,  Hobbes  und  Locke  war  angebrochen.  Auf  das 
Reale  wandte  man  den  Sinn,  das  Reale  beherrschte  die  Form :  den  über- 
schäumenden Geist  des  Giordano  Bruno  goss  ein  Spinoza  in  die  strengen 
Formen  der  Mathematik,  die  Lyrik  trat  in  den  Hintergrund  gegen- 
über der  dramatischen  Muse  Shakespeares  und  Calderons,  die  Realistik 
des  Rubens,  des  Rembrandt,  der  beiden  Breughel,  die  Naturalistik  des 
Guido  Reni,  Salvator  Rosa,  des  Velasquez  und  Murillo  verlieh  der 
Malerei  ihren  spezifischen  Charakter,  in  der  Geschichtsschreibung  be- 
gründete der  Schöpfer  der  Völkerrechtswissenschaft,  Hugo  Grotius,  eine 
neue,  dem  Realen  zugewandte  Auffassung,  und  selbst  die  weltumspannen- 
den Systeme  eines  Cartesius  und  Spinoza  verwerteten  gewissenhaft  Er- 
fahrungsergebnisse, bauten  sich  auf  mathematischen  Grundprinzipien 
auf.  — 

Auf  dem  Wege  eines  analytisch  -  synthetischen  Verfahrens ,  dessen 
Hauptvertreter    Galilei    wurde,    nahmen    die    mathematischen    und    exakten 


Einleitung.  47 

Naturwissenschaften,  insbesondere  die  Astronomie,  Mechanik,  die  Optik  und 
selbst  die  Chemie  einen  beispiellosen  Aufschwung,  der  wiederum  auf  die  ge- 
samte Weltanschauung  und  auf  die  übrigen  Wissenszweige  bestimmend  und 
befruchtend  einwirkte.  Es  genügt  der  Hinweis,  welche  gewaltige  Umwälzung 
in  den  Greistern  die  Auffindung  der  Bewegungsgesetze  der  Himmelskörper, 
die  Zurückführung  derselben  auf  die  allgemeine  Gravitation,  die  endgültige 
Verdrängung  des  geozentrischen  Standpunktes,  die  Erkenntnis  der  Allge- 
meingültigkeit der  mechanischen  Gesetze  hervorrief,  welchen  Ausblick  die  Be- 
gründung der  analytischen  Mechanik,  die  Erfindung  der  Infinitesimalrechnung 
(Newton,  Leibnitz,  ßernouilli),  die  Entdeckung  der  elektrischen  Phänomene, 
der  Licht-  und  Schallgesetze  eröfi'nete,  welche  ungeahnte  Bereicherung  die 
Forschungsmittel  durch  Erfindung  des  Fernrohres,  Mikroskops,  Mikrometers, 
Thermometers,  Barometers,  Hygrometers,  Manometers,  der  Luftpumpe  etc.  er- 
fahren !  Manche  praktisch  enorm  wichtige  Zweige  der  Physik,  wie  Hydrostatik, 
Hydrodynamik,  Ballistik  wurden  geschaffen,  die  Lehre  von  der  Wärme  und 
der  praktischen  Verwendung  der  Dampfkraft  begründet,  die  Gesetze  des 
freien  Falls  und  der  Pendelbewegung  festgestellt,  man  studierte  die  Er- 
scheinungen der  Kapillarität,  die  optischen  Phänomene  der  Reflexion, 
Brechung,  Diffraktion,  Dispersion,  Polarisation  des  Lichts,  man  machte  Be- 
obachtungen über  die  spezifische  Wärme.  Der  Name  eines  Kepler  und 
Tycho,  Galilei  und  Toricelli,  Fermat  und  Pascal,  Boyle  und  Hook,  Guericke, 
Papin,  Huyghens  und  Newton  repräsentiert  eine  Summe  von  genialen 
Leistungen,  w^elche  für  immer  fortwirken !  Die  Chemie  wurde  durch  eine 
Fülle  nützlicher  Entdeckungen  erweitert  und  aus  den  Banden  der  Spekulation 
befreit.  Van  Helmont  gab  den  ersten  Anstoss  zur  pneumatischen  Chemie, 
Glauber  machte  sich  um  die  Analyse  hochverdient,  Robert  Boyle  begründete 
durch  Einführung  physikalischer  Grundsätze  die  Verwandtschaftslehre, 
Kunkel  zeigte  die  L^möglichkeit  der  Annahme  eines  allgemeinen  Lösungs- 
mittels, lehrte  die  Darstellung  des  Phosphors,  Job.  Joach.  Becher  ersann 
die  Verbrennungslehre. 

Auch  die  beschreibenden  Naturwissenschaften  machten  bedeutende  Fort- 
schritte. Durch  die  Verwendung  von  Lupe  und  Mikroskop  wurde  die 
Schöpfung  neuer  Wissenszweige  ermöglicht,  z.  B.  der  Histologie,  Phyto- 
tomie.  Malpighis  Beobachtungen  über  die  Struktur  der  Pflanzen,  Hooks 
Entdeckung  der  Pflanzenzellen,  Leeuwenhoeks  Entdeckung  der  Infusions- 
tierchen, Redis  Widerlegung  der  Lehre  von  der  Generatio  aequivoca  u.  s.  w. 
waren  Leistungen,  welche  sehr  bald  auch  in  der  theoretischen  Medizin  Um- 
wandlung der  Anschauungen  nach  sich  zogen. 

Nicht  durch  Selbstschau,  durch  das  Mondeslicht  der  grübelnden 
Vernunft,  sondern  in  der  Sonne  der  realen  Forschung,  durch  Be- 
obachtung und  Experiment  wurde  für  die  Wohlfahrt  des  menschlichen 
Geschlechts,  für  die  Erkenntnis,  in  wenigen  Dezennien  geleistet,  was 
die  jahrhundertelang  gepflegte  philosophische  Abstraktion  nicht  ein- 
mal zu  ahnen  vermochte.  Statt  der  mj'stischen  ,.qualitates  occultae*' 
lernte  man  Kräfte  kennen,  die  im  ganzen  Weltall  unabänderlich  wirken, 
nach  unverrückbaren  Gesetzen,  und  alle  Erscheinungen,  so  viel  man 
ihrer  neu  beobachtete,  sie  alle  liefen  hinaus  auf  Bewegung,  auf  Kraft 
und  Stoff,  auf  Zahl  und  Mass.  Man  lernte  nach  dem  Beispiel  Galileis, 
absehen  von  teleologischen  Spekulationen,  die  mathematische 
und  phänomenologische  Betrachtungsweise  verdrängte  die 
supranaturalistische.  Die  Naturwissenschaften,  die  noch  im 
16.  Jahrhundert  von  wenigen  in  ihrer  wahren  Bedeutung 


48  Max  Neuburger. 

erkannt,  meist  nur  dialektisch  bearbeitet  wurden, 
rückten  in  den  Brennpunkt  des  Interesses  und  liehen 
auch  ferner  liegenden  Gebieten  das  Gepräge  der  Rea- 
listik. 

Einen  der  wichtigsten  Hebel  des  Fortschritts,  durch  den  die  Verbreitung 
der  naturwissenschaftlichen  Ergebnisse  vermittelt  wurde,  bildete  der  Umstand, 
dass  die  Wissenschaft  immer  mehr  in  das  Zeichen  des  Verkehres  zu  treten 
begann.  Während  im  16.  Jahrhundert  der  gelehrte  Briefwechsel  für  den 
geistigen  Austausch  hinreichte,  erwuchs  jetzt  in  dem  Masse,  als  die  Wissen- 
schaft am  Realen,  an  der  Anschauung  haftete,  das  Bedürfnis  nach  persön- 
lichem Gedankenaustausch,  nach  gelehrten  Gesellschaften.  Hier  fanden  die 
Forscher  Anregung  und  Kontrolle  ihrer  Arbeiten,  hier  sah  man  die  Forschung 
gleichsam  in  der  Werkstatt  erstehen  und  konnte  Meinungsverschiedenheiten 
beilegen,  bevor  sie  im  Buchstil  zu  folgenschweren  Irrtümern  erstarrten. 
Wie  in  der  Epoche  des  Humanismus,  ging  wieder  von  Italien  der  Impuls 
aus:  dort  wurde  übrigens  schon  im  Jahre  1560  eine  Academia  secretorum 
naturae  zu  Neapel  errichtet.  Nach  ihrem  Muster  wurden  u.  a.  gegründet :  Im 
Jahre  1613  die  Accademia  de'  Lincei  (weil  die  Mitglieder  sich  häufig  des 
Mikroskops  bedienten  und  den  Luchs  im  Siegel  führten),  die  Fratelli  giurati, 
später  seit  1657  die  hochberühmte  Accademia  del  cimento  (Akademie  der 
Experimente,  welche  von  den  Schülern  Galileis  ins  Leben  gerufen  wurde). 
Das  Beispiel  der  Italiener  wirkte  bald  auch  auf  die  Gelehrten  anderer  Länder 
anregend,  und  nicht  lange  dauerte  es,  dass  der  Staat  die  Gelegenheit  ergriff, 
seinen  fördernden  Einfiuss  auf  die  Entwicklung  der  Wissenschaften  dadurch 
zu  dokumentieren,  dass  er  die  anfänglich  geheim  entstandenen  Privatgesell- 
schaften unter  seinen  Schutz  nahm  und  zu  Nationalinstituten  erhob.  So 
entwickelte  sich  aus  dem  Londoner  unsichtbaren  oder  philosophischen 
Kollegium  die  Royal  society  (1662),  aus  einer  zu  Schweinfurt  1652  ge- 
bildeten Gesellschaft  von  Aerzten  die  Academia  Caesareo-Leopoldina  (1672), 
und  ebenso  entstand  die  berühmte  Academie  des  sciences  zu  Paris  (1666). 
Diese  und  manche  andere  Akademien  beeinflussten  neben  den  neuerdings  ver- 
mehrten Universitäten  den  Fortgang  des  Wissens.  Sie  sorgten  für  die  Ver- 
breitung der  neuen  Ergebnisse  durch  Herausgabe  von  Abhandlungen,  unter 
denen  die  Ephemeriden  der  Leopoldinischen  Akademie,  die  Philosophical 
transactions  der  Londoner,  die  Memoires  de  Tacademie  der  Pariser  Akademie 
am  wertvollsten  sind,  weil  in  ihnen  geradezu  eine  Fundgrube  der  exakten 
naturwissenschaftlichen  Forschungen  vorliegt.  Eine  Ergänzung  zu  den  aka- 
demischen Abhandlungen  Inldeten  mehrere  gelehrte  Zeitschriften,  z.  B.  das 
Journal  des  scavans,  die  Acta  Eruditorum. 

Den  getreuesten  Ausdruck  findet  der  Zeitgeist  in  den  philo- 
sophischen Strömungen,  welche  im  17.  Jahrhundert  an  die  Oberfläche 
traten.  Die  Platonik  mit  ihren  mystischen  Entartungen  machte  einem 
neu  entwickelten  Aristotelismus  Platz;  die  pantheistische  Naturphilo- 
sophie des  Giordano  Bruno  wurde  durch  die,  von  Aerzten  (Daniel 
Sennert),  später  von  Pierre  Gassend  erneuerte  Atomistik  oder  durch 
eine  sensualistische  Erfahrungsphilosophie  abgelöst;  die  grossen  dogma- 
tischen Systeme  gehörten,  abgesehen  von  der  Theosophie  eines  Böhme 
und  Pascal,  eines  Malebranche  mehr  oder  weniger  in  die  Kategorie 
des  Realismus,  beziehungsweise  Monismus  (Spinoza). 

Befreit  von  den  Fesseln  der  Scholastik  und  ausgehend  von  der 
Skepsis,  die  im  17.  Jahrhundert  in  Bayle  ihren  scharfsinnigsten  Ver- 
treter hatte,  bemühten  sich  universalistisch  veranlagte  mit  der  Natur- 


Einleitung:.  4  9 

forschung  in  reger  Beziehung  stehende  Denker,  entweder  eine  neue 
vorurteilsfreie  Weltanschauung  ins  Leben  zu  rufen  oder  wenigstens 
die  wissenschaftliche  Methodologie  nach  den  Grundsätzen  des  „Sen- 
sualismus", umzugestalten. 

Beide  Eichtungen,  die  systembildende,  wie  die  methodologische,  erstere 
besonders  durch  Descartes,  letztere  durch  die  englischen  Erfahrungsphilo- 
sophen repräsentiert,  wurden  für  die  Evolution  der  Naturwissenschaften,  für 
für  die  Fortentwicklung  der  Medizin  von  grossem  Einfluss ;  denn  wenn  auch 
die  grossen  Entdecker  Plan  und  Eichtschnur  für  ihr  Wirken  in  sich  trugen, 
die  grosse  Masse  der  wissenschaftlichen  Arbeiter  bedurfte  führender  theo- 
retischer Ideen,  welche  ihnen  nur  die  Philosophie  in  geschlossener  Form  zu 
bieten  vermochte.  Wie  immer  bestand  die  Aufgabe  der  Philosophie  darin, 
das  erlösende  tonangebende  Wort  zu  finden,  die  Quellen  und  Grenzen  der 
Erkenntnis  festzustellen,  aus  den  Sandkörnern  der  Erfahrungsergebnisse  das 
Universum  zu  ei'bauen,  aus  dem  vorhandenen  Wissensmaterial  die  letzten, 
obersten  Sätze  zu  abstrahieren. 

Die  massgebenden  Philosophen  des  17.  Jahrhunderts  kannten  die 
Erfordernisse  der  realen  Fächer,  sie  standen  denselben  in  einem  Grade 
nahe,  der  den  Dilettantismus  weit  überstieg;  neben  dem  Laboratorium 
oder  gar  in  den  Arbeitsstätten  der  Naturwissenschaften  selbst,  auf  dem 
Markte  des  Lebens,  nicht  im  einsamen  Studierzimmer,  wurde  der  philo- 
sophische Gedanke  geboren :  Descartes  war  einer  der  hervorragendsten 
Mathematiker  und  Naturforscher  seiner  Zeit,  „der  so  viele  Experimente 
gemacht  hat,  als  Zeilen  in  seinen  Werken  stehen",  Spinoza  beschäftigte 
sich  praktisch  mit  naturwissenschaftlichen  Fragen,  Bacon  verfügte, 
wenn  auch  nicht  über  gründliche,  so  doch  über  eine  encyklopädische 
Naturkenntnis,  John  Locke  war  Arzt.  Aus  der  Anschauung,  im  höheren 
Sinne  des  Wortes,  aus  der  Anschauung,  die  im  Tagesleben  das  Ewige 
erschaut,  gingen  ihre  scharfsinnigen  Schlüsse  hervor,  aus  der  eigenen 
oder  der  annektirten  Erfahrung  schöpften  sie  Probleme,  darum  ent- 
hielten sogar  ihre  im  Fluge  erhaschten  Antizipationen  so  viel  Wahres 
von  unvergänglicher  Dauer.  So  sehr  diese  Männer  über  ihrer  Zeit 
standen,  so  wenig  standen  sie  ausserhalb  ihrer  Zeit,  sie  erspähten 
den  tieferen  Sinn  des  Zeitgeschehens,  sie  sahen  voraus,  wohin  der  neue 
Kurs  steuerte. 

Nichts  ist  verfehlter,  als  wenn  man  in  oberflächlicher  Geschichts- 
konstruktion den  Philosophen  Francis  Bacon  von  Verulam  (1560 — 1626), 
dem  neben  Descartes  die  höchste  Bedeutung  für  die  werdende  Natur- 
wissenschaft zukommt,  zum  Schöpfer  der  naturwissenschaftlichen  Me- 
thode macht  und  von  seinem  „Novum  Organum"  die  glänzenden  Ent- 
deckungen des  17.  Jahrhunderts  herleitet.  Seine  Leistung  bestand 
darin,  die  „Instauratio  magna*',  welche  durch  einzelne  erleuchtete 
Forscher  teils  schon  herbeigeführt,  teils  angebahnt  wurde,  der  grossen 
Masse  in  ihrem  Werte,  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Zukunft  ver- 
ständlich zu  machen,  den  Umschwung,  der  sich  auf  den  Höhen  schon 
bemerklich  machte,  zu  signalisieren.  Bacon  war  gleichsam  „der  Zeiger 
auf  dem  Ziflferblatt  der  Uhr",  welche  anzeigt,  wie  weit  die  Zeit  vor- 
geschritten ist. 

Bacon  ist  weder  Urheber  der  induktiven  Methode,  deren  sich  der  ge- 
sunde Menschenverstand  auf  den  verschiedensten  Gebieten,  namentlich 
im  praktischen  Leben  zu  allen  Zeiten  bediente,  noch  hat  er  die  in- 
duktive Methode  zuerst  in  die  wissenschaftliche  Forschung  eingeführt, 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.     Bd.  IL  4 


50  Max  Neuburger. 

denn  vor  dem  Erscheinen  seines  Hauptwerkes  kamen  Galilei  und 
Kepler,  Gilbert  und  Harvey  teilweise  durch  Induktion  zu  iliren 
fundamentalen  Entdeckungen:  .Galilei  hatte  31  Jahre  vor  der  Ver- 
öifentlichung  vonBacons  „Novum  Organum  scientiarura"  mit  dem  grössten 
Erfolge  die  experimentelle  und  induktive  Methode  gepflegt,  Harvey 
hatte  auf  Grund  von  jahrelang  fortgesetzten  Versuchen  an  höheren 
und  niederen  Tieren,  im  Anschluss  an  zahlreiche  Beobachtungen  an 
Kranken  und  an  Leichen  (also  auf  induktivem  Wege)  bereits  1616 
(vier  Jahre  vor  dem  Erscheinen  des  Novum  Organum)  die  w^esentlichen 
Lehrsätze  über  den  Blutkreislauf  aufgestellt. 

Andererseits  darf  nicht  übersehen  werden,  dass  zwar  die  bahn- 
brechenden Forscher  die  induktive  Methode  pflegten,  dass  aber  die 
grosse  Mehrzahl  der  wissenschaftlichen  Arbeiter  noch  immer  dem 
scholastischen  Autoritätsglauben  anhing  oder  zum  Spielball  einer  blinden 
Empirie  wurde.  Es  war  daher  eine  befreiende  That  von  grösster  Be- 
deutung, dass  Bacon  mit  grosser  Treffsicherheit  die  grossen  Schäden 
nachwies,  welche  der  Autoritätsglaube  und  die  dialektische  Sophistik 
anstiftete  und  mit  unerreichter  Gründlichkeit  die  denk-methodischen 
Fehler  biossiegte,  die  gemeiniglich  durch  vorschnelle  Antizipationen, 
durch  das  Hineintragen  vorgefasster  Meinungen,  durch  oberflächliche 
kritiklose  „Erfahrung"  begangen  werden. 

Bacon  war  der  Zeitgenosse  grosser  Entdeckungen  und  Erfindungen, 
er  sah  aber  auch,  wie  viel  Geisteskraft  in  nutzloser  Dialektik  noch  immer 
vergeudet  wurde,  es  entging  ihm  nicht,  dass  oft  mehr  der  Zufall  als 
bewusste  Absicht  die  Wissenschaft  mit  realen  Resultaten  bereichert 
hatte,  darum  wollte  er  sie  auf  den  Weg  der  planmässigen  Erfindung  hin- 
weisen. Als  Mittel  hiezu  galt  ihm  ausschliesslich  eine  höhere  Art  der 
Erfahrung,  die  induktiveMethode,d.  h.  die  stufenweise  Ableitung 
der  Gesetze  von  dem  einzelnen  Geschehen. 

Die  Basis  soll  eine  kritische,  durch  Beobachtung  und  Experiment 
erworbene  Erfahrung  bilden ;  durch  Vergleichung  mögUchst  vieler  ähnlicher 
Einzelfälle,  führt  die  kritische  Verwertung  sowohl  der  positiven  als  der 
negativen  „Instanzen"  allmählich  dazu,  die  wesentlichen  Bedingungen  für 
das  Zustandekommen  einer  Erscheinung  von  den  bloss  zufälligen  zu  scheiden ; 
im  weiteren  kritischen  Vordringen  kann  man  endlich  aus  den  erkannten 
Bedingungen  das  zugrundeliegende  Gesetz  ermitteln.  Zur  Abkürzung  des 
allzu  langwierigen  Verfahrens  dienen  besonders  prägnante  Fälle  von  ent- 
scheidender Bedeutung,  oder  vorsichtig  angewendete  Analogieschlüsse.  Durch 
die  letzte  Konzession  wich  Bacon  von  seinem  starren  Prinzip  des  stufen- 
weise Fortschreitens  leise  ab,  konnte  es  ihm  doch  nicht  entgehen,  dass 
gerade  bei  den  grossen  Entdeckungen  und  Erfindungen  die  Phantasie  des 
Forschers  wie  eine  auslösende  Kraft  wirkt,  dass  die  formalen  induktiven 
Gedankenprozesse  erst  durch  sie  eine  bestimmte  Richtung  empfangen. 
Jedem  Experiment  muss  ein  Gedanke  vorausgehen.  Nur  durch  die  Ver- 
knüpfung des  synthetischen  mit  dem  analytischen  Verfahren,  nur  durch  die 
Vereinigung  der  Deduktion  und  Induktion,  durch  Zuhilfenahme  der  Hypo- 
these, wurde  Kepler  Entdecker  der  Gesetze  von  der  Bewegung  der  Gestirne, 
wurde  Harvey  der  Entdecker  des  Blutkreislaufs ;  mit  Bacons  Methode  allein 
wären  diese  umwälzenden  Leistungen  kaum  zustande  gekommen.  Der  trefi"- 
liche  Schüler  Bacons,  Thomas  BEobbes  (1588  — 1679),  machte  auf  diese 
Lücke  schon  aufmerksam.  Ebenso  wie  Bllcon  mehr  den  wissenschaftlichen 
Arbeitern  als  den  führenden  Geistern  Dienste  leistete,  so  leitet  seine  Methode, 


Einleitung.  51 

in  ihrer  vollen  Strenge  angewandt,  eher  zur  Lösung  untergeordneter  Probleme 
als  zu  grossen  Entdeckungen,  sie  bildet  nur  ein  Beweismittel,  die  leitenden 
Ideen  aber  entspringen  einzig  allein  dem  genialen  Kopfe,  „wo  ein  Tritt 
tausend  Fäden  regt".  Wäre  Bacon  im  Eechte  mit  seiner  einseitigen  Be- 
vorzugung der  Induktion,  um  wie  viel  schneller  hätte  sich  dann  der  wissen- 
schaftliche Fortschritt  vollziehen  müssen,  als  es  thatsächlich  geschehen  ist, 
um  wie  viel  geringer  wäre  dann  die  Bedeutung  der  Geisteshelden  in  der 
Geschichte  der  "Wissenschaft  einzuschätzen!  Statt  dessen  finden  wir  auch 
hinsichtlich  der  einseitig  induktiven  l^Iethode  die  Worte  Goethes  treffend: 
..das  preisen  die  Schüler  allerorten,  sind  aber  keine  Weber  geworden." 
Die  Hypothese,  wenn  sie  sich  auf  solidem  Postament  erhebt,  besitzt 
einen,  wenn  auch  wieder  verblassenden,  heuristischen  Wert,  der  sich 
auch  für  die  Entwicklung  der  exakten  Wissenschaften  als  unersetzlich 
erweist. 

Wie  sehr  es  im  Zuge  der  Zeit  lag-,  die  Regeln  der  Naturerkenntnis 
festzustellen,  Beobachtung,  Versuch  und  rationelle  Ver- 
wertung des  Gefundenen,  ratio  et  experimentatio  als  einzige 
Quellen  des  Fortschritts  gegenüber  der  Dialektik  zu  statuieren,  geht 
daraus  hervor,  dass  neben  Bacon  auch  andere  erleuchtete  Zeitgenossen 
dasselbe  Ziel  verfolgten.  Der  ,.Bacon  der  Deutschen",  Joachim  Jung 
(1587—1657),  gründete  1622  zu  Eostock  die  zetetische  Sozietät,  welche 
sich  zur  Aufgabe  setzte,  die  Wissenschaft  von  der  Sophistik  zu 
reinigen,  durch  ratio  und  experientia  zu  fordern;  der  Portugiese 
Francesco  Sanchez  (1562 — 1623)  war  dem  englischen  Philosophen  auf 
gleichem  Wege  sogar  vorangegangen.  Keiner  aber  behandelte  den 
Stoif  mit  solcher  Breite  und  Tiefe,  wie  der  Zeitgenosse  Harveys, 
Francis  Bacon. 

Für  die  Naturforscher  war  es  besonders  bedeutsam,  dass  Bacon, 
ein  Mann  von  scholastischer  Schulung,  die  schon  spontan  eingedrungene 
neue  Eichtung  gleichsam  ex  cathedra  kanonisierte,  indem  er  erklärte, 
dass  alle  Wissenschaften  nur  soweit  diesen  Namen  verdienen,  als 
Naturlehre  in  sie  eingedrungen  ist,  dass  die  ..Descriptio"  naturae 
sich  allmählich  zur  „Interpretatio''  naturae  entwickeln  müsse,  dass 
die  reale  Forschung  von  allen  metaphysischen  Erklärungsver- 
suchen, von  teleologischen  Spielereien  zu  abstrahieren,  bloss  den 
Thatsachen  und  deren  wirkenden  Ursachen  ihr  Augenmerk 
zuzuwenden  habe. 

Auch  der  Medizin  stellte  Bacon  das  Prognostikum.  dass  sie  eine  an- 
gewandte Naturwissenschaft  werden  würde,  und  es  ist  bezeichnend  für  seinen 
Scharfsinn,  dass  er  nicht  allein  die  Mängel  der  zeitgenössischen  Heilwissen- 
schaft zergliederte,  sondern  ein  Programm  aufstellte,  dem  später  nur  wenig 
hinzuzufügen  war.  Drei  Aufgaben  habe  die  Medizin:  das  Leben  zu  ver- 
längern, die  Gesundheit  zu  erhalten,  die  Krankheiten  zu  heilen.  Um  die 
Forschung  zu  heben,  sei  die  Erfüllung  folgender  Desiderien  vonnöten : 
Klinische  Kasuistik,  Anatomie,  pathologische  Anatomie,  Tierexperimente ; 
Beseitigung  der  Voraussetzung  der  TJnheilbarkeit  der  Krankheiten,  grössere 
Rücksichtnahme  auf  die  Linderung  der  Schmerzen  (auch  Euthanasie),  ge- 
nauere Erforschung  der  für  spezielle  Krankheiten  erforderlichen  Therapie 
(kausale  Therapie,  Spezifika),  genauere  Formulierung  des  Kurverfahrens. 
Interessant  ist  es  ausserdem,  dass  Bacon  auch  den  Wert  der  Chemie  als 
Hilfswissenschaft  erkannte  und  von  ihr  unter  anderem  die  Herstellung  künst- 
licher Mineralwässer  erwartet. 

4* 


52  Max  Neuburger. 

Noch  viel  innigere  Beziehungen  zur  Naturwissenschaft  und  Medizin 
hatte  der  „Vater  der  neueren  Philosophie",  Rene  Descartes  (1596—1650), 
welcher  selbst  Mathematiker  und  Naturforscher  war  und  sich  sogar  mit 
Anatomie  und  Physiologie  intensiv  beschäftigte.  Ein  Philosoph,  der 
den  Satz  aufstellte:  „wenn  die  Menschen  irgend  weiser  zu  machen  sind, 
so  könne  dies  nur  durch  die  Medizin  geschehen,"  erwarb  sich  schon 
a  priori  das  Anrecht,  vor  dem  Forum  der  Aerzte  Beifall  zu  finden.  Und 
in  der  That,  weit  mehr  als  Bacon  und  seine  Nachfolger,  von  denen  der 
viel  später  entsprechend  gewürdigte  John  Locke  (1632 — 1704)  den  wissen- 
schaftlichen Empirismus  begründete,  wirkte  Descartes  auf  seine  Zeit. 
Die  Charakteristika  seines  Systems:  der  Ausgang  von  der  Skepsis,  die 
scharf  ausgesprochene  Scheidung  der  Metaphysik  von  der  Physik,  die 
mechanistische  Erklärung  aller  Erscheinungen  der  Körperwelt  auf 
Grundlage  der  Korpuskularphilosophie  stimmten  vollkommen  mit  den 
Tendenzen  überein,  welche  die  Naturwissenschaft  seit  Galilei  verfolgte. 
Die  Lehre  des  Cartesius,  dass  der  Körper  nichts  anderes  als  eine  von 
mechanischen  Gesetzen  beherrschte  Maschine  ist,  der  Kardinalsatz,  dass 
die  Bewegung  der  festen,  die  molekulare  Bewegung  der  flüssigen  Ge- 
bilde die  Grundlage  der  körperlichen  Verrichtungen  bildet,  die  Forde- 
rung, dass  die  Physiologie  auf  Grundlage  der  Mathematik  und  Mechanik 
aufgebaut  werden  müsse,  all  dies  erschien  einem  Zeitalter,  welches 
den  Blutkreislauf  im  Lichte  der  Hydraulik  erblickte,  unwiderlegbar  und 
einleuchtend.  Willig  vertraute  man  sich  einem  Führer  an,  der  die  Medizin 
unter  Hinweis  auf  die  staunenswerten  Resultate  der  Astronomie  und 
Physik  mit  der  frohen  Zuversicht  eriüllte,  es  werde  wie  beim  Blutkreislauf 
gelingen,  alle  physiologischen,  ja  sogar  alle  pathologischen  Erscheinungen 
von  Grundgesetzen  der  Physik  und  der  Chemie  abzuleiten.  Und  wie 
Descartes  selbst  das  Beispiel  gab,  die  Ernährung,  die  Verdauung  als 
rein  physikalische  Vorgänge  aufzufassen,  die  Sekretion  von  der  Lage, 
Grösse,  von  den  Poren  der  (als  Siebe  gedachten)  Gefässe  abhängig 
zu  machen,  die  Sinnesempflndungen  aus  Nervenschwingungen  zu  er- 
klären, im  Fieber  nur  Störungen  der  physikalisch- chemischen  Ver- 
hältnisse zu  erklicken,  so  folgte  ihm  bald  ein  ganzer  Tross  von 
Forschern,  welche  das  Leben  mit  Mechanismus  und  Chemismus  vor- 
eilig identifizierten  und  jede  Nuance  der  Qualität  auf  Aenderungen  in 
der  Quantität  zurückführten. 

Wie  im  sechzehnten  Jahrhunderte  unter  der  Herrschaft  der  Neu- 
platoniker  der  Vergleich  der  Lebenserscheinungen  mit  kosmischen 
Phänomenen  die  Geister  bewegte,  so  wurden  im  siebzehnten  Jahrhundert 
diejenigen  Analogien  Ziel  und  Richtung  gebend,  welche  man 
zwischen  den  Lebensprozessen  und  dem  Mechanismus 
der  Maschinen  oder  den  Vorgängen  in  der  Retorte  des 
Chemikers  aufzuspüren  lernte.  Den  besten  Anhaltspunkt  fand  diese 
Ideenentwicklung  in  der  Lehre  vom  Blutkreislauf,  beziehungsweise  in  der 
Denkmethodik,  mit  welcher  die  Entdeckung  von  Harvey  begründet  wurde. 

Harvey  wurde  nicht  bloss  einer  der  grössten  Förderer  der  Natur- 
wissenschaft, sondern  auch  des  naturwissenschaftlichen 
Denkens.  Durch  die  ganz  neuartige  Beweisführung,  welche  der 
wissenschaftlichen  Welt  in  seiner  unvergänglichen  Schrift  „Exercitatio 
anatomica  de  motu  cordis  et  sanguinis  in  animalibus"  vorgelegt  wurde, 
legte  er  den  Grund  zu  der  so  bedeutungsvollen  mechanischen 
Auffassung  physiologischer  Vorgänge  zur  nüchternen  Beobachtung, 
zur  exakten  Experimentalforschung. 


Einleitung.  53 

Im  Geiste  Galileis,  analytisch  -  syntlietiscli,  zerlegt  der  Meister 
den  komplizierten  Erscheinungskomplex  in  seine  Elemente,  um  ihn  in 
seiner  Gänze  daraus  T\ieder  aufzubauen,  er  verfolgt  einen  organischen 
Hergang  wie  einen  physikalischen  in  all  seinen  Bedingungen  und 
in  der  Succession  des  einzelnen  Geschehens. 

Harvey  bereicherte  nicht  bloss  die  Medizin  mit  einer  Errungen- 
schaft, welche  den  Markstein  einer  neuen  Epoche  bildet,  welche  die 
Wurzel  jedes  weiteren  Fortschritts  darstellt,  er  begründete  durch  seine 
Forschungsmethode  geradezu  eine  neue  Wissenschaft:  die  Physik 
des  lebenden  Individuums,  die  erklärende  Physiologie, 
er  entdeckte  nicht  allein  die  Gesetze  des  Blutkreislaufs,  sondern  schrieb 
auch  den  Geist  dieser  Gesetze,  ein  Kepler  und  Newton  der  Physio- 
logie in  einer  Person. 

Harvey  eliminierte  den  teleologischen  Gedanken  und  gab  im  Sinne 
Bacons  („vere  scire  est  per  causas  scire")  den  ersten  Anstoss,  die 
Arbeitsleistung  und  die  bewegenden  Kräfte  der  Organe  nach  der 
physikalischen  Methode,  auf  dem  Wege  des  Experiments  zu  ergründen ; 
er  wurde  der  Schöpfer  der  Experimentalphysiologie  und  leitete 
die  gesamte  medizinische  Wissenschaft  auf  das  Geleise  exakter 
Forschung  nach  dem  Vorbild  der  Physik.  Harvey's  gigantisches  Eeform- 
werk  lag  so  sehr  im  Zuge  der  Zeit,  dass  sogar  seine  Gegner  ge- 
zwungen waren,  zu  seiner  Methode  zu  greifen. 

War  auch  die  Art  und  Weise,  wie  experimentiert  wurde,  nach 
heutigen  Begriffen  unvollkommen,  mangelte  es  auch  an  Kriterien,  die 
vor  voreiligen  Schlüssen  bewahrten,  musste  auch  ein  nicht  unbeträcht- 
licher Teil  der  vermeintlich  exakten  Ergebnisse  sehr  bald  aufgegeben 
werden,  das  Massgebendste  für  die  Beurteilung  dieser  Epoche  bleibt 
es  immerdar,  dass  das  Grundprinzip  der  exakten  Forschung  fest- 
gehalten wurde,  und  dass  man  es  nicht  an  Versuchen  fehlen  Hess, 
die  Physiologie  zu  einer  Naturwissenschaft  zu  erheben. 

Eine  phj'siologische  Entdeckung  drängte  die  andere,  nachdem  ein- 
mal die  Bahn  eröffnet  worden  war ;  in  rascher  Aufeinanderfolge  stürzten 
die  Grundpfeiler  der  fiktiven  scholastischen  Physiologie.  Die  Galenische 
vis  pulsificans  der  Arterien  wurde  schon  durch  Harvey  zu  Falle  gebracht, 
bald  kamen  die  übrigen  „qualitates  occultae*',  diese  asyla  ignorantiae 
an  die  Reihe,  um  den  „mechanischen  Prinzipien"  des  Drucks,  des 
Widerstands,  der  Masse  und  des  Gewichts  Platz  zu  machen. 

Der  Entdeckung  des  Blutkreislaufs  schlössen  sich  Versuche  an 
über  die  Bewegung  und  Menge  des  Bluts,  über  Herzarbeit  und  Ge- 
fässwiderstand  u.  s.  w.  Der  geniale  Alfonso  Borelli  (1608  —  1679),  ein 
Mitglied  der  von  Galilei  gestifteten  Accademia  del  cimento,  wurde 
Urheber  einer  ganzen  Untersuchungsreihe,  die  von  der  Analogie  des 
Kreislaufs  mit  einem  hydraulischen  AVerke  ihren  Ausgang  nahm,  und 
die  Blutbewegung  auf  die  Gesetze  der  Statik  und  Mechanik  zurück- 
führte. Mit  seinen  Schülern  bearbeitete  er  die  physikalischen  Verhält- 
nisse der  Blutbewegung  und  berechnete,  allerdings  viel  zu  hoch,  die 
Herzarbeit.  Manche  seiner  Fehler  berichtigte  Bellini,  welcher  zeigte, 
dass  die  Schnelligkeit  der  Blutbewegung  sich  in  den  feineren  Gefässen 
vermindere  und  William  Cole,  der  nachwies,  dass  der  Widerstand  mit 
der  Entfernung  vom  Herzen  abnehme,  weil  die  Summe  der  Gefässquer- 
schnitte  peripherwärts  immer  mehr  anwächst.  Allen  Moulin  versuchte 
die  Menge  des  im  Körper  enthaltenen  Blutes  experimentell  zu  be- 
stimmen, Leeuwenhoek  berechnete  die  Geschwindigkeit.    Beyer  und 


54  Max  Neuburger. 

Härder,  Lower  und  Steno  machten  Experimente  mit  dem  Herzen  ab- 
gestorbener Tiere,  Versuche  über  die  Folgen  der  Gefässligatur  u.  s.  w. 
Der  rheinische  Arzt  Reisel  konstruierte  das  erste  Kreislaufmodell ! 
Es  sind  dies  nur  einige  Beispiele,  welche  andeuten  sollen,  in  welcher 
Eichtung  sich  die  Forschung  bewegte. 

Eine  Ergänzung  fand  das  Tierexperiraent  durch  die  Anatomie 
und  die  mikroskopische  Forschung,  welche  die  Wunderwelt  des 
Kleinen  erschloss. 

Das  Mikroskop,  dessen  Erfindung  den  niederländischen  Optikern  Hans 
und  Zacharias  Janssen  (um  1608)  oder  dem  Cornelius  Drebbel  (um  1621) 
zugeschrieben  wird,  wurde  sehr  bald  zu  wissenschaftlichen  Zwecken,  zuerst 
zu  pflanzenanatomischen  und  zootomischen  Arbeiten  verwendet.  Die  erste 
derartige  Arbeit  (Anatomie  der  Honigbiene)  lieferte  Francisco  SteUuti  im 
Jahre  1625.  Besondere  Verdienste  um  diese  Forschungsrichtung  erwarben 
sich  Marcello  Malpighi  und  Robert  Hook  (Pflanzenzellen),  Leeuwenhoek  (der 
das  Mikroskop  wesentlich  voUkommnete,  die  Infusionstierchen  (1675)  ent- 
deckte, zuerst  Bakterien  sah)  und  Swammerdam  (Verfasser  der  „Bijbel  der 
natuur"). 

Dem  Zusammenwirken  der  anatomischen,  mikro- 
skopischen und  experimentellen  Forschung,  im  Verein  mit 
den  zunehmenden  technischen  Verbesserungen  der  Untersuchungsmittel, 
dankte  das  17.  Jahrhundert  eine  durch  Zahl  und  fortdauernde  Trag- 
weite imponierende  Fülle  von  Entdeckungen,  welche  die  Vorstellungen 
über  Bau  und  Leistungen  des  Organismus  in  kurzer  Zeit  und  in  er- 
staunlicher Weise  erweiterten.  Jahrtausende  alter  Schutt  wurde  hin- 
weggeräumt, die  Atmosphäre  vom  Moder  der  Vergangenheit  gesäubert. 

Vor  allem  wurde  manche  Lücke  ausgefüllt,  die  Harvey  in  der 
Lehre  vom  Blutkreislauf  zurückgelassen  hatte.  Die  Entdeckung  der 
Chylusgefässe  (Gaspare  Aselli  1622),  des  Ductus  thoracicus  (Jean 
Pecquet  1647),  des  L3inphsystems  (Olaus  Rudbeck  1651,  Thomas 
Bartholin  1652)  beseitigte  die  galenische  Irrlehre  von  der  blutbildenden 
Funktion  der  Leber.  Die  mikroskopische  Beobachtung  des  kapillaren 
ßlutlaufs  (1661)  und  die  Entdeckung  der  Blutkörperchen  (1665)  durch 
Malpighi  erbrachte  den  letzten  Beweis  für  die,  nach  langen  Kämpfen 
anerkannte  Lehre  Harveys.  Der  alte  Begriff  des  „Parenchyms"  wurde 
durch  die  mikroskopische  Beobachtung  der  kapillaren  Zirkulation  und 
durch  die  Ergebnisse  der  Gefässinjektionen,  welche  Stephan  Biancaard, 
Domenico  del  Marchettis,  namentlich  aber  Friedrich  Ruysch  mit  un- 
übertroffener Geschicklichkeit  vornahmen,  für  immer  aus  der  Wissen- 
schaft entfernt.  Dass  das  Herz  ein  Muskel  sei,  zeigte  Nicolaus  Steno, 
wie  es  seine  Lage  verändere,  wie  es  innerviert  wird  (Vagus),  lehrte 
Richard  Lower,  dass  die  Blutversorgung  der  Lunge  durch  die  Ai'teriae 
und  Venae  bronchiales  besorgt  werde,  bewies  Ruysch. 

Die  Anatomen  ergänzten  die  Leistungen  ihrer  Vorgänger  aus  dem 
16.  Jahrhundert  einerseits  durch  manche  wichtige  makroskopische 
Entdeckung,  andererseits  pflegten  sie  mit  P^ifer  die  mikroskopische 
Untersuchung  der  Strukturverhältnisse,  oder  studierten  die  fötale  Ent- 
wicklung. Wie  tief  man  eindrang,  beweisen  die  Untersuchungen 
über  die  Struktur  des  Knochensystems,  der  Muskeln  (Querstreifung), 
der  Drüsen,  der  Sinnesorgane,  Forschungsgebiete,  worin  sich  Malpighi, 
Leeuwenhoek  und  Ruysch  am  meisten  auszeichneten.  Eine  der  be- 
deutendsten anatomischen  Leistungen,  der  auch  ein  grosser  praktischer 


Einleitung.  55 

Wert  und  reformatorische  Bedeutung  zukommt,  war  der  Nachweis 
des  Wittenberger  Professors  Conrad  Victor  Schneider,  dass 
der  Schleim  nicht  im  Gehirn  entsteht,  sondern  von 
Schleimhäuten  sezerniert  wird;  damit  wurde  der  uralten 
Lehre  von  den  Katarrhen  und  den  unzähligen  Rezepten  zu  caput- 
purgiis  endlich  der  Boden  entzogen. 

Grosse  Fortschritte  hatte  die  Physiologie  der  Muskelbewegung, 
der  Atmung,  Zeugung  und  Sinnesthätigkeit  aufzuweisen. 

Die  Lehre  von  der  Muskelbewegung  wurde  auf  Grund  der 
Statik  und  Mechanik  (Kräfteparallelogramm,  Hebelgesetze)  besonders 
von  Borelli  und  Steno,  von  Willis,  Baglivi  u.  a.  bearbeitet.  Man  unter- 
suchte den  Einfluss  des  Gehirns,  der  Nerven,  der  Blutzufuhr  (Unter- 
bindung der  Aorta  abdominalis)  auf  die  Muskelthätigkeit. 

Interessant  ist  es,  dass  sich  in  der  Zeit  des  krassesten  „Mechanismus" 
gerade  auf  diesem  Gebiete,  wo  doch  die  physikalischen  Gesetze  am  leichtesten 
erwiesen  wurden,  der  „Yitalismus"  schon  schüchtern  bemerkbar  machte. 
Da  nämlich  (durch  Caspar  Bartholin,  Eedi,  de  Marchettis)  gezeigt  wurde, 
dass  die  Muskeln  eine  autonome  Bewegungsfähigkeit  (unabhängig  von  den 
Nerven)  besitzen,  so  schrieb  ihnen  Willis  bereits  eine  immanente,  im  Bau 
begründete  ,,Copula  elastica"  zu.  Noch  weiter  ging  Glisson,  welcher  der 
gesamten  (organischen)  Materie  eine  immanente  ,,Irrit abilit ät",  d.  h. 
Reaktionsfähigkeit  auf  Beize  zuerkannte ,  deren  Träger  das  gewebliche 
Grundelement,   die  „Fibra"  sein  sollte. 

Der  mechanische  Teil  der  Physiologie  der  Respiration 
wurde  nach  den  gangbaren  Vorstellungen  von  Borelli  und  seinen 
Schülern  mit  Erfolg  bearbeitet.  Um  so  grösserer  Zwiespalt  herrschte 
in  der  Frage  nach  der  Ursache  der  Blutveränderung  in  den  Lungen. 
Ein  Teil  zog  vage  mechanische  Hj'pothesen  (Rarefikation  des  Blutes) 
heran,  ein  anderer  half  sich  mit  ebenso  mangelhaften  chemischen  Er- 
klärungen. Die  Wahrheit  ahnte  nur  Mayow,  welcher  die  Farben- 
veränderung von  der  Aufnahme  „salpetriger"  Bestandteile  aus  der 
Luft  erklärte. 

Für  die  Lehre  von  der  Zeugung  und  Entwicklung  wirkte 
Harvey  durch  seine  Schrift  Exercitationes  de  generationibus  animalium 
(1651)  bahnbrechend.  Dieselbe  stützte  sich  auf  Beobachtungen  in 
allen  Tierklassen.  Ihr  wichtigstes  Ergebnis  liegt  in  dem  Satze: 
„Omne  animal  ex  ovo".  Der  alten  Annahme  der  „Generatio  aequivoca" 
traten  namentlich  Francesco  Redi  (,.omne  vivum  ex  ovo")  und 
Swammerdam  entgegen.  Nach  Kenntnisnahme  vom  Bau  der  Ovarien 
iReigiiier  de  Graaf)  und  Entdeckung  der  „Samentierchen"  (Job.  Harn 
(1677)  entspann  sich  der  Streit  der  „Ovisten"  und  der  ,.Animalculisten*', 
d.  h.  zweier  Parteien,  von  denen  die  eine  ausschliesslich  im  Ei,  die 
andere  in  die  Spermatozoen  die  eigentlichen  Keime  der  Frucht  ver- 
legten —  ein  Streit,  der  später  durch  Antonio  Vallisneri  beendet 
wurde.  Der  fötale  Kreislauf  wurde  von  Du  Verney  und  Needham 
sorgfältig  studiert. 

Die  Sinnesorgane  wurden  genauer  anatomisch  untersucht  und 
in  ihrer  Physiologie  konnten  physikalische  Prinzipien  in  besonderem 
Masse  zur  Geltung  kommen.  Namentlich  war  dies  in  der  phj'sio- 
logischen  Optik  der  Fall,  welche  besonders  durch  Kepler,  Descartes, 
^lariotte  und  Newton  gefördert  wurde. 

Die  Anatomie   und  Physiologie    des  Nervensystems    (Willis, 


56  Max  Neuburger. 

Vieussens,  Wepfer,  Pacchioni,  Baglivi)  befand  sich  in  den  Anfängen 
und  stand  noch  stark  unter  der  Herrschaft  der  Spekulation,  doch  kam 
auch  das  Experiment  auf  diesem  Gebiete  schon  früh  zur  Herrschaft. 
Das  einzig  unerfreuliche  Kapitel  in  der  Geschichte  der  Physio- 
logie des  17.  Jahrhunderts  bildet  die  Lehre  von  der  Verdauung,  Er- 
nährung und  Sekretion.  Hier  reichte  die  mechanisch-physikalische 
Methode  nicht  mehr  aus,  und  das  Uebel  wurde  noch  dadurch  ge- 
waltig verschlimmert,  dass  man  den  Mangel  genauerer  chemischer 
Kenntnisse  durch  allerlei  ganz  vage,  chemische  oder  mechanische  Hypo- 
thesen auszufüllen  versuchte. 

Entweder  erklärte  man  die  Verdauung  durch  eine  Art  von  Verreibung 
(trituratio),  wodurch  die  Speisen  bis  aufs  feinste  verteilt  in  die  Blutmasse 
gelangen,  oder  man  nahm  zum  Begriff  der  ,,fermentatio"  Zuflucht,  unter 
welchem  man  aber  nicht  die  gewöhnliche  Gärung,  sondern  die  innere 
(molekulare)  Bewegung  der  Materie  verstand,  die  im  Magen  und  Darrakanal 
durch  die  Einwirkung  bestimmter  chemischer  Agentien  eingeleitet  und  unter- 
stützt werde.  Der  Speichel,  der  pankreatische  Saft,  hauptsächlich  aber  die 
Galle,  sollten  im  Speisebrei  eine  „Effervescenz"  erregen. 

Der  Hauptgrund  für  diesen  Uebereifer  ist  in  der  nahen  Beziehung 
zu  suchen,  in  welcher  dieses  Gebiet  zur  praktischen  Medizin  steht. 
Je  nach  der  vorwaltenden  chemischen  oder  mechanischen  Auffassung, 
die  von  der  Verdauungsphysiologie  auch  auf  die  Pathologie  und  Therapie 
übertragen  wurde,  unterscheidet  man  zwei  Hauptrichtungen  in  der 
Medizin  des  17.  Jahrhunderts:  latrochemie  und  latrophysik.  Beide 
schöpfen  ihre  Berechtigung  aus  dem  Streben,  der  Medizin  eine  wissen- 
schaftliche Grundlage  zu  verleihen,  beide  wurzeln  in  letzter  Linie 
im  Cartesianismus. 

Der  Hauptvertreter  der  Chemiatrie,  die  namentlich  in  den  Nieder- 
landen und  Deutschland  Verbreitung  fand,  war  der  Leydener  Professor 
Franz  de  le  Boe  Sylvius  (1614—1672),  ein  Mann  von  europäischem 
Euf,  der  durch  seine  persönlichen  Eigenschaften  und  sein  Lehrtalent 
am  meisten  dazu  beitrug,  dem  System  treue  Anhängerschaft  zu  erwerben. 
Da  es  sich  hier  nicht  um  eine  Geschichte  der  Personen,  sondern  der 
Ideen  handelt,  ist  völlig  davon  abzusehen,  welche  Verdienste  sich 
Sylvius  um  die  Gehirnanatomie,  um  die  Ph3^siologie,  pathologische 
Anatomie  (Tuberkulose)  oder  um  die  Ausbildung  des  klinischen  Unter- 
richts erwarb.  Losgelöst  von  seiner  Person  ist  das  System,  beziehungs- 
weise die  Bedeutung  zu  beurteilen,  die  ihm  für  den  Ablauf  der 
medizinischen  Entwicklung  zukommt. 

In  dieser  Hinsicht  wäre  zunächst  hervorzuheben,  dass  die  Chemiatrie 
mit  den  Lehren  des  Paracelsus  und  Helmont  nicht  wesentlich,  sondern 
nur  äusserlich  insofern  zusammenhängt,  als  jeder  dieser  Forscher  aus 
der  Chemie  seiner  Zeit  schöpfte  und  diese  Wissenschaft  in  den  Dienst 
der  Medizin  zog,  in  allen  übrigen  Beziehungen  sind  sie  durch  eine 
Welt  von  Anschauungen  getrennt.  Während  Paracelsus  und  Helmont 
den  Begriff  des  Lebens  zum  Mittelpunkt  ihrer  Lehren  erheben,  ja 
geradezu  als  spiritualistische  Vitalisten  zu  bezeichnen  sind,  ist  Sylvius 
vom  Scheitel  bis  zur  Sohle  „Mechanist'',  der  von  materiell  gedachten 
„Lebensgeistern"  nur  aus  konventionellen  Gründen  spricht;  während 
Paracelsus  und  Helmont  als  radikalste  Antagonisten  des  Galen  er- 
scheinen, erweist  sich  das  System  des  Sylvius  als  eine  durch  die 
Kenntnisse  seines  Zeitalters  modifizierte  Humoralpathologie,  die  sogar 


Einleitung.  57 

im  „calidum  innatum"  Eückhalt  sücht;  dementsprechend  ist  bei  SyMns 
nichts  von  jener  biologischen,  genetischen  Auffassung  des  Krankheits- 
prozesses, von  jener  Betonung  der  natürlichen  Eeaktion  der  Xaturheil- 
kraft  zu  finden,  wie  sie  einen  Hippokrates,  einen  Paracelsus,  einen 
Helmont  charakterisiert.  Syhdus,  so  sehr  er  gegen  die  Polypragmasie 
seiner  Epoche  wettert,  verschmäht  es  nicht,  die  kompliziertesten 
Mischungen  der  schärfsten  Arzneien  anzuwenden. 

Der  Grund,  weshalb  das  chemiatrische  System  den  lautesten  Bei- 
fall fand,  ist  darin  zu  suchen,  dass  es  im  cartesianischen  Geiste  der 
Zeit  wurzelte ;  die  Bedeutung,  welche  es  als  Uebergangserscheinung  füi- 
den  Fortschritt  der  Medizin  besitzt,  liegt  vornehmlich  darin,  dass  es  die 
Ergebnisse  der  empirischen,  der  exakten  Forschung  in  seinen  Kreis  zog, 
und  den  ersten  Vereuch  in  der  Neuzeit  darstellt,  ausschliesslich  auf 
Anatomie.  Physiologie  und  klinischer  Erfahrung  ein  geschlossenes  Lehr- 
gebäude zu  errichten.  In  dieser  Tendenz  sind  seine  Vorzüge  und  auch 
seine  viel  grösseren  Mängel  zu  suchen.  Es  war  einer  der  genialsten 
und  nützlichsten  Irrtümer,  der  weder  zu  tadeln  noch  zu  beschönigen, 
sondern  einfach  als  notwendig  zu  erklären  ist,  es  war  ein  Kraftmass 
für  die  junge,  nur  zu  leicht  überschäumende  Wissenschaft,  das  ihr 
zeigte,  wie  viel  mehr  noch  zu  leisten  ist,  als  geleistet  worden  war.  — 
Die  Hauptquelle  für  die  pathologisch-therapeutischen  Anschauungen 
des  SyMus  bildet  sein  erst  posthum  erschienenes  Werk:  Praxeos 
medicae  idea  nova. 

Sylvius  wusste  wohl,  dass  die  physiologischen  Kenntnisse  seiner 
Zeit  nicht  hinreichen,  um  ein  lückenloses  System  der  Pathologie  auf- 
zubauen, glaubte  aber,  die  Lücken  durch  alte  und  neue  Hypothesen  aus- 
füllen zu  dürfen,  darum  verwertete  er  einerseits  anatomische  Kenntnisse, 
die  Lehre  vom  Blutkreislauf  und  die  schon  sichergestellten  Thatsachen 
der  Chemie  ( saiu-e.  alkalische  Salze),  andererseits  die  alten  Fiktionen  vom 
..Calor  innatus",  von  den  „Spiritus"  (Lebensgeistern)  und  den  neuge- 
iDildeten.  ganz  vagen  Begriff  der  ,.Fermentation".  Diese  „Fermentation" 
erfolge  sowohl  im  Magendarmtrakt,  wenn  die  Nahrung  mit  den  ver- 
schiedenen Drüsensekreten  des  Magendarmtrakts  und  einem  hypo- 
thetischen Milzsekret  zusammentrifft  (wobei  die  Eeaktion  des  Speichels 
und  Pankreassekrets  als  sauer  angenommen  wird),  als  auch  ganz  be- 
sonders im  Blute,  welchem  Galle  und  Lymphe  (das  Produkt  aus  den, 
im  Gehirn  bereiteten  Lebensgeistern  und  den  sauer  reagierenden  Lymph- 
drüsensäften)  beigemischt  werde.  Durch  die  mit  „Effervescenz"  ver- 
bundenen Fermentationen  entstehen  saure  und  alkalische  Stoffe,  welche 
im  Zustand  der  Gesundheit  richtig  gemengt  sind  und  daher  nicht  ein- 
seitig hervortreten.  Uebermässige  Beimengung  eines  der  vielen  Drüsen- 
sekrete oder  die  Entartung  dei^selben,  sei  es  durch  Hyperacidität,  sei  es 
durch  Hjrperalkaünität  verursacht  Krankheit.  Die  ins  Blut  dringenden 
schädlichen  Stoffe  nennt  Sylvius  Schärfen  (acrimonia  acida  et  lixiviosa). 
Besonders  sei  es  die  Galle,  welche  durch  Uebermass  oder  abnoime 
Eeaktion  die  meisten  Krankheiten  erzeuge.  Abgesehen  von  Miss- 
bildungen oder  mechanischen  Störungen  zerfallen  die  Krankheiten  in 
zwei  Gruppen,  in  solche  aus  saurer  und  solche  aus  alkalischer 
Schärfe,  wobei  aber  zahlreiche  Unterarten  untei-schieden  werden, 
je  nachdem  das  eine  oder  andere  Drüsensekret  verändert  ist.  Die 
fieberhaften  Affektionen,  als  deren  wesentlichstes  Sj^mptom  Sylvius 
nicht  die  Temperatui-steigerung,  sondern  die  vermehrte  Pulsfrequenz 
betrachtet,  beruhen  auf  saurer  Entartung,  mit  Ausnahme  der  bösartigen. 


58  Max  Neuburger. 

Das  System  des  Sylvius  stellt  demnach  nichts  anderes  als  eine 
Modifikation  des  Galenismus  dar,  es  ist  vorwiegend  humoralpathologisch 
und  erinnert  in  seiner  Betrachtungsweise  (Mischungsanomalie  der 
Säfte)  vollkommen  an  die  Qualitätenlehre,  nur  dass  den  vorgerückten 
chemischen  Begriffen  durch  entsprechende  Spekulation  Rechnung  ge- 
tragen ist.  Bei  der  klinischen  Beurteilung  der  Krankheiten  war  die 
abnorme  Beschaffenheit  massgebend,  welche  die  Körperbestandteile  in- 
folge falscher  chemischer  Umsetzung  darbieten,  wobei  die  Abweichungen 
in  solche  unterschieden  wurden,  die  bloss  durch  die  Sinne  oder  nur 
durch  kombinierte  Sinnes-  und  Denkthätigkeit  erfassbar  sind.  (Bei- 
spielsweise deute  die  dunkle  Farbe  des  Blutes  auf  Uebermass  von 
Säure,  die  helle  auf  Uebermass  von  Galle.) 

Die  Therapie  des  Sylvius,  soweit  sie  sich  von  theoretischen  Indi- 
kationen leiten  Hess,  wurzelt  ganz  wie  die  galenische  auf  dem  Grund- 
prinzip: Contraria  contrariis.  Demgemäss  kommen  zur  Verbesserung 
oder  Beseitigung  der  abnormen  chemischen  Qualität  „Alterantia" 
(säuerliche  Mittel,  flüchtige  Alkalien)  in  Betracht,  welche  den  hypo- 
thetischen sauren  oder  alkalischen  Schärfen  direkt  entgegen  wirken 
sollen.  Die  Klassifikation  der  Mittel  hinsichtlich  der  Reaktion  wurde 
übrigens  recht  willkürlich  vorgenommen.  Neben  der  streng  kausalen 
Indikation  suchte  Sylvius  aber  auch  darauf  zu  wirken,  dass  die  Kräfte 
des  Kranken  erhalten,  die  Symptome  gelindert,  die  Krankheits- 
produkte entfernt  w^erden.  Diesem  Zw^ecke  diente  die  roborierende 
und  die  ausleerende  Methode  (Brech  -  Abführ  -  S  c  h  w^  i  t  z  m  i  1 1  e  1) , 
während  der  Aderlass  sehr  eingeschränkt  wurde. 

Die  Einfachheit  der  pathologischen  Prinzipien  und  therapeutischen 
Grundsätze  und  zugleich  der  täuschende  Nimbus  von  Wissenschaftlichkeit 
verschaffte  dem  System  viele  Anhänger,  in  den  Niederlanden  schon  deshalb, 
weil  manche  Sylvianer  (Cornelis  Bontekoe,  Theodor  Craanen,  Stephan 
Blankaart)  den  von  holländischen  Kaufleuten  importierten  Thee  und  Kaffee 
als  eine  Panacee  gegen  alle  zu  sauren  und  zu  dicken  Säfte  oder  als  ..blut- 
reinigendes"  Mittel  in  enormen  Dosen  empfahlen.  In  Deutschland 
bildeten  die  protestantischen  Universitäten  Wittenberg  und  Jena  umso  bereit- 
williger das  Hauptlager  der  Chemiatrie,  als  die  Aerzte  durch  den  Para- 
celsismus  für  die  therapeutische  Seite  des  Systems  günstig  voreingenommen 
waren.  Besonders  in  Wittenberg  hatte  einer  der  gelehrtesten  Aerzte,  Daniel 
Sennert  (1572  — 1637),  durch  seine  vermittelnden  Bestrebungen  zwischen 
Galenismus  und  Paracelsismus  vorgearbeitet.  Hauptvertreter  der  Chemiatrie 
unter  den  Deutschen  waren  Michael  Ettmüller  (1644 — 1683),  Georg  Wolf- 
gang Wedel  (1645—1721),  Günther  Christoph  Schellhammer  (1649—1712), 
Job.  Jacob  Waldschmidt  (1644—1687)  und  Joh.  Dolaeus  (1638—1707). 
In  Frankreich,  wo  von  Seite  der  Pariser  Fakultät  die  heftigste  Opposition 
gegen  jede  „impertinente  nouveaute  du  siecle"  (wie  sich  Gui  Patin,  der 
Hauptvorkämpfer  des  ,,saigner"  und  ,,senner"  ausdrückte),  ins  Werk  gesetzt 
wurde,  wandte  sich  bloss  Vieussens  (der  zu  den  ersten  gehörte,  welche  chemische 
Blutuntersuchungen  anstellten)  dem  Systeme  zu,  ebenso  zeigt  sich  nur  bei 
wenigen  italienischen  Aerzten  (Otto  Tachen,  Luc'  Antonio  Portio,  Michel 
Angelo  Andriolli,  teilweise  auch  Bernardino  Ramazzini)  der  chemiatrische 
Einfluss. 

Der  bedeutendste  Vertreter  der  Chemiatrie  wurde  nach  Sylvius 
der  berühmte  englische  Gehirnanatom  und  Ph3'siolog  Thomas  Willis 
(1622 — 1675),  der  sich  auch  um  die  Pathologie  der  Nen^enkrankheiten 


Einleittmg.  59 

(Hysterie)  besondere  Verdienste  erworben  hat.  Willis  vei-stand  es,  para- 
celsiscb-helmontische  Grundsätze,  wie  auch  mechanische  Prinzipien  mit 
dem  Chemismus  kunstvoll  zu  verknüpfen.  Gärung  und  Aufbrausen  der 
Säfte  spielt  die  Hauptrolle,  von  Säuren  und  Alkalien  ist  jedoch  kaum 
die  Eede,  vielmehr  von  drei  Grundsubstanzen,  dem  Salz,  dem  Schwefel 
und  dem  (durch  eine  Art  Destillation  gebildeten)  „Spiritus".  Seine 
Pathologie  und  Therapie  stimmt  in  vielen  Punkten  mit  den  Ansichten 
des  Sylvius  zusammen.  Wie  dieser  ist  Willis  Humoralpatholog  (Xei-ven- 
krankheiten  =  „Dvskrasien")  nur  mit  dem  Unterschied,  dass  er  auch 
mechanischen  Vorstellungen  (Stockungen  der  Säfte)  mehr  Platz  ein- 
räumt und  die  letzte  Quelle  aller  normalen  und  pathologischen  Lebens- 
prozesse in  die  halb  spiritualistisch,  halb  materialistisch  gedachte 
„tierische  Seele"  verlegt. 

Man  kann  sich  nicht  darüber  wundern,  dass  die  chemiatrische 
Richtung  infolge  ihrer  anscheinenden  „Wissenschaftlichkeit"  mehr  als 
ein  Jahrhundert  lang  die  Medizin  theoretisch  und  praktisch  durch- 
setzte, und  bis  heute  in  der  Volksmedizin,  dieser  Sammlung  aller  mög- 
Kchen  Ueberreste  von  obsoleten  Lehren,  die  Spuren  der  Schärfen- 
lehre hinterlassen  hat.  Um  so  rühmenswerter  ist  es,  dass.  abgesehen 
von  den  fiuchtlosen  Fehden  der  konservativen  Galenisten,  eine 
kleine  Zahl  trefflicher  Forscher  ihre  Unabhängigkeit  gegenüber 
dieser  neuen  Form  des  theoretischen  Dogmatismus  und  der  praktischen 
Schablone  wahrte.  Wir  finden  unter  ihnen  bemerkenswerterweise 
den  ausgezeichneten  Chemiker  Robert  Boyle.  den  Historiker  der 
Medizin  John  Freind  (1675 — 1728),  die  um  die  Physiologie  des  17.  Jahr- 
hunderts so  hoch  verdienten  deutscheu  Aerzte  Job.  Conrad  Brunner 
(1653—1727)  und  Johann  Bohn  (1640—1718),  den  berühmten  Polyhistor 
und  Doktor  aller  vier  Fakultäten  Hermann  Conring  (1606 — 1681). 
Diese  Männer  wendeten  sich,  gerade  auf  Grundlage  ihrer  aus- 
gezeichneten chemischen  Kenntnisse,  gegen  die  voreüige  Anwendung 
der  Chemie  auf  die  Pathologie  und  bestritten  auf  experimentellem 
Wege  manche  Hauptsätze  des  Sylvius.  Beispielsweise  zeigte  Bohn, 
dass  der  pankreatische  Saft  nicht  sauer  ist,  dass  die  Galle  mit  Säuren 
nicht  aufbrause  und  leugnete  die  Existenz  des  ..Xervensaftes",  da  ein 
solcher  weder  nach  Unterbindung  noch  nach  Dui'chschneidung  der 
Nerven  nachgewiesen  werden  kann. 

Im  Gegensatz  zu  den  Chemiatern  suchte  eine  andere  Gruppe  von 
Aerzten  in  der  Physik  die  theoretische  Grundlage  der  Medizin.  Aber 
auch  diese  Aerzte,  die  latrophysiker,  kamen  nicht  ganz  ohne 
chemische  Hj'pothesen  aus. 

Den  Ausgangspunkt  nahm  die  Schule  der  latrophysiker  oder 
latromechaniker  von  der  Entdeckung  des  Blutkreislaufs,  das 
Vorbild  fand  sie  in  den  glänzenden  Leistungen  der  Ph3'siker,  den 
besten  theoretischen  Rückhalt  boten  die  Leitsätze  des  Cartesianismus. 

Harvey  selbst  gab  das  ei-ste  Beispiel  der  mechanischen  Betrachtung 
eines  vitalen  Voigangs  und  bewies  aus  rein  mechanischen  Gründen 
die  Richtigkeit  seiner  Entdeckung;  die  Stellung  der  Venenklappen, 
die  Stauungserscheinungen  nach  der  Gefässligatur,  bildeten  die  Haupt- 
argumente seiner  Beweisführung.  Im  Gegensatze  zu  Galen  lehrte  er. 
dass  die  Arterien  sich  passiv,  wie  Schläuche  ausdehnen.  Immer  klarer 
schien  es  den  Forschern,  dass  im  Kreislauf  nur  ein  spezielles 
mechanisches  Problem  vorliege,  das  Problem  der  Flüssigkeits- 
bewegung in  einem  Röhrensystem,  worüber  die  Physiker,  namentlich 


60  Max  Neuburger. 

Toricelli  („Theorien  der  Aiisflussgeschwindigkeit")  volles  Licht  ver- 
breitet hatten. 

Was  lag  näher,  als  konsequent  die  Gesetze  der  Mechanik,  der- 
Hydrostatik,  der  Hydrodynamik,  der  Kapillarität  etc.  unter  Berück- 
sichtigung der  besonderen  anatomischen  Verhältnisse  anfangs  auf  die 
Blutbewegung,  dann  weitergehend  auf  alle  übrigen  physiologischen 
Fragen  anzuwenden  ?  Durch  Rechnung  und  Experiment  gelang  es  den 
latrophysikern  thatsächlich,  einzelne  mechanische  Seiten  des  Organismus 
fast  restlos  zu  enträtseln,  Avie  die  Muskelbewegung,  den  Mechanismus 
der  Atmung,  die  physiologische  Optik,  und  trotz  dürftiger  Mittel  mit 
staunenswerter  Subtilität  die  Experimentaltechnik  auszubilden.  Wer 
wollte  es  den  kühnen  Pionieren  exakter  Forschung,  welche  so  manches 
Kapitel  der  Physiologie  in  so  bewunderungswürdiger  Weise  erschöpften, 
verargen,  dass  sie,  die  Grenzen  ihrer  Leistungsfähigkeit  verkennend, 
auch  dort  „mit  Hebeln  und  mit  Schrauben"  Geheimnisse  der  Natur 
zu  enthüllen  suchten,  wo  die  Zeit  noch  unüberwindliche  Hindernisse 
setzte  ?  Die  Errungenschaften  eines  Kepler,  eines  Galilei,  eines  Newton, 
welche  die  weltbewegenden  Gesetze  feststellten,  versetzten  den  natur- 
wissenschaltlichen  Geist  in  Freudentaumel.  Von  ungemessenen  Hoff- 
nungen angespornt,  noch  nicht  ernüchtert  durch  Misserfolge,  wähnte 
man  das  Lebensproblem  in  greifbare  Nähe  gerückt  und  glaubte  da- 
nach langen  zu  können,  wie  das  Kind  nach  Mond  und  Sternen  langt! 

Gerade  dieses  Bild  erinnert  an  die  eigentümliche  Thatsache,  dass  der 
Mensch  die  Gesetze  des  Planetenumlaufs  früher  erkannte  als  die  Grundzüge 
seiner  Organisation,  als  die  Bewegung  seines  Herzens  und  Blutes.  Das 
Fernste  war  seinem  Verständnis  näher  gerückt  als  das  Nächste.  Es  liegt 
freilich  in  der  relativen  Einfachheit  der  Objekte,  dass  die  Astronomie  bereits 
eine  festgegründete  Wissenschaft  war  zu  einer  Zeit,  wo  die  Biologie  nicht 
einmal  in  den  Kinderschuhen  stak,  aber  eben  gerade  deshalb  fehlte  die 
Erkenntnis,  dass  die  biologischen  Probleme  unvergleichlich  kompliziertere 
Gleichungen  darstellen.  Musste  nicht  der  noch  unerfahrene  Porschergeist 
zum  Schlüsse  kommen,  dass  die  biologischen  Probleme  ebenso  leicht  wie 
die  mechanischen  durch  ßechnung,  durch  Deduktion  aus  mechanischen 
Prinzipien  erschlossen  werden  können  ? 

Die  psychologische  Eechtfertigung  ist  aber  keineswegs  identisch 
mit  der  Beurteilung  von  Leistungen  im  Hinblick  auf  die  Entwicklung 
des  Ganzen,  und  in  dieser  Hinsicht  kann  nicht  verschwiegen  werden, 
dass  die  latrophysiker  zwar  zweifellos  die  exakte  Richtung  in  der 
Physiologie  begründeten  und  eine  Reihe  wertvollster  Leistungen  hinter- 
liessen,  andererseits  aber  in  zu  einseitiger  Verfolgung  eines  einzigen 
Prinzips  auch  viele  Irrwege  einschlugen.  Fassten  Paracelsus  und 
Helmont  den  Begriff  des  Lebens  zu  weit,  so  verfielen  sie  in  das  ent- 
gegengesetzte Extrem.  In  anerkennenswertem  aber  zumal  damals 
noch  nicht  realisierbarem  Bestreben,  die  Heilkunst  auf  wissenschaft- 
liche Basis  zu  stellen,  machten  sie  dasjenige,  was  erst  zu  beweisen 
war,  den  Satz,  dass  sich  das  Leben  in  ein  Spiel  des  Mechanismus 
auflöse,  in  vorschneller  Generalisation  zum  Axiom  und  pressten  die 
Thatsachen  mit  Hilfe  der  allzu  gefügigen  mathematischen  Methode  in 
das  Prokustesbett  der  Hypothese.  Wie  Cartesius,  der  in  seinem  Traktat 
über  den  Menschen  die  Lebensgeister  durch  „Rarefaktion"  des  Blutes 
entstehen  Hess,  die  Muskelbewegung  durch  Einströmen  der  dampf- 
förmigen Spiritus  erklärte,  die  Absonderung  und  Ernährung  auf  die 


Einleitung.  61 

verscilieden  gross  angenommenen  Poren  der  Gefasse  zurückführte, 
übersahen  auch  sie  das  ..Vitale  und  Chemische  dieser  Funktionen" ; 
verführt  von  der  Annahme,  dass  die  Mathematik  an  sich  ein  absolut 
zuverlässiges  Erkenntnismittel  bedeute  (wähi'end  sie  doch  nur  aus 
richtigen  empirischen  Prämissen  richtige  Kesultate  berechnet),  widmeten 
manche  Forscher  ihre  Ki'äfte  den  subtilsten  Berechnungen  imaginärer 
Grössen,  versuchten  sich,  namentlich  die  späteren  latrophysiker,  in 
Lösungen  von  Problemen,  welche  bloss  ihre  mathematische  Phantasie 
ausgeheckt  hatte.  In  neuer  Form  hob  der  Dogmatismus,  die 
Scholastik  ihr  Haupt,  an  Stelle  der  Dialektik  war  nun- 
mehr die  Mathematik  getreten,  welche  nicht  selten  auf 
anscheinend  exaktem  Wege  zu  den  grössten  Verirrungen 
führte! 

Füi*  die  Weiterentwicklung  hatte  die  Epoche  der  latrophysik 
mit  all  ihren  Irrtümern  eine  ausserordentliche  Bedeutung, 
weil  sich  die  Forschung  ihrer  Leistungsfähigkeit,  aber  auch  ihrer 
Schranken  klarer  bewusst  wurde;  im  Leben  folgt  die  Lehre 
von  der  Erkenntnis  den  Erkenntnissen;  das  umgekehrte 
Verhältnis  konstruiert  nur  die  Philosophie. 

Glücklicherweise  betraf  das  L^nheil  mehr  die  Theorie  als  die 
Praxis,  denn  es  muss  zum  Ruhme  der  latrophysiker  gesagt  werden, 
dass  gerade  die  Grössten  unter  ihnen  darin  weise  Selbstbeschränkung 
verrieten,  dass  sie  im  Gegensatz  zu  den  latrochemikern  kein  zusammen- 
fassendes System  der  Pathologie  aufbauten  und  in  der  Therapie 
sogar,  ganz  losgelöst  von  ihren  Theorien,  eklektischer  Empirie  huldigten. 
Besonders  nachwirkend  in  der  Folgezeit  waren  die  Theoreme,  welche 
sie  in  der  Lehre  von  der  Entzündung,  vom  Fieber,  von  den  Krämpfen 
aufstellten. 

Als  Vorläufer  der  iatromechanischen  Schule  wird  Santorio  Santoro 
(1561 — 1636).  Professor  zu  Padua  und  Venedig,  betrachtet,  der  in 
seiner  ..Ai^  de  statica  medicina"  (1614)  die  Resultate  von  30jährigen 
Untersuchungen  veröffentlichte,  die  er  in  den  verschiedensten  physio- 
logischen und  pathologischen  Zuständen  an  sich  selbst  mit  Wage, 
Thermometer.  Hygrometer  und  Pulsmesser  („Pulsilogium")  vorgenommen 
hatte.  Das  Hauptergebnis  derselben  formulierte  er  in  der  Behauptung, 
dass  die  ,.Perspiratio  insensibilis",  d.  h.  die  unmerkliche  Ausdünstung, 
den  wichtigsten  Massstab  der  Gesundheit  und  Krankheit  bilde.  Wie- 
wohl seine  Berechnungen  schon  deswegen  gänzlich  fehlerhaft  sind, 
da  die  Exhalation  der  Lungen  von  der  der  Haut  nicht  getrennt  wurde, 
so  bilden  die  Versuche  doch  den  Ausgangspunkt  aller  weiteren  Stoff- 
wechseluntersuchuugen. 

Eigentlich  inauguriert  wurde  die  latrophysik  von  BoreUi,  welcher 
Fieber,  Schmerz  und  Krampf  in  letzter  Linie  von  Störungen  in  der 
Bewegung  des  Xervensaftes,  von  Verstopfung  der  Einmündung  der 
Nerven  in  die  Hautdrüsen  etc.  ableitete.  Sein  Schüler  Lorenzo  Bellini 
(1643-1704)  stellte  (auf  Grund  der  Entdeckung  der  Blutkörperchen) 
die  an  Erasistratus  erinnernde  Lehre  auf,  dass  eine  Stockung  des 
Blutes  in  dem  Kapillarsystem  infolge  vermehrter  Reibung,  die  Spätere 
sogar  in  Zahlen  ausdrücken  wollten,  die  Hauptui'sache  der  verschiedensten 
fieberhaften  und  entzündlichen  Krankheiten  bilde. 

Den  Höhepunkt  erreichte  die  italienische  latrophj^sik  in  dem  be- 
rühmten Schüler  Malpighis,  Giorgio  Baglivi  (1669—1707).  Er  ging 
in  der  mechanischen  Deutung  der  Lebensvorgänge  noch  weiter  als 


62  Max  Neuburger. 

seine  Vorgänger  und  trieb  die  mechanische  Allegorie  auf  die  Spitze, 
er  zerlegte  die  grosse  Körpermaschine  in  lauter  kleine  Maschinen, 
er  verglich  die  Zähne  mit  Scheren,  den  Magen  mit  Flaschen,  die 
Gefässe  mit  Röhren,  das  Herz  mit  dem  Stempel  einer  Wasserkunst, 
die  Eingeweide  und  Drüsen  mit  Sieben,  den  Thorax  mit  einem  Blase- 
balg u.  s.  w.  Die  Absonderung  erklärte  er  aus  den  verschiedensten 
Durchmessern  der  absondernden  Gefässe,  die  chemischen  Prozesse 
aus  der  Figur  der  kleinsten  Teile,  die  letzte  Ursache  der  Motilität 
verlegte  er  in  die  Dura  mater,  welche  nach  den  Beschreibungen  des 
Pacchioni  einen  aus  drei  Muskeln  und  vier  Sehnen  bestehenden  Be- 
w'egungsapparat  darstellen  sollte.  Das  pathologische  System  des 
Baglivi  beruhte  auf  einer  Erneuerung  des  antiken  Methodismus,  denn 
im  wesentlichen  liess  er  alle  Kraukheitsphänomene  aus  Ver- 
mehrung oder  Verminderung  des  Tonus  der  festen  Teile 
hervorgehen.  Gerade  dieser  konsequente  Denker  war  es  aber,  der  den 
Gegensatz  zwischen  der  wissenschaftlichen  Forschung  und  den  prak- 
tischen Erfordernissen  klar  erkannte  und  in  weiser  Vorsicht  das  Wohl 
der  Kranken  von  den  Tagesströmungen  der  Theorie  nicht  abhängig 
machen  wollte.  Als  Arzt  dringt  er  in  erster  Linie  auf  sorgsame  Be- 
obachtung am  Krankenbette,  als  Praktiker  findet  er  nicht  in  der  Physik, 
sondern  in  hippokratischer  Empirie  die  Richtschnur  für  sein  Vorgehen ; 
beim  Eintritt  ins  Krankenzimmer  ignoriert  er  die  Schlüsse  einer  unreifen 
Laboratoriumslogik.  In  ähnlicher  Weise  sprach  sich  auch  Giuseppe 
Donzellini  für  die  Trennung  von  Theorie  und  Praxis  aus.  Leider 
aber  setzte  diese  gesunde  Anschauung  einen  provisorischen  Verzicht  vor- 
aus, dem  sich  der  rastlose  Kausaltrieb  der  wenigsten  zu  unterwerfen 
verstand,  vielmehr  begannen  manche  der  späteren  latrophysiker  sogar 
die  Krankenbehandlung  in  die  mathematisch-physikalische  Richtung 
zu  drängen,  indem  sie  allerlei  Apparate  (sogar  pneumatische  Kammern 
und  Centrifugalmaschine)  vorübergehend  zur  Anwendung  brachten. 

Neben  Italien  war  besonders  England  eine  Hauptpflegestätte  der 
latromechanik,  wo  James  Keill  (1673—1719)  sogar  nach  den  Gesetzen 
der  höheren  Mathematik  eine  Anzahl  physiologischer  Fragen  (^lut- 
bewegung,  Herzarbeit)  zu  lösen  versuchte  und  Archibald  Pitcairn 
(1652 — 1713)  die  gesamte  praktische  Medizin,  selbst  die  Therapie  durch 
mechanische  Grundprinzipien  begründen  wollte.  Unter  dem  Einfluss 
Newtons  erstreckten  sich  derartige  Bestrebungen  weit  ins  18.  Jahr- 
hundert. In  Frankreich,  wo  Pierre  Chirac  (1650—1732)  und  Hecquet 
(1661 — 1737)  die  praktische  Anwendung  mechanischer  Grundsätze 
eifrig  verfochten,  während  Denys  Dodart  (1634 — 1707)  und  Claude 
Perrault  (1613 — 1688)  nur  die  Physiologie  in  diesem  Sinne  bearbeiteten, 
fand  das  System  erst  viel  später  eine  geringe  Anhängerschaft.  Dasselbe 
war  auch  in  Deutschland  der  Fall. 

Wie  schwankend  die  Basis  noch  war,  geht  am  besten  daraus 
hervor,  dass  sich  die  Anhänger  der  verschiedenen  wissenschaftlichen 
Richtungen  derselben  Heilmittel  bedienten,  ihre  Wirkung  aber  schein- 
bar exakt  je  nach  dem  eingenommenen  Standpunkt  „rationell"  er- 
klärten. Wie  sehr  das  17.  Jahrhundert  darin  späteren  Epochen  glich, 
bedarf  keiner  Hindeutung,  nur  sei  erwähnt,  dass  schon  damals,  neben 
der  physikalischen  und  chemischen  sich  auch  die  biologische  Richtung 
in  den  ersten  Anfängen  geltend  machte,  insofern  eine  kleine  Zahl  von 
Forschern  die  Infektionskrankheiten  von  kleinen  Lebewesen  ent- 
stehen liess  und  direkt  gegen  diese  ihre  therapeutischen  Massnahmen 


Einleitung.  63 

richtete.  Ausgehend  von  den  mikroskopischen  Entdeckungen  Leeuwen- 
hoeks  (Infusorien,  Hefepilze.  Bakterien  i,  von  den  Befunden  des  genialen 
Jesuiten  Athanasius  Kircher,  begründeten  die  Leipziger  Professoren 
August  Hauptmann  (1607 — 1674),  Christian  Joh.  Lange  (1655—1701) 
und  Aug.  Quirinus  Eivinus  (1652 — 1723)  die  „Pathologia  animata", 
wonach  die  meisten  Affektionen  (sogar  Gicht,  Epilepsie,  Magengeschwür) 
auf  „Yermes"'  oder  Milben  zurückgeführt  und  demgemäss  eine  anti- 
toxische Therapie  empfohlen  wurde. 

In  der  Therapie  machten  sich  die  exakten  Bestrebungen  schon 
dadurch  geltend,  dass  mancher  der  abenteuerlichen  Arzneistoffe,  wie 
z.  B.  das  Einhorn,  der  Bezoar  wenigstens  teilweise  in  den  Hintergrund 
gedrängt  wurde,  und  dass  man  durch  chemische  Analyse  (z.  B.  der 
Mineralquellen)  die  Indikation  für  die  Anwendung  der  Arzneimittel 
genauer  festzustellen  begann.  Den  schönsten  Ausdruck  aber  fanden 
sie  in  der  Erfindung  von  zwei  Methoden,  welche  wegen  mangelhafter 
Technik  zwar  damals  rasch  aufgegeben  werden  mussten,  in  neuester 
Zeit  aber  wieder  aufgenommen  wurden.  Es  waren  dies  die  Infusion 
von  Arzneimitteln,  welche  z.  B.  die  deutschen  Aerzte  Joh.  Daniel  Major 
und  Sigismund  Elsholtz  vorzunehmen  wagten,  und  die,  im  Anschluss 
an  die  Entdeckung  des  Blutkreislaufs  ersonnene  Transfusion. 

Am  Menschen  wurde  die  Transfusion  nach  experimenteller  Vorprüfung 
zuerst  von  dem  Pariser  Professor  und  späteren  Leibchirurgen  Ludwig  XIV. 
Jean  Baptiste  Denis  (^  1704)  im  Jahre  1667,  ausgeführt,  sehr  bald  darauf 
von  den  Engländern  Edmund  King  und  Richard  Lower,  von  den  Italienern 
Giov.  Riva  und  Paolo  Manfredi,  zuletzt  von  den  deutschen  Aerzten  Balthasar 
Kaufmann  und  Purmann. 

Weit  grössere  Bereicherung  als  den  wissenschaftlichen  An- 
strengungen dankte  der  Heilschatz,  welcher  leider  noch  immer  mit 
unzähligen  mj'stischen  Mitteln  (auch  menschlichen  und  tierischen  Aus- 
wurfstoffen) überfüllt  war,  dem  gesteigerten  Verkehr  mit  tropischen 
Ländern  und  der  Empirie;  die  Ipecacuanhawurzel,  der  Kirschlorbeer, 
die  Radix  Colombo,  Digitalis,  Baldrian,  der  beim  Volke  seit  alter  Zeit 
in  Ansehen  stehende  und  von  den  Paracelsisten  empfohlene  Arsenik 
(gegen  Wechselfieber,  Krebs  etc.)  und  manche  andere  nützliche  Medi- 
kamente fanden  Aufnahme  und  zunehmende  Verbreitung. 

Von  grösster  praktischer  und  bis  in  die  neueste  Zeit  fortwirkender 
theoretischer  Bedeutung  wurde  aber  die  Einführung  der  Chinarinde, 
welche  zuerst  Juan  del  Vego,  der  Arzt  des  Vizekönigs  von  Peru,  im 
Jahre  1640  nach  Europa  brachte.  Wie  eine  Ironie  der  Geschichte 
nimmt  es  sich  aus,  dass  dieses  Mittel  gerade  zur  Zeit  der  „ratio- 
nellen" therapeutischen  Bestrebungen  auftauchte!  Die  überraschenden 
Erfolge,  welche  die  Aerzte  mit  der  Chinarinde  beim  Wechselfieber 
erzielten,  waren  eine  Thatsache,  an  der  sich  nicht  rütteln  liess.  Die 
Erklärung  ihrer  Wirkungsweise  bildete  aber  für  die  Schulsysteme 
eine  Schranke,  welche  nur  scheinbar  mit  allerlei  Kunstgriffen  über- 
wunden werden  konnte.  Kein  anderes  Ereignis  hat  in  so 
hohem  Grade  dazu  beigetragen,  die  Mängel  des  Gale- 
nismus,  aber  auch  der  Chemiatrie  und  latromechanik 
zu  enthüllen,  wie  die  Einführung  der  Chinarinde,  und 
ohne  Widerspruch  fürchten  zu  müssen,  darf  behauptet 
werden,  dass  ihre  anscheinend  rätselhafte  Wirkung 
wiederholt  im  Laufe  der  Geschichte  zu  einer  skeptischen 


64  Max  Neuburger. 

Beurteilung  oder  gar  Verwerfung  des  gerade  herrschen- 
den Dogmatismus  Anlass  gab! 

Die  Galenisten  waren  am  übelsten  daran,  denn  nicht  allein,  dass 
durch  das  neue  „Arcanum"  die  „ausleerenden  und  auflösenden"  Mittel, 
welche  man  bisher  oft  monatelang  gegen  Wechselfleber  verwendete, 
überflüssig  wurden,  ihr  ganzes  System  erlitt  durch  die  Chinarinde  den 
schwersten  Stoss,  da  sie  das  Fieber  ohne  irgend  eine  Ausleerung  der 
hypostasierten  „verderbten  Säfte"  beseitigte.  War  beim  Quecksilber 
noch  ein  Ausweg  geblieben,  insofern  die  profuse  Speichelabsonderung 
im  Sinne  einer  kritischen  Ausleerung  entarteter  Stoffe  gedeutet  werden 
konnte,  hier  fehlte  auch  diese  letzte  Ausflucht  gänzlich.  Mit  Recht 
verglich  schon  Eamazzini  (1633 — 1714)  den  durch  die  China  in  der 
Medizin  herbeigeführten  Umschwung  mit  demjenigen,  welchen  in  der 
Kriegskunst  das  Schiesspulver  bewirkte.  Es  ist  daher  psychologisch 
völlig  begreiflich,  dass  die  Konservativen  das  neue  Mittel  so  viel  als 
möglich  anfeindeten,  bald  die  Nutzlosigkeit,  bald  die  Schädlichkeit 
hervorhoben  und  die  anfangs  irrationelle  Anwendung  weidlich  zu 
ihrem  Vorteil  ausnützten.  Den  wackeren  Verteidigern  Onorato  Fabri, 
Sebast.  Baldi,  Eamazzini,  Francesco  Albertini,  Sydenham,  Morton, 
Conrad  Peyer  und  Paul  Gottlieb  Werlhof,  allen  voran  aber  Francesco 
Torti,  war  der  rasche  Sieg  der  guten  Sache  zu  danken.  Die  latro- 
chemiker  und  latrophysiker  machten  es  sich  freilich  leicht,  indem  sie 
dem  neuen  Mittel  die  Kraft  andichteten,  die  Gärung  des  Blutes,  den 
gefässverstopfenden  Schleim  zu  tilgen,  oder  aber  davon  phantasierten, 
dass  die  Chinarinde  das  zu  dicke  oder  zu  dünne  Blut  beseitige,  den 
Tonus  der  Fasern  stärke  u.  s.  w.  Aber  gerade  der  Widerspruch 
zwischen  den  vielerlei  „rationellen"  Erklärungen  musste  den  geraden 
Sinn  jedes  nüchternen  Denkers  abschrecken,  musste  ihm  Misstrauen 
gegen  die  Systeme  einflössen,  umsomehr  als  sich  immer  mehr  be- 
gründete Zweifel  über  ihre  Zuverlässigkeit  schon  infolge  der  traurigen 
Erfahrungen  erhoben,  die  man  im  Verlauf  der  grauenvollen  Epidemien 
des  17.  Jahrhunderts  zu  machen  Gelegenheit  hatte. 

So  wurde  denn  durch  die  Saat  der  Skepsis  der  Boden  vorbereitet, 
den  einer  der  grössten  Aerzte  aller  Zeiten  mit  der  Pflugschar  seines 
Geistes  neu  umackern  sollte.  Wir  sprechen  von  Thomas  Syden- 
ham (1624 — 1689),  dem  englischen  Hippokrates. 

Das  grosse  Ziel  der  Theoretiker,  die  Medizin  in  eine  Naturwissen- 
schaft umzuwandeln,  war  wohl  mit  unvollkommenen  Mitteln  unter 
grossen  Anstrengungen  angestrebt  worden,  das  praktische  Ergebnis 
bestand  aber  vorerst  nur  darin,  dass  man  immer  mehr  von  der  unbe- 
fangenen Krankenbeobachtung,  von  der  naturgemässen,  den  indivi- 
duellen Bedingungen  angepassten  Therapie  abgewichen  war.  Durch 
die  Brille  eines  phantastischen  chemisch-physikalischen  Doktrinarismus 
sah  man  nur  aprioristisch  konstruierte  Schemen,  keineswegs  aber  die 
natürlichen  Krankheitsbilder,  wie  sie  das  Leben  in  kaleidoskopartiger 
Mannigfaltigkeit  emporwirbelt,  und  alles,  was  nicht  ins  Schubfach  der 
Hypothesen  passte,  blieb  einfach  unberücksichtigt. 

Im  Hinblick  auf  die  Gesamtentwicklung  war  es  daher  nur  vor- 
teilhaft, wenn  die  Medizin,  unbeschadet  der  weiteren  selbständigen 
Entwicklung  der  Hilfsfächer,  neuerdings  an  die  Grundwahrheiten  des 
Hippokratismus,  an  eine  der  Natur  abgelauschte  Empirie  anknüpfte 
und  einstweilen  die  wissenschaftliche  Begründung  den  praktischen 
Zwecken  der  Heilkunst  hintanstellte.    Aber  schon  war  der  Eationalis- 


Einleitung.  65 

mus  der  Zeit  über  den  naiven,  künstlerischen  Sinn  des  Hellenentums 
zu  weit  hinausgeschritten,  und  ebenso  wenig,  als  die  Künstler  und 
Philosophen,  ti'otz  aller  gewollten  Anlehnung,  jetzt  noch  wie  die 
Griechen  fühlen,  sehen,  denken  konnten,  war  es  den  Aerzten  möglich, 
im  Hippokratismus  ganz  aufzugehen,  von  all  dem  ganz  abzusehen, 
was  die  Kulturarbeit  der  letzten  Jahrhunderte  zutage  gefördert  hatte. 
Es  genügte  daher  nicht,  den  Urtext  des  grossen  Koers  immer  weiteren 
Ivi'eisen  zugänglich  zu  machen,  zu  übersetzen  oder  zeitgemäss  zu 
kommentieren  —  worin  sich  namentlich  Antonides  van  der  Linden 
und  Rene  Chartier  (durch  Hippokratesausgaben),  Thomas  Burnet  und 
Thomas  Reinesius  (durch  Auszüge),  Prospero  Martiano  (Kommentare) 
auszeichneten  — ,  sondern  ein  von  hippokratischen  Prinzipien  durch- 
setzter, aber  mit  den  wissenschaftlichen  Anschauungen  des  Jahrhunderts 
wohl  vertrauter,  überlegen  denkender  Arzt  musste  die  Führerstimme 
erheben,  musste  in  der  Sprache  des  Zeitalters  den  falschen  Bestrebungen 
Einhalt  gebieten,  dui'ch  sein  lebendiges  Beispiel  den  Weg  der  Er- 
fahrung erschliessen.  Dieser  Arzt  war  Sydenham,  der  Freund  des 
Philosophen  und  ^Ikfediziners  John  Locke,  der  die  sinnliche  Wahi'- 
nehmung  und  die  dadurch  angeregte  Reflexion  für  die  einzigen  Quellen 
der  Erkenntnis  erklärte.  Dasselbe  Land,  das  der  Medizin  den  Be- 
gründer der  exakten  Methode  (Harvey)  geschenkt  hatte,  gebar  auch 
den  neuen  Herold  der  streng  sachlichen  Empirie,  welcher  es  sich  zur 
Aufgabe  setzte,  Bacons  Lehre  endlich  auf  die  Heilkunst  zu  übertragen. 

Wie  Bacon  verzichtet  der  englische  Hippokrates  auf  ein  ab- 
gerundetes System,  wie  der  Philosoph  der  Induktion  hätte  auch  er 
sagen  können:  „Es  gehört  notwendig  zu  meiner  Denkweise,  dass  sie 
den  Abschluss  nicht  sucht  und  nicht  will.  Genug,  dass  ich  die  not- 
wendigen Ziele  bezeichne,  den  richtigen  Weg  angebe,  selbst  einen 
Teil  dieses  Weges  zurücklege.  Das  Uebrige  überlasse  ich  den  kommen- 
den Generationen  und  Jahrhunderten."  Und  doch  hat  gerade  dieser 
grosse  Arzt  mehr  als  ein  Jahrhundert  (bis  herab  zur  Wiener  Schule) 
die  Medizin  beeinflusst,  und  noch  heute  nennt  man  ihn  unter  den 
Meistern  klinischer  Beobachtungskunst,  während  die  blendenden  Systeme 
seines  Zeitalters  vergessen  am  Grunde  des  Zeitmeers  ruhen. 

Sicherlich  wurzelt  auch  Sydenham  in  seiner  Zeit,  mit  der  er  manches 
damals  für  ein  Axiom  gehaltenes  dogmatisches  Vorurteil  teilt,  aber  bei 
ihm  deckt  der  Arzt  den  Theoretiker,  nicht  umgekehrt;  ebenso  gewiss  ist 
es,  dass  er  den  kommenden  Wert  der  Hilfsfacher,  namentlich  der  patho- 
logischen Anatomie  weit  weniger  erfasste,  als  der  geniale  Laie  Bacon 
oder  Harvey;  ja,  es  muss  sogar  zugestanden  werden,  dass  seine  Lehren 
theoretisch  zur  Aufstellung  mancher  willkürlicher  Ontologien,  praktisch 
zu  therapeutischen  Ausschreitungen  (übertriebene  Anwendung  der 
Veuäsektion)  Anlass  gab,  aber  trotzdem,  im  Rahmen  seines  Jahr- 
hunderts betrachtet,  überwiegen  die  Lichtseiten,  und  sicherlich  darf 
man  es  seinem  glücklichen  Eingreifen  am  meisten  zuschreiben,  dass 
die  englische  Medizin  seither  die  Wege  der  gesunden  Empirie  niemals 
mehr  verlassen  hat. 

Die  Grundanschauungen  Sydenhams  nehmen  von  Hippokrates.  den 
er  zwar  in  höchstem  Grade,  aber  nicht  in  blindem  Autoritätsglauben 
verehrt,  ihren  Ausgangspunkt  und  erinnern  in  mancher  Hinsicht  an 
die  Auffassungen  des  Paracelsus,  denen  sie  freilich  an  Gedankenhöhe 
nicht  gleichkommen.  Wie  Hohenheira  betrachtet  er  die  Krankheit  als 
einen    sich    gesetzmässig     verlaufenden     Entwicklungs- 

Handbnch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  5 


66  Max  Nenburger. 

prozess  mit  eigener  Naturgeschichte,  als  eine  parasitische  niedere 
Lebensform;  wie  Hohenheim  leuchtet  ihm  das  Utilitätsprinzip ,  das 
Heilen  als  Hauptzweck  aller  Forschung  voran,  wobei  er  aber  mehr 
nach  gründlicher  Indikationsstellung  als  nach  Arcanen  strebt;  wie 
Hippokrates  findet  er  den  Kompass  seiner  ärztlichen  Thätigkeit  im 
Walten  der  Physis,  der  Naturheilkraft,  ohne  aber  zu  verkennen,  dass 
ihre  mangelhafte  Reaktion  energisches  ärztliches  Einschreiten  erfordert. 
In  jedem  der  berührten  Punkte  treten  also  Unterschiede  hervor,  welche 
von  seiner  geistigen  Selbständigkeit,  vom  Einfluss  der  Zeitanschauungen 
Zeugnis  geben. 

Im  Sinne  des  Philosophen  der  Induktion  bildet  bei  Sydenham  die 
unbefangene,  objektive  Untersuchung  des  Kranken,  die  kritische 
Beobachtung  der  wesentlichen  Symptome,  die  Krankheits- 
beschreibung die  Grundlage  aller  Weiteren  Schlüsse,  alles  thera- 
peutischen Handelns.  Glänzende  Muster  bilden  die  meisterhaften 
Krankheitsbilder,  welche  er  von  der  Hysterie  und  Chorea,  von  der 
Gicht,  Pleuritis,  katarrhalischen  Pneumonie,  vom  Rheumatismus,  Ery- 
sipel und  Croup  entworfen  hat.  Aus  der  Charakteristik  der  Krankheit 
sind  die  accidentellen,  d.  h.  durch  individuelle  Umstände  (Alter,  Kon- 
stitution etc.)  oder  durch  Arzneien  erzeugten  Symptome  auszuscheiden. 
Nicht  aus  einzelnen,  sondern  aus  einer  grossen  Reihe  von  Erfahrungen 
lassen  sich  auf  diese  Weise,  frei  von  Phantasie  und  Hypothese,  die 
Grundformen,  die  Krankheitstypen  (Spezies)  fixieren,  so  ^xie  es  von 
den  Botanikern  in  betreff  der  Pflanzen  geschehe. 

,,Primo  expedit,  ut  morbi  omnes  ad  definitas  ac  certas  species  revocentur, 
eadem  prorsus  diligentia  ac  äyiQißela  qua  id  factum  videmus  a  botanicis 
ßcriptoribus  in  suis  phytologiis.*' 

Sydenham  forderte  eine  scharfe  Klassifikation  der  Krankheiten, 
und  zwar  nicht  bloss  auf  Grund  einer  sorgfältigen  Symptomatologie 
in  ihren  verschiedenen  Entwicklungsstadien,  sondern  auch  unter  Be- 
rücksichtigung der  äusseren  Entstehungsbedingungen  („causae  con- 
junctae"),  der  Aetiologie;  denn  es  entging  seinem  Scharfblick  nicht, 
dass  die  bisherige  Pathologie  einerseits  ohne  sichere  Anhaltspunkte 
Krankheitstypen  ganz  willkürlich  aufstellte,  andererseits  aber,  dem 
Wesen  nach  gänzlich  verschiedene  Affektionen,  nur  weil  sie  in  den 
Symptomen  untereinander  übereinstimmten,  zusammenwarf.  Durch 
die  besondere  Hervorhebung  der  Aetiologie  als  eines  entscheidenden 
Faktors  und  durch  die  genetische  Betrachtung  der  Krankheiten  in 
ihrem  Entstehen,  Wachsen  und  Vergehen  (nach  Analogie  der  Lebe- 
wesen), wobei  die  Symptome  teils  von  den  Krankheitsursachen,  teils 
von  den  Heilbestrebungen  des  Organismus  abgeleitet  werden,  hat 
Sydenham  dem  Begriff  des  Krankheitsprozesses,  ähnlich  wie 
Paracelsus,  eine  bestimmtere  Fassung  verliehen. 

Aber  so  bedeutungsvoll  dieser  Gedanke  war,  in  seiner  Durchführung 
zeigt  sich  die  ganze  Eückständigkeit  der  Zeit;  da  Sydenham  über  das  Rüst- 
zeug der  pathologischen  Anatomie  nicht  verfügte,  ja  sogar  das  spärliche 
pathologisch-anatomische  Wissen  seiner  Zeit  unberücksichtigt  liess,  weist 
auch  seine  Krankheitsklassifikation  vielerlei  Willkürlichkeiten  auf,  und  was 
noch  schlimmer  ist,  er  muss  auf  der  Suche  nach  dem  Wesen  der  Krank- 
heitsprozesse ganz  hypothetische  Grundstörungen,  z.  B.  Entzündung  des 
Blutes,  Verschleimung  des  Blutes,  Ataxie  der  Lebensgeister  etc.  annehmen. 
Die   wenigen  Hypothesen,    welche    Sydenham    übrigens    anwendet,    wenn    es 


Einleitung.  67 

sich  um  die  letzten  Ursachen  des  Krankheitsprozesses  handelt,  erscheinen 
ihm  im  Gesichtskreis  des  Zeitalters  begreiflicherweise  nicht  als  Spekulationen, 
sondern  als  Axiome  oder  aus  der  Erfahrung  hervorgegangene  Folgerungen, 
sie  stehen  subjektiv  nicht  im  Widerspruch  mit  seinen  hippokratischen 
Tendenzen,  denn  immer  zeigt  erst  die  weitere  Entwicklung, 
wie  viel  von  dem,  was  ein  Zeitalter  als  ausgemachte  Wahr- 
heit annahm,  nur  Hypothese  war.  So  waren  auch  für  Sydenham 
die  Humores,  ihr  Aufbrausen,  ihre  Kochung  und  Gärung  zum  Teil  That- 
sachen,  die  sich  von  selbst  verstanden. 

Die  Haupteinteilung  der  Krankheiten  beruht  bei  Sydenham  auf 
dem  Wesen  derselben,  auf  der  Art,  mit  welcher  die  Naturheilkraft 
auf  die  Krankheitsreize  reagiert,  und  auf  den  ätiologischen  Faktoren. 

Demgemäss  unterscheidet  er  zunächst  materielle  und  dynamische 
Krankheiten,  wobei  die  ersteren  auf  Anomalie  der  Säfte,  letztere  auf 
Veränderungen  oder  Bewegungsstörung  des  „Spiritus"  zurückgeführt 
werden.  Ferner  zerfallen  die  Krankheiten  in  akute  oder  chronische, 
je  nachdem  die  Selbsthilfe  der  Natur  gegen  die  schädlichen 
Einwirkungen  der  Aussenwelt  schnell  und  energisch  erfolgt  (akute 
Aifektionen)  oder  aber  nur  ungenügend  von  statten  geht,  sei  es  dass 
die  Lebensthätigkeit  zu  schwach  ist,  sei  es  dass  die  Krankheitsstoffe, 
welche  vorzugsweise  von  selbstverschuldeten  diätetischen  Einflüssen 
herrühren,  zur  sofortigen  Ausscheidung  ungeeignet  sind  (chronische 
Affektionen).  Sehr  wichtig  ist  die  Einteilung  in  sporadische  oder 
interkurrierende  und  epidemische  Krankheiten,  von  denen  die  ersteren 
durch  Erhitzung,  Erkältung  etc.  entstehen,  auch  von  den  Jahreszeiten 
und  Witterungseinflüssen  abhängig  sind,  während  die  letzteren  durch 
verborgene  Schädlichkeiten  der  Atmosphäre,  Miasmen,  die  dem  Innern 
des  Erdkörpers  entstammen,  hervorgerufen  werden.  Diesen  dunklen, 
kosmiscli-tellurischen  Einflüssen  ist  auch  der  Genius  epidemicus, 
die  Constitutio  epidemica  s.  stationaria  zuzuschreiben,  vermöge  dessen 
alle  in  der  betreffenden  Zeit  vorkommenden  (auch  interkurrenten) 
Affektionen  einen  mehr  oder  weniger  gleichartigen  (z.  B.  pestartigen, 
skorbutischen,  ruhr-wechselfieberartigen)  Charakter  annehmen,  auf 
einer  gewissen  Grund-  oder  Urform,  einem  stehenden  Fieber,  beruhen. 

Innerhalb  des  Genius  epidemicus  bilden  sich  verschiedene  Formen,  je 
nach  dem  Grade  der  Entwicklung  aus;  so  könnten  während  der  Constitutio 
variolosa  eine  febris  variolosa  sine  eruptione,  zur  Zeit  der  Constitutio 
dysenterica,  eine  febris  dysenterica  sine  dysenteria  vorkommen  etc.  Der 
Grund,  weshalb  trotz  Wesensgleichheit  so  mannigfaltige  Formen  unter  der 
Herrschaft  eines  bestimmten  Genius  epidemicus  in  Erscheinung  treten^  ist 
in  der  Individualität  zu  suchen,  da  die  Natur  bald  dieses  oder  jenes  Organ 
zur  Ausstossung  der  eingedrungenen  Schädlichkeit  wählt.  Gleichzeitig  auf- 
tretende epidemische  Krankheiten  gelten  als  identisch,  ausser  dass  sich  eine 
neue  Krankheitskonstitution  entwickelt. 

Mit  weitem  Blick,  auf  Grund  seiner  langjährigen  scharfsinnigen 
Beobachtungen  regte  Sydenham  durch  die  Ausbildung  der  schon  im 
Altertum  begründeten  Katastaseologie  die  interessantesten  Probleme 
der  Seuchenlehre  an.  Er  warf  die  Frage  auf,  ob  die  Seuchen  Gesetzen 
unterliegen,  die  den  Rhythmus  ihrer  Wiederkehr,  den  Tj-pus  ihres 
Verlaufs,  die  Intensität  ihres  Auftretens  regeln;  er  machte  auf  ihre 
geographischen  Verschiedenheiten  aufmerksam  und  war  geneigt,  nicht 

5* 


68  Max  Neuburger. 

nur  den  einzelnen  Krankheitsfall,  sondern  die  Seuchen  als  solche,  in 
ihrem  Entstehen,  Wachsen  und  Vergehen,  in  ihrer  Vorliebe  für  gewisse 
Orte  und  Jahreszeiten  mit  Organismen  zu  vergleichen.  Manche  seiner 
Vorahnungen  hat  die  spätere  Erfahrung  bestätigt,  manche  seiner 
Probleme  harren  noch  der  Lösung.  Die  Lehre  vom  „Genius  epidemi- 
cus"  insbesondere  hat  im  Lichte  der  Bakteriologie  einen  gewissen 
Grad  von  Wahrscheinlichkeit  erlangt,  allerdings  abzüglich  ihrer  starken 
Uebertreibung.  Zur  Zeit  Sydenhams  und  auch  später  musste  sie  dagegen 
wegen  mangelnder  diagnostischer  Hifsmittel  zu  vielerlei  Missgriffen 
führen. 

Nach  seinen  therapeutischen  Grundsätzen  gehört  Sydenham  prin- 
zipiell zu  den  teleologischen  Physiatrikern,  insofern  er  dem  Wirken 
der  Naturheilkraft  einen  ausserordentlich  grossen  Spielraum  beimisst 
und  ausser  dem  Fieber  viele  Krankheitserscheinungen  (sogar  die  Gicht- 
anfälle) als  Heilbestrebung  der  Physis  auffasst.  Dennoch  räumt  er 
auch  dem  Arzte  ein  weites  Feld  für  seine  Thätigkeit  ein,  da  es  die 
Heilvorgänge,  welche  bald  zu  stürmisch,  bald  zu  schwach  verlaufen, 
zu  regeln  gilt.  Von  einer  rein  exspektativen  Behandlung,  wie 
sie  sein  Zeitgenosse  Gideon  Harvey  befürwortete,  ist  durchaus  nicht 
die  Rede.  Abgesehen  von  einem  hygienisch- diätetischen  Verfahren, 
machte  er  entsprechi^nd  der  Annahme,  dass  „Entzündung  des  Blutes" 
die  Grundursache  der  meisten  Krankheiten  bilde,  vom  Aderlass 
einen  höchst  übertriebenen  Gebrauch,  nebstdem  kamen  Opium,  das 
auch  Paracelsus  befürwortete,  Brech-  und  Abführmittel,  Eoborantia, 
(namentlich  China  und  Eisen)  zur  Anwendung,  während  er  die  Diapho- 
retica  und  Reizmittel  der  Chemiatriker  aus  theoretischen  und  praktischen 
Erwägungen  verwarf.  Die  angeblichen  Specifica  seiner  Zeitgenossen 
verwarf  er  wegen  ihres  Unwertes,  hingegen  hoffte  er  von  der  Zukunft, 
dass  es  mit  fortschreitender  Erkenntnis  des  Krankheitswesens  gelingen 
werde,  „Arcana"  zu  finden,  welche  ebenso,  wie  die  Chinarinde,  die 
letzten  Krankheitsursachen  direkt  bekämpfen  und  daher  die  oft  un- 
sicheren Heilbestrebungen  der  Natur  entbehrlich  machen. 

Sydenham  stand  übrigens  mit  seiner  empirischen  Denkungsart 
nicht  gänzlich  isoliert,  denn  fern  von  der  Heerstrasse  der  Systematiker, 
pflegte  eine  nicht  geringe  Zahl  von  Praktikern  die  klinische  Beob- 
achtung, und  manche  von  ihnen  entwickelten  sogar  eine  reiche 
Sammelthätigkeit  in  der  pathologischen  Anatomie,  welche  der 
englische  Hippokrates  allzusehr  unterschätzt  hat. 

Als  Verfasser  von  ,,Observationes'',  „Consilia",  ,,Consultatione8"  sind 
Nicolas  Le  Pols  (geb.  1627),  Georg  Hieronymus  Welsch  (1624 — 1677), 
Jean  Jacques  Manget  (1652 — 1742),  Charles  Barbeirac  (1629 — 1699), 
Martin  Lister  (gest.  1711),  Humphry  Eidley  und  Ido  Wolf  (1615—1693) 
hervorzuheben.  Die  pathologisch- anatomischen  Korrelate  zu  den  klinischen 
Beobachtungen  berücksichtigten  insbesondere  J.  R.  Saltzmann  (1595 — 1656), 
J.  C.  Brunner,  C.  Peyer,  J.  J.  Härder,  Charles  Le  Pois  [Piso]  (1563 — 
1636),  Nicol.  Tulp  (1593—1678),  Cornelis  Stalpart  van  der  Wiel  (1620— 
1687?),  Daniel  Horst  (1620—1685),  Job.  Nicol.  Pechlin  (1646—1704), 
Caspar  Barthohnus  d.  Enkel  (1655—1738). 

Alles,  was  das  16.  und  17.  Jahrhundert  an  pathologisch-anatomischen 
Mitteilungen  gesammelt  hatte,  veröffentlichte  im  Verein  mit  eigenen 
wertvollen  Beobachtungen  Theophile  Bonet  (1620—1689)  in  seinem 
bekannten  „Sepulchretum",  welches  später  den  Vorzug  genoss,   einem 


Einleitung.  69 

Morgagni  zur  Grundlage  zu  dienen.  Der  Bedeutung  dieses  Forschungs- 
zweiges wurden  die  Italiener  am  frühesten  gerecht,  namentlich  waren 
es  am  Ausgang  des  Jahrhunderts  Antonio  Maria  Valsalva  (1666 — 
1723)  und  Giov.  Maria  Lancisi  (1654 — 1720),  welche  die  wissenschaft- 
liche Bedeutung  der  pathologischen  Anatomie  in  ihr  volles  Licht 
rückten.  Giov.  Guil.  Eiva  (1627 — 1677)  in  Eom  gründete  sogar  eine 
eigene  Gesellschaft  und  errichtete  ein  Museum  für  pathologische 
Anatomie. 

Immer  mehr  machte  sich  auch  das,  für  die  Fortentwicklung  der 
Wissenschaft  erspriessliche.  Prinzip  der  Arbeitsteilung  geltend, 
insofern  viele  Beobachter  ihr  Hauptinteresse  auf  ganz  bestimmte 
Krankheitsgruppen  konzentrierten.  Gerade  diesen  Forschern  dankte 
die  praktische  Medizin  ausserordentliche  Vertiefung  in  die  Details, 

So  bearbeitete  Francesco  Bartoletti  (1588 — 1630)  die  Erkrankung  der 
Atmungs-  und  Zirkulationsorgane  (als  Ursache  der  Dyspnoe),  Ch.  Bennet 
(1617 — 1655)  und  Eichard  Morton  (gest.  1698)  die  Lehre  von  der  Schwind- 
sucht, Arnold  de  Boot  (1606 — 1653)  und  Francis  Glisson  die  schon  früher 
von  Barth.  Eeusner  geschilderte  Ehachitis,  Wolfgang  Hoefer  (j  1681)  be- 
schrieb zuerst  den  Kretinismus,  Willis  und  der  durch  seine  toxikologischen 
Tierversuche  hochverdiente  Job.  Jac.  Wepfer  (1620 — 1695)  veröflFentlichte 
ausgezeichnete  anatomisch  gestützte  Beobachtungen  über  Gehirnkrankheiten 
(hämorrhagische  Natur  der  Apoplexie),  Vieussens,  später  Lancisi,  schrieb 
über  Herzkrankheiten,  Bernardino  Eamazzini  über  Gewerbekrankheiten, 
Cockburn  über  Seekrankheiten ;  die  Kenntnisse  über  den  Bandwurm  er- 
weiterte Spieghel,  über  den  Medinawurm  Welsch,  die  wahrscheinlich  den 
Arabern  schon  bekannte  Krätzmilbe  wiesen  Joseph  J.  Scaliger  und  Giovanni 
Cosimo  Bonomo  mikroskopisch  nach. 

Besonder  er  P  flege  erfreutesich  auch  die  Epidemiologie 
und  die  geographische  Pathologie.  Unter  den  zahlreichen  Epidemio- 
graphen  sind  Diemerbroek  (1609 — 1704)  durch  sein  klassisches  Werk  über 
die  Pest,  Sydenham  durch  seine  Beschreibung  der  Blattern  und  des  Schar- 
lachs, welch  letzteren  schon  vorher  die  deutschen  Aerzte  M.  Döring,  Sennert 
und  Welsch  geschildert  hatten,  hervorzuheben,  ferner  Tob.  Coberus  (Morbus 
„hungaricus").  Die  Tropenmedizin  bereicherten  vor  allen  die  Niederländer, 
J.  Bont  (y  1631)  und  G.  le  Pois,  von  denen  ersterer  die  Krankheiten 
Indiens,  letzterer  diejenigen  Brasiliens  eingehend  darstellte,  während  E. 
Kämpfer  (1651  — 1716)  wertvolle  medizinische  Erfahrungen  mitteilte,  die  er 
auf  seinen  Reisen  durch  Persien,  Armenien,  Ostindien,  China  und  Japan 
erworben  hatte. 

Die  Chirurgie  blieb  im  17.  Jahrhundert  weit  hinter  der 
Medizin  zurück,  der  Hauptgrund  lag  darin,  weil  die  wissenschaftlich 
strebenden  Aerzte  fast  gänzlich  von  den  theoretischen  Fächern  und 
der  pathologischen  Systematik  absorbiert  wurden.  Noch  immer  lag 
der  Fortschritt  zumeist  in  der  Hand  der  Empiiiker,  von  denen  z.  B. 
der  fahrende  Stein-  und  Bruchschneider  Jacques  Beaulieu  (1651 — 1714) 
eine  neue  Methode  des  Steinschnitts,  die  Sectio  lateralis,  angab. 
Italienische  Chirurgen  (Antonio  Ciucci,  Marc  Aurelio  Severino  (j  1656), 
Cesare  Magati  (f  um  1650)  vereinfachten  die  Mund-  und  Geschwürs- 
behandlung, der  Engländer  Richard  Wiseman  forderte  die  primäre 
Amputation  bei  Schussverletzungen  der  Gelenke,  der  Oxforder  Chirurg 
Lowdham  wendete  1679  zum  erstenmal  den  Lappenschnitt  an, 
um  dessen  Einführung  sich  auch  der  Niederländer  Adrian  Verduyn 


70  Max  Neuburger. 

und  die  Schweizer  Johann  van  Muralt  und  Pierre  Sabourin  verdient 
machten,  die  Lehre  von  den  Frakturen  und  Luxationen  bearbeitete 
Laurent  Verduc  (f  1695),  in  der  Therapie  der  Hernien  begründete 
Blegny  durch  Erfindung  der  elastischen  Bruchbänder  einen  bedeutenden 
Fortschritt.  Die  Rolle  Pares  spielte  in  diesem  Jahrhundert,  aller- 
dings mit  sehr  bedeutenden  Einschränkungen,  ein  deutscher  Wundarzt, 
Wilhelm  Fabry  (1560—1634)  aus  Hilden  bei  Köln  (Fabriz  von 
Hilden),  welcher  sich  durch  die  Vervollkommnung  der  Amputation,  durch 
Verbesserung  und  Bereicherung  des  Instrumentariums,  ganz  besonders 
aber  durch  den  Vorschlag  verdient  machte,  die  Umschnürungsbinde 
der  Extremität  vor  der  Amputation  mit  einem  festen  Holzstück  oder 
metallenen  Gürtel  zu  versehen.  Diese  Prozedur  war  die  Vorläuferin 
des  zuerst  von  Morel  angewandten  Tourniquets  (1674).  Neben  Fabriz 
von  Hilden  erlangten  auch  die  beiden  deutschen  Wundärzte  Johannes 
Scultetus  (f  1645)  und  Matthias  Gottfried  Purmann  Ruf  und  Ansehen. 
In  Frankreich,  wo  Mery  am  Pariser  Hotel  Dien  einen  regelmässigen 
Unterricht  in  Anatomie  und  Chirurgie  einführte,  und  die  Wundärzte 
in  den  zahlreichen  Kriegen  Ludwigs  XIV.  reiche  Gelegenheit  zur  Er- 
werbung von  Erfahrungen  hatten,  erreichte  die  Chirurgie  eine  gewisse 
Blüte.  Von  dort  nahm  auch  das  Streben  seinen  Ausgangspunkt,  einen 
engeren  Anschluss  an  die  Pathologie  herzustellen.  Vorarbeiten 
hierzu  waren  die  Studien  über  Callusbildung,  Knochenregeneration  etc., 
wie  sie  Verduc  (f  1695),  du  Verney  und  der  Niederländer  Anton  van  der 
Heyde  betrieben.  In  breitem  Ausmass  wurde  diese  erspriessliche 
Richtung  aber  erst  im  18.  Jahrhundert  durch  französische  und  eng- 
lische Chirurgen  ausgebahnt. 

Weit  früher  als  in  der  Chirurgie  machte  sich  der  Einfluss  der 
Hilfsfächer  in  der  Geburtshilfe  geltend,  in  welcher  die  Ver- 
wertung der  anatomisch  -  physiologischen  Kenntnisse  (Anatomie  des 
Beckens,  Physiologie  der  Schwangerschaft  und  Geburt)  einen  er- 
staunlichen Umschwung  herbeiführte  und  das  Fach  ins  Niveau  der 
Wissenschaftlichkeit  erhob.  Allerdings  vollzog  sich  diese  Wendung 
zum  Bessern  zunächst  nur  in  Frankreich  und  Holland,  wo  eigens 
errichtete  Geburtsanstalten  den  Aerzten  und  Hebammen  Ge- 
legenheit zur  Ausbildung  gaben;  die  erste  solche  Anstalt,  an  der 
gleicherweise  der  Humanität  wie  den  Unterrichtszwecken  gedient  wurde, 
entstand  in  Paris  am  Hotel  Dieu.  Sind  aber  auch  Louise  Bourgeois 
und  deren  Nachfolgerin  Marguerite  de  la  Marche  in  jener  Zeit  als 
ausgezeichnete  Repräsentantinnen  der  Geburtshilfe  zu  nennen,  die 
auffallenden  Fortschritte  in  der  wissenschaftlichen  Entwicklung 
datieren  unzweifelhaft  erst  von  dem  kulturgeschichtlich  merkwürdigen 
Zeitpunkt,  wo  das  Vorurteil  gegen  männliche  Geburtshilfe 
durch  erlauchte  Vorbilder  bedenklich  erschüttert  wurde.  Dies  geschali, 
als  Jules  Clement  (1649 — 1729)  von  Louis  XIV.  aufgefordert  wurde, 
der  Dauphine  bei  der  Geburt  des  ersten  Enkels  des  Königs  bei- 
zustehen. Später  leistete  er  der  La  Valliere  und  Montespan,  sowie 
der  Gemahlin  Philipps  IV.  von  Spanien  dieselben  Dienste.  Drei  Namen 
leuchten  unter  den  französischen  Geburtshelfern  besonders  hervor, 
FranQois  Mauriceau  (1637—1709),  Paul  Portal  (f  1703)  und  Guillaume 
Mouquest  de  la  Motte  (1655—  1737).  Ihrer  Wirksamkeit  ist  es  zu  danken, 
dass  die  geburtshilfliche  Diagnostik  (Touchierkunst),  eine  tiefere 
Grundlage  erhielt,  dass  ein  (auf  anatomisch-physiologischen  Kenntnissen 
basierendes)  exspektatives  Verfahren  die  frühere  planlose  und  rohe 


Einleitung.  71 

instrumentelle  Hilfe  verdrängte,  dass  die  Lehre  von  der  Wendiinginit 
ihren  Indikationen,  die  Lehre  Tom  engen  Becken  begründet 
wurde.  Aehnliche  Verdienste  erwarben  sich  einige  Holländer,  H.  van  Roon- 
huysen,  C.  van  Solingen,  J.  van  Hoorn,  allen  voran  aber  der  Begi'ünder 
der  Orthopädie,  Hendrik  van  Deventer  fl651 — 1724),  welcher  in  einer 
ganzen  Eeihe  von  geburtshülflichen  Schriften  das  normal  verengte  und 
das  platte  Becken,  sowie  den  Einfluss  des  engen  Beckens  auf  den  Ge- 
burtsverlauf treffend  schilderte.  Den  mächtigsten  xA.ufschwung  nahm 
die  Geburtshilfe  aber  erst  im  18.  Jahrhundert,  nachdem  der  Engländer 
Jean  Palf}^  (1650 — 1730)  die  Zange  zum  Gemeingut  aller  Aerzte 
gemacht  hatte. 

Zu  einer  gewissen  Emanzipation  von  der  Chirurgie  unter  Be- 
nutzung anatomisch-physiologischer  Ergebnisse,  namentlich  der  diop- 
trischen  Untersuchungen  seit  Kepler,  gelangte  auch  die  Augenheil- 
kunde. Wichtiger  als  einzelne  geringe  Verbesserungen  im  operativen 
Verfahren  (Fabriz  van  Hilden,  Purmann,  C.  van  Solingen)  wurde  die 
Entdeckung  des  wahren  Sitzes  der  Cataracta  durch  die 
Pariser  Wundärzte  R.  Lasnier  und  Fr.  Quarre.  Vorher  galt  der 
Star  als  eine  zwischen  Iris  und  Kapselwand  ergossene  Flüssigkeit, 
die  vom  Gehirn  abstammen  sollte.  Die  Urheber  der  neuen  Lehre  und 
ihre  ersten  Anhänger  Mauriceau,  Schellhammer,  besonders  aber  Werner 
Rolfink,  haben  den  anatomischen  Gedanken  in  die  Okulistik  getragen. 
Allgemeine  Anerkennung  und  praktische  Anwendung  fand  die  bedeut- 
same Errungenschaft  aber  erst  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts,  wo 
eine  neue,  wissenschaftliche  Periode  anhebt. 

Unter  dem  Einflüsse  der  exakten  Forschung  wurde  auch  die 
Ohrenheilkunde  einer  besseren  Bearbeitung  zugeführt,  indem 
Valsalva  die  anatomischen,  Guichard  du  Verney  (1648 — 1730)  die 
klinischen  Ergebnisse  sorgsam  sammelte  und  eine  solide  Basis  für  die 
Zukunft  schuf. 

Aus  dem  Zusammenwirken  erweiterter  chirurgischer  und  vertiefter 
anatomischer  Kenntnisse  ging  endlich  ein  neuer  Zweig  der  Medizin 
hervor,  welcher  die  sozialen  Leistungen  der  ärztlichen  Wissenschaft 
noch  erheblich  erweiterte :  die  gerichtliche  Medizin.  Auf  Grund 
gesetzlicher  Verfügungen  (Bamberger  peinliche  Gerichtsordnung,  pein- 
liche Hals-  und  Gerichtsordnung  Karl  V.)  wurden  Aerzte  schon  seit 
geraumer  Zeit  zugezogen,  die  erste  gerichtliche  Leichenöffnung  machte 
Pare  (1562),  aber  erst  an  der  Wende  des  16.  Jahrhunderts  und  im 
Verlaufe  des  17.  Jahrhunderts  ging  man  daran,  die  spezifischen  Eigen- 
tümlichkeiten, welche  die  Thätigkeit  des  Gerichtsarztes  kennzeichnen, 
die  besonderen  Probleme,  welche  der  Medizin  sonst  fremd  sind,  kritisch 
und  zusammenfassend  festzustellen.  Wie  auf  so  vielen  Gebieten  gingen 
auch  hier  die  Italiener  (Fortunato  Fedele),  voran  und  namentlich  Paolo 
Zacchia  (1584—1659)  veröffentlichte  in  seiner  Quaestiones  medico- 
legales  ein  grundlegendes  Werk.  In  Deutschland  beginnt  die  wissen- 
schaftliche Bearbeitung  nach  einigen  Vorläufern  (B.  Saevus,  J.  N. 
Pfeizer,  G.  Welsch  und  besonders  P.  Ammann)  mit  dem  trefflichen 
Leipziger  Professor  und  Gerichtsarzt  J.  Bohn  (1640 — 1718),  der  die 
wichtigsten  Fragen  forensischer  Praxis  mit  jener  Ueberlegenheit  und 
Kritik  behandelt,  welche  auch  seine  übrigen  Leistungen  kennzeichnet. 
Aus  dieser  Zeit  stammt  eine  der  wichtigsten  forensischen  Beweismittel, 
die  Lungenschwimmprobe,  welche  von  Swammerdam  (1669)  entdeckt 
und  (nach  Empfehlung  durch  den  ungarischen  Arzt  C.  Eayger)  zuerst 


72  ti&x  Neuburger. 

von  dem  Stadtphysikus  zu  Zeitz,  J.  Schreyer  (1682),  angewendet 
wurde. 

Die  selbständige  Bearbeitung  der  Psychiatrie,  Hygiene  und 
Pädiatrie  begann  erst  im  folgenden  Jahrhundert  unter  dem  Einfluss 
der  Humanitätsbestrebungen,  unter  der  wachsenden  Fürsorge  des 
Staates. 

Immer  mehr  rundet  sich  jeder  der  einzelnen  Hilfs-  und  Spezial- 
zweige  zu  einem  festen,  abgeschlossenen  Ganzen  mit  eigener  Entwick- 
Inng,  welche  an  Tiefe  und  Breite  gewinnt,  je  mehr  der  Strom  der 
Zeit  der  Gegenwart  zurauscht.  Auf  dem  Wege  der  Differenzierung  und 
mittels  der  späteren  assoziativen  Verknüpfung  der  Sonderdisziplinen 
bildete  sich  nach  den  allgemeinen  Gesetzen  des  Wachstums  allmählich 
eine  organisch  gegliederte,  organisch  zusammenhängende  wissenschaft- 
liche Heilkunde  aus,  ähnlich  wie  ein  Lebewesen  aus  den  Keimblättern, 
durch  Zerklüftung  des  Protoplasmas  und  durch  Arbeitsteilung  der 
Zellen  heranwächst.  Die  fernere  Entfaltung  der  einzelnen  Teilwissen- 
schaften und  Hilfsiächer  wird  an  anderer  Stelle  zum  Gegenstand  um- 
fassender Darstellung  gemacht  werden  und  soll  uns  hier  nicht  weiter 
beschäftigen.  Es  genügt  in  der  vorbereitenden  Rundschau,  auf  die 
erste  Entstehung,  auf  die  Inkunabeln,  hingewiesen  zu  haben,  von  jetzt 
an  wollen  wir  unsere  Aufmerksamkeit  nur  auf  die  allgemeinen  Ideen, 
Probleme  und  Thatsachen  richten,  welche  den  Gesamtablauf  der  medi- 
zinischen Wissenschaft  bestimmten. 

Von  grösster  Wichtigkeit  ist  besonders  jener  bedeutsame  ge- 
schichtliche Prozess,  welcher  das  Streben  zum  Ausdruck  bringt,  das 
gesammelte  empirische  Material  in  einer  befriedigenden  Gesamtauf- 
fassung zu  einem  grossen  Ganzen  zu  vereinigen  und  zugleich  die  Kluft 
zwischen  Theorie  und  Praxis  zu  überbrücken:  Der  Prozess  der 
Einheitsbestrebung  in  derMedizin.  Dieser  Prozess  zer- 
fällt in  zwei  Phasen,  in  die  Epoche  der  deduktiven 
Systeme  und  in  die  Epoche  der  methodisch  fortschreiten- 
den induktiven  Forschung. 

Geistige  Oekonomie  bedingt  es,  dass  alle  Wissenszweige  dahin  zielen, 
oberste  Leitsätze  zu  gewinnen,  welche  die  Empirie  beherrschen,  geniale 
Intuition  entbehrlich  machen,  den  Schlüssel  zum  Verständnis  jedes  Einzel- 
falles in  die  Hände  spielen.  Solche  oberste  Prinzipien  müssen  aus 
den  Goldbarren  des  Thatsachenerwerbs  gemünzt  sein!  Der 
Umfang  des  hierzu  nötigen  Thatsachenmaterials  hängt  von  der  besonderen 
Natur  ab,  welches  eben  den  Gegenstand  des  Wissenszweigs  bildet.  Je  kom- 
plizierter die  Verhältnisse  liegen,  desto  weiter  rückt  das  Ziel  in  die  Ferne, 
desto  verhängnisvoller  wird  die  Ueberschätzung  der  Prämissen,  die  Vor- 
eiligkeit in  der  Schlussfolgerung.  Davon  liefern  die  Annalen  der  Medizin 
beredtes  Zeugnis. 

Die  deduktive  Art  der  Einheitsbestrebung  durch 
Systeme  begann  im  18.  Jahrhundert  mit  grösster  Inten- 
sität hervorzutreten.  Seitdem  sich  die  Medizin  den  Banden  des 
blinden  Autoritätsglaubens  entwunden  hatte  und  eigene  Wege  ein- 
schlug, seitdem  der  Galenismus  im  langsamen  Abbröcklungsprozess 
hinsiechend,  nur  mehr  ein  Scheindasein  fristete,  erwachte  die  Sehn- 
sucht nach  -Ersatz  der  entstandenen  Lücke,  nach  einem  neuen  theo- 
retischen Rückhalt,  der  den  empirischen  Wissensinhalt  belebt  und 
durchgeistigt.    Das  16.  und  17.  Jahrhundert  hatte  eine  erstaunliche 


Einleittmg.  73 

Fülle  neuer  und  verschiedenartiger  Thatsachen  beschert,  durch  die 
latrophysiker  und  Chemiater  wurden  viele  davon  im  Lichte  der  Mechanik 
und  Chemie  verständlicher;  im  18.  Jahrhundert  glaubte  ein  grosser 
Theil  der  Forscher,  es  sei  schon  genug  gesammelt  worden,  es  sei  die 
Zeit  des  Ordnens  herangebrochen  und  je  mehr  die  Thatsachen,  je  mehr 
die  Assoziationen  anwuchsen,  desto  öfter  wurden  die  Versuche  erneuert, 
geschlossene  Systeme  zu  errichten,  die  für  sämtliche  physiologische  und 
pathologische  Phänomene  eine  umfassende  und  befriedigende  Erklärung, 
für  die  Praxis  eine  sichere  Anleitung  zu  geben  versprachen. 

Wurde  auch  das  Erfahrungsmaterial  sogar  beträchtlich  erweitert, 
so  herrschte  während  des  grössten  Teiles  des  18.  Jahrhunderts  und, 
soweit  die  deutsche  Medizin  in  Betracht  kommt,  auch  in  den  damit 
zusammenhängenden  ersten  Dezennien  des  19.  Jahrhunderts  die  System- 
bildung in  einem  Masse  vor,  dass  man  nicht  übertreibt,  wenn  man 
diese  Zeit  geradezu  die  Epoche  der  Systeme  nennt,  so,  wie  man 
das  17.  Jahrhundert  nach  der  vorwaltenden  Forschungsart  als  die 
Epoche  des  Experiments  bezeichnet. 

Diese  Strömung  in  der  Medizin  ist.  wie  immer,  auf  die  allge- 
meine Zeitströmung  zurückzuführen,  welche  sich  in  dieser  Epoche  durch 
die  Vorherrschaft  der  Verstandeskiütur  gegenüber  der  Sinnesthätigkeit, 
der  Eeflexion  gegenüber  der  Wahrnehmung  kennzeichnet.  Am  präg- 
nantesten offenbart  sich  der  Charakter  der  Zeit  einerseits  in  der 
Sterilität  der  Kunst  und  ihrer  Ausartung  zum  Eokokostil,  der  den 
Rahmen,  das  Ornament,  zum  Organismus,  zum  Wesen  erhebt,  anderer- 
seits in  der  hohen  Blüte  der  Philosophie,  die,  als  Königin  der  Wissen- 
schaften, der  Naturforschung  den  noch  frischen  Ruhmeskranz  entriss. 

Der  Nährboden,  welchen  die  nationale  Sinnesart  bildet,  Hess  frei- 
lich die  Unterschiede  in  der  Empfänglichkeit  recht  deutlich  her\^r- 
treten.  Darum  wurde  das  Volk  der  Denker  im  18.  Jahrhundert  eine 
Zeitlang  tonangebend  in  der  Medizin,  darum  lebte  die  reflektierende 
abstrakte  Systenibildnerei  in  der  deutschen  Medizin  noch  viele  Dezennien 
beharrlich  fort,  nachdem  die  Franzosen,  anschliessend  an  ihre  politische 
Umwälzung,  den  Standpunkt  der  spekulativen  Forschung  schon  lange 
wieder  verlassen  hatten,  darum  konnten  bei  den  Engländern  sogar  die 
einheimischen  Systeraatiker  nur  geringe  Anhängerschaft  finden. 

Die  Systeme  beruhten  auf  vorschnell  verallgemeinernden  Ana- 
logieschlüssen, welche  ihren  Ankerplatz  in  einzelnen,  gewöhnlich  ein- 
seitig erfassten  Fakten  hatten.  Ausgehend  von  einer  aprioristischen 
Anschauung,  hantierte  man  mit  denselben,  wie  der  Mathematiker  mit 
seinen  Axiomen,  wie  der  Metaphysiker  mit  seinen  abstrakten  Prin- 
zipien, d.  h.  man  leitete  deduktiv  von  den  einmal  statuierten  Prä- 
missen die  Einzelerscheinungen  des  physiologischen  und  pathologischen 
Lebens  ab.  In  die  Grundidee  wurde  mit  mehr  oder  weniger  willkür- 
licher Deutung,  unter  dem  Scheine  logischer  Begriffsfolge,  im  Gewände 
mathematischer  Schlussart,  all  dasjenige  hineinpasst,  was  durch  Be- 
obachtung schon  erkannt  worden  war,  und  vorwärts  prophezeiend, 
sprach  man  dann  auf  Grund  der  mangelhaften  Prämissen  den  logischen 
Konsequenzen  des  Systems  schon  a  priori  konkrete  Realität  zu.  Die 
Unterschätzung  der  hochkomplizierten  Gleichungen  des  Lebens,  die 
verhängnisvolle  Identifizierung  von  Sein  und  Wirklichkeit,  die  Ver- 
wechslung des  begrifflichen  Zusammenhangs  mit  dem  realen  Kausal- 
nexus, führte  wie  in  der  Philosophie,  so  auch  in  der  Medizin  zu  den 
schwersten  Irrtümern;  auf  spärlichen  und  oft  schief  gedeuteten  That- 


k 


74  Max  Neuburger. 

Sachen  aufgebaut,  glich  jedes  der  Systeme,  die  in  rascher  Aufeinander- 
folge kamen  und  verschwanden,  ja  oft  nur  ein  ephemeres  Dasein  hatten, 
nicht  dem  Kreise,  welcher  die  Natur  einschliesst,  sondern  der  Tangente, 
welche  nur  an  einem  Punkte  den  Kreis  berührt. 

Die  Epoche  der  Systeme  unterschied  sich  aber  von  der  Epoche 
der  Scholastik,  mit  der  ihr  manches  gemeinsam  ist,  dadurch,  dass  sie 
bei  dem  freien  Spiel  der  geistigen  Kräfte  den  einzelnen  Geistes- 
schöpfungen keine  dogmatisch  gestützte  Dauer  gewährte,  dass  sie 
über  unvergleichlich  grösseren  empirischen  Reichtum  vertügte  und  dass 
die  frische  ungehemmte  Kritik,  der  pulsierende  Einschlag  des  prak- 
tischen Lebens,  die  Erstarrung  im  verdorrenden  Autoritätsglauben 
verhinderte. 

Im  Geiste  des  philosophischen  Zeitalters,  welches  nicht  die  natur- 
getreue Beobachtung  als  solche,  sondern  die  theoretische  Einreihung 
unter  allgemeine  oberste  Erkenntnissätze  für  das  Wesentliche,  für  das 
Wissenschaftliche  hielt,  prävalierten  zwar  die  Doktrinen  in  gefähr- 
licher Weise  über  der  stillen,  anspruchslosen  Forscherarbeit,  die  hie 
und  da  wie  ein  Blümchen  zwischen  Geröll  und  Geschiebe  aufkeimte, 
aber  andererseits  brachten  sie  auch  Leben  und  Bewegung  in  die 
Wissenschaft,  da  sich  bei  Aufstellung  oder  Bekämpfung  der  Hypothesen, 
Gelegenheit  zur  Vergleichung,  Prüfung  und  Erforschung  der  wahren 
Thatsachen  ergab. 

Abgesehen  von  den  vorübergehenden,  freilich  beklagenswerten 
therapeutischen  Konsequenzen  wurden  die  Schäden  der  einseitig  deduk- 
tiven Eichtung  sogar  durch  manche  Vorteile  kompensiert,  welche  der 
Folgezeit  zugute  gekommen  sind.  Dahin  gehört:  die  subtile  Formung 
der  wissenschaftlichen  Begriffe,  die  nach  schweren  Opfern  erkaufte 
Erkenntnis  von  den  Grenzen  der  Meditation  gegenüber  der  Erfahrung 
und  die  heuristische  Bedeutung  mancher  Hypothesen. 

Uebrigens  erhielt  die  vorgreifende  Systematik  auch  ein  Gegen- 
gewicht in  einer  anderen  Art  von  Einheitsbestrebung,  welche  darauf 
ausging,  die  praktische,  künstlerische  Thätigkeit  des  Arztes  mit  den 
fortschreitenden  wissenschaftlichen  Forschungen  in  ein  reges,  gegen- 
seitig befruchtendes  und  ausgleichendes  Wechselverhältnis  zu  setzen, 
hippokratische  Krankenbeobachtung  mit  den  Laboratoriumsergebnissen 
ohne  Zwang  zu  vereinigen.  Diese  zweite  Art  der  Einheits- 
bestrebung hatte  ihren  Sitz  in  der  Klinik,  welche  neben 
der  Giftpflanze  der  Spekulation  wenigstens  an  einzelnen  Bildungs- 
centren schon  damals  zu  einer  bewunderungswerten  Blüte  gebracht 
wurde  und  den  massgebenden  Prüfstein  für  die  Theorie  abgab. 

Anknüpfend  an  die  italienischen  Vorbilder,  an  Oddi  und  Bottoni, 
erhielt  die  Klinik  zuerst  in  Holland  durch  Otto  van  Heurne  ihr 
Burgerrecht  und  bildete  daselbst  neben  dem  anatomischen  Theater  und 
botanischen  Garten  die  Pflegestätte  des  medizinischen  Unterrichts,  der 
medizinischen  Forschung.  Zu  universaler  Bedeutung  wurde  die  Ley- 
dener  Klinik  im  Beginne  des  18.  Jahrhunderts  durch  Hermann 
Boerhaave  erhoben.  Es  ist  kein  Zufall,  dass  man  in  Leyden  ebenso 
wie  an  den  später  errichteten  Kliniken  —  Rom  (Hospital  San  Spirito), 
Edinburg,  Wien,  wohin  die  holländische  Schule  verpflanzt  wurde  — 
mehr  dem  Geiste  der  voraussetzungslosen  Forschung,  als  der  vor- 
greifenden Systemsucht  huldigte  oder  wenigstens  ein  grösseres  em- 
pirisches Material  zum  Stützpunkt  der  Doktrinen  wählte. 

Wir  fürchten  nicht  den  Einwurf,  dass  gerade  der  Stern  am  Horizont 


Einleitung.  75 

der  holländischen  Klinik,  Boerhaave,  auch  m  der  Trias  berühmter 
Systematiker  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts,  neben  Stahl  und 
Friedrich  Hoffmann  erscheint;  denn  das  „Sj'stem"  Boerhaayes,  wenn 
wir  mit  diesem  Namen  sein  Lehrgebäude  bezeichnen  wollen,  entbehrt 
des  wichtigsten  Charakteristikums  aprioristischer  Gedankenkonstruk- 
tionen —  der  Einheitlichkeit;  es  lässt  sich  nicht,  wie  andere  Systeme 
auf  einen  neuen  oder  erneuten  Grundgedanken  zurückführen. 

Hervorgewachsen  aus  der  Schule  der  latromechanik,  namentlich 
Pitcairns,  der  die  Anwendung  der  Philosophie  und  Chemiatrie  auf  die 
Medizin  schärfstens  bekämpfte,  beeinflusst  vom  Geiste  Sj'denharas, 
welcher  die  Rückkehr  zum  Hippokratismus  als  Ideal  hinstellte,  suchte 
Hermann  Boerhaave  (1668—1738)  beiden  Tendenzen,  der  künst- 
lerischen Thätigkeit  des  Arztes  und  der  wissenschaftlichen  Begründung, 
dadurch  gerecht  zu  werden,  dass  er  opportunistisch  die  anscheinend 
reellen  Thatsachen  der  Physiologie  soweit  verwertete,  als  sie  seiner 
klinischen  Beobachtung  nicht  widersprachen  oder  sich  mit  derselben 
vereinbaren  Hessen.  Immer  dem  Kliniker  den  Torrang  lassend,  immer 
die  Erfahrung  am  Ki^ankenbette  an  die  Spitze  stellend,  wählte  er  an 
der  Hand  der  Geschichte  aus  den  medizinischen  Theorien  der  Alten, 
ebenso  wie  aus  der  Anatomie,  Physiologie  und  Physik  seiner  Zeit  all 
dasjenige  aus,  was  er  mit  dem  alten  Hippokratismus  zu  verknüpfen 
vermochte.  Frei  von  dem  Prinzipienzwang  der  latromechanik.  welche 
in  ihrer  späteren  Entwicklung  die  Praxis  der  Theorie  unterwarf,  ab- 
gewaudt  von  den  Ausartungen  der  Chemiatrie,  deren  Holüheit  er  als 
guter  Chemiker  nur  zu  gut  erkannte,  fasste  er  den  Plan,  eine  Medizin 
zu  treiben,  welche  frei  von  jeder  Sekte,  nur  in  der  Erfahrung  ihren 
Rückhalt  hat,  sei  es,  dass  diese  Erfahrung  am  Krankenbett,  sei  es, 
dass  sie  durch  wissenschaftliche  Forschung  erworben  wurde. 

Boerhaave,  der  selbst  eifrig  mikroskopische  Anatomie  betrieb, 
Lupe  und  Thermometer  in  die  Klinik  einführte,  die  L^ntersuchung  des 
Blutes,  der  Exkrete  und  Sekrete  empfahl,  schritt  dadurch,  dass  er 
z-^dschen  dem  Hippoki-atismus  und  den  inzwischen  entwickelten  exakten 
Hilfswissenschaften  keinen  absoluten  Gegensatz  erblickte,  ja  sogar 
bemüht  war,  die  Kluft  zwischen  beiden  mit  Vorsicht  zu  schliessen, 
über  Sydenham  weit  hinaus;  er  verhält  sich  nur  zu  dem  „englischen 
Hippokrates'',  wie  ein  Systematiker,  thatsächlich  nähert  sich  er  aber 
demjenigen  Standpunkt,  welchen  die  besten  Kliniker  der  Gegenwart 
einnehmen.  Dass  Boerhaave  die  Eierschalen  seines  Zeitalters  an  sich 
trug,  eine  Unzahl  von  dogmatischen  Lehrsätzen,  sowohl  der  ,.exakten" 
Hilfswissenschaften  als  auch  der  hippokratischen  Pathologie  für  be- 
"\\iesene  Thatsachen  annahm,  darf  nicht  geleugnet  werden.  Dass  der 
„communis  Europae  praeceptor"  von  manchen  seiner  Zeitgenossen  an 
Beobachtungsgeist  erreicht,  an  Kritik,  an  Originalität  und  Tiefsinn, 
an  logischer  Stringenz,  ja  sogar  an  realer  Forscherthätigkeit  über- 
troffen wurde,  kann  vollkommen  zugestanden  werden;  unvergäng- 
lich bleibt  doch  Boerhaaves  Verdienst,  in  systematischer 
Weise,  aber  ohne  eigentliche  Systembildung,  den  prak- 
tischen Wert  der  Anatomie  und  Physiologie  beleuchtet 
und  die  Aufgaben  der  Klinik,  als  Sammelstätte  und 
Einigungspunkt  aller  medizinischen  Beobachtung  und 
Forschung  für  alle  Zeiten  vorgezeichnet  zu  haben! 

Das  höchste  Lob,  das  man  seinem  „System"  spenden  kann,  be- 
steht in  dem  Tadel,  dass  es  nicht  einheitlich  ist.    In  der  That  findet 


76  Max  Neuburger. 

man  in  seinem  Lehrgebäude,  wie  es  in  den  „Institutiones  medicae"  und 
den  „Aphorismi  de  cognoscendis  et  curandis  morbis"  niedergelegt  ist, 
die  verschiedenartigsten  Elemente  zusammengefasst,  eher  mosaikartig 
aneinandergereiht,  als  organisch  verbunden. 

Die  ganze  Entwicklung  der  medizinischen  Theorie  spiegelt  sich 
in  dem  liehrgebäude  Boerhaaves  wieder.  Wie  die  Methodiker,  sucht 
er  eine  lange  Reihe  von  Krankheiten  aus  der  erhöhten  Spannung  oder 
aus  der  Erschlaffung  zu  erklären,  nur  mit  dem  Unterschied,  dass  er 
dem  fortgeschrittenen  Standpunkt  seiner  Zeit  Rechnung  tragend,  den 
Sitz  dieser  Zustandsveränderungen  in  die  „Faser",  den  Elementar- 
bestandteil des  Organismus  verlegt;  wie  Erasistratus,  bezeichnet  er 
den  error  loci,  die  Stockung  und  vermehrte  Reibung  als  Entzündungs- 
ursache, präzisiert  diese  Erscheinungen  aber  genauer  als  Gefäss- 
verstopfung,  dadurch  verursacht,  dass  das  Lumen  der  letzten  arteriellen 
Verzweigungen  infolge  abnormer  Reize  verengert  und  für  die  roten 
Blutkörperchen  unpassierbar  wird;  wie  die  Humoralpathologen  und 
latrochemiker  kennt  er  neben  Anämie  und  Plethora  auch  die  Kako- 
chymie  als  Erkrankungsform  der  Säfte,  unterscheidet  sogar  sieben 
Arten  von  „Schärfen",  führt  dieselben  aber  auf  mechanische  Momente 
zurück;  das  Fieber  gilt  ihm  einerseits,  im  Sinne  der  Teleologie,  als 
natürliche  Heilbestrebung,  andererseits  sucht  er  sich  das  Zustande- 
kommen der  fieberhaften  Reaktion  naturwissenschaftlich  durch  die 
Annahme  zu  erklären,  dass  die  erhöhte  Pulsfrequenz  durch  den  im. 
Kapillarsj^stem  vermehrten  Widerstand,  die  gesteigerte  Temperatur 
durch  die  Reibung  an  den  Gefässwänden  hervorgerufen  wird.  Diese 
zwiefache  Zusammensetzung  aus  traditionellen  und  neuen  Elementen 
lässt  die  Absicht  Boerhaaves  erkennen,  die  Krankheitslehre  sowohl 
auf  ärztliche  Erfahrung  als  auch  auf  die  theoretischen  Lehren  der 
Phj^siologie  zu  gründen. 

Freilich,  so  rationell  der  Standpunkt  war,  die  exakte  Forschung 
in  den  Dienst  der  Klinik  zu  ziehen,  so  sehr  das  System  prinzipiell  fort- 
bildungsfähig war,  weil  es  jedem  kommenden  Fortschritt  der  Natur- 
wissenschaft geöffnet  blieb,  die  theoretische  Begründung  konnte  nicht 
anders  als  einseitig  und  unvollkommen  ausfallen;  denn  aus  der  zeit- 
genössischen Physiologie  vermochte  Boerhaave  höchstens  ganz  unzu- 
reichende mechanische  Prinzipien  zu  entnehmen. 

Unter  der  Voraussetzung,  dass  jedwede  organische  Erscheinung  auf 
Bewegungsvorgänge  fester  und  flüssiger  Körper,  jede  physiologische  Thätig- 
keit  auf  bestimmte  Formverhältnisse  der  Grundbestandteile  zurückzuführen 
ist,  definiert  Boerhaave  die  Krankheit  als  Funktionsstörung,  be- 
dingt durch  Formveränderung  der  Elementarteile  und  Anomalien  der  Be- 
wegung. In  der  speziellen  Klassifikation  teilt  er  die  Krankheiten  in  solche 
der  festen  und  solche  der  flüssigen  Teile  ein.  Da  die  herrschende  Lehi'e 
die  Organe  aus  Fasern  und  aus  den  daraus  gebildeten  Gefässen  (Rujsch) 
aufgebaut  sein  Hess ,  so  leitet  er  die  Afi'ektionen  der  Festteile  von  der 
Schwäche,  Schlafi'heit  oder  Starre  der  Fasern,  beziehungsweise  aus  der  Ob- 
struktion der  Gefässe  ab;  die  Säfteanomalien  lässt  er  dadurch  entstehen, 
dass  die  Atome,  welche  die  Flüssigkeiten  zusammensetzen,  in  ihrer  Gestalt 
von  der  Norm  abweichen.  Auch  in  der  Begründung  seiner  therapeutischen 
Massnahmen,  bei  welchen  ihm  noch  mehr  als  Sydenham  der  echte  hippo- 
kratische  Geist  vorschwebt  („simplex  sigillum  veri''),  sucht  Boerhaave 
mechanische  Vorstellungen    mit    der   Tradition    und   Empirie   zu   verketten ; 


Einleitung.  77 

deshalb  legt  er  auf  die  Leibesübungen,  auf  Emollientia,  Solventia,  Laxantia 
grossen  "Wert,  weil  die  Säfte  verdünnt,  die  Stockungen  gelöst,  die  Spannung 
beseitigt,  die   ,. Infarkte"  des  Darmes  verhindert  werden  sollen. 

In  der  Beurteilung  Boerhaaves  darf  aber  nicht  vergessen  werden, 
dass  er  keineswegs  wie  andere  auf  das  Sj^stem  als  solches,  sondern 
vielmehr  auf  die  Beobachtung  und  Beschreibung  der  Krankheitsbilder 
den  Schwerpunkt  verlegte  und  gerade  in  dieser  Richtung  seinen  un- 
vergleichlichen Einfluss  als  Lehrer  und  Forscher,  als  Kliniker  und 
Schriftsteller,  auf  ein  Jahrhundert  ausgeübt  hat.  Mochte  sich  auch 
die  Mehrzahl  seiner  Schüler  mit  seinen  Aussprüchen  und  Lehrmeinungen 
für  immer  zufrieden  geben,  den  wahren  Sinn,  den  Geist  seines  Wirkens 
erfassten  doch  nur  diejenigen,  welche  nicht  bloss  an  seinen  Lippen 
hingen  und  begeistert  von  seiner  Persönlichkeit  seine  vergänglichen 
Lehrsätze  in  alle  Welt  hinaustrugen,  sondern  durch  selbständige  Arbeit 
die  Ideen,  die  er  anregte,  weiter  bildeten  und  über  ihn  hin  ausschritten, 
sei  es  auf  dem  Wege  der  physiologischen  Forschung,  wie  Haller.  sei 
es  auf  dem  Wege  der  Klinik,  wie  van  Swieten,  de  Haen  und 
Pringle  oder  in  der  allgemeinen  Pathologie,  wie  Gaub.  In  weiser 
Selbstbeschränkung  verzichtete  Boerhaave,  auf  die  metaphysischen  und 
ersten  physischen  Ursachen  spekulativ  einzugehen,  wohl  wissend,  dass  man 
nicht  ungestraft  die  Grenzen  der  Erkenntnis  missachtet.  Beobachtung 
und  Schlussfolgerung  aus  der  sinnlichen  Erkenntnis  erklärte  er  für  die 
einzig  verlässlichen  Wege,  zugleich  auch  als  die  einzig  notwendigen 
tür  die  Zwecke  des  Arztes !  Darum  haftete  sein  System  an  den  leicht 
überschaulichen  mechanischen  Beziehungen,  darum  baut  er  die  gesamte 
Lehre  vom  normalen  und  kranken  Leben  auf  dem  Begritf  der  Be- 
wegung auf  und  begnügt  sich  nur  ganz  im  allgemeinen  zu  betonen, 
dass  hinter  den  materiellen  Erscheinungen  eine  höhere  treibende  Kraft, 
das  hippokratische  „Enormon",  die  Phj^sis  stehe,  welche  aber  keinen 
Gegenstand  der  wissenschaftlichen  Forschung  bilden  könne. 

Dieser  Verzicht  ist  es,  der  Boerhaave  von  den  eigentlichen  Syste- 
matikern des  18.  Jahrhunderts  trennt,  denn  diese  strebten  gerade 
dahin,  die  letzte  Triebfeder  des  Lebens  zu  erkennen.  Was  als 
letztes  Ziel  erstrebenswert  erscheint,  wurde  zum  Ausgangspunkt  der 
Spekulation  gemacht.  Den  Antrieb  bildete  die  immer  stärker  zur 
Geltung  kommende  Ueberzeugung,  dass  das  Leben  und  daher  auch  die 
Krankheit  durch  die  bekannten  physikalischen  und  chemischen  Gesetze 
nicht  in  seiner  Gänze  zu  erfassen  sei,  dass  das  harmonische  Zusammen- 
wirken der  einzelnen  Teile  und  namentlich  die  zweckmässige  Reaktion 
gegen  äussere  Schädlichkeiten  einen  wesentlichen  Unterschied  der 
organischen  gegenüber  der  toten  Natur  in  sich  schliessen  müsse.  Wenn 
aber  Sydenham  in  dieser  Ueberzeugung  jede  Theoriebildung  verwarf, 
Boerhaave  sich  mit  der  Aufhellung  der  mechanischen  Seite  der  Lebens- 
vorgänge begnügte,  so  schien  anderen  noch  ein  dritter  Weg  oifen  zu 
stehen,  welcher  dem  Kausalitätstrieb  grössere  Befriedigung  verhiess: 
der  Weg  der  Spekulation  über  die  Dynamik  des  Lebens.  Diesen  Weg 
betraten  als  Führer  Georg  Ernst  Stahl  (1660 — 1734)  und  Fried- 
rich Hoff  mann  (1660—1742). 

Stahl  ist  nur  der  medizinische  Repräsentant  jener  Kulturbewegung, 
welche  als  Ausfluss  des  deutschen  Gemütes  und  Geistes,  als  Reaktion 
gegen  den  leeren  Formalismus  in  Kirche  und  Wissenschaft  an  der 
Neige  des   17.  und  im  Beginne  des  18.  Jahrhunderts  entstand.    Wie 


78  Max  Neuburger. 

Leibniz  den  kartesianischen  Materialismus  bekämpfte  und  die  Ideen- 
lehre Piatons,  die  Naturphilosophie  Brunos  mit  den  neuen  Erkennt- 
nissen zu  vermählen  suchte,  wie  der  berühmte  Bekämpfer  des  Hexen- 
wahns, Thomasius,  dem  Naturrecht  an  Stelle  der  Spitzfindigkeiten 
des  römischen  Rechts  in  die  Jurisprudenz  Eingang  zu  verschaffen 
trachtete,  wie  Francke  und  Spener  trotz  Verfolgung  nicht  davon 
abliessen,  der  erstarrten  Orthodoxie  eine  tiefempfindende,  gemüts- 
warme Frömmigkeit  entgegenzusetzen,  die  freilich  später  in  cholerisch 
grüblerischen  Pietismus  ausartete,  —  so  verkörpert  auch  Stahl 
die  Reaktion  des  deutschen  Idealismus  gegen  die  neue  Art  der  medi- 
zinischen Scholastik,  welche  aus  der  Chemiatrie  und  latromechanik 
entsprungen  war  und  mit  seichten  Begriffen  das  Leben  zu  erschöpfen 
glaubte.  Aehnlich  aber,  wie  die  ganze  Bewegung  zwar  an  das  Re- 
formationszeitalter anknüpfte,  ohne  aber  dessen  Sinnesfrische  und 
blutwarme  Innerlichkeit  zu  besitzen,  so  darf  auch  Stahl  zwar  als 
Epigone  eines  Paracelsus,  eines  Helmont  betrachtet  werden,  aber  als 
ein  Epigone,  der  von  des  Gedankens  Blässe  angekränkelt  ist,  bei  dem 
die  trockene  Abstraktion  des  Verstandes  über  die  Anschauung  weit 
überwiegt. 

Durch  angeborene  finstere  Sinnesart  und  streng  religiöse  Er- 
ziehung für  den  Pietismus  empfänglich,  nahm  Stahl  schon  während 
seiner  Studienzeit  au  dem  Materialismus  der  herrschenden  Lehre  An- 
stoss.  Durch  praktische  Erfahrungen  über  die  Unzulänglichkeit  der 
medizinischen  Theorie  aufgeklärt,  brachte  er  später,  als  er  nach  Halle, . 
mitten  in  den  pietistischen  Kreis  der  neu  gegründeten  Universität  als 
Professor  berufen  wurde,  den  mannigfachen,  von  der  Fachwissenschaft 
recht  abwärts  liegenden  Einflüssen  gTösste  Sympathie  entgegen  und 
eröff"nete  den  Kampf  gegen  die  Schulwissenschaft  in  zahlreichen 
Dissertationen,  besonders  aber  in  seiner  Hauptschrift  Theoria  medica 
Vera  (1708),  welche  in  jenem  Stil  geschrieben  ist,  den  man  als  voll- 
endete Mischung  von  zerknirschter  Demut  und  ungezügelter  Anmassung 
bezeichnen  kann.  Das  Urteil  aller  Andersdenkenden  verachtend,  findet 
er  in  seinem  Bewusstsein  völlige  Befriedigung  und  glaubt  mit  seiner 
„untrüglich  wahren"  Lehre,  dank  einer  höheren  Intuition,  die  Kluft 
zwischen  Theorie  und  Praxis  endgültig  beseitigt  zu  haben. 

Stahls  Doktrin  ist  der  Animismus,  d.  h.  nach  seinem  System 
stammt  jede  physiologische  wie  pathologische  Erscheinung  im  letzten 
Grunde  aus  der  Seele,  durch  derenThätigkeit  der  an  sich  tote  Körper 
zu  einem  Organismus  erhoben  wird. 

Es  darf  nicht  geleugnet  werden,  dass  die  Quellen  dieser  An- 
schauung in  einer  tiefsinnigen  Naturbetrachtung  liegen,  dass  bei  jedem 
ernsten  Denker  an  der  Hand  gut  beobachteter  Thatsachen  berechtigte 
Zweifel  an  der  Zuverlässigkeit  der  damaligen  grob  materiellen  Phj^sio- 
logie  aufsteigen  mussten,  nur  sind  die  Schlüsse,  zu  denen  Stahl  im 
ungestümen  Drang  nach  abschliessender  Gesamtauffassung  gelangte, 
ebenso  weit  von  der  Wahrheit  entfernt  als  diejenigen  seiner  Gegner, 
die  sich  im  Notfall  die  problematischen  „Lebensgeister"  als  asyluni 
ignorantiae  reserviert  hatten.  Als  Arzt  beobachtete  Stahl  die  wunder- 
bare Autonomie  und  Selbstregulation  des  Organismus,  namentlich  die 
Fieberkrisen  und  kritischen  Ausscheidungen  im  Geiste  der  Teleologie, 
als  hervorragender  Chemiker,  der  er  war,  drängte  sich  ihm  die  Frage 
auf,  weshalb  der  so  leicht  zersetzbare  Körper  sich  trotz  der  steten 
schädlichen  Einflüsse  seine  Integrität  bewahre  und  nicht  der  Fäulnis 


Einleitung.  79 

anheimfalle,  die  post  mortem  trotz  anscheinend  gleicher  Stofflagerung 
so  rasch  eintritt.  Andererseits  entging  es  seinem  Blick  auch  nicht, 
dass  psychische  Einflüsse  so  häufig  tiefgreifende  körperliche  Verände- 
rungen, oft  in  unverhältnismässig  kurzer  Zeit,  sei  es  im  Sinne  der 
Erregung,  sei  es  im  Sinne  der  Behebung  von  krankhaften  Zuständen 
hervorrufen. 

Für  all  diese  zum  Teil  noch  heute  bestehenden  Rätsel  schien  ihm 
die  widerspruchslose  Lösung  im  Animismus  zu  liegen,  der,  abgesehen 
von  älteren  Forschern,  im  17.  Jahrhundert  durch  Helmont,  Willis  und 
Perrault,  allerdings  in  mehr  gemässigter  Auffassung  vertreten 
worden  war. 

Der  „Archeus"  Helmonts  ist  ein  Mittelding  zwischen  Seele  und  Leib, 
die  anima  vegetativa  der  Alten,  die  „anima  brntorum"  des  Wilbs  ist  ein 
Teil  der  Seele,  oder  eine  vergängliche  untergeordnete  Seele.  In  Stahls 
Auffassung,  die  übrigens  nicht  konsequent  festgehalten  wird,  ist  die  „Anima" 
die  unsterbliche  Seele,  welche  bei  der  Leitung  der  körperlichen  Verrich- 
tungen mit  Vernunft  (ratiocinio)  oder  instinktmässig  und  zweckentsprechend 
(ratione)  handelt;  an  einigen  Stellen  ist  der  Begriff  „anima"  identisch  mit 
dem  antiken  Begriff  (fiGig  —  ein  Unterschied,  der  vom  Standpunkte  des 
Systems  sehr  bedeutend  ist.  Stahl  war  zu  dieser  Inkonsequenz  gezwungen, 
weü  er  sonst  die  Thatsache  der  unbewusst  vor  sich  gehenden,  automatischen 
und  ßeflexvorgänge  nicht  hätte  erklären  können. 

Die  Seele  ist  der  Grund  aller,  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  vereinten 
Lebensthätigkeiten.  Nicht  allein,  dass  sie  Empfindung  und  Bewegung  vermittelt, 
die  Seele  baut  sich  den  Körper  schon  im  Mutterleibe  auf,  ernährt  die  ein- 
zelnen Teile,  ersetzt  das  Verlorene,  leitet  die  Absonderungen,  veranlasst  die 
Aufnahme  des  Neuen,  die  Ausscheidung  des  Verbrauchten ;  der  Leib  ist  nur 
eine  passive  Maschine,  ein  Werkzeug  zur  Bethätigung  der  seelischen  Kraft. 
Direkt  kann  die  Seele  nur  auf  ein  Immaterielles  wirken,  das  ist  auf  die 
organische  Bewegung,  welche  sich  namentlich  im  Kreislauf  und  im  „Tonus" 
der  Fasern  kundgiebt. 

Im  einzelnen  kann  Stahl  freilich  die  iatrophysischen  und  che- 
miatrischen  Erklärungsweisen  nicht  enthehren,  wenn  er  den  Mechanis- 
mus der  Lebenserscheinungen  zu  beleuchten  sucht,  er  sieht  sich  ins- 
besondere genötigt,  dem  „Tonus"  der  Fasern  (d.  h.  ihrer  Fähigkeit  sich 
zusammenzuziehen  und  auszudehnen)  und  dem  Kreislauf  fundamentale 
Bedeutung  zuzuschreiben,  aber  ebenso,  wie  Leibniz  in  dem  kausalen 
Mechanismus  nur  die  Erscheinungsform  eines  innerlichst  lebensvollen 
und  zw^eckmässig  organischen  Weltprozesses  erblickt,  so  betont  auch 
Stahl,  dass  die  chemischen  und  mechanischen  Erklärungsweisen  nur 
theoretisch  konstruiert,  nur  im  allgemeinen  Sinne  zu  gebrauchen  sind, 
weil  dem  Mechanismus  und  Chemismus  an  sich  im  Organismus  keine 
Wesenheit  zukommt.  Während  aber  Leibniz  trotz  seiner  idealistischen 
Auffassung  die  Erforschung  des  kausalen  Mechanismus,  und  gerade 
in  der  ^Medizin  die  exakte  naturwissenschaftliche  Forschung  vom 
Standpunkt  der  praktischen  Vernunft  für  dringend  notw^endig  hält, 
geht  Stahl  soweit,  die  Anwendung  der  feineren  Anatomie,  der  Physik 
und  Chemie  in  der  Biologie  sogar  für  schädlich  zu  erklären  und  sich 
in  der  Medizin  mit  ganz  oberflächlichen  anatomisch-physiologischen 
Begriffen  zu  begnügen. 

Beruht  die  Gesundheit  auf  dem  ungestörten  Ablauf  der  von  der 
Seele  in  Gang  gesetzten  vitalen  Bewegungen,  auf  dem  von  der  Seele 


k 


80  Max  Neu  burger, 

regulierten  normalen  Spannungszustand  der  Fasern,  so  ist  in  der  Auf- 
fassung Stahls  die  Krankheit  eine  Störung  der  Lebensvorgänge,  welche 
im  letzten  Grunde  durch  die  Seele  hervorgerufen  werden.  Hier  kommt 
der  starre  Systematiker  natürlich  mit  der  Teleologie  ins  Gedränge 
und  er  kann  sich,  ganz  wie  Helmont,  vor  dem  Widerspruch  scheinbar 
nur  durch  die  Annahme  retten,  dass  die  Seele  spontan  oder  bei  ihren 
Heilbestrebungen  zwar  nach  Zwecken,  aber  nicht  immer  zweckmässig 
und  rationell  handelt.  So  können  durch  die  falschwirkende  Seele 
selbst  Krankheiten  entstehen,  so  gerät  sie  bei  intensiven  Angriifen 
in  Unentschlossenheit,  Furcht  und  verworrenes  Schwanken,  was  sich 
beispielsweise  durch  Konvulsionen  manifestiere.  In  der  Regel  freilich 
tritt  die  Anima  mit  Ueberlegung  auf,  indem  sie  die  Schädlichkeiten 
und  ihre  Folgen  durch  Beeinflussung  des  Kreislaufs  (Entzündung, 
Fieber,  Blutflüsse)  oder  des  „Tonus"  der  Fasern  (Krämpfe)  ausscheidet 
oder  abwehrt. 

In  der  speziellen  Pathologie  verwirft  Stahl  die  erdichteten  Schärfen 
und  Mischungsanomalien,  führt  vielmehr  die  meisten  AfFektionen  auf  Ver- 
änderung des  Tonus  der  Elementarteile  zurück;  sogar  die  „Plethora",  welche 
in  seiner  Krankheitslehre  die  Hauptrolle  spielt,  ist  eine  Wirkung  der  Ge- 
fässatonie.  Die  Seele  bedient  sich  zur  Beseij;igung  der  Plethora  der  Blut- 
flüsse. Im  Kindesalter  herrscht  die  Blutüberfüllung  im  Kopfe  vor,  daher  tritt 
in  dieser  Lebensepoche  namentlich  Nasenbluten  auf,  im  Jünglingsalter  ver- 
ursacht die  Plethora  der  Brust  Bluthusten,  im  späteren  Alter  wirft  sie 
sich  auf  den  Unterleib  (Vena  portae,  porta  malorum),  erzeugt  hiedurch  die 
verschiedensten  chronischen  Krankheiten  und  reguliert  sich  durch  Hämor- 
rhoidalblutungen  („güldene  Ader"),  welche  ein  Analogen  zur  Menstruation 
darstellen. 

Hinsichtlich  der  Therapie  befolgte  Stahl  im  Prinzip  den  Hippo- 
kratismus,  aber  ohne  darunter  jenes  exspektative  Verfahren  zu  ver- 
stehen, das  sich  im  Abwarten  der  Naturheilbestrebungen  erschöpft. 
Vielmehr  empfahl  er  zur  Beseitigung  der  Plethora  kräftige  Aderlässe, 
eröff"nende  und  balsamische  „Pillen",  zur  Behebung  der  Atonie,  Eisen- 
präparate, ätherische  Oele  und  bittere  Essenzen.  Dass  er  die  An- 
wendung der  Chinarinde,  des  Opiums  und  der  „Alterantia"  bekämpfte, 
war  nur  eine  notwendige  Konsequenz  des  Systems.  Die  Geheim- 
niittel,  welche  Stahl  anzuwenden  liebte,  entsprachen  vielleicht  der 
Absicht,  suggestiv  zu  wirken.  Diese  Vermutung  ist  bei  einem  Arzte 
nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  der  nach  Felix  Platter  zum  ersten- 
male  wieder  für  die  psychische  Behandlung  der  Geistes- 
kranken mit  Wärme  eintrat  und  in  das  früher  allzusehr  ver- 
nachlässigte Wechselverhältnis  der  Seele  zum  Körper  einen  erstaun- 
lich tiefen  Blick  gethan  hat.  An  seine  Gedanken  und  Vorschläge 
auf  diesem  Gebiete  konnte  eine  viel  spätere  Zeit  wieder  anknüpfen. 

Forscht  man  nach  der  Bedeutung,  welche  Stahls  Sj^stem  für  den 
Fortschritt  der  Medizin  gehabt  hat,  so  ergiebt  sich  trotz  der  grell 
hervortretenden  Mängel  ein  beträchtlicher  Niederschlag  von  an- 
regenden Ideen,  die  insbesondere  der  theoretischen  Forschung  in  der 
Folgezeit  zugute  gekommen  sind;  freilich  mussten  diese  Ideen  erst 
eine  gründliche  Läuterung  durchmachen,  bevor  sie  von  der  Wissen- 
schaft als  Bausteine  benutzt  werden  konnten,  und  deshalb  waren  es 
nicht  die  nächsten  Schüler  Stahls,  sondern  eigene  Wege  wandelnde 
Selbstdenker,  welche  die  Lehre  fortbildeten. ^j 


Einleitung.  81 

So  wenig,  wie  Stahl  selbst,  fanden  seine  nächsten  Anhänger,  welche 
die  Medizin  ins  Fahrwasser  des  Mystizismus  zu  lenken  suchten,  Anklang. 
Zu  ihnen  zählten  Joh.  Samuel  Carl,  Georg  Daniel  Coschwitz,  Joh.  Daniel 
Gohl,  Georg  Philipp  Xenter  und  Joh.  Juncker  (1679 — 1759);  letzterem 
gebührt  das  Verdienst,  zuerst  in  Halle  poliklinische  Uebungen  ein- 
geführt und  dadurch  den  Grund  zur  späteren  Klinik  gelegt  zu  haben. 

Weit  grössere  Bedeutung  erlangten  jene  Aerzte,  welche,  aus  verschiedenen 
Lagern  stammend,  einzelne  Prinzipien  des  Stahlianismus  selbständig  ver- 
arbeiteten. Manche  der  späteren  latrophysiker,  wie  Abraham  Kaau- 
Boerhaave,  Francois  Boissier  de  Lacroix  [de  Sau  vages]  (1706 — 1767), 
der  die  Schule  von  Montpellier  mit  den  Ideen  eines  geläuterten  Animismus 
vertraut  machte,  retteten  den  wertvollen  und  fortbildungstähigen  Ted.  der 
Stahlschen  Lehre.  Besonders  hervorzuheben  ist  es,  dass  der  Animismus 
Anlass  gegeben  hat,  die  unbewusst  aber  zweckmässig  verlaufenden  Aktionen 
der  „Seele"  eingehender  zu  analysieren.  Dies  geschah  durch  Robert 
"Whytt  (1714 — 1766),  welcher  die  Beflexerscheinungen  experimentell  studierte 
und  Joh.  Aug.  TJnzer  (1727 — 1799),  der  dieselben  daraus  erklärte,  dass 
Nervenreize  durch  die  Ganglien  aufgehalten  und  abgeleitet  „reflektiert" 
werden. 

Der  weiteren  EntwickTüng  vorgreifend,  bescheiden  wir  uns  nur 
darauf  hinzudeuten,  dass  Stahl,  im  Gegensatz  zur  Mehrzahl  seiner 
Zeitgenossen,  die  Idee  des  Lebens  aus  dem  Schutt  eines  groben 
Materialismus  wieder  ans  Licht  zog,  die  wesentliche  Eigentüm- 
lichkeit des  Organischen  gegenüber  dem  Anorganischen 
darlegte  und  hiedurch  dem  Begriife  der  Vitalität  vorarbeitete.  Stahl 
hat  mit  besonderem  Nachdruck  die  Einheit  des  Organismus  auf 
Grund  harmonisch  zusammenwirkender  Lebenserscheinungen  betont, 
hat  auf  die  Autokratie  der  Lebewesen  (inmitten  einer  Welt  von 
eindringenden  Schädlichkeiten),  auf  das  Wirken  der  Naturheil- 
kraft in  Krankheitszuständen  hingewiesen  und  ist  zu  denjenigen  zu 
zählen,  welche  die  oberflächliche  Humoralpathologie  mit  Entschieden- 
heit bekämpften,  auf  die  festen  Teile  die  Aufmerksamkeit  der  Patho- 
logen hinlenkten. 

Diesen  Vorzügen  steht  aber  der  grosse  Fehler  entgegen,  dass 
Stahl  den  Begriff  des  Lebens  zu  enge  fasste  (im  Gegensatz  zu  Para- 
celsus),  fast  nur  auf  den  beseelten  Menschen  beschränkte  und  zudem 
zu  sehr  abstrahierte;  denn  bei  ihm  liegt  das  „primum  movens"  nicht 
in  der  organischen  Materie,  sondern  steht  wie  ein  Dens  ex  machina 
hinter  und  ausserhalb  derselben,  ihm  bedeutete  die  Struktur,  die 
Mischung  nichts,  die  ..Seele"  alles. 

Die  Reaktion  gegen  die  leichtfertige  Uebertragung 
grob  mechanischer  Anschauungen  auf  Physiologie  und 
Pathologie  war  nötig  und  konnte  nur  durch  eine  mass- 
lose Uebertreibung  eingeleitet  werden,  solange  nicht 
einmal  die  Anfänge  biologischer  Forschung  vorlagen. 
Es  bleibt  das  grosse  Verdienst  Stahls,  dahin  gewirkt  zu  haben,  dass 
der  Begriff  des  Organischen,  des  Lebens  nicht  mehr  aus  Physiologie 
und  Pathologie  schwand,  dass  die  biologische  Forschung  zum  Mittel- 
punkt der  Theorie  und  Praxis  gemacht  wurde. 

Je  schärfer  der  Gegensatz  zwischen  spiritualistischer  und  mecha- 
nistischer Auffassung  des  Lebens  hervortrat,  desto  mehr  wuchs  das 
Bedürfnis  nach  einer  versöhnenden  Anschauung,  welche  beiden  gerecht 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.     Bd.  II.  6 


82  Max  Neu  burger. 

wird.  Es  kann  deshalb  nicht  wunder  nehmen,  dass  Stahl,  der  per- 
sönlich abstiess,  dessen  Lehren  in  wenig  ansprechender  Form  vorge- 
tragen  wurden,  sehr  rasch  durch  einen  anderen  Systematiker  überholt 
wurde,  der  mit  zeitgemässem  seichten  Rationalismus  und  in  geschmack- 
voller Darstellung  auch  über  die  grössten  Schwierigkeiten  anscheinend 
spielend  hinwegzugleiten  verstand.  Es  war  dies  der  Hallenser  Kollege 
und  Nebenbuhler  Stahls,  Friedrich  Hoff  mann  (1660 — 1742),  ein  welt- 
kluger, geistvoller  Praktiker,  ein  fruchtbarer  Schriftsteller,  ein  trefi- 
liclier  Lehrer  und  Spezialforscher,  der  alle  Vorzüge  besass,  welche 
den  Beifall  der  Menge  im  Fluge  erobern. 

Unter  dem  Einfluss  der  Philosophie  des  berühmten  Polyhistors 
Leibniz  ersann  Hoffmann  ein  System,  welches  in  Form  der  damals  so 
beliebten  mathematischen  Deduktion  die  verschiedensten  physiologischen 
und  pathologischen  Phänomene  aus  wenigen  Grundprinzipien  ai3leitete 
und  in  geschickter  Verknüpfung  iatromechanische  mit  dynamistischen 
Ideen  vereinigte.  Dieses  System  ist  in  der  Medicina  rationalis  syste- 
matica  niedergelegt.  Im  Sinne  der  latromechanik  besteht  nach  Hoff- 
mann das  Leben  in  Bewegung,  welche  sich  vornehmlich  im  Blutkreis- 
lauf äussert  und  durch  den  Wechsel  von  Spannung  und  Ei'schlaffung 
der  „Fasern"  den  Körper  vor  Fäulnis  schützt.  Die  Fähigkeit  der 
Fasern,  sich  zusammenzuziehen  und  wieder  zu  erschlaffen,  der  „'J'onus" 
unterscheidet  den  Organismus  von  der  toten  Natur,  in  der  nur  die 
Gesetze  der  Kohärenz  und  des  Widerstands  walten.  Mechanische  und 
Strukturverhältnisse  bedingen  die  Mannigfaltigkeit  der  physiologischen 
Prozesse.  Wiewohl  aber  Hoffmann  den  „Tonus",  im  Nachklang  zu 
Glissonschen  Ideen,  als  ursprüngliche  inhärente  Eigenschaft  der 
tierischen  Substanz  postuliert,  so  begnügt  er  sich  nicht,  dieses  Grund- 
phänomen einfach  als  nicht  weiter  zu  erklärende  Thatsache  hinzu- 
stellen, sondern  forscht  nach  einer  letzten  äusseren  Ursache,  welche 
auch  die  sonst  unverständliche  Zweckmässigkeit,  sowie  das  harmonische 
Zusammenwirken  im  Organismus  bedingen  soll.  Diese  letzte  Ursache 
findet  er  schliesslich  im  weltdurchdringenden  „Aether",  der  aus  der 
Luft  eingeatmet  im  Blut  zirkuliert,  im  Gehirn  zum  „Nervenfluidum" 
umgewandelt  wird  und  sich  auf  den  Bahnen  des  Nervensystems  ver- 
möge der  aktiven  Motilität  der  Hirn-Rückenmarkshäute  fortbewegt. 
Der  „Aether"  ist  mechanischen  Gesetzen  höherer  Ordnung,  die  noch 
unerforscht  seien,  unterworfen,  aus  Teilchen  zu  sammengesetzt,  welchen 
die  Idee  ihres  Zweckes  und  daher  selbsteigener  Bewegungstrieb  zu- 
kommt. Diese  Vorstellung  hatte  für  diejenigen  Zeitgenossen  nichts 
Absonderliches,  welche  mit  der  Monadenlehre  vertraut  waren. 

Leibniz  lehrte,  dass  die  materielle  Welt  nicht  aus  seelenlosen  Atomen, 
sondern  aus  metaphysischen  Punkten,  bewegenden  Kräften,  Substanzen, 
„Monaden"  zusammengesetzt  sei,  welche  je  nach  dem  Grade  ihrer  Voll- 
kommenheit ein  verschieden  hoch  entwickeltes  Bewusstsein  besitzen  und 
zu  einander  in  geistigen  Beziehungen  stehen.  Da  sich  diese  geistige  Relation 
in  unserer  Anschauung  als  räumliche  Ordnung  spiegelt,  die  prästabilierte 
„Harmonie"  als  Kausalnexus  erscheint,  der  Entwicklungsreihe  der  Monaden 
das  Gesetz  der  Stetigkeit  und  Erhaltung  der  Kraft  entspricht,  so  darf  die 
körperliche  Welt  nach  mechanischen  Gesetzen  erklärt  werden.  Gestützt  auf 
Leibniz,  der  für  die  Erfordernisse  der  Medizin  bewunderungswürdiges  Ver- 
ständnis zeigte,  glaubte  Hoffmann  mittelst  der  Monadenlehre  dem  Dilemma 
zwischen  Animismus    und  Materialismus    glücklich    entgangen    zu    sein,    und 


EinleittiDg'.  83 

mit  ihm  glaubten  dies  viele  Aerzte,  von  denen  nur  der  gelehrte  Joh.  Heinr. 
Schulze  und  die  Hallenser  Professoren  Andreas  Elias  Büchner.  Adam  Nietzky, 
Joh.  Peter  Eberhard,  Ernst  Anton  Nicolai,  ferner  Browne  Langrish,  David 
Hartley.  Malcolm  Flemyng  genannt  sein  sollen. 

Die  Pathologie  Hoffmanns  zeigt  unverkennbar  eine  grosse  Ver- 
wandtschaft mit  der  Lehre  der  ]\Iethodiker,  nur  dass  die  beiden  Grund- 
phänomene aller  Krankheiten,  die  Spannung  und  Erschlaffung  auf 
Abänderungen  des  ..Tonus",  auf  „Spasmus"  und  „Atonie"  der 
Fasern,  in  letzter  Linie  auf  Anhäufungen,  Stockungen  u.  s.  w.  des 
Nervenfluidums  zurückgeführt  werden.  Die  äusseren  ätiologischen 
Faktoren,  welche  er  sehr  eingehend  berücksichtigt  (Miasmen,  Kon- 
tagien.  giftige  Gase,  meteorologische  Einflüsse,  leider  auch  noch 
diabolische  Einwirkungen),  finden  im  ..Aether"  ihren  ersten  Angriffs- 
punkt. 

Mit  den  Begriffen  Spasmus  und  Atonie  liess  sich  in  erster  Linie  über 
die  Nerven-  und  Muskelaffektionen  eine  orientierende  Lebersicht  gewinnen, 
indem  die  Symptome  von  Krampf  und  Schmerz  aus  der  Steigerung,  Lähmung 
und  Anästhesie  aus  der  Abnahme  des  „Tonus"  erklärt  wurden.  Weiterhin 
versuchte  Hoffmann  auch  die  meisten  anderen  Krankheiten  von  Spasmus 
und  Atonie  herzuleiten.  Spasmus  universalis  erzeugt  Fieber,  wenn  er  Herz 
imd  Gefässe  befällt,  Konvulsionen  und  Epilepsie,  wenn  die  Nerven  und 
Membranen  befallen  werden.  Spasmus  particularis  verursacht  regellosen 
Blutlauf  und  besonders  Kongestionen,  die  sekundär  zu  Blutungen,  Ent- 
zündungen, Exsudaten,  Geschwülsten  führen.  Atonie  der  Gefässe  bildet  die 
Grundursache  der  Blutstockungen,  namentlich  der  Plethora  abdominalis  und 
kann  allmählich  verschiedene  Säfteanomalien,  Verhärtungen,  Skirrhositäten 
der  Eingeweide  hervorrufen.  —  Gemäss  solchen  Prinzipien  konnte  Hoffmann 
mit  wenigen  (10 — 17)  Arzneikörpern  auskommen,  ein  Vorzug,  dessen  er 
sich  mit  Recht  rühmt.  Wein,  ätherische  Gele,  Kampfer,  Gewürz,  China, 
Eisenpräparate,  Liquor  anodynus,  Elixir  viscerale,  Salpeter  entsprachen  den 
Indikationen ;  Aderlass  imd  Schwitzmittel  wurden  in  ihrer  Anwendung  wesent- 
lich beschränkt.  Da  das  System  auch  das  Fieber  als  einen  Krampfzustand 
der  kleinsten  Gefässe  (die  Ursache  soll  im  Rückenmark  liegen)  auffasst,  so 
muss  die  teleologische  Deutung  erhebUch  zurücktreten,  und  thatsächlich  be- 
trachtet Hoffmann  die  heilsame  Wirkung  des  Fiebers  nur  als 
accidentelle  Eigenschaft,  ein  Standpunkt,  der  dem  modernen  sehr 
nahe  liegt.  Bedeutsam  war  es  auch,  dass  er  die  Fiebererscheinungen,  ebenso 
wie  viele  andere  Krankheitssj-mptome  durch  „Consensus",  durch  sym- 
pathische Reizung  z.  B.  von  selten  des  Darms  hervorgehen  liess ;  hiedurch 
wirkte  er  anregend,  einerseits  auf  die  physiologische  Forschung  über  die 
Ursachen  der  „Sympathie",  andererseits  auf  die  Entwicklung  der  Lokal- 
pathologie.  Zum  Teil  dürften  Hoffmann  gerade  die  Beobachtungen  über 
die  sympathischen  Phänomene  (welche  bald  darauf  H.  J.  Rega  in  Löwen 
zusammenstellte)  veranlasst  haben,  den  Nerven  eine  Hauptrolle  im  Getriebe 
des  Organismus  zuzusprechen,  von  den  Nerven  viele  Krankheiten  abhängig 
zu  machen,  wodurch  seine  Lehre  nicht  bloss  zum  Ausgangspunkt  der 
SoHdarpathologie,  sondern  auch  der  sogenannten  Nervenpathologie 
wurde,  welche  späterhin  eine  Zeitlang  die  Herrschaft  behauptete. 

Die  Ideen  Boerhaaves,  Stahls  und  Hoffmanns  bildeten  im  Verlauf 
des  18.  Jahrhunderts  die  Leitsterne  der  medizinischen  Forschung, 
ihren  leuchtenden  Spuren  folgten  die  mannigfachen  Systeme,  welche 

6* 


84  Max  Neuburger. 

sich  in  der  Folge  nur  allzureichlich  aus  dem  Born  der  Spekulation 
ergossen.  Im  raschen  Flusse  der  Entwicklung  verloren  sich  freilich 
die  ursprünglichen  charakteristischen  Gegensätze,  die  höchstens  von 
einzelnen  Schulen  festgehalten  wurden,  während  der  gemeinsame 
Grundzug  immer  deutlicher  zur  Entfaltung  kam.  Dieser  Grundzug 
offenbart  sich  in  der  Abgrenzung  des  Organischen  gegenüber  der 
toten  Natur,  in  der  vitalistischen  Auffassung  der  Lebensvorgänge,  in 
der  Theorie,  dass  nicht  die  flüssigen,  sondern  die  festen  Elementar- 
teile, die  „Fasern"  Träger  der  physiologischen  und  pathologischen 
Erscheinungen  sind.  Vitalismus  und  Solida rpathologie  be- 
zeichnen das  Ende  der  Bahn.  In  der  theoretischen  A'orstellung  ge- 
langen sie  dominierend  an  die  Oberfläche,  wenngleich  in  der  Praxis 
die  Krasenlehre  ihr  Dasein  noch  lange  fortfristet,  ja  sogar  einzelne 
glänzende  klinische  Vertreter  aufweist. 

Dasa  die  Humoralpathologen  zumeist  aus  der  Schule  Boerhaaves  stammten, 
kann  nicht  verwundern,  wenn  man  berücksichtigt,  dass  in  seinem  System 
die  vitalistischen  und  solidaristischen  Ideen  mehr  angedeutet  als  ausgeführt 
wurden,  dass  der  Vitalismus  bei  Boerhaave  mehr  durch  Abwehr  der  Chemiatrie, 
durch  Betonung  der  hippokratischen  Teleologie  als  durch  einzelne  positive 
Hinweise  („Schwäche"  der  Faser  als  Krankheitsursache)  ihren  Ausdruck 
fand ;  immerhin  entwickelten  auch  diese  spärlichen  Elemente  schon  manche 
seiner  nächsten  Schüler,  wie  Kaau  Boerhaave,  Gorter  und  Gaub  zum  Vita- 
lismus. Im  Systeme  Stahls  kam  der  Vitalismus  und  die  Solidartheorie  zur 
Geltung,  aber  ohne  feste  Konturen,  über  die  sicheren  Grenzen  des  Realen 
in  die  nebelhaften  Fernen  des  Animismus  hinauswachsend.  Hoffraann  drang 
dagegen  durch  die  Lehre  vom  „Tonus",  des  „Spasmus  und  der  Atonie"  zu 
grösserer  Klarheit  vor,  obzwar  er  einerseits  dem  Mechanismus,  andererseits 
dem  Spiritualismus  (Aetherhypothese)  noch  Zugeständnisse  machte. 

War  aber  auch  endlich  das  Lebensproblem  in  den  Mittelpunkt 
der  Forschung  gerückt,  begannen  auch  die  solidaristischen  Anschau- 
ungen immer  mehr  festen  Fuss  zu  fassen,  es  fehlte  doch  noch  an 
i'ealen  Grundlagen  für  die  biologische  Erforschung  der  normalen  und 
krankhaften  Zustände ;  denn  bisher  war  noch  kein  einziges  Phänomen 
exakt  erkannt  worden,  das  nur  dem  Organischen,  dem  Lebendigen  zu- 
kommt, und  über  den  Bau  der  Elementarteile,  den  Sitz  des  Lebens 
herrschte  eine  Unkenntnis,  die  nur  dürftig  mit  dem  Mantel  der 
Spekulation  verhüllt  wurde. 

Die  phänomenologische  Betrachtung  und  Analyse  der  Lebensvorgänge, 
ohne  gewaltsames  Hineintragen,  sei  es  mechanischer,  sei  es  dynamischer 
Prinzipien,  die  Untersuchung  der  Struktur,  der  Eigenschaften  der  Gewebe: 
Biologie,  Histologie  und  pathologische  Anatomie,  das  waren  die  Postulate, 
welche  logischerweise  der  weitere  Fortschritt  der  Wissenschaft  erheischte. 
Thatsächlich  wurden  diese  Postulate  nur  nebenbei  von  einzelnen  ins  Auge 
gefasst,  die  breite  Heeresstrasse  folgte  den  lockenden  Irrlichtem  der  Dyna- 
mik, des  Mystizismus,  der  mechanistischen  Fetische,  und  noch  mehr  als  ein 
Jahrhundert  musste  verfliessen,  bis  die  vorurteilsfreie,  unbefangene  phäno- 
menologische Betrachtungsweise  zur  verdienten  Anerkennung  gelangte. 

Der  Erste,  der  zielbewusst  den  Weg  der  biologischen 
Forschung  beschritt,  d.  h.  ohne  dynamistische  oder 
mechanistische  Anwandlungen  Lebensphänomene  als 
solche  studierte  und  dieselben  in  ihrer   funktionellen 


Einleitung.  85 

Abhängigkeit  von  bestimmten  Striikturverhältnissen 
erkannte,  war  der  Meister  der  Physiologie  Albrecht 
H  a  1 1  e  r  (1702—1777),  der  Schüler  des  BoerhaaVe  und  Albinus.  Hallei-s 
Leistungen  in  den  Spezialzweigen  der  Medizin,  namentlich  in  der  Ana- 
tomie und  Physiologie  finden  an  anderer  Stelle  ihre  gebührende 
Würdigung,  dort  mag  auch  ein  besonderer  Nachdruck  darauf  gelegt 
werden,  dass  er  die  experimentelle  Forschung,  welche  später  alle 
Zweige  durchdrang,  in  unvergleichlicher  Weise  gefördert  hat,  hier 
haben  wir  nur  seine  Verdienste  um  die  Fortbildung  der  Medizin  im 
Ganzen  in  Betracht  zu  ziehen,  und  als  deren  gi'össtes  erkennen  wir 
die  Schöpfung  der  biolologischen  Forschung  durch  den 
erfahrungsgeraässen  Nachweis  der  Irritabilität  und 
Sensibilität,  als  zweier,  an  bestimmte  Gewebsarten, 
Muskeln  und  Nerven,  gebundener  Lebensphänomene. 

Der  gewaltige  Fortschritt,  der  in  dieser  Leistung  liegt,  wird  am  besten 
aus  dem  Abstand  ermessen,  der  Haller  von  denjenigen  Forschern  trennt,  die 
ihm  in  dieser  Frage  am  nächsten  stehen.  Dies  waren  Glisson,  Baglivi  und 
Hoffmann,  Forscher,  welche  durch  ihre  Ideen  den  grossen  Schüler  Boer- 
haaves  beeinflusst  haben.  Mit  weitem  Blicke  hatte  Glisson  die  Bedeutung 
des  „Reizes"  erfasst,  durch  Unterscheidung  der  „natürlichen",  „sensitiven" 
und  „animalen"  Irritabilität,  die  aufsteigende  Entwicklung  von  den  niedersten 
bis  zu  den  höchsten  Abstufungen  der  llaterie  zu  erklären  versucht,  die 
„fibra"  (ein  erdachtes  Elementargebilde  des  Organismus),  zum  Träger  der 
Kontraktilität  und  Expansibilität  bestimmt.  Baglivi  und  Boerhaave  hatten 
von  erhöhter  oder  verminderter  Spannung,  Hoffmann  von  erhöhtem  oder 
vermindertem  „Tonus"  der  „Faser"  zahb*eiche  Phänomene  des  Lebens  her- 
geleitet, aber  bei  tieferem  Eindringen  in  ihre  Systeme  zeigt  es  sich  bald, 
dass  sie  nicht  bloss  den  Terminus  „Faser"  in  sehr  vagem  Sinne  gebrauchen, 
sondern,  was  besonders  zu  betonen  ist,  den  „Tonus"  von  der  Elastizität, 
also  von  einer  allgemeinen  physikalischen  Kraft  nicht  zu  trennen  wissen. 
Haller  hingegen  wies  durch  sinnliche  Erfahrung  die  Irri- 
tabilität als  eine  von  der  bloss  mechanischen  Elastizität 
verschiedene,  dem  Muskelgewebe  eigentümliche  und  im- 
manente Grundeigenschaft  nach  —  eine  Thatsache,  die  von 
Melanchthon  und  Peucer  vorgeahut,  durch  die  Beobachtungen  der  Be- 
wegungsfähigkeit  isolierter  Muskeln  (ßedi,  de  Marchettis  u.  a.)  vorbereitet 
worden  war.  Noch  umwälzender  und  daher  mehr  die  Opposition  heraus- 
fordernd wirkte  der  experimentell  erbrachte  Beweis,  dass  nur  die  mit  Nerven 
versehenen  Gebilde  sensibel  sind,  dass  also  die  Sensibilität  ausschliesslich 
ans  Nervengewebe  gebunden  ist. 

Hallers  Arbeiten  bedeuten  den  ersten  Schritt  auf  der  Bahn  der 
biologischen  Erkenntnis,  den  Ausgangspunkt  für  die  sj'stematische 
experimentelle  Bearbeitung  der  Physiologie  und  der  Gewebelehre. 
Obzwar  aber  die  Geschichte  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts 
eine  Reihe  von  glänzenden  Namen  anführt,  deren  Träger  mit  Scharf- 
sinn und  Eifer  die  verschiedensten  Teilgebiete  der  Phj'siologie  mittels 
Beobachtung  und  Experiment  durchforschten,  die  Struktur  und  den 
Aufbau  von  Geweben  (z.  B.  des  Zellgewebes  der  Knochen,  Morpho- 
logie des  Blutes)  in  bewunderungswürdiger  Weise  studierten,  obzwar 
sogar  einzelne  von  ihnen  neue  Wissenszweige  begründeten  oder  schon 
gepflegte  auf  eine  neue  reale  Basis  stellten,  so  kamen  alle  diese 
Leistungen  erst  viel  später  zur  Geltung  und  wurden  zur  Zeit  ihres 


86  Max  Neuburger. 

Entstehens  von  der  Spekulation  teils  missbraucht,  teils  beiseite  ge- 
schoben. 

Die  Lehre  von  der  Irritabilität  und  Sensibilität  wurde  alsbald 
ebenso,  wie  früher  die  Prinzipien  der  Philosophie,  Physik  und  Chemie 
zum  Aufbau  von  mannigfachen  Systemen  ausgenützt,  welche  den  Grund- 
gedanken kühn  generalisierten  und  mit  den  Ideen  Stahls  oder  Hoff- 
manns kunstvoll  verquickten.  Anhänger  wie  Gegner  der  Irritabilitäts- 
lehre sündigten  in  gleicher  Weise,  indem  sie,  abweichend  von  der  bloss 
phänomenologischen  Betrachtungsweise,  den  Dualismus  zu  überwinden 
und  das  Leben  in  seiner  Einheit  zu  erfassen  bemüht  waren.  An 
Stelle  der  zwei  Lebenserscheinungen  trat  ein  einziges  Lebensprinzip 
dynamischer  Natur,  sei  es,  dass  die  Irritabilität  oder  Sensibilität  als 
herrschende  Grundkraft  hypostasiert,  sei  es,  dass  beide  als  blosse 
Manifestationen  einer  fingierten  „Kraft"  untergeordnet  wurden. 

Schon  nach  Hallers  ersten  Mitteilungen  dehnten  J.  Fr.  "Winter  und 
seine  Schüler  den  Begriff  der  Reizbarkeit  auf  jede  Faser  des  tierischen 
Körpers  aus  und  erhoben  die  Irritabilität  zur  Grundursache  aller  Lebens- 
phänomene, andere  schlössen  sich  dieser  Ansicht  im  wesentlichen  an,  be- 
zeichneten sie  aber  als  blosse  Aeusserung  eines  dynamischen  Prinzips,  wie 
z.  B.  Job.  de  Gorter.  Der  Begriff  Irritabilität  büsste  bei  diesen  Versuchen 
seinen  ursprünglichen  Sinn  bald  ein,  indem  die  Autoren  ganz  willkürlich 
darunter  nicht  allein  die  Kontraktilität  der  Muskeln,  sondern  die  Reaktion 
auf  Reize,  „Incitabilität"  verstanden.  Wie  weit  man  abwich .  zeigt  das  Bei- 
spiel des  Pathologen  Gaub,  der  die  Irritabilität  gar  als  krankhafte  Steigerung 
der  organischen  Grundkraft  erklärte,  vermöge  welcher  sie  auf  geringe  Reize 
mit  übermässigen  Bewegungen  antwortet. 

Die  fortschreitende  empirische  Forschung  beeinflusste  freilich  die 
spekulative  Richtung  in  hohem  Masse.  Zunächst  deckte  die  Physiologie 
die  hohe  Bedeutung  auf,  welche  die  Nerventhätigkeit  für  die  Muskelaktion 
besitzt,  infolgedessen  postulierten  manche  die  Seele  (Unzer),  oder  ein 
empfindendes  Prinzip  (ÄVhytt),  oder  den  „Nervengeist"  (E.  Platner),  oder 
die  „Nervenkraft"  (Cullen)  als  letzte  organische  Triebkraft.  Bei  dieser  An- 
näherung an  Stahl  oder  Hoffmann  wurde  de  facto  die  Muskelirritabilität 
der  Nervensensibilität  untergeordnet.  Weiterhin  lehrte  die  Forschung,  dass 
nicht  nur  die  Muskeln  und  Nerven,  sondern  alle  Bestandteile  des  lebenden 
Organismus  sich  gegen  äussere  Einwirkungen  in  einer  Weise  verhalten,  welche 
durch  die  Gesetze  der  toten  Natur  nicht  in  ihrer  Gänze  zu  erklären  ist ; 
dieser  Thatsache  gab  man  dadurch  Ausdruck,  dass  man  von  einer  spezifischen 
Sensibilität  und  Irritabilität  z.  B.  der  Drüsen,  Gefässe,  Knochen  etc.  sprach 
und  dieselben  als  charakteristische  Vitalphänomene  einer  höheren  Grundkraft, 
dem  Lebensprinzip,  der  Lebenskraft,  unterwarf.  Auf  diese  Gedankengänge 
sind  die  meisten  Systeme  psychologisch  zurückzuführen. 

Im  historischen  Entwicklungsgange  reihten  sich  an  Boerhaave, 
Stahl  und  Hoffmann  eine  grosse  Zahl  von  medizinischen  Theoretikern, 
deren  Systeme  die  alten  Ideen  mit  der  Irritabilitätslehre  in  ver- 
schiedenartiger Auffassung  verwoben.  Eingeleitet  wurde  diese  geistige 
Bewegung  durch  einen  Schüler  Boerhaaves,  Hieronymus  David  Gaub 
(1704—1780),  welcher  einem  weitgehenden  Eklektizismus  huldigte, 
durch  Theophile  de  Borden  (1722—1776),  der  den  Animismus  Stahls 
auf  Grund  neuer  Erkenntnisse  in  den  Vitalismus  umwandelte  und 
William  Cullen  (1712—1790),  dessen  System  im  wesentlichen  das 
solidistische  Lehrgebäude  Hoffmanns  zur  „Nervenpathologie"  einengte. 


I 


Einleitung.  87 

Gaiib.  dessen  Institutiones  pathologiae  mediciiialis  (1758)  lange 
Zeit  eine  massofebende  Eolle  als  Lehrbuch  der  Pathologie  spielten, 
verfolgte  lediglich  die  Absicht,  das  System  Boerhaaves  durch  Auf- 
nahme neuer  Elemente  aus  den  herrschenden  Doktrinen  zu  verjüngen 
und  mit  der  Irritabilitätslehre  zu  verknüpfen.  Sein  Eklektizismus, 
der  humorale,  mechanistische  und  dynamistische  Grundsätze  (Lebens- 
kraft) vereinigte,  wurde  zur  Quelle  für  die  Späteren,  konnte  aber 
naturgemäss  keine  Führerrolle  beanspruchen.  Immerhin  trug  sein  sehr 
verbreitetes  Buch,  in  dem  in  verdienstvollster  Weise  die  Krankheits- 
ätiologie  und  Disposition  Berücksichtigung  finden,  und  das  zum  ersten 
Male  wieder  rationelle  Ansichten  über  Infektionskrankheiten  ver- 
breitete, manches  dazu  bei,  dass  die  deutsche  Medizin  sowohl  die  latro- 
mechanik  als  den  Animismus  überwand  und  jener  Lehre  zusteuert, 
welche  beide  versöhnte  —  dem  Yitalismus.  Diese  neue  Anschauungs- 
weise, welche  in  ihrer  Negation  eine  berechtigte  Eeaktion  gegen  die 
latrophysik  darstellt,  statuierte  zwar  ein  höheres  Leitprinzip,  welches 
die  Herrschaft  physikalisch-chemischer  Gesetze  im  Organismus  be- 
schränkt oder  modifiziert,  betrachtete  aber  dieses  oberste  Prinzip  nicht 
als  identisch  mit  der  Psyche,  sondern  als  eine  Kraft  höherer  Ordnung. 

Greifbare  Formen  daukte  der  Vitalismus  zuerst  der  Schule  von 
Montpellier,  vor  allem  ihren  ruhmvollen  Sprössling.  Theophile  de 
B  0  r  (1  e  u.  Beseelt  von  hippokratischem  Geiste,  der  gerade  an  dieser  ehr- 
würdigen Stelle  besondere  Schätzung  genoss,  beeinflusst  vom  Stahlianis- 
mus.  der  durch  Sauvages  Eingang  gefunden  hatte,  vertiaut  mit  den 
umwälzenden  Lehren  Hallers.  war  Borden  den  Weg  der  eigenen 
P'orschung  und  selbständigen  Beobachtung  gegangen,  und  dieser  Weg 
führte  ihn  zu  einem  Ziele,  das  von  den  herrschenden  Doktrinen  weit 
abseits  lag.  Während  Haller  nur  an  Muskeln  und  Nerven  vitale, 
d.  h.  physikalisch-chemisch  nicht  erklärbare  Vorgänge  beobachtete, 
fand  Borden,  im  Gegensatz  zu  allen  Zeitgenossen,  dass  auch  die  auf 
Filtration  zurückgeführte  Drüsenabsonderung  weder  durch  die  mecha- 
nischen Verhältnisse  noch  vermittelst  chemischer  Prinzipien  verständ- 
lich werde  und  daher  ihren  Grund  in  Gesetzen  höherer  Ordnung  haben 
müsste  (Sur  les  glandes  1752).  Um  diese  Thatsache  auszudrücken, 
schrieb  er  der  Drüsensubstanz  als  solcher  ein  spezifisches  Vermögen 
zu.  Stolfe  aus  dem  Blute  heranzuziehen  und  zu  verarbeiten  und  stellte 
ihre  Thätigkeiten  mit  der  Muskelkontraktilität  und  Nervensensibilität 
in  Analogie.  Weitergehend  glaubte  Borden  schliessen  zu  dürfen,  dass 
jedem  Teil  des  Körpers  ein  eigenes  Leben,  mit  den  Grundphänomenen 
der  Empfindung  und  aktiven  Bewegung  zukomme  (vita  propria)  und 
dass  jedes  Gebilde,  obschon  in  sehr  verschiedenem  Grade  Sensibilität 
und  Motilität  besitze,  deren  besondere  Art  die  Verschiedenheit  der 
Funktion  bestimme.  Die  Quelle  der  Sensibilität  bilde  das  Nerven- 
system, das  auch  die  Sekretion  reguliere,  namentlich  der  Plexus  solaris 
und  das  Gehirn,  das  in  so  viele  Bezirke  geteilt  sei,  als  der  Körper 
Organe  besitze  (Lokalisation!).  Die  letzte  Ursache  aller  Lebens- 
vorgänge sei  die  „Natur",  welche  die  Einheit  im  Organismus  begründe 
und  ihm  eine  gewisse  "\Mderstandsfahigkeit  gegen  die  Aussenwelt 
verleihe.  Ueber  das  Wesen  dieses  obersten  Prinzips  verlor  sich  Borden 
in  keinerlei  fruchtlose  Abstraktionen,  sondern  begnügte  sich  mit  der 
Analyse  der  physiologischen  Funktionen  und  pathologischen  Phänomene. 
Die  gleiclie  Methode  —  Analyse  der  Einzelfälle  —  beobachtete  er 
auch  in  der  Pathologie,  wodurch  er  zur  exakten  positiven  Richtung, 


88  Max  Neubnrger. 

welche    zuerst  in  die    französische   Medizin  Eingang  fand,   den  An- 
stoss  gab. 

Die  Veränderungen  des  Blutes,  Kachexien,  hielt  Borden  nicht  für  che- 
mische, sondern  für  vitale,  hervorgerufen  durch  gehinderte  Ausscheidung  oder 
Resorption  der  Sekretionsstoffe  (Vorahnung  der  Theorie  der  inneren  Sekretion!). 
Seine  theoretischen  Anschauungen  Hessen  sich  ganz  ungezwungen  mit  dem 
Hippokratismus  vereinigen  und  hinderten  ihn  nicht,  mit  unbefangenem  Blick 
einzelne  vorzügliche  Krankheitsbilder  (Bleivergiftung)  zu  entwerfen.  Sie 
verschuldeten  höchstens  seine  phantastische  Pulslehre,  nach  welcher  der 
Affektion  jedes  einzelnen  Körperteils  eine  besondere  Pulsart  entsprechen 
sollte  (Pulsus  nasalis,  pectoralis,  renalis,  intestinalis  etc.). 

Der  Verzicht  auf  subtile  Spekulation,  die  analytische  Methode  der 
Untersuchung  und  die  stete  Beziehung  zur  praktischen  Medizin,  welche 
Bordeus  System  kennzeichnen,  bildeten  die  massgebenden  Prinzipien 
auch  für  die  späteren  französischen  Vitalisten  —  ein  Vorzug,  der  zum 
grossen  Teile  den  Einflüssen  der  Philosophie  C  o  n  d  i  1 1  a  c  's  zu  danken 
ist,  welche  ausschliesslich  auf  Sinneserfahrung  verwies  und  das  ana- 
lytische Verfahren  (Zerlegung  der  Wahrnehmungen  in  Elemente)  mit 
darauffolgender  Synthese  als  wissenschaftliche  Methode  empfalil.  Auf 
die  Heilkunde  hat  diese  Grundsätze  zuerst  der  Schüler  Bordeus,  Paul 
Joseph  Barthez  (1734 — 1806)  angewendet,  indem  er  auf  dem  Wege 
der  Analyse  zu  den  „Elementen"  der  normalen  und  krankhaften  Vor- 
gänge vorzudringen  und  das  Gleichartige  durch  „Synthese"'  zu  binden 
bestrebt  war. 

Auch  Barthez  betrachtet  als  letzten  Grund  aller  Lebensvorgänge  ein 
von  der  Seele  gänzlich  verschiedenes  Lebensprinzip,  dem  keine  eigene  Existenz 
zukommt,  sondern  das  nur  den  Ausdruck  der  vitalen  Fähigkeiten  bildet. 
(Nouveaux  elemens  de  la  science  de  l'homme  1778).  Diese  äussern  sich 
nicht  bloss  in  Motilität  und  Sensibilität,  sondern  auch  in  der  „force  de 
Situation  fixe",  d,  h.  in  dem  allen  Körperteilen  (auch  dem  Blute)  zukommen- 
den Vermögen,  die  Gestalt,  Lage,  Ausdehnung  u.  s.  w.  zu  bewahren,  be- 
ziehungsweise Veränderungen  auszugleichen.  In  der  Pathologie  spielen 
dementsprechend  die  Abnormitäten  der  Sensibilität,  der  Motilität,  der  Force 
de  Situation  fixe,  die  Schwäche  des  Nervensystems  und  die  „Sympathien" 
eine  wichtige  Rolle.  Dass  ein  Forscher,  der  eine  eigene  Restitutionskraft 
hypostasierte,  in  der  Krankheitsauffassung  der  Naturheilkraft  Rechnung 
tragen  musste,  ist  selbstverständlich ;  deshalb  unterschied  Barthez  drei 
therapeutische  Methoden,  von  denen  die  erste  die  Regelung  der  Naturheil- 
kraft bezweckte,  während  die  beiden  anderen  der  Behandlung  der  Krank- 
heitselemente dienen  sollten.  Borden  und  Barthez  hatten  eine  Reihe  von 
Nachfolgern,  welche  in  praktischer  Hinsicht  durch  Zerlegung  der  ICrank- 
heitsbilder  in  ihre  Grunderscheinungen  manch  Erspriessliches  leisteten  und 
sich  hiedurch  immer  mehr  dem  Lokalisationsprinzip  näherten.  Die 
vitalistische  Theorie  konnte  aber  nicht  weiter  geführt  werden,  es  sei  denn, 
dass  man  zu  animistischen  Spekulationen  (Grimaud)  sachte  zurückgriff  oder 
aber  das  Lebensprinzip  in  eine  Anzahl  von  organischen  Kräften  auflöste, 
wie  dies  Ch.  Louis  Dumas  (1765 — 1813)  that,  der  die  Einheit  des  Organis- 
mus fallen  Hess  und  neben  der  Sensibilität  eine  motorische,  eine  assimilierende 
und  eine  Kraft  des  vitalen  Widerstands  statuierte. 

Parallel  zum  Vitalismus  entwickelte  sich  inzwischen  auf  Grund- 
lage  der  Irritabilitätslehre   eine   zweite  Richtung,    die  sich  zu   ihm 

}. 


Einleitung.  89 

ganz  ebenso  verhält,  wie  die  Lehre  Hoffmanns  zum  Animismus,  d.  h. 
im  Inhalt  stimmen  beide  Richtungen  fast  überein,  und  nur  das  Grund- 
prinzip ist  bei  der  einen  mehr  abstrakt,  bei  der  anderen  mehr 
materiell  gedacht.  Diese  zweite  Richtung,  welche  in  Edinburg  durch 
William  Cullen  begründet  wurde,  war  die  sogenannte  Nervenpatho- 
logie, derzufolge  jede  organische  Erscheinung  von  der  ..Nervenkraft" 
und  ihren  Abnormitäten  herstammt.  Unbefriedigt  von  der  latro- 
mechanik  (Nicolaas  und  Bryan  Robinson),  von  Boerhaave  und  Stahl, 
welche  in  England  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  viele  An- 
hänger zählten,  fand  Cullen  in  Hoffmanns  Sj'stem  und  in  Hallers 
Irritabilitätslehre  manche  Anhaltspunkte,  die  mit  seinen  praktischen 
Erfahrungen  im  Einklang  zu  stehen  schienen.  Aus  diesen  Elementen 
baute  er  in  scharfsinniger  Weise,  mit  eiserner  Konsequenz,  aber  auch 
mit  grösster  Einseitigkeit  seine  eigene  Theorie,  die  als  Frucht  vierzig- 
jähriger Erfahrung  in  seinen  First  lines  of  the  practice  of  physick 
(1777)  niedergelegt  ist  und  sehr  bald  auch  ausserhalb  Englands 
Verbreitung  fand.  Die  Thatsache,  dass  seit  Willis  das  vStudium 
der  Nerven  und  ihrer  Affektionen  in  England  besonders  gepflegt 
wurde,  mag  viel  zur  Entstehung  der  „Nervenpathologie"'  beigetragen 
haben.  Nach  Cullen  erhält  die  animale  Kraft  oder  Energie  des  Nerven- 
systems den  normalen  „Tonus"  der  festen  Teile  und  bedingt  die  an 
sie  gebundenen  Bewegungserscheinungen.  Ist  die  Nervenkraft  durch 
Reize  gesteigert  oder  herabgesetzt  und  demgemäss  der  Tonus  geändert, 
so  entsteht  Krankheit,  die  also  in  „Spasmus"  oder  „Atonie"  besteht. 
Bemerkenswerterweise  vertritt  Cullen  mit  besonderem  Nachdruck 
die  Ansicht,  dass  der  Spasmus  nicht  immer  durch  ein  Uebermass  der 
Nervenkraft,  sondern  sogar  sehr  häufig  (z.  B.  in  Krämpfen)  durch 
Schwäche  des  Nervensystems,  welche  auch  als  Reiz  wirkt,  hervor- 
gerufen wird.  Namentlich  das  Fieber  beruht  auf  einer  durch  äussere 
Schädlichkeiten  erzeugten,  verminderten  Energie  des  Gehirns. 

Cullen  gehört  zu  den  wenigen  Autoren  der  alten  Litteratur,  welche 
bemüht  sind,  den  Krankheitsprozess  zu  analysieren  und  davon  eine 
plastische  Darstellung  zu  liefern.  Als  Beispiel  möge  das  Fieber  dienen, 
dessen  einzelne  Symptome  in  ihrer  Succession  folgendermassen  erklärt  werden. 
Infolge  der  durch  Schädlichkeiten  (Kälte,  Miasmen,  Kontagien  etc.)  erzeugten 
„Schwäche"  des  Gehirns  entsteht  Spasmus  der  peripheren  Gefässe,  dem  der 
rieberfrost  entspricht.  Durch  die  Fortleitung  des  Krampfes  auf  Schlagadern 
und  Herz,  durch  das  Zurücktreten  des  Blutes  nach  den  Organen  wird  das 
Hitzestadium  und  die  vermehrte  Pulsfrequenz  veranlasst,  welche  andauern, 
bis  der  Spasmus  an  der  Peripherie  überwunden  ist.  Nach  der  Stärke  der 
Reaktion  im  Gefässsystem  unterscheidet  Cullen  Fieber  mit  schwacher  (Typhus), 
mit  starker  (Synocha),  mit  gemischter  Reaktion  (Synochus). 

Nach  dem  angegebenen  Prinzip  werden  (mit  Ausnahme  der 
Skropheln  und  des  Skorbuts)  nicht  nur  die  Neurosen,  sondern  sämt- 
liche Affektionen  (auch  die  Gicht!)  in  letzter  Linie  von  Anomalien 
des  Nervensystems  hergeleitet  und  ebenso  auch  die  \\'irkung  der 
Medikamente  erklärt.  In  berechtigtem  Gegensatz  zur  üblichen  aus- 
leerenden Methode  empfahl  Cullen  neben  diätetischen  Massnahmen 
tonisierende  (Wein,  China,  Kampfer  u.  a.)  und  krampfstillende  Mittel 
(z.  B.  Opium). 

Abgesehen  von  englischen  Anhängern  (Gregory,  Macbride.  Mus- 
grave),  welche  manche  neue  Auffassungen  hineintrugen,  wurde  Cullens 


90  Max  Neuburger. 

Lehre  von  de  la  Roche  in  Paris,  Vacca  Berlinghieri  in  Pisa,  nament- 
lich aber  von  deutscher)  Aerzten,  zum  'l'eil  infolge  der  Beziehungen 
der  Göttinger  Schule  zur  englisclien  Medizin  vertreten.  Hoft'manns 
System  und  der  besonders  durch  Unzer  konkreter  gestaltete  Stahlia- 
nismus  hatte  in  Deutschland  den  Boden  für  die  Nervenpathologie 
geradezu  vorbereitet,  Hallers  Irritabilitätslehre  gab  ihr  die  wissen- 
schaftliche F'olie. 

Unter  den  deutschen  Vertretern  ragen  A.  Thaer  (1752 — 1828),  Chr. 
Fr.  Eisner  (1749— 1820)  und  Job.  Ulrich  Gottl.  Schäfer  (1753— 1826)  her- 
vor, welche  auf  veränderte  Reizbarkeit  oder  Sensibilität  alle  krankhaften 
Phänomene  zurückführten.  Ein  Kompendium  der  nervosistischen  Solidar- 
pathologie  verfasste  Kurt  Sprengel  (1766 — 1833). 

Anfangs  im  Zusammenhang  mit  der  Nervenpathologie,  später 
selbständig,  entwickelte  sich  aus  dem  Animismus  der  deutsche  Vitalis- 
mus. Während  aber  die  französischen  Vitalisten  im  Lebensprinzip 
nur  den  Ausdruck  unbekannter  Erscheinungen  erblickten  und  ohne 
hohle  Abstraktionen  über  die  letzte  Ursache  die  reale  Forschung 
durch  die  analytische  Methode  erweiterten,  folgte  eine  grosse  Zahl  der 
deutschen  Aerzte  ihrem  angestammten  Spekulationstrieb  und  er- 
schöpfte sich  in  scholastischen  Grübeleien  über  Wirkung  und  Wesen 
der  metaphysischen  „Lebenskraft",  die  zumeist  als  selbständige, 
virtuelle  Potenz  betrachtet  wurde. 

Der  erste  deutsche  Arzt,  welcher  d6n  Terminus  gebi'auchte,  war 
Fr.  C.  Medicus  (1736—1808),  der  in  seiner  Schrift  „über  die  Lebens- 
kraft" (1774)  den  Satz  aufstellte,  dass  zwischen  der  vernünftigen 
Seele  und  der  organischen  Materie  noch  ein  drittes  Prinzi])  vorhanden 
sein  müsse,  welches  mittels  des  Nervensystems  die  unwillkürlich  und 
unbewusst  verlaufenden  Lebensvorgänge  reguliere.  Damit  war  das 
Losungswort  für  Dezennien  und  für  alle  diejenigen  gegeben,  welche 
dankbar  jedem  Schlagwort  huldigen,  das  weiteres  Denken  und  mühe- 
volle Einzeluntersuchung  scheinbar  überflüssig  macht. 

Andererseits  zeigt  es  sich  gerade  in  dieser  Epoche  deutlich,  dass 
geniale  Köpfe  die  Forschung  durch  fruchtbare  Ergebnisse  zu  fördern 
vermögen,  unter  welchem  Gesichtswinkel  immer  die  Dinge  betrachtet 
werden  mögen.  So  war  es  der  Begründer  der  Anthropologie,  Joh.  Fried- 
rich Blumenbach  (1752 — 1840),  der  trotz  oder  vielleicht  gerade  wegen 
seiner  vitalistischen  Grundvorstellungen  den  einseitigen  Auffassungen, 
welche  mit  den  Begritfen  der  Irritabilität  und  Sensibilität  das  ganze 
Spiel  des  Lebens  umfassen  zu  können  glaubten,  wirksam  entgegentrat 
und  von  neuem  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Phänomene  der  Ernährung, 
der  stolflichen  Umsetzung,  des  Wachstums  und  der  Reaktion  lenkte. 
Darin  liegt  ein  grosses  Verdienst !  Während  aber  Blumenbach  erst  am 
Schlüsse  seiner  sorgsamen  exakten  Untersuchungen  eine  Grenze  fand, 
über  die  seine  mechanischen  Vorstellungen  nicht  hinauszudringen  ver- 
mochten und  in  weiser  Erkenntnis  die  unbekannten  Glieder  der 
Gleichung  als  planmässig  schatfenden  „Bildungstrieb"  („nisus  forma- 
tivus")  bezeichnete,  wurde  dieser  neue  Terminus  für  die  Masse  der 
Nachbeter  zum  Fetisch,  dem  sie  durch  windige  Dialektik  und  gaukle- 
rische Spitzfindigkeit  dienen  konnten,  ohne  das  Feld  der  ehrlichen 
wissenschaftlichen  Arbeit  betreten  zu  müssen. 

Der  fascinierenden  Anziehungskraft  der  Spekulation,  welche  jeden 
mit   magischen  Banden   umschlingt,   der  nur   um  Haaresbreite  ihren 


Einleitung.  91 

Irrgarten  betreten  hat,  vermochte  auf  die  Dauer  selbst  ein  so  er- 
leuchteter und  für  praktische  Forschung-  prädestinierter  Geist  nicht 
zu  widerstehen,  wie  es  Joh.  Christian  Reil  (1759—1813)  war,  der  in 
seinen  frühen  Perioden  hinsichtlich  der  ..Lebenskraft-'  einen  Stand- 
punkt einnahm,  der  von  vielen  hervorragenden  Männern  der  Gegen- 
wart geteilt  wird. 

In  seiner  berühmten  Abhandlung  über  die  Lebenskraft  (1796), 
die  immer  klassisch  bleiben  wird,  spricht  Eeil  den  denkwürdigen  Satz 
aus,  „dass  der  Grund  aller  Erscheinungen,  die  nicht  Vorstellungen  sind, 
oder  nicht  mit  Vorstellungen  als  Ursache  oder  Wirkung  in  Verbindung 
stehen,  in  der  tierischen  Materie,  in  der  ursprünglichen  Verschiedenheit 
ihrer  Grundstoife  und  in  der  Mischung  und  Form  derselben  beruhen". 
Mischung  und  Form  sind  die  Grundursachen  aller  materiellen  Er- 
scheinungen, „Kraft"  ist  nur  der  subjektive  Ausdruck  für  das  Ver- 
hältnis der  Erscheinungen  zu  den  Eigenschaften  der  Materie,  durch 
welche  sie  erzeugt  werden.  In  solcher  Auffassung  verliert  auch  die 
,.Lebenskraft"  alles  Mystische,  sie  bezeichnet  keine  virtuelle  Potenz, 
der  die  physikalisch-chemischen  Kräfte  untergeordnet  sind,  sondern 
(wie  die  physikalischen  Kräfte)  nur  einen  Begriff,  einen  provisorischen 
Ausdruck  für  das  Verhältnis,  in  welchem  die  noch  wenig  ergründeten, 
materiellen  Eigenschaften  der  lebenden  Teile  zu  den  von  ihnen  aus- 
gehenden Lebenserscheinungen  stehen.  Der  Organismus  stellt  eine 
Republik  dar,  in  welcher  alle  Teile  zur  Erhaltung  des  Ganzen  nach 
bestimmten  Gesetzen  zusammenwirken,  jedes  Organ,  jedes  Gewebe  be- 
sitzt aber  seine  eigene  Existenz  (vita  propria)  seine  eigenen  Lebens- 
erscheinungen, seine  eigene  Erregbarkeit  und  Krankheitsanlage. 

Diese  ausgezeichneten  Grundsätze,  welche  den  französischen  Vita- 
lismus sowohl  an  Tiefe,  wie  an  Nüchternheit  noch  übertrelfen.  weil  sie 
es  unentschieden  liessen,  ob  das  Lebensprinzip  Ursache  der  Form  und 
Mischung  oder  ob  das  Leben  nur  das  Produkt  der  Form  und  Mischung 
ist,  hätten  den  Ausgangspunkt  für  erneutes  Forschen  mittels  der 
Naturwissenschaften  bilden  können.  Aber  auch  Eeil,  der  mit  Genialität 
alle  Zweige  der  theoretischen  und  praktischen  Heilkunde  beherrschte, 
sich  durch  seine  bahnbrechenden  Arbeiten  über  Gehirnanatomie,  durch 
seine  Verdienste  um  die  Psychiatrie  einen  unvergänglichen  Namen  er- 
worben hat,  folgte  in  späteren  Jahren  dem  philosophischen  Zuge  der 
Zeit,  und  derselbe  Forscher,  der,  nach  Berlin  berufen,  sofort  einen 
Anatomen  und  Kliniker  in  den  Dienst  der  Klinik  stellte,  verlor  sich 
allmählich  ins  Gestrüpp  der  aprioristischen  Abstraktion.  Die  Folgen 
waren  umso  schlimmer,  als  sich  die  Kärrner  selbstgefällig  auf  die 
Autorität  einer  Persönlichkeit  wie  Reil  berufen  konnten. 

Durch  Gautier,  Brandis  u.  a.  Autoren,  namentlich  aber  unter  dem 
Einfluss  des  berühmten  Praktikers  Hufeland  gelangte  der  Vitalismus  zu 
einer  dezennienlang  fast  unbestrittenen  Herrschaft,  da  das  System  der 
theoretischen  Spekulation  einen  festen  ßuhepunkt  gewährte  und  sich  in  der 
Praxis  gerade  mit  den  hippokratischen  Prinzipien  aufs  beste  vereinigen 
Hess.  Chr.  W.  Hufeland  (1762—1836)  wollte  mit  der  ..Lebenskraft''  mü- 
der Thatsache  der  Einheit  des  Leßens  Ausdruck  geben  und  verstand  darunter 
nur  das  allgebraische  x,  in  der  Formel  der  organischen  Erscheinungen,  nicht 
aber  ein  nach  eigenen  Gesetzen  thätiges,  dynamisches,  dämonisches  Prinzip. 
Die  Nachfolger  scheuten  sich  aber  nicht  davon  abzuweichen  und  erklärten 
jedwede  Thätigkeit,    die  nach    dem  damaligen  Standpunkt    der  Naturwissen- 


92  Max  Neu  burger. 

Schaft  dunkel  bleiben  musste,  durch  die  Lebenskraft  oder  durch  eine  be- 
sondere Modifikation  der  physikalisch-chemischen  Gesetze  —  ein  Schluss, 
dessen  Wert  mit  jedem  Fortschritt  der  exakten  Wissenschaften  wandelbar 
ist  und  thatsächlich  erst  beim  Vorhandensein  der  vollen  Erkenntnis  der 
anorganischen  Natur  absolute  Beweiskraft  besitzt. 

Die  konsequente  Ideenentwicklung,  welche  sich  in  den  Lehr- 
systemen  des  18.  Jahrhunderts  kundgiebt  und  den  Vordergrund  des 
historischen  Schauplatzes  in  seiner  ganzen  Breite  einnimmt,  erweckt 
fast  den  Anschein,  als  ob  sich  die  gesamte  ärztliche  Forscherwelt 
dieser  Epoche  wie  ein  einziges  philosophierendes  Individuum  verhält, 
in  dessen  Kopfe  sich  ein  Gedanke  nach  dem  anderen  in  rascher  Ent- 
faltung drängt. 

Im  Wesen  lag  aber  all  diesen  theoretischen  Abstraktionen  nicht 
so  sehr  die  Sucht,  durch  schillernde  Spekulation  zu  prunken,  als  das 
wissenschaftlich  gerechtfertigte  Streben  zu  Grunde,  die  handwerks- 
mässige  Empirie  zu  überwinden  und  rationelle  Leitsätze  für  die 
praktische  Berufsthätigkeit  zu  gewinnen.  Die  Not  des  Lebens, 
die  ungestümen  Anforderungen  des  Tages,  welche  ohne 
Rücksicht  auf  die  erlangte  Wissenshöhe  vom  Arzte 
jederzeit  ein  ganzes  Können  erheischen  und  ihndadurch 
in  eine  bedrängte  Lage  versetzen,  die  kein  anderer 
Naturforscher  erfährt,  drücken  der  ganzen  wissen- 
schaftlichen Bewegung  den  Stempel  der  Hast  und  Ueber- 
eilung  auf. 

Zu  allen  Zeiten  weiss  sich  nur  die  Minderzahl  die  nötige  Ruhe 
zu  bewahren,  welche  zum  langsamen  Aufbau  nötig  ist!  Eine  solche, 
rüstig  strebende  Minderzahl,  welche  zwischen  theoretischen  Stürmern 
und  banausisch  am  Althergebrachten  hängenden  Praktikern  die 
richtige  Mitte  hielt,  mit  Kelle  und  Schwert,  abwehrend  und  bauend 
für  den  Fortschritt  thätig  war,  mangelte  aber  auch  dieser  Epoche  nicht 
gänzlich  und  ihrer  stillen,  vom  Tosen  der  Zeitströmung  übertönten 
Arbeit,  ihren  reellen,  aufs  einzelne  gerichteten  Anstrengungen  dankt 
die  moderne  Wissenschaft  weit  mehr,  als  sie  ahnt.  Die  Geschichte 
als  ti'eue,  unbestechliche  Hüterin  der  Wahrheit,  hat  die  Aufgabe, 
gerade  diesen  Männern  gerecht  zu  werden,  denen  nur  zum  geringen 
Teile  neben  der  inneren  Befriedigung  auch  der  zeitgenössische  Ruhm 
vergönnt  war,  und  deren  grosse  Leistungen  unverdienterweise  zu- 
meist das  Schicksal  tragen,  ebenso  wie  die  einstige,  vom  Beifall  um- 
rauschte Systematik  vergessen  worden  zu  sein. 

Unbeeinflusst  vom  Wandel  der  Theorien  schritt  nicht  nur  die 
Chirurgie  und  Geburtshilfe  (namentlich  in  Frankreich  und  England) 
mächtig  vorwärts,  auch  die  innere  Medizin  wurde  durch  eine  Fülle 
von  ausgezeichneten  Beobachtungen  der  Praktiker  erstaunlich  er- 
weitert und  mit  Hilfe  der  entwickelten  Hilfszweige  auf  w-esentlich 
bessere  Grundlagen  gestellt.  Getragen  vom  Bewusstsein  der  Standes- 
würde, als  „Hausarzt"  durch  mannigfache  Umstände  auf  denjenigen 
Platz  der  Gesellschaft  gerückt,  den  früher  der  Geistliche  einnahm, 
durch  materielle  Sorgen  um  des  Lebens  Nöten  kaum  bedrückt,  konnten 
sich  die  Praktiker  in  jenem  goldenen  Zeitalter  mit  innerer  Weihe 
so  ganz  ihrem  edlen  Berufe  hingeben  und  durften  freudig,  der  vollen 
Befriedigung  gewärtig,  ihre  Fähigkeiten  in  den  ausschliesslichen  Dienst 
der  Wissenschaft  stellen.    Gerade  die  geringe  Entwicklung  der  dia- 


Einleitung.  93 

gnostischen  und  therapeutisclien  Technik  beförderte  die  Auslese  der 
Tüchtigen  und  schärfte  das  Auge,  die  tastende  Hand  für  die  scheinbar 
unbedeutenden  Symptome,  lenkte  die  Aufmerksamkeit  auf  jedes  un- 
scheinbare Zeichen  im  Krankheitsverlaufe  und  liess  denjenigen,  der 
die  Kunst  des  Schauens  verstand,  in  gereifter  Erfahrung  jenen  sicheren 
„Takt"  erwerben,  der  über  die  schwierigsten  Hindernisse  hinweghalf, 
der  kundig  der  Voraussage  den  drohenden  Gefahren  entgegentrat.  Und 
mochte  das  Schiff  lein  der  Heilkunst  durch  ungestümen  Wogenprall 
der  Hj^pothesen  bald  emporgerissen,  bald  abwärts  getrieben  werden, 
die  Praktiker  steuerten  mit  sicherem  Griffe  unbeirrt  weiter,  nur  ge- 
leitet von  jenem  Kompass,  der  unverrückbar  hinwies  auf  die  Sorgen 
des  Krankenbetts,  auf  das  Wohl  der  leidenden  Menschen ! 

"Was  der  Unterricht  versäumte,  der  nur  in  Leyden,  in  Halle,  in 
Göttingen  und  Wien  zur  Blüte  gebracht  wurde,  musste  der  junge  Arzt  im 
vertrauten  Umgang  mit  gereiften  Kollegen  nachholen,  die  es  nicht  fehlen 
Hessen,  durch  deontologische  und  methodologische  Schriften  über  den  ärzt- 
lichen Beruf  (Hoffmann,  Zimmermann)  die  ersten  Schritte  des  jungen  Adepten 
zu  leiten  und  ihm  über  unausbleibbare  Enttäuschungen  hinwegzuhelfen.  Die 
medizinische  Journalistik,  welche  an  Stelle  des  schleppenden  gelehrten  Brief- 
wechsels und  der  wenig  zugänglichen  Akademieschriften  neue  Erfahrungen 
mit  Windeseile  über  die  Lande  hinwegtrug,  diente  den  Zwecken  der  prak- 
tischen Wissenschaft;  in  populärer  Form  (Tissot,  Unzer),  auch  der  „Auf- 
klärung" des  Volkes,  das  wie  immer  den  Lockungen  der  Afterärzte  und 
Kurpfuscher  nur  allzuwillig  Gehör  schenkte. 

üeber  die  Schwierigkeiten  der  Erkenntnis  pathologischer  Verhält- 
nisse mit  unbefangener  Naivetät  hinwegziehend,  schilderten  die  besten 
Praktiker  ungekünstelt  die  Krankheitsbilder  frei  nach  der  Anschauung, 
ohne  sich  vom  Systemzwang  oder  einseitigen  nosologischen  Klassi- 
fikationen, wie  sie  zur  Ordnung  und  wissenschaftlichen  Formung  des 
empirischen  Materials  von  Sauvages,  Cullen,  Ploucquet,  Sagar  u.  a. 
unternommen  wurden,  allzusehr  beschränken  zu  lassen.  Vornehmlich 
war  England  und  Deutschland  reich  an  solchen  Aerzten,  welche  in 
ihren  Aufzeichnungen  manches  Wertvolle  hinterlassen  haben. 

Die  namhaftesten  unter  den  grossen  Praktikern  sind  die  Engländer: 
Georg  Cheyne  (1671  —  1743,  Richard  Mead  (1673—1754),  John  Huxham 
(1694—1768),  John  Pringle  (1707—1782),  Clifton  Wintringham  (1710— 
1794),  John  Fothergill  (1712—1780),  William  Heberden  (1710—1801), 
James  Gi-egory  (1758 — 1821);  die  Italiener:  Borsieri  de  Kanifeld  (1725— 
1785)  und  Michael  Sarcone ;  die  Schweizer:  Joh.  Georg  Zimmermann 
(1728  —  1795)  und  Simon  Andre  Tissot  (1728—1797);  die  Deutschen: 
Paul  Gottlieb  AVerlhof  (1699—1767),  Balthasar  Ludwig  Tralles  (1708  — 
1797),  Rudolf  Augustin  Vogel  (1724—1774),  Benjamin  Lentin  (1736— 
1804),  Philipp  Gabriel  Hensler  (1733— 1805),  Joh.  Ernst  AVichmann  (1740— 
1802),  Marcus  Herz  (1747—1803),  Franz  Xaver  Mezler  (1756—1812), 
Christian  Gottfried  Seile  (1748—1800),  Chr.  W.  Hufeland;  der  Däne: 
Friedr.  Ludw.  Bang  (1747 — 1820)  und  der  Schwede:  Nils  Rosen  von  Rosen- 
stein (1706—1773). 

An  den  hohen  Schulen  herrschte  im  allgemeinen  noch  der  Geist 
der  wissenschaftlichen  Dogmatik  vor,  wegen  mangelhafter  Unterrichts- 
und Forschungsbehelfe  vermochten  sie  die  ärztliche  Ausbildung  und 
Forschung  nicht  in  dem  Grade  zu  fördern,  wie  man  es  ihrer  grossen 


94  Max  Neubiirger. 

Zahl  nach  erwarten  sollte.  Ausnahmen  bildeten  in  Deutschland  nur 
die  medizinische  Fakultät  Göttingen,  die  ihren  Glanz  dem  Genius 
Hallers,  sowie  den  Einflüssen  der  englischen  Medizin  dankte  und  die 
Wiener  Schule,  welche  der  grosse  Schüler  Boerhaaves,  Gerhard 
van  Swieten  (1700 — 1772),  durch  seine  rastlose,  umgestaltende  Reform- 
thätigkeit  vom  Druck  des  Obsciirantismus  befreite  und  zur  ersten 
Pflegestätte  der  ärztlichen  Kunst  erhob.  Die  Wiener  Klinik, 
welche  nach  dem  Vorbilde  der  Leydener  eingerichtet 
w^urde,  war  die  Klinik  xar"*  e^oxt]v,  sie  bewahrte  nunmehr  als 
köstliches  Kleinod  das  Palladium  klinischer  Meisterschaft.  In  den 
Boden  der  altehrwürdigen  Kulturstätte  überpflanzt,  trieb  der  Baum 
der  holländischen  Klinik  bald  mächtige,  unausrottbare  Wurzeln,  dazu 
angelegt,  den  Wechsel  der  Anschauungen  überdauern  zu  können. 

Van  Swieten  begnügte  sich  in  seiner  anspruchslosen  Weise  da- 
mit, die  Lehren  und  Einrichtungen  seines  Meisters  zu  übermitteln, 
und  wie  er  die  ganze  Summe  seiner  ärztlichen  Erfahrung  trotz  neuen 
reichhaltigen  Inhalts  pietätsvoll  bloss  in  Form  von  „Commentaria"  zu 
den  Aphorismen  seines  Meisters  veröffentlichte,  auf  eigenen  Ruhm  be- 
scheiden Verzicht  leistend,  so  hielt  er  encj^klopädische  Vorlesungen  für 
die  Aerzte  aus  seiner  Umgebung  nur  in  der  Absicht,  um  aus  ihnen 
Lehrer  im  Geiste  Boerhaaves  heranzuziehen.  Wie  er  als  Schriftsteller 
die  Erläuterung  der  „Institutiones"  dem  höheren  Talente  Hallers  über- 
liess,  so  berief  er  als  ersten  Kliniker  seinen  einstigen  Mitschüler, 
Anton  de  Haen  (1704 — 1776),  an  die  eben  geschatfene  Unterrichts- 
stätte, beseelt  von  selbstlosem  Eifer,  jeden  zu  fördern,  von  dem  er- 
spriessliche  Leistungen  für  das  Gemeinwohl  zu  erwarten  waren.  Und 
in  der  That !  Anton  de  Haen,  ein  Forscher  voll  Energie  und  Scharf- 
sinn, ein  Gelehrter,  der  sich  eigene  Ueberzeugungen  zu  bilden  gewohnt 
war,  ein  Lehrer,  der  über  die  zündende  Gewalt  des  Wortes  verfügte, 
wusste  seinen  Platz  an  verantwortlicher  Stelle,  die  Erwartungen  noch 
übertreifend,  auszufüllen. 

Freilich  mangelt  es  nicht  an  Sonnenflecken  und  wahrlich,  man  hat 
nicht  unterlassen,  in  der  Schilderung  de  Haens  das  Hauptgewicht  auf  seinen 
masslosen  Eigendünkel,  seinen  Neuerungshass,  seine  Unduldsamkeit  gegen 
Andersdenkende,  namentlich  aber  auf  seine  kulturfeindliche  Verteidigung  des 
Hexenglaubens  zu  legen.  Glücklicherweise  spielen  aber  in  der  Geschichte 
des  menschlichen  Geistes  die  persönlichen  Eigenschaften  der  Personen  nur 
eine  höchst  untergeordnete  Rolle,  nur  ihre  Ideen,  soweit  sie  von  Tragweite 
waren,  fallen  ins  Beobachtungsfeld,  Und  bildet  es  auch  eine  kulturgeschicht- 
liche Merkwürdigkeit,  dass  ein  geistvoller  Kliniker  mitten  in  der  Zeit  der 
Aufklärung  einem  finsteren  "Wahnglauben  das  Wort  sprach  —  Analoga 
finden  sich  übrigens  auch  heute  — ,  so  kommt  dieser  Verirrung  glücklicher- 
weise deshalb  keine  Bedeutung  zu,  weil  der  bessere  Teil  der  Menschheit 
davon  nicht  mehr  berührt  werden  konnte.  Mit  dem  endgültigen  Siege  des 
Guten  und  Wahren  kommt  nur  mehr  dasjenige  in  Betracht,  was  das  Einzel- 
individuum Gemeinnütziges  —  das  einzig  Positive  —  geleistet  hat. 

Anton  de  Haen  wurde  das  Vorbild  jenes  nüchternen,  nur  an 
realen  Thatsachen  haftenden  Skeptizismus,  welcher  die  Wiener  Schule 
in  den  verschiedenen  Zeitläufen  fortan  vorteilhaft  kennzeichnete.  Seine 
mannigfachen  Verdienste,  seine  Vorzüge  und  Mängel  lassen  sich  sämt- 
lich darauf  zurückführen,  dass  er  die  Suprematie  der  klinischen 
Erfahrung  verteidigte,  die  klinische  Krankenbeobachtung  als  höchste. 


Einleitung.  95 

ja  einzige  autokratische  Instanz  für  alle  medizinischen  Fragen  ansah, 
und  im  Geiste  Sydenhams  der  physiologischen  Forschung  höchstens 
eine  beratende,  aber  keine  entscheidende  Bedeutung  beimass.  Xicht 
der  Pbj'siologe,  sondern  der  Kliniker  sollte  nach  seiner  Meinung  das 
letzte  Wort  haben  und  im  Falle  des  Widerspruchs  zwischen  beiden 
sollte  der  erstere  vor  der  „Erfahrung"  des  letzteren  verstummen. 
Daraus  erklärt  sich  der  scheinbare  Widerspruch,  dass  Anton  de 
Haen  zwar  mit  Hyperkritik  vielen  angeblich  exakten  Experimental- 
ergebnissen  seines  Zeitalters  entgegentrat,  aber  doch  im  Interesse 
klinischer  Zwecke  (z.  B.  über  die  Gerinnung  des  Blutes,  Eiterbildung, 
Harnveränderungen,  über  Erstickungs-  und  Ertrinkungstod  etc.)  sehr 
eifrig  experimentierte,  dass  er  die  Fahne  des  Hippokratismus  und 
leider  auch  der  Humoralpathologie  mit  zähem  Konservatismus  gegen 
die  „Neuerer"  als  „asystematicus"  verteidigte,  und  doch  durch  Ein- 
führung der  exakten  thermometrischen  Messungen,  durch 
Aufstellung  neuer  Krankheitsbilder,  durch  häufige  und  sorgfältige 
Leichenuntersuchungen,  durch  Anwendung  neuer  therapeutischer  Me- 
thoden (Elektrotherapie)  die  Grenzen  des  Ueberkommenen  verliess.  Als 
Kliniker,  der  mit  offenen  Augen  zu  beobachten  gewöhnt  w-ar  und 
gerade  in  der  unbefangenen  Beobachtung  das  Wesen  des  Hippo- 
kratismus erkannte,  galt  ihm  ein  solcher  Neuerwerb  nur  als  wurzel- 
echter Sprössling  der  hippokratischen  Muttererde.  Die  stete  Sorge, 
mit  der  Tradition  nicht  zu  brechen,  hinderte  ihn  freilich,  viele  seiner 
weitblickenden  Bemerkungen  und  überraschenden  Beobachtungen,  wie 
sie  sich  in  seiner  Ratio  medendi  vorfinden,  in  einer  fruchtbringenden 
Weise  für  Praxis  und  Theorie  auszunützen  und  verleitete  ihn,  neben 
dem  kühlenden  Verfahren  allzuhäufig  den  Aderlass  zu  gebrauchen. 

Der  Nachfolger  de  Haens,  Maximilian  Stoll  (1742—1788),  einer 
der  berühmtesten  und  beliebtesten  Lehrer  seiner  Zeit,  ein  Kliniker,  zu 
dem  Schüler  von  Nah  und  Fern  in  Scharen  strömten  und  dessen  patho- 
logische Grundanschauungen  dezennienlang  den  „hippokratischen" 
Aerzten  als  Dogma  galten,  brachte  die  ältere  Wiener  Schule  auf  den 
Gipfelpunkt  des  Ruhmes.  Harmonisch  veranlagt,  liebenswürdig  ent- 
gegenkommend, ein  Freund  der  guten  Formen,  steht  er  schon  äusser- 
lich  in  einem  gewissen  Kontrast  zu  dem  düsteren  Haen.  Dieser  äussere 
Kontrast,  der  sogar  in  der  anheimelnden  Diktion  seiner  Werke  her- 
vortritt, ist  nur  das  Spiegelbild  des  inneren  Gegensatzes,  der  z"ttischen 
beiden  Männern  obwaltet,  denn  wiewohl  beide  strenge  hippokra tisch 
denken,  so  vertreten  sie  doch  verschiedene  Seiten  des  Hippokratismus, 
Haen  als  ungestümer,  nie  zum  Abschluss  gelangender  ^^'ahrheits- 
sucher.  Stoll  als  humoraler  Dogmatiker,  dem  in  olympischer  Ruhe  stets 
das  Ganze  im  einzelnen  vorschwebt. 

Wenn  er  auch  mit  Sorgfalt  und  Liebe  ebenso  wie  sein  Vorgänger 
die  Kasuistik  pflegte,  mit  vollendeter  Meisterschaft  Krankheitsbilder 
(z.  ß.  Lungentuberkulose,  Bleikolik  etc.)  entwirft  und  die  pathologische 
Anatomie  keineswegs  unterschäzt,  so  war  doch  sein  Sinn  vorwiegend 
den  Epidemien,  der  Erforschung  der  Krankheitsätiologie  zugewandt. 
Mehr  den  Allgemeinzustand  als  das  lokale  Symptom  ins  Auge  lässend, 
legte  er  beispielsweise  auf  die  exakte  Puls-  und  Temperaturmessung 
weit  weniger  Gewicht  als  de  Haen  und  machte  die  Behandlung  ähnlich 
wie  Sydenham,  vom  „Genius  epidemicus",  dem  Inbegrifl"  der  sorgfältig 
studierten  meteorologischen  Verhältnisse  abhängig.  Dieser  Betrach- 
tungsweise dankte  die  Einseitigkeit  ihren  Ursprung,  mit  der  er  lange 


96  Max  Neuburger. 

Zeit  fast  sämtliche  Fieber  und  entzündliche  Krankheiten  auf  einen 
„gastrisch-biliösen"  Grundcharakter  zurückführte.  Wiewohl 
Stoll  später  selbst  von  dieser  Ansicht  und  von  der  daraufgebauten 
antigastrischen  Therapie  (Brechmittel)  Abstand  nahm,  so  hatte  doch 
seine  Autorität  schon  zu  tief  auf  das  Denken  der  Aerzte  eingewirkt 
und  bis  in  die  Mitte  des  19.  Jahl-hunderts  setzte  sich  bei  vielen  die 
Tradition  fort,  jede  Kur  mit  einem  Brechmittel  zu  beginnen. 

In  neuester  Zeit  ist  die,  auch  den  Laien  sehr  einleuchtende  gastrische 
Grundlage  vieler  Affektionen  (auch  Neuralgien,  Psychosen)  in  beschränktem 
Masse  wieder  als  etwas  Neues  zu  Ehren  gekommen.  Vor  Stoll  hatten  schon 
Tissot,  Grant,  Finke  auf  diese  Aetiologie  aufmerksam  gemacht,  nach  Stoll 
trat  eine  grosse  Zahl  von  Acrzten  auf,  welche  auf  Grund  sehr  vager  Zeichen 
(belegte  Zunge,  Aufstossen,  Ekelgefühl  etc.)  viele,  besonders  epidemische 
Krankheiten  durch  die  gastrisch- biliöse  Theorie  erklärten.  Das  Höchste 
leistete  darin  der  hessische  Leibarzt  Johann  Kämpf  (1726 — 1787),  welcher 
die  meisten  chronischen  Krankheiten  von  „Unterleibs-Infarkten"  ableitete 
und  gegen  dieselben  mit   „Visceral-Klystieren"    zu  Felde  zog. 

Der  Anwendung  von  Brechmitteln  hatte  übrigens  schon  vorher  ein 
Schüler  van  Swieten  grossen  Vorschub  geleistet,  nämlich  Anton  Störck 
(1731  — 1803),  ein  Forscher,  der  sich  durch  die  seit  Wepfer  und  Wilhs 
kaum  gepflegte  experimentelle  Prüfung  der  Arzneimittel 
(Schierling,  Bilsenkraut,  Colchicum,  Akonit)  ausserordentliche  Verdienste  er- 
worben hat ;  mangelte  es  ihm  auch  an  hinreichender  Kritik,  so  hat  er  doch 
die  richtige  Methode  gewählt  und  damit   die  Pharmakodynamik  inauguriert. 

Von  den  späteren  Klinikern  der  Wiener  Schule  sind  ganz  be- 
sonders der  vielseitige  Job.  Peter  Frank  (1745 — 1821),  welcher  zwar 
vorwiegend  den  Spuren  des  Hippokrates  und  Sydenham  folgte,  aber 
sich  neuen  Richtungen  doch  weit  mehr  als  seine  Vorgänger  zugänglich 
erwies,  auch  mehr  und  mehr  auf  die  soziale  als  auf  die  individuelle 
Medizin  das  Hauptgewicht  legte,  sowie  Job.  Valentin  Hildenbrand 
(1763 — 1818)  der  Verfasser  eines  noch  heute  lesenswerten  Werkes 
„über  den  ansteckenden  Typhus"  hervorzuheben. 

Die  Saat,  welche  van  Swieten  ausgestreut  hatte,  fiel  in  "Wien  auf  guten 
Boden.  Eine  Reihe  von  ausgezeichneten  Praktikern,  welche  hier  wirkten 
oder  ihre  Ausbildung  erlangten  und  von  denen  manche  glänzende  Leistungen 
aufweisen  konnten,  begründeten  den  medizinischen  Ruf  der  alten  Kaiser- 
stadt: Job.  Georg  Hasenöhrl,  ein  guter  epidemiologischer  Schriftsteller, 
Josef  Eyerel,  der  Stolls  nachgelassene  Schriften  herausgab,  A.  Plenciz, 
d  er  Verf  e  cht  er  des  Contagium  animatum,  Pascal  Jos.  Ferro 
(Wasserheilkunde,  Sauerstofftherapie),  Adam  Chenot,  einer  der  besten 
Pestschriftsteller,  Jos.  Lautter  (Intermittens),  J.  B.  M.  Sagar  (Typhus, 
nosologischer  Klassifikationsversuch),  Stefan  Weszpremi  (Geburtshilfe,  In- 
okulationsversuche mit  Pesteiter),  Wenzel  Trnka  von  Krzowicz  (Monographien 
über  verschiedene  Leiden),  Jacob  v.  Plenk  (Hautkrankheiten  u.  a.). 

Der  hervorstechendste  Grundzug  der  älteren  Wiener  Schule  liegt 
darin,  dass  sie  inmitten  einer  spekulativ  angelegten  Zeit  die  nüchterne, 
klinische  Thatsachenforschung  auf  den  Schild  hob  und  für 
die  praktische  ärztliche  Thätigkeit  nur  jenen  theoretischen  Rückhalt 
benutzte,  der  durch  den  Hippokratismus,  in  seiner  üblichen  Auffassung 
gegeben  war,  also  die  —  Humoralpathologie.  Durch  Stoll  stei- 
gerte sich  dieselbe  zu  einer  Ausartung  in  den  —  Gastricismus. 


Einleitung.  97 

Als  Bannerträgerin  der  Humoralpathologie,  welche  Boerhaave,  wie  er- 
wähnt, zu  Gunsten  der  latrophysik  wesentlich  modifiziert  hatte,  trat  die 
Wiener  Schule  in  scharfen  Gegensatz  zu  den  solidaristischen  Systemen  des 
18.  Jahrhunderts.  Unabhängig  von  ihr  wurde  die  Humoralpathologie  nur 
von  Christian  Ludwig  Hoffmann  (1721 — 1807)  vertreten,  welcher  ihre 
chemiatrische  Fassung  mit  solidaristischen  Elementen  zu  einem  neuen  Systeme 
verschmolz.  Nach  seiner  Anschauung  besteht  die  allgemeinste  Ursache  des 
Erkrankens  in  Fäulnis,  Säuerung,  Entartung  u.  s.  w.  der  Säfte.  Nament- 
lich ist  das  Blut  der  beständige  Quell  fauliger,  scharfer  Stoffe,  wenn  ihre 
Ausscheidung  durch  die  dazu  bestimmten  Organe  nicht  von  statten  geht. 
Die  sauren  Schärfen  oder  die  faulige  Materie  wirken  aber  nicht  chemisch, 
sondern  als  krankhafte  Reize  auf  die  festen  Teile,  namentlich  auf  das  Nerven- 
system. Die  Therapie  hat  Säuren  oder  Alkalien  oder  (gegen  die  vermeint- 
liche Fäumis)  „antiseptisch  e^  Substanzen  anzuwenden,  zu  welchen 
Hoffmann  die  sonst  als  Reizmittel  bezeichneten  Stoffe,  z.  B.  Chinarinde, 
Kampfer  etc.  rechnet. 

Trotz  der  schönen  Anfänge  Anton  de  Haens  schritt  die  Wiener 
Schule  über  den  antiken  Hippokratismus  kaum  hinaus,  sie  schwang- 
sich  weder  zur  Lokaldiagnostik  empor,  noch  suchte  sie  die 
tieferen.  Relationen  zwischen  Leichenbefund  und  in 
vivo  beobachteten  Symptomen  auf. 

Diese  beiden  Grundlagen  der  modernen  Heilkunst  dankt  die 
Aerzteschaft  dem  Anatomen  Giovanni  Battista  Morgagni  und 
dem  sehlichten  Praktiker,  der  aus  der  Wiener  Schule  stammte,  Joseph 
Leopold  A  u  e  n  b  r  u  g  g  e  r. 

Das  Jahr  1761  gehört  zu  den  bedeutungsvollsten  in  der  Geschichte 
der  Medizin,  in  diesem  Jahre  erschienen  zwei  Schriften,  die  sich  dem 
Werte  nach  Vesals  und  Harveys  Meisterwerken  anreihen:  Mor- 
gagnis Schrift  „über  den  Sitz  und  die  Ursachen  der 
Krankheiten"  und  A  u e n b r u g g e r  s  ,,I n  v e  n  t  u  m  n o  v u m  ex  per- 
cussione  thoracis  humani  ut  signo  abstrusos  interni  pectoris  morbos 
detegendi".  Durch  das  erstgenannte  Buch,  die  Lebensarbeit  eines 
79jährigen  Greises,  wurde  die  pathologische  Anatomie  wissen- 
schaftlich begründet  und  in  innigen  Zusammenhang  mit  der  prak- 
tischen ^Medizin  gebracht,  durch  Auenbruggers  Schrift,  die  Schöpfung 
eines  39  jährigen  Mannes,  die  physikalische  Diagnostik 
inauguriert.  Es  sind  die  beiden  grössten  Leistungen,  welche  die  medi- 
zinische Wissenschaft  des  18.  Jahrhunderts  zu  verzeichnen  hat,  im 
Vergleich  mit  ihnen  erbleichen  alle  übrigen!  Wie  so  oft,  so  zeigt  es 
sich  auch  hier,  auf  welch  schwachen  (Gründen  das  Urteil  der  Zeit- 
genossen ruht,  denn  nur  wenige  folgten  den  grossen  Pfadfindern  auf 
dem  neuen  Wege,  und  kein  einziger  erkannte,  dass  dieser  Weg  allein 
aus  dem  Dickicht,  aus  dem  Gestrüpp  hinausführte  auf  die  freie  Strasse 
der  realen  Erkenntnis. 

Morgagni  (1682—1771),  der  Zeitgenosse  hervorragender  italienischer 
Anatomen,  war  der  Schüler  Valsalvas  und  Albertinis,  war  der  Freund 
Lancisis.  Morgagni  stand  somit  in  naher  Verbindung  mit  Forschern, 
welche  die  pathologische  Anatomie  auf  einzelnen  Gebieten  schon 
wesentlich  gefördert  hatten,  auch  fehlte  es  ihm  nicht  an  Vorbildern  in 
der  pathologisch-anatomischen  Litteratur  (besonders  das  umfangreiche 
Sammelwerk  von  Bonet).  Worin  er  seine  sämtlichen  Vorgänger  über- 
ragte, das  war  nicht  allein  der  unvergleichliche  Eifer,  mit  dem  er  die 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  7 


98  Max  Neuburger. 

g-esamte  Patholog'ie  bearbeitete,  die  unübertreifliche  Genauigkeit,  mit 
der  er  auch  scheinbar  alltägliche  Veränderungen  beschrieb,  die  scharfe 
Kritik,  mit  der  er  die  Grenzen  des  physiologischen  und  pathologischen 
Verhaltens  festzustellen  bemüht  war,  das  Neue  und  Bahnbrechende 
liegt  vielmehr  in  der  planmässig  verwirklichten  Absicht,  die  Ergeb- 
nisse der  Leichenöffnung  mit  den  während  des  Lebens  beobachteten 
Erscheinungen  so  innig  als  möglich  zu  verknüpfen,  um  ein  voll- 
ständiges Bild  der  krankhaften  Vorgänge,  der  Grundlagen  und  der 
Entwicklung  des  Krankheitsprozesses  zu  gewinnen.  Morgagni  war 
der  erste,  welcher  die  beiden  bisher  getrennt  nebeneinander  einher- 
laufenden Richtungen  der  klinischen  Beobachtung  und  pathologischen 
Anatomie  zu  einem  Ganzen  vereinigte,  indem  er  einerseits  die  Obduk- 
tionsbefunde durchgeistigte,  andererseits  in  die  Pathologie  den  ana- 
tomischen Gedanken  einführte. 

Zur  vollen  praktischen  Nutzbarmachung  fehlte  aber  eine  Methode, 
welche  gestattet,  in  vivo  die  pathologisch-anatomischen  Veränderungen 
wahrzunehmen.  Durch  Auenbrugger  (1722 — 1809)  wurde  der  erste 
und  bedeutsamste  Schritt  gethan,  diesem  Erfordernis  zu  entsprechen. 
Schon  im  Jahre  1754  fand  er,  dass  die  verschiedenartigen  Schall- 
phänomeue,  welche  beim  Beklopfen  des  Brustkorbs  entstehen,  einen 
Massstab  für  die  Beurtheilung  des  Zustandes  der  Respirationswerk- 
zeuge abgeben,  und  als  er  nach  siebenjähriger  unablässiger  Beobachtung 
der  ärztlichen  Welt  sein  Meisterwerk  vorlegte,  konnte  er  darin  schon 
die  meisten  Ergebnisse  vorführen,  welche  noch  heute  als  Grundlagen 
der  Lehre  von  der  Perkussion  gelten.  Auenbruggers  Verdienst  ist 
um  so  höher  anzuschlagen,  als  er  die  Idee  und  Durchführung  der  Idee 
nur  sich  selbst  verdankte.  Selten  hat  eine  Schrift  mit  solchem  Rechte 
den  Titel  „Inventum  novum"  getragen  wie  diese. 

Auf  95  Seiten  bietet  Auenbrugger  eine  lapidar  abgefasste  Dar- 
stellung der  Perkussionsmethode,  der  normalen  und  abnormen  Schall- 
phänomene, bespricht  Krankheiten,  bei  denen  Schallveränderungen  vor- 
kommen, (wobei  er  übrigens  auch  auf  Pektoralfremitus  und  respiratorische 
Verschieblichkeit  Rücksicht  nimmt)  und  zieht  vorsichtige  prognostische 
Schlüsse  aus  den  erhaltenen  Resultaten.  Besonders  hervorzuheben  ist 
es,  dass  er  die  Ergebnisse  der  Perkussion  mit  pathologisch-anatomischen 
Aufschlüssen  zusammenstellte  und  zur  Begründung  seiner  Methode 
sogar  das  Experiment  zur  Hilfe  nahm  (Injektion  von  Flüssigkeit  in 
die  Brusthöhle  eines  Kadavers  und  Nachweis,  dass  die  Dämpfung  der 
Flüssigkeitssäule  entspricht).  Ungleich  anderen  Erfindern  war  Auen- 
brugger weit  davon  entfernt,  gegen  die  hergebrachte  Medizin  aggressiv 
aufzutreten,  und  mit  einer  fast  allzu  großen  Bescheidenheit  räumte  er 
seiner  Methode,  welche  dazu  bestimmt  war  umwälzend  zu  wirken, 
nur  die  erste  Stelle  nach  der  Untersuchung  des  Pulses  und  der 
Atmung  ein. 

Trotzdem  in  Auenbruggers  Arbeit  jede  Zeile  zur  Nachprüfung  törmlich 
anreizt,  trotzdem  der  schlichte  Gelehrte  wegen  seiner  diagnostischen  Fähig- 
keiten und  glänzenden  therapeutischen  Resultate  (Thorakocentesen)  sehr  bald 
einen  wohl  begründeten  Ruf  erlangte,  blieb  seine  Methode  fast  ein  halbes 
Jahrhundert  unbeachtet  oder  fand  wenigstens  keinen  Eingang  in  die  Praxis. 
Die  Schuld  daran  tragen  die  Kliniker  dieser  Zeit,  unter  deren  Augen  die 
Perkussionsmethode  entstanden  war,  allen  voran  de  Haen,  der  sie  einfach 
totschweigt,  R.  A.  Vogel    in  Göttingen  und  Baidinger  in  Jena,    welche  nur 


Eiiileitting.  99 

herabsetzende  "VTorte  für  die  ErfinduBg  hatten,  späterhin  auch  der  sonst  so 
weitblickende  und  unbefangen  prüfende  Joh.  Peter  Frank,  welcher  durch 
seine  kühle  Reserve,  mit  der  er  die  Perkussion  „für  eine  nicht  zu  ver- 
achtende Methode"  erklärte,  weder  sein  Verständnis  dokumentierte,  noch  für 
andere  irgendwie  anregend  wirkte.  Diesen  Autoritäten  folgte  begreiflicher- 
weise die  grosse  Masse  der  Aerzte,  ohne  eigenes  Urteil,  ganz  blindlings 
und  gefiel  sich  in  vornehmer  ^Missachtung  oder  witzig  sein  sollender  Ver- 
spottung ;  die  Stimme  Hallers  und  Ludwigs  in  Leipzig,  welche  allein  die 
hohe  Bedeutung  erkannten  und  öffentlich  betonten,  verhallte  wirkungslos. 

Eine  eigene  Stelle  unter  den  massgebenden  Klinikern  nimmt  StoU  ein, 
der  durch  seinen  persönlichen  Einfluss  und  seine  ausgebreitete  Lehrthätig- 
keit  wohl  am  meisten  dazu  berufen  gewesen  wäre,  der  neuen  Untersuchungs- 
methode Eingang  zu  verschaffen.  Obzwar  er  mit  seiner  gewöhnlichen  Liebens- 
würdigkeit Auenbruggers  wissenschaftliche  Unternehmungen  ganz  ausser- 
ordentlich förderte  und  die  Perkussion  an  der  Klinik  auch  selbst  häufig 
anwendete,  sich  sogar  lobend  über  den  Nutzen  (bei  der  Empyemdiagnose) 
aussprach,  so  hinderte  ihn  doch  sein  „Hippokratismus"  den  vollen  Wert  der 
Sache  zu  erfassen,  und  nebstdem  hielt  ihn  wohl  seine  Konzilianz  davon  ab, 
wie  es  nötig  gewesen  wäre,   agitatorisch  aufzutreten. 

Die  verschiedenen  Rezensionen,  welche  über  Auenbrugger  erschienen, 
bilden  interessante  Dokumente  zur  Zeitgeschichte,  sie  wirken  heute  teils 
komisch,  teils  betrübend.  Das  Sonderbarste  aber  leistete  der  Franzose 
Roziere  de  la  Chassagne,  der  sich  1770  der  gewiss  nicht  leichten  Arbeit 
unterzog,  das  >Inventum  novum"  zu  übersetzen,  aber  zugleich  in  einer  An- 
merkung versicherte,  dass  es  ihm  nie  einfallen  werde,  irgend  einen  Versuch 
mit  einer  so  schnurrigen  Methode  zu  machen ! 

Die  unvergänglichen  Leistungen  Morgagnis  und  Auenbruggers 
kamen  in  der  Medizin  des  18.  Jahrhunderts  zu  keiner  oder  nur  sehr 
geringfügigen  Geltung.  Hingegen  gelang  es  einem  englischen  Patho- 
logen, der  sich  den  beiden  Meistern  ebenbürtig  anreiht,  wenigstens  die 
Chirurgie  im  Sinne  der  rationellen  Forschung  zu  beeinflussen,  nämlich 
John  Hunter  (1728 — 1793),  dessen  hohe  Verdienste  um  die  de- 
skriptive und  vergleichende  Anatomie,  um  Physiologie  und  Pathologie 
erst  viel  später  verstanden  und  übrigens  noch  heute  nicht  genügend  ge- 
würdigt sind.  Dieser  grosse  Arzt  war  zwar  in  erster  Linie  bemüht, 
die  bisher  nur  empirisch  bearbeitete  Chirurgie  mit  der  Physiologie 
in  ein  wechselseitig  befruchtendes  Verhältnis  zu  setzen,  griif  aber 
thatsächlich  darüber  hinaus  und  bearbeitete  zum  erstenmal  voraus- 
setzungslos, ausschliesslich  nach  streng  naturwissenschaftlicher  Methode, 
zum  großen  Theile  auf  dem  Wege  des  Tierversuchs  Kardinal- 
fragen der  allgemeinen  Pathologie,  die  Lehre  von  der  Entzündung, 
Thrombosenbildung,  der  "Wundheilung,  der  Regeneration,  der  Eiter- 
bildung etc.  und  gehörte  zu  den  ersten,  welche  dem  Blute,  das  zu 
seiner  Zeit  als  tote  Flüssigkeit  betrachtet  wurde,  ebenso  wie  den  Fest- 
teilen vitale  Eigenschaften  zuschrieb.  John  Hunter,  dessen  berühmtes 
AVerk  ..vom  Blute,  der  Entzündung  und  den  Schusswunden"  (1794) 
das  Ergebnis  vierzigjähriger  Studien  darstellte,  nimmt  nicht  nur  in  der 
Geschiclite  der  Anatomie  (in  allen  ihren  Zweigen),  in  der  Geschichte 
der  Physiologie,  der  Chirurgie,  der  Syphilis  einen  hervorragenden 
Platz  ein,  er  ist  der  Gründer  der  experimentellen  Pathologie 
und  zeichnete  dieser  neuen  Wissenschaft  schon  die  V^'ege  vor,  die  im 
19.  Jahrhundert  Virchow  und  'J'raube  eingeschlagen  haben. 


100  Max  Neuburger. 

Waren  aber  Morg-agui,  Auenbrugger  und  John  Hunter  ihrer  Zeit 
soweit  vorangeeilt,  dass  erst  eine  spätere  Aera  an  ihre  glänzenden 
Leistungen  anzuknüpfen  vermochte,  so  wurde  doch  der  Schatz  emi)i- 
rischer  Kenntnisse  auf  den  verschiedensten  Gebieten  so  mannigfaltig 
vergrössert,  dass  von  einem  Stillstand  der  praktischen  Forschung 
keine  Eede  sein  kann. 

Die  Litteratur  der  praktischen  Medizin  des  18.  Jahrhunderts  ist 
eine  sehr  reiche  und  enthält  manche  neue  Gesichtspunkte.  Abgesehen 
von  zusammenfassenden  Werken  über  pathologische  Anatomie  (Valsalva, 
Lieutaud,  Portal,  Sandifort),  von  Handbüchern  der  speziellen  Patholo- 
gie (J.  B.  Borsieri,  Peter  Frank),  von  Lehrbüchern  der  Semiotik  und 
Diagnostik  (J.  Testa,  Grüner,  S.  G.  Vogel,  Wichmann)  wurden  eine 
Eeihe  von  Krankheitsformen  monographisch  bearbeitet,  darunter  solche, 
welche  vorher  überhaupt  noch  nicht  eingehender  berücksichtigt  worden 
waren,  z.  B.  Eückenmarksaff ektionen  (Chr.  Gottl.  Ludwig, 
Peter  Frank),  Herz-  und  Gefässkrankheiten  (Lancisi,  Albertini, 
Morgagni,  Senac),  Affektionen  des  Oesophagus,  des  Pan- 
kreas, der  Leber  (Friedr.  Hoffmann),  der  Nieren  (Morgagni. 
Olivier,  Trota),  des  Bauchfells  (Joh.  Gottl.  Walter \  der  Knochen 
(Jean  Louis  Petit,  Louis),  ferner  Chlorose  (Fr.  Hoffmann),  Dia- 
betes (J.  Eollo),  Bleikolik  (de  Haen,  Stoll,  Tronchin),  Neu- 
ralgien (Amtrin,  Fothergill,  Cotugno),  Alkoholvergiftung 
(Jaenisch)  u.  a. 

Wesentlich  verfeinert  wurde  die  Abgrenzung  der  Krankheitstypen  in 
der  Neuropathologie  (Meningitis,  Abtrennung  der  Eklampsie,  der  Chorea 
von  verwandten  Affektionen,  Symptomatik  der  Hysterie,  Epilepsie,  Hydro- 
cephalus,  in  der  Lehre  von  den  Respirationskrankheiten  (Asthma,  Croup, 
Pseudocroup,  Glottisödem,  Phthisis,  anatomische  Differenzierung  der  Pneu- 
monie von  der  Pleuritis),  in  der  Dermatologie  (Klassifikation,  Wichmanns 
Entdeckung  der  Krätzmilbe)  und  in  der  Lehre  von  den  venerischen  Krank- 
heiten (Abtrennung  der  Gonorrhoe  von  der  Syphilis),  während  über  die 
Magen  -  Darmkrankheiten  noch  sehr  unvollkommene  Vorstellungen  ver- 
breitet waren.  Sehr  intensiv  beschäftigten  sich  die  Aerzte  mit  der  Skro- 
phulose,  Rhachitis,  der  Gicht,  den  Hämorrhoiden,  welch  letztere  in  den 
Systemen  eine  so  grosse  Rolle  spielten,  und  lebhaftes  Literesse  nahmen  auch 
die  infektiösen  Krankheiten  in  Anspruch.  Bezüglich  der  letzteren  wären 
als  Hauptfortschritte  zu  erwähnen,  dass  die  ätiologischen  Forschungen  über 
Malaria  bei  einzelnen  Autoren  (Lancisi,  Senac)  zu  sehr  richtigen  Vermutungen 
führten,  dass  durch  Roederer  und  Wagler  die  erste  klinisch-anatomische  Be- 
schreibung des  Abdominaltyphus  gegeben  wurde,  und  dass  man  endlich 
lernte,  den  Scharlach  von  den  Masern  abzugrenzen.  Bemerkenswert  ist 
ferner  der  Versuch  des  Wiener  Arztes  A.  Plenciz,  die  epidemischen  Krank- 
heiten auf  Miki'oorganismen  (seminia  animata)  zurückzuführen. 

Nebst  der  Empirie  dankte  die  Medizin  der  aufblühenden  Chemie 
und  pharmazeutischen  Technik  eine  überraschende  Menge  neuer 
Arzneimittel  und  Arzneiformen,  von  denen  nicht  wenige  allerdings 
später  wieder  als  unbrauchbar  verworfen  werden  mussten.  Be- 
merkenswert ist  besonders  der  Zuwachs  an  mineralischen  und  nai'ko- 
tischen  Stoffen  und  gewissen  Präparaten,  die  noch  heute  durch  ihren 
Namen  auf  die  Entstehungszeit  hinweisen.  Ebenso  hoch,  wenn  nicht 
höher,  ist  die  Thatsache  einzuschätzen,  dass  die  Aerzte  des  18.  Jahr- 
hunderts anfingen,  den  diätetisch-phj^sikalischen  Heilmitteln  grössere 


Einleitung.  101 

Aufmerksamkeit  zuzuweudeD.  Der  Gebrauch  der  Heilquellen, 
welche  nach  der  Anregung  Friedrich  Hofihianns  zuerst  gi'ündlicher 
untersucht  und  von  denen  so  manche  damals  neu  entdeckt  wurden, 
kam  in  Aufnahme,  die  Verwendung  des  kalten  Wassers  zu  Heil- 
zwecken fand  Eingang  oder  richtiger,  die  Wiedereinführung  der 
Hydrotherapie  (welche  bekanntlich  dem  Altertum  durchaus  nicht 
fremd  warj  erfolgte  durch  die  energische  und  ehrlich  begeisterte 
Thätigkeit  besonders  englischer  und  deutscher  Aerzte.  Die  Namen 
eines   Edward   Bajnard,    welcher   bei   hitzigen,    eines   John    Floyer 

1649 — 1734\  welcher  bei  chronischen  Affektionen  hydriatische  Proze- 
duren mit  Erfolg  anwendete,  der  schlesischen  Brüder  Hahn  (Joh. 
JSigismund  Hahn  in  Schweidnitz  und  Joh.  Gottfried  Hahn  in  Breslau), 
deren  Vater  Sigmund  Hahn  (1662 — 1742)  schon  Schriften  über  Hydro- 
therapie veröffentlicht   hatte,   endlich   der  Xame  eines  James  Currie 

1756 — 1805).  dessen  berühmtes  Werk  den  Ausgangspunkt  der  leb- 
haften Verhandlungen  über  hydriatische  Typhustherapie  bildet,  mögen 
gerade  im  Hinblick  auf  ungerechtfertigte  Prioritätsansprüche  von 
ärztefeindlicher  Seite  der  Vergessenheit  entrückt  bleiben.  —  Auch  die 
Elektrotherapie  stammt  in  ihren  ersten  Anfängen  aus  der  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts  und  verlangte  sogar  trotz  der  grössten  UnvoU- 
kommenheit  der  technischen  Hilfsmittel  ausgedehnte  Verbreitung,  nach- 
dem Aerzte,  wie  Chr.  G.  Kratzenstein  (1723 — 1795)  und  geistvolle 
Laien  (Physiker)  durch  therapeutische  Erfolge  und  interessante  Be- 
obachtungen das  Interesse  nachzuweisen  verstanden  hatten. 

Im  Anschluss-  an  die  innere  Medizin  nahm  auch  die  Kinder- 
heilkunde einen  gewissen  Aufschwung,  der  sich  einerseits  durch 
Gründung  von  Kinderheilanstalten  (^zuerst  in  London  1769  George 
Armstrong)  und  Wien  1787  (Jos.  Joh.  Mastalier  und  Leop.  Ant.  Gölis), 
andererseits  durch  wissenschaftliche  Bearbeitung  kundgab,  seitdem 
AValter  Harris,  Stahl,  Friedrich  Hoffmann.  Rosen  von  Eosenstein,  hierzu 
das  Beispiel  gegeben  hatten.  In  der  pädiatrischen  Litteratur  prävalieren 
anfangs  deutsche  und  englische  Autoren. 

Eine  der  segensreichsten  Schöpfungen  des  18.  Jahrhunderts,  welche 
den  Humanitätsideen  des  Zeitalters  entsprang,  war  die  Irrenpflege  und 
die  wissenschaftliche  Begründung  der  Psychiatrie.  In  Deutschland 
nahmen  diese  Bestrebungen  von  Halle  ihren  Ausgangspunkt,  wo  Stahl 
als  erster  eine  Klassifikation  der  Geisteskrankheiten  im  Sinne  des 
Animismus  vornahm  und  der  Theologe  Francke  mit  Feuereifer  für  die 
Verbesserung  des  Loses  der  ärmsten  der  Armen  in  die  Schranken 
trat.  Diese  Bestrebungen  setzten  einige  Schüler  Stahls  (Gohl,  ünzer) 
fort  und  führten  namentlich  Reil,  der  Hallesche  Philosoph  Joh.  Chr. 
Hoifbauer  und  der  Leipziger  Professor  Joh.  Chr.  August  Heinroth  zu 
einem  befriedigenden  Ende.  Die  erste  öffentliche  Irrrenheilanstalt 
wurde  in  London  (1751)  gegründet.  Hier  und  in  zahlreichen  von 
Aerzten  und  Landgeistlichen  ins  Leben  gerufenen  Privatanstalten 
fand  sich  vielfache  Gelegenheit  zu  psychiatrischen  Beobachtungen, 
welche  schon  Cullen  und  seine  Schüler  wissenschaftlich  bear- 
beiteten. Weit  länger  als  in  England  herrschten  die  traurigsten  Zu- 
stände betreffs  der  Irrenpflege  in  Frankreich.  Erst  im  Zeitalter  der 
Schreckensherrschaft  ertrotzte  der  edle  Arzt  und  Menschenfreund 
Philippe  Pinel  unter  persönlicher  Gefahr  vom  Konvente  die  Erlaub- 
nis, die  Wahnsinnigen  aus  Kerker  und  Ketten  —  das  waren  die  da- 
maligen  Heilmittel  —  zu  befreien,   um  sie  der  Heilkunde  zu  über- 


102  Max  Neu  burger. 

weisen.  Sein  würdiger  Nachfolger  war  Jean  Etienne  Dominique 
Esquirol  (1772 — 1840),  der  sein  ganzes  Leben  aussschliesslich  dem 
Studium  der  Seelenstörungen  widmete  und  schliesslich  die  Errichtung 
einer  psychiatrischen  Klinik  in  Paris  durchsetzte.  In  Italien  in- 
augurierte Vincenzo  Chiarugi  (1759 — 1822)  das  Fach  mit  einem  vor- 
trefflichen Werke,  das  unter  anderem  bereits  62  Sektionsbefunde  von 
Geisteskrankheiten  enthält. 

Die  Chirurgie  gewann  ausserordentlich  viel  durch  die  ana- 
tomische und  phj^siologische  Bildung  der  Wundärzte,  deren  Meister 
sich  endlich  zu  der  ihnen  zukommenden  sozialen  Stufe  empor- 
schwangen. Der  Fortschritt  zeigte  sich  nicht  nur  in  der  Vereinfachung 
der  Wundbehandlung,  in  der  Verbesserung  der  bisherigen  Technik,' 
und  in  der  Erfindung  neuer  Operationsarten,  sondern  namentlich  darin 
dass  sich  die  Anfänge  der  „konservativen  Chirurgie"  in  der  Sorge  für 
die  Verminderung  des  Blutverlustes  bei  den  Operationen,  in  der  Be- 
schränkung der  Amputation,  in  der  Erkenntnis  des  schädlichen  Ein- 
flusses der  Luft  auf  die  Wunden  verraten.  Die  Geburtshilfe  ent- 
wickelte sich  seit  der  allgemeinen  Verbreitung  der  Zange  immer  mehr 
und  dankte  dem  Studium  des  natürlichen  Geburtsverlaufs  eine  bessere 
Indikationsstellung.  Durch  Gründung  eigener  geburtshilflicher  An- 
stalten wurde  nicht  nur  der  Humanität  entsprochen,  sondern  auch  der 
Unterricht  auf  eine  bessere  Basis  gestellt.  Die  Augenheilkunde 
trennte  sich  völlig  von  der  Chirurgie  und  bereicherte  ilire  Technik 
durch  neue  Operationsmethoden  (Katarakt-Extraktion,  Eröffnung  des 
Thränensacks,  Katheterisierung  des  Thränenkanals,  Iridentomie,  Iri- 
dektomie,  Iridodialyse).  Auch  die  Ohrenheilkunde  (Anbohrung 
des  Warzenfortsatzes,  Durchbohrung  des  Trommelfells,  Katherisierung 
der  Eustacchischen  Röhre)  und  die  Zahnheilkunde  (erste  wissen- 
schaftliche Bearbeitung  in  Frankreich  durch  Pierre  Fauchard  (f  1762), 
in  England  durch  John  Hunter)  machten  bedeutende  Fortschritte  und 
wurden  den  Händen  der  Empiriker  entzogen. 

Die  höhere  Wertschätzung,  der  sich  die  medizinische  Wissenschaft 
von  Seite  des  Staates  erfreute,  äusserte  sich  ganz  besonders  in  den 
Fortschritten  der  gerichtlichen  Medizin.  In  überwiegender  Zahl 
waren  es  deutsche  Aerzte,  welche  mit  vorsichtiger  Benutzung  ana- 
tomisch-physiologischer Ergebnisse  eine  grosse  Zahl  von  forensischen 
Fragen,  zum  Teil  experimentell  untersuchten  und  das  geordnete  3Iaterial 
zu  einer  eigenen  Disziplin  ausbauten.  Zahlreiche  Abhandlungen  be- 
handeln die  Fragen  des  Kindesmordes  (Lungenprobe,  Harnblasenprobe), 
die  Lehre  von  der  Tödlichkeit  der  Wunden,  die  Diagnostik  des  ein- 
getretenen Todes  und  die  verschiedenen  Todesarten  durch  Ersticken, 
Erhängen,  Ertränken,  Vergiftung)  und  stützten  ihre  Schlüsse  auch 
auf  experimentelle  Untersuchungen. 

Im  Eahmen  der  gerichtlichen  Medizin  wurden  auch  viele  Dinge  er- 
örtert, welche  heute  dem  Begriff  der  öffentlichen  Gesundheitspflege 
untergeordnet  sind. 

Schon  frühzeitig  hatten  namentlich  Volksseuchen  den  Anlass  ge- 
geben, von  Fall  zu  Fall  prophylaktische  Massnahmen  zu  treffen,  ins- 
besondere handelte  es  sich  hierbei  um  Prophj^laxe  gegen  die  Pest. 
In  dem  Grade  als  der  Staat  es  als  notwendige  Aufgabe  erkannte,  für 
die  Erhaltung  seines  „kostbarsten  Materials"  Vorsorge  zu  treffen,  als 
das  Medizinal wesen  staatliche  Organisation  erfuhr,  befleissigte  man  sich 


Einleitung.  103 

durch  sanitätspolizeiliche  Verordnungen  den  bestehenden  Missverhält- 
nissen  zu  steuern.  Dahin  g-ehören  behördliche  Massregeln  zur  Ver- 
hütung der  Einschleppung  von  Epidemien  (Quarantäne),  Beaufsichtigung 
des  Marktverkehrs  (veranlasst  durch  Mutterkornvergiftungen),  Vor- 
schriften über  Beerdigungswesen  u.  s.  w.  Im  18.  Jahrhundert  diskutierte 
man  bereits  sehr  lebhaft  über  prophylaktische  Massnahmen  gegen  Pest 
und  Blattern,  über  obligate  Leichenschau,  über  Vorkehrungen  zur 
Rettung  Scheintoter  und  Verunglückter,  und  namentlich  englische 
Aerzte  regten  Verbesserungen  des  Hospital-  und  Gefängniswesens,  der 
.^chiifs-  und  Lagerhygiene  an.  Unterstützt  von  den  Bestrebungen  der 
Philanthropen,  die  der  privaten  und  öffentlichen  Hygiene  zugewandt 
waren,  gelang  es  thatsächlich,  eine  Verbesserung  der  Verhältnisse  oder 
eine  Behebung  mancher  Missstände  durchzusetzen,  aber  es  fehlte  an 
einer  geordneten  Zusammenfassung  der  zerstreuten  Ideen  und  Ge- 
danken, an  einer  kritischen  Sichtung  des  reichen  Materials,  an  einer 
einheitlichen  Begründung  der  gesamten  öffentlichen  Gesundheitspflege. 
Einer  der  genialsten  Männer  des  Jahrhunderts,  wählte  es  sich  end- 
lich zur  Lebensaufgabe,  diesem  dringenden  Bedürfnis  der  Zeit  zu 
entsprechen,  und  was  allen  Früheren  versagt  blieb,  gelang  ihm  nach 
dezennienlanger  Arbeit,  das  tote  Material  zu  beleben,  aus  einem 
Trümmerhaufen  eine  neue  Wissenschaft  aufzubauen:  die  Hygiene. 
Ihr  Schöpfer  ist  kein  anderer  als  der  berühmte  Kliniker  Joh.  Peter 
Frank,  dessen  achtbändiges  ..System  einer  vollständigen  medizinischen 
Policey'  (1779 — 1819)  sich  mit  allen  Vorgängen  des  Lebens,  von  der 
Zeugung  bis  zur  Beerdigung  befasst  und,  abgesehen  von  manchen 
Schlacken  der  Zeit,  noch  heute  eine  unversiegliche  Quelle  des  Wissens 
darstellt.  Als  wichtiges  Hilfsmittel  entwickelte  sich  gleichzeitig  die 
medizinische  Statistik,  zu  welcher  um  die  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts Peter  Suessmilch  (1707—1767)  den  Grund  gelegt  hatte,  ferner 
die  medizinische  Geographie  und  das  Militär-Sanitäts- 
w  e  s  e  n. 

Das  Jahrhundert  schied  nicht,  ohne  eine  der  folge  wichtigsten  Be- 
reicherungen auf  dem  Gebiete  der  Krankheitsproplij^laxe :  die  Kuh- 
pockenimpfung.  Was  so  lange  rastlos,  aber  vergeblich  angestrebt 
worden  war,  ein  Schutzmittel  zu  finden  gegen  die  verheerendste 
Volkskrankheit,  gegen  die  Blattern,  das  dankt  die  Menschheit  einem 
ihrer  grössten  Wohlthäter  aller  Zeiten,  E  d  w  a  r  d  J  e  n  n  e  r  (1749—1823). 
Wer  der  Seuchengeschichte  nachgeht  und  die  Zustände  der  Gegen- 
wart, in  der  die  Blattern  zu  den  seltenen  Krankheiten  gehören,  mit  der 
Zeit  vor  Einführung  der  Kuhpockenimpfung  vergleicht,  wo  ungefähr 
der  zwölfte  Teil  der  Menschen  an  den  Pocken  hinstarb,  wer  sich  aus 
der  Geschichte  ins  Gedächtnis  ruft,  welche  abenteuerlichen  und  ge- 
fährlichen Versuche  angestellt  wurden,  um  selbst  auf  Kosten  ander- 
weitiger Gefahren,  die  Blattern  abzuwehren,  der  wird  den  Tag  glück- 
lich preisen,  an  dem  Jenner  nach  zwanzigjähriger  Prüfung  die  Schutz- 
impfung zum  Gemeingut  der  Menschheit  gemacht  hat.  Durch  ihn 
vollbrachte  die  Aerzteschaft  eine  Kulturthat  höchsten  Ranges! 

Wenn  es  sich  auch  herausgestellt  hat,  dass  die  Schutzkraft  der  Kuh- 
pocken schon  lange  vorher  in  einzelnen  Viehzucht  treibenden  Distrikten  be- 
kannt war,  ja  dass  einzelne  Personen  vor  Jenner  die  Vaccinatiou  sogar  hie 
und  da  ausgeführt  haben,  das  unvergängliche  Verdienst  kann  ihm  nicht  abge- 
sprochen werden,   dass  er  zuerst  die  Bedeutung  der  Impfung  voll  erkannt  und 


I 


104  Max  Neuburger. 

experimentell  dargcthan,    dass  er  allein  durch  That  und  Wort   die  Methode 
in  die  Wissenschaft  eingeführt  hat. 

Vor  der  Vaccination  hatte  mp,n  die  „  V  ariolation",  d.  h.  die  künst- 
liche Inokulation  echter  Menschenblattern  betrieben  —  eine  Methode,  die 
durch  Lady  Wortley  Montague  (1721)  eingeführt  wurde  und  namentlich 
infolge  der  Verbesserungen  englischer  Aerzte  (D.  Sutton  und  Thom.  Dims- 
dale)  grosse  Verbreitung  fand.  Aber  obwohl  die  Variolation  eher  Schutz- 
kraft verlieh,  als  gewisse  chemische  Kompositionen,  die  von  Aerzten  seit 
Boorhaaves  Anregungen  ersonnen  wurden,  wiewohl  sie  mit  weniger  Um- 
ständen verbunden  war  als  die  Unterbringung  in  Kontumazhäusern,  so  be- 
deutete doch  gerade  ihr  gegenüber  die  Vaccination  geradezu  eine  Erlösung^ 

Der  Geburtstag-  der  Schutzpockenimpfung-  ist  der  14.  Mai  1796, 
an  welcliem  Tage  Jenner  den  achtjährigen  Knaben  James  Phipps  mit 
der  Vaccine  einer  Kuhmagd,  Sarah  Nelmes,  mit  dem  Erfolg  impfte, 
dass  die  im  gleichen  und  in  den  folgenden  Jahren  vorgenommenen 
Inokulationen  von  echten  Menschenblattern  ohne  Folgen  verliefen. 
Dem  ersten  glücklichen  Versuche  folgten  viele  andere,  über  welche 
die  Schrift  „An  inquiry  into  the  causes  and  etfects  of  the  Variolae 
vaccinae"  (London  1798)  den  ersten  Bericht  enthält.  Jenner  hatte 
das  Glück,  seine  Methode  noch  lange  vor  seinem  Tode  allgemein  ein- 
geführt zu  sehen.  Am  frühesten  auf  dem  Kontinente  wurden  Impfungen 
in  Wien  (Pascal  Ferro  und  de  Carro)  und  Hannover  (G.  F.  Ballhorn 
und  Chr.  Friedr.  Stromeyer)  vorgenommen,  von  dort  empfingen  zahl- 
reiche Städte  die  erste  Lymphe  und  damit  ein  Stück  Kultur. 

Die  Masse  positiver  Kenntnisse,  welche  im  Laufe  des  Jahrhunderts 
aufgestapelt  wurde,  überrascht  durch  ihre  Fülle  und  Vielseitigkeit. 
Ihrer  wissenschaftlichen  Wertung  stand  aber  noch  immer  der  Um- 
stand entgegen,  dass  sich  die  volle  Erkenntnis  von  der  Suprematie 
der  rationellen  Empirie  noch  immer  nicht  durchgerungen  hatte.  Statt 
die  Hypothesen  nur  als  Hilfslinien  zu  betrachten,  galten  gerade  die 
realen  Fortschritte,  soweit  sie  verwendbar  als  Beiwerk,  und  nicht  die 
nackte  W^ahrheit ,  .sondern  das  Idol  der  Phantasie ,  der  gleissnerisch 
schillernde  Gedanke  usurpierte  den  Herrschersitz.  Zerstreut  in  hetero- 
genen Gesichtskreisen,  nicht  aus  einer  Muttererde,  mehr  dem  Zufall 
als  zielstrebender  Absicht  entsprechend,  wuchsen  im  einzelnen  die 
Thatsachen  heran,  bald  von  diesem,  bald  von  jenem  System,  in  Formen 
der  Willkür  gegossen.  Und  darum  war  es  noch  immer  möglich,  dass 
ein  kühner  Stürmer  die  Masse  bethören  und  selbst  viele  Denker  mit 
sich  fortreissen  durfte,  wiewohl  er  keine  Fakten,  nur  Steine  statt 
Brot  reichte,  darum  konnten  der  Wissenschaft  noch  immer  mystische 
Schwarmgeister  als  Feinde  erstehen,  die  dank  der  nie  versiegenden 
Macht  des  Aberglaubens  ihre  Fundamente  erbeben  machten  und 
chaotische  Verwirrung  stifteten.  Freilich  der  Bildungstrieb  der  Ge- 
schichte nützte  auch  solchen  Bestrebungen  als  Gärstoffe  für  die 
kommende  Gestaltung. 

Eigener  Gesetze  entbehrend,  welche  unverrückbar  die  Bahn  vor- 
zeichneten, nicht  achtend  ihrer  eigenen  Vergangenheit,  folgte  die 
Medizin  den  mannigfachen  Regungen  der  Volksseele,  die  stürmisch 
in  Thaten  umsetzte,  was  keimhaft  im  Reformationszeitalter  schon  an- 
gedeutet schien  und  nur  durch  knechtenden  Druck  an  stetig  fort- 
schreitender Entfaltung  gehindert  wurde.  Dieser  unsägliche  Druck 
hat  es  verschuldet,  dass  vergossenes  Blut  und  rauchende  Trümmer  die 


Einleitung.  105 

Gebnrtsstätte  der  Freiheit  bezeichnen,  mochten  auch  späterhin  die 
herrlichsten  Saaten  aus  dem  Boden  entspriessen .  den  die  Lava  der 
Eevolution  gedüngt.  Wie  in  der  Heilkunde  des  Cinquecento,  traten 
auch  am  Schlüsse  des  18.  Jahrhunderts  Strömungen  zutage,  welche 
teils  von  der  Skepsis,  teils  vom  Mystizismus  Triebkraft  empfingen  und 
nur  in  der  Verdammung  der  herrschenden  Lehre  übereinstimmten. 

Den  mächtigsten  Eindruck,  das  grösste  Aufsehen  rief  vor  allem 
dasjenige  System  hervor,  welches  der  kühne  Schotte  John  Brown 
(1785 — 1788),  der  Schüler  Cullens,  den  geltenden  wissenschaftlichen 
Lehren  gegenüber  stellte.  Sein  Buch,  die  ,.Elementa  medicinae" 
(1780 1,  wirkte  geradezu  wie  ein  revolutionäres  Manifest,  es  schien 
auf  die  einfachste  und  einleuchtendste  Weise  alle  strittigen  Fragen  mit 
einem  Schlag  zu  lösen,  die  klaffende  Kluft  zwischen  Theorie  und 
Praxis  zu  schliessen.  es  versprach,  die  Natur  zu  meistern,  ohne  der 
wissenschaftlichen  Taglöhnerarbeit  zu  bedürfen 

Mit  derselben  Verachtung  der  Tradition,  wie  Asklepiades,  mit 
dei^elben  Unterschätzung  der  Hilfszweige  wie  Paracelsus,  baute  Brown 
die  ganze  Medizin  auf  dem  Satze  auf:  Leben  ist  ein  durch 
Eeize  erzwungener,  nur  durch  Reize  erhaltener  Zu- 
stand. Als  Reize  gelten  nicht  nur  äussere  Potenzen  (Wärme, 
Nahrungsmittel.  Luft  etc.),  sondern  auch  innere  Körpervorgänge  (Ge- 
hirnkraft, Muskelzusammenziehung,  Affekte  etc.).  Die  Lebensphäno- 
mene (Empfindung,  Bewegung,  psychische  Thätigkeit)  beruhen  lediglich 
auf  der  Eigenschaft  der  organischen  Körper,  durch  Reize  erregt  zu 
werden,  auf  ihrer  Erregbarkeit,  welche  ihren  Sitz  in  Nerven  und 
Muskeln  hat.  Das  Produkt  aus  Reizen  und  Erregbarkeit  ist  Er- 
regung. Ihr  mittlerer  Grad,  beruhend  auf  proportionierten  Reizen 
proportionierter  Erregbarkeit,  bedeutet  Gesundheit. 

Krankheiten  dagegen  entstehen  durch  das  Missverhältnis  der 
Faktoren,  sie  sind  durch  zu  starke  oder  zu  schwache  Erregungen  zu 
erklären.  Starke  Reize  rufen  eine  Erhöhung  der  Erregung  hervor, 
einen  sthenischen  Zustand;  allzu  schwache  Reize  erzeugen  zu  ge- 
ringe Erregungen,  d.  h.  direkte  Asthenie;  endlich  kann  ein 
Mangel  an  Erregung  auch  dadurch  sekundär  hervorgebracht  werden, 
dass  die  Erregbarkeit  durch  zu  lang  dauernde  oder  plötzlich  über- 
mässige einwirkende  Reize  erschöpft  wird  —  indirekte  Asthenie. 
Zu  den  abnorm  stark  erregenden  Reizen  rechnet  Brown  z.  B.  hohe 
Temperatur,  gewisse  Gifte,  Kontagien,  viel  Blut,  ferner  psychische 
Affekte,  zu  den  schwachen  dagegen  niedrige  Temperatur.  Blutungen, 
entleerende  Mittel  etc.  Die  Krankheiten  zerfallen  in  örtliche  und 
allgemeine.  Die  letzteren  gehen  aus  einer  Anlage  (Opportunität)  her- 
vor und  befallen  von  Anfang  an  den  ganzen  Organismus,  die  ersteren 
haben  ihren  Sitz  in  einem  einzelnen  Teil  und  gehen  bisweilen  in  eine 
allgemeine  Affektion  über  oder  sie  stellen  Wirkungen  allgemeiner 
Krankheiten  dar.  Beim  Heilverfahren  hat  man  zu  ermitteln,  ob  es 
sich  um  eine  örtliche  oder  allgemeine,  um  Sthenie,  direkte  oder  indirekte 
Asthenie  handelt,  und  in  welchem  Grade  diese  Zustände  vorhanden 
sind.  Die  Beurteilung  stützt  sich  auf  die  Beschaffenheit  des  Pulses, 
der  Temperatur  und  der  Allgemeinei-scheinungen.  Im  allgemeinen 
überwiegen  die  asthenischen  Zustände,  zu  denen  auch  Krämpfe  und 
die  nieisten  Fieber  gehören.  Ebenso,  wie  die  Krankheiten  sich  nur 
quantitativ  durch  den  Grad  des  Erregungszustandes  untei-scheiden, 
so  ist  auch  bei  den  Heilmitteln  nicht  auf  ihre  spezifischen  Eigentum- 


106  Max  Neuburger. 

lichkeit,  auf  ihre  Qualität,  sondern  lediglich  auf  den  Grad  Rücksicht 
zu  nehmen,  in  welcliem  sie  reizend  oder  beruhigend  wirken.  Bezüg- 
lich ihrer  Anwendung  gilt  der  Satz  contraria  contrariis,  bei  sthenischer 
Beschaffenheit  gilt  es  die  Erregung  zu  vermindern  (z.  B.  durch  Blut- 
entleerungen, Laxantia,  Brechmittel,  strenge  Diät,  Kälte),  bei  asthe- 
nischen Krankheiten  die  Erregung  zu  vermehren  (z.  B.  durch  Wein, 
Kampfer,  Moschus,  Aether,  Ammoniak  etc.) ;  handelt  es  sich  um  in- 
direkte Schwäche,  so  beginnt  man  mit  den  höchsten  Reizmitteln, 
handelt  es  sich  um  direkte  Asthenie,  so  fängt  man  mit  dem  geringsten 
Grad  des  Reizes  an,  um  allmählich  anzusteigen. 

Anschliessend  sei  noch  hervorzuheben,  dass  Brown  die  Krämpfe 
als  Schwächezustände  auffasst  und  demgemäss  die  Wirkung  des 
Opiums  als  stimulierende  erklärt  („mehercule  opium  non  sedat!"). 

Das  Brownsche  System  gehört  in  die  Kategorie  des  Methodismus, 
es  erinnert  hinsichtlich  der  praktischen  Grundsätze  an  Asklepiades 
und  Thessalos,  hinsichtlich  der  theoretischen  Krankheitsauffassung 
an  die  Tonuslehre  (Hoffmann,  CuUen:  „Atonie"  und  „Spasmus") 
und  ist  im  wesentlichen  eine  Generalisation  des  Begriffs  der  Irri- 
tabilität, Trotzdem  bildet  das  System  insofern  ein  Novum,  da  es  zum 
erstenmal  auf  rein  phänomenologischer  Betrachtung  (Erreg- 
barkeit ist  keine  Substanz!)  basiert  und  mit  uralten  Grundprinzipien 
der  alten  Medizin  (Teleologie,  Naturheilkraft,  spezifische  Wirkung  der 
Heilmittel)  vollkommen  bricht,  namentlich  die  Humoralpathologie  mit 
ihrer  ausleerenden  Methode  gänzlich  abweist.  Anzuerkennen  ist  es, 
dass  Brown,  wenn  auch  zu  einseitig  auf  die  Bedeutung  äusserer 
Reize  für  die  Entstehung  der  Krankheiten,  auf  die,  allerdings  schief 
aufgefasste  Anlage  aufmerksam  machte,  die  Unzahl  von  fetischistischen 
Begriffen  der  Humoral-  und  Solidarpathologen  mit  einem  Schlage  be- 
seitigte und  die  übliche  schwächende,  ausleerende  Methode  (Aderlass, 
Brech-Purpgiermittel)  wesentlich  beschränkte.  Leider  aber  stehen 
diesen  Vorzügen,  welche  den  Augiasstall  der  medizinischen  Theorie 
gewaltsam  säuberten,  ungeheure  Nachteile  entgegen:  die  völlige  Ver- 
kennung der  Qualität  der  Erscheinungen,  der  vitalen  Reaktion  auf  die 
Reize,  der  Spontaneität  des  Lebens  und  der  damit  zusammenhängenden 
natürlichen  Heilvorgänge;  der  nosologische  Schematismus,  welcher 
weder  die  individuellen  Eigentümlichkeiten  des  Kranken,  noch  der 
Krankheiten,  oder  gar  den  Krankheitsverlauf  berücksichtigte ;  die  hohle 
Abstraktion,  welche  weder  der  physiologischen  Grundlage,  noch  der 
pathologisch-anatomischen  Erforschung  des  Krankheitssitzes  Rechnung 
trug,  vielmehr  durch  den  allgemeinen  Begriff  „Erregung*'  jede  Einzel- 
untersuchung lahmlegte,  und  sich  praktisch  als  massloser,  mit  Reiz- 
mitteln exacerbierender  Schlendrian  manifestierte.  Die  Aufnahme, 
welche  dasBrownsche  System  in  den  einzelnen  Ländern 
fand,  resp.  der  Widerstand,  der  ihm  entgegentrat,  bildet 
den  besten  Massstab  für  das  Niveau,  welches  die  positive 
realistische  Forschung  inzwischen  erlangt  hat.  In  Eng- 
land fand  die  neue  Lehre  nur  geringe  Verbreitung,  die  nüchtern  be- 
obachtende Denkart  der  britischen  Nation  blieb  völlig  kühl,  den 
wenigen  Anhängern  (Robert  Jones  und  Samuel  Lynch,  welch  letzterer 
sogar  eine  Krankheitsskala  konstruierte)  gesellten  sich  amerikanische 
Aerzte  unter  Führung  von  Benjamin  Rush  (1745 — 1813)  hinzu.  Die 
französische  Medizin  war  bereits  viel  zu  sehr  erstarkt,  um  den  Lock- 
rufen noch  zu  folgen,  nur  einzelne  Ideen  Browns  erschienen  späterhin 


Einleitung.  107 

bei  Broussais  im  Kleide  der  pathologischen  Anatomie.  Nach  Italien 
wurde  die  Lehre  des  genialen  Schotten  durch  Pietro  Moscati,  Giacomo 
Locatelli,  Givo  Batt.  Monteggia.  Yaleriano  Luigi  Brera,  besonders  aber 
durch  Giovanni  Rasori  (1762—1837)  verbreitet.  Der  letztgenannte 
gestaltete  aber  später  die  Erregungstheorie  wesentlich  um.  indem  er 
sie  vereinfachte  und  mehr  praktisch  zuschnitt.  Erfahrungen  am 
Krankenbette  (bei  Typhus  und  therapeutische  Versuche  mit  Brech- 
weinstein) hatten  ihn  zu  der  Anschauung  geführt,  dass  nicht,  wie 
Brown  lehrte,  die  asthenischen,  sondern  gerade  umgekehrt  die  sthe- 
nischen  Krankheiten  überwiegen,  ferner  dass  es  ausser  den  reizenden 
und  reizvermindernden  Faktoren  noch  solche  geben  müsse,  welche  die 
Erregung  direkt  herabstimmen  —  Contrastimulantia  directa.  Er 
änderte  demgemäss  die  ganze  Terminologie  und  führte  für  den  Zu- 
stand der  Sthenie  die  Bezeichnung  „Diathesis  de  stimulo",  für  die 
Asthenie  die  Bezeichnung  „Diathesis  de  contrastimulo"  ein.  In  der- 
selben Weise  zerfallen  auch  die  Heilmittel  in  stimulierende  und 
contrastimulierende. 

Nicht  nur,  dass  in  dem  kontrastimnlistischen  System  der  Begriff  in- 
direkte Asthenie  völlig  wegfiel  oder  vielmehr  in  der  Reiz-Diathese  aufging, 
Rasori  wich  auch  darin  von  Brown  ab,  dass  er  die  spezifische  Beziehung  der 
Mittel  zu  den  einzelnen  Organen  (also  nicht  mehr  bloss  den  Grad  der 
Reizwirkung)  wieder  berücksichtigte,  dass  er  im  Hinblick  auf  die  Spezifität 
der  Krankheiten  auch  nach  den  Ursachen  fahndete  und  endlich,  dass  er  mit 
Rücksicht  auf  den  Wechsel  der  Reiz-  und  Schwächezustände  innerhalb  des 
Krankheitsbildes  energisch  gegen  die  Behauptung  protestierte,  man  könne 
aus  einzelnen  Symptomen  sofort  erkennen,  ob  die  Diathese  des  Reizes  oder 
des  Gegenreizes  zugrunde  liege.  Hier  zeigt  sich  deutlich,  wohin  die 
aprioristische  Spekulation  schliesslich  führen  muss  —  zur  herumtastenden, 
groben  Empirie !  Aus  der  Wirkung  eines  stimulierenden  oder  kontra- 
stimulierenden ilittels  muss  Rasori  erst  schliessen,  um  welchen  Zustand  es 
sich  handelt.  Um  aus  diesem  Zirkel  ex  juvantibus  herauszukommen,  rät  er 
sich  am  besten  eines  Probe- Aderlasses  zu  bedienen,  der  ja  in  allen  sthenischen 
Krankheiten  nützlich  sei,  aus  dem  Erfolg  sei  die  Diagnose  zu  stellen. 

Die  Therapie,  welche  der  Urheber  dieses  Systems  und  sein  bedeutendster 
Apostel  Giacomo  Tommasini  einschlug,  war  höchst  radikal.  Brechweinstein, 
Digitalis,  Jalappe  etc.  wurde  in  sehr  grossen  Gaben  gereicht,  bei  Ent- 
zündungen waren  sehr  reichliche  Venäsektionen,  bis  zu  zehn  in  wenigen 
Tagen,  die  Regel.  Das  einzige  Verdienst  Rasoris  lag  darin,  dass  er  darauf 
drang,  niemals  mehr  als  ein  ilittel  zu  verordnen. 

Den  Haupttummelplatz  der  Brownianer  bildete  Deutschland,  hier 
gewann  das  System  im  letzten  Dezennium  des  18.  Jahrhunderts  zahl- 
reiche Anhänger,  hier  fasste  es  tiefere  Wurzeln  als  in  der  ganzen 
Welt.  Seine  Einführung  dankte  es  einem  wissenschaftlichen  Skandal. 
Im  Jahre  1790  hatte  ein  Göttinger  Arzt.  Christoph  Girtanner  (1760— 

»1800),  in  einem  französischen  Journal  die  Grundsätze  Browns,  ohne 
dessen  Namen  zu  nennen,  also  als  seine  eigenen  veröffentlicht  —  ein 
Betrug,  der  später  durch  Melchior  Adam  Weikard  (1742 — 1803)  auf- 
gedeckt wurde.  Weickard  übersetzte  sodann  die  Elementa,  ver- 
öffentlichte in  rascher  Folge  eine  Reihe  von  Verteidigungsschriften 
des  Systems  und  verstand  es,  die  wissenschaftlichen  Kreise  mit  einer 
an  Fanatismus  grenzenden  Leidenschaft  für  dasselbe  zu  interessieren. 
Besonders  förderlich  für  die  neue  Richtung  war  es.  dass  bald  Männer 


k 


108  Max  Neuburger. 

von  klangvollem  Namen,  wie  Peter  Frank  und  sein  Sohn  Joseph 
Frank  (1771 — 1842).  ferner  die  Bambergfer  Kliniker  Adalbert  Friedrich 
Markus  (1755-1816)  und  Johann  Andreas  Röschlaub  (1768—1835), 
wenio-stens  vorübergehend  in  den  Jubel  der  Begeisterung  einstimmten 
und  leider  auch  praktische  Konsequenzen  zogen.  Bald  ergoss  sich 
eine  wahre  Flut  von  brownianischen  Schriften. 

Vergebens  waren  die  Warnungen  und  Widerlegungen  so  verdienter 
Männer,  wie  Christoph  Heinrich  Pfalf  (1773—1852),  Joh.  Stieglitz 
(1767 — 1840),  Alexander  von  Humboldt,  Hufeland  und  Ph.  K.  Hartmann, . 
welche  in  Rezensionen  und  Sonderschriften,  bald  von  theoretischen, 
bald  von  praktischen  Gesichtspunkten  die  Irrtümer  bekämpften,  ohne 
den  Verdiensten  und  der  Genialität  Browns  ihre  Anerkennung  vorzu- 
enthalten. Die  Angriffe  hatten  sich  übrigens  bald  nicht  so  sehr  gegen 
das  Originalsj^stem,  als  gegen  die  sogenannte  „Erregungstheorie" 
zu  wenden,  welche  ein  deutscher  Professor,  der  früher  genannte  Andreas 
Röschlaub,  mit  gewohnter  Gründlichkeit  aus  Brownschen  Elementen 
snd  philosophischen  Begriffen  zusammengestoppelt  hatte. 

Es  ist  anzuerkennen,  dass  Röschlaub  die  Einseitigkeit  der  Brown- 
uchen  Auffassung  von  der  Erregbarkeit  glücklich  beseitigte,  indem  er 
darunter  nicht  bloss  die  passive  Empfänglichkeit  für  äussere  Reize, 
sondern  auch  die  charakteristische  vitale  Gegenwirkung  verstanden 
wissen  wollte  und  zudem  das  Leben  in  letzter  Linie  von  der  Organisa- 
tion abhängig  erklärte.  Den  wichtigsten  Schritt  that  er  aber  nicht, 
die  Forschung  auf  das  Studium  der  vitalen  Erscheinungen,  auf  die 
Untersuchung  der  Struktur  auszudehnen,  und  daher  reichen  auch 
seine  „Untersuchungen  über  Pathogenie"  (1798),  über  die  scholastische, 
vom  Leben  abgekehrte  Sophistik  nicht  hinaus,  sie  waren  nichts 
anderes  als  eine  starre  Deduktion  aus  dreissig  willkürlich  statuierten 
Leitsätzen. 

Später  suchte  Röschlaub  allerdings  den  Anschluss  an  die  neuen 
Entdeckungen  der  Naturwissenschaft,  indem  er  die  Erregbarkeit  auf 
die  Vorgänge  der  Oxydation  und  Desoxydation  zurückführte.  Er  folgte 
darin  nur  der  herrschenden  Zeitrichtung,  velche  ihre  hohle  Abstraktion 
ohne  jede  Beweisführung  mit  den  Thatsachen  der  Physik  wie  mit 
einer  Etikette  überklebte. 

Der  gewaltige  Umschwung,  welchen  die  Natur- 
wissenschaft im  letzten  Viertel  des  18.  Jahrhunderts 
durch  die  Entdeckung  des  Sauerstoffs  (Priestley,  Lavoisier, 
Scheele),  durch  die  Neugestaltung  der  Chemie  und  durch 
Entdeckung  des  Galvanismus  erfuhr,  beeinflusstezwar 
die  Physiologie  in  günstigem  Sinne,  gab  aber  in  der 
praktischen  Medizin  zunächst  nur  den  Anlass  zu  halt- 
losen Theorien,  welche  sich  von  den  alten  iatrochemischen  und 
iatrophysischen  Spekulationen  nicht  durch  inneren  Wert,  sondern 
bloss  durch  die  annektierten  Vorstellungen  unterschieden.  Die 
chemischen  Theorien  nahmen  von  anerkennenswerten  therapeu- 
tischen Versuchen  mit  dem  Sauerstoff,  welche  schon  von  Priestley 
angeregt  wurden,  ihren  Ursprung.  Während  aber  Thomas  Beddoes 
(1754—1808),  Louis  Jurine  (1751—1819),  Louis  Odier,  Pascal  Joseph 
Ferro  die  „pneumatische"  Medizin  eifrigst  pflegten  und  höchstens 
durch  übertriebene  Anwendung  des  Sauerstoffs  die  Grenzen  über- 
schritten, Hessen  sich  sehr  bald  andere  Aerzte,  namentlich  Schüler 
des  berühmten  Chemikers  A.  F.  Fourcroj^,  wie  John  Rollo,  Jean  Bapt. 


Einleitung.  109 

Tlieod.  Baumes  u.  a.  durch  ihre  Phantasie  hinreissen,  alle  Krankheiten 
vom  Mangel  oder  Ueberfluss  des  Sauerstoffs  oder  Stickstoffs  etc.  ab- 
zuleiten, jedwede  Arzneiwirkung  aus  der  Oxydation  oder  Desoxyda- 
tion etc.  zu  erklären.  Unter  den  Deutschen  war  der  Berliner  Professor 
Gottfr.  Christ.  Reich  der  Hauptvertreter  der  chemiatrischen  Spekula- 
tion; in  seiner  Schrift  ..vom  Fieber  und  dessen  Behandlung  überhaupt" 
(1800)  identifizierte  er  kurzwegs  das  Fieber  mit  einer  Vermehrung 
des  Stickstoffs  und  Verminderung  des  Sauerstoffs  im  Organismus.  Auf 
die  gleiche  Stufe  mit  den  chemischen  sind  die  damaligen  galva- 
nischen Theorien  zu  stellen,  nach  welchen  der  gesamte  Lebens- 
prozess  nichts  anderes,  als  ein  Analogon  zum  Galvanismus  darstellen 
sollte;  der  Entdecker  des  Galvanismus,  der  selbst  Arzt  war,  Aloisio 
Galvani  (1737—1798),  eröffnete  leider  selbst  die  Hypothesenbildung 
dieser  Art,  welche  trotz  geistvoller  Antizipationen  (Humboldt)  nur  zu 
bald  in  ein  Spiel  von  Worten  ausartete. 

Wenn  schon  die  exakten  Forschungsergebnisse  der  Physik  und 
Chemie  die  stets  empfängliche  Systemsucht  reizten,  um  wie  viel  mehr 
musste  sich  die  Phantasie  erst  an  Dingen  entzünden,  welchen  der 
Nimbus  des  Magischen  den  Reiz  des  Wunders  verlieh.  Dies  waren 
jene  merkwürdigen  Phänomene  des  Geisteslebens,  welche  wir  heute  dem 
Begriff  der  Hj'pnose  und  Suggestion  subsumieren.  Der  Fortschritt 
einer  erstarkenden  Wissenschaft  zeigt  sich  nicht  zum  mindesten  darin, 
dass  sie  einerseits  Erscheinungen,  die  mit  den  gegebenen  Hilfsmitteln 
nicht  zu  erklären  sind,  deren  Existenz  aber  durch  sichere  Beobachtung 
erhärtet  wird,  nicht  einfach  wegleugnet,  andererseits  aber  sich  davon 
fern  hält,  aus  dem  Unbekannten  generalisierende  Schlussfolgerungen 
zu  ziehen.  Diese  beiden  Grundsätze  wurden  gerade  zu  der  Zeit  am 
wenigsten  beachtet,  als  der  Wiener  Arzt  Friedrich  Anton  Mesmer 
(1734—1815)  mit  seiner  angeblichen  Entdeckung  des  „tierischen 
Magnetismus"  hervortrat  (1775).  Diese  Entdeckung  wurde  von  den 
einen  apodiktisch  in  Abi-ede  gestellt,  von  den  anderen  zu  einer 
schwärmerischen  Xaturauffassung  verwertet,  die  sich  den  Erforder- 
nissen wahrer  Wissenschaft  diametral  entgegenstellt. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  die  Frage  zu  berühren,  inwieweit  sich 
Mesmers  Erfahrungen  mit  der  Wahrheit  decken,  inwieweit  Mesmer  Wahr- 
heitsfinder, Betrüger  oder  Phantast  war;  sicher  ist  es,  dass  einem  Teile 
seiner  Beobachtungen  im  Sinne  des  ..Hypnotismus"  die  Möglichkeit  nicht 
abgesprochen  werden  darf.  Vieles  trägt  den  Stempel  der  Unwahrscheinlich- 
keit  an  sich,  umsomehr  als  auch  bewährte  Forscher  einer  viel  weiter  vor- 
gerückten Zeit  vor  Täuschungen  auf  diesem  Gebiete  nicht  bewahrt  ge- 
blieben sind. 

Schon  der  Anlage  nach,  dem  Mj^stizismus  zugethan,  wie  sich  dies  in 
der  Inauguraldissertation  „über  den  Einfluss  der  Planeten  auf  den  mensch- 
lichen Körper"  verrät,  hatte  Mesmer  den  Mut,  von  den  Wegen  der  Schule 
auf  eigene  Verantwortung  abzuweichen  und  sich  auch  mit  Dingen  zu  be- 
fassen, welche  das  volle  Tageslicht  der  Wissenschaft  scheuen,  trotzdem  aber 
seit  den  ältesten  Zeiten  immer  wieder  auftauchen.  Dahin  gehörte  die  thera- 
peutische Verwertung  des  Magneten,  wie  sie  namentlich  von  Paracelsus  und 
seinen  Anhängern,  aber  auch  im  17.  und  18.  Jahrhundert  von  einzelnen 
Aerzten  gerühmt  wurde.  Die  Erfolge,  welche  Mesmer  mit  natürlichen  und 
künstlichen  Magneten  bei  verschiedenen  Krankheiten  erzielte,  ermunterten 
ihn  zur  häufigen  Anwendung,  Hessen  ihn  aber  sehr  bald  erkennen,   dass  die- 


110  Max  Neuburger. 

selben  Heilwirkungen  auch  durch  blosses  Berühren,  Streichen  des  Kranken, 
ja  durch  den  blossen  Willen  des  Magnetiseurs  zu  erzielen  seien.  Daraus 
zog  er  die  Folgerung,  dass  der  Magnet  gar  nicht  die  Quelle,  sondern  bloss 
der  Leiter  einer  vom  Arzte  selbst  ausgehenden  Kraft  sei.  Diese  Kraft, 
welche  Mesmer  im  ganzen  Weltall  voraussetzte  und  an  ein  unendlich  feines 
überall  verteiltes  Fluidum  gebunden  dachte,  sollte  die  Wechselbeziehung 
zwischen  allen  Teilen  des  Makrokosmus  herstellen  und  daher  auch  auf  die 
Eigenschaften  des  lebenden  Körpers  modifizierend  wirken  können.  Wegen 
ihrer,  mit  der  Attraktionskraft  des  Magnets  vergleichbaren  Aeusserungen« 
nannte  Mesmer  diese  Kraft  den  tierischen  „Magnetismus"  und  behauptete, 
dass  die  Arzneiwirkung  sowie  jede  Krankheitsheilung  nur  durch  diese 
Potenz  zu  erkhären  sei.  Je  nach  der  inviduellen  Befähigung  sei  die 
magnetische  Kraft  bei  den  einzelnen  Personen  in  verschiedenem  Grade  an- 
gehäuft und  könne  direkt  oder  durch  geeignete  Gegenstände  (Magnete, 
magnetisierte  Baquets  etc.)   auf  Ka-anke  zu  Heilzwecken  übertragen  werden. 

Der  Mesmeiismus  stiess  anfangs  in  Deutschland  auf  grossen 
Widerstand,  weder  die  massgebenden  Augenzeugen  in  Wien  (Störck, 
Barth,  Ingenhouss)  noch  die  zum  Schiedsspruch  angerufenen  Akademien 
sprachen  sich  für  die  Glaubwürdigkeit  der  magnetischen  Kuren  aus. 
Mesmer  begab  sich  daher  nach  Paris,  und  dort  erst  gelang  es  ihm 
trotz  der  ungünstigen  Berichte  zweier  wissenschaftlicher  Kommissionen, 
nicht  bloss  in  der  Laienwelt  durch  Wunderkuren  begreifliches  Auf- 
sehen zu  erregen,  sondern  auch  die  ersten  überzeugten  Anhänger 
unter  den  Aerzten  (Charles  d'Eslon)  zu  finden.  Wiewohl  aber  die 
ursprüngliche  Lehre  vom  tierischen  Magnetismus  durch  Mesmer  und 
seine  Schüler  fortgebildet  und  umgestaltet  wurde  (Graf  und  Marquis 
Puysegur,  Somnambulismus,  Clair-voyance),  so  legten  die  französischen 
Anhänger  doch  hauptsächlich  auf  die  Ausbildung  der  praktischen 
Heilmanipulationen  das  HauptgeAvicht  und  wiewohl  die  Denkart  weiter 
Kreise,  ebenso  wie  in  anderen  Ländern  durch  das  Auftreten  mystischer 
Schwärmer  und  genialer  Betrüger  (Cagliostro)  vergiftet  wurde,  so  lässt 
sich  doch  von  einer  theoretischen  Beeinflussung  der  französischen 
Medizin  im  Sinne  des  Mystizismus  auch  nicht  die  leiseste  Andeutung 
merken. 

Ganz  anders  in  Deutschland!  Dort  fand  der  Mesmerismus  1787 
durch  den  berühmten  Physiognomiker  Lavater  Eingang  und  wurde  zuerst 
von  den  Bremer  Aerzten  (H.  W.  M.  Olbers,  Georg  Bicker  und  Arnold 
Wienholt)  eifrigst  gepflegt,  leider  aber  allzusehr  auf  die  mj^stische 
Seite  gezogen.  Diese  mystische  Ausschmückung,  welche  die  Phänomene 
des  „tierischen  Magnetismus"  mit  den  „älteren  Wunderkuren"  des 
Exorcisten  Joseph  Gassner,  des  Nekromanten  Schröpfer  u.  a.  kurz  mit 
der  „magischen"  Medizin  in  eine  Linie  setzte,  bewirkte  zwar  ein 
mächtiges  Anschwellen  der  Anhängerschaft  in  ärztlichen  und  Laien- 
kreisen, führte  aber  notwendig  zu  abstrusen  Ausschweifungen  der 
ungezügelten  Phantasie  und  verlockte  eine  Reihe  glänzender  Talente 
auf  die  abschüssige  Bahn  des  Okkultismus,  von  dem  zur  positiven 
Wissenschaft  kein  Weg  mehr  zurückführt. 

In  der  Dämmerung,  in  der  Nebelatmosphäre  des  Mesmerismus 
stiegen  die  Sterne  des  Aberglaubens  aus  dem  Dunkel  von  neuem 
empor,  und  was  der  Volksglaube,  was  raffinierter  Betrug  an  Ammen- 
märchen einst  ersonnen  und  erdichtet,  schien  nunmehr  nicht  bloss  in 
die  Sphäre  der  Wahrscheinlichkeit  gerückt,  sondern  sogar  sichergestellt. 


Einleitung.  111 

Auch  diejenigen  Forscher,  welche  sich  vom  Mystizismus  möglichst 
fern  zu  halten  suchten  und  sich  um  wissenschaftliche  Erklärungs- 
versuche bemühten,  wie  z.  B.  E.  Gmelin  (1753 — 1809),  Joh.  Lor.  Böck- 
mann, Joh.  Heineken,  Ludolph  Christ.  Treviranus,  Aug.  Ed.  Kessler  u.  a. 
mussten  sich  in  philosophische  Spekulationen  verlieren,  welche  natur- 
wissenschaftliche Begriife  willkürlich  verallgemeinerten  und  zu  einem 
Spiel  mit  Worten  herabsetzten.  Grössere  Besonnenheit  zeigten  nur 
die  von  Hufeland  beeinflussten  Schriften  der  Berliner  Professoren,  Carl 
Chr.  Wolfart  und  Carl  Alex.  Kluge. 

Alle  diese,  dem  Aufbau  positiver  Wissenschaft  wenig  förderlichen 
Elemente,  die  revolutionären  Einflüsse  des  BrowTiianismus ,  die 
mystische  Schwärmerei  des  Mesmerismus  und  namentlich  die  im  An- 
blick der  blühenden  Naturwissenschaft  neu  erstarkte  Sehnsucht  nach 
einer  Durchgeistigung  der  Xatur  sammelten  sich  endlich  in  der 
Naturphilosophie.  Mit  ihrer  Schöpfung  schliesst  das  18.  Jahr- 
hundert und  zur  selben  Zeit,  da  in  Frankreich  unter  völliger  Abkehr 
von  der  Spekulation  die  Grundsteine  der  realen  Heil  wissen  Schaft  gelegt 
wurden,  da  Bichats  Genius  eine  neue  Aera  eröffnete,  umschwebten  die 
,.Ideen  zu  einer  Philosophie  der  Natur"   die  Medizin  der  Deutschen! 

Die  naturphilosophische  Schule,  diese  höchste  Steigerung 
der  medizinischen  Spekulation  und  aprioristischen  Einheitsbestrebung 
entstand  im  Beginne  des  19.  Jahrhunderts  in  Deutschland  und  ge- 
langte nur  in  Ländern  deutscher  Zunge  zur  Herrschaft.  So  paradox 
es  auf  den  ersten  Anblick  erscheint,  so  unüberbrückbar  der  Gegensatz 
ist.  der  zwischen  ihr  und  der,  zu  gleicher  Zeit  in  Frankreich  auf- 
blühenden positiven  Foi^chung  obwaltet,  beide  Eichtungen.  die  natur- 
philosophische Spekulation  der  Deutschen  und  der  reale  Empirismus 
der  Franzosen,  bedeuten  die  Erlösung  aus  den  starren  Banden  des 
abstrakten  Vitalismus  und  beide  verfolgen  trotz  ihrer  Divergenz,  jede 
auf  besondere  Weise,  die  eine  deduktiv-genetisch,  die  andere  induktiv- 
analytisch dasselbe  Ziel:  die  wissenschaftliche  Begründung 
der  Medizin.  Nicht  das  Ziel  ist  es,  das  sie  trennt,  sondern  die 
Methode,  und  niemals  zuvor  wurde  mit  solchen  Waffen,  mit  dem  Auf- 
gebot so  zahlreicher,  so  bedeutender  Kräfte,  der  uralte  Streit  aus- 
getragen, welcher  zwischen  Plato  und  Aristoteles  entbrannt  ist  und 
auch  auf  dem  Gebiete  der  Medizin  bald  latent  schlummernd,  bald 
grell  aufflackernd,  bald  mit  dem  Siege  des  Idealismus,  bald  mit  dem 
Triumphe  des  Realismus  endend,  den  Rhythmus  der  Geschichtsentwick- 
lung unterhält. 

Die  Ursachen,  weshalb  an  der  Neige  des  18.  Jahrhunderts,  an  der 
Schwelle  des  19.  nicht  einzelne  Vertreter  dieser  oder  jener  Nationalität, 
sondern  die  deutsche  und  französische  Medizin  in  corpore  einander  gegen- 
überstehen, liegen  tief  im  Schoss  der  nationalen  Eigenart,  der  nationalen 
Entwicklung,  der  Zeitgeschichte  begründet,  und  wie  immer  an  einschneiden- 
den Wendepunkten,  bildet  die  Geschichte  der  Heilkunst  nur  den  Ausfluss 
des  allgemeinen  kulturellen  Milieus. 

Der  charakteristische  Wesenszug  der  Romanen,  welcher  an  Formen 
und  sinnfälligen  Erscheinungen  haftet,  gelangte  gerade  bei  den  Franzosen 
dank  politischer  Schicksale  zur  reichsten  Entwicklung,  und  dieselbe  Prägnanz, 
welche  ihre  Sprache  trotz  geringerem  Wortschatz  mit  kristallheller  Klarheit 
erfüllt,  ihre  Kunst  auf  Kosten  der  Tiefe  den  Fesseln  der  Normen  unter- 
warf,   derselbe  Realismus,    welcher   im  gesamten  Kulturleben,    nirgends  aber 


112  Max  Neuburger. 

mehr  als  in  der  sensualistisch-materialistischen  Philosophie  (Condillac,  Hel- 
vetius,  Voltaire,  Encyklopädisten,  La  Mettrie,  Cabanis)  zutage  tritt  und  das 
gelehrte  Interesse  schon  frühzeitig  von  der  Spekulation  zu  den  exakten 
Wissenschaften  hinleitete,  selbst  in  der  Politik  den  rasch  gefassten  Gedanken 
noch  rascher  in  positive  Thaten  umsetzt,  manifestiert  sich  auch  in  der 
Medizin,  welche  im  Zeitalter  der  Revolution  selbständig  wurde  und  nicht 
aus  purem  Zufall  gerade  unter  Napoleon  unvergleichlich  emporzublühen 
begann.  In  dieser  glanzvollen  Aera,  in  der  sich  entsprechend  der  politischen  - 
Entwicklung  das  Interesse  umsomehr  dem  Positiven  zuwendete,  als  Napoleon 
schon  äusserlich  die  reale  Forschung  begünstigte,  die  ideologische  Richtung 
dagegen  unterdrückte,  entnahm  die  französische  Medizin  den  exakten  Wissen- 
schaften ihre  Methoden,  ihre  Grundlagen  und  baute  auf  diesen  vorsichtig 
weiter. 

Ein  geradezu  entgegengesetzter  Verlauf  lässt  sich  in  der  deutschen 
Naturforschung  und  Medizin  verfolgen.  Die  schönen  Ansätze  des  deutschen 
Volksgeistes,  der  mit  der  ganzen  Urgewalt  seines  Tiefsinns,  seines  seelischen 
Empfindens  nach  dem  Wetterleuchten  der  religiösen  Mystik  im  Reformations- 
zeitalter seine  Fesseln  sprengte  und  auch  in  der  Heilkunst  des  genialen 
Paracelsus  wehte,  wurden  unter  der  rohen  Wucht  des  dreissigjährigen 
Krieges  für  lange  hinaus  zu  Boden  getreten.  Die  politische  Zerfahrenheit 
und  Zerrüttung,  der  despotische  Druck  und  die  pedantische  Kleinlichkeit, 
der  Mangel  an  Selbstbewusstsein  gegenüber  fremdländischen  Eingriffen  — 
alle  diese  traurigen  Momente  beeinträchtigten  die  nationale  Entwicklung, 
zersplitterten  die  besten  Kräfte  des  Volkes  und  erzeugten  einen  tiefen  Ver- 
fall der  Kultur,  den  selbst  die  gigantische  Grösse  eines  Leibniz  nicht  auf- 
zuhalten vermochte.  Ein  seichter  religiöser  Rationalismus,  ein  flacher  ästhe- 
tischer Eklektizismus,  der  in  den  Farben  des  Auslands  schillerte,  verriet 
allein  den  matten  Pulsschlag  des  geistigen  Lebens.  Dieselben  Merkmale 
lassen  sich  auch  in  der  Naturforschung  nachweisen*  Erst  in  der  zweiten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  stellten  sich  die  ersten  Anzeichen  der  Ge- 
sundung ein.  In  reger  Fühlung  mit  dem  frischen  Sinn  des  Volkes  erwachte 
unter  den  Besten  ein  warmes  Nationalgefühl,  das  zunächst  nur  im  Reich  des 
Idealen  in  Litteratur  und  Kunst  seinen  Ausdruck  finden  konnte.  Er- 
starkt an  kräftigem  Selbstbewusstsein,  aus  eigenen  Schachten  schöpfend, 
konnte  jetzt  der  deutsche  Genius  seine  Macht  entfalten,  und  bald  in  wenigen 
Dezennien  erreichte  die  Litteratur  eine  Höhe,  welche  sie  jeder  anderen  zum 
mindesten  ebenbürtig  machte.  Klopstocks  edle  Begeisterung,  Wielands 
anmutende  Grazie,  Lessings  kritische  Meisterschaft  und  urkräftiger  National- 
sinn, Herders  reicher,  in  die  Tiefen  der  Volksseele  dringender  Geist, 
Winckelmanns  Erweckung  des  klassischen  Altertums  künden  das  nahende 
Dioskurenpaar  - —  Schiller  und  Goethe.  Aus  dem  Sonnenstrahle  ihrer  Muse 
empfing  das  nationale  Gefühl  neue  Kräfte  und  Trost  für  die  tiefen 
Demütigungen,  welche  das  deutsche  Volk  auf  die  härteste  Probe  der  Ge- 
duld und  Entsagung  stellen  sollten.  Die  Naturforschung,  welche  vorher 
am  härtesten  unter  der  Ungunst  der  Verhältnisse  gelitten  hatte,  vermochte 
den  ruhmvollen  Aufschwung  der  Litteratur  nicht  zu  begleiten,  und  gerade 
jene  gewaltig  stürmenden  Triebkräfte,  welche  im  Reich  der  künstlerischen 
Phantasie  Grosses  zeugten,  führten  wohl  zu  idealen  Projekten  und  zu  kühnen 
Anläufen,  niemals  aber  zu  ruhiger,  genügsamer  ausharrender  Beobachtung. 
Das  abstrakte  Parteiengezänke,  welches  den  Phasen  der  philosophischen 
Spekulation  folgte,  verstummte  auch  nicht  vor  der  warnenden  Stimme  des 
grossen  Begriffs-Zerschmetterers,  Immanuel  Kant.  Mochte  der  Weise  von 
Königsberg  auch  für  alle  Zeiten  die  unübersteiglichen  Grenzen  des  Denkens 


Einleitung.  113 

und  damit  die  Subjektivität  der  Anschauung  festgestellt  haben,  mochte  er 
auch  die  metaphysische  Spekulation  der  Autoritäten  zerstört,  die  Natur- 
wissenschaften auf  den  einzig  möglichen  Weg  der  Erfahrung  unter  steter 
Kritik  der  Erkenntnisquellen  gewiesen  haben,  die  zur  Meditation  hin- 
neigenden Geister  dieser  romantischen  Zeit  Hessen  sich  davon  nicht  ab- 
schrecken, gerade  die  idealistischen  Keime,  welche  in  Kants  Philosophie 
liegen,  einseitig  hervorzuziehen  und  die  Sehnsucht  nach  aprioristischer  Er- 
kenntnis in  gewagten  Versuchen  zu  stillen.  So  wurde  denn  Kants  Lehre 
der  Ausgangspunkt  erhöhter  Spekulation,  nicht  nur  in  der  Philosophie 
(Fichte,  Schelling,  Hegel),  sondern  leider  auch  in  der  Natiu-wissenschaft  und 
Medizin, 

Der  Höhepunkt  der  spekulativen  Richtung,  welcher  nur  wenige  deutsche 
Naturforscher,  wie  Alexander  v.  Humboldt,  ferne  standen,  fällt  gerade  in 
die  Epoche  des  politischen  Sturms,  der  Vorbereitung  zu  den  Befreiungs- 
kriegen, welche  Zeit  ohnedies  eine  ruhige  naturwissenschaftliche  Sammel- 
thätigkeit  bei  den  Deutschen  nicht  aufkommen  Hess,  ihnen  aber  andererseits 
die  glänzendsten  Leistungen  eines  Volta,  eines  Dalton.  Berzelius,  Humphry 
Davy,  Gay-Lussac  u.  a.  vor  Augen  stellte.  Statt  die  Wege  dieser  Männer 
einzuschlagen,  mit  ihren  Methoden  Einzelprobleme  zu  bearbeiten,  wie  es  die 
französischen  Forscher  thaten,  betrachteten  die  deutschen  Denker  die  er- 
zielten Resultate  als  genügend,  um  aus  ihnen  kraft  der  Selbstherrlichkeit 
des  Geistes  welterklärende  Systeme  schmieden  zu  können.  Noch  mehr  als 
die  Naturforschung,  bildete  die  deutsche  Medizin  den  in  der  Volksanlage 
vorhandenen,  durch  die  geschichtsbildenden  Einflüsse  noch  vertieften,  speku- 
lativen Zug  aus  und  trat  damit  als  letztes  Glied  einer  langen  Entwicklungs- 
reihe der  ebenfalls  scharf  ausgeprägten  realistischen  Medizin  der  Franzosen 
gegenüber. 

Erfahrung-  und  Spekulation  schienen  einen  ewigen  Bund  ge- 
schlossen zu  liaben,  als  Friedr.  Wilh.  Joseph  Schelling  über  Kant  und 
Fichte  hinausstrebend  sein  System  der  Naturphilosophie  (1799)  be- 
kannt machte  und  mitten  in  der  gärenden  Bewegung  der  damaligen 
Naturforsclmng  die  zerstreuten  Ergebnisse  der  Empirie  nicht  bloss  zu 
einer  geschlossenen  Einheit  harmonisch  verband,  sondern  dialektisch 
aus  einer  aprioristisclien  Grundidee  wie  etwas  Selbstverständliches 
hervorgehen  Hess. 

Während  Kant  die  Subjektivität  unserer  Anschauung  bewies, 
während  Fichte  die  Natur  aus  dem  „Ich"  konstruierte,  eint  sich  in 
Schellings  Sj^stem  Geist  und  Materie,  Subjekt  und  Objekt  zu  einem 
grossen  Ganzen,  dessen  Gestalten  und  Bewegungen  von  einem  Leben, 
einem  Urgesetz.  durchflutet  sind.  Das  Unendliche,  das  Absolute, 
entsprechend  Spinozas  Gottheit,  die  Identität  des  Realen  und 
Idealen,  ist  der  Urgrund  alles  Seins,  das  sich  in  Geist  und  Natur 
offenbart  und  die  einzelnen  Erscheinungen  in  stufenweiser  Entwick- 
lung durch  Differenzierung,  durch  das  Ueberwiegen  des  einen  oder 
anderen  Pols,  erzeugt.  Die  Identität  als  seiend  gedacht,  ist  absolute 
Vernunft,  als  werdend  ist  sie  Natur.  „Die  Naturgetze  müssen 
sich  auch  unmittelbar  im  Bewusstsein  als  Gesetze  des 
Bewusstseins,  und  umgekehrt  diese  letzteren  auch  in 
der  objektiven  Natur  als  Naturgesetze  nachweisen 
lassen."  Hiernach  ist  eine  Konstruktion  der  Natur  aus  Vernunft- 
ideen gegeben. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.     Bd.  II.  8 


114  Max  Neuburger. 

Den  drei  Dimensionen  der  Materie  entsprechen  die  drei  Grundkräfte, 
Magnetismus,  Elektrizität  und  chemischer  Prozess,  welche  sich  im  Organis- 
mus als  Sensibilität,  Irritabilität  und  Reproduktion  darstellen.  Das  Organische 
unterscheidet  sich  vom  Anorganischen  nur  durch  die  Potenzierung  der 
Grundkräfte,  ein  Leben  durchweht  das  gesamte  All  in  stufenweiser  Steigerung. 
Das  Pflanzenreich  besitzt  nur  die  Reproduktionskraft,  bei  den  Würmern  be- 
steht der  Streit  zwischen  Reproduktion  und  Irritabilität,  die  Insekten  habön 
Irritabilität,  bei  Amphibien  und  Fischen  überwiegt  die  Irritabilität,  die 
Vögel  nähern  sich  bereits  der  Sensibilität,  während  die  Säugetiere  durch 
die  Sensibilität  charakterisiert  sind.  Im  menschlichen  Organismus  entspricht 
der  Nerventhätigkeit  (Kopfhöhle)  die  Sensibilität,  den  Muskeln  und  dem 
Herzen  (Brusthöhle)  die  Irritabilität,  den  vegetativen  Funktionen  (Bauch- 
höhle) die  Reproduktionskraft.  Alles  höher  entwickelte  Leben  ent- 
hält notwendig  alle  niederen  Bildungsstufen  in  sich, 

Scliellings  Philosophie  ist  nicht  nur  durch  ein  geistig^es  Band  mit 
der  Paracelsischen  Kosmosophie  verknüpft,  an  welche  sie  unter  anderem 
durch  den  Gedanken  der  Einheit  des  Naturlebens,  durch  die 
Annahme  innigster  Wechselbeziehungen  zwischen  Organismus  und 
Aussenwelt,  durch  die  bis  ins  einzelne  durchgeführte  Vergleichung 
des  Makrokosmus  mit  dem  Mikrokosmus  gemahnt,  sie  wurde  in  ihrer 
Verbreitung  auch  durch  äussere  Verhältnisse  begünstigt,  die  an  das 
Reformationszeitalter  erinnern.  Gewaltige  Umwälzungen  waren  im 
gesamten  Kulturleben  vor  sich  gegangen,  die  überraschenden  That- 
sachen  der  Naturforschung  wirkten  umgestaltend  auf  Welt-  und  Lebens- 
auffassung, das  Wehen  einer  neuen  Zeit  Hess  seinen  Atem  spüren  und 
entfachte  die  Flamme  der  Begeisterung  für  Recht  und  Freiheit,  die 
deutsche  Kunst  war  zu  neuem  Leben  erwacht,  die  blühende  Dicht- 
kunst, als  schönster  Ausdruck  des  Empfindens  der  Volksseele,  weckte 
den  Sinn  für  alles  Wahre,  Schöne,  Edle,  neigte  aber  in  der  roman- 
tischen Schule  dem  Phantastischen  oder  Mittelalterlichen  zu,  — 
wie  sollte  der  deutsche  Idealismus  nicht  für  eine  Lehre  erglühen,  die 
seinem  innersten  Wesen  entsprang  und  zudem  noch  eine  vollendete 
Theorie  der  Natur,  eine  Auflösung  der  ganzen  Natur  in  Intelligenz, 
eine  Vergeistigung  aller  Naturgesetze  versprach?  Freilich 
waltet  ein  grosser  Unterschied  zwischen  Schelling  und  Paracelsus,  in- 
sofern der  Naturphilosoph  des  Reformationszeitalters  zwar  eine  un- 
endliche Menge  von  Gott  erschaffener  Lebensideen  annahm,  aber 
deren  Erforschung  nur  durch  Beobachtung  und  Erfahrung  für  mög- 
lich hielt,  während  der  Schöpfer  der  „Identitätslehre"  sich  vermass, 
die  ganze  Welt  mit  allen  ihren  Erscheinungen  a  priori  zu  konstruieren, 
die  Spekulation  als  höchste,  ja  einzig  sichere  Erkenntnisquelle  hinzu- 
stellen; aber  musste  es  in  einer  Epoche,  welche  unter  der  Fülle  un- 
geahnter Erkenntnis  die  geistige  Sammlung  verlor,  welche  im  Jubel 
der  Begeisterung  auf  allen  Gebieten  nach  ungemessenen  Zielen  strebte, 
nicht  verlockend  erscheinen,  den  Versuch  zu  machen,  ob  man  nicht 
besser  fortkomme,  wenn  man  der  wissenschaftlichen  Konstruktion  die 
empirische  Forschung  opfere? 

Begeistert  folgten  Naturforscher  und  Aerzte  den  Sirenenklängen, 
nur  zu  lange   standen   sie  treu  zur  Fahne  Schellings,   der  durch  Auf- 
stellung  der  Polaritäts Wirkung  als  eines  allgemeinen  Naturgesetzes, , 
durch  Vorahnung   der  Identität   der   elektrischen    und  magnetischen 
Kraft,  durch  geistvolle  Antizipation  der  Entwicklung  der  Organismen 


Einleitung.  115 

wahrhaft  prophetische  Blicke  in  die  Natur  gethan  zu  haben  schien  — 
hatte  doch  auch  Goethe  die  „Ahnungen"  am  höchsten  bewertet!  In 
der  kunstvoll  ersonnenen  Schulsprache  war  Wahrheit  und  Dichtung 
innig  durchmengt,  die  täuschende  Unterordnung  bekannter  Fakten 
unter  spekulative  Axiome  liess  erwarten,  dass  man  durch  kühne 
Vergleiche,  durch  Analogisierung  und  Parallelisierung  über  die  Er- 
fahrung hinaus  ins  Unbekannte  dringen  könne. 

In  flammenden  Worten  zeigt  die  Geschichte  dieser 
Epoche,  dass  die  Synthese  allein,  selbst  wenn  sie  Wahr- 
heit in  sich  schliesst,  niemals  zu  sicheren  Ergebnissen 
auf  dem  Gebiete  der  Naturwissenschaften  führen  kann, 
dass  die  Hypothesen  und  Geistesblitze  universaler 
schöpferischer  Denker  nur  dann  wahren  Fortschritt  be- 
gründen können,  wenn  sie  auf  induktivem  Wege  auf 
ihren  Wert  untersucht  und  an  der  Hand  der  Erfahrung, 
an  einermöglichst  grossen  Zahl  von  konkreten  Einzel- 
fällen zur  vollen  Evidenz  erwiesen  werden.  Wenn  man 
sich  die  Mühe  nimmt,  durch  die  gekünstelte  und  von  willkürlichem 
Wortgebrauch  verunstaltete  Schulsprache  der  Naturphilosophen  auf 
den  Grund  ihrer  Ideen  zu  dringen,  so  findet  man  bei  manchen  unter 
ihnen  Vorahnungen  und  Antizipationen,  welche  im  Hinblick  auf  die 
damalige  Niveauhöhe  positiver  Erkenntnisse  überraschen  und  that- 
sächlich  im  Laufe  eines  Jahrhunderts  rastloser  Detailarbeit  in  den 
anerkannten  Besitzstand  der  Wissenschaft  übergegangen  sind.  Aber 
nur  die  Früchte  des  SchAveisses,  nicht  die  Seifenblasen  einer  noch 
genialen  Phantasie,  bedeuten  wissenschaftliches  Gut,  nur  durch  die 
empirische  Forschung  konnten  die  Ideen  nutzbar  werden  und  wenn 
auch  die  Geschichte  mit  dem  Finger  darauf  hinweist,  dass  manche 
Errungenschaft  der  exakten  Forschung  durch  spekulative  naturphilo- 
sophische Köpfe  inspiriert  oder  doch  angedeutet  worden  sind,  die 
späteren  Generationen  stehen  auf  eigenem,  mit  der  Pflugschar  ihrer 
Arbeit  durchfurchtem  Boden,  sie  haben  den  Zusammenhang  mit  jener 
Zeit  für  immer  verloren  und  bewerten  ihre  Leistung  als  beklagens- 
werte fortschrittshemmende  Verirrung.  Die  Wahrheit  muss  eben 
durch  den  Destillierkolben  der  Erfahrung  hindurch, 
um  Wissenschaft  werden  zu  können. 

Gerade  aber,  weil  heute  die  Gefahr  eines  Rückfalls  in  aprioristische 
Spekulation  kaum  droht,  und  das  vernichtende  Verdammungsurteil  vor 
dem  wissenschaftlichen  Forum  jeden  wahren  Forscher  vor  rein  speku- 
lativen Anwandlungen  bewahrt,  ist  es  Pflicht  des  Historikers  daran 
zu  erinnern,  dass  zwar  die  Kärrner  der  Natui'philosophie  durch  ihr 
inhaltsleeres  philosophisch  geschwängertes  Phrasengeküngel  den  Fort- 
gang der  Wissenschaft  hemmten,  dass  auch  die  führenden  Geister 
durch  ihre  grundfalsche  Methode  ein  warnendes  Beispiel  für  alle 
Zeiten  gaben ,  dass  aber  Männer  wie  Schelling,  Lorenz 
Oken,  J.  Döllinger  und  namentlich  Carl  Friedrich  Kiel- 
m  e  y  e  r  hinsichtlich  ihrer  Ideen  zu  den  Grössten  gezählt  werden 
müssen  und  wenigstens  das  Verdienst  für  sich  in  Anspruch  nehmen 
dürfen,  durch  Auffassung  der  Natur  als  eines  geschlossenen  Ganzen,  durch 
Vergleichung  der  Lebensvorgänge  mit  chemisch-physikalischen  Pro- 
zessen die  Physiologie  befruchtet  und  den  Entwicklungs- 
gedanken in  die  Naturforschung  verpflanzt  zu  haben.  Konnte 
dieser  herrliche  Gedanke,  der  späterhin  wie  aus  einem  Füllhorn  die 

8* 


116  Max  Neuburger. 

fruchtbringendsten  Keime  streute,  auch  erst  viel  später  in  seiner 
Gänze  klarg-estellt  und  nocli  viel  später  praktisch  ausgenützt  werden, 
es  waren  doch  die  deutschep  Naturphilosophen  die  Ersten,  welche 
diesen  Schacht  mit  ihren  Hammerschlägen  erschlossen,  die  zuerst  den 
Silberblick  des  verborgenen  Schatzes  zu  erspähen  wussten.  Der  Sinn 
des  Wortes  „Natur",  d.  h.  des  „Werdenden",  der  Zusammenhang  allfer 
Erscheinungen  trat  ihnen  mitten  in  einer  Zeit,  die  sich  nur  mit  der 
Analyse  des  Gegebenen  befasste,  klar  vor  Augen,  und  die  allerdings 
sehr  geringe  Zahl  der  Forscher,  welche  nicht  in  linguistischen  Turn- 
übungen und  scholastischen  Begriffszergliederungen  das  Wesen  der 
Naturphilosophie  erblickte,  wurde  mächtig  angeregt,  die  Differenzierung 
des  Absoluten,  den  vorausgesetzten  genetischen  Prozess  auf  ver- 
schiedenen Gebieten  empirisch  zu  untersuchen.  Vergleichende 
Anatomie,  Physiologie  und  Embryologie  waren  die  Gebiete, 
wo  sich  solche  Bestrebungen  besonders  geltend  machen  konnten,  und 
wie  sehr  hiedurch  den  Theorien  von  Lamarck  und  von  Geoffroy 
St.  Hilaire,  dem  Darwinismus  vorgearbeitet  wurde,  bedarf  keiner  be- 
sonderen Darlegung. 

Kielmeyer  (1765 — 1844),  ursprünglicli  Professor  an  der  Karlsschule 
zu  Stuttgart,  und  sein  Schüler,  der  Schöpfer  der  vergleichenden  Anatomie, 
Cuvier,  illustrieren  durch  ihr  geistiges  Verhältnis  am  deutlichsten,  wo  die 
Fäden  der  heutigen  Naturforschung  gerade  in  ihrer  imposantesten  Manifestation 
anknüpfen ;  denn  Cuvier,  der  die  metaphysique  idealiste  der  Deutschen  ver- 
lachte, dessen  Leistungen  stets  als  exakte  betrachtet  werden  müssen,  war 
ehrlich  genug  zuzugeben,  dass  er  die  leitenden  Gedanken  niemand  anderem 
als  dem  Naturphilosophen  Kielmeyer  zu  verdanken  habe,  und  thatsäch- 
lich  bezeugt  dessen  Schrift,  dass  er  weniger  durch  empirische  Mittel,  als 
durch  reines  Denken  zu  der  grossen  Grundwahrheit  des  biogenetischen 
Gesetzes  vorgedrungen  war,  indem  er  darauf  hinwies,  wie  jedes  einzelne 
Individuum  in  seiner  Entwicklung  dieselbe  Stufenreihe  durchlaufe,  welche 
in  der  Tierwelt  als  Abspiegelungen  eines  gemeinsamen  Bildungstypus  hervor- 
treten, wie  der  Embryo  die  organischen  Formen  der  Tierwelt  wiederhole  — 
eine  Idee,  die  zuerst  von  Anaximander  ausgesprochen  wurde.  Ebenso  frucht- 
bringend wie  Kielmeyer  wirkte  der  aus  Schellings  Schule  hervorgegangene 
Physiologe  Döllinger  (1770 — 1841),  der  anerkanntermassen  zu  den  Be- 
gründern der  neueren  Entwicklungsgeschichte,  zu  den  bedeutendsten 
Förderern  der  mikroskopischen  Forschung  zählt.  Und  wer  vermag  nach 
unparteiischer  Prüfung  dem  Hauptvertreter  der  Naturphilosophie,  dem  Vor- 
kämpfer des  deutschen  Hochgedankens,  dem  Begründer  der  jährlichen  Ver- 
sammlungen deutscher  Natui'forscher  und  Aerzte,  Lorenz  Oken  (1779 — 
1851),  seine  Anerkennung  versagen,  wenn  er  die  All-Einheit  der  Natur, 
das  Gesetz  der  Entwicklung  nachzuweisen  sucht,  wenn  er  in  Vorahnung  der 
Zellentheorie  den  Organismus  aus  Bläschen,  wenn  er  wie  Goethe  den  Schädel 
aus  einer  Vereinigung  höher  entwickelter  Wirbel,  den  Darm  aus  dem  Nabel- 
bläschen hervorgehen  lässt?  Sein  Genius,  der  ihn  zur  Bearbeitung  der 
Entwicklungsgeschichte  führte,  drang  hinaus  über  die  mystische  Schulsprache 
und  offenbarte  sich  in  Leistungen,  deren  innerer  Wert,  losgelöst  von  den 
Schlacken  der  Zeit,  Bewunderung  im  vollsten  Masse  verdient.  Dasselbe 
gilt  für  andere  Naturphilosophen,  soweit  die  Physiologie  in  Betracht  kommt,  * 
z.  B.  für  Kieser,  J.  Dömling,  die  beiden  Treviranus,  Burdach,  Gruithuisen, 
L.  Beinhold,   Georg  Prochaska,  J.  H.  F.   Autenrieth,   Carus,  Huschke  u.  a. 


Einleitung.  117 

Leider  verstauden  es  aber  nur  wenige  NaturpMlosophen  mit  der 
Spekulation  empirische  Forschung  zu  verknüpfen,  die  meisten  glaubten, 
ohne  durch  Gedankenreichtum  Ersatz  zu  bieten,  die  wissenschaftliche 
Taglöhnerarbeit  gänzlich  entbehren  zu  können  und  zersplitterten  ihre 
schwachen  Kräfte  in  hohlen  Abstraktionen,  die  weder  Philosophie 
noch  Naturwissenschaft  waren,  oder  missbrauchten  beifallslüstern  den 
Reichtum  der  gefügigen  deutschen  Sprache  zur  Ausbildung  einer 
ebenso  inhaltsleeren  vde  hochtönenden  Terminologie,  welche  die  Blossen 
des  Wissens  mit  dem  Flitter  unverständlicher  Phrasen  bedecken  sollte. 
Sie  vergifteten  nicht  nur  das  Denken,  sie  machten  sogar  den  Nutzen 
wieder  illusorisch,  der  durch  E  i  n  f  ü  h  r  u n  g  der  d  e  u  t  s  c  h  e  n  Sp  r  a  c  h  e 
in  die  wissenschaftlichen  Diskussionen  gebracht  worden 
war;  denn  der  Mode  huldigend,  gefiel  man  sich  in  nichtssagenden 
Wendungen  und  Stichwörtern,  welche  die  ganze  damalige  Litteratur 
geradezu  ungeniessbar  machen.  In  einer  Geschichte  der  Wissenschaft 
können  diese  Produkte  keinen  Platz  beanspruchen,  ihre  Urheber 
werden  am  besten  der  Vergessenheit  anheimgegeben.  Am  schlimmsten 
waren  die  Folgen  für  die  Medizin,  wo  naturgemäss  die  denkende  Be- 
obachtung mit  der  am  Schreibtisch  ersonnenen  Hypothese  gänzlich  un- 
vereinbar ist.  Vergeblich  waren  die  Warnungen  eines  Ph.  K.  Hartmann, 
eines  so  kritisch  und  historisch  geschulten  Denkers,  wie  A.  Fr.  Hecker 
(1763 — 1811).  die  geistige  vSeuche  verbreitete  sich  von  Jena  aus  über 
ganz  Deutschland  und  namentlich  München,  Bamberg,  Würzburg  und 
Bonn  wurden  zu  Centralstätten,  in  denen  akademische  Lehrer  das 
Gift  der  lernbegierigen  Jugend  einflössten.  L^ngezügelte  Phantasie 
als  Forschungsmethode,  eine  von  inhaltsleer enPhrasen 
wimmelnde  Terminologie  als  Verständigungs mittel,  das 
waren  die  Gaben,  welche  die  Naturphilosophie  der  Medizin  brachte, 
und  neben  diesen  furchtbaren  Nachteilen  verschwand  wenigstens  für 
die  Dii  minores  die  Grundidee,  die  Heilwissenschaft  in  den  Rang  einer 
Naturwissenschaft  zu  erheben.  Diese  Grundidee  wurde  durch  die  von 
Schelling  und  Marcus  herausgegebenen  ,.Jahrbücher  der  Medizin  als 
Wissenschaft"  (1806 — 1808)  propagiert,  in  Wirklichkeit  bestand  ihre 
Realisierung  aber  in  einer  rein  konstruktiven  Pathologie,  die  an  die 
Systeme  Browns,  Röschlaubs.  Mesmers  anknüpfte  und  mit  den  Be- 
griffen Erregbarkeit.  Sensibilität.  Irritabilität.  Polarität  etc.  ihr  nutz- 
loses Fangballspiel  trieb.  Deshalb  kam  man  auch  mit  der  entschieden 
ausgesprochenen  Opposition  gegen  den  Vitalismus  nicht  zum  er- 
wünschten Ziele  und  nicht  eine  einzige  Thatsache  von  Wert  gewann 
die  Pathologie  unter  der  Herrschaft  der  Naturphilosophie.  Zu  den 
Hauptvertretern  der  Naturphilosophie  auf  dem  Gebiete  der  praktischen 
Medizin  zählen  J.  P.  V.  Troxler  (1780—1860).  Dietrich  Georg  Kieser 
(1779—1862),  Markus,  Reil,  Carl  Himly,  die  Wiener  Aerzte  Adam 
Schmidt  und  Malfatti. 

Zwei  Grundvorstellungen  waren  es  namentlich,  welche  den  patho- 
logischen Systemen  der  Naturphilosophie  eigenartige  Färbung  ver- 
liehen: die  Lehre  von  den  Polaritäten  und  der  Entwick- 
lungsgedanke. 

Der  dualistische  Gegensatz  der  Kräfte,  welcher  mit  Leichtigkeit 
nicht  nur  in  den  magnetischen,  elektrischen  und  chemischen,  sondern 
auch  in  den  Lebensphänomenen  leicht  aufzuspüren  war,  wurde  geradezu 
als  Quelle  aller  Naturerscheinungen  erklärt,  und  sei  es,  dass  man  das 
Vitale  lediglich  als  Potenzierung  des  Galvanismus  betrachtete  (Brandis, 


118  Max  Neuburger. 

Oken,  Procliaska)  oder  aber  zu  den  physikalischen  Imponderabilien 
nur  in  Analogie  setzte  (Autenrieth,  Treviranus),  das  Vorwalten  eines 
„Pols"  schien  die  mannigfachsten  und  kompliziertesten,  physiologischen 
und  pathologischen  Vorgänge  restlos  zu  erklären.  Je  weniger  positiv.e 
Kenntnisse  und  Erfahrungen  am  Krankenbette  hinderlich  im  Wege 
standen,  desto  leichter  berauschte  man  sich  an  den  Gleichnissen,  die  dem 
Galvanismus  entnommen  waren,  und  spielend  lösten  sich  die  schwierigsten 
Probleme  in  der  Phantasie,  wenn  man  die  Polaritätswirkung  der 
Körperteile  und  Organe  untereinander,  die  polaren  Beziehungen 
zwischen  Materie  und  Erregbarkeit,  zwischen  Expansion  und  Kon- 
traktion, zwischen  Sensibilität  und  Irritabilität,  Arteriellität  und 
Venosität  etc.  zum  Wesen  der  Sache  machte.  Gesundheit  war  in 
solcher  Aufassung  nichts  anderes  als  das  richtige  Verhältnis  sämtlicher 
Organe  untereinander  und  in  ihrer  Beziehung  zur  Aussen  weit.  Krank- 
heit das  Abweichen  vom  Normalen  durch  Vorwiegen  des  positiven  oder 
negativen  Pols  (D.  G.  Kieser)  oder  das  Heraustreten  eines  Organs, 
einer  Sphäre  des  Lebens  (z.  B.  Irritabilität)  aus  dem  normalen  Fluss 
der  Erscheinungen  oder  das  Missverhältnis  der  organischen  Thätig- 
keit  zu  ihrem  organischen  Gebilde  (Troxler).  Die  Sympathie  der 
Organe  beruht  auf  Polaritätswirkung,  Metastasen  kommen  dadurch 
zustande,  dass  die  Fortpflanzung  der  primären  polaren  Veränderung 
durch  alle  dazwischen  liegenden  Körperteile  in  ein  anderes  Organ  vor 
sich  geht.  Glücklicherweise  konnte  die  Therapie,  trotzdem  theoretisch 
auch  dahin  die  Polaritätslehre  hineingetragen  wurde  (positive,  negative ; 
ideale,  reale  Arzneimittel,  Steffens),  nicht  wesentlich  beeinflusst  werden, 
sie  folgte  ihren  alten  ausgetretenen  Bahnen.  Berüchtigt  wurde  nur 
F.  A.  Marcus,  der  die  Irritabilität  für  den  wichtigsten  Angriffspunkt 
der  Behandlung  erklärte  und  demgemäss  einem  masslosen  Vampyrismus 
huldigte. 

Im  Lichte  der  Polaritätslehre  schien  auch  der  tierische  Magnetis- 
mus und  der  Somnambulismus  verständlicher  zu  werden.  So  suchten 
Gmelin,  Wilbrand,  Kieser,  Nasse  den  Mesmerismus  physiologisch  zu  er- 
klären, sei  es,  dass  sie  ihn  als  „animalisierte  Elektrizität",  als  „Wieder- 
holung niederer  Naturkräfte  auf  höherer  Stufe",  als  schlagendstes 
Beispiel  „organischer  Polaritäten",  als  Polarität  des  Sonnengeflechts, 
des  „tellurischen"  Ganglienlebens  gegenüber  dem  „solaren"  Gehirn- 
leben auffassten.  Nur  zu  rasch  versagten  aber  diese  Erklärungs- 
versuche, und  je  mehr  man  sich  in  die  „Nachtseite  der  Natur"  ver- 
senkte, desto  eher  gelangte  man  auf  die  abschüssige  Bahn  des  Mysti- 
zismus, die  von  der  Wissenschaft  in  den  Abgrund  des  düstersten 
Aberglaubens  führte.  Aehnlich,  wie  Schelling  selbst  am  Schlüsse 
seiner  Laufbahn  im  Mystizismus  endete,  so  zweigte  sich  von  der  rein 
naturphilosophischen  Schule  endlich  eine  Sekte  ab,  welche  die  Medizin 
durch  die  Etappen  der  Mystik,  des  Symbolismus  auf  das  Gebiet  der 
Magie,  Thaumaturgie  und  Theurgie  zu  leiten  bestrebt  war.  Dahin 
lief  allmählich  die  Richtung,  welche  der  Verfasser  der  Seherin  von 
Prevorst,  der  Dichterarzt  Justinus  Kerner  (1786 — 1862),  sein  Freund 
Eschenmayer,  ferner  die  Münchener  Professoren  Gotth.  H.  Schubert 
und  Franz  X.  Baader  und  besonders  Joseph  Ennemoser,  verführt  durch 
die  Sphinx  des  Somnambulismus  eröffnet  hatten.  Von  ihrer  Schwär- 
merei, welche  im  Somnambulismus  das  „Hereinragen  der  Geisterwelt" 
erblickte  und  den  längst  begrabenen  Spuk  des  Gespenster-  und 
Dämonenglaubens  zu  neuem  Leben  erweckte,  war  nur  ein  Schritt  zur 


Einleitung.  119 

pietistischen  „christlich-g-ermanischen"  Schule,  die  Görres, 
Windischmann,  Heinroth,  Leupoldt,  Joh.  Nepomuk  von  Ringseis  (1785— 
1880)  zu  ihren  Häuptern  zählte,  eine  spezifisch  „christliche"  Heilkunde 
aufbaute,  die  Krankheiten  (namentlich  die  psychischen)  aus  der  Sünde 
herleitete  und  demgemäss  zu  jener  magisch-theurgischen  Therapie 
zurückkehrte,  welche  einst  die  Rosenkreuzer  als  Ausläufer  des  Para- 
celsismus  betrieben  hatten.  Getragen  vom  mystisch-romantisch-reak- 
tionären Geist,  der  damals  in  Deutschland  herrschte,  fand  diese  Schule 
zwar  einige  Dezennien  hindurch  begeisterte  Anhängerschaft,  vermochte 
aber  dem  siegreichen  Vordringen  der  Naturwissenschaft  auf  die  Dauer 
nicht  zu  widerstehen  und  stürzte  zugleich  mit  der  politischen  Reaktion 
in  den  vierziger  Jahren  hoffentlich  für  immer  (?)  zusammen. 

Auch  der  zweite  Fundamentalgedanke  Schellings,  die  E  n  t  w  i  c  k  - 
1  u  n  g  s  i  d  e  e ,  fand  in  der  naturphilosophischen  Pathologie  Verwertung, 
leider  aber  in  grotesker  Verzerrung.  Es  handelte  sich  hiebei  zum 
geringsten  Teile  um  die  Auffassung  des  normalen  oder  krankhaften 
Lebens  als  beständigen  Werdeprozess  —  eine  Auffassung,  die  gegen- 
über der  Brownschen  Theorie  nur  von  dem  Polen  Andreas  Sniadecki 
und  dem  Dresdner  Praktiker  Fr.  Ludw.  Kreyssig  in  geistvollster 
Weise  vertreten  wurde,  —  sondern  um  den  Vergleich  der 
Krankheiten  mit  niederen  Entwicklungsstufen  des 
Lebens.  Im  Hinblick  auf  die  eigentümlich  modifizierten  soma- 
tischen und  psychischen  Vorgänge  während  des  „magnetischen,, 
Schlafs,  im  Anschluss  an  die  Betrachtung  der,  bisweilen  an  tierische 
Gestaltungen  erinnernden  Missbildungen,  gelangte  man  zur  Vorstellung, 
dass  jedwedes  Kranksein  gewisse  Aehnlichkeiten  mit  unvollkommenen 
Lebensformen  darstelle.  Nichts  schien  verlockender  als  diese  ver- 
meintliche Aehnlichkeit  zur  Identität  zu  erheben,  d.  h.  kurzwegs,  zu 
postulieren :  das  Pathologische  entsteht  dann,  wenn  ein  oder  mehrere 
oder  alle  Teile  des  Menschen  nicht  die  normale  Höhe  erreichen,  sondern 
auf  niederer  Stufe  verharren,,  oder  wenn  schon  normal  entwickelte 
Teile  wieder  auf  eine  unvollkommene  Organisationsstufe  herabsinken.  Es 
lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  dieser  Gedanke,  natürlich  mit  der  grossen 
Beschränkung  auf  den  menschlichen  Typus  und  auf  enge  Grenzen,  in 
der  modernen  Medizin  wiedergekehrt  ist  (z.  B.  in  der  Erklärung  der 
Neubildungen,  in  der  Auffassung  der  Entzündung  als  regressive  Meta- 
morphose in  den  Embryonalzustand),  in  einer  Epoche  aber,  in  welcher 
man  die  Phantasie  frei  und  fessellos,  ohne  Kritik  und  Untersuchung 
walten  liess,  konnte  er  nur  zu  den  extremsten  Ausschreitungen  Anlass 
geben.  Diese  Konsequenz  musste  umso  eher  eintreten,  als  gleichzeitig 
gerade  durch  die  einseitige  Berücksichtigung  und  romantische  Be- 
trachtung der  parasitischen  Neubildungen,  der  kontagiösen  Atfektionen 
und  der  „Wurmkrankheiten"  die  onto logische  Krankheitsauffassung 
sichere  Grundlagen  gewonnen  zu  haben  schien  und  ausserdem  noch 
die  Lehre  von  der  Generatio  aequivoca  das  Entstehen  von  niederen 
Organismen  (Infusorien,  Milben,  Würmer)  im  menschlichen  Körper 
wahrscheinlich  machte.  Aus  der  Verknüpfung  dieser  Prämissen,  aus 
der  Verwechslung  von  Krankheitserregern  mit  dem  Krankheitswesen 
ging  der  Schluss  hervor,  dass  die  Krankheit  nicht  nur  einen  tiefer 
stehenden  Lebensprozess  darstellt,  sondern  ein  eigenes,  selbständiges 
Leben  niederer  Kategorie  repräsentiert,  welches  gegenüber  dem  er- 
griffenen Körper  als  Parasit  wirkt,  dass  das  erkrankte  Organ  nicht 
bloss  einen   degenerierten  Körperbestandteil,   sondern   als   parasitäre 


120  Max  Neuburger. 

„After Organisation"  mit  eigenen  Bildungs-  und  Entwicklungs- 
gesetzen existiert.  Der  grobe  denkmethodische  Fehler,  welcher 
Krankheitsursache  mit  Krankheit  verwechselt,  den  eventuellen  para- 
sitären Krankheitserreger  und  seinen  krankmachenden  parasitären 
Lebensprozess  mit  dem  erkrankten  Organ  zusammenwirft,  wurde  gänz- 
lich übersehen  und  gab  zur  Schöpfung  der  „Parasitentheorie"  Anlass, 
unter  deren  Banner  die  sogenannte  „naturhistorische  Schule" 
aus  der  naturphilosophischen  hervorging,  eine  Schule,  die  sich  diesen 
Namen  deshalb  beilegen  konnte,  weil  sie  die  als  selbständige  In- 
dividualitäten aufgefassten  Krankheiten  systematisch  klassifizierte, 
wie  es  schon  weit  früher  Sauvages  nach  dem  Projekte  Sydenhams 
durchgeführt  hatte. 

Den  Namen  empfing  die  naturhistorische  Schule  von  dem  Jenenser 
Professor  K.  W.  Stark  (1787  — 1845),  welcher  sich  die  Krankheit  als  selb- 
ständigen, wenn  auch  nicht  immer  auf  räumliche  Weise  geschiedenen  para- 
sitischen Lebensprozess,  als  Organismus  im  Organismus  vorstellte.  Sie  ist 
nichts  Negatives,  d.  h.  Beraubung  der  Gesundheit,  sondern  etwas  Positives, 
eine  in  sich  geschlossene  Individualität  von  niederem  Biidungstypus,  ge- 
schaffen nach  dem  Vorbilde  einer  auch  sonst  in  der  Natur  vorkommenden 
Organisation,  Nur  konsequent  schliesst  Stark,  dass  die  Krankheiten  selbst 
wieder  erkranken  können,  so  z.  B.,  wenn  zum  Tuberkel  das  Geschwür,  zu 
einer  Allgemeinerkrankung  Blutung  hinzukommt  u.  s.  w.  Noch  prägnanter 
vertraten  F.  Jahn  (1804—1859)  und  E.  Volz  (1806—1882)  den  onto- 
logischen  und  parasitären  Gedanken.  Ihre  Ansichten  werfen  auch  ein 
grelles  Streiflicht  auf  die  psychologischen  Ursachen  dieser  Verirrung.  Da 
nämlich  mit  dem  Eintritt  des  Todes  eine  „üppige  Entbindung  niederer 
Lebensformen"  (Infusorien)  eintrete,  so  müsste  in  der  Krankheit,  die  ja  eine 
Vorstufe  des  Todes  sei,  schon  eine  Bildung  solcher  niederer  Lebensformen, 
eine  „Infusoriengärung"  vorbereitet  sein,  die  nur  noch  in  Latenz  verharre. 
Beweis  dessen  finde  man  in  Geschwüren  und  Hautkrankheiten  Würmer, 
Krätzmilben  etc.  oder  verwandte  Gebilde,  wie  Tuberkel,  Balggeschwülste, 
Hydatiden  u.  s.  w.  Die  Krankheiten  seien  also  niedere,  den  Pilzen,  In- 
fusorien, den  Pflanzensamen  oder  Tiereiern  entsprechende  Organismen,  deren 
Individualität  sich  bemerkenswerterweise  durch  periodisches  Auftreten  (Keuch- 
husten, Malaria,  Epilepsie  u.  s.  w.),  durch  das  begrenzte  Vorkommen  in 
bestimmten  Ländern,  durch  nachweisbare  Wanderung  (Epidemien)  durch  die 
Wirksamkeit  spezifischer  Mittel  und  durch  ihren  Parasitismus  gegenüber 
dem  Wirte  kundgeben.  Ganz  besonders  spreche  für  den  individuellen  onto- 
logischen  Charakter  der  historisch  zu  verfolgende  Verlauf  seuchenhafter 
Krankheiten,  welche  entstehen,  wachsen  und  zu  grundegehen  (verschwinden). 
Man  sieht,  dass  Jahn  einen  an  sich  richtigen  Gedanken  verfolgte,  der  Sydenham 
und  andere  zur  Aufstellung  des  Begriffs  „Genius  epidemicus"  veranlasst 
hatte.  Zu  den  grössten  Paradoxien  gelangte  ein  anderer  Vertreter  der  natur- 
historischen Schule.  K.  R.  V.  Hofi'raann  (1797 — 1877),  der  die  Identifizierung 
der  Krankheiten  mit  selbständigen  organischen  Bildungen  nicht  wie  die  übrigen 
bloss  andeutete,  sondern  mit  kühner  Phantasie  tbatsächlich  durchführte.  In 
moderner  Terminologie  würde  er  die  Krankheit  als  Einbruch  der  Phylogenie 
in  die  Ontologie  bezeichnet  haben,  da  er  in  den  verschiedenen  Affektionen 
nur  ein  Zurücksinken  auf  niedere  Lebensstufen,  „ein  Wiedererwachen  des 
längst  Begrabenen"  erblickt.  So  bedeuten  die  Skrofeln  ein  Zurücksinken 
auf  die  Stufe  der  Insektenlarven  (Tertium  comparationis :  Schwammigkeit, 
Armut   an  Pigment,    Aufgedunsensein,  Vorkommen  an    feuchten  Orten),    die 


i 


Eiuleitung.  121 

Rhacbitis  gleicht  durch  die  Weichheit  des  Knochensystems  wirbellosen 
Tieren,  die  Krebsgebikle  sind  wirkliche  Polypen,  Rotlauf  und  Scharlach 
werden  dem  Häutungsprozess  der  Tiere  an  die  Seite  gestellt,  Gichtknoten 
sind  verkümmerte  Bewegungsglieder,  Hämorrhoiden  verkümmerte  Eingeweide- 
glieder. 

Gerade  in  Verfolgung-  der  Parasitentheorie  war  die  naturhistorische 
Schule  schon  in  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  gezwungen,  eine  Ver- 
bindung der  Medizin  mit  den  beschreibenden  Naturwissenschaften  an- 
zubahnen nnd  nach  deren  Muster  nicht  allein  die  Nosologie  syste- 
matisch zu  bearbeiten  (Krankheitsklassifikationen),  sondern  auch  die 
Diagnostik  (Ludw.  Aug.  Siebert,  C.  H.  Fuchs,  Hautkrankheiten) 
wesentlich  zu  verfeinern.  Bei  diesem  Bestreben  trat  die  Parasiten- 
theorie in  dem  Masse  in  den  Hintergrund,  als  naturwissenschaftliche 
Thatsachen  und  Erfahrungen  am  Krankenbette  herangezogen  wurde. 
Ein  Teil  der  Anhänger,  wie  z.  B.  G.  Eisenmann  (1795—1867),  C.  H. 
Fuchs  (1803-1855),  K.  Canstatt  (1807—1850)  u.  a.  legte  sogar  das 
Hauptgewicht  auf  die  Systematik,  die  sie.  wenn  auch  unvollkommen 
und  phantastisch,  doch  mit  möglichster  Benützung  klinischer,  ana- 
tomischer und  chemischer  Untersuchungsergebnisse  (z.  B.  Prüfung  der 
chemischen  Eeaktion  der  Krankheitsprodukte)  nach  dem  Vorbilde  des 
natürlichen  Pflanzensystems  auszubilden  versuchten.  Von  diesem  Be- 
streben bis  zum  Abwerfen  des  ganzen  spekulativen  Ballastes,  bis  zum 
Aufgehen  in  unbefangener,  klinisch-naturwissenschaftlicher  Forschung 
war  nur  ein  Schritt.  Diesen  Schritt,  der  die  Medizin  endlich  aus  dem 
spekulativen  Hohlweg  herausführte,  that  einer  der  grössten  Aerzte 
des  19.  Jahrhunderts,  der  Schüler  des  Naturphilosophen  v.  Walther  — 
Joh.  Lucas  Schön  lein  (1793 — 1864),  der  gemeiniglich  als  Haupt 
der  naturhistorischen  Schule  betrachtet  wird.  Der  individuelle  Bildungs- 
gang dieses  Meisters  spiegelt  die  drei  Etappen  der  naturhistorischen 
Schule  aufs  genaueste  wieder,  und  wie  sich  in  jeder,  seiner  drei 
Wirkungsepochen,  in  Würzburg,  Zürich  und  Berlin,  Schüler  ablösten, 
die  seine  jeweilig  vertretene  Hauptrichtung,  die  parasitäre,  die  noso- 
logisch-klassifikatorische,  die  diagnostisch-naturwissenschaftliche  be- 
sonders vertraten,  so  verwandelte  sich  auch  allmählich  der  Sinn,  den 
man  mit  der  Bezeichnung  „naturhistorische"  Schule  verband.  Aus 
der  Naturphilosophie  und  Spekulation  hervorgehend,  in  Empirie  und 
physikalisch-chemischer  Diagnostik  endend,  stellte  sie  das  Verbindungs- 
glied zwischen  der  „romantischen"  und  der  „exakten"  Medizin  dar, 
eine  Uebergangsphase,  die  den  bewussten  Zusammenhang  mit  der 
Vergangenheit  nicht  zum  mindesten  durch  Pflege  der  Geschichte  (der 
Medizin  und  der  Krankheiten)  offenbart. 

Der  eigenartige  Werdegang,  welchen  die  deutsche  Medizin  auf 
dem  Boden  der  Naturphilosophie  verfolgte,  entsprach  dem  deutschen 
Idealismus  und  bildet  in  letzter  Linie  eine  Illustration  einzelner  Ideen 
des  Paracelsus,  nur  dass  nicht  mehr  ein  Denker,  eine  Schule  der 
Träger  derselben  war.  Die  Idee  der  Natureinheit,  die  Vorstellung 
von  der  Wechselbeziehung  des  Makrokosmus  zum  Mikrokosmus,  die 
genetische  Forschung  —  all  dies  wurzelt  im  Paracelsismus ;  wie  die 
naturhistorische  Schule,  so  hatte  Jahrhunderte  früher  der  Reformator 
von  Einsiedeln  die  Krankheit  als  Parasiten  bezeichnet,  (in  den  „tar- 
tarischen"  Krankheiten)  eine  „natürliche"  Krankheitsgruppe  auf- 
gestellt; wie  die  späteren  Mesmeristen  und  Vertreter  der  christlich- 


122  Max  Neuburger. 

germanischen  Richtung  hatte  auch  er  dem  Magnet,  der  Mystik  und 
Theurgie  einen  weiten  Spielraum  eingeräumt.  Paracelsus  redi- 
vivus  auf  allen  Linien!  Mehr  in  dem  Umstand,  dass  in  Deutsch-' 
land  zur  Zeit  Schellings  ähnliche  psychologische  Triebkräfte,  wie  im 
Reformationszeitalter  wirksam  waren,  als  in  dem  aufstrebenden  historisch- 
medizinischen Studium,  das  die  Schriften  Hohenheims  ausnützte,  dürfte 
der  Grund  dieser  sonst  rätselhaften  und  höchst  interessanten  Palingenesie 
der  Gedanken  zu  suchen. 

Aber  nicht  allein  in  der  Theorie,  sondern  auch  in  der  Therapie 
kehrten  paracelsische  Maximen  wieder,  ohne  dass  hiebei  an  direkte 
Entlehnung  zu  denken  wäre,  und  wie  im  16.  Jahrhundert  die  „spagi- 
rische"  Medizin,  so  tauchte  in  den  ersten  Dezennien  des  19.  Jahr- 
hunderts eine  Sekte  auf,  welche  an  die  Lehre  des  Reformators  von 
Einsiedeln  in  mancher  Hinsicht  erinnert  —  die  Schule  Hahnemanns. 
Die  Vorstellung  von  der  dynamischen  Wirkung  der  Arzneien,  das 
Prinzip  der  kleinen  Dosen,  das  Dogma  Similia  similibus, 
die  Lehre  von  der  spezifischen  Wirkung  und  spezifischen 
Beziehung  der  Arzneisubstanzen  zu  bestimmten  Organen  —  all 
diese  Grundelemente  der  „Homöopathie"  finden  sich  auch  bei  Para- 
celsus mindestens  angedeutet,  und  beide  Reformatoren  stimmen  voll- 
kommen, sowohl  in  der  Verwerfung  der  alten  Medizin  mit  ihren  bloss 
palliativen  Mitteln,  in  der  masslosen  Geringschätzung  der  Anatomie 
(respektive  der  Hilfswissenschaften  überhaupt)  als  auch  in  dem 
Kardinalsatze  überein,  dass  die  Therapie  ausschliesslich  den  Gegen- 
stand der  ärztlichen  Forschung  bilden  solle.  Eine  trennende  Schranke 
zwischen  Paracelsus  und  Hahnemann  liegt  freilich  mehr  dem  Wort- 
laute als  dem  Wesen  nach  darin,  dass  ersterer  die  „Arcana"  gegen 
die  Krankheitsursache  selbst  gerichtet  dachte,  während  letzterer, 
infolge  seines  historischen  Zusammenhangs  mit  dem  Brownismus  und 
Vitalismus,  die  Krankheitsursache  an  sich  für  unerforschlich  erklärt 
und  nur  den  ,. Symptomenkomplex"  ins  Auge  fasst. 

Soweit  nicht  Charlatanerie  und  Mystizismus  in  Betracht  kommen, 
welche  die  ursprünglich  reinen  Tendenzen  trübten,  muss  dem  System 
Samuel  Chr.  Fr.  Hahnemanns  (1755 — 1843)  vom  Standpunkt  seiner 
Zeit  mancher  Vorzug  zugesprochen  werden.  Dahin  gehört  die  Be- 
kämpfung der  Hypothesenpathologie  und  der  dogmatischen  Therapie, 
die  Verwerfung  der  Krankheitsontologie,  die  Empfehlung  einer  mit 
diätetischen  Vorschriften  vereinigten  individualisierenden  und  milden 
Behandlung  (gegenüber  den  Aderlässen,  Brech-  und  Abführkuren)  und 
last  not  least  die  Anregung  zu  experimentellen  Untersuchungen  über 
die  Arzneiwirkung  im  gesunden  Menschen. 

Dieser  Kern  der  Homöopathie  schälte  sich  aber  erst  allmählich  aus 
einem  Wüste  von  Thorheit  und  Uebertreibung  heraus  und  hauptsäch- 
lich durch  die  Reformthätigkeit  solcher  Schüler  Hahnemanns,  welche 
von  den  mystischen  Verirrungen  und  Willkürlichkeiten  ihres  Meisters 
abstrahierten  und  den  Anschluss  an  die  anatomisch  -  physiologischen 
Grundsätze  der  inzwischen  weit  fortgeschrittenen  „Allöopathie"  suchten. 
Hahnemann  hat  den  Entwicklungsgang  der  Medizin  direkt  hauptsäch- 
lich dadurch  günstig  beeinflusst,  dass  er  die  Zersetzung  der  morschen 
Grundlagen  und  Hypothesen  in  den  ersten  Dezennien  beförderte;  sein 
positiver  Anteil  am  Aufbau  der  wissenschaftlichen  Medizin  ist  da- 
gegen —  so  sehr  sich  manche  seiner  Vorahnungen,  wie  z.  B.  das  iso- 
therapeutische Prinzip,  in  letzterer  Zeit  zum  Teil  bestätigt  haben  — 


Einleitung.  123 

gering  zu  schätzen,  weil  sein  Beweisverfahi-en  zu  weit  von  gewissen- 
hafter Kritik,  von  naturwissenschaftlicher  Logik  und  gründlicher 
Forschung  entfernt  war,  um  verwendet  werden  zu  können.  Die 
paracelsischen  Ideen  konnten  auch  im  Gewände  der  Homöopathie  noch 
nicht  aus  ihrer  Latenz  erwachen:  im  klaren  ausgegorenen  Weiu  der 
Wissenschaft  blieb  von  Hahnemanns  System  als  solchem,  wie  von 
einem  Ferment,  nicht  eine  Spur  zurück. 

Nach  Hahnemann,  dessen  Grundansichten,  abgesehen  von  kleineren 
Arbeiten  seit  dem  Jahre  1796,  im  Organon  der  rationellen  Heilkunde  (1810) 
veröffentlicht  sind,  beruht  das  Wesen  der  Krankheiten  in  einer  Verstimmung 
der  Lebenskraft,  die  bloss  durch  den  krankhaften  ^Symptomenkomplex" 
der  Forschung  zugänglich  wird.  Die  völlige  Behebung  desselben  kann  mit 
Ausnahme  der  lebensgefährlichen  Zufälle,  Vergiftungen  etc.  nur  durch  solche 
Arzneikörper  Zustandekommen,  welche  bei  Gesunden  möglichst  ähnliche 
Erscheinungen  hervorrufen.  Die  Heilung  erfolgt  dadurch,  dass 
die  Krankh  eitssy  mptome  durch  die  entsprechenden  Arznei - 
Symptome  überstimmt  und  ausgelöscht  werden,  worauf  die 
Lebenskraft  gegen  die  noch  allein  übrige  „Arzneikrank- 
heit" mit  erhöhter  Energie  ankämpft.  Hahnemann  will,  angeregt 
durch  eine  Stelle  in  Cullens  Schriften,  auf  dem  Weg  des  Versuchs  zu  diesem 
Kardinalsatz  gekommen  sein.  Er  beobachtete  nämlich  in  Selbstversuchen 
mit  China  Erscheinungen,  die  den  Symptomen  des  Wechselfiebers  sehr  ähn- 
lich waren  und  glaubte  daraus  schliessen  zu  dürfen,  dass  die  Wirksamkeit 
des  Malariamittels  und  auch  anderer  Medikamente  darauf  beruhe,  dass  sie 
den  betreffenden  Krankheiten  ähnliche  Symptome  hervorzurufen  vermögen. 
Zahlreiche  weitere  Experimente  und  Beobachtungen  bestärkten  ihn  in  dieser 
TJeberzeugung,  die  zuerst  im  Jahre  1797  (in  Hufelands  Journal)  bekannt 
gemacht  wurde.  „Wenn  Hahnemann**,  sagt  v.  Behring,  »nichts  weiter  ver- 
brochen hätte  als  seinen  therapeutischen  Grundsatz,  dann  brauchte  es  um 
seine  R«putation  gar  nicht  so  schlecht  zu  stehen.  Er  hätte  damit  sogar 
die  Mission  Pasteurs  im  Beginne  des  Jahrhunderts  übernehmen  können." 
Das  Prinzip,  nur  einfache  Arzneien  anzuwenden,  welches  zu  einer 
Zeit,  da  die  Therapie  an  verworrenster  Polypragmasie  laborierte,  aufgestellt 
wurde,  verdient  ebenfalls  voUe  Anerkennung;  die  weitere  Entwicklung  der 
Lehre  schweifte  aber  bald  allzuweit  von  Logik  und  Kritik  ab,  um  noch 
mit  der  nüchternen  gewissenhaften  Forschung  in  Kontakt  bleiben  zu  können 
und  verdarb  das  begonnene  Reformwerk.  Wenn  schon  Hahnemanns  und 
seiner  Schüler  pharmakologische  Versuche  durch  die  Qualität  und  Zahl  der 
beobachteten  Symptome  Bedenken  erregten  (bei  der  Sepia  1260,  bei  Lyco- 
podium  1608,  bei  Phosphor  2000),  so  musste  es  die  ganze  Lehre  in  Misskredit 
bringen,  als  ein  zweiter  Lehrsatz  in  dem  Sinne  formuliert  wurde,  dass  die 
Kräfte  der  Arzneien  durch  Verdünnung  (Verreibung  mit  Milchzucker  oder 
Lösung  in  Weingeist)  bis  ins  Decillionfache  und  durch  „ Potenz ierung^  mittels 
der  -Schüttelschläge*'  entsprechend  gesteigert  würden.  Auf  die  Verdünnungen, 
wodurch  die  Wirkung  bis  zur  „Begeistung"  gesteigert  wird,  verfiel  Hahne- 
mann erst,  nachdem  die  antänglich  in  grossen  Dosen  gereichten  ^Similia" 
allzu  oft  Verschlimmerungen  bewirkt  hatten.  Gerade  aber  dieser  ver- 
hängnisvolle Schritt,  der  den  Reformator  von  Meissen  ins  Gestrüpp  der 
Mystik  führte  und  der  ernsten  Forschung  immer  mehr  entfremdete,  wurde 
massgebend  für  die  Zahl  seiner  Anhängerschaft,  die  sich  zum  grossen  Teil 
aus  der  wundersüchtigen  und  unklar  denkenden  Laien  weit  rekrutierte,  welche 
zum  Schaden  des  ärztlichen  Standes    mit  allen  Mitteln  der  Demagogik   zum 


124  Max  Neuburger. 

Schiedsspruch  aufgerufen  wurde.  Andererseits  nützte  diese  ungeheuerliche 
Verirrung  wenigstens  im  negativen  Sinne  dadurch,  dass  sie  mehr  als  alle* 
frühere  Skepsis  die  wertvolle  Erkenntnis  verbreitete,  dass  Krankheiten  auch 
ohne  die  gewaltsamen  Eingrifie,  wie  sie  damals  üblich  waren,  in  Heilung 
enden  können.  Die  erwiesene  Unwirksamkeit  der  homöopathischen  Dosen 
au  sich,  im  Verein  mit  den  ebenso  sicher  beobachteten  günstigen  Erfolgen 
dieses  Heilverfahrens  bedeutete  geradezu  ein  experimentum  crucis  und  zeigte, 
wo  die  Forschung  zunächst  einzusetzen  habe:  im  Studium  der  natür- 
lichen Heilungs Vorgänge.  So  begegneten  sich  der  krasseste  Mysti- 
zismus und  die  radikalste  Skepsis,  welche  sich  im  weiteren  Verlaufe  im 
Lager  der  pathologisch-anatomischen  Forscher  erhob,  in  ihren  äussersten 
Konsequenzen  und  führten  zur  exspektativen  Behandlung.  Nicht  wenige 
der  exakten  Theoretiker  gesellten  sich  in  praxi  sogar  offenkundig  den 
Anhängern  Hahnemanns  zu ,  weil  sie  in  der  Ueberzeugung  von  der 
Nutzlosigkeit  aller  damaligen  therapeutischen  Encheiresen  von  allen  nach 
ihrer  Ansicht  wirkungslosen  Methoden  noch  am  liebsten  diejenige  ver- 
wendeten, welche  wenigstens  —  nicht  schädlich  war.  Der  suggestive 
Faktor,  welcher  in  den  Minimaldosen  lag,  wurde  noch  nicht  in  seiner  Be- 
deutung erkannt. 

Die  beste  Kritik  der  Homöopathie  liegt  in  ihrer  eigenen  Ge- 
schichte, in  den  gewaltigen  Umwandlungen,  welche  sie  von  der  Zeit 
ihres  Entstehens  bis  heute  durch  immer  grössere  Abweichung  von 
den  Lehrsätzen  Hahnemanns,  erleiden  musste. 

Hahnemann  selbst  blieb  sich  nicht  treu!  Er,  der  ursprüng- 
lich den  Krankheitsbegriff  rein  dynamisch  fasste  und  gänzlich  in 
Symptome  auflöste,  die  Berücksichtigung  des  Krankheitswesens  ver- 
warf, lehrte  später,  dass  in  der  Behandlung  der  epidemischen,  kon- 
tagiösen  und  namentlich  chronischen  Krankheiten  auf  die  Grund- 
ursachen Rücksicht  zu  nehmen  ist,  dass  sie,  auch  schon  in  einem 
Stadium,  wo  die  charakteristischen  Symptome  noch  gar  nicht  deutlich 
hervorgetreten  sind,  einer  Therapie  bedürfen  und  zwar  einer  solchen, 
die  ihrer  zugrundeliegenden  ,.Grundkrankheit"  entspricht  (die  chro- 
nischen Krankheiten,  1828 — 1830).  Wie  wenig  naturwissenschaftlich 
der  Stifter  der  Homöopathie  vorzugehen  verstand,  zeigt  sich  gerade 
in  der  Verfolgung  dieses  an  sich  so  richtigen  Gedankens,  denn  statt 
demselben  in  ehrlicher  Forschung  im  einzelnen  gewissenhaft  nach- 
zugehen, zog  er  es  vor,  das  Dogma  von  drei  Grundkrankheiten,  der 
„Psora,  Syphilis  und  Sykosis"  zu  statuieren  und  mit  Willkür  neun 
Zehntel  aller  chronischen  Affektionen  auf  das  „Psora-Siechtum,  jene 
älteste,  verderblichste  und  dennoch  am  meisten  verkannte  chronisch- 
miasmatische Krankheit"  zurückzuführen  (die  Spuren  dieser  Krätz- 
ätiologie  haben  sich  leider  noch  heute  in  der  Volksmedizin  erhalten). 
Zeigte  sich  der  Urheber  des  Systems  schon  so  wenig  konsequent,  so 
darf  es  nicht  wunder  nehmen,  dass  die  Anhänger  und  zwar  bereits  zu 
Lebzeiten  Hahnemanns  zahlreiche  Ummodelungen  aller  Art  vornahmen. 

Schon  Moritz  Müller,  der  mit  Wilh.  Gross  und  Ed.  Stapf  1818  ein 
„Archiv  für  die  homöopathische  Heilkunst"  gründete,  schränkte  den 
Dogmatismus  sehr  beträchtlich  ein,  L.  Schrön  und  Friedr.  Gross  er- 
klärten die  Homöopathie  nicht  für  die  allein  seligmachende,  sondern 
nur  für  eine  besondere  Methode,  welche  die  allopathische  nicht  ent- 
behrlich mache,  empfahlen  grössere  Dosen  und  verwarfen  die  Potenzier- 
theorie, G.  C.  Rau,  Trinks,  L.  Grieselich,   J.  H.  Kopp,    Fleischmann, 


Einleitung.  125 

V.  Grauvogel,  Altschul.  Kafka,  B.  Hirscliel  u.  a  bemühten  sich,  mit 
den  allgemeinen  Fortschritten  der  Medizin  Schritt  zu  halten,  schaiften 
die  starken  Verdünnungen  ab,  berücksichtigten  die  Xaturheilkraft  und 
forderten  neben  der  Beobachtung  des  Symptomenkomplexes  die  Stellung 
der  Krankheitsdiagnose  nach  den  Eegeln  der  exakten  Wissenschaft. 
So  fiel  allmählich  Zweig  auf  Zweig!  Von  den  Dogmen  Hahnemanns 
blieb  in  der  neuen  Schule,  welche  sogar  ganz  im  Gegensatz  zur  ur- 
sprünglichen Lehre  die  Lokalbehandlung  pflegte,  höchstens  der  Glaube 
an  die  Spezifität  gehörig  kleiner  Dosen  und  das  Schibboleth,  Similia 
similibus,  übrig. 

Neben  dieser  rationellen  Hauptrichtung  entwickelte  sich,  in 
merkwürdiger  Vorahnung  der  Serumtherapie  und  Organtherapie,  aus 
dem  Halmemannismus  durch  radikale  Ausgestaltung  des  Aehnlichkeits- 
prinzips  die  ebenfalls  schon  bei  Paracelsus  angedeutete  Isopathie. 
nach  deren  Grundsatz  ..aequalia  aequalibus"  z.  B.  Krätze  durch  inner- 
liche Darreichung  von  potenziertem  Krätzstoff  (Psorin),  die  Blattern 
durch  Variolin,  Bandwurm  durch  Taeniin,  Caries  der  Zähne  durch 
Odontonekrosin,  Schwindsucht  durch  Phtisin  (Auswurf  von  Brust- 
krankheiten), Milzbrand  durch  Milzbrandgift  u.  s.  v>\  oder  Leber-, 
Lungen-,  Hirnkrankheiten  durch  Hepatin,  Pulmonin,  Hirnsubstanz 
kuriert  werden  sollten.  Hermann  Gross,  der  Leipziger  Tierarzt  Lux, 
C.  Hering  in  ISew^  York  u.  a.  waren  es,  die  diese  heute  wieder  auf- 
genommene Idee  bis  ins  einzelne  ausführten,  ohne  allerdings  bei  den 
Zeitgenossen  viel  Anklang  zu  finden. 

Die  weitere  Entwicklung  der  Homöopathie,  welche  sich  gerade 
infolge  der  vehementen  Angriffe  von  Seite  der  Schulmedizin  von  Deutsch- 
land aus  besonders  nach  Oesterreich-Ungarn.  Frankreich,  England 
und  Amerika  verbreitete  und  nicht  wenige  Pflegestätten  an  Hoch- 
schulen und  Spitälern  fand,  fallt  nicht  mehr  in  den  Kahmen  unserer 
Darstellung,  ebenso  versagen  wdr  es  uns,  die  schwändelhaften  Aus- 
wüchse späterer  Zeit  zu  kennzeichnen,  welche,  wie  z.  B.  die  Elektro- 
homöopathie,  eher  einen  Platz  in  der  Geschichte  des  Wahns,  als  in 
der  Geschichte  der  Wissenschaft  einnehmen.  Wir  heben  nur  die  That- 
sache  hervor,  dass  ..wohl  nicht  leicht  eine  Doktrin  der  Charlatanerie, 
der  Selbsttäuschung  und  dem  Betrüge  so  sehr  Thür  und  Thor  geöffnet 
hat,  als  eben  die  Homöopathie". 

Mit  noch  grösserer  Schärfe  der  Konturen  als  in  Hahnemanns 
System,  ja  mit  greifbarer  Deutlichkeit  des  Zusammenhangs,  gelangten 
Paracelsische  Fundamentalgedanken  in  einer  anderen  Schule  zur 
Wiedererweckung,  welche  zwar  für  den  Lauf  der  medizinischen  Ent- 
wicklung nur  episodische  Bedeutung  besitzt,  aber  als  letzter  Spross 
des  Bündnisses  zwischen  Empirie  und  phantastischer  Spekulation  das 
historische  Interesse  gefangen  nimmt.  Es  war  dies  die  Schule  Joh.  Gott- 
fried Rademachers  (1772— 1850),  eines  ausgezeichneten  rheinischen 
Praktikers,  der  die  Loslösung  der  deutschen  Medizin  von  der  falschen 
Rationalität  des  Brownianismus  und  der  Naturphilosophie  für  nötig 
erkannte,  aber  die  Reform  in  ganz  eigener  Art,  ohne  Rücksicht  auf 
die  Methoden  der  Naturwissenschaft  zu  vollziehen  versuchte.  Mag  der 
,,Alte  von  Goch"  ganz  selbständig  zu  seinen  formell  und  inhaltlich 
archaistisch  anmutenden  Lehrsätzen  gekommen  sein,  das  Eine  kann 
nicht  geleugnet  werden,  dass  in  seiner  „verstandesrechten  Er- 
fahr ungshei  11  ehre"  (1843)  die  Paracelsische  Doktrin  von  den 
spezifischen  Arkanen,  die  Paracelsische  Krankheitsdiagnose  und  Krank- 


126  Max  Neubur{>er. 

lieitsbeiiennung'  nach  den  wirksamen  Heilmitteln  im  Verein  mit  Syden- 
liams  Theorie  des  genius  epidemicus  den  Hauptinhalt  bilden. 

Wie  Paracelsus  und  Hahnemann  baut  auch  Rademacher  die  ganze 
Medizin  auf  die  Arzneilehre  und  erklärt  die  Therapie^  nicht  die  Erkenntnis 
der  pathologischen  Vorgänge,  für  das  ausschliessliche  Ziel  des  ärztlichen 
Denkens,  woraus  sich  folgerichtig  gänzliche  Verwerfung  aller  eigentlich 
wissenschaftlichen  Bestrebungen  in  der  Pathologie  und  Diagnostik  ergiebt. 
Unterscheidet  sich  Rademacher  von  Paracelsus  durch  die  Verkennung  der 
Naturheilkraft,  so  erinnert  er  an  Hohenheim  wieder  dadurch,  dass  er  nicht 
am  Symptomenkomplex  haften  bleibt,  sondern  auf  Grund  der  Arzneiwirkung 
Krankheiten  als  solche  diagnostiziert. 

Die  Einteilung  derselben  macht  an  das  inzwischen  aufkommende 
Lokalisationsbestreben  ein  bemerkenswertes  Zugeständnis,  insofern  vor  allem 
zweierlei  Grundformen,  TJniversalkrankheiten  und  Organkrankheiten  (Lungen-, 
Leber-,  Milz-,  Pankreaskrankheiten  etc.)  postuliert  werden.  Der  Einteilungs- 
grund entstammt  aber  nur  der  therapeutischen  Erfahrung.  Einerseits  gäbe 
es  nämlich  zahlreiche  Mittel,  welche  eine  spezifische  Beziehung  zu  be- 
stimmten Organen  zeigen  —  ihnen  entsprechen  ebenso  zahlreiche  „Organ- 
krankheiten", andererseits  existieren  drei  schon  den  „alten  Geheimärzten" 
bekannte  Substanzen  (nämlich  Eisen,  Kuj)fer  und  Salpeter),  welche  nicht 
alle,  aber  doch  sehr  viele  Krankheiten  heilen,  demnach  auf  etwas  Allge- 
meines (nicht  das  Blut!),  auf  den  Gesamtorganismus  wirken  müssten  — 
ihnen  entsprechen  drei  Universalkrankheiten,  Sowohl  die  Univeral-  als  die 
Organkrankheiten  können  auch  konsensuell,  durch  Mitleidenschaft  hervor- 
gerufen sein,  in  welchem  Falle  sie  natürlich  nur  durch  Behebung  der  Ur- 
erkrankung  schwinden. 

Die  einzelne  Aifektion  erkennt  der  ,. Erfahrungsarzt"  nicht  durch 
anatomisch-physikalisch-chemische  Diagnostik,  sondern  bloss  ex  juvan- 
tibus,  aus  dem  therapeutischen  Erfolg,  und  dementsprechend  benennt 
er  die  Krankheit  nach  dem  wirksamen  Heilmittel.  Beispielsweise 
giebt  es  in  der  Leber  eine  Terpentin-,  eine  Quassia-,  eine  Schellkraut-, 
eine  Frauendistel-,  eine  Brechnusskrankheit,  je  nachdem  die  eine  oder 
andere  Arznei  nutzt.  Im  Laufe  der  Erfahrung  werde  der  Arzt,  der 
anfangs  auf  blosses  Herumprobieren  angewiesen  ist,  hinreichend  listig, 
um  den  Krankheitssitz  zu  erraten,  ausserdem  kommt  ihm  noch  die 
Thatsache  zugute,  dass  eine  herrschende  Krankheit  sich  gewöhnlich 
längere  Zeit  gleichbleibt,  also  einen  „morbus  stationarius"  darstellt. 
Sobald  aber  dieser  morbus  stationarius,  die  herrschende  Grundkrank- 
heit, ihr  Wesen  ändere,  so  verrate  sich  dies  durch  die  Unwirksamkeit 
der  bisher  erfolgreichen  Mittel.  Beispielsweise  wird  dann  ein  Mittel, 
das  sich  längere  Zeit  als  Lebermittel  bewährt  hat,  fehlschlagen  und 
es  gilt  dann,  durch  erneutes  Probieren  ein  wirksames  ausfindig  zu 
machen. 

So  langt  Rademacher,  der  vom  äussersten  Skeptizismus  ausge- 
gangen ist,  ähnlich  wie  Rasori  bei  einer  rohen  Empirie  an,  welche 
vergeblich  dem  circulus  vitiosus  des  Herumprobierens,  dem  blind- 
gläubigen post  hoc  propter  hoc  zu  entrinnen  trachtet.  Ohne  die 
kritische  Instanz  der  Naturheilkraft  zu  beachten,  ohne  sich  um  irgend 
welche  Prüfung  der  Arzneien,  wie  sie  besonders  Hahnemann  anregte, 
zu  bekümmern,  ohne  andere  Grundlagen  für  die  Diagnostik  als  den 
individuellen  Takt  zu  besitzen,  benahm  er  selbst  die  Möglichkeit  einer 
wissenschaftlichen  Begründung  und  setzte  theoretisch  an  Stelle  des 


Eiiileitung.  127 

spekulativen  Eationalisnius  einen  Mystizismus,  der  bezüglich  des  Arznei- 
glaubens und  der  Doktrin  von  den  drei  Universalkrankheiten  nicht 
geringe  Anforderungen  an  die  Leichtgläubigkeit  stellt. 

Darum  konnten  die  unzweifelhaft  wahren  Kernideen,  die  in  Rade- 
machers Lehre  liegen,  nicht  weiter  entwickelt  werden,  wenn  auch 
rühmend  anzuerkennen  ist.  dass  manche  derselben  in  der  Wissenschaft 
seiner  Zeit  und  noch  mehr  in  unseren  Tagen  eine  glänzende  Recht- 
fertigung gefunden  haben.  Dahin  gehört  die  Unterscheidung  von 
Organkrankheiten  und  Allgemeinerkrankungen  —  der 
anatomische  Gedanke ;  die  Organtherapie  mit  der  richtigen  Vor- 
aussetzung der  spezifischen  Beziehung  zwischen  Arznei- 
stoffen und  Organen  —  ein  Grundprinzip,  das  in  der  Lokal- 
therapie der  ..exakten"  Medizin  und  ihrer  Pharmakodynamik  mit 
gewissen  Modifikationen  später  vollkommen  zur  Anerkennung  gelangt 
ist;  endlich  die  Idee  einer  ..ätiologischen  Therapie"  (ein  Aus- 
druck, den  die  Rademacherschule  gebrauchte),  im  Hinblick  darauf, 
dass  symptomatisch  identische  Krankheitsformen  im  Wesen,  je  nach 
der  Grundkrankheit,  verschieden  sein  können  und  daher  einer  ver- 
schiedenen Behandlung  bedürfen. 

Im  gleichen  Augenblicke  aber,  wo  wir  von  der  Zinne  der  gegen- 
wärtigen Wissenshöhe  den  Scharfblick  des  ..Alten  von  Goch"  be- 
wundernd anerkennen,  offenbart  sich  auch  so  ganz,  woran  es  lag, 
dass  trotz  glücklicher  Vorahnung  der  Leitmotive  der  Medizin 
des  19.  Jahrhunderts,  Rademachers  Lehre  nur  in  sehr  geringem 
Ausmass  den  Fortschritt  bestimmt  hat.  Es  fehlte,  abgesehen  von  der 
mangelnden  Kritik,  von  dem  Hinneigen  zum  Mystizismus  das  Mittel- 
glied der  exakten  Diagnose,  der  naturwissenschaftlichen  Methode, 
der  therapeutischen  Technik,  um  die  an  und  für  sich  richtigen  Grund- 
sätze zu  erweisen  und  eine  vom  Zufall  unabhängige  Therapie  darauf 
zu  bauen.  Der  Hauptdienst,  welchen  Rademacher  seiner  Zeit  leistete, 
bestand  darin,  dass  er  die  Praktiker  auf  das  unveräusserliche 
Recht  hinwies,  das  Banner  der  therapeutischen  Empii-ie  auch  dann 
hochzuhalten,  wenn  die  Theorie  vorübergehend  im  Stiche  lässt.  Aus 
diesem  Grunde  fand  seine  Lehre,  gerade  zur  Zeit,  da  die  pathologische 
Anatomie  die  Kluft  zwischen  Wissen  und  Können  erweiternd,  eine 
Perspektive  der  therapeutischen  Trostlosigkeit  eröffnet  hatte  und  der 
therapeutische  Nihilismus  indirekt  durch  die  Heilerfolge  der  Homöo- 
pathen genährt  wurde,  nicht  nur  bei  deutschen,  sondern  auch  bei 
französischen  Aerzten  (vermittelt  durch  J.  S.  Otterbourg)  warme 
Anhängerschaft,  schon  wegen  der  Fülle  von  Heilmitteln,  welche  sein 
Buch  enthielt. 

Da  die  „Erfahrungsheillehre"  mit  der  Homöopathie  in  der  An- 
nahme von  der  Spezifizität  der  Heilmittel  übereinstimmte,  so  konnten 
sich  späterhin  die  „rationellen"  Homöopathen  mit  jenen  Anhängern 
Rademachers,  welche  zu  Konzessionen  bereit  waren,  zu  einer  neuen 
Schule  vereinigen,  zur  Schule  der  „Spezifiker".  Diese  nahmen  aus 
beiden  Systemen  wichtige  Lehrsätze  auf,  verwarfen  aber  sowohl  die 
Minimaldosen  und  Symptomdiagnosen  Hahnemanns  als  die  mystischen 
Universalmittel  Rademachers  und  erhoben  den  Satz  von  der  spezi- 
fischen Beziehung  gewisser  Heilmittel  zu  bestimmten 
Körper bestandtheilen  —  ein  Prinzip,  dem  kein  Geringerer  als 
Virchow  weise  Anerkennung  zollte  —  zum  Grundprinzip  ihrer  theo- 
retischen Anschauung  und  praktischen   Thätigkeit.    Diese  Richtung 


128  Max  Nen burger. 

fand  eine  kurze  Zeit  hindurch  sogar  akademische  Vertretung,  nament- 
lich durch  den  Tübinger  Universitätslehrer  Georg  Kapp  (1818—1886). 

Wiewohl  alle  diese  Bestrebungen  den  Ausdruck  der  Reaktion  gegen 
die  spekulativen  Verirrungen  des  Brownianismus,  der  Erregungstheorie, 
der  Naturphilosophie  und  ihrer  Tochtersysteme  darstellen,  wiewohl 
durch  ihren  mystisch  anmuthenden  Mantel  die  Forderung  nach  einer 
gesunden  Empirie  hindurchschimmert, —  die  längst  als  noth wendig 
erkannte,  ersehnte  Reform  der  Medizin  konnte  von  ihnen  nicht  aus- 
gehen; denn  es  fehlte  ihren  Urhebern  der  Klarblick  für  die  That- 
sache,  dass  nicht  der  Verzicht  auf  rationelle  wissenschaftliche  Be- 
gründung der  ärztlichen  Kunst,  sondern  einzig  allein  die  Schöpfung 
eines  neuen  Begriffs  der  Wissenschaftlichkeit,  die  Heranziehung  einer 
einwandsfreien  Methode  den  Gesundungsprozess  einzuleiten 
vermöge.  Und  an  dieser  gebrach  es  ihnen,  ebenso  wie  ihren 
Gegnern!  Aus  demselben  Grunde,  aus  dem  die  an  sich  löbliche  Ab- 
sicht der  Naturphilosophen,  Medizin  mit  der  Naturwissenschaft  in 
Einklang  zu  setzen,  im  Sande  verlief,  war  auch  die  Idee  Hahnemanns 
und  Rademachers,  die  Medizin  bloss  auf  „ICrfahrung"  zu  gründen, 
totgeboren;  denn  diese  Art  der  unkritischen  Erfahrung,  welche  kein 
anderes  Mass  als  subjektive  Ueberzeugung  besass,  schloss  eine 
immense  Fehlerquelle  in  sich  und  ihre  Konsequenzen  gaben  an 
Willkürlichkeit  den  Folgerungen  der  HyperSpekulation  nur  wenig 
nach.  Weder  die  Extravaganzen  der  Theoretiker,  noch  die  Grund- 
prinzipien der  Empiriker  waren  geeignet,  die  alte  .Pilatusfrage 
zu  lösen. 

Auch  die-  dritte  Hauptgruppe,  welche  scheinbar  über,  in  der  That 
aber  nur  zwischen  den  Parteien  stand  —  die  Eklektiker  — ,  ver- 
mochten keinen  wahren  Fortschritt  anzubahnen.  Manche  der  deutschen 
Aerzte,  welche  dem  farblosen  Banner  des  Eklektizismus  folgten,  haben 
in  Einzelheiten  die  Medizin  zwar  bedeutend  gefördert,  die  prak- 
tischen Ziele  ins  Gesichtsfeld  gerückt  und  zur  Klärung  der  theore- 
tischen Begriffe  beigetragen;  die  Namen  des  populären  E.  L.  Heim 
(1747 — 1834).  der  Berliner  Professoren  Joh.  Ludw.  Formey  (1766  bis 
1823),  Karl  Aug.  W.  Berends  (1759—1826),  Aug.  Friedr.  Hecker 
und  Ernst  Hörn  (1772 — 1848),  des  Tübinger  Klinikers  Joh.  Heinr. 
Ferd.  Autenrieth  (1772—1835),  der  beiden  Leibärzte  Friedr.  Ludw. 
Kreysig  (1770—1839)  und  Joh.  Stieglitz  (1767-1840),  der  wahrhaft 
philosophischen  Wiener  Aerzte  Ph.  K.  Hartmann  und  Ernst  von 
Feuchtersieben  (1806 — 1849)  bewahrt  die  Geschichte  in  dankbarem 
Andenken;  die  grosse  Masse  der  deutschen  Aerzte,  welche  den 
Nachtrab  bildete,  verstand  aber  unter  Eklektizismus  eine  prinzipien- 
lose Konzilianz,  die  sich  theoretisch  durch  hohles  Phrasengeklingel, 
praktisch  durch  unkritische  Handhabung  einer  meist  heroischen 
Therapie  kundgab.  Der  Sinn  für  Thatsachen,  für  die  einfachen 
Fragen  des  Thatbestandes  fehlte  den  meisten.  Benebelt  von  den 
Begriffsschemen  einer  neuen  Form  ödester  Scholastik,  von  der  Schule 
her  gewöhnt,  sich  mit  den  unverdauten  Phrasen  eines  gelehrt 
schillernden  Gallimathias  fortzuhelfen,  suchten  sie,  ohne  die  Fort- 
schritte des  Auslandes  zu  würdigen,  sublime  Probleme,  wo  es  in 
Wirklichkeit  keine  gab,  und  ahnten  kaum,  dass  sie  in  einem 
Labyrinth  planlos  herumirrten.  Am  traurigsten  enthüllte  sich  der 
ganze  Jammer  im  furchtbaren  Mene  Tekel  der  Choleraepidemie, 
und  nirgends  tritt  die  Zerfahrenheit  der  Medizin  mehr  zu  Tage  als  in 


Einleitung.  129 

der  ebenso  hochtrabenden  und  theorieschwangeren,  wie  inhaltsleeren 
Litteratur,  welche  die  Verbreitung  dieser  Seuche  gezeitigt  hat. 
Nicht  zum  wenigsten  unter  ihrem  Eindruck  stehend,  mag  ein  so 
denkender  Praktiker,  wie  Stieglitz  (1840),  die  weisen  Worte  gesprochen 
haben:  „Die  deutsche  Medizin  ist  so  gesunken  und  erschlaift,  dass  ihr 
jede  Aufrüttung  heilsam  sein  muss,  alles,  was  sie  in  neue  Bahnen 
versetzt,  selbst  wenn  diese  reich  an  Irrtümern  und  Verkehrtheiten 
sein  sollten." 

Zur  Zeit,  da  der  alte  Praktiker  diese  Worte  schrieb,  war  die 
Wendung  näher,  als  er  ahnte,  aber  nur  die  wenigsten  erkannten,  wo 
die  Zukunft  anknüpfte.  Die  zerstreuten  Lichtpunkte,  welche  hie  und 
da  schon  grell  auffunkelten,  entgingen  zumeist  den  Blicken  einer 
Generation,  welche  im  Taumel  der  Naturphilosophie  Sinn  und  Ver- 
ständnis für  das  Reale  fast  gänzlich  eingebüsst  hatte.  Träger  des 
Fortschritts  konnte  nur  die  vom  Gifthauch  der  Spekulation  noch  nicht 
verderbte  Jugend  werden;  erst  mit  ihr,  mit  einer  neuen  frisch  em- 
pfänglichen Generation  kommen  die  Ideen  und  Methoden  zum  Durch- 
bruch, welche  der  unvergängliche  Physiologe  Johannes  Müller,  die 
Ivliniker  Chr.  Friedr.  Nasse,  Peter  Krukenberg,  allen  voran  aber 
Schönlein  als  Forscher  und  Lehrer  inmitten  verblendeter  Zeitgenossen 
voll  zähen  Mutes  verfochten.  Wie  wenig  die  ergrauten  Männer  der 
Theorie  und  Praxis  imstande  waren,  den  Wert  und  die  Bedeutung 
der  nüchternen  Beobachtung,  der  hypothesenfreien  exakten  Forschung 
zu  erkennen,  ja  nur  zu  beurteilen,  davon  liefert  die  Thatsache  den 
überzeugendsten  Beweis,  dass  die  seit  dem  Jahre  1836  erscheinenden 
Abhandlungen  eines  Rokitansky  kaum  beachtet  wurden,  dass  Skodas 
Meisterwerk  zur  Zeit  seines  Erscheinens  (1839)  fast  nur  eisigem 
Schweigen  begegnete.    Dieses  Schweigen  spricht  Bände! 

Erst  im  fünften  Dezennium  des  19.  Jahrhunderts  tritt  die  deutsche 
Medizin  in  eine  neue  Phase ;  Bresche  auf  Bresche  wird  in  die  Ver- 
schanzung der  dogmatischen  Pathologie  geschlagen,  die  morschen 
Stützen  der  Systeme  zersplittern,  auf  dem  Trümmerfeld  einer  ab- 
strusen Praktik  pflanzt  sich  das  Panier  der  exakten  Wissenschaft 
auf.  Was  Dezennien  versäumten,  wird  in  der  kurzen  Spanne  von 
Jahren  eingeholt,  auf  den  verschiedensten  Gebieten  entwickelt 
sich  das  Spiel  entfesselter  Kräfte,  geteilt  in  der  Arbeit,  geeint  in  der 
Methode,  symphonisch  zusammenklingend  in  echt  naturwissenschaft- 
lichem Streben! 

Und  diesmal,  in  einer  Kulturströmung  weittragendster  Art,  in  der 
Annexion  und  Verarbeitung  französischer  Ideen,  wurde  die  Medizin 
vom  herrschenden  Grundton  nicht  später  als  andere  Teilgebiete  des 
deutschen  Kulturlebens  ergriffen.  Derselbe  reale  Zug,  welcher  das 
politisch-soziale,  das  philosophische  Denken,  das  künstlerische  Schaffen 
dieser  Zeit  erfüllt  und  die  Gedanken  verwirklicht,  welche  die  Juli- 
revolution über  Europa  verweht  hatte,  prägt  auch  der  Heilwissen- 
scliaft  den  charakteristischen  Stempel  auf.  Und  wie  der  Parlamen- 
tarismus und  die  Publizistik,  wie  die  schöne  Litteratur,  wie  die 
positivistische,  später  materialistische  Philosophie  den  französischen 
]\[ustern  nicht  blindlings  folgen,  sondern  das  Ueberkommene  durch 
Neuschöpfung  sehr  bald  erweitern  oder  vertiefen,  so  entlehnt  auch 
die  deutsche  Medizin  der  französischen  den  Grundriss  und  Plan, 
den  Aufbau  leitet  sie  aber  nach  eigenem  Ermessen,  unbeirrt  durch 
ein  zwingendes  Vorbild. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.     Bd.  IL  9 


130  Max  Neubur^er. 

Soweit  auch  die  französisclie  Medizin  der  ersten  vier  Dezennien 
des  19.  Jahrhunderts  voraneilte,  im  Grunde  bildet  sie  nur  die  un- 
vollkommene Ausführung  der  Ideen,  die  Fortsetzung  der  immensen 
Geistesarbeit  eines  einzigen  Genius,  des  grossen  Bichat  (1771 — 
1802),  der  mit  napoleonischer  Zielsicherheit  und  Schnelligkeit  den 
Weg  vorzeichnete,  den  die  wissenschaftliche  Medizin  einzuschlagen 
hatte.  Und  so  radikal  die  Vertreter  der  französischen  Medizin  den 
Bruch  mit  den  historischen  Traditionen  vollzogen  oder  wenigstens 
ostentativ  betonten,  durch  Bichat,  den  Forscher,  der  in  seiner  Denk- 
weise die  medizinischen  Grundideen  des  18.  mit  den  Leitmotiven  des 
19.  Jahrhunderts  harmonisch  vereinigt,  hängt  auch  diese  Phase  der 
wissenschaftlichen  Entwicklung  aufs  engste  mit  der  Vergangenheit 
zusammen.  AVollen  wir  das  Verbindungsglied  in  der  historischen 
Kette  aufsuchen,  so  genügt  es  daran  zu  erinnern,  dass  die  französische 
Medizin  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  besonders  durch 
den  Vitalismus  der  Schule  von  Montpellier  und  durch  die  anatomisch- 
physiologisch durchgeistigte  Technik  der  Pariser  Chirurgen  charak- 
terisiert ist.  Nach  Abzug  des  Vergänglichen  verbleiben  vom  metho- 
dologischen Standpunkt  als  Ergebnisse  von  dauerndem  Wert:  die 
von  den  Vitalisten  gepflegte  physiologische  Analyse  der 
klinischen  Phänomene  und  der  von  den  Chirurgen  praktisch 
ausgenützte  anatomische  Gedanke.  Die  Vertiefung  und  darauf 
folgende  Verknüpfung  beider  zu  einer  höheren  P^inheit  bildet  den 
Ausgangspunkt  Bichats  und  der  von  ihm  in  augurierten  Schule. 

Dieses  innere  treibende  Moment  findet  seinen  sinnlichen  Ausdruck 
in  den  Lebensumständen,  im  Studiengang  Bichats,  der  seine  Laufbahn 
in  Montpellier  begann  und  später  in  Paris  unter  Leitung  des  be- 
rühmten Chirurgen  Desault  und  des  vitalistischen  Physiologen  Chaus- 
sier  fortsetzte.  Wie  er  aus  beiden  Quellen  zu  schöpfen  wusste,  geht 
deutlich  aus  seinen  Werken  hervor;  welch  grosses  Verdienst  ihm 
aber  durch  die  geistvolle  Verbindung  der  analytischen  phäno- 
menologischen Anschauungsweise  mit  der  anatomisch- 
lokalisierenden Forschung  zukommt,  zeigt  sich  am  deutlichsten, 
wenn  man  Bichat  mit  seinem  berühmten  Zeitgenossen  Pinel  vergleicht, 
der  mit  ihm  den  Ausgangspunkt  teilt,  aber  auf  halbem  Wege  stehen 
geblieben  ist. 

Was  Borden  und  Barthez  bereits  angeregt  hatten,  die  Medizin 
naturwissenschaftlich  zu  treiben,  d.  li.  im  Sinne  Condillacs  die 
physiologischen  und  pathologischen  Erscheinungen  in  die  Grund- 
elemente aufzulösen  und  dem  Kausalnexus  derselben  nachzuspüren, 
dieses  Programm  führte  Philippe  Pinel  (1755 — 1826)  in  seinem 
fundamentalen  Werke:  Nosographie  philosophique,  ou  la  raethode  de 
l'analyse  appliquee  ä  la  medecine  (1789)  im  Umriss,  in  seiner  Mede- 
cine  clinique  (1802)  bis  in  alle  Einzelheiten  aus.  Trotzdem  er  aber 
bei  der  Bearbeitung  der  speziellen  Pathologie  die  alten  Krankheits- 
ontologien  teilweise  bekämpft  und  den  Satz  aufstellt,  dass  Organe,  die 
im  gesunden  und  kranken  Zustande  analoge  Erscheinungen  darbieten, 
auch  im  Bau  der  Elementarorgane  übereinstimmen  müssen, 
trotzdem  er  auf  dem  Wege  der  Konklusion  sogar  zum  Lokali- 
sationsprinzip  gelangt,  haftet  Pinel  zumeist  nur  an  der  sym-  t 
ptomatischen  Analyse  der  Krankheitsprozesse  und  bleibt  den  anato-  f 
misch-physiologischen  Nachweis  schuldig. 


Einleitung.  131 

Diese  Halbheit  zeigt  sich  am  besten  in  der  Art,  wie  Pinel  die  „Fieber- 
formen" einteilt.  Er  unterscheidet:  1.  F.  angioteniques  (entzündliches 
Fieber),  2.  F.  meningo  -  gastriques  (Gallenfieber),  3.  F.  adeno  -  meningees 
(Schleimfieber),  4.  F.  adynamiques  (Faulfieber),  5.  F.  ataxiques  (bösartige 
Fieber),  6.  F.  adeno-nerveuses  (Pest).  Der  anatomische  Einteilungsgrund  wird 
bei  Pinel  nur  in  der  Differenzierung  der  Entzündungen  festgehalten,  welche 
er,  ohne  auch  hier  in  eine  nähere  Untersuchung  der  elementaren  Vorgänge 
einzugehen,  in  solche  der  Schleimhäute,  der  „diaphanen"  (serösen)  Häute, 
des  Zellgewebes,  des  Parenchyms,  der  Muskeln  und  der  Haut  zerfallen 
lässt. 

Die  grosse  Lücke  konnte  Bichat  niclit  entgehen,  weil  er  in  der 
chirurgischen  Praxis  anatomisch  denken,  nach  Fakten  suchen  gelernt 
hatte.  Er  nahm  daher  den  Gedankengang  Pinels  nicht  bloss  auf, 
sondern  begann  auf  dem  Wege  der  Beobachtung  und  des  Ex- 
periments, nach  dem  Muster  der  exakten  Naturforschung,  Schritt 
für  Schritt  zu  untersuchen,  wo  der  Krankheitssitz  ist,  welche 
anatomischen  Erscheinungen,  welche  biologisch-physi- 
kalischen Eigenschaften,  welche  funktionellen  Zu- 
sammenhänge die  charakteristischen  Krankheitssym- 
tome  im  einzelnen  bedingen. 

Der  Schwerpunkt  lag  vor  allem  in  der  anatomisch-bio- 
logischen Erforschung  der  Gewerbseigenschaften. 
Höher  aber  als  das  Verdienst,  die  normale  und  pathologische 
Histologie  als  neue  Hilfswissenschaft  begründet  zu  haben 
(Traite  des  membranes,  1800),  war  der  Dienst,  den  Bichat  der 
medizinischen  Erkenntnis  dadurch  leistete,  dass  er  die  Bedeu- 
tung dieser  Hilfswissenschaften  für  die  Krankheitslehre  nach- 
wies. „Was  ist  Beobachtung",  ruft  er  aus,  wenn  man  nicht  weiss, 
wo  das  Uebel  sitzt.  Freilich  hatte  schon  Morgagni  auf  die  sedes 
morbi  hingewiesen,  Bichat  aber  verfeinerte  die  Beobachtung  unschätz- 
bar bis  ins  Detail,  indem  er  zeigte,  dass  die  Organe  nicht  als  unteil- 
bares Ganzes  zu  betrachten  sind,  sondern  aus  mehreren  Geweben 
bestehen,  von  denen  jedes  für  sich  erkranken  kann,  dass  die  Ge- 
webe den  eigent  liehen  Krankheitssitz  darstellen,  wes- 
halb es  für  die  anatomische  Form  der  Erkrankung  weniger  ent- 
scheidend wäre,  ob  das  Organ  im  Kopfe,  in  der  Brust  oder  im  Bauche 
liege,  als  vielmehr,  ob  eine  seröse,  fibröse,  muköse  Haut  etc.  affi- 
ziert  ist: 

Ein  Denker  wie  Bichat  blieb  aber  nicht  einfach  beim  ana- 
tomischen Standpunkt  der  Pathologie  stehen,  er  ergänzte  ihn 
durch  die  phänomenologische  Anschauungsweise,  durch  das  Studium 
der  normalen  und  pathologischen  Verhältnisse  der  Gewebseigen- 
schaften  und  Organfunktionen  —  Physiologie,  allgemeine 
Biologie.  Auch  hier  besteht  die  Bedeutung  Bichats  nicht  nur  darin, 
dass  er  mittels  des  Tierexperiments  (Recherches  physiologiques  sur 
la  vie  et  la  mort,  1800),  mittels  chemisch-physikalischer  Untersuchung 
der  Gewebseigenschaften  (Anatomie  generale,  1801)  die  von  Haller 
inaugurierte  experimentelle  Physiologie  erweiterte,  die  von 
Hunter  angeregte  experimentelle  Pathologie  fortführte,  sondern 
darin,  dass  er  diese  Hilfswissenschaften  aus  ihrer  Isolierung  löste  und 
neben  der  Histologie  und  pathologischen  Anatomie  zur  Grundlage  der 
Krankheitslehre  erhob. 

9* 


132  Max  Neuburger. 

VoUbewusst  seiner  Ziele,  völlig  im  Klaren  über  die  Konsequenzen 
seines  Schaffens,  sprach  Bichat  die  Hoffnung  aus,  dass  es  auf  dem 
Wege  der  Beobachtung,  der  Analyse,  des  Experiments  und  der  daran 
angeschlossenen  Reflexion  gelingen  werde,  die  Pathologie  in  eine 
Naturwissenschaft  zu  verwandeln.  Die  Phänomenologie,  die  Kenntnis 
der  Erscheinungen  und  die  Untersuchung  der  Verhältnisse  derselben 
untereinander  gilt  ihm  als  der  Weg,  auf  dem  die  Medizin  auf  die 
exakte  Stufe  der  übrigen  Naturwissenschaften  erhoben  werden  kann. 
„Wenn  mein  Buch",  sagt  Bichat  in  der  Vorrede  zu  seiner  Allgemeinen 
Anatomie",  „ein  ähnliches  Axiom  für  die  physiologischen  Wissen- 
schaften festsetzt,  wie  es  in  den  physikalischen  und  chemischen  zum 
Ueberdruss  anerkannt  ist,  so  wird  es  seinen  Zweck  erfüllen."  Ein 
Forscher,  selbst  ein  solcher  Riesengeist  wie  Bichat,  konnte  dieses 
Programm,  worin  der  Folgezeit  die  Aufgabe  vorgezeichnet  war,  nur 
in  sehr  beschränktem  Masse  ausführen,  keiner  aber  der  Nachfolger 
verstand  es  in  einer  so  kargen  Lebenszeit  eine  so  gewaltige  Arbeits- 
last auf  seine  Schultern  zu  laden,  so  vieles  Bedeutende  schon  selbst 
zu  vollführen  und  der  Zukunft  nur  die  Eolle  zuzuteilen,  das  Stück- 
werk zu  ergänzen,  zu  verbessern,  zu  erweitern.  Wie  sehr  er  sogar 
darauf  bedacht  war,  die  praktische  Medizin  zu  fördern  und  auf  reale 
Grundlagen  zu  stellen,  beweist  der  Umstand,  dass  er  als  Arzt  am 
Hotel  Dieu  neben  der  Pflege  des  von  ihm  hochgehaltenen  Hippo- 
kratismus  daran  ging,  die  Materia  medica  einer  experimentellen 
Prüfung  zu  unterwerfen,  um  auch  hier  das  Banner,  der  exakten 
Forschung  zu  entrollen.  Da  Bichats  Name  in  der  Geschichte  der 
meisten  Spezialzweige  wiederkehrt,  können  wir  hier  verzichten,  im 
einzelnen  ein  Bild  seiner  Thätigkeit  zu  entrollen.  Die  Zeit  hat  den 
Kommentar  zu  seinen  Werken  geschrieben,  nach  seinen  Grundsätzen 
vollzog  sich  die  Entwicklung  der  modernen  Medizin,  er  war  der  erste, 
welcher  den  von  uns  einleitend  formulierten  grossen  Endzweck 
aller  wissenschaftlichen  Bestrebungen  in  Sehweite  rückte,  das  ideale 
Endziel,  an  Stelle  der  Kunst  eine  festgefügte  Wissenschaft  zu  schaffen, 
welche  die  Kluft  zwischen  Theorie  und  Praxis  nicht  mit  spekulativen 
Hypothesen  und  empirischen  Regeln,  sondern  mit  Naturgesetzen  über- 
brückt. Dankt  die  medizinische  Kunst  Hippokrates  die 
besten  Leitsätze,  dankt  die  medizinische  Wissenschaft 
Harvey  die  fundamentalste  Entdeckung,  so  schulden 
beide  dem  unvergänglichen  Bichat  die  besteMethode  — 
die  Methode  des  Naturforschers! 

Für  die  Gesamtentwicklung  der  medizinischen  Wissenschaft  hat 
es  wenig  Bedeutung,  dass  auch  dieser  Heros,  der  in  seiner  gewaltigen 
Grösse  selbst  dem  Schlachtenkaiser  Bewunderung  abzugewinnen  ver- 
mochte, mancherlei  Mängel  aufzuweisen  hat  —  allerdings  nur  solche, 
welche  im  Lichte  unserer  Tage  greller  hervortreten.  Darf  man  es 
ihm  allzuschwer  anrechnen,  dass  er  die  Histologie  nicht  nach  unseren 
Vorstellungen  bearbeitete  und  den  Gebrauch  der  noch  unvollkommenen 
Mikroskope  allzu  skeptisch  beurteilte?  Darf  man  mit  ihm  rechten, 
weil  er  in  vitalistischen  Vorstellungen  befangen,  dem  Walten  der 
physikalisch-chemischen  Gesetze  eine  geringere  Bedeutung  beimass, 
als  ihnen  gebührt?  Und  wer  dürfte  es  wagen,  auf  ihn  den  Stein 
zu  werfen,  weil  er  im  Streben  nach  abschliessender  Erkenntnis  trotz 
prinzipieller  Abneigung  gegen  Hypothesen,  sich  doch  manchmal  der- 
selben bedient,   wie  z.  B.  auf  dem  recht  dunklen  Gebiete  der  „Sym- 


Eiuleitung.  133 

pathien"?  Wenn  wir  dagegen  in  die  Wagschale  werfen,  was  die 
Späteren  an  Einseitigkeiten  verschuldeten,  so  steigt  Bichats  Schale 
der  Schuld  rasch  empor! 

In  ihm  hatte  die  theoretische  3Iedizin  den  Eubicon  überschritten, 
der  die  Spekulation  von  der  exakten  Forschung  trennt  —  in  der  grossen 
Zahl  derer,  die  sich  für  Apostel  seiner  Prinzipien  ausgaben,  waren 
nicht  allzuviele,  die  mit  Treue  und  Besonnenheit  an  seinen  Grund- 
sätzen festhielten.  Wir  wollen  in  kurzem  Ueberblick  verfolgen,  wie 
man  sich  in  das  Erbe  teilte. 

In  der  ersten  Zeit  bemächtigten  sich  trotz  des  grossen  und  ein- 
mütigen Beifalls,  den  Bichats  allgemeine  Anatomie  nicht  nur  in  Frank- 
reich, sondern  auch  in  Deutschland  (J.  F.  Meckel,  Soemmering, 
Kudolphi,  E.  H.  Weber,  Burdach)  gefunden  hatte,  weniger  die  Ana- 
tomen als  die  Aerzte  der  fruchtbaren  Ideen.  Wieder  knüpft  eine 
neue  Aera  der  praktischen  Medizin  an  den  Aufschwung  der  Anatomie 
an,  und  wie  immer,  kommt  auch  hier  der  Satz  zur  Geltung,  dass  im 
Beginne,  unter  dem  ersten  blendendenEind ruck  gerade 
die  Verwertung  exakter  Beobachtungen  zu  ganz  ein- 
seitigen Auffassungen  führt,  weil  die  meisten,  wie  hypnotisiert, 
nach  einem  Punkte  starren  und  die  Uebersicht  über  das  Ganze  ver- 
nachlässigen. Allerdings  werden  die  daraus  entspringenden  Irrtümer 
für  die  weitere  Entwicklung  später  lehrreich,  weil  mau  nur  in  dieser 
einseitigen  Verfolgung  auf  die  wahren  Grenzen  der  Methode  stösst. 

Der  Erste,  welcher  die  praktische  Medizin  scheinbar  auf  die 
Lehren  Bichats  aufbaute,  die  alte  ontologische  Pathologie  und  empi- 
rische Therapie  vom  Standpunkt  einer  vermeintlichen  Hyperexaktheit 
ins  Reich  der  Geschichte  verwies  und  angeblich  keine  anderen  Schlüsse 
zu  ziehen  vorgab,  als  solche,  die  mit  Notwendigkeit  aus  der  Leichen- 
untersuchung und  Physiologie  hervorgehen,  war  Frangois  Jos.  Victor 
Broussais  (1772  —  1838),  der  Schöpfer  der  „physiologischen-'  Medizin. 
Dieser  „Reformator",  der  es  durch  zwanzig  Jahre  (1816—1836)  verstand, 
in  ^XoTt  und  Schrift  Kollegen  und  Schüler  mit  sich  fortzureissen,  der 
eine  Zeitlang  die  französische  Medizin  repräsentierte  und  den  Geist 
der  Revolution,  des  Aufruhrs,  der  schrankenlosen  Schreckensherrschaft 
in  die  stillen  Hallen  der  Wissenschaft  hineintrug,  bildet  das  beste 
Beispiel  in  der  gesamten  Geschichte  der  Medizin  dafür,  wie  die 
blinde  oder  voreilige  Verwendung  exakt  scheinender,  in  der  Erfahrung 
des  Lebens  nicht  geläuterter  Leitsätze  die  strahlende  Fackel  des 
Lichts  in  eine  zündende  Brandfackel  umwandelt! 

Worin  bestand  das  Neue  und  Exakte  des  Systems?  Denn  ein  ganzes 
Lehrgebäude  hatte  der  Reformator  rasch  aufgetürmt.  Die  Hauptdogmen 
desselben  waren  folgende.  Das  Leben  beruht  auf  der  Gegenwart  einer  un- 
bekannten Kraft,  welche  sich  besonders  in  der  Kontraktilität"  und  Sensi- 
bilität offenbart  und  in  ihrer  Thätigkeit  nur  durch  äussere  Reize  unterhalten 
wird.  Wirken  die  Reize  zu  intensiv  oder  zu  schwach  (Irritation  und  Ab- 
irritation),  so  entsteht  Krankheit.  Die  Kraftreizung  geht  stets  von  einem 
Teil  des  Körpers  aus,  und  von  diesem  primär  ergriffenen,  erkrankten 
Teil  strahlt  die  Reizung  unter  Vermittelung  des  Nervensystems  weiter  aus; 
je  stärker  die  lokale  „Irritation",  desto  weiter  reichen  die  Irradiationen, 
welche  sich  klinisch  als  Krankheitserscheinungen,  bisweilen  auch  als  solche 
ableitender  Art,  manifestieren.  Bis  hierher  beruht  diese  Theorie,  welcher 
der  Vorzug  der  phänomenologischen  Betrachtungsweise  gegenüber  den  alten 


134  Max  Neuburger. 

Ontologien  zukommt,  im  "Wesen  nur  auf  einer  Kombination  längst  bekannter 
Elemente,  nämlich  des  Vitalismus,  des  Brownianismus  und  der  Sympathien- 
lehre Bicbats,  sie  läuft  auf  den  Satz  hinaus,  dass  Allgemeinerkran- 
kungen nur  die  Folge  primärer  Organreizungen  sind.  Als 
„exakter"  Forscher  kann  Broussais  aber  bei  dem  vagen  Begriff  der 
„Reizung"  nicht  verharren,  er  muss  diesen  Begriff  anatomisch-physiologisch 
definieren.  Bei  einer  Anzahl  namentlich  lokaler  Affektionen  war  es  leicht, 
die  Manifestationen  der  Heizung  als  Sensibilitätsanomalie,  Blutkongestion, 
Ernährungsstörung,  Entzündungsvorgänge  etc.  zu  erkennen.  Liess  sich 
Broussais  schon  dadurch  verleiten,  allmählich  die  Irritation  kurzwegs  der 
Entzündung  gleichzusetzen,  so  wuchs  seine  Willkür  geradezu  ins  Unge- 
heuerliche, als  er  sich  vermass,  die  sogenannten  „essentiellen"  Fieber  der 
alten  Schule  in  seinem  System  unterzubringen.  Das  Täuschendste  dabei 
war  gerade  die  scheinbare  „Exaktheit",  stützte  sich  Broussais  doch  auf 
pathologisch-anatomische  Befunde.  Die  Leichenöffnungen  bei  fieber- 
haften Krankheiten,  namentlich  bei  typhösen  Fiebern,  einer  in  Paris  damals 
alltäglichen  Krankheit,  wiesen  mit  Entschiedenheit  auf  den  Darmkanal  hin. 
Daraus  zog  er  den  Schluss,  dass  das  Fieber  in  letzter  Linie  auf  eine 
gastro-intestinale  Reizung  zurückzuführen  sei,  welche  nur  sekundär,  durch 
sympathische  Irradiation  aufs  Herz  die  charakteristischen  Symptome  her- 
vorrufe. Vieles  mag  auch  die  Verwechslung  von  postmortaler  Imbibition 
mit  wirklicher  Entzündung  beigetragen  haben,  dass  Broussais  in  der  Sucht 
zu  lokalisieren  immer  mehr  Krankheitsprozesse  von  einer  „Gastro- 
enterite"  ableitete  und  ihre  klinische  Differenz  nur  durch  die  Ver- 
schiedenheit der  Sympathien  erklärte.  So  wurden  denn  endlich  nicht  bloss 
Typhus  und  Cholera,  sondern  auch  alle  dyskrasischen,  Nerven-  und  Geistes- 
krankheiten, die  Exantheme  (Masern,  Scharlach  etc.)  als  Folgen  der  Gastro- 
enterite  hingestellt,  ja  selbst  die  Krisen,  Metastasen  etc.  von  dieser  einzigen 
Lokalaffektion  abhängig  gemacht.  Einer  solchen  Pathologie,  welche  sich 
rühmte,  auf  Bichats  Grundsätzen  der  Analyse  zu  basieren,  thatsächlich  aber 
geeignet  war,  den  Lokalisationsgedanken  in  Misskredit  zu  bringen,  entsprach 
eine  ebenso  schablonenhafte,  absurde  Lokaltherapie,  nämlich  durch  ört- 
liche Blutentziehungen  (Blutegel,  Aderlässe,  Umschläge,  schleimige  Getränke) 
der  Gastroenterite  entgegenzuwirken.  Während  eines  einzigen  Jahres  (1819) 
wurden  auf  der  Abteilung  von  Broussais  100  000  Blutegel  gebraucht!  Unter 
den  zahlreichen  Schülern  dieses  „Messias"  der  neueren  Medizin  ragt  be- 
sonders Jean  Baptiste  Bouillaud  (1796 — 1881)  hervor  (ein  um  die 
spezielle  Pathologie  der  Herzkrankheiten  und  des  Gelenkrheumatismus  hoch- 
verdienter Arzt),  welcher  das  Fieber  auf  eine  Entzündung  des  Endocards 
und  der  Intima  der  Gefässe  zurückführte  und  demgemäss  rasch  auf  einander 
folgende  Aderlässe  (saignees  coup  sur  coup)  empfahl. 

Nur  die  Unreife  der  Zeit  macht  es  verständlich,  dass  ein  System, 
welches  die  Mehrzahl  der  Krankheiten  aus  einer  lokalen  Entzündung, 
besonders  der  Entzündung  des  Magendarmtrakts  (Gastroenterite)  er- 
klärte, die  Spezifität  der  Krankheitsprozesse  gänzlich  verkannte,  in 
der  Therapie  nach  e  i  n  e  r  Schablone  einem  ungezügelten  Vampyrismus 
huldigte,  Anhänger,  ja  sogar  sehr  zahlreiche, und  ideal  begeisterte  An- 
hänger finden  konnte.  Die  Herrschaft  des  Doktrinarismus  war  eben 
noch  so  wenig  gebrochen,  dass  man  trotz  der  traurigen  Resultate  in 
der  Praxis  —  auf  der  von  Broussais  geleiteten  Abteilung  war  die 
Sterblichkeit  am  grössten  —  lieber  den  objektiven  Verhältnissen  die 
Schuld  gab,  als  an  dem  Götzen  ., Wissenschaftlichkeit"  zweifelte.    Es 


Einleitung.  135 

war  ein  Glück  für  die  medizinische  Erkenntnis,  dass  durch  diese 
letzte  und  abenteuerlichste  Form  der  medizinischen  Scholastik 
wenigstens  der  blinde  Glaube  an  die  Autorität  der  Alten,  an  die 
symptomatischen  Krankheitsontologien  (Fieber)  zerschmettert  wurde, 
und  dass  die  Aerzte  lernten  anatomisch  zu  denken  (Lokalisations- 
prinzip).  Freilich  wurden  diese  Vorteile  teuer  erkauft  für  andere 
noch  viel  grössere  Irrtümer,  als  die  alten  waren,  aber  unleugbar 
wurde  die  grosse  stumpfe  blasse,  welche  für  die  keusche  \Yahrheit, 
wie  sie  Bichat  bot,  unempfänglich  war,  durch  das  Zerrbild  zur  Be- 
geisterung entflammt,  welches  Broussais  in  seinem  Spiegel  vorhielt. 
Es  scheint,  dass  die  Wahrheit  auf  ihrem  Siegeszuge 
stets  die  massloseste  Uebertreibung  als  Herold  vor- 
aussenden muss! 

Rascher,  als  es  Broussais  lieb  war,  erkannten  besonnene  kritische 
Forscher  die  Nichtigkeit  seines  Systems  und  beschränkten  sich  als 
echte  Nachfolger  Bichats  darauf,  mit  völligem  Verzicht  auf  gewagte 
Doktrinen,  unbefangen  im  Buche  der  Natur  zu  lesen.  Langsam  aber 
zielsicher,  entzogen  sie  dem  Broussaismus  den  Boden  und  fegten 
nicht  nur  dieses  letzte  der  Systeme  hinweg,  sondern  löschten  —  was 
noch  mehr  ist  —  die  Systemsucht  aus.  In  der  vergleichenden 
Betrachtung  der  in  vivo  beobachteten  Symptome  und 
der  an  der  Leiche  ermittelten  Befunde  gelang  es  ihnen, 
viele  symptomatische  Krankheitsbilder  und  vage  Ontologien  der  alten 
^ledizin  durch  objektiv  wahre  exakte  Krankheitsbeschreibungen  zu 
ersetzen,  und  die  pathologische  Anatomie  zur  Grundlage  der  Dia- 
gnostik zu  erheben.  Die  Leistungen  dieser  Forscher  sind  aus  der 
modernen  Medizin  nicht  hinwegzudenken,  sie  bleiben  klassisch  für 
alle  Zeit,  sie  waren  die  ersten,  welche  wenigstens  auf  einzelnen  Ge- 
bieten die  praktische  Thätigkeit  des  Arztes  mit  exaktem  Wissen 
und  technischem  Können  ausrüsteten.  Die  Pariser  patho- 
logisch-anatomische Schule  eröffnete  die  Heilsbotschaft,  dass 
die  Medizin  nicht  immer  bloss  auf  mystisches  Ahnen  oder  empirische 
Schätzung,  wie  Zimmermann  und  Cabanis  glaubten,  angewiesen  sein 
wird,  sondern  mit  steigender  Entwicklung  in  unverrückbaren  Gesetzen 
ihren  Rückhalt  finden  wird. 

Abgesehen  von  einzelnen  Vorläufern,  welche  schon  annähernd  in 
diesem  Geiste  arbeiteten,  wie  P.  L.  Prost,  A.  Petit  und  E.  Serres, 
sind  als  die  eigentlichen  Begründer  der  Schule  die  beiden  Meister 
der  physikalischen  Diagnostik,  Corvisart  und  Laennec  anzu- 
sehen, die  beiden  Heroen  der  modernen  Medizin,  denen  nicht  nur  die 
Klinik  ihre  Reform,  sondern,  was  noch  mehr  besagt,  jeder  bescheidene 
Praktiker  die  Fundamente  seines  Wissens,  die  Grundlagen  seines 
Könnens  verdankt.  Durch  ihre  Hinterlassenschaft,  die  Perkussion 
und  Auskultation,  sind  sie  für  immer  die  Lehrer  der  Lehrer  ge- 
worden und  haben  die  objektive  Untersuchung  am  Krankenbette  in 
Dezennien  mehr  erweitert  und  vertieft,  als  es  vordem  Jahrtausende 
vermochten ! 

Die  Aera  der  pathologischen  Anatomie  konnte  nicht  glänzender 
eröffnet  werden  als  durch  den  eklatanten  Beweis  ihrer  praktischen 
Bedeutung  für  die  Diagnose;  der  anatomische  Gedanke  war  es.  der 
Corvisart  und  Laennec  auf  Mittel  sinnen  Hess,  die  es  ermöglichen,  die 
materiellen  Grundlagen  der  Krankheiten  am  Lebenden  aufzusuchen, 
mittels  der  Sinne   die  objektiven  Veränderungen  wahrzunehmen,  mit 


136  Max  Neuburger. 

Sicherheit  dasjenige  zu  erkennen,  was  aus  der  Beobachtung  der 
Symptome,  aus  der  Pulsbeschaffenheit,  aus  der  Berücksichtigung  des 
Allgemeinzustands  —  diesem  Rüstzeug  der  alten  Aerzte  —  höchstens 
genial  vermutet  werden  konnte. 

Jean  Nicolas  Cor  vis  art  des  Märest  (1755 — 1821),  der  Leibarzt 
Napoleons,  der  sich  auch  um  die  Lehre  von  den  Herzkrankheiten  nicht 
geringe  Verdienste  erworben  hat,  stellt  das  Bindeglied  dar  zwischen  der 
älteren  Wiener  und  der  französischen  Schule.  An  der  Wiener  Klinik 
wurde  die  pathologische  Anatomie  zu  einer  Zeit  gepflegt,  da  sie  in 
Deutschland  noch  ganz  brach  lag,  aus  der  Wiener  Schule  ging  der 
Erfinder  der  Perkussion,  Auenbrugger,  hervor  und  Maximilian  Stoll 
war  der  erste  Kliniker,  der  diese  Methode  wenigstens  einiger- 
massen  berücksichtigte.  Durch  mehrere  Stellen  bei  Stoll,  über  dessen 
Aphorismen  er  Vorlesungen  hielt,  wurde  Corvisart  auf  Auen- 
bruggers  unvergängliche  Schrift  (die  bereits  von  Roziere  de  la  Chas- 
sagne  ins  Französische  übertragen  war)  aufmerksam  und  sammelte  in 
zwanzigjähriger  Thätigkeit  die  bedeutendsten  Erfahrungen  über  den 
Nutzen  der  Methode.  Im  Jahre  1808  gab  er  zum  Triumphe  des  be- 
scheidenen Erfinders  das  Original  samt  einer  französischen  Ueber- 
setzung  neu  heraus,  begleitet  von  zahlreichen  und  ausführlichen 
Krankengeschichten.  Trotz  einiger  später  von  Skoda  rektifizierter 
Missverständnisse  gelang  es  ihm  die  Technik  der  Perkussion  in 
mancher  Hinsicht  zu  vereinfachen,  und  die  Schlüsse,  die  aus  der 
Beobachtung  der  Schallphänomene  zu  ziehen  sind,  präziser  zu  be- 
grenzen, als  es  dem  Erfinder  möglich  war,  —  Verbesserungen,  die  in 
einer  1818  erschienenen  Abhandlung  über  Perkussion  (in  der  letzten 
Ausgabe  seines  Werkes  über  Herzkrankheiten)  niedergelegt  sind. 

So  gleichgültig  es  für  den  Fortschritt  ist,  so  muss  es  doch  vom  ethischen 
Standpunkt  besonders  gerühmt  werden,  dass  Corvisart,  dem  es  leicht  gewesen 
wäre,  den  Namen  des  Erfinders  zu  verschweigen,  Auenbruggers  Verdienst 
ins  hellste  Licht  rückte.  Der  Charakter  Corvisarts  offenbart  sich  in  der 
Vorrede  zu  seiner  Uebersetzung,  wo  er  sagt:  j'aurais  pu  m'elever  au  rang 
d'auteur  en  refondant  l'oeuvre  d'Avenbrugger,  et  en  publiant  un  ouvrage  sur 
la  percussion.  Mais,  par-lä,  je  sacrifiai  le  nom  d'Avenbrugger  ä  ma  propre 
vanite;  je  ne  l'ai  pas  voulu:  c'est  lui,  c'est  sa  belle  et  legitime  decouverte 
(inventum  novum),    comme  il  le   dit  justement,    que  j'ai  voulu  faire  revivre. 

Rene  Theophile  Hyacinthe  Laennec  (1781 — 1826),  eine  der 
grössten  Koryphäen  der  Medizin  aller  Zeiten,  das  Haupt  der  patho- 
logisch-anatomischen Schule,  ergänzte  die  Perkussion  durch  die  zweite 
fundamentale  Untersuchungsmethode,  die  Auskultation.  Mag  ein 
zufälliges  Erlebnis  —  er  beobachtete  Kinder,  welche  Holzstäbe  ans  Ohr 
hielten,  um  das  Geräusch  wahrzunehmen,  das  sie  mit  Nadeln  am  ent- 
gegengesetzten Ende  hervorriefen  —  den  Anlass  zur  Erfindung  des 
Stethoskops  gegeben  haben,  einen  gewissen  Einfiuss  hatte  gewiss  auch 
das  gerade  von  Laennec  mit  grösster  Gründlichkeit  betriebene  Studium 
der  hippokratischen  Schriften,  worin  der  Succussio  eine  so  hohe 
Bedeutung  eingeräumt  wird.  Ueber  Jahrtausende  hinüberreicht 
die  moderne  Medizin  der  hippokratischen  die  Hand  gerade  zur  Zeit, 
da  anscheinend  die  Kette  der  Ueberlieferung  zerrissen  wurde! 
Laennec  machte  seine  bahnbrechende  Erfindung  zuerst  im  Jahre  1815, 
gelegentlich  der  Demonstration  eines  Hydrothorax  bekannt.  Seine 
auf  vieljähriger  Anwendung  beruhenden  Erfahrungen  über  die  Prin- 


Einleitung-.  137 

zipien  und  den  diagnostischen  Wert  der  Auskultation  bei  Herz-  und 
Lungenkranklieiten  sind  in  dem  unsterblichen  Meisterwerk:  De  l'aus- 
cultation  mediate  (Paris  1819),  in  einer  Weise  niedergelegt,  dass  in 
zwei  Jahrzehnten  von  den  Nachfolgern  nichts  verbessert  oder  hinzu- 
gefügt werden  konnte. 

Laennec  ist  der  Schöpfer  der  Diagnostik  der  Herz-  und  Lungen- 
krankheiten, bereicherte  aber  auch  andere  Zweige  der  Pathologie. 
Unausgesetzt  am  Krankenbette  oder  am  Seziertisch  thätig,  rastlos 
beobachtend,  sammelnd,  vergleichend,  lieferte  er  eine  Reihe  der  wich- 
tigsten grundlegenden  Arbeiten  über  Entozoen,  Peritonitis,  Aneurysmen, 
Lungenemphj'sem,  Bronchiectasie,  über  Tuberkulose,  über  Neubildungen 
und  verstand  es,  auf  dem  rein  empirischen  Wege  die  Wissenschaft 
durch  Besitztümer  von  dauerndem  Wert  zu  bereichern.  Durch  die 
Auskultation  weit  über  Morgagni  hinausdringend  gelang  es  ihm,  aus 
den  akustischen  Phänomenen  Lokalität  und  Eigenart  der  krank- 
haften Affektionen  in  vivo  zu  diagnostizieren,  die  pathognomonischen 
Zeichen  festzustellen.  Die  letzte  Aufgabe,  an  die  sich  der  grosse 
Arzt  heranwagte,  sichere  Mittel  zu  finden,  durch  welche  die  ana- 
tomischen Veränderungen  in  den  Normalzustand  zurückgeführt  werden 
können,  war  zu  hoch  gestellt,  um  auch  nur  eine  bescheidene 
Lösung  zu  finden,  dennoch  waren  Laennecs  Verdienste  auch  in  der 
Therapie  nicht  gering,  da  er  wenigstens  der  missbräuchlichen  An- 
wendung der  Blutentziehung  (Broussais)  mit  grösster  Entschieden- 
heit entgegentrat  und  insbesondere  bei  der  Phthisis  die  herkömmlichen 
„Heilmittel"  mit  berechtigter  Skepsis  beurteilte.  Dem  Beispiele  des 
grossen  Laennec  folgte  eine  ganze  Reihe  von  ausgezeichneten 
Forschern,  welche  in  der  Epoche  von  1815 — 1840  den  Ruhm  der 
französischen  Medizin  begründeten. 

Unter  ihnen  sind  besonders  bemerkenswert:  Gaspard  Laurent  Bayle 
(1774 — 1816)  durch  sein  berühmtes  Buch  über  Phthise;  Aug.  FranQois 
Chomel  (1788 — 1858),  der  Nachfolger  Laennecs  im  Lehrfach;  Paul  Bre- 
tonneau  (1771 — 1862),  durch  seine  Schriften  über  Diphtherie;  Pierre 
Adolphe  Piorry  (1794 — 1879),  der  Erfinder  des  Plessimeters;  Leon  Rostan 
(1790 — 1866)  durch  seine  Studien  über  Gehirnerweichung;  Leon  Jean 
Baptiste  Cruveilhier  (1791  — 1874),  der  erste  Professor  der  pathologischen 
Anatomie  in  Paris;  Pierre  Charles  Alexander  Louis  (1787 — 1872),  Ab- 
handlungen über  Phthise  und  Typhus;  Gabriel  Andral  (1797 — 1876), 
Verfasser  des  ersten  als  „Klinik"  bezeichneten  Werkes,  Clinique  medicale 
(1829 — 1833),  in  welchem  zum  erstenmale  die  Methode  verfolgt  wurde,  aus 
einer  Reihe  von  Einzelbeobachtungen  gewöhnlich  vorkommender  Krankheits- 
fälle,   die  Verhältnisse  der  betreffenden  Krankheiten   empirisch  festzustellen. 

Die  Beseitigung  der  alten  symptomatischen  Pathologie  und  des 
Broussaismus,  die  Begründung  der  physikalischen  Diagnostik,  die  Auf- 
stellung einer  grossen  Zahl  von  Krankheitsbildern  auf  Grund  exakter 
pathologisch-anatomischer  Befunde  und  gewissenhafter  klinischer  Be- 
obachtungen, das  Prinzip  der  anatomischen  Klassifikation  der  Krank- 
heitsgruppen mit  entsprechender  Terminologie  —  das  sind  die  be- 
deutsamsten, die  bleibenden  Ergebnisse  der  Pariser  Schule.  Aut 
solche  Fundamente  Hess  sich  sicher  weiterbauen.  Es  hiesse  jedoch, 
auf  das  historische  Urteil  Verzicht  leisten,  wollten  wir  neben  den 
hervorgehobenen  eminenten  Verdiensten  nicht  auch  auf  die  Mängel 
hinweisen,  die  sich  nicht  nur  unserem  vorgerückten  Standpunkt  offen- 


138 


Max  Neuburger. 


baren,  sondern  geradezu  wie  ein  negativer  Druck  befördernd  auf  die 
weitere  Entwicklung  eingewirkt  haben.  Diese  Mängel  mit  ihren 
theoretischen  und  praktischen  Konsequenzen  lassen  sich  in  letzter 
Linie  aus  der  extremen  Durchführung  des  Lokalisationsprinzips, 
welche  bei  dem  damaligen  Wissensniveau  zu  einer  völligen  Ver- 
kennung des  Krankheitsprozesses  führen  musste,  erklären. 

Bei  der  an  sich  lobenswerten  Absicht,  nur  das  als  wahr  anzu- 
erkennen, was  palpabel  ist  und  ins  Gesichtsfeld  tritt,  gelangte  man 
nicht  nur  dahin,  die  grosse  Anzahl  von  Affektionen,  welche  die  Ana- 
tomie auch  heute  noch  nicht  aufhellt,  zu  vernachlässigen,  ihnen  ge- 
wissermassen  Realität  abzustreiten,  sondern  man  verfiel  sogar  in  den 
Fehler,  die  in  der  Leiche  vorgefundenen  schwersten  Zerstörungen 
schablonenmässig,  ohne  Berücksichtigung  des  Entwicklungsstadiums 
kurzwegs  mit  der  Krankheit  zu  identifizieren.  Infolge  der  masslosen 
Ueberschätzung  einer  nicht  einmal  bis  ins  mikroskopische  Detail  herab- 
steigenden pathologischen  Anatomie,  infolge  der  völligen  Ausseracht- 
lassung  der  physiologischen  Vorgänge  wurde  weder  die  Konstitution  des 
Patienten,  noch  die  Aetiologie  und  Entwicklung  der  Krankheit,  noch  die 
Selbstregulation  des  Organismus  gebührend  berücksichtigt  —  wie  es  von 
selten  der  hippokratisch  denkenden  Aerzte  geschah.  Theoretisch  ergab 
sich  aus  diesen  Verhältnissen  eine  starre  ontologische  Krankheitsauf- 
fassung, praktisch  eine,  die  Lidividualität  des  Kranken  vernach- 
lässigende, bloss  gegen  die  Krankheitsspezies  oder,  besser  gesagt,  Nomi- 
naldiagnosen gerichtete  schablonenhafte  Therapie,  welche  je  nach  dem 
Grade  des  Sanguinismus  entweder  total  indifferent  oder  roh  eingreifend 
(mit  toxischen  Dosen,  heroischen  Mitteln)  ausfallen  musste ;  darum  waren 
die  früheren  Aerzte  bessere  Praktiker  als  die  pathologischen  Ana- 
tomen, weil  sie  fein  individualisierend  auf  dasjenige  wirkten,  was 
oft  allein  durch  die  Therapie  modifiziert  werden  kann:  auf  den  Ge- 
samtzustand, das  Fieber,  den  Schmerz,  auf  die  Ernährung.  So  wurde 
denn  der  unleugbar  ungeheure  Fortschritt-  des  Wissens  zunächst  durch 
den  Verlust  längst  besessener  Vorteile,  durch  einen  Rückgang  der 
Kunst  erkauft,  der  kaum  durch  die  bereits  sichtbar  werdende  Lokal- 
therapie, besonders  chirurgischer  Art,  durch  das  beginnende  Spezia- 
listentum paralysiert  werden  konnte. 

Betrachtet  man  aber  auch  diese  Konsequenzen,  die  sich  übrigens  weit 
bis  über  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  geltend  machten,  als  notwendige, 
durch  die  mangelhaften  Hilfsmittel  gegebene  Verhältnisse,  so  kann  doch 
nicht  übersehen  werden,  dass  eine  getreuere  Beachtung  der  Prinzipien  des 
grossen  Bichat,  eine  Fortführung  seiner  Leistungen  im  Sinne  der  fort- 
geschrittenen Zeit  die  französische  pathologisch-anatomische  Schule  auf  eine 
höhere  Stufe  erhoben  hätte,  als  ihre  temporäre  „Exaktheit"  war.  Wir 
sagen  „temporäre  Exaktheit",  weil  ihre  Anhänger  die  zu  dieser  Zeit  in 
Deutschland  bereits  bewundernswert  gepflegte  Gewebelehre  gänzlich  vernach- 
lässigten, weil  sie  in  der  Diagnostik  die  bei  den  einzelnen  Affektionen 
beobachteten  Schallphänomene  als  pathognomonische  beschrieben,  ohne  durch 
Untersuchung  der  physikalischen  Verhältnisse  Einsicht  in  das  Wesen  ihrer 
Entstehung  zu  suchen,  weil  sie  in  der  Pathologie  in  ähnlich  empirischer 
Weise  zwar  die  Symptome  jeder  Krankheitsspezies  naturhistorisch  schilderten, 
ohne  jemals  naturwissenschaftlich  die  Erklärung  aus  den  ursächlichen  physio- 
logischen Momenten  ins  Auge  zu  fassen.  Der  schlimmste  Fehler  lag  aber 
darin,  dass  man,  fast  ebenso  einseitig  wie  Broussais,  bei  aufgefundener  grober 


Einleitung.  139 

anatomischer  Läsion,  den  ganzen  pathologischen  Erscheinungskomplex,  die 
Gesamtkrankheit  auf  ein  einziges  Organ  bezog  (z.  B.  Kopfschmerz  der  be- 
stehenden DarmaflPektion  zuschrieb)  oder  aber  die  Begleitzustände,  wie 
Schmerz,  Temperatursteigerung,  Pulsanomalien  etc.  kaum  besprach. 

Wie  sehr  das  Bewusstsein  dieser  Uebelstände  allmählich  auf- 
dämmerte, verrät  sich  darin,  dass  am  Ausg-ang  der  Epoche  von  einigen 
geistvollen  Vertretern  wichtige  Umgestaltungen  der  Schule  in  An- 
griff genommen  wurden.  Diese  bezogen  sich  sowohl  auf  den  thera- 
peutischen als  auf  den  pathologischen  Standpunkt. 

Es  war  zuerst  Louis,  ein  Forscher,  der  durch  seine  an  mehr  als 
5000  Leichen  angestellten  Untersuchungen  gewiss  alle  an  Exaktheit 
übertraf,  welcher  die  Notwendigkeit  erfasste,  die  Grenzen  der  Erfahrung 
über  den  engen  Gesichtskreis  der  Leichenkammer,  über  die  Schranken 
der  individuellen  Beobachtung  hinauszuschieben.  Er  benützte  die 
schon  von  Laplace  für  medizinische  Zwecke  empfohlene  numerische 
Methode,  die  Statistik,  um  Fragen  der  Aetiologie,  Symptomato- 
logie, Diagnostik.  Prognostik  und  Therapie  zu  klären  und  regte 
Gavarret  dazu  an,  dieses  Verfahren  weiter  auszubilden.  In  dem 
interessanten  Buche  des  letzteren  (Principes  generaux  de  statistique, 
1840)  werden  ganz  besonders  therapeutische  Fragen  berührt,  und  so 
gross  auch  die  Irrtümer  waren,  zu  denen  die  noch  gar  zu  naive  Ueber- 
schätzung  der  statistischen  Methode  den  Anlass  gab,  es  war  doch 
ein  Weg  gefunden,  um  dem  Dilemma  zwischen  blindem  Arzneiglauben 
und  therapeutischem  Nihilismus  durch  voraussetzungslose  Prüfung  zu 
entkommen.  Man  bekehrte  sich  zu  dem  Grundsatz,  es  müsse,  wie 
mit  den  übrigen  Zweigen  der  Medizin,  so  auch  mit  der  Therapie 
ganz  von  vorne,  rein  empirisch  begonnen  werden. 

Einen  Schritt  weiter  ging  noch  Andral,  der  beste  Kliniker  der 
Schule.  Er  richtete  nicht  nur  seinen  ganzen  Eifer  darauf,  mit  Meister- 
kunst die  Bilder  der  einzelnen  Krankheitsformen  zu  entwerfen,  sondern 
legte  das  Hauptgewicht  darauf,  neben  den  anatomisch  nachweisbaren 
Veränderungen  den  Entwicklungsgang  der  krankhaften 
Erscheinungen,  den  Krankheitsprozess  zu  verfolgen.  Damit  kam 
er  dem  Programm,  welches  Bichat  entworfen  hatte,  näher  als  seine 
Vorgänger  und  wurde  wie  dieser  dazu  gedrängt,  auch  das  Blut  als 
Quelle  oder  Sitz  mancher  Krankheiten  in  Betracht  zu  ziehen. 
Die  in  Gemeinschaft  mit  Gavarret  ausgeführten  chemischen  Unter- 
suchungen des  Blutes  führten  ihn  zu  einem  Ergebnis,  das  mit  den 
starren  solidarpathologischen  Lehren  der  französischen  Schule  in 
grellstem  Widerspruch  stand.  In  seinem  1832  erschienenen  Grundriss 
der  pathologischen  Anatomie  zeigte  er  nämlich,  dass  das  Blut  bald 
durch  Uebermass  oder  Mangel  an  Fibrin  oder  Albumin,  bald  durch 
abnorme  Beschaffenheit  der  Eiweissstoffe ,  des  Blutfarbstoffs  oder 
durch  Beimischung  von  „Encephaloidmassen"  (Leukocyten),  Sekretions- 
stoffen. Giften  etc.  pathologisch  verändert  sein  könne  und  dass  es 
Veränderungen  des  Blutes  gebe,  die  vor  denen  der  festen  Teile  auf- 
treten. Wie  Bichat  am  Schlüsse  seiner  Laufbahn,  kommt  Andral 
notwendig  zu  dem  Schlussergebnis,  dass  es  primäre  Blut  er  kran- 
kungen und  demgemäss  Allgemeinerkrankungen  gäbe.  So 
löste  sich  denn  die  Pathologie  neuerdings  aus  ihrer  solidaristischen 
Einseitigkeit  und  gelangte  im  Spiralgang  wieder  zu  einer  Humoral- 
pathologie  höheren  Stiles  (Hämatopathologie)  zurück,  in  welcher 


140  M.&X  Neu  burger. 

die  einstigen  Bestrebungen  der  Chemiatriker,  die  hamätologischen 
Untersuchungen  eines  Hewson  und  Hunter  zu  neuem  Leben  erweckt 
wurden. 

Der  Anstoss  zu  solcher  Bewegung  stammte  von  aussen,  von  einem 
führenden  Geiste,  der  es  sich  zum  Ziele  gesetzt  hatte,  gerade  den- 
jenigen Teil  der  Arbeit  Bichats  fortzuführen,  welchen  die  patho- 
logischen Anatomen  völlig  beiseite  gelassen  hatten:  die  Experi- 
mentalforschung.  Frangois  Magen  die  (1783—1855),  der 
feurigste  Apostel  des  medizinischen  Positivismus,  war  es,  der  nicht 
nur  der  Physiologie  durch  die  Proklamation  der  exakten  Prinzipien, 
durch  die  völlige  Verdrängung  der  Hypothesen  eine  neue  glanzvolle 
Aera  des  Fortschritts  eröffnete,  sondern  auch  dem  grösseren  Ziele 
zustrebte,  mittels  der  Experimentalforschung  die  gesamte  Medizin  aus 
den  Banden  der  Spekulation  zu  befreien  und  auf  die  Höhe  zu  bringen, 
welche  die  Physik  und  Chemie  bereits  erklommen  hatten.  Mag  er 
durch  seine  grundsätzliche  Verleugnung  der  Tradition,  durch  seinen 
ungestümen  Drang,  den  Vitalismus  in  seiner  Gänze  in  die  bekannten 
physikalisch-chemischen  Gesetze  aufzulösen,  zu  manchen  irrtümlichen 
oder  ganz  einseitigen  Erklärungen  gekommen  sein,  mag  Magendie 
auch  durch  seine  oft  nur  vermeintliche  Exaktheit,  welche  weder  Ge- 
wicht, nach  Mass  berücksichtigte  und  zuweilen  an  der  mangelhaften 
Technik  eine  Klippe  fand,  manchen  richtig  erkannten  Satz  der  alten, 
„romantischen"  Physiologie  oder  Medizin  in  die  Vergessenheit  zurück- 
gedrängt haben  —  die  grosse,  umwälzende  Eevision  der  Fakten, 
die  er  einleitete,  die  vielen  Errungenschaften,  welche  der  mecha- 
nistischen Bearbeitung  der  Lebens-  und  Krankheitsprobleme  ent- 
sprangen, die  reichen  Früchte,  die  seine  Anregungen  auf  allen  Gebieten 
trugen,  machen  seine  Leistungen,  seine  Methode  zu  einem  integrieren- 
den Bestandteil  der  modernen  Medizin! 

Magendie  war  nicht  der  Schöpfer  der  Experimentalphj^siologie, 
auch  durchaus  nicht  der  Erste,  der  das  Experiment  in  den  Dienst 
der  Pathologie  stellte  (Hunter  und  Bichat),  aber  keiner  vor  ihm  hat 
die  souveräne  Bedeutung  des  Tierversuchs  mit  solcher  Schärfe  ver- 
treten und  den  Nutzen  dieser  Methode  gegenüber  der  Spekulation 
durch  praktische  Bereicherung  der  Wissenschaft  in  ein  so  helles  Licht 
gerückt.  Noch  höher  sind  seine  experimentalpathologischen  Arbeiten 
zu  bewerten,  wenn  man  erwägt,  dass  sie  geeignet  waren,  nicht  nur 
die  Hypothesen  zurückzuschlagen,  sondern  auch  die  einseitig  ge- 
deuteten anatomischen  Befunde  durch  die  phj^siologische  Verfolgung 
des  Krankheitsvorgangs  zu  ergänzen,  auf  ihr  wahres  Mass  zurück- 
zuführen. In  seiner  Auffassung  wurde  die  Pathologie  zur  Physio- 
logie des  kranken  Menschen. 

Seine  Versuche  über  das  Erbrechen,  über  den  Liquor  cerebro- 
spinalis, über  Herzthätigkeit,  Verdauung,  tierische  Wärme  u.  s.  w. 
haben  manche  sichere  Grundlagen  gegeben,  der  Nachweis  des  Bell- 
schen  Gesetzes  hat  erst  die  Bearbeitung  der  Nervenpathologie  ermög- 
licht und  die  Experimente  über  die  Folgeerscheinungen  der  Lijektion 
fauliger,  eitriger  Massen  in  die  Venen  erklärten  zwar  nicht  die  Genese 
des  Typhus,  machten  aber  das  damals  noch  gänzlich  unbekannte 
Wesen  der  septischen  Infektion  verständlicher. 

Gerade  diese  letzteren  Experimente  veranlassten  Magendie,  die 
Bedeutung  des  Blutes  für  das  Entstehen  von  Krankheiten  weiter  zu 
verfolgen,  und  die  Erfahrungen,  welche  er  selbst  und  andere  Forscher 


Einleitung.  141 

in  Yersuchen  über  seröse  Blutmischung,  über  fibrinarmes  Blut  etc. 
erwarben,  führten  ihn  zu  hämatopathologischen  Ansichten,  denen,  wie 
wir  sahen,  auch  die  späteren  Vertreter  der  anatomischen  Schule  bei- 
pflichteten. 

Noch  mehr!  Was  Bichat  kurz  vor  seinem  Tode  in  Angriff  nehmen 
wollte,  den  wissenschaftlichen  Aufbau  der  Materia  medica,  auch  dieses 
gi'osse  Problem  beschäftigte  Magendie  in  höchstem  Masse.  Mit 
Ausserachtlassung  der  alten  zusammengesetzten  Arzneimischungen 
unterwarf  er  eine  grosse  Zahl  einfacher  Präparate,  wie  die  aus 
Pelletiers  Laboratorium  hervorgegangenen  Alkaloide  (Chinin,  Yeratrin, 
Strychnin,  Piperin,  Morphium,  Emetin),  ferner  Jod-  und  Bromverbin- 
dungen dem  Experiment,  sowohl  an  Versuchstieren,  wie  an  Kranken. 
Die  Ergebnisse  wurden  die  Basis  für  die  ganze  neuere  Pharma- 
kodynamik. 

Auf  solcher  Basis  konnte  sich  die  Pariser  Schule  zu  ungeahnter 
Höhe  entwickeln  und  in  wenigen  Dezennien  die  medizinische  Entwick- 
lung aller  anderen  Nationen  überflügeln.  Der  Fortschritt  kam  nicht 
nur  im  Gesamtbild  der  inneren  Klinik,  in  der  Blüte  der  Chirurgie 
(Dupuytren),  sondern  auch  darin  zum  Ausdruck,  dass  die  Spezialzweige 
wie  die  Syphilidologie,  die  Dermatologie,  die  Urologie,  die  Otiatrie, 
die  Nervenpathologie,  die  Psychiatrie,  die  Geburtshilfe,  Gynäkologie, 
die  forensische  Medizin  (Orflla)  einen  anatomisch-physiologischen  Auf- 
bau in  neuer  Bearbeitung  erhielten. 

Die  schärfere  Abgrenzung  der  Spezialfächer  hing  mit  dem 
Streben  zusammen,  die  alte  unbestimmte  generelle  Therapie  durch 
eine  wirksame  Lokalb  eh  andlung  zu  ersetzen.  Bei  dem  geringen 
Umfang  der  zu  Gebote  stehenden  Mittel  konnte  sich  die  Lokal- 
therapie, soweit  sie  rationell  sein  wollte,  nur  in  dem  alten  Schema 
der  Derivation  bewegen  oder  musste  zu  Heilmethoden  greifen,  welche 
mechanischen  Prinzipien  entsprachen,  also  namentlich  zu  chirurgischen. 
Wie  sehr  demnach  die  anatomische  Auffassung  der  Krankheit  zur 
Vereinigung  der  Chirurgie  und  der  inneren  Medizin  hinleitete,  bedarf 
keiner  weiteren  Andeutung. 

Eine  weitere  Konsequenz  der  anatomischen  Krankheitsauffassung, 
beziehungsweise  des  zunächst  folgenden  therapeutischen  Pessimismus 
bestand  darin,  dass  man  der  Verhütung  von  Krankheiten  jetzt  grössere 
Aufmerksamkeit  schenkte  und  daher  zur  Schöpfung  der  Hygiene 
die  ersten  Schritte  that.  Dieser  Impuls  fand  in  Frankreich  kräftigen 
Ausdruck  in  der  Litteratur;  zur  praktischen  Durchführung  kam  es 
aber  sowohl  in  Form  der  hygienisch-klimatischen  Therapie 
(besonders  bei  Phthise  und  Skrophulose)  als  in  Gestalt  der  öffent- 
lichen Gesundheitspflege  zuerst  in  England  (unter  dem  Ein- 
druck der  Cholera). 

Dort  fanden  die  Grundsätze  der  anatomischen  Pathologie  sehr 
bald  die  lebhafteste  Anerkennung,  und  vorbereitet  durch  die  trefflichen 
Arbeiten  eines  Hunter  und  Baillie,  folgte  die  englische  Medizin 
Schritt  für  Schritt  der  französischen,  freilich  ohne  an  den  extremen 
Folgerungen  derselben  Anteil  zu  nehmen.  Es  ist  charakteristisch, 
dass  im  Lande  Sydenhams  zu  einer  Zeit,  wo  der  spekulative  Geist 
Europa  pandemisch  durcheilte,  die  nüchterne  kritische  Empirie  die 
Oberhand  behielt.  Und  selbst  das  System,  welches  der  Chirurg 
Travers  als  Gegenstück  zum  Broussaismus  aufbaute,  das  System 
der  „Irritation",  hätte  nicht  den  Beifall  so  klarer  Köpfe,  wie  es  Astley 


142  Max  Neuburger. 

Cooper  und  Brodie  waren,  finden  können,  wenn  es  nicht  von  Einzel- 
fakten  ausgegangen  wäre. 

Die  Erwägung,  dass  sehr  oft  lokale  Affektionen,  namentlich  chirurgischer 
Art,  hochgradige  Folgeerscheinungen  im  ganzen  Organismus,  wie  Fieber, 
Krämpfe,  Tetanus,  Betäubung  etc.  hervorrufen,  dass  andererseits  lokale 
Erscheinungen,  selbst  solche  mit  anatomischen  Veränderungen  (z.  B.  in  den 
Gelenken)  bloss  reflektiert  von  einer  Alteration  des  Gesamtzustandes  ver- 
ursacht sein  können,  veranlasste  B.  Travers  (1783  — 1858)  den  Begriff  der 
„Irritation"  aufzustellen.  Für  die  Ausbildung  der  Nervenpathologie  (Hysterie) 
hatte  diese  Lehre,  welche  als  vorläufiger  unpräjudizierender  Ausdruck  von 
Thatsachen  aufzufassen  ist,  grosse  Bedeutung.  Viele  nervöse  (hysterische) 
Lokalaffektionen  (z.  B.  Gelenksueurosen)  wurden  klarer,  und  man  Hess  sich 
nicht  mehr  so  leicht  zu  unpassenden  chirurgischen  Eingriffen  verleiten.  Das 
System  von  Travers  wurde  an  der  Hand  des  Bellschen  Gesetzes  und  der 
Lehre  von  den  Reflexbewegungen  (IMarshal  Hall)  durch  eine  Reihe  von 
Denkern  ausgebildet  und  endete  in  der  bekannten,  zuerst  von  Parish 
formulierten  Theorie  von  der  Spinalirritation. 

Mit  reichem  Sinn  und  Verständnis  für  alles  Praktische  begabt, 
voll  Empfänglichkeit  für  alles  Neue,  wenn  es  auch  aus  dem  Ausland 
stammte,  durch  nüchterne  Denkrichtung  vor  Ueberstürzungen  be- 
wahrt, übernahmen  die  englischen  Aerzte  nicht  nur  die  Methode  und 
letzten  ICrgebnisse  der  Pariser  Schule,  sondern  entwickelten  die  schon 
ein  Jahrhundert  vorher  von  Einzelnen  erfolgreich  begonnene 
Kasuistik  zur  anatomisch-klinischen  Forschung  und  bildeten  die  be- 
sonders durch  J.  Forbes  übermittelte  physikalische  Diagnostik  selb- 
ständig weiter.  Es  giebt  kein  Kapitel  der  speziellen  Pathologie, 
welches  nicht  durch  ihre  Arbeiten  bedeutend  erweitert  worden  ist, 
ja  manche  Gebiete  erhielten  erst  durch  sie  eine  exakte  Begründung, 
wie  die  Lehre  von  den  Krankheiten  des  Darms  und  der  Leber,  der 
Nieren  (Bright),  der  Nebennieren  (Addisson),  die  Neuropathologie, 
welche  ganz  besonders  durch  das  Zusammenwirken  anatomischer, 
klinischer  und  physiologischer  (Charles  Bell,  Marshai  Hallj  Beobach- 
tungen zu  überraschender  Entwicklung  gebracht  wurde.  Diese  rege, 
echt  wissenschaftliche  Thätigkeit,  deren  Ergebnisse  durch  die 
wachsende  Publizistik  rasch  verbreitet  wurden,  konzentrierte  sich 
namentlich  in  zwei  Brennpunkten  des  Fortschritts,  in  der  Schule  zu 
Edinburg  und  in  der  Schule  zu  Dublin.  Was  die  letztere  an- 
langt, so  genügt  es  zu  ihrer  Charakteristik,  wenn  man  die  Namen 
ihrer  Mitglieder  W.  Stokes,  J.  Cheyne  und  R.  Graves  nennt,  Namen, 
die  jeden  Tiro  der  Medizin  an  epochemachende  Leistungen  in  der 
Pathologie  und  Diagnostik  der  Brustkrankheiten  und  Neurosen  er- 
innern. 

Am  spätesten  fand  der  neue  Geist  in  der  Medizin  der  Deutschen 
Eingang!  Wie  langsam  die  naturphilosophische  Spekulation  aus  Theorie 
und  Praxis  verdrängt  wurde,  welch  harter  Kämpfe  es  bedurfte,  um 
eingewurzelte  Ideen  auszurotten,  um  unbeugsame  Autoritäten  in  den 
Hintergrund  zu  drängen,  davon  erhält  man  das  klarste  Bild,  wenn 
man  die  Lebenserinnerungen  der  grossen  Aerzte  liest,  die  nicht  nur 
beide  Epochen,  die  naturphilosophische  und  naturwissenschaftliche,  in 
ihrer  Biographie  verknüpfen,  sondern  selbstschaffend  am  Webstuhl 
der  Zeit  gestanden  sind.  Den  vereinten  Anstrengungen  dieser  Männer 
ist  es  zu  danken,  dass  sich  in  der  deutschen  Heilkunde  eine  Revo- 


Einleitung-.  143 

lution  vollzog-,  welche  die  Throne  der  Spekulation  erzittern,  wanken, 
stürzen  Hess,  dass  eine  Umwertung  der  Beg-riife  folgte,  welche  die 
Schatten  des  Mittelalters  völlig  verjagte,  und  endlich  der  empirischen 
Forschung  jene  Eechte  gab,  die  ihr  immer  gebührt  hätten.  Das  Feuer 
des  Kampfes  ist  verglommen,  die  Wogen  sind  geglättet,  die  Söhne 
und  Enkel  wissen  es  kaum  mehr  zu  würdigen,  dass  der  ererbte  Boden, 
auf  dem  sie  stehen,  den  sie  in  Frieden  bebauen,  mit  der  Lebens- 
arbeit einer  Generation  gedüngt  ist,  die  alles,  was  sie  überkam,  opfer- 
mütig  in  die  Schanze  schlug  und  sich  von  Tag  zu  Tag  die  Geistes- 
freiheit selbst  erobern  musste.  Mit  welcher  Wucht  zwei  Weltan- 
schauungen aneinander  prallten,  mit  welcher  Schärfe  zwei  ganz  kon- 
träre Denkmethoden  ihre  Klingen  kreuzten,  spiegelt  sich  in  der 
Geistesbiographie  der  führenden  Männer  wieder;  in  der  psycho- 
logischen Analyse  dieser  inneren  Geschichte  sind  all  4ie  feineren 
Triebmomente  noch  von  dem  warmen  Hauch  des  Lebens  beseelt,  dort 
sieht  man  die  kapillaren  Kräfte  werden,  wachsen,  bis  sie  allmählich 
zum  breiten  starken  Strome  schwellen. 

Uns  fehlt  als  Epigonen  die  Plastik  des  selbst  Erlebten,  als 
geistigen  Schülern  die  kühle,  unbefangene  Kritik;  noch  ist  die  historische 
Perspektive  zu  kurz,  um  alle  Fäden,  die  sich  verwirrend  häufen,  bloss- 
zulegen,  um  jedes  Samenkorn,  das  unbewusst  der  kommenden  Grösse 
ausgestreut  worden,  in  seiner  fortwirkenden  Kraft  vollwertig  zu  er- 
kennen. Welche  Früchte  bereits  herangereift  sind,  was  von  Keimen 
entwicklungsfähig  war,  was  dagegen  frühzeitig  abstarb  oder  noch 
latent  geblieben  ist  —  all  das  wird  in  der  Geschichte  jedes  Spezial- 
zweiges  der  Medizin  im  einzelnen  dargelegt  werden.  Wir  begnügen 
uns  zur  Einführung,  den  Bildersaal  der  neuesten  Geschichte  zu  durch- 
wandeln und  wollen  es  versuchen,  die  markantesten  Züge  aus  der 
geistigen  Physiognomie  jener  grossen  Forscher  in  uns  aufnehmen, 
welche  den  Grund  zur  neuesten  Entwicklungsphase  gelegt  haben. 

Wenn  auch  die  naturwissenschaftliche  Aera  der  deutschen  Medizin, 
welche  in  den  vierziger  Jahren  anhebt,  ihr  erstes  Stadium  durch  die 
blosse  Uebernahme  der  positiven  Leistungen  der  Pariser  Schule 
signalisiert,  so  erfahren  dieselben  doch  schon  so  frühzeitig  eine  der- 
art selbständige  Umbildung,  eine  derart  breite  Ausgestaltung,  dass 
der  Schluss  berechtigt  erscheint,  es  müsse  der  Boden,  in  welchem  die 
fremden  Ideen  alsbald  Wurzeln  schlugen,  mit  wundersamen,  besonders 
entwicklungsfördernden  Kräften  ausgestattet  gewesen  sein.  Als  solche 
wäre  wohl  vor  allem  die  deutsche  Gründlichkeit  anzusprechen,  welche 
leider  Jahrhunderte  hindurch  in  sublimster  Abstraktion  ihren  Ziel- 
punkt suchte  und  nur  der  Leitung  bedurfte,  um  auf  fruchtbarem 
Gefilde  ihre  herrlichen  Vorzüge  vorteilhaft  entfalten  zu  können. 
Ein  zweites  ursächliches  Moment,  das  in  der  speziellen  Geschichte 
der  vorangegangenen  Epoche  stark  hervortritt,  liegt  darin,  dass 
die  Naturphilosophie  im  Wesen  dasselbe  anstrebte,  wie  die  exakte 
Forschung  der  Franzosen,  nämlich  die  Verknüpfung  der  Medizin 
mit  der  allgemeinen  Naturwissenschaft,  dass  nur  ihre  Methode 
verfehlt  war,  nicht  aber  ihre  Tendenz.  Niemals  wurde  dieselbe 
schöner  formuliert  als  durch  die  lapidaren  Worte  des  Naturphilosophen 
v.  Walther,  der  bereits  im  Beginne  des  19.  Jahrhunderts  den  Aus- 
spruch that:  „Die  Medizin  kann  wahre  Fortschritte  nur 
«ladurch  machen,  dass  die  ganze  Physik,  Chemie  und 
alle  Naturwissenschaften  auf  sie  angewendet  und  dass 


144  Max  Neuburger. 

sie  auf  die  gegenwärtig  erstiegene  Höhe  derselben  ge- 
stellt und  mit  ihren  glänzenden  Fortschritten  inUeber- 
einstimmung  gesetzt  werde."  Dieser  Satz  gilt  auch  heute 
noch  als  Glaubensbekenntnis,  freilich  mit  der  stillschweigenden  Vor- 
aussetzung, dass  der  Weg  zu  dem  vorschwebenden  Ideal  nur  durch 
die  naturwissenschaftliche  Methode  hinführt. 

Die  beiden  Ersten,  welche  allein  die  exakte  Methode  in  ihrer 
Bedeutung  erfassten  und  mit  der  Macht  ihrer  Persönlichkeit  auf 
weite  Kreise  überzeugend  wirkten,  waren  Johannes  Müller  (1801 — 
1858),  der  grösste  Physiolog  nach  Haller,  und  Joh,  Lucas  S  c  h  ö  n  1  e  i  n 
(1793 — 1864),  der  Schöpfer  der  deutschen  Klinik,  zwei  Forscher,  die 
in  ihrer  Jugend  noch  ganz  im  Bannkreis  der  Naturphilosophie  standen, 
im  reifen  Mannesalter  aber,  der  eine  auf  theoretischem,  der  andere 
auf  klinischem  Gebiete  das  Banner  der  Induktion,  des  Objektivismus 
entrollten. 

Der  Gegenstand,  dem  sich  Johannes  Müller  zuwandte,  die  Physio- 
logie, ist  wegen  der  verhältnismässigen  Einfachheit  der  Probleme  im 
Vergleich  zu  den  pathologischen  am  ehesten  geeignet,  Talent  und 
Forscherfleiss  durch  Erkenntnisse  zu  belohnen,  welche  an  Realität  den 
Gesetzen  der  Physik  gleichkommen.  In  der  That  lag  schon  eine 
nicht  geringe  Zahl  wichtiger  Einzelerfahrungen  vor,  welche  den  Wert 
der  exakten  Methode  erwiesen,  wie  die  bahnbrechenden  Arbeiten  von 
DöUinger,  Christian  Pander,  K.  E.  v.  Baer  in  der  Entwicklungslehre, 
die  grundlegenden  Versuche  über  die  Physiologie  der  Verdauung  von 
Tiedemann  und  L.  Gmelin,  die  unübertrefflichen  Leistungen  eines 
Purkyne  in  der  Gewebelehre  und  Sinnesphysiologie,  die  exakten 
Studien  eines  E.  H.  Weber  über  die  Gesetze  der  Blutbewegung,  über 
die  Mechanik  der  Gehörknöchelchen,  über  den  Tastsinn  u.  a.  Die 
geschichtsbildende  Grossthat  Joh.  Müllers  bestand  aber  darin,  dass  er 
in  seinem  berühmten  Handbuch  das  ganze  Gebiet,  wie  es  seit  Haller 
nicht  geschehen,  mit  seinem  universalen  Geiste  umfasste,  dass  er 
durch  konsequente  Anwendung  der  exakt  (mikroskopisch  und  experi- 
mentell) beobachtenden,  messenden,  wägenden  Methode,  mit  Benützung 
der  physikalisch-chemischen  Hilfsmittel  bis  an  die  Grenzen  des  Mög- 
lichen fortschritt,  und  dass  er  auch  die  praktische  Bedeutung  der 
Physiologie  und  Histologie  für  die  Erforschung  der  Krankheiten 
unwiderleglich  nachwies.  Das  Meisterwerk  über  die  Drüsen,  führte 
nicht  nur  die  von  Bichat  begonnene  Gewebelehre  um  ein  Bedeutendes 
weiter,  es  wurde  der  Ausgangspunkt  der  Zellenlehre;  das  Werk 
über  den  feineren  Bau  und  die  Formen  der  krankhaften  Geschwülste 
schuf  die  pathologische  Histologie,  regte  einen  Virchow  später  an,  auf 
gleichem  Wege  fortzufahren.  Was  Joh.  Müller  für  die  deskriptive, 
vergleichende  und  pathologische  Anatomie,  für  die  Histologie,  Embryo- 
logie, für  Physiologie  und  Pathologie  während  einer  relativ  kurzen 
Lebensspanne  geleistet  hat,  lässt  sich  noch  kaum  in  seiner  Gänze 
ermessen,  denn  zahllose  seiner  Anregungen  haben  späterhin  in  Form 
epochemachender  Leistungen  seiner  Schüler,  v.  Helmholtz,  du  Bois- 
Reymond,  v.  Brücke,  um  nur  die  Grössten  zu  nennen,  fortgewirkt 
und  der  neueren  deutschen  Medizin  den  Stempel  seiner  Methode 
aufgedrückt.  ^ 

Ueber  die  reformatorische  Thätigkeit  des  grossen  Klinikers,  der  J 
zur  Zeit  des  Altmeisters  der  Physiologie  wirkte,  haben  wir  fast  nur  ^ 
aus  begeistertem  Schülermund,  allerdings  sehr  beredte  Kunde,  denn 


Einleitung.  145 

die  wenigen  authentischen  Schriften,  die  Schönlein  hinterlassen  hat, 
gewähren  keinen  genügenden  Anhalt,  um  sich  ein  Bild  von  seiner 
grossen  Persönlichkeit  zu  macheu.  Er  gehörte  zu  jenen  grossen 
Aerzten,  welche  den  papierenen  Ruhm  für  nichtig  schätzen  und  nur 
im  Geist  und  Herzen  ihrer  Schüler  fortleben.  Allerdings  gemäss  dem 
Sprichwort  ,,ex  ungue  leonem",  liesse  sich  auch  aus  der  kleinen 
litterarischen  Hinterlassenschaft,  insbesondere  aus  den  20  Zeilen  über 
die  „Pathogenie  der  Impetigines",  welche  die  Entdeckung  des  Favus- 
pilzes  enthalten,  der  Schluss  ziehen,  dass  ihr  Verfasser  die  natur- 
wissenschaftliche Methode  mit  Erfolg  anzuwenden  verstanden  hat. 
Höher  steht  aber  das  Zeugnis  hervorragender  Eepräsentanten  der 
neueren  Medizin,  welche  begeistert  anerkannten,  dass  sie  ihr  Bestes 
Schönlein  verdanken,  dass  er  der  Erste  war,  der  die  Auskultation 
und  Perkussion,  die  chemische  und  mikroskopische  Untersuchung  am 
Krankenbette  verwendete,  um  Diagnosen  zu  stellen.  Mit  feinem  Ohr 
für  alles  Entwicklungsrähige  begabt,  nahm  er  die  fremden  Errungen- 
schaften auf,  um  sie  durch  eigene  Arbeit  zu  erweitern,  sichtlich  be- 
müht, die  Medizin  nach  dem  Muster  der  Naturwissenschaft  umzu- 
gestalten. Freilich  machte  auch  Schönlein  zuerst  den  Yerpuppungs- 
zustand  der  „naturhistorischen"  Richtung  durch  (Avie  aus  veröffent- 
lichten Kollegienheften  hervorgeht),  aber  weder  diese  jugendlichen 
spekulativen  Anwandlungen,  die  während  seiner  Würzburger  Thätig- 
keit  noch  vorherrschen,  noch  die  spätere  exakte  Richtung  (in  Zürich 
und  Berlin)  verleiteten  ihn,  die  praktischen  Zwecke  hintanzusetzen. 
Selbst  pathologischer  Anatom  im  Beginn  seiner  Laufbahn,  späterhin 
der  pathologischen  Chemie  und  Mikroskopie  eifrigst  zugewendet,  war 
ihm  doch  stets  die  Krankenbeobachtung  das  Höchste.  Den  klarsten 
Ausdruck  fand  diese  Tendenz  nicht  nur  in  seiner  Lehrthätigkeit, 
indem  Schönlein  seinen  Schülern  Gelegenheit  gab,  an  einem  reichen 
Material  den  Verlauf  der  Krankheiten  zu  studieren  und  Einsicht  in 
die  Gesetzmässigkeit  des  Krankheitsprozesses  zu  erlangen, 
sondern  auch  darin,  dass  er  die  Individualität  des  Kranken 
in  der  Therapie  in  erster  Linie  berücksichtigte  und  die  klinische 
Erfahrung  zur  obersten  Richterin  erhob,  welcher  die  Naturwissen- 
schaften untergeordnet  sind.  In  diesem  Sinne  ist  er  als  Begründer 
der  modernen  klinischen  Methode  anzusehen,  deren  Souve- 
i'änität  gegenüber  Seziersaal  und  Laboratorium  nicht  zufälligerweise 
-erade  in  seinem  Nachfolger  (v.  Frerichs)  und  in  seinen  Schülern  (be- 
sonders V.  Leyden)  so  warme  Verteidiger  gefunden  hat. 

Die  von  Joh.  IVIüller  und  Schönlein  ins  Leben  gerufene  Schule 
bedurfte  aber,  um  zur  vollen  Entwicklung  zu  gelangen,  einer  Unter- 
stützung durch  Gleichgesinnte  und  eines  kräftigen  Einschlags;  denn 
ihre  Pathologie  setzte  sich  mehr  aus  chronikartig  aneinandergereihten, 
als  kausal  verknüpften  Thatsachen  zusammen;  ihre  Auskultation  und 
Perkussion  entbehrte  wirklich  wissenschaftlicher,  d.  h.  physikalisch- 
anatomischer Grundlagen  und  hatte  das  französische  Vorbild  zwar  er- 
reicht, aber  nicht  übertroffen :  ihre  Therapie  haftete  noch  zum  grössten 
Teile  am  Ueberkommenen,  beschränkte  höchstens  die  überlieferte 
Polypragmasie  früherer  Epochen,  ohne  den  Mut  zu  einem  Bruch  mit 
der  Tradition  zu  finden. 

All  diese  Postulate  zu  erfüllen,  das  bildete  die  Mission  der 
neueren  Wiener  Schule;  ihre  Führer  entledigten  sich  derselben 
in   solchem   Grade,    dass  Leichenhof  und   Klinik   des   ,. Allgemeinen 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  10 


146  Max  Neuburger. 

Krankenhauses"  dezennienlang-  der  Mittelpunkt  wurde,  auf  den  die 
Blicke  der  gesamten  medizinischen  Welt  gerichtet  waren,  dass  Wien 
die  Stätte  wurde,  wohin  wissbegierige  Schüler  und  erprobte  Forscher 
ebenso  wie  hilfesuchende  Kranke  aus  dem  ganzen  Erdkreis  pilgerten. 
WasRom  für  den  Künstler,  war  Wien  fürdenMediziner, 
erst  dort  empfing  er  die  rechte  Weihe! 

Der  Glanz  dieser  Schule  beruhte  auf  dem  harmonischen  Zu- 
sammenwirken zweier  Forscher,  welche  schon  in  jungen  Jahren  ihr 
grosses  Ziel  vor  Augen  hatten  und  unbeirrt,  mit  überragender  Be- 
fähigung, mit  opferfreudiger  Ausdauer  und  seltener  Denkschärfe  die 
Bahn  der  echten,  voraussetzungslosen  Naturwissenschaft  bis  an  ihr 
Lebensende  verfolgten:  Karl  v.  Rokitansky  (1804 — 1878)  und 
Josef  Skoda  (1805—1881). 

Der  gemeinschaftliche  Wesenszug  der  Beiden  ist  nicht  allein 
darin  zu  suchen,  dass  sie  ausgehend  von  den  Leistungen  der  Franzosen 
das  Thatsachenmaterial  unendlich  bereicherten,  und  die  Beschreibung 
der  Einzelfakten  mit  minutiöser  Genauigkeit  verbesserten,  sondern 
hauptsächlich  darin,  dass  sie  bemüht  waren,  den  Zusammenhang  der 
pathologischen  Erscheinungen,  die  Gesetze  ihres  Zustandekommens 
aufzudecken.  Hierzu  war  die  gegenseitige  Durchdringung  der  Klinik 
und  der  pathologischen  Anatomie  unumgänglich  nötig,  die  eine  fand 
in  der  anderen  ihre  Ergänzung,  ihre  Führungslinie;  galt  es  doch  vor 
allem  den  Obduktionsbefund  und  die  Krankengeschichte  in  reale 
Uebereinstimmung  zu  bringen,  um  dahin  zu  gelangen,  einerseits  am 
Lebenden  durch  physikalische  Kennzeichen  die  ana- 
tomischen Veränderungen,  andererseits  das  klinische  Bild 
der  Krankheit  aus  dem  Leichenbefund   herauszulesen. 

Das  reiche  Material,  welches  Rokitansky  zur  Verfügung  stand, 
bot  ihm  zunächst  Gelegenheit  zum  Nachweis,  dass  sich  nach  einzelnen 
Symptomengruppen  stets  bestimmte  anatomische  Läsionen  zeigen. 
Das  Wechselverhältnis  derselben  festzustellen,  erforderte  eine  rastlose 
und  mühsame  Forscherthätigkeit.  Bedeutet  schon  die  Zurückführung 
der  mannigfaltigen  anatomischen  Bilder  auf  wenige  Typen  eine 
Riesenleistung,  welche  um  so  bewunderungswürdiger  ist,  als  brauchbare 
Vorarbeiten  nur  zum  geringsten  Teile  vorlagen  und  der  Meister 
sogar  genötigt  war,  erst  eine  neue,  präzis  charakterisierende  Sprache 
als  wissenschaftliches  Ausdrucksmittel  zu  schaffen,  so  bildete  für 
Rokitansky  dieser  ungeheuere  Reichtum  an  aufgestapelten  Er- 
fahrungen nur  das  Mittel,  um  mit  prüfendem  Scharfsinn  die  Zu- 
sammengehörigkeit, die  Entwicklungsstufen  und  die  Umwandlungs- 
stadien der  anatomischen  Veränderungen  zu  verfolgen.  Erst  die 
Vergleichung  verschiedener  Entwicklungsstufen  desselben  Prozesses 
in  zahllosen  Leichenöffnungen  Hess  aus  der  Chronik  der  Obduktions- 
befunde eine  wirkliche  Geschichte  des  Krankheitsprozesses  hervor- 
gehen und  die  Möglichkeit  einer  künstlichen  Beseitigung  oder  natür- 
lichen Ausgleichung  der  Krankheit  erörtern. 

Wurde  Rokitansky  durch  die  Fülle  seiner  Erfahrungen  (jähr- 
lich an  2000  Sektionen),  durch  die  Schärfe  seiner  Beobachtung,  durch 
die  Plastik  seiner  klassischen  Darstellung  der  Schöpfer  der  modernen 
pathologischen  Anatomie,  so  wurde  sein  Handbuch  der  pathologischen 
Anatomie  dadurch  zum  Markstein  der  medizinischen  Wissenschaft, 
dass  es  die  pathologische  Anatomie  zu  einer  anatomischen  Pathologie 


Einleitung.  14^ 

umgestaltete  und  die  Erforschung  der  natürlichen  Heil- 
Vorgänge  (Verödung  der  Gewebe),  sowie  dieG  ranzen  des  ärzt- 
lichen Könnens  in  den  Kreis  der  Betrachtung  zog.  Nicht  nur  in 
der  Theorie,  sondern  auch  in  der  Praxis  stürzten  die  Träume  in 
Nichts  zusammen. 

Bevor  wir  die  für  die  Wiener  Schule  praktisch  so  bedeutsamen 
Konsequenzen  des  extrem  anatomischen  Standpunkts  in  Erwägung 
ziehen,  wollen  wir  darauf  verweisen,  dass  derselbe  auf  die  Dauer 
einem  so  weitblickenden  und  universal  begabten  Denker,  wie  es 
Rokitansky  war,  nicht  allein  genügen  konnte.  Das  Ideal  einer  physio- 
logischen Pathologie  vor  Augen,  erkannte  er,  dass  die  pathologische 
Anatomie  zwar  den  wichtigsten,  aber  doch  nur  einen  Baustein  der 
Pathologie  abgiebt  und  einer  notwendigen  Ergänzung  bedarf,  welche 
die  Kette  der  anatomischen  Querschnitte  erst  zum  Begriff  des  kranken 
Lebens  zusammenschliesst.  Die  Lücke,  welche  späterhin  eine  hoch- 
entwickelte Mikroskopie  und  Chemie,  namentlich  aber  das  Experiment 
zu  verkleinern  vermochte,  suchte  Eokitansky  mit  Ideen  auszufüllen, 
welche  sein  schöpferischer  Geist  zwar  mit  gewohnter  Denkschärfe,  aber 
in  zu  kühner  und  voreiliger  Generalisation  ersonnen  hatte.  Aehnlich 
wie  Bichat  (in  der  letzten  Zeit  seines  Lebens)  und  später  Andral 
schien  es  auch  Rokitansky,  dass  der  exklusive  Organizismus ,  die 
Solidarpathologie,  weder  die  klinischen  Allgemeinerscheinungen,  noch  die 
Konstitutionsanomalien,  noch  die  Spezifität  der  Krankheitsvorgänge 
genügend  erkläre.  Im  Hinblick  auf  die  scheinbar  sicher  gestellte 
Thatsache,  dass  alle  normalen  und  pathologischen  Neubildungen  aus 
dem  Plasma  hervorgehen,  mit  Rücksicht  auf  Metastasen  und  andere 
Erscheinungen,  kam  er  dahin,  im  Blute  die  häufigste  primäre 
Quelle  der  Krankheiten  zu  vermuten,  um  so  mehr  als  die  kaum 
zurückgeschlagene  alte  Humoralpathologie  und  die  von  Andral,  Ga- 
varret  u.  a.  gepflegte  chemische  Blutuntersuchung  nicht  ohne  E!n- 
druck  auf  seine  Denkrichtuug  bleiben  konnten.  Es  entstand  die 
bekannte  „K rasenlehre"',  welche  gemeinhin  mit  einer  Nuance 
von  Tadel  als  Beweis  der  Spekulationssucht  eines  der  grössten 
Forscher  aller  Zeiten  angeführt  wird,  in  Wahrheit  aber  mehr  für 
die  Lückenhaftigkeit  der  damaligen  Hilfswissenschaften  spricht,  welche 
selbst  einen  Denker,  wie  Rokitansky,  im  Drange  nach  Abgeschlossen- 
heit auf  die  abschüssige  Bahn  der  Hypothesen  trieb.  Für  die  Ge- 
staltung der  wissenschaftlichen  Medizin  erwies  sich  übrigens  die 
Krasenlehre  nicht  ganz  nutzlos,  weil  sie  sogar  spekulative  Köpfe  ans 
anatomische  Denken  gewöhnte  und  geistig  gewachsene  Kritiker  an- 
regte, auf  exakten  Wegen  die  AVidersprüche  zu  lösen,  die  den 
Anlass  zu  ihrer  Begründung  gegeben  hatten. 

Immerhin  ist  es  eine  interessante  und  einzig  dastehende  Er- 
scheinung, dass  sich  der  Mitstreiter  Rokitansky's  mehr  Nüchternheit 
im  Urteil  bewahrte  als  der  Anatom,  dass  Josef  Skoda  seinem  genialen 
Freunde  überallhin  folgte,  nur  nicht  ins  Gebiet  einer  noch  so  geist- 
reichen Spekulation,  Ein  Kliniker,  der,  zumal  in  damaliger  Zeit,  eine 
solche  Feuerprobe  bestand,  muss  schon  deshalb  allein  als  leuchtendes 
Beispiel  unwandelbarer,  echt  naturwissenschaftlicher  Denkweise  be- 
zeichnet werden.  Skodas  Auftreten  bedeutet  aber  auch  sonst  eine 
tiefe  Cäsur  im  Gang  der  Geschichte;  wie  Kant  die  metaphysischen 
Systeme  zerschmetterte  und  die  Grenzen  der  Erkenntnis  feststellte, 
so  zermalmte  Skodas  Kiitik   die   hohlen  Theoreme  und  beleuchtete 

10* 


148  Max  Neuburger. 

die  Grenzen  des  ärztlichen  Könnens.  Durch  ihn  wurde  die  grosse 
Revision  der  Fakten  unerbittlich  zu  Ende  geführt  und  indirekt  die 
Neuerrichtung  der  Therapie  auf  festeren  Grundlagen  angebahnt. 

Skodas  Meisterleistungen  gingen  den  Forschungen  Rokitanskys 
parallel.  Wie  dieser  knüpfte  auch  er,  schon  in  Jünglingsjahren,  an 
die  Pariser  Schule  an,  indem  er  die  Angaben  eines  Corvisart,  Laennec, 
Piorry,  Bouillaud  gewissenhaft  nachprüfte,  verbesserte  und  erweiterte. 
Aehniich  aber,  wie  es  Rokitansky  glückte,  die  Fülle  der  i)athologisch- 
anatomischen  Bilder  auf  wenige  Grundtypen  zurückzuführen,  so  ge- 
lang es  Skoda,  die  komplizierten  Beschreibungen  des  Perkussions- 
schalls dadurch  zu  vereinfachen,  dass  er  vier  verschiedene  Skalen 
(nämlich  vom  vollen  zum  leeren,  vom  hellen  zum  dumpfen,  vom  tym- 
panitischen  zum  nicht  tympanitischen,  vom  hohen  zum  tiefen  Schall) 
aufstellte.  Gänzlich  überholte  er  endlich  die  Franzosen  dadurch,  dass 
er  nicht  bei  der  blossen  Beschreibung  stehen  blieb,  sondern  zur  Kau- 
salforschung überging,  d.  h.  dass  er  sich  nicht  damit  begnügte,  sym- 
ptomatologisch-empirisch  anzugeben,  bei  welchen  Affektionen  gewisse 
Geräusche  auftreten,  sondern  diephysikalischenEntstehungs- 
gründe  der  Schallqualitäten  mittels  akustischer  Experimente  und 
durch  das  Studium  der  anatomischen  Verhältnisse  zur  vollkommenen 
Klarheit  aufhellte.  Während  die  Vorgänger  die  akustischen  Phäno- 
mene einfach  registrierten,  war  Skoda  der  Erste,  der  klinisches  Bild 
und  Leichenbefund  in  Uebereinstimmung  setzte,  der  aus  dem  Perkus- 
sionsschall und  der  Auskultation  die  anatomischen  Veränderungen, 
ja  sogar  die  einzelnen  Stadien  ihrer  Entwicklung  erkennen  lehrte. 
Erst  dadurch  wurde  die  physikalische  Diagnostik  wahrhaft  durch- 
geistigt und  von  der  Stufe  der  Empirie  zu  einer  Wissenschaft 
erhoben. 

Was  Rokitansky  am  Seziertische  zutage  gefördert,  das  verwertete 
Skoda  in  befruchtender  Weise  am  Krankenbette;  mit  vollendeter 
Meisterschaft  wusste  er  namentlich  die  Diagnostik  der  Herz-  und 
Lungenkrankheiten  fast  auf  die  Höhe  mathematischer  Sicherheit  zu 
bringen.  Im  Jahre  1839  erschien  als  Frucht  einer  Reihe  von  scharf- 
sinnigen Vorarbeiten  jenes  klassische  epochale  Werk,  welches  trotz 
seines  geringen  Umfangs,  trotz  seiner  schmucklosen  Darstellungsweise, 
durch  seinen  Inhalt  einen  Wendepunkt  in  der  Geschichte  bedeutet :  die 
Abhandlung  über  Perkussion  und  Auskultation.  Spätere 
Forschungen  haben  in  Einzelheiten  manches  berichtigt  oder  hinzu- 
gefügt, an  den  Grundfesten,  welche  Skodas  rastloser  Fleiss,  scharfe 
Beobachtungsgabe,  schöpferische  Gestaltungskraft  und  namentlich  sein 
stoisches  Festhalten  an  der  Wahrheit  errichtet  hatte,  vermochte 
niemand  zu  rütteln. 

Die  so  hoch  entwickelte  physikalische  Diagnostik  gestattete 
Skoda  aber  nicht  bloss  die  Krankheiten  in  ihren  Phasen,  unabhängig 
von  den  subjektiven  Symptomen  zu  verfolgen,  sie  schien  ihm  auch  der 
einzig  exakte  Prüfstein  der  Therapie  zu  sein.  Diesen  Prüfstein  nützte 
er  im  naturwissenschaftlichen  Sinne  so  weit  als  möglich  aus,  um 
über  den  Wert  der  herkömmlichen  dogmatischen  Behandlungsweisen 
ins  Reine  zu  kommen.  Da  sich  hierbei  die  Wertlosigkeit  der  da- 
maligen Polypragmasie  ergab,  statt  dessen  aber  die  Bedeutung  der 
Naturheilung  bei  einzelnen  Krankheiten  umso  deutlicher  hervor- 
trat, so  reduzierte  Skoda  thatsächlich  die  therapeutischen  Massnahmen 
bis  auf  ein  Minimum  und  bestrebte  sich  nach  mechanisch-anatomischen 


Einleitung.  149 

Prinzipien,  gewissen  cliirurgischen  Eingriffen  fz.  B.  der  Punktur 
seröser  Höhlen)  mehr  Eingang  zu  verschaffen.  Freilich  musste  diese 
weise  Beschränkung  im  Lichte  der  Zeit  als  Indifferentismus  er- 
scheinen; wenn  aber  auch  nicht  geleugnet  werden  soll,  dass  von 
Skodas  Klinik  ein  tiefgehender  Zweifel  an  der  Eealität  der  aktuellen 
Therapie  verbreitet  wurde,  so  muss  doch  die  geschichtliche  Wahrheit 
festgestellt  werden,  dass  nicht  der  Meister  selbst,  sondern  nur  einige 
seiner  Schüler,  besonders  Dietl  und  Hamernik,  in  Schrift  und  Wort 
jenen  zersetzenden  Standpunkt  formulierten,  der  als  „therapeutischer 
Nihilismus"  bezeichnet  wird,  ein  Standpunkt,  der  wesentlich  durch 
die  wirklichen  oder  vermeintlichen  Kurerfolge  der  Homöopathen  und 
des  Wasserapostels  Vincenz  Priessnitz  beeinflusst  wurde,  da  man  in 
diesen  eben  nur  den  unbewusst  erbrachten  Beweis  der  universellen 
Bedeutung  der  Naturheilung  erblickte. 

So  gross  aber  das  Verdienst  ist,  welches  in  der  Proklamation  der 
Naturheilkraft  liegt,  so  gründlich  der  Augiasstall  der  Polj'pragmasie 
durch  den  eisernen  Kehrbesen  eines  Dietl,  eines  Hamernik  rein  gefegt 
wurde,  die  geschichtliche  Entwicklung  ist  über  diesen  Eadikalismus 
hinweggeschritten.  Abgesehen  davon,  dass  diese  Männer  das  Wesen 
des  ärztlichen  Wirkens  voreilig  mit  der  Naturforschung  identifizierten 
und  die  humane,  die  psychische  Seite  des  Berufs  völlig  ignorierten, 
abgesehen  davon,  dass  sie,  irregeleitet  von  anatomischen  Ontologien 
die  individuelle  Behandlung,  die  hygienisch- diätetische  Beeinflussung 
des  Gesamtorganismus  gänzlich  hintanstellten,  haben  sie  mit  ihrer 
Forderung  nach  einer  rein  wissenschaftlichen,  mathematisch  aus  der 
Pathologie  deduzierten  Therapie  zwar  ein  Postulat  für  die  Zukunft 
ausgesprochen,  aber  die  historisch  erhärtete  Thatsache  verkannt,  dass 
die  klinische  Erfahrung  nicht  nur  den  „rationellen"  Eichtungen  sehr 
oft  vorausläuft,  sondern  dieselben  auch  überdauert  und  jedenfalls 
die  höchste  Eichterin  über  Wert  oder  Unwert  von  Heilmethoden 
bleibt.  Darin  liegt  kein  Widerspruch  mit  dem  Streben  der  Medizin, 
die  Kunst  in  eine  Wissenschaft  umzugestalten,  denn  mag  man  der 
Therapie  einen  selbständigen  Entwicklungsgang  zuerkennen  oder  sie 
bloss  als  Anhang  der  Pathologie  betrachten,  mag  man  die  Deduktionen 
aus  der  Pathologie  oder  die  Empirie  höher  stellen,  die  letzten  Gesetze 
schöpft  sie  in  jedem  Falle  ausschliesslich  aus  einer  mit  peinlichster 
Kritik  ausgebildeten  induktiven  Methode,  die  am  Krankenbette  ihren 
Ausgangspunkt  nimmt. 

Es  waltete  daher  ein  besonders  günstiges  Geschick  über  der 
Wiener  Schule,  als  sich  dem  Kreise  ihrer  Mitglieder  ein  Kliniker  zu- 
gesellte, der  trotz  strengster  Verfolgung  des  anatomischen  Gedankens, 
trotz  anerkannter  diagnostischer  Meisterschaft  das  Heilen  an  sich, 
als  höchstes  Ziel  der  medizinischen  Wissenschaft  hinstellte  und  mit 
dem  Takte  tiefer  Menschenkenntnis  die  Mitte  zwischen  therapeutischem 
Nihilismus  und  doktrinärer  Polypragmasie  einzuhalten  verstand  — 
J.  V.  Oppolzer  (1808—1871).  Als  klinischer  Lehrer  ersten  Eanges, 
als  humaner  Arzt  von  Weltruf,  hat  er  zum  Euhme  des  medizinischen 
Wiens  nicht  weniger  beigetragen,  als  das  Dioskurenpaar  Eokitansky  und 
Skoda,  zu  welchem  er  durch  seine  Ausgleichsbestrebungen  zwischen 
Wissenschaft  und  Leben  in  einem  gewissen  Gegensatz  steht. 

Der  exakt  anatomische  Gedanke  in  Form  der  Lokaldiagnose  und  Lokal- 
therapie kam  in  der  "Wiener  Schule  sehr  bald  auch  in  der  Chiriirgie  (Schuh), 


150  Wax  Neuburger. 

in  der  Dermatologie  (Hebra),  in  der  Augenheilkunde  (Jäger,  Arlt),  später- 
hin in  der  Otologie  und  in  den  neugeschafFenen  Disziplinen  der  Laryngologie 
und  B,hinologie  zur  praktischen  Durchführung. 

Die  reichen  Anregungen  der  Wiener  Meister  fanden  nach  anfäng- 
lichen Hindernissen  seit  den  vierziger  Jahren  auch  in  Deutschland 
begeisterte  Aufnahme.  Was  Schönlein  begonnen,  wurde  in  ziel- 
bewusster  Arbeit  durcli  eine  Reihe  genialer  junger  Forscher  zu  Ende 
geliihrt,  welche  mit  kühnen  Axtschlägen  die  letzten  Bollwerke  der 
naturphilosophischen  und  naturhistorischen  Schule  zerstörten  und  der 
naturwissenschaftlichen  Methode  Eingang  in  die  Medizin 
erzwangen. 

Als  Nachzüglern,  welche  schon  sichere  AVegzeichen  vorfanden, 
eröffnete  sich  ihnen  eine  Bahn  aufsteigenden  Fortschritts,  die  nicht 
bloss  in  der  Reform  der  deutschen  Heilkunde,  sondern  in  der  Be- 
gründung der  modernen  Heil  Wissenschaft  auf  naturwissenschaftlicher 
Grundlage  ihr  Ziel  gefunden  hat.  Trotzdem  aber  nur  dieses  eine 
Ziel  vorschwebte,  lassen  sich  anfangs  doch  drei  Richtungen  deutlich 
unterscheiden. 

Der  Gründer  der  ersten  dieser  Richtungen,  der  sogenannten 
physiologischen  Schule  war  K.  A.  Wunderlich  (1815 — 1877j, 
ein  universaler  Denker  und  hervorragender  Kliniker,  der  zuerst  in 
Tübingen,  später  in  Leipzig  wirkte.  In  Gemeinschaft  mit  Griesinger, 
K.  V.  Vierordt  und  dem  Chirurgen  Roser  plante  er,  anknüpfend  an 
die  Tendenzen  der  Wiener  Schule  eine  Umgestaltung  der  Heilkunst 
nicht  allein  durch  pathologische  Anatomie  und  physikalische  Diagnostik, 
sondern  auch  durch  den  engen  Anschluss  an  die  Gesetze  der  Physio- 
logie. Auf  dieser  breiten  Basis  sollte  eine  phj-siologische  Pathologie 
aufgebaut  werden,  von  der  er  sich  wenigstens  in  der  ersten  Zeit  des 
Sturms  und  Drangs  versprach,  dass  sie  ausschliesslich  die  Richtschnur 
für  eine  rationelle  Therapie  abgeben  könne. 

Begreiflicherweise  konnte  Wunderlich  dieses  höchste  Problem 
nicht  lösen,  und  so  scharf  er  anfangs  in  seinem  ,.Archiv  für  physio- 
logische Heilkunde"  die  alte  unwissenschaftliche  Heilkunst  bekämpfte, 
am  Schlüsse  seiner  Laufbahn  kehrte  er  nach  bedeutenden  Wandlungen 
in  seinen  Anschauungen  in  den  Hafen  der  empirischen  Therapie 
zurück,  für  welche  er  allerdings  besonders  in  der  klinischen 
Thermometrie  ein  bewährtes  Kriterium  auffand.  Immerhin  trug 
Wunderlich  vieles  dazu  bei,  dass  die  rohe  Empirie  durch  eine  Er- 
fahrung höherer  Art  verdrängt  wurde,  und  eine  kritische  Unter- 
suchungsmethode in  Aufnahme  kam,  welche  die  Wirkung  der  Heil- 
mittel auf  einzelne  pathologische  Phänomene  oder  Funktionsstörungen 
rationell  prüfte.  In  vollem  Ausmass  gelang  es  ihm  hingegen,  die  exakt 
naturwissenschaftlichen  Prinzipien  in  der  Theorie  zur  Anwendung 
zu  bringen,  wovon  sein  Handbuch  der  Pathologie  und  Therapie  ein 
glänzendes  Zeugnis  liefert. 

Von  grösstem  Werte  war  es  namentlich,  dass  Wunderlich  die 
Krankheitsprozesse  in  ihrem  Werden  und  Ablauf  studierte  und  in- 
folge funktioneller  Analyse  die  anatomischen  Ontologien  aufs  schärfste 
bekämpfte.  Klinisch  drückte  sich  diese  Auffassung  in  einer  vor- 
wiegend exspektativen  und  individualisierenden  Thera- 
pie aus. 

Gleichzeitig  und  anfaugs  im  freundliclien  Verhältnisse  zur  physio- 


Einleitung.  151 

logischen  entwickelte  sich  unter  der  Aegide  des  Anatomen  Jakob 
Henle  (1809 — 1885)  eine  zweite  Richtung,  „die  rationelle  Medi- 
zin", der  aber  nur  eine  kurze  Blüte  beschieden  war.  "Was  AVunder- 
lich  im  Beginne  seiner  Laufbahn  für  die  Therapie  gefordert,  eine 
wissenschaftliche  Begründung  durch  Deduktion,  das  suchte  Henle 
in  der  mit  K.  v.  Pfeufer  herausgegebenen  „Zeitschrift  für  rationelle 
Medizin",  in  seineu  „pathologischen  Untersuchungen",  und  in  seinem 
berühmten  „Handbuch  der  rationellen  Pathologie"  (1846 — 1853)  auch 
auf  die  Pathologie  auszudehnen.  Mit  weitem  philosophischem  Blick 
begabt,  auf  einer  durchdringenden  Kenntnis  der  anatomisch- physio- 
logischen Hilfsfächer  fussend,  schöpferisch  auf  verschiedenen  Arbeits- 
gebieten, glaubte  Henle  schon  die  Zeit  herangebrochen,  in  der  die 
Heilwissenschaft  im  stände  sei,  „die  physiologischen  Thatsachen, 
welche  die  Beobachtung  des  kranken  Körpers  zu  Tage  gefördert 
hat,  nebst  den  Theorien  und  Hypothesen,  zu  denen  sie  Anlass  gaben, 
in  eine  systematische  Form  zusammenzufügen.  Wie  die  übrigen 
Naturwissenschaften,  solle  auch  die  Heilwissenschaft,  so  rasch  wie 
möglich,  von  der  rein  empirischen  Forschung  zum  Verständnis  des 
kausalen  Zusammenhangs  übergehen,  zur  rationellen  Erkenntnis, 
wozu  ausser  Induktion  und  Experiment  auch  die  Hypo- 
these in  Anwendung  zu  bringen  sei."  Diese  rationelle  natui^- 
\vissenschaftliche  Methode,  für  welche  Henle  eintritt,  soll  die  Mitte 
halten  zwischen  der  empirischen  und  der  philosophischen,  von  welch 
letzterer  sie  sich  darin  unterscheidet,  dass  sie  nicht  von  einem 
obersten  aprioristischen  Grundprinzip,  sondern  von  Thatsachen  aus- 
geht, deren  Zusammenhang  induktiv,  besonders  durch  das  Experiment 
aufgedeckt  worden  ist.  Henle  hat  nicht  allein  das  physiologisch- 
pathologische Wissen  seiner  Zeit  in  geradezu  bestechender  Weise  zu 
einer  höheren  Einheit  verwoben,  sondern  auf  dem  Wege  der  Hypo- 
these, die  er  sehr  intensiv  anzuwenden  liebte,  manche  Erkenntnis  er- 
langt, welche  den  heuristischen  Wert  seiner  Denkmethode  in  das 
hellste  Licht  rückt. 

Schon  im  Jahre  1840  lehrte  er,  auf  Grund  der  Entdeckungen  von  de  la 
Tour  und  Schwann  (über  die  Gärung),  dass  die  ansteckenden  Krankheiten 
durch  Ein^yanderung  kleinster  Organismen  entstehen  und  gab  —  was  be- 
sonders merkwürdig  bleibt  —  die  noch  heute  gültigen  Kriterien  an,  welche 
erfüllt  werden  müssen,  damit  man  einen  Mikroorganismus  mit  voller  Sicher- 
heit als  Krankheitserreger  ansprechen  dürfe.  Gerade  aber  die  Ent- 
wicklung der  Bakteriologie  hat  wieder  bewiesen,  dass  die 
Hypothese,  welche  antizipativ  im  Kopfe  eines  genialen 
Denkers  unter  dem  Bilde  der  Intuition  entsteht,  zwar 
zündend  wirken,  ja  ganz  neue  Forschungsgebiete  eröffnen 
kann,  immer  aber  erst  wieder  der  Bestätigung  und  der 
empirischen  Nachweise  bis  ins  Einzelne  bedarf,  um  für  die 
Wissenschaft  Bedeutung  zu  erlangen  oder  gar  in  die  Praxis 
umgesetzt  werden  zu  können.  Einem  Denker  wie  Henle  war  es 
zwar  gegönnt,  selbst  aus  ungenügendem  Erfahrungsmaterial  oberste  Leitsätze 
zu  münzen,  welche  früher  unverstandene  Thatsachen  beleuchteten  und  un- 
vermittelte Kenntnisse  in  Zusammenhang  brachten,  aber  trotzdem  blieb  es 
hiedurch  der  Wissenschaft  nicht  erspart,  die  Folgerungen  dieser  obersten 
Sätze  erst  an  der  Hand  tausendtältiger  Erfahrung  auf  ihren  Wahrheits- 
gehalt zu  prüfen. 


162  Max  Neubnrger, 

Wenn  uns  heute  der  heuristische  Wert  einleuchtet  und  die  Hypo- 
these wie  in  allen  anderen  Naturwissenschaften  mit  Vorsicht  ausge- 
nützt wird,  so  ist  es  doch  zu  billigen,  dass  Henles  „rationelle  Medizin," 
die  sicherlich  durch  eine  grössere  Anhängerschaft  wieder  in  die  Netze 
der  Naturphilosophie  verstrickt  worden  wäre  und  thatsächlich  zu 
Einseitigkeiten,  wie  es  die  Neuropathologie  von  Spiess  war,  geführt 
hat,  von  wachsamen  Zeitgenossen  als  eine  Gefahr  bekämpft  wurde. 
Dies  geschah  durch  Wunderlich,  besonders  aber  durch  jene  dritte 
Gruppe  von  ausgezeichneten  Forschern,  welche  der  Schule  Joh.  Müllers 
und  Schönleins  entstammten,  mit  ängstlicher  Vermeidung  voreiliger 
Abstraktion  und  Generalisation,  bloss  in  der  nüchternen  induktiven 
kritisch-empirischen  Methode  ihr  Leitmotiv  erblickten  und  alles 
daran  setzten,  um  die  Stützpfeiler  der  medizinischen  Wissenschaft  mög- 
lichst tief  zu  senken,  die  Grundfesten  möglichst  weit  auszudehnen. 
Diese  dritte  Richtung  führte  bezeichnenderweise  keinen  speziellen 
Namen,  weil  sie  keine  doktrinäre  Einmischung  von  aussen  zuliess,  keinem 
Einzelbezirke  der  Forschung  die  Souveränität  zugestand,  weder  dem 
„Mechanismus"  (Lotze),  noch  dem  Chemismus  (Liebig)  die  Herrschaft 
einräumte,  sondern  rastlos,  ohne  nach  Abschluss  zu  drängen,  die 
Natur  des  Menschen  in  allen  Gestaltungen  des  gesunden  und  kranken 
Lebens  zu  erforschen  strebte  und  daher  keine  Thatsache,  keine 
naturwissenschaftliche  Methode,  kein  technisches  Hilfsmittel  unge- 
nützt Hess.  Wegen  ihrer  mit  Gründlichkeit  gepaarten  Allseitigkeit 
musste  ihr  der  Sieg  zufallen,  musste  ihr  der  stolze  Triumph  zu 
teil  werden,  alle  Dissonanzen  ausgesöhnt,  alle  Systeme  und  Schulen 
überwunden,  Vergangenheit  und  Gegenwart  wieder  verknüpft,  der 
Zukunft  aber  unvergängliche  Bausteine  gesichert  zu  haben.  Ihr 
Führer  und  geistige  Mittelpunkt  wurde  Rudolf  Virchow  (1821 — 
1902).  Er  war  der  Genius,  dessen  Erscheinen,  dessen  erlösende 
That  Johannes  Müller  prophetisch  mit  den  Worten  ankündigte: 
„Der  Genius,  der  auf  Grundlage  philosophischer  Vor- 
bildung, der  Naturwissenschaften,  der  Geschichte  der 
Medizin,  der  Anatomie  und  Physiologie  fussend,  selbst 
Untersucher  in  der  chemischen,  pathologisch-ana- 
tomischen und  mikroskopischen  Analyse  der  patho- 
logischen Formen  ist  und  eine  auf  die  Physiologie 
und  die  pathologische  Anatomie  gegründete,  dem  Zu- 
stand der  medizinischen  und  der  Naturwissenschaften 
würdige  allgemeine  Pathologie  vor  uns  hinstellen 
wird." 

Wiewohl  dem  Fache  nach  pathologischer  Anatom,  erkannte  er 
mit  überragendem  Fernblick,  dass  das  Wesen  der  Krankheitsprozesse 
nicht  immer  in  der  Leiche,  wo  nur  das  Nebeneinander  erscheint,  ent- 
rätselt zu  werden  vermag.  Um  das  flüchtige  Leben  im  kranken  Zu- 
stande, um  die  Succession  der  pathologischen  Phänomene  beobachten 
zu  können,  griff  Virchow  daher  in  Gemeinschaft  mit  dem  geistvollen 
L.  Traube  (1818—1876)  zum  Tierversuch  und  lehrte  die  Bedeutung 
dieser  Erkenntnisquelle  schon  bei  den  ersten  Schritten  (Thrombose, 
Embolie,  Infektion)  in  solchem  Ausmass  kennen,  dass  seither  die 
Experimentalpathologie,  neben  der  klinischen  Beobachtung 
und  der  pathologischen  Anatomie  zum  Hauptpfeiler  der  Krankheits- 
lehre geworden  ist. 

Zeigte   Virchow  einerseits  den   Weg,  wie  der    Krankheits- 


EinleitTmg.  153 

p  r  0  z  e  s  s  der  naturwissenscliaftlicheii,  induktiven  Forschung:  zugänglich 
gemacht  werden  kann,  so  richtete  er  andererseits  sein  volles  Streben 
auch  darauf,  die  Erforschung  des  Krankheitssitzes  auf  sichere 
Grundlagen  zu  stellen.  Zu  diesem  Zwecke  stand  kein  anderes  Mittel 
zu  Gebote  als  die  eifrigste  Verwertung  der  Gewebelehre,  die  Er- 
gänzung der  pathologischen  Anatomie  durch  —  die  pathologische 
Histologie.  Das  „anatomische"  Denken  steigerte  sich  jetzt  zum 
..mikroskopischen" ! 

Unermüdlich  durch  Beobachtung,  Yergleichung,  Experiment  und 
vorsichtige  Schlussfolge  weiterschreitend,  kam  Yirchow  durch  seine 
Untersuchungen  über  Eiterbildung  und  über  Geschwülste  allmählich 
dahin,  den  Bindegewebskörperchen  eine  bedeutende  Rolle  in  der 
Pathologie  zu  vindizieren  und  in  ihren  Teilungsvorgängen  die  Ur- 
sache kontinuierlicher  Gewebsentwicklung  zu  vermuten.  Die  Lehre, 
dass  gewisse  Zellen  sich  durch  Teilung  vermehren  können,  stand  in 
totalem  Gegensatz  zu  den  herrschenden  Anschauungen,  nach  welchen 
die  zuerst  von  Schwann  (1839)  als  Elemente  des  tierischen  Organis- 
mus erkannten  Zellen  stets  aus  einer  organischen  aber  nicht  orga- 
nisierten Grundsubstanz  (Blastem)  hervorgehen  sollten.  Damit  war 
natürlich  die  Frage  gegeben,  ob  nicht  vielleicht  alle  Zellen  aus 
bereits  bestehenden  abzuleiten  seien.  Diese  Frage  wurde  von  Yirchow 
im  Jahre  1855  apodiktisch  bejaht,  nachdem  er  sich  für  die  ausschliess- 
liche Entstehung  der  Zellen  aus  Zellen  schon  1852  vermutungsweise 
ausgesprochen  hatte,  und  es  Robert  Remak  (1815 — 1865)  im  gleichen 
Jahre  gelungen  war,  auf  embryologischem  Gebiete  den  positiven 
Nachweis  zu  erbringen:    Omnis  cellula  e  cellula. 

Die  Zelle  rückte  jetzt  in  den  Mittelpunkt  der  Forschung  über 
die  Lebensvorgänge,  man  erkannte  nach  dem  Yorgang  Köllikers, 
dass  jedwede  biologische  Erscheinung  an  ihren  Bestand  geknüpft  ist. 
Die  neugewonnene  Erkenntnis  trug  Yirchow  in  die  Lehre  vom  kranken 
Leben  hinein,  Krankheit  wurde  die  kranke  Zelle,  und  durch 
seine  Cellularpathologie  (1858)  enthüllte  sich  die  Wahrheit, 
dass  Kranksein  nichts  Fremdes,  sondern  nur  ein  Leben  unter  anderen 
Bedingungen  ist:  die  Pathologie  verwandelte  sich  in 
einen  Teil  der  allgemeinen  Biologie. 

Welche  Bedeutung  der  Cellularpathologie  für  den  gesamten  Auf- 
bau der  Medizin  zukommt,  wie  durch  diese  Theorie  der  Streit  zwischen 
Humoral-,  Solidar-  und  Xeuropathologie  eine  befriedigende  Lösung  fand, 
wie  es  durch  sie  erst  möglich  wurde,  das  rege  Streben  und  Schaffen 
auf  den  verschiedensten  Gebieten  der  Heilwissenschaft  ohne  Gefahr 
der  Kräftezersplitterung  organisch  zu  verknüpfen,  wie  diese,  rein 
induktiv  geschaffene  Lehre,  in  Form  der  Lokaldiagnostik  und  Lokal- 
therapie keinen  Spezialzweig  der  Heilkunst  unbeeinflusst  Hess  und 
inmitten  einer  ungeheueren  Arbeitsteilung  doch  die  innere  Einheit 
wahrt,  bedarf  keiner  Ausführung.  Es  giebt  keinen  Arzt  auf  dem 
ganzen  Erdenrund,  der  nicht  in  der  Zellenlehre  die  letzten 
Gründe  seiner  Thätigkeit  sucht,  der  nicht  ein  geistiger  Schüler 
Virchows  wäre!" 

Wir  sind  au  der  Schwelle  der  modernen  Medizin  angelangt  und 
würden  die  uns  gezogenen  Grenzen  überschreiten,  wollten  wir,  in 
unserer  Darstellung  fortfahrend,  noch  die  allseitige  Verwertung  natur- 
wissenschaftlicher Ideen  und  technischer  Errungenschaften,  den  Aus- 
bau der  Hilfsfächer,  die  wissenschaftliche   Entwicklung   der  Patho- 


154  Max  Neuburg  er. 

logie,  der  Aetiologie  (Bakteriologie),  die  Fortschritte  der  Diagnostik, 
die  Triumphe  der  Chirurgie  (Narkose,  Antisepsis,  künstliche  Blut- 
leere), die  empirisch-rationellen  Bestrebungen  der  inneren  Therapie 
(Antipyrese,  physikalisch-diätetisch-hygienische  Heilmethoden,  Organo- 
und  Serumtherapie)  und  den  Aufschwung  der  Hygiene  im  Laufe  der 
zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  schildern. 

In  sinnreicher  Weise,  entsprechend  dem  tief  einschneidenden 
DiflFerenzierungsprozess,  welcher  die  Medizin  fazettenartig  in  zahl- 
reiche Einzelfächer  mit  eigener  Entwicklung  spaltete,  legte  der  Be- 
gründer dieses  Werkes  die  Feder  in  die  Hände  berufener  Spezial- 
forscher, die  den  Werdegang  der  einzelnen  Wissenszweige  ge- 
sondert und  in  ihren  gegenseitigen  Beziehungen  schildern  werden. 
Mosaikartig  wie  die  moderne  Wissenschaft  selbst,  wird  sich  das  Bild 
ihrer  neuesten  Geschichte  zusammensetzen. 


Geschichte  der  Anatomie. 

Von 
Bobert  Ritter  von  Töply  (Wien). 


Literaturübersicht. 
Wert  der  Anatomie  und  des  anatomischen  Studiums. 

FabHcius  (W.),  Änatomiae  praestantia  et  utiUtas,  1634,  8^.  —  Major, 
Aiiatomia  literata  quovis  digna,  medico  autem  necessaria,  Kilon.  1665  (Diss.).  — 
Schiveling,  Carmen  panegyr.  in  laiulem  änatomiae,  Lips.  1680.  —  Shargali 
I Hieron.),  Exercitat.  physico-anatomica,  Bonon.  1689,  8  °  (clinico  anatomiam  in- 
utilem  esse).  —  Cappeln  (John.  Frid.  ä),  Disp.  I  de  anatome  in  genere,  Bremae 
1690.  —  Schwendendörffer  (Geo.  Tob.  resp.  Andr.  Corvinus),  Medicorum  anatomen 
jure  divino  et  humano  licitam  esse,  Lips.  1663,  4 ";  ibid.  1690,  4 "  (respondentis 
opus).  —  Hohn,  Diss.  de  utilitate  anatomes  subtilioris  in  praxi  medica,  Lips.  1691. 
—  Hoffmaini  (Fr.),  Diss.  de  anatomia  publica,  Hai.  1703.  —  Peterniann 
I B.  B.),  De  anatomia  publica,  Hai.  1703,  4".  —  Hoffniann,  Diss.  de  anatomes 
"XU  in  praxi  medica,  Hai.  1707.  —  Heucher  (Jo.  H),  Paria  analyseos  mathe- 
„laticae  et  anatomicae  fata,  Viteb.  1709,  4".  —  Schidze,  Oratio  de  justa  anatomiei 
studii  aestimatione,  Altd.  1720.  —  Albinus  (C.  B.),  Oratio  de  anatome  prodente 
errores  in  medicis,  Traj.  ad  Bhen.  1723.  —  Heister,  Diss.  de  anatomes  subtilioris 
utilitate.  Heimst.  1725.  —  Plaz  fA.  Grii.),  De  corporis  hum.  machina  divinae 
sapientiae  teste,  Lips.  1725,  4^.  —  Hahn  (J.  C),  De  anatomes  subtilioris  utilitate, 
Heimst.  1728,  4^.  —  Treiv  (Chph.  Jac),  Vertheidigung  der  Anatomie  durch  einen 
ijründlichen  Beweis,  dass  d.  Zergliederung  derer  Menschen  u.  Thiere  sowol  als  das 
Aufbehalten  derer  menschlichen  Theile  nicht  nur  nach  allen  göttlichen  u.  menschlichen 
(resetzen  erlaubt,  somlern  auch  an  sich  Selbsten  nicht  verächtlich  sey,  Xürtib.  1729, 
■i  °.  —  Juncker,  Progr.  de  discreto  sensu  circa  Studium  änatomiae,  Hai.  1730.  — 
Winsloiv  (J.  C),  Diss. :  non  ego  potest  anatomes  parum  gnanis  funestes  errores 
<  i-itare,  Paris  1732.  —  Ulrich  (Phil.  Ad.),  Quaestio  an  medicis  corpora  peremtorum 
"i  anatomen  concedenda,  Lips.  1733,  4<*.  —  Schulze,  Diss.  de  anatomes  ad  praxin 
hirurgicam  summa  necessitate,  Halae  1737.  —  Fabricus,  Progr.  atrum-assidua 
ractio  studii  medici  et  anatomiei  cum  primis  plus  taedii  et  molestiarum,  quam 
■  imoenitaiis  conjunctum  habenf,  ac  an  illa  cultores  suos  ad  praematuram  mortem 
disponat..  Heimst.  1749.  —  Äsfruc,  Ergo  ex  anatome  subfiliori  medicina  certior, 
Par.  1753,  4".  —  Sturm  (Jo.  Joach.  Gotthard),  De  eo  quod  justum  est  circa  ana- 
tomen, Rostock  1755,  4^.  —   West pfal  (Andreas),    V.  d.  Eiuftuss  der  Zergliederungs- 


.MunnicJcs,    Oratio  de  summis,  quas  anatome  habet,   deliciis,    Ch-oning.  1771 


156  Robert  Ritter  von  Töply. 

Hirzel  (Casp.),  Zu-ey  Reden  üb.  d.  Zergliederunqskunst,  Zürich  1782.  —  Sieftold 
(Carl  Casp.J,  Rede  von  den  Vortheilen,  ivelche  äer  Staat  durch  öffentliche  anatovt. 
Lehranstalten  gewinnt,  Würzb.  1788.  —  Hints,  respecting  human  dissections  etc., 
London  1795,  8  (Salzb.  medic.  chir.  Zeitung  1796,  II  p.  214  —  instituta  publica). 
—  Tenon,  Observation»  sur  les  obstacles  qui  s^opposent  aux  progres  de  Vanaf., 
Paris  1786.  —  Ehle  (R.),  De  studio  anatomico,  C.  tab.  Vind.  1827.  —  *Mifl<frn- 
dorp  (H.  W.),  D.  Anatomie  d.  Grundstein  zum  Tempel  der  Medicin,  Antrittaredc 
V.  7.  Oct.  1871,  Groningen  1871,  31  S. 

Anatomische  Gedichte. 

Vgl.  Seidenschmir  (Otto)  in  HenscJiels  Janus  II,  1847,  S.  786  u.  f. 

Nomenclatur  (Onomatoiogie). 

*Kilifin,  TJeb.  d.  richtige  Aussprache  der  in  „ideus"  ausgehenden  anatomischen 
Adjective  (dazu  Votum  des  Professors  Dr.  Fr.  Ritschi,  Abdr.  aus  Göschen's  „Deutscher 
Klinik"),  7  S.  —  *Hyrtl  (loseph),  Das  Arabische  u.  Hebraeische  in  der  Anatomie, 
Wien  1879,  311  S.  —  *J£j/rU  (Joseph),  Onomatologia  anatomica.  Geschichte  u. 
Kritik  der  anatom.  Sprache  der  Gegenwart,  Wien  1880,  626  S.  —  *lTyrtl  (Joseph), 
D.  alten  deutschen  Kunsticorte  der  Anatomie,  Wien  1884,  230  S.  —  *S}j  (Richard), 
D.  Eigennamen  in  der  medicin.  Nomenclatur,  Jena  1887,  76  S.  —  *Huher  (J. 
eil.).  Zur  Onomatologia  medico-historica,  Münch.  Med.  Wochschr.  1890,  Nr.  23  u.  ff., 
S.A.,  27  S.  —  ''Krause  (W.),  D.  anatomische  Nomenclatur,  Leipz.  1893,  33  S. 
(Vorbericht  zum  Folgenden).  —  *Hi8  (Wilh.),  D.  anat.  Nomenclatur.  Nomina 
anatomica,  Verz.  der  von  d.  anat.  Ges.  auf  ihrer  9.  Vers,  in  Basel  angenommenen 
Namen.  M.  30  Abb.  u.  2  Taf.,  Leipz.  1895,  180  S.  —  *Anonyni,  Terminolog. 
Verz.  von  Eigennamen,  die  zur,  Bezeichnung  von  internen  Krankheiten  dienen, 
Aerztl.  Reform-Ztg.,  Wien,  I  Nr.  12,  2.  Dec.  1899,  S.  135—141.   . 

Unterricht,  anatomische  Institute. 

*JBartJiolimts  (TJi.),  Domus  anat.  Uafniensis  breviss.  descripta,  Hafniae 
1662,  62  p.  —  *Wutzer  (W),  Bericht  üb.  d.  Zustand  der  anat.  Anstalt  zu  Münster 
i.  J.  1830,  Münster  1830,  4^,  156  S.  —  Schnitze  (C.  A.),  D.  anat.  Sammlmigen 
u.  d.  neue  Anatomiegebäude  iu  Greifswald,  1856,  4°.  —  *Ecker  (Alex.),  Das  neue 
Anatomiegebäude  der  ünivers.  Freiburg.  Beschreibung  u.  Geschichte.  M.  4  T.  Freib. 
i.  B.  1867,  4*^,  48  S.  —  *Koelliker  (A.),  D.  Aufgaben  der  anat.  Institute,  Würzb. 
1884,  21  S.  (Festrede  v.  3.  Nov.  1883).  —  *1Falfleijer  (Prof.  0.),  Wie  soll  inan 
Anatomie  lehren  u.  lernen  (Rede  v.  2.  Aug.  1884),  Berl.  1884,  41  S.  —  *Hi8  (Wilh.), 
Zur  Gesch.  des  anat.  Unterrichtes  in  Basel,  S.A.  aus  Gedenkschrift  zur  Eröffnung 
des  Vesalianum  in  Basel  28.  Mai  1885,  Leipz.  1885,  48  S.  (Behandelt  im  Wesent- 
lichen nicht  die  Unterrichtsmethode,  sondern  die  Gesch.  d.  Anat.  in  Basel.  In  dieser 
Beziehung  wertvoll,  iveil  quellenmässig.)  —  *JRftuber  (A.),  Ueb.  d.  Einrichtung  von 
Studiensälen  in  anatom.  Instituten,  Leipz.  1895,  20  S.  M.  Abb.  des  Studiensaales 
in  Jurjetv  (Dorjjat.  Einen  derartigen  Studiensaal  hatte  schon  vorher  Toldt  während 
seiner  Lehrthätigkeit  in  Prag  eingerichtet). 

Bibliographie. 

*jDouglas  (Jacob),  Bibliographiae  anatomicae  specimen.  Ed.  2.  Lugd.  Bat. 
1734,  8^,  263  pp.  -{- index  (entwertet).  —  *  Haller  (Alb.  v.),  Bibliotheca  anatomica, 
T.  I,  1744,  816  pp.,  T.  II,  1777,  870  pp.,  Tiguri  4  <>.  (M.  biogr.  Notizen  vom  ge- 
schichtlichen Gesichtspunkt.  Noch  heute  brauchbar.)  —  *StocT\ton-Hoiiyh,  Biblio- 
theca medica  historio-literaria  et  bibliographica.  Von  diesem  Werke,  das  den  strengsten 
Anforderungen  gerecht  zu  werden  versprach,  erschien  nur  die  Prospektnummer  Vol.  1, 
No.  1,  Jan.  1,  1890,  Trenton,  Neiv  Jersey.  Sie  behandelt  Peyligk  und  Hundt.  — 
Nicolas,   Bibliographie   anatomique,    6  vol.,    Paris,   Berger  -  Levrault  et  Co.   1898. 

Geschichte  der  anatomischen  Abbildung. 

*Chmdaiit  (Ltidw.),  Die  anatom.  Abbildungen  des  15.  u.  16.  Jahrhunderts. 
Denkschr.  zur  Feier  der  Ges.  f.  Natur-  u.  Heilkunde  in  Dresden,  Dresden  1848^ 
4  °,  32  S.  —  *Marx  (K.  Fr.  Heinr.),  Marc'  Antonio  u.  Leon,  da  Vinci,  d.  Be- 
gründer der  bildlichen  Anatoiuie.    K.  Societ.  d.  Wiss.,  9.  Decbr.  1848,  S.  131 — 148.  — 


Geschichte  der  Anatomie.  157 

*Choulant  (Lndmg),  Gesch.  u.  Bibliographie  der  anatom.  Abbildung,  Leipz.,  Bud. 
Weigel  1852,  43  Holzschn.  u.  1  chromolithogr.  Taf.,  203  S.  kl.  fol.  (grundlegendes 
QueUemcerh).  —  *Choulant  (Ludwig),  Graphische  Incunabeln  f.  Naturgeschichte 
H.  Medicin,  S.A.  aus  Arch.  f.  d.  zeichn.  Künste  III.  Jahrg.  v.  Naumann,  168  S. 
(vervollständigt  das  vorige).  —  *Duval  (Math.)  et  Cuyer  (Ed.),  Histoire  de  V Ana- 
tomie plastique,  Paris  1898,  351  pp.  m.  118  Abb.  —  Einzelnes  auch  in  den  folgenden 
2  Werken:  *Pet€rs  (Herrn.),  Der  Arzt  u.  d.  Heilkunst  in  d.  deutschen  Vergangen- 
heit. Mit  153  Abb.  u.  Beil.  n.  d.  Originalen  a.  d.  15. — 18.  Jahrh.,  Leipz.  1900, 
136  S.  lex.  8^  (davon  100  Exemplare  auf  Büttenpapier).  —  Sicher  (F.),  L'art  et 
la  medicine,  Paris  1902,  4  ".    Ac.  pl.  et  fig.  (30  frs.). 

Geschichte  der  Anatomie  im  allgemeinen. 

*Go€licke  (Andr.  Ottom.),  Historia  anatomiae,  Halae  Magdeb.  1713,  244 pp. 
(oberflächlich,  veraltet).  —  *GoeUcke  (Andr.  Ottom.),  Introductio  in  histo7-iatn 
litterariam  anatomes,  Francof.  ad  Viadr.  1738,  4^,  540  pp.  C.  effig.  (ebenso).  — 
*Portal,  Histoire  del  Vanatomie  et  de  la  Chirurgie,  Paris,  6  tom.  1770 — 1773  (noch 
heute  unentbehrliches  Nachschlageicerk).  —  *JSrainMlla  (Gio.  Alessandro),  Storia 
delle  scoperte  fisico  medico  anatomico  chirurgiche  fatte  dagli  uomini  illustri  italiani, 
Milano,  T.  7, 1780,  190p.;  T.  II p.  1, 1781,  274p.,p.  2,  1782,  210p..  fo.  —  Lassus, 
Essai  ou  discours  historique  et  critique  sur  les  decouverts  faites  en  anatomie  par  les 
anciens  et  les  modernes,  Paris  1783.  —  *Lassus,  Historisch-kritische  Abhandlung  der 
von  den  Alten  sowol  als  den  Neuern  in  d.  Anat.  gemachten  Entdeckungen.  Aus  d. 
Französ.  von  Joh.  Heim:  Crevelt,  Bonn  1787 j88,  2  TliU.,  164  u.  208  S.  —  *Lauth 
(Thomas).  Histoire  de  Vanatomie,  T.  I,  Strassb.  1815,  606  p.,  4  ".  (Beicht  bis  zum 
Ende  d.  16.  Jh.,  Band  2  nicht  erschienen.)  —  *Jiurggraeve  (Ad.),  Precis  de 
Thist.  de  Vanat.,  compr.  Vexamen  comparatif  des  oeuvr.  des  principaux  a)iatomistes 
anciens  ei  modernes,  Gand  1840.  (Eingehend,  berücksichtigt  besonders  die  Haupt- 
momente.)  —  *3Ierk€l  (Friedr.),  Festrede  zur  alcad.  Preisvertheilung  am  3.  Juni 
1893,  Götting.,  25  S.  (Ueberblick  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  19.  Jahrh.).  — 
'^jyieclersheim  (Bobert).  Zur  Gesch.  der  Anatomie,  Freib.  i.  Br.  1894,  4",  36  S. 
(Festrede,  summar.  Ueberblick).  —  ^Shepherd  (Francis  J.),  Sketch  of  the  early  hist. 
of  anat.  Bepr.  from  the  Canada  Med.  and  Surg.  Journ.  o.  0.  u.  J.,  25  S.  (Ober- 
flächlicher Ueberblick.) 

Die  Literatur  über  die  Geschichte  einzelner  Gruppen  und  Personen  smcie 
kleinere  Sonderabhandlungen  sind  im  folgenden  Text  angeführt. 

Geschichtliche  Entwicklung  der  Anatomie  einzelner  Körperteile. 

*3Iagnus  (Hugo),  Historische  Tafeln  zur  Anatomie  des  Aiiges.  Beilageheft 
:h  den  Klin.  Monaisbl.  f.  Augenheilk.,  Juni-H  XV.  Jahrg.,  Rostock  1877,  11  Tafeln 
in.  17  S.  Text.  —  *Magmis  (H),  D.  Anatomie  des  Auges  in  ihrer  geschichtl.  Eni- 
wickelung.  13  färb.  Tafeln  m.  Text,  Breslau  1900  (der  augenärztlichen  Unterrichts- 
tafeln von  Magnus  Heft  20.  Von  bleibendem  Wert).  —  *Waldeyer  (W.),  Ueb. 
einige  neuere  Forschungen  im  Gebiete  der  Anatomie  des  Centralnervensystems,  Lpzg. 
1891,  64  S.  m.  Abb.  (eingehend  u.  gründlich).  —  *  Weber  (Ernst),  Ueb.  d.  geschichtl. 
Enticicklung  der  anat.  Kenntnisse  an  den  weibl.  Geschlechtsorganen.,  Diss.,  Würz- 
burg,  März  1889.  —  *  Weyertnann  (Herrn.),  Geschichtl.  Entwicklung  der  Anatomie 
des  Gehirns,  Inaug.-Diss.,  Würzb.  1901,  117  S. 

An7n.  Diese  Uebei'sicht  weist  manche  Lücke  auf.  Vervollständigende  Mit- 
teilungen nehme  ich  dankbar  entgegen.  B.  B.  v.  T. 


Der  Orient. 

Inhalt.     Keilschriftmedizin    mit   Spuren    anatomischer    Kenntnisse. 
Aegypten  zur  Pharaonenzeit,  Tliier anatomie.    Chitia,  isolierte  Entwicklung 
kr  Anatomie,  enger  Anschluss  an  naturphilosophische  Hypothesen.    Indien,   theo- 
'tische  Auffassung.     Tibet  als  Mittelglied  zwischen  Indien  u.  China. 

Keilschrift  medizin. 

*Der  alte  Orient.  Gemeinverständl.  Darstellungen  herausgeg.  von  d.  Vorder- 
isiat.  Gesellsch.,  Leipz.,  J.  C.  Heinrichs.    Seit  1899  jährl.  4  Hefte.    Dient  haupt- 


158  Robert  Ritter  von  Töply. 

sächl.  zur  Orientierung  in  ethnofiraph.  xi.  archäolog.  Hinsicht.  —  *l)elitZ8ch  (Fneär.), 
Bcibel  u.  Bibel.  M.  öO  Abb.,  Leipz.,  J.  C.  Heinrichs,  52  S.  —  ■*Oefcle,  Literatur- 
nachweis zur  Gesch.  der  Medicin  in  d.  Keihchriftcultur.  Deutsche  medic.  Presse 
Nr.  24,  1901,  S.A.  HS.  —  *Oefele  (Felix  Freiherr),  Keilschriftmedicin.  Ein- 
leitendes zur  Med.  der  Koyunjik-CoUection.  M.  li  Taf.,  Breslau  1902,  J.  U.  Kern, 
56  S.  —  *Sn(lhoff  (K.),  Medicinisches  aus  babylonisch-assyrischen  Astrologen-Be- 
richten. D.  Medichi.  Woche,  Berl.  1901,  Nr.  41.  Auszug  aus  lt.  Campbell 
Thompson,  The  reports  of  the  Magician  and  Astrologers  of  Nineveh  and  Babylon 
in  the  Brit.  Mus.,  Lond.  1900.  —  *Kächler  (Friedr.),  Beiträge  z.  Kenntn.  d. 
assyr.  Med.,  Inauq.-Diss.,  Marlmrg  1902,  52  S.,  4  °.  (Umschrift,  Uebersetzung  n. 
Kommentar  der  texte  K.  K.  191  +  201  -f  2474  +  3230  +  3.363.    Sehr  gründlich.} 

Die  Ausgrabungen  von  J.  de  Morgan  in  Susa  und  die  Ent- 
zifferung der  dort  gefundenen  Texte  durch  den  Dominikaner  P.  Seh  eil 
haben  in  letzter  Stunde  die  Keilschriftkultur  in  ein  neues  Licht  ge- 
stellt. Danach  wäre  das  Reich  El  am  mit  der  Stadt  Susa  (ehemals 
Parasa)  und  den  anzanitischen  Bewohnern  der  Ausgangspunkt  der 
babylonischen  Civilisation.  Die  Geschichte  von  Elam  ist  nun  bis  in 
das  vierte  Jahrtausend  v.  Chr.  und  darüber  hinaus  aufgeklärt.  Die 
zahlreich  erhaltenen  Texte  sind  jedoch  vorwiegend  geschichtlichen, 
rechtlichen  und  kaufmännischen  Inhalts,  Eine  gleichzeitig  gefundene, 
dem  didymenischen  Apollon  gewidmete  Bronze  in  Gestalt  eines 
Hammelknochens,  laut  Inschrift  aus  Rüstungen  und  Waifen  der 
von  den  Griechen  Besiegten  zusammengegossen,  war  von  D  a  r  i  u  s 
dorthin  entführt  worden. 

Soweit  aus  den  übrigen  Texten,  und  zwar  hauptsächlich  aus  den 
Keilschrifttafeln  von  Ninive  (Kouyimjik-Collection  des  Brit.  Mus.) 
zu  ersehen,  hat  die  Keilschriftmedizin  besondere  anatomische  Kennt- 
nisse nicht  besessen.  Was  an  Benennung  der  Körperteile  gelegentlich 
mit  unterläuft,  geht  über  allgemeine  volkstümliche  Kenntnisse  nicht 
hinaus.  In  den  von  Küchler  veröffentlichten  Texten  finden  sich 
folgende  Benennungen: 

libbu  =  das  ganze  Leibesinnere;  MTJH  =  muhhu  das  Schädeldach; 
lit&  =  Beine  mit  Hinterbacken,  Gesäss;  SU.  SI  =  ubanu  GAL  .  TI  = 
rabiti(-ti)  ,, grosser  Finger'^,  Daumen;  KU  Unterleib,  Eingeweide,  viel- 
leicht Gesäss  +  After ;  S AK . SA  epigastrium ;  TU  =  takaltu?  Magen ? ; 
sTrf  Fleischteile,  Muskeln?;  IM  =  säru  und  KU  Gesäss  oder  besser 
After ;  n  a  p  s  a  (ä)  ti  Kehle  ;  m  a  s  k  a  Zitzen  ? ,  r  ü  Kot ;  s  T  n  ä  t  i  Harn ; 
HAR  =  kabittu  Leber. 

Einmal  kommt  eine  Reihenfolge  der  Körperteile  vor:  Scheitel, 
Nacken,  Hände,  Brust  und  libbi,  naglabi,  Beine. 

Wie  man  sieht,  sind  die  Entzifferungsversuche  noch  nicht  in  jeder 
Beziehung  endgiltig  abgeschlossen. 

In  plastischen  Darstellungen  liebt  besonders  die  assy- 
rische Kunst  eine  stärkere  Kennzeichnung  der  Muskulatur  bei  Tieren 
und  bei  Menschen,  besonders  an  den  Gliedmassen,  bei  ersteren  auch 
eine  Andeutung  der  Hautvenen,  die  Völkertypen  sind  an  den 
wiedergegebenen  Köpfen  sehr  leicht  kenntlich.  ^)  ^  Die  fünffüssigeu 
Tiergestalten  als  Thorhüter  sind  keineswegs  ein  anatomischer  Ver- 
stoss, sondern  aus  Gründen  praktischer  Kunstanschauung  so  gebildet. 


^)  Reichliches    Anschauungsmaterial    in    Assj'rian    sculptures    publ.    by 
H.  Kleinmann  and  Cie.,  Haarl.,  Lond. 


Geschichte  der  Anatomie.  159 

Die  Photographie  eines  Penis  mit  bildlicher  Darstellung  auf  der 
Glans  und  Weihiuschrift  auf  dem  Schafte  war  in  der  historischen 
Ausstellung  zu  Düsseldorf  1898.  Von  sonstigen  Darstellungen  einzelner 
Körperorgane  ist  besonders  eine  Leber  aus  Babylon  (Terracotta, 
3.  Jahrtausend  v.  Chr.)  bekannt  geworden.  -)  Der  grösste  Durch- 
messer von  rechts  nach  links  beträgt  etwa  13,5  cm.  Sie  ist  beider- 
seits mit  Scbriftzeichen  versehen.  Stieda  erklärt  sie  für  die  Nach- 
ahmung einer  Schafs-(Hammel-)Leber.  Man  erkennt  an  der  unteren 
Fläche  deutlich  den  P r o c e s s.  papillär.,  den  Proc.  pyramidalis 
(caudatus),  dann  die  Gallenblase.  Doch  dürfte  der  Gegenstand 
anatomischen  Zwecken  kaum  gedient  haben.  ^) 


Aegypten  zur  Pharaonenzeit. 

Cr.  Ebers,  Papyros  Ebers,  m.  Glossar  von  L.  Stern,  2  Bde.,  Leipzig  1875. — 
*JEr.  Joachim,  Papyros  Ebers  übers.,  Berlin  1890,  8<»,  214  S.  —  *G.  Ebers,  D. 
Körperteile  im  Altägyptischen.  Abhandl.  d.  k.  bayer.  Akad.  d.  Wiss.  I.  C'l.  21.  Bd. 
1.  Abth.  S.  81—174.  S.A.  1897,  4«,  96  S.  —  *Ad.  Erman,  Zaubersprüche  f.  Mutter 
u.  Kind.  A.  d.  Pap.  3027  der  berl.  Mus.  K.  pr.  Ah.  ä.  Miss.  Philos.-histor.  Abh. 
190,  I.    S.A.  4«   52  S.  m.  2  Taf. 

Die  Annahme  der  älteren  Historiker,  demgemäss  die  anatomischen 
Kenntnisse  der  alten  Aegypter  aus  dem  Balsamierungsverfahren  ge- 
schöpft sind,  ist  irrig.  1.  wurde  das  Balsamierungsverfahren,  ins- 
besondere die  zumeist  vorhergehende  Entfernung  der  Eingeweide  nicht 
von  Aerzten,  sondern  von  niederen  Handwerkern  geübt;  2.  ist  es 
Thatsache,  dass  —  wenigstens  den  erhaltenen  Quellen  zufolge  —  die 
ägyptischen  Aerzte  weitaus  geringere  anatomische  Kenntnisse  besessen 
haben,  als  sie  sich  bei  einem  solchen  Verfahren  hätten  aneignen 
können;  3.  gehen  die  Quellen  auf  eine  Zeit  zurück,  zu  der  das  Bal- 
samierungsverfahren erst  in  der  Entwicklung  war.  Einheimische 
Nachrichten  nennen  schon  den  zweiten  historischen  König  Athothis 
als  Arzt  und  Verfasser  anatomischer  Bücher,  ^j  Das  „Buch  vom  Ver- 
treiben der  uchudu",  welches  Andeutungen  einer  Gefässlehre  enthält, 
ist  in  zwei  Niederschriften  vorhanden.-)  Laut  ersterer  wurde  es  ur- 
sprünglich dem  fünften  König  Husapait  (Usaphais,  1.  Dynastie,  um 
3700  V.  Chr.)  überreicht,  der  zweiten  zufolge  nach  dem  Tode  des 
Husapait  dem  König  Sent  (Sethenes,  2.  Dynastie)  übergeben.  All 
diese  Angaben  beziehen  sich  auf  das  4.  Jahrtausend  v.  Chr. 


^)  Photogr.  in  Cuneiform  Texts  from  Babylonian  Tablets  etc.  in  the  Brit.  Mus. 
P.  IV,  Lond.  1898,  B.  89—4,  268.  Vgl.  A.  Boissier-Geneve,  Note  sur  un  Monument 
Babylonien  se  rapport.  ä  lextispicine,  Geneve  1899,  12  pp.,  dann  Stieda  (L.),  Ana- 
tom.-archäol.  Studien  I.  II.  S.A.  aus  Bonnet-Merkels  anatom.  Heften  Bd.  15/16,  Wiesb.. 
J.  P.  Bergmann,  1901,'  131  S.    M.  Abb. 

')  Aus  Oefele,  Keilschriftmedizin  ersehe  ich  eben,  dass  unlängst  eine  zweite  ein- 
schlägige Arbeit  erschienen  ist:  A.  Boissier,  'Note  sur  un  nouveau  document 
Babylonien  se  rapportant  ä  l'extispicine,  Geneve.  Es  wird  darin  Km  620,  das  bisher  als 
ein  Ochsenhufmodell  galt,  als  Lebermodell  für  Opferschauer  erwiesen.  (Oefele 
a.  a.  0.  S.  14.) 

^)  Manethos  bei  Africanus.  Syncellus  p.  54  B.  56.  R.  Lepsius,  Königsbuch, 
Abth.  I,  Quellentafeln  S.  5.  i        .  -&  r 

*)  Pap.  Ebers  Taf.  10.3,  verkleinerte  Abb.  bei  G.  Steindorff,  D.  Blütezeit 
des  Pharaonenreichs,  Bielefeld  u.  Leipzig  1900,  8»  164  S.,  S.  75;  Pap.  Brugsch. 
maj.  Sp.  15. 


160  Robert  Bitter  von  Töply. 

Besondere  anatomische  Schriften  haben  sich  nicht  erhalten,  doch 
berichtet  Clemens  Alexandrinus  —  allerdings  erst  im  2.  Jahrhundert 
V.  Chr.  —  das  erste  der  6  hermetischen  Blicher  medizinischen  Inhalts 
habe  von  der  Einrichtung  des  menschlichen  Körpers  gehandelt  {Ttegl 
Tfjg  tov  OMfimog  yiataay.evi]g.    Cl.  Alex,  stromateis  VI.). 

Aus  der  folgenden  Uebersicht  der  gelegentlich  vorkommenden 
Benennungen  der  Körperteile  (geordnet  nach  dem  hieroglyphischen 
Alphabet)  ersieht  man,  dass  die  Hauptbestandteile  des  Körpers  aller- 
dings bekannt  waren,  dass  jedoch  auf  die  feineren  Einzelnheiten  noch 
kein  besonderes  Gewicht  gelegt  wurde.  Wo  es  sich  um  die  Deutung 
innerer  Organe  handelt,  herrscht  aus  eben  diesem  Grunde  heute  noch 
eine  ziemliche  Unsicherheit. 

3m  =  die  Faust;  3gb  =:  das  Knie. 

*  i  3 1  :=  der  Rücken ;  ^  i  w  f  =  Fleisch  (sowol  menschlich  als  tierisch) ; 
'ib  (der  Tänzer)  =  1.  das  Herz,  2.  der  Magen;  'im  h-t  (das  im  Bauche 
Enthaltene)  =  1.  die  Baucheingeweide,  2.  das  Rückgrat,  die  Rückenwirbel- 
säule;  'imt,  'imy'h-t  (was  sich  im  Leibe  befindet)  =  Eingeweide ;  'imt 
p U  w i  (was  hinten  ist)  =  der  Hintere  ;  ■" i r - 1  =  das  Auge ;  ' ilj 1 1  =  die 
Kehle,  Luftröhre,  das  Respirationsorgan. 

w%  'iw'  =  das  Fleisch,  Fleisch  und  Blut;  w'^rt=:das  Bein;  whm 
(der  Wiederholer)  =  die  Zunge;  wd3-t  =  das  Heilsauge  (als  Symbol). 

b3b3W'  shf  m  d3d3  =  die  sieben  Höhlen  (Oeffnungen)  im  Kopf; 
b3h  =  die  Vorhaut?;  b  nt  3pd  =  das  Hörn,  die  Haube  oder  Krone 
{eines  Vogels);  bgst  ==  die  Kehle  (Halsschmuck?). 

p  h  w  i  =  das  Hinterteil ;  p  s  t  =  das  Rückgrat,  die  Rückenwirbelsäule ; 
p  d  =  der  Fuss,  das  Bein. 

fnd,  fnd,  fnti  =  die  Nase  (ss  n  t3wi  =  das  Nest  für  den  Wind, 
tp  n  fnd  =  die  Nasenspitze). 

m  3 1  =  das  Auge ;  m  n  d  - 1  :^  die  Brust,  der  Euter,  die  Zitze  ;  m  h  i 
(mh'i)  =  cubitus,  brachium,  die  Elle;  mMjyk  (geschrieben  m'h'k)  =^ 
der  Hals;  msht  =  der  Schenkel;  msdr  =  das  Ohr;  rat  =  das  Gefäss, 
die  Ader,  der  Nerv;  mt,  mtt,  mti=-  die  Mitte,  das  Mittlere;  m'd^i 
'(m'^ds,  m'ts)  =  das  GeschlechtsgHed. 

njibt  =  der  Hals,   Nacken;   'nh  =  das  Ohr;  ns  die  Zunge. 

r  3  =  der  Mund ;  r  3 '  i  b  =  der  Magen  (später  von  h-t  verdrängt) ; 
r  3  h  *^  t  i  —  der  Magenmund,  kardia ;  r  m  n  h  r  w  =  der  Oberarm  ;  r  m  n  h  r 
=  der  Unterarm  ;  '  r  t  i  =  die  Kinnladen  ;  r  d  =  der  Fuss  ;  r  d '  i  b  :=  das 
linke  Bein;  rd  wnm  =  das  rechte  Bein. 

h*'  =  die  Glieder;  hr  =  der  Kopf,  das  Haupt,  das  Gesicht;  hr'ib 
=  der  mittlere  Teil ;  h  r  (r  m  n)  oder  h  r  (r  m  n)  ==:  Ober-  und  Unterarm ; 
h't  =  das  Vorderteil,  extremitas,  summitas;  h*^ti  (Dualform)  =  1.  das 
Herz  (vielleicht  auch  die  Lunge,  „Fett  des  hfi  =  Fett  des  Herzens), 
2.  der  Magen,  Magenmund  (auch  'ib),  3.  überhaupt  „das  au  der  Vorder- 
seite Befindliche";  htt  =  die  Kehle,  Luftröhre,   das  Respirationsorgan. 

h  3  b  w  t  =  der  Nacken  ;  h  p  d  =  die  weibliche  Scham  ;  h  p  d  w  =•  die 
Nieren;  hft  =  das  Antlitz,  Angesicht;  *^hm-t  ^  der  heilige  Leib  (des 
Osiris) ;  hnt,  hntä,  hntt=  die  Nase ;  h  r ,  h  r  w  =  der  untere  Teil ; 
hrww,  hrwi  =  die  Hoden;  hr  hs'  =  Kot  haltend;  hr  hpt  =  Ge- 
schlechtsteil oder  Blase,    h-t  =  der  Leib,  Bauch,  Magen. 

S3  =  der  Rücken;  sbk  =  die  Fusssohle ;  spt  =  die  Lippe;  smd  = 
•die  Augenbrauen;  sd  =  der  Schwanz  eines  Tieres;  sdh  =  das  Schienbein. 

sn  =  das  Haar;  sp  =  die  Hand(-breite)  ohne  Daumen,  palmus. 


Geschichte  der  Anatomie.  161 

b3h  =  die  Zehen;  sst  =  die  Knöchel?. 

kftw-t  =  das  Hinterteil,  der  Steiss  (eines  Vogels);  kff-t  s  =  die 
Uilch  (der  Amme) ;  k  "^  h  i  i  =  der  Arm,  Vorderarm,  die  Hand. 

•^twt'  =  die  Mandeln  im  Halse;  tp,  tp(i)'  =  ds  da  =  der  Kopf, 
das  Haupt;  tp*^  =  die  Spitze  der  Hand,   die  Fingerspitzen. 

d  - 1  =   die  Hand. 

tbt  ==  die  Fusssohle,   Sandale. 

da  da  =  tp,  tp(i)*^  =  der  Kopf,  das  Haupt;  db%  d'b  =  der  Finger, 
der  Zoll;  dt  =  der  Körper,  Leib,  Kadaver;  dd-t  =   das  Rückgrat. 

Für  die  Auffassung  der  Reihenfolge  der  Körperteile  bestehen 
zwei  allerdings  stark  voneinander  abweichende  Anhaltspunkte.  1.  Eine 
Gruppe  der  literarischen  Denkmäler  zählt  die  Teile  vom  Scheitel  bis 
zur  Zehe  auf,  so  dass  zuerst  der  Kopf  mit  seinen  Teilen,  dann  Nacken, 
Arme  und  Finger,  dann  der  Leib  mit  seinen  Teilen,  endlich  die  Beine 
und  Füsse  genannt  werden.  '^)  So  nennt  der  dritte  Zauberspruch  des 
Berliner  Pap.  3027  folgende  Reihe:  „Kopf,  Scheitel.  Stirn,  Augen- 
brauen, Augen.  Nase,  die  beiden  ....?,  Mund,  Zähne,  Schlund,  Zunge, 
Lippen,  Schläfe,  Ohren,  Nacken,  Schultern,  Arme,  Finger,  Brustwarze, 

Brust,  das ?,  Leib,  der  ....?,  Nabel,  After,  Schamglied,  Weichen?, 

Rücken,  Wirbel?,  Hinterer,  Hinterbacken,  Beine,  Fuss,  Knöchel?. 
2.  Die  14  Teile  der  Leiche  des  Osiris,  die  Isis  bestattet  hat  (Dar- 
stellung der  Reliquien  bei  J.  D  ü  m  i  c  h  e  n ,  Geographische  In- 
schriften altägvptischer  Denkmäler,  Leipz.  1885,  Abt.  III,  Taf  I), 
werden  hingegen  in  dieser  Reihenfolge  aufgezäht:  a)  das  linke  Bein, 
der  Leib,  die  Kinnladen,  das  rechte  Bein,  das  Schamglied;  b)  der 
Magen  und  die  grossen  Eingeweide  (?),  die  kleinen  Eingeweide  (?), 
die  Lunge  (und  das  Herz?),  die  Leber  und  die  Gallenblase  (?);  c)  das 
Herz,  der  Hals,  das  Rückgrat,  die  Hände  (oder  Arme,  samt  dem 
Auge?).  Welche  von  diesen  Einteilungen  ärztlicherseits  gebräuchlich 
war,  ist  vorderhand  nicht  festzustellen. 

Genaueres  ist  nur  über  das  Gefässsy st em  bekannt.  Nach  dem 
vom  Herzen  handelnden  „Geheimbuch  des  Arztes"  *)  ist  das  Herz  der 
Ausgangspunkt  der  „metu",  was  sowohl  Gänge,  als  Gefässe,  Adern, 
Nerven,  Muskeln  bedeutet.  Es  werden  dann  folgende  „metu"  ge- 
nannt: 4  in  der  Nase  (2  geben  Schleim,  2  Blut),  4  an  den  Schläfen 
(sie  versorgen  auch  das  Auge),  4  im  Kopf  (Ausbreitung  am  Hinter- 
haupt), 2  zum  Jochbein,  je  2  zum  rechten  Ohr  (für  den  Lebenshauch) 
und  zum  linken  Ohr  (für  den  Todeshauch),  6  zu  beiden  Armen,  ebenso 
viel  zu  den  Füssen,  2  zu  den  Hoden,  2  zu  den  Nieren,  4  zur  Leber 
(sie  führen  ihr  Feuchtigkeit  und  Luft  zu).  4  zum  Mastdarm  und  zur 
Milz  (mit  derselben  Verrichtung),  2  zur  Blase  (Harnleiter),  4  in  den 
After.  Von  den  letzteren  heisst  es:  „sie  geben  und  bringen  in  ihm 
hervor  Feuchtigkeit  und  Luft;  sodann  öffnet  sich  der  After  jedem 
Gefäss  auf  der  rechten  und  linken  Seite,  indem  er  sich  erstreckt  bis 
in  die  Füsse  und  vermischt  sich  mit  Exkrementen".^)  Nach  dem  „Buch 
vom  Vertreiben  der  uchedu"  hat  der  Mensch  12  Herzgefässe,  die  sich 


')  Pyram.,  Kap.  311  =  P.  .565  ff.;  Todtenbuch  Kap.  42;  Litauie  du  soleil  IV: 
Rit.  de  rem  bäum.  (Maspero,  pap.  du  Louvre  p.  25);  die  drei  Zaubersprüche  bei 
Tlnnan,  besonders  S.  15  ff. 

*)  Pap.  Ebers  T.  99. 

")  Pap.  Ebers.    Joach  S.  187. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  11 


162  Robert  Ritter  von  Töply. 

in  alle  Glieder  ausbreiten.  Je  2  befinden  sich  in  der  Brustgegend,  je 
2  ziehen  zum  Schenkel,  zum  Arm,  zum  Hinterkopf,  zum  Vorderkopf, 
zum  Auge,  zur  Augenbraue,  zur  Nase,  zum  rechten  Ohr  (Lebenshauch), 
zum  linken  Ohr  (Todeshauch).  „Sie  kommen  in  ihrer  Gesamtheit  von 
seinem  Herzen  und  verteilen  sich  in  seiner  Nase,  sich  sammelnd  in 
ihrer  Gesamtheit  in  seinen  beiden  Hinterbacken."  **)  Mit  diesen  An- 
gaben stimmt  die  Bemerkung  des  Pap.  Brugsch  maj.  nicht  überein, 
„der  Kopf  hat  32  Adern  (!),  von  ihm  aus  schöpfen  sie  den  Atem  nach 
der  Brust,  so  dass  sie  den  Atem  allen  Gliedern  geben".  Wie  man 
sieht,  herrscht  in  der  Gefässlehre  —  und  diese  ist  das  einzige  bisher 
genauer  bekannte  Gebiet  der  ägyptischen  Anatomie  —  viel  Unklarheit. 
Aus  diesen  Angaben,  welche  immerhin  dem  4.  Jahrtausend  ent- 
stammen mögen,  aber  noch  im  14.  Jahrhundert  giltig  waren  (der  Pap. 
Brugsch  major  ist  aus  der  Zeit  des  Ramses  II,  also  1324—1258),  ist 
zu  entnehmen,  dass  sie  nur  auf  flüchtigen  Beobachtungen  beruhen, 
wie  solche  sich  gelegentlich  beim  Schlachten  von  Tieren  ergeben,  in 
Einklang  gebracht  mit  einer  willkürlichen  Physiologie.  Eine  genauere 
Kenntnis  des  menschlichen  Körpers  hat  im  Pharaonenreich  nicht  be- 
standen. 

In  Uebereinstimmung  damit  kann  von  anatomischen  Darstellungen  im 
wissenschaftlichen  Sinne  nicht  die  Rede  sein.  "Was  sich  auf  diesem  Gebiete 
an  plastischen  Nachbildungen  einzelner  menschlicher  Körperteile  findet,  g'e- 
hört  in  das  Gebiet  der  Amulete  (vgl.  u.  a.  Wilkinson.  Customs  and 
manners  of  the  ancient  Egyptians,  Lond.  1837 — 41,  6  voll.  8,  III,  393), 
oder  der  Prothesen  (z.  B.  das  künstliche  Auge  der  Mumie  des  kunst- 
historischen Museums  in  Wien).  Ueber  den  Proportionskanon  der  ägyptischen 
Kunst  handeln  die  meisten  eingehenderen  archäologischen  und  kunstgeschicht- 
lichen Schriften,  ebenso  über  die  genaue  Wiedergabe  der  Rassenraerkmale 
in  Bildwerken.  Eine  charakteristische  Auswahl  solcher  bei  H.  Bulle,  Der 
schöne  Mensch  im  Altertum  (Hirths  Stil  I.  Serie,  216  Taf.)  Taf.  1—22. 
Zu  beachten  Taf.  21,  Relief  am  Horustempel  in  Edfu,  die  Tätowierung  der 
Brüste  bei  den  Frauen,  wie  auch  anderswo.  Ueber  Balsamierung  vgl. 
Herodot  II,  86 — 88;  Diodor  I,  91.  Geschichte  des  Verfahrens  bei  J.  N. 
Gannal,  Hist.  des  embaumements,  2me  ed.,  Paris  1841,  8^,  448  pp.  Jul. 
Magnus,  D,  Einbalsamieren  d.  Leichen  in  alter  u.  neuer  Zeit,  ßraua- 
schweig  1839,  8 «,    128  S. 


China..  I 

Mit  Rücksicht  auf  die  schwere  Zugängigkeit  des  Gegenstandes  folgt  eine  Ueber' 
sieht  der  nottvendigsten  Hilfsbücher. 

a)  *Kainz  (C),  Prakt.  Grammatik  der  chin.  Sprache,  Wien,  Pest,  Leipzig, 
8»,  191  S.,  10  Schrifttaf. 

b)  *Andreae  (V.)  u.  Geiger  (John),  Biblioth.  sinologica  (Wegiceiser  durch 
d.  Sinolog.  Literatur),  Frankf,  Lond.,  Par.  1864,  8",  108  +  31  S.,  16  S.  Schrifttf. 

c)  *Kidd  (Sam.),  China,  Lond.  1841,  S**,  403  SS.  (Grundzüge  der  Kultur  u. 
Literatur,  gründlich;  *Navarra  (B.),  China  u.  d.  Chinesen,  Bremen,  SJuingai  1901, 
8°,  1184  SS.  (Nach  eigener  Anschauung,  reich  illustr.,  gehört  zu  den  besseren  Tages- 
erzeugnissen.)  \ 

d)  *Cleyer  (Andr.),  Specimen  medicinae  sinicae.  C.  figg.,  Francof.  1682,  4'| 
Cleyer  (Andr.  pi-odux.,  aut.  M.  Boymo,  procur.  Ph.  Copletio),  Clavis  medica  aa 
Chinar.  aoctrinam  de  pulsib.  S.  l.  1684,  4",  144  pp.,  6  tob.;  *J)u  Halde  (J.  B.), 


«)  Pap.  Ebers.    Joach  S.  187. 


1 


Geschichte  der  Anatomie.  163 

Descript.  de  Vernpire  de  la  Chine.  La  Eaye  1736,  4  vols.,  4  °  (m.  einem  eingehenden 
Kap.  über  Medicin) ;  *Choulant  (L.),  Graph.  Incunabeln  f.  Natur g.  u.  Med.  S.A. 
aus  Naumanns  Arch.  f.  d.  zeich.  Künste  III,  Leipz.  1858,  8",  168  SS.  (besonders 
Einl.  S.  XV  u.  f.);  Tatarinoff  (A.),  D.  chines.  Med.  Arb.  der  kais.  russ.  Ge- 
sandtsch.  in  Peking  üb.  China.  A.  d.  Russ.  von  C.  Abel  u.  F.  A.  Mecklenburg, 
Bd.  II,  Berl.  1858,  S.  421 — 465;  *Dabry  (F.),  La  medecine  chez  les  CJiinois,  Paris 
1863,  8  °,  580  pp.  (Bisher  die  reichhaltigste  %md  ausführlichste  Monographie,  aber 
stellemceise  oberflächlich,  daher  nicht  immer  verlässlich.) 

e)  Day  (W.),  Chinese  tract  on  the  Vaccine.  Origin.  print.  at  Canton  in  1805, 
lithogr.  in  Land.  1828,  8 ";  ^ßeliinann  (J.),  Zwey  chines.  Abhndlngn.  üb.  d.  Ge- 
burtsh.  A.  d.  Mandschur.  ins  Russ.,  a.  d.  Russ.  ins  Deutsche  übers.  St.  Petersb. 
1810,  8°,  36  S.;  *Pfizniaiet'  (Aug.),  Erklärung  einer  alten  chines.  Semiotik,  D. 
Pulslehre  Tschang-KVs,  Analecta  aus  d.  chines.  Pathologie.  Sitzgsber.  d.  philos. 
hist.  Cl.  d.  kais.  Ak.  d.  Wiss.,  Wien  1865,  5L  Bd.  S.  5  u.  f.,  1866,  52.  Bd.,  S.  207 
u.  f.,  565  u.  f.  (au<:h  im  S.A.). 

f)  *I*orter  SniitJi  (Fr.),  Contrib.  toic.  the  Materia  med.  and  nat.  hist.  of 
China,  SJmngai,  Lond.  1871,  S",  237  pp.  (aiphabet.  Verz.  der  chin.  Drogen  m.  Er- 
läuterungen): *Mi€clel  (J.  D.),  Gedenkblatt  an  d.  Ausstelbing  chines.  Arzneimittel, 
Aug.  1890,  Berl,  8",  20  S.  (Verz.  von  341  Heilmitteln  aus  China). 

g)  Bi'etschneid  ;r  (E.),  On  ihe  study  and  value  of  Chinese  botan.  works  etc., 
Foochow  1870—71,  8°,  pp.  51;  Botanicon  Sinicum,  P.  1,  Lond.  1882,  pp.  288. 
P.  II,  W.  annot.  etc.  by  Fabber  (K),  gr.  8^,  Shanghai  1892.  P.  III,  Shanghai 
1895;  History  of  European  botan.  discoveries  in  China,  2  vols.,  Lond.  1898. 

h)  Cohn  (W.),  Anatomie  in  China.  Deutsche  med.  Wochenschr.,  Berl.,  27.  Juli 
1899,  Nr.  30  S.  496. 

i)  *Im  chines.  Original  kenne  ich  den  „goldenen  Spiegel  zu  den  äusseren 
Krankheiten^,  10  Bde.,  Format  17,5  :  10,5  an  zu  je  ca.  150  SS.  In  Bd.  1 
mehrere  rohe  Abb.  zur  Gefässlehre.  —  Ueber  4  chinesische  Original-Abb.  in  d.  med. 
chir.  Akad.  zu  Dresden  vgl.  Choulant  in  Rubner's  Hlustr.  med.  Zeitung  III,  314.  — 
Ein  chines.  Holzschnitt  (69  x  26  cm)  mit  2  Abb.  zur  Gefässanafomie  der  oberen 
Gliedmasse  nach  europ.  Vorbild,  sowie  einige  andere  chines.  Originale  in  meinem 
Besitz. 

j)  Vergl.  auch  die  Zusammenstellung  der  Litteratur  von  B.  Schwalbe  im  1.  Bd. 
>'.  19.  —  Belanglos  sind,  wenn  auch  öfter  citiert:  *DuJar(lin,  Hist.  de  la  Chir., 
T.  I,  Par.  1774.  (Im  Anhang  4  Taf.  mit  Figuren  zur  Verdeutlichung  der  Wahl- 
steilen  f.  d.  Moxa,  bezto.  Akupicnktur,  flüchtige  Nachbildungen  chinesischer  Originale, 
durch  die  Darstellung  bei  Dabry  überflügelt ;  *Ilyrtl,  Antiquitates  anat.  rar.,  Vindob. 
1835,  mit  2  verkl.  Kopien  nach  Cleyer;  *IIeu8inger,  D.  chines.  Medicin  (nach 
Wilson  (J.),  Medic.  notes  on  China,  Lond.  1846,  p.  233)  in  HenscheVs  Janus  III, 
S.  193—216,  1848  (fexälletonist.  Plauderei). 

k)  Neuere  französische  Litteratur.  Bouffard  (Docteur),  Notes  medicales 
recucuillies  ä  Tchen-Tou  (Chine).  (Annales  d'hygiene  et  de  medecine  coloniale  1900, 
Nr.  2).  —  Cauvet,  Nouveaux  elements  d'hist.  naturelle  medicale,  Paris  1885 
(Bailliere,  edit.).  —  JJeheaux,  Essais  sur  la  pharmacie  et  la  matiere  medicale  des 
Chinois,  Paris  1865  (Bailliere  et  fils,  edit.).  —  *Dumouti€V,  Essai  sur  la  phar- 
macie annamite,  Hanoi  1887  (Schneider,  edit.).  —  Gouzien  (Docteur),  Manuel 
franco-tonkinois  de  conversation  specialem,  ä  Vusage  du  medecin,  Paris  1897  (Chal- 
lamel,  edit.).  —  Lanessan  (Docteur  J.  L.  de),  Les  plantes  utiles  des  colonies  fran- 
'■aises.  —  Lonriro  (J.  de),  Flora  Cochinchinensis.  —  Matignon  (Docteur  J.), 
(In  traitement  chinois  de  la  diphterie  (Bull,  gener.  d.  therapeut..  15  aoüt  1895J; 
Les  suicide  en  Chine,  Lyon  1897  (Storck,  editeur) ;  Les  instruments  de  Chirurgie  des 
Chinois  (Archives  cliniques  de  Bordeaux,  novembre  1897);  Superstition,  crime  et 
unsere  en  Chine,  Lyon  1899  (Storck,  editeur).  —  Jilorache  (Docteur  G.),  L'exercice 
•le  la  medecine  chez  les  Chinois,  1864  (Recueil  des  memoires  de  med.  milit.,  3me 
th'ie,  t.  XII);  Pekin  et  ses  habitants,  Paris  1869  (Bailliere,  edit.);  Chine  (article 
ilans  le  dictionnaires  encyclop.  des  sciences  med.).  —  *Nordemann,  Manuel  versifie 
'le  medecine  annamite,  Hanoi  1896.  —  Loubeiran  et  Dabry,  La  matiere  medi- 
ale chez  les  Chinois,  Paris  1847  (Masson,  editeur). 

l)  *JRegnaidt  (.Jules),  Medecine  et  pharmacie  chez  les  Chinois  tt  chez  les 
Annamites.  A.  Challamel  ed.  Paris.  S.A.  (1902),  gr.  8°,  233  jp  (dm  ßedürfniss 
der  Selbstbelehrung  entsprungen,  von  tcecliselnder  Gründlichkeit,  aoer  mit  reich- 
haltigem Inhalt.  Als  Einleitung  in  das  Studium  des  Gegenstandes  empfehlenstcert. 
Die  anatomischen  Abbildungen  aus  Cleyer).  —  liegnaidt  (Jules),  Notes  sur  l'opo- 
lUerapie  chez  les  Chinois  et  les  Annamites  (Revue  des  Medecine,  1900). 

m)  *  Lockhart  (W.),  Der  ärztl.  Missionär  in  China.  Deutsch  von  H.  Bauer, 
Würzb.  1863,  246  S. 

11* 


164  Robert  Ritter  von  Töply. 

Der  Ursprung  der  Anatomie  ist  hier  wie  anderswo  in  das  Gewand 
der  Fabel  gehüllt.  Das  als  klassisch  geltende  Buch  Noi-king  (nui- 
king,  nuj^-kim,  neiszin,  Hwang-ti-noi-king),  angeblich  von  dem  legen- 
dären „gelben"  Kaiser  Hwang-Ti  oder  doch  aus  dessen  Zeit  her- 
rührend (2697—2598  oder  2698—2599),  hat  neuestens  nicht  nur  in  Be- 
zug auf  Ehrfurcht  vor  seinem  Alter,  sondern  auch  als  grundlegendes 
Werk  über  den  „Bau  des  Menschen"  wesentlich  an  Ansehen  verloren. 
Einer  erspriesslichen  Entwicklung  der  Anatomie  ist  übrigens  der  Um- 
stand hinderlich,  dass  die  Leichenschau  noch  heute  als  „Beleidigung 
des  Toten  und  eine  Unzukömmlichkeit  gegenüber  den  Lebenden"  gilt. 
Was  der  Anatomie  hier  vor  allem  mangelt,  das  ist  die  Selbständigkeit. 
Sie  ist  nicht  die  Grundlage,  auf  der  sich  die  anderen  medizinischen 
Fächer  aufbauen,  sondern  nur  deren  erläuternde  Einleitung.  Daher 
spielen  auch  nur  jene  Abschnitte  eine  Rolle,  mit  denen  sich  die 
praktische  Medizin  zumeist  befasst,  das  ist  die  Ein  ge  weide  lehre 
und  die  Gefässlehre.  In  den  Kopien  der  Abbildungen  bei  Cleyer 
und  Dujardin  (letztere  minderwertig),  ebenso  in  den  mir  im  Original 
bekannten  des  goldenen  Spiegels  zu  den  äusseren  Krankheiten  sind 
die  Knochen  nur  scheraatisch  und  meist  zusammenhanglos  eingetragen. 
Die  Wirbelsäule  in  letzterem  ähnelt  am  ehesten  einem  Satz  von  22 
Theetassen.  Das  Gefässsystem  ist  wie  das  Strassennetz  einer  Land- 
karte im  grossen  Massstab  gezeichnet,  das  Muskelsystem,  das  Nerven- 
system sowie  die  Sinnesorgane  scheinen  nicht  näher  bekannt  zu  sein. 
Die  Einteilung  der  Eingeweide  schliesst  sich  eng  an  die  der  spe- 
kulativen Naturphilosophie  zu  Grunde  liegende  Lehrevon  der  Fünf - 
zahl  an,  welche  in  der  chinesischen  Kultur  eine  wichtige  Rolle  spielt. 
Sie  gründet  sich  auf  die  Annahme  von  5  Planeten  und  deren  Ana- 
logien. Da  die  astronomischen  Kenntnisse  in  die  Urzeiten  der  Kultur 
zurückreichen,  muss  auch  den  darauf  gestützten  Analogien,  bezw.  dem 
darauf  gebauten  anatomischen  System  ein  hohes  Alter  beigemessen 
werden.  Daraus  ergiebt  sich  aber  auch,  dass  das  System  der  chine- 
sischen Anatomie  als  durchaus  autochthon  aufzufassen  ist  und  die 
bisher  wiederholt  geäusserten  Vermutungen  oder  Andeutungen  eines 
Zusammenhangs  zwischen  China  und  griechischer  Kultur  in  dieser 
Beziehung  (ob  zwar  ein  solcher  in  anderer  Hinsicht  nicht  abzuleugnen 
ist)  grundlos  sind. 

Die  hauptsächlichen  Daten  dieses  eigentümlichen  Systems  sind 
kurz  skizziert.  Den  fünf  Planeten  (Jupiter,  Mars,  Saturn,  Venus, 
Merkur)  entsprechen  die  Elemente  1.  Holz  (muk),  2.  Feuer  (hüo), 
3.  Erde  (t'ü),  4.  Metall  (kin),  5.  Wasser  (sui),  mit  den  Farben  L  grün 
(implicite  blau),  2.  rot,  3.  gelb,  4.  weiss,  5.  schwarz,  den  Elementen  die 
solideren  „Eingeweide":  1.  Leber,  2.  Herz,  3.  Milz,  4.  Lunge, 
5.  Nieren.  Diese  Eingeweide  sind  gleichzeitig  Repräsentanten  des 
negativen  (weiblichen)  Urstoffes  a  n  (ürstoff  der  Finsternis,  der  Feuch- 
tigkeit). Hire  Rangordnung  ist  gegeben  durch  die  der  analogen 
Elemente  in  beistehender  Weise: 


Herz 


Lunge  Milz 


Nieren 


Leber 


Durch  Einwirkung  der  Luftarten  (L  Wind,  2.  Hitze,  3.  Feuch- 
tigkeit, 4.  Dürre,  5.  Kälte)  auf  diese  Eingeweide  entstehen  die  Farbe  n 


Geschichte  der  Anatomie. 


165 


im  Körper,  und  kommen  im  Gesichte  als  ,.geistige  Blüte"  im  Sinne 
obiger  Eangordnung  an  der  Stirn,  rechten  Wange,  Xase,  linken  Wange, 
am  Kinn  zum  Ausdruck.   Das  Verwandt-  ^ 

schaftsverhältnis  der  Eingeweide  und 
deren  Farben  ergiebt  sich  aus  dem 
beistehenden  Pentagon,  wenn  die  Punkte 
1 — 5  mit  den  entsprechenden  Einge- 
weiden, Farben  u.  s.  w.  besetzt  werden  — 
(die  Zeichen  +  beziehen  sich  auf  die 
Eigenschaften  der  Farben).  Die  Linien 
des  Pentagons  bezeichnen  das  verwandt- 
schaftliche Verhältnis  (Konsonanz),  die 
des  eingezeichneten  Pentagramms  das 
feindliche  Verhältnis  (Dissonanz).  Mit 
den  Eingeweiden  korrespondieren  die  „Kammern"  (Hohlorgane)  als 
Vertreter  des  positiven  (männlichen)  ürstoffs  y  ä  n  g  (Urstoff  des  Lichtes, 
der  Wärme):  1.  Gallenblase,  2.  Dünndarm,  3.  Magen,  4.  Dickdarm, 
5.  Harnblase  (und  üreteren).  Nebst  den  allerdings  nur  sehr  kurzen 
Beschreibungen  der  Organe  bestehen  auch  noch  Angaben  über  Ge- 
wichte und  Masse. ^) 

Die  Leber  hat  7  Lappen,  links  3,  rechts  4.  Gewicht  4  kin  4  leang. 
Das  Herz  ist  mindest  12  leang  schwer.  Es  fasst  3  ko,  hat  7  Löcher  und 
3  Klappen.  Die  Milz  ist  5  tsun  lang,  3  tsun  breit.  Gewicht  2  kin  3  leang. 
Die  Lunge  hat  8  Lappen.  Gewicht  3  kin  3  leang.  Die  Nieren  haben 
ein  Gewicht  von  1  kin  1  leang.  Die  Gallenblase  fasst  3  ko ;  ihr  Ge- 
wicht 3  leang  3  schu.  Der  Dünndarm  ist  3  tschang  (3)  2  tsche  lang, 
2  kin  (2)  14  leang  schwer.  Die  Länge  seines  ,, Kopfs"  beträgt  S^!^  fen. 
Er  fasst  2  teu  (4)  4  tsching  Nahrung  und  6  tsching  2^/.,  ko  Wasser.  Er 
hat  16  Windungen.  Der  Magen  ist  2  tsche  6  tsun  lang,  1  tsche  5  tsun 
dick  (Umfang  in  der  Mitte).  Sein  Gewicht  2  kin  14  leang.  Er  fasst  2  teu 
Nahrung,  1  teu  5  tsching  Wasser.  Der  Dickdarm  bildet  16  Windungen, 
^vie  der  Dünndarm.  Es  ist  2  tschang  1  tsche  lang,  2  kin  12  leang  schwer 
(ungefähr  wie  der  Dünndarm).  Er  fasst  1  teu  Nahrung,  6^,  tsching 
Wasser,  Die  Harnblase  fasst  9  tsching  9  ko  Harn.  Ihr  Gewicht  be- 
trägt 5  leang,   die  Breite  9  tsun. 

Das  Gefässsystem  besteht  erstens  aus  12  Adern  (king),  von 
denen  je  5  den  Eingeweiden  bezw.  den  Kammern  entsprechen,  also 
den  negativen  bezw.  den  positiven  Urstoff  führen,  während  die  elfte 
dem  Herzbeutel  entsprechend  für  den  negativen,  die  zwölfte  dem  Brust- 
fellsack (santsiao)  entsprechend  für  den  positiven  Urstoff  dient.  Sie 
bilden  gepaart  eine  geschlossene  Kette  für  den  Blutumlauf  derart, 
dass  je  ein  positives  und  ein  negatives  Paar  abwechselt.  Die  Auf- 
zählung hält  sich  auch  hier,  wie  bei  den  Eingeweiden  und  Kammern, 
nicht  an  den  organischen  Zusammenhang,  sondern  an  die  Stellung  in 
jenem  System: 

—  1.  Lungenader  fey-king  (seü-tai-yn,  Ader  des  grossen  Ürstoffs 
yn,  an  der  Hand  endend).  Sie  ist  die  praktisch  wichtigste  Pulsader  (a. 
radialis). 


')  "Vgl.  die  Schlussanmerkung. 


166  Robert  EHter  von  Töply. 

-j-  2.  Dickdarmader  ta-tschang-king  (§eü-yang-ming,  Ad.  des  leuch- 
tenden TJrst.  yang  an  der  Hand  beginnend). 

-j-  3.  ]ll[agenader  oey-king  (tso-yang-ming,  Ad.  des  leucht.  TJrst. 
yang,  am  Fuss  endend). 

—  4.  Milzader  py-king  (tso-tai-yn,  Ad.  d.  gr.  TJrst.  yn,  am  Fusse 
beginnend). 

—  5.  Herzader  sin-king  (seü-tschao-yn,  Ad.  des  verminderten  TJr- 
stofFs  yn,  an  der  Hand  endend). 

-|-  6.  Dünndarmader  siao-tschang-king  (seü-tai-yang,  Ad.  d.  gr. 
TJrstoffs  yang,  an  d.  Hand  beginnend). 

-|-  7.  Harnblasenader  pang-kwang-king  (tso-tai-yang,  Ad.  d.  gr. 
TJrst.  yang,  am  Fusse  endigend). 

—  8.  Nierenader  tschin-king  (tso-tschao-yn,  Ad.  d.  vermind.  TJrst. 
yn,  am  Fusse  beginnend). 

—  9.  Herzbeutelader  sin-pao-king  (seü-kiue-yn,  Ad,  d,  vermind. 
TJrst.  yn,  an  d.  Hand  endigend). 

-|-  10.  Brust fe Hader  san-tsiao-king  (seü-tschao-yang.  Ad.  d.  ver- 
mind. TJrst.  yang,  an  d.  Hand  endigend). 

-|-  11.  Gallenblasenader  tan-king  (tso-tschao-yang.  Ad.  d.  ver- 
mind. TJrst.  yang,  am  Fusse  endend). 

—  12.  Leberader  kan-king  (tso-kiue-yn.  Ad.  d.  vermind.  TJrst.  yn, 
am  Fusse  beginnend). 

Dieses  Sj^stem  vervollständigen  zwei  Sammelge fasse: 

-|-  a)  tu-me-king,  das  Sammelgefäss  für  den  TJrstoff  yang,  an  der 
Rückseite  zum  Gehirn  aufsteigend  und  an  der  Oberlippe  endigend. 

—  b)  dschin-me-king,  das  Sammelgefäss  für  den  TJrstoff  yn.  Es 
steigt    als  Gegenstück  zum  Vorigen    an  der  Vorderseite  zur  TJnterlippe  auf. 

Diese  14  Hauptadern  haben  23  kleine  Aeste.  TJeberdies  wird 
noch  eine  Reihe  anderer  kleiner  Gefässäste  beschrieben,  und  zwar: 

An  der  Vorderseite  des  Kopfes  5,  an  dessen  Rückseite  7,  am 
Halse  7,  für  die  Brust  und  den  Bauch  11,  am  Rücken  5,  am  Arm 
hinten  3,  vorn  3,  an  den  unteren  Gliedmassen  hinten  3,  vorn  3. 

Die  Zerstückelung  eines  organischen  Ganzen,  wie  es  das  Gefäss- 
system  ist,  zu  gunsten  eines  raffiniert  ausgeklügelten  bodenlosen  Ge- 
bäudes, macht  es  sehr  schwer,  aus  der  Beschreibung  das  Zusammen- 
gehörige zu  finden.  Das  Herz,  welches  im  Blutumlauf  eine  den  übrigen 
Organen  gleichwertige  Rolle  spielt,  ist  bei  der  Beschreibung  des  Ge- 
fässsj^stems  gar  nicht  berücksichtigt. 

Dem  System  zuliebe  entstehen  Knaben  und  Mädchen  in 
der  Gebärmutter  gesondert.  „Zur  Linken  ist  es  ein  Knabe,  zur 
Rechten  ist  es  ein  Mädchen"  entsprechend  dem  Satze  „die  linke  Seite 
ist  der  TJrstoff  des  Lichtes,  die  rechte  Seite  ist  der  Urstoff  der 
Finsternis*'.-) 

Die  von  der  unseren  völlig  abweichende  Nomenklatur,  sowie  die 
fremdartige  Ausdrucksweise  erschweren  ungemein  das  Verständnis 
chinesischer  Texte,  auch  in  wortgetreuer  Uebertragung.  So  ist  z.  B. 
Fisch  =  Daumenballen,  Thor  des  Lebensloses  =  Mitte  beider  Nieren, 
Mitte  der  Thorwarte  =  Raum  zwischen  beiden  Augenbrauen,  Knochen 


-)  Tschang-ki,  Pulslehre  ed.  Pfizmaier,  S.  243,  244. 


Geschichte  der  Anatomie.  167 

der  Schnur  =  Jochbein.  Knochen  des  Wagens  der  Zähne  =  Ober- 
kiefer, leere  Weglänge  =  grosse  Ader  des  Magens.  Zur  Andeutung 
der  Ausdrucksweise  dürften  die  folgenden  von  Tschang-ki  gegebenen 
Beschreibungen  der  Eadialarterie  als  bevorzugter  Pulsader  genügen: 
„Die  an  dem  Munde  des  Zolles  sich  bewegende  Ader  ist  der  Hof  und 
das  Stammhaus  der  grossen  Versammlung  —  der  Himmel  der  mittleren 
Abteilung  ist  die  zunächst  dem  leitenden  Wassergraben  sich  bewegende 
Ader  des  Mundes  des  Zolles,  wohin  die  Luft  der  Ader  des  grossen 
Urstoifes  der  Finsternis  (Lungenader,  s.  oben  Nr.  1)  an  der  Hand 
sich  in  Gang  setzt  und  welche  die  Lungen  erspäht."  ^) 

Versuche,  die  chinesische  Anatomie  durch  eine  wissenschaftliche 
zu  ersetzen,  dürften  vor  allem  an  dem  Umstände  scheitern,  dass  die 
Anatomie  dort  mit  den  Grundsätzen  der  Weltanschauung  eng  verknüpft 
ist,  welche  dem  kleinen  Kinde  bereits  in  der  ersten  Unterrichtsklasse 
eingeimpft  werden.  Unter  den  ersten  Sätzen,  die  das  Kind  aus  seiner 
Fibel,  dem  „Buch  der  drei  Worte"  (verfasst  1277)  lernt,  lautet  der 
eine  „Wasser  und  Feuer.  Holz,  Metall  und  Erde,  dies  sind  die  fünf 
Elemente,  die  Zahl  der  Natur".'*)  Deshalb  dürften  die  idealistischen 
Bestrebungen  des  Kaisers  Kang-hi,  sein  Volk  mit  der  europäischen 
Anatomie  bekannt  zu  machen,  auch  ihr  Ziel  verfehlt  haben,  selbst 
wenn  sie  zur  Ausführung  gekommen  wären.  Der  Sachverhalt  ist 
wiederholt  verschieden  dargestellt  worden,  jedoch  ohne  Quellenangabe. 
Nach  der  im  folgenden  mitgeteilten  Quelle  hatte  der  Kaiser  im  Jahre 
1722  den  Jesuiten  P.  Perennin  mit  einer  Uebersetzung  der  Anatomie 
des  Pierre  Dionis  (1690  und  öfter)  beauftragt  und  ihm  ein  ent- 
sprechendes Hilfspersonal  zugeteilt.  Da  jedoch  der  Kaiser  bald  danach 
starb,  sendete  Perennin,  was  er  bisher  zu  stände  gebracht,  an  die 
Bibliothek  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Paris.  ^) 

Zur  Geschichte  der  anatomischen  Abbildung.  Vier 
anatomische  Tafeln,  welche  Hedde  im  Jahre  1848  in  seiner  Reise- 
beschreibung als  originalchinesische  ausgegeben  hatte,  ^)  haben  sich 
als  Mache  eines  in  Kanton  wohnhaften  englischen  Arztes  ergeben, 
welcher  sie  nach  einem  englischen  anatomischen  Atlas  gearbeitet  hatte. ') 

Anm.  Masse  und  Gewichte.  Nach  Dabry  ist  1  ko  =  0,08  L. ; 
1  kin  =  588  g  =  16  leang;  1  tschang  :=  3,14  m  =^  10  tsche  =  100  tsun 
=  1,000  fen;  1  teu  =  120,000  Hirsekörner  =  10  tsching  =  100  ko  = 
1,000  yo.  —  Nach  Regnault  ist  ein  kin  (Pfund)  =  604  g  =  16  leäng, 
danach  1  leäng  =  3,775  g  =  10  ts'ien  =  100  fenn  =  1000  li  =  10,000  haö 
=  100,000  seü,  danach  1  seü  =  0,0003775  g.  Ueber  die  Mannigfaltig- 
keit der  Masse  und  Gewichte  vergl.  den  Artikel  Masse  und  Gewichte  bei 
B.  Navara,   China  und  die  Chinesen   1901,  S.   669  u.  f. 


^)  a.  a.  0.  S.  209,  215. 

*)  C.  F.  Neumann,  Lehrsaal  des  Mittelreichs,  Münch.  1836,  4°,  45  S.  u.  20  S. 
chines.  Text. 

*)  Aneedotes  historiqnes,  litteraires  et  critiques  sur  la  med.,  la  chir.  et  la 
pharm.  1  part.,  Amsterd.  et  Paris  1785,  p.  146  sq. 

")  Gemeint  ist  wohl  J.  Hedde,  Descript.  methodique  des  produits  divers, 
recueillies  dans  un  voyage  eu  Chine,  St.  Etienne  1848,  gr.  8". 

')  Vergl.  Choulant,  Graph.  Incuu.  u.  Wernich  in  Gurlt-Hirsch  Biogr. 
Lex.  II  S.  11-14. 


168  Robert  Ritter  von  Töply. 


Indien. 


Gmndr.  der  indo-ar.  Philologie  u.  Altertumskunde  begr.  v.  G.  Bühler,  fortges. 
V.  F.  Kielhorn.  Daraus:  Blooniflelfl  (M.),  The  Atharvaveda  and  the  Gopatha- 
Brähmanm  (II  IbJ;  *Jolly  (Julius),  Medicin,  Strassb.  1901,  MOS.  (Knappe,  sehr 
gründliche  Uebersicht.)  —  *Susruta8,  Ayurvedas.  Vert.  Franc.  Hessler,  Erlang. 
1844 — 1852  (unverlässliche  Ucbersetzung).  —  Havelock  (Charles),  The  progress  of 
the  teaching  of  human  anatomy  in  Northern  India,  Br.  J.  II,  p.  841 — 844,  3  abb. 

Die  buddhistische  Periode  in  Indien  beginnt  mit  der  Einführung 
des  Buddhismus  durch  König  A^oka  (regierte  ungefähr  269 — 232). 
Die  vedische  Medizin,  auf  der  Vorstufe  dieser  Periode  fussend,  ist 
nichtsdestoweniger  in  die  Werke  der  späteren  Zeit  in  ihren  Grund- 
anschauungen meist  vollinhaltlich  übernommen  worden.  ^) 

Die  theoretischen  Anschauungen  fussen  auf  der  Annahme 
von  drei  Grundsäften  (dosa,  dhatu) :  Wind,  Galle,  Schleim.  Vom  Wind 
und  der  Galle  gibt  es  je  5  Arten.  Die  Annahme  des  Blutes  als  vierten 
Grundsaftes  kommt  nur  vereinzelt  vor.  Sie  erinnert  an  die  griechische 
Humoral  Pathologie;  ebenso  die  Einteilung  des  Windes  und  der  Galle 
in  je  5  Arten  an  die  Lehre  von  der  Fünfzahl  bei  den  Chinesen.  Indes 
stimmen  die  Sitze  des  Windes  und  der  Galle  mit  jenen  der  chinesischen 
Haupteingeweide  nicht  völlig  überein,  so  dass  ein  unmittelbarer  Ein- 
fluss  chinesischer  Theorien  nicht  anzunehmen  ist.  Der  Körper  besteht 
aus  7  Grundbestandteilen  (dhätu):  rasa  (Saft,  Chylus),  rakta  (rote 
Flüssigkeit,  Blut),  mämsa  (Fleisch),  medas  (Fett),  asthi  (Knochen), 
majjä  (Mark),  sukra  (Samen). 

Die  Anatomie  ist  wesentlich  theoretischer  Natur.  Die  Zahl 
der  Knochen  wird  in  den  meisten  Schriften  übereinstimmend  mit  360 
angegeben,  und  zwar:  Zähne  32,  Zahnwurzeln  32,  Nägel  20,  Hände 
und  Füsse  20,  Finger  und  Zehen  60,  Fersen  2  (unterhalb  der  Ballen  2), 
Handgelenke  4,  Fussknöchel  4,  Ellbogen  4,  Unterschenkel  4,  Kniee  2, 
Kniekehlen  (Becken?)  2,  Oberschenkel  2,  Arme  und  Schultern  2,  unter- 
halb der  Schläfe  2,  Gaumen  2,  Hüften  2,  Schambein  1,  (Kreuzbein  1, 
Steissbein  1),  Rücken  3.5  (45),  Hals  15,  Schlüsselbein  2,  Kinn  1,  Unter- 
kieferknochen 2,  Stirn  2,  Augen  2,  Wangen  2,  (Nasenknorpel  1,  Nasen- 
knochen 3),  Rippen  und  Rückgrat  72,  Schläfe  2,  Kopf  4,  Brust  17. 
Die  Unterscheidung  von  32  Zähnen  und  ebensoviel  Zahnwurzeln,  die 
Einbeziehung  der  Nägel,  dann  des  Nasenknorpels  in  die  Knochenlehre 
zeugt  von  einer  sehr  rohen  Anschauung.  Als  die  6  Hauptglieder  (anga) 
des  Körpers  gelten  die  Arme,  Beine,  der  Rumpf,  der  Kopf,  als  Neben- 
glieder (pratyariga)  der  Schädel,  Bauch,  Rücken,  Nabel,  die  Stirn, 
Nase,  Ohren,  Augen,  Finger  u.  a.  (nach  einer  Angabe  56).  An  der 
Haut  werden  6 — 7  Schichten  unterschieden.  Die  5  Sinneswerkzeuge 
sind:  die  Haut,  Zunge,  Nase,  die  Augen,  Ohren,  die  5  „Werkzeuge 
der  That":  Hände,  Füsse,  After,  Geschlechtsteile,  Zunge.  Die  7  Be- 
hälter (asaya,  ädhära)  oder  hohlen  Eingeweide  enthalten  die  Luft, 
Galle,  Schleim,  Blut,  unverdaute  Speisen,  verdaute  Speisen,  Harn,  bei 
den  Frauen  der  achte  (garbhäsaya)  den  Fötus.  Sie  umfassen  auch  die 
inneren  Organe  (hosthäriga)  und  zwar  das  Herz,  die  Lunge,  Leber, 
Milz,  Blase,  den  Magen,  Mastdarm  u.  a.,  im  ganzen  15.  Die  9  Oeff- 
nungen  sind  der  Mund,  die  Nasenlöcher,  Ohren,  Augen,  der  After,  die 


^)  Ueb.  d.  ved.  Med.  vgl.  insbes.  Bloom field,  The  Atharvaveda. 


Greschichte  der  Anatomie.  169 

Harnröhre,  bei  Frauen  die  Brüste  und  die  Scheide.  Der  Körper  ent- 
hält an  Wasser  10,  an  Galle  5  anjali  f Handvoll).  Die  Zahl  der  Ge- 
lenke beträgt  nach  Susruta  210:  68  in  den  Gliedmassen,  59  am  Rumpf, 
83  über  dem  Hals;  dazu  kommen  noch  andere  an  den  Muskeln,  Sehnen, 
„.„,,,  Bänder  (snävu.  Sehnen.  Nerven)  .  .  ... 
Nerven,  Adern.    Die  Zahl  der  ^ — M~Y1 betragt 

900  ^      r.1-  ^  600  ^        f  230     ,     ,    „    ,     ^  ,       70 

^TTTT :  an  den  Gliedmassen  77^'  am  Eumpi  77;^.  oberhalb  des  Halses  ^^. 
oOO  400  d6  o4 

Dazu  kommen  noch  mehrere  bei   den  Frauen.    Unter  den  700  Adern 

(sirä)   werden   10  Grundadem   (mülasiiä)   am   Herzen   hervorgehoben. 

Auch  ist   von   72000  Röhren  (nädii   gelegentlich  die  Rede,  die   vom 

Herzen  ausgehen.    Je  175  Adern  enthalten  Luft  (Wind).  Galle,  Schleim, 

Blut.     Vom  Nabel  gehen  24  selbständige  Röhren   idhamani,  d.  h.  Ge- 

fässe  und  Nerven  1  aus,  und  zwar  je  10  nach  oben  bezw.  unten.  4  quer 

durch   den   Körper.    Die   Quellen    (Caraka.  Yaiigasena,   Yäjiiavalbya) 

sprechen  sogar  von  3  956  000  (2  900  956)  sirä  und  dhamani  I   Ueberdies 

werden  als  besondere  Kanäle  die  srotas  ei-wähnt,  und  zwar  je  2  für 

den  Atem,   die  Speisen,   das  Wasser,  den   Chylus,  das  Blut,  Fleisch, 

Fett,   den   Harn,   Kot,   Samen,   das   Menstrualblut,    dann    16   Sehnen 

(kandarai,    aus  denen  die  Nägel  hervorgehen,  ebensoviel  Netze  fjäla), 

6  Ballen  (kmca)   an   den  Händen,  Füssen,   am  Hals.  4  Striche  (rajju) 

am  Rückgrat,  7  Nähte  (sevanl.  5  am  Kopf,  je  1  an  der  Zunge  und  am 

Penis),  14  Knochengruppen  mit  Scheidelinien. 

Sehr  bezeichnend  füi-  die  indische  Auffassung  ist  die  Anatomie 
des  Auges :  Das  Schwarze  (trsnamandala)  beansprucht  V-  des  Auges,  das 
Sehorgan  (drsti,  Pupille  und  Linse)  \-  des  Schwarzen.  5  Ki-eise 
(Wimpern,  Lider,  das  Weisse,  das  Schwarze,  die  drsti),  6  Verbindungs- 
stellen (samdhi,  vgl.  oben  Gelenke),  6  Membranen  (2  an  den  Augen- 
lidern, 4  am  Auge)  setzen  das  Auge  zusammen.  Der  Durchmesser  der 
Membranen  beträgt  insgesamt  ^5  des  Sehorgans  (drsti). 

Diese  Anatomie  sowie  auch  die  Embryologie  ist  ebenso  in  ein 
mittelalterliches  musiktheoretisches  Werk,  die  Saingltaratnäkara,  in 
genauer  Uebereinstimmung  mit  Susruta  und  Caraka  übergegangen. 

Wie  ei^ichtlich,  ist  diese  Anatomie  nicht  auf  besonderen  Beobach- 
tungen aufgebaut.  Nichtsdestoweniger  empfiehlt  Susruta  (3,  5)  den 
Chirurgen  das  Studium  der  Leiche,  allerdings  ei-st,  nachdem  sie 
in  einem  Käfig  durch  7  Tage  im  Wasser  gelegen  und  gehörig  verwest 
ist.  Die  auf  diese  Weise  zu  stände  gekommene  Zerfaserung  mag  die 
grosse  Zahl  der  Einzelbestandteile  erklären,  deren  Aufzählung  den 
wesentlichen  Inhalt  der  indischen  Anatomie  bildet,  während  die  Be- 
schreibung beinahe  gänzlich  in  den  Hintergrund  tritt. 

Die  Entwicklungstheorie  der  älteren  Zeit,  deren  Susruta 
erwähnt  (3,  3,  28 j,  liess  die  Entstehung  des  Embryo  je  nachdem, 
vom  Kopfe,  dem  Herzen,  dem  Nabel,  den  Händen  und  Füssen,  der 
Mitte  des  Körpers  ausgehen.  Gegenüber  diesen  Ansichten,  welche 
Susruta  nicht  billigt,  besteht  die  herrschende  Lehre  von  der  Ent- 
wicklung nach  folgender  Monatseinteilung:  1.  eine  von  den  5  Elementen 
verdickte  schleimige  Masse;  2.  eine  feste,  rundliche  Masse,  welche  sich 
in  der  Folge  männlich,  weiblich  oder  zu  einem  Zwitter  entwickelt; 
3.  Entwicklung  des  Körpers  nach  5  Richtungen;  4.  Ausbildung  der 
Körperteile  und  des  Herzens;  5.  Zunahme  des  Fleisches  und  Blutes; 
6.  Ausbildung  des  Kopfhaares,  der  Nägel,  Knochen,  Sehnen,  Adern  u.s.  w.; 


170  Robert  Ritter  von  Töply. 

7.  das  Kind  ist  ausgebildet  und  lebensfähig;  8.  Ueberleitung  der  Lebens- 
kraft durch  die  den  Chylus  (rasa)  führenden  Kanäle  von  der  Mutter 
zum  Kind  und  umgekehrt.  Hervorzuheben  ist,  dass  der  männliche 
Fötus  auf  der  rechten  Seite  der  Mutter,  der  weibliche  auf  der 
linken  liegt,  ein  impotenter  in  der  Mitte.  Der  Nabel  hängt  durch 
ein  Gefäss  mit  dem  Mutterkuchen  (aparä),  dieser  mit  dem  Herzen  der 
Mutter  zusammen. 

Eine  kurze  Uebersicht  der  indischen  Anatomie  lässt  es  als  auf- 
fällig erscheinen,  dass  darin  einerseits  die  Fünfzahl,  andererseits 
die  Sieben  zahl  (abgesehen  von  der  gelegentlich  vorkommenden 
Vierzahl  der  Elemente)  eine  nicht  unwesentliche  Eolle  spielt.  Dies 
gerechtfertigt  die  Annahme  von  bisher  nicht  genau  aufgeklärten  Be- 
ziehungen zur  Medizin  der  Chinesen  einerseits,  zu  der  der  Griechen 
andererseits  und  weist  dieser  Anatomie  eine  geographisch,  sowie  der 
Zeitfolge  nach  begründete  Mittelstellung  zwischen  der  von  China 
und  Griechenland  zu.  Der  Umfang,  den  sie  im  medizinischen 
System  einnimmt,  ist  nur  sehr  gering.  Besteht  doch  der  ursprüng- 
liche Ayurveda  aus  folgenden  Teilen  (anga):  1.  grosse  Chirurgie 
(salya);  2.  kleine  Chirurgie  (säläkya,  ürdhvänga);  3.  Behandlung  der 
Krankheiten  des  Körpers,  wie  Fieber  u.  dgl.  (käj^acikitsä) ;  4.  Dämo- 
nologie (bhntavidyä,  graha);  5.  Kinderheilkunde  (kaumära  bhrtya, 
bäla);  6.  Toxikologie  (agadatantra ,  visagaravairodhi  kaprasamana); 
7.  Elixiere  (rasäyana,  jarä) ;  8.  Aphrodisiaca  (väjikarana,  vrsa).  Hier 
ist  also  der  Anatomie  kein  besonderer  Platz  angewiesen.  Im 
Ayurveda  des  Susruta  nimmt  die  särlrasthäna,  d.  i.  die 
Somatologie  bezw.  x\natomie  und  Embryologie  als  drittes  Buch  nur 
einen  recht  bescheidenen  Umfang  ein.  Sie  umfasst  dort  folgende 
Kapitel:  1.  Allgemeines,  2.  Der  männliche  und  weibliche  Same, 
3.  Embryologie,  4.  Das  entwickelte  Kind,  5.  Aufzählung  der  Körper- 
bestandteile, 6.  Fortsetzung,  7.  Gefässlehre,  8.  Fortsetzung,  9.  Bänder- 
lehre, 10.  Das  schwangere  Weib.  Dem  ganzen  Geiste  nach  ist  das 
Buch  särlrasthäna  nicht  als  Anatomie,  sondern  als  Entwicklungs- 
geschichte zu  bezeichnen. 

In  dem  von  der  englischen  Regierung  zur  Heranbildung  von  Ein- 
geborenen im  19.  Jahrhundert  errichteten  BengalMedical  College 
(Delhi  College)  hat  selbstverständlich  nur  die  moderne  Anatomie  Ein- 
gang gefunden.  Für  den  Unterricht  bestanden  ursprünglich  nur  John 
Tytlers  arabische  üebersetzung  von  Hoopers  Anatomists  Vade- 
Mecum  („Anis  Ul  Musharrahi'n")  und  die  Bengali- Üebersetzung 
eines  Manual  of  Anatomy,  von  F.  Cary.  In  den  Jahren  1846—49  er- 
schien dann  im  Auftrage  der  Regierung  das  umfangreiche  Werk: 
*Mouat  (Frederic  John)  An  Atlas  of  anatomical  plates  of  the  human 
body,  w.  descriptive  letter-press  in  English  and  Hindustani.  Calcutta: 
Bishops  College  Press.  1849.  Folio,  50  kolorierte  Kupferstichtafeln, 
Text  abwechselnd  in  Hindustani  und  englisch,  mit  Benutzung  der 
Werke  von  Charles  Bell,  Bostock,  Carpenter,  Cruveilhier,  Ellis, 
Harrison,  Meckel,  Sharpey,  Wilson.  Die  Ueberschriften  der  Abbildungen 
sind  nur  in  Hindustani.  Als  tüchtigen  Demonstrator  der  Anatomie 
an  der  Schule  nennt  die  Einleitung  den  Eingeborenen  Pundit 
Madasudana  Gupta. 


Geschichte  der  Anatomie.  171 


Tibet. 

*Laufer  (Heinrich),  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Tibetischen  Medizin,  I.  Teil, 
Berl,  Gebr.  Unger,  1900,  41  S.;  IL  Teil,  Leipz.,  0.  Harrasowitz,  1900,  90  S. 

Die  ersten  Kenntnisse  der  Arithmetik  und  Medizin  sollen  erst 
unter  dem  Könige  g  Nam  ri  srong  btsan  (gest.  630  n.  Chr.)  her 
gelangt  sein.  Um  740 — 56  übersetzte  V  a  i  r  o  c  a  n  a  ,,die  vier  Tantra" 
(r  Gyud  bzi)  aus  dem  Sanskrit  in  die  Tibetsprache.  Der  erste  Teil 
rtsa  rgyud  (Wurzeltraktat)  umfasst  u.  a.  die  Anatomie  (verbesserte 
und  vermehrte  Aufl.  von  Gyn  thog).  Als  bester  Kommentar  gilt  „der 
blaue  Lasur"  (Vaidürya  sngon  po)  von  Sangs  rgyas  rgya  mtsho 
(geb.  1652).    Im  übrigen  vergl.  Laufer  a.  a.  0. 

Die  Anatomie  (lus  kyi  gnas  lugs,  d.  h.  Anordnung  der  Körper- 
teile) ist  mit  der  Physiologie  eng  verknüpft  und  wird  im  r  Gyud  bzhi 
auch  gleichzeitig  abgehandelt.  Der  Fötus  entsteht  aus  dem  männ- 
lichen Samen  und  dem  weiblichen  Menstrualblut  (und  dem  Lebens- 
prinzip) und  wird  je  nach  dem  Vorwalten  des  einen  oder  anderen  ein 
Knabe,  Mädchen  bezw.  Hermaphrodit  (vergl.  Indien).  Aus  dem 
Sperma  entstehen  die  Knochen,  das  Gehirn  und  Skelet,  aus  dem 
Menstrualblut  Fleisch,  Blut,  Herz,  Lunge,  Leber,  Niere  und  die  6 
Venen.  Das  Wachstum  des  Fötus  bewirken  2  Venen  zu  beiden 
Seiten  des  Uterus,  ein  kleines  Gefäss,  welches  das  Menstrualblut 
führt.  Die  Frucht  macht  während  38  Wochen  ihre  Veränderungen 
durch.  In  der  4.  Woche  kann  man  aus  der  Form  das  Geschlecht  er- 
kennen, in  der  8.  die  Kopfform,  in  der  9.  und  10.  die  Gestaltung  des 
Leibes,  der  Arme  und  Weichen.  Es  entstehen  hintereinander  die 
Konturen  der  9  Löcher,  die  5  Lebensorgane:  Herz,  Lunge,  Leber, 
Milz,  der  Gefässapparat,  dann  die  6  Venen,  im  4.  Monat  die  Glied- 
massen, Venen  und  Nerven  u.  s.  w.  In  der  27. — 30.  Woche  bildet  sich 
der  Körper  vollkommen  aus,  in  der  38.  wendet  er  sich  dem  Mutter- 
mund zu,  worauf  die  Geburt  beginnt.  Der  fertige  Körper  enthält 
Schleim,  Galle,  Wind.  Jeder  dieser  Grundbestandteile  erfüllt  an  be- 
stimmten Orten  fünf  Funktionen  (vergl.  Indien).  Als  die  7  Stützen 
des  Körpers  gelten:  Chylus,  Blut,  Fleisch,  Fett,  Knochen,  Mark, 
Samen,  als  lebenswichtige  Organe  werden  genannt:  Herz,  Lunge,  Leber, 
Milz  und  als  fünftes  einmal  der  Gefässapparat,  ein  anderes  Mal  die 
Nieren  (vergl.  China). 

Der  Gefässapparat  umfasst  die  Arterien ,  Venen  und  Nerven.  Die 
grösseren  Arterien  gelten  als  Kanäle  des  Windes.  Die  4  Arten  von 
Adern  oder  Nerven  sind  die:  1.  der  Vorstellung,  2.  des  Seins,  3.  der 
Verbindung,  4.  der  Lebenskraft.  Gruppe  1:  3  vom  Nabel  aus- 
gehende Nerven  (Venen):  a)  zum  Gehirn  (Schleim  und  Dummheit); 
b)  in  das  Hypochondrium  (Galle);  c)  zu  den  Genitalien  (Wind). 
Gruppe  2 :  a)  erregt  vom  Gehirn  aus ;  b)  sitzt  im  Herzen  und  macht 
es  der  Erinnerung  fähig;  c)  sitzt  im  Nabel  und  bedingt  das  Wachs- 
tum, Aenderung  des  Körperbestandes;  d)  sitzt  im  Penis.  Jeder 
von  diesen  4  Nerven  hat  500  kleinere  als  Begleiter.  Gruppe  3: 
Die  Verbindungsnerven  (Venen)  sind  weiss  oder  schwarz. 
24  breite  dienen  dem  Wachstum  der  Sehnen  und  der  Vermehrung  des 
Blutes,  8  breite  verborgene  zur  Verbindung  der  Krankheiten  der 
Eingeweide  und  Gefässe,  16  sichtbare  zur  Verbindung  der  äusseren 
Glieder.     Aus  diesen  entstehen   77  J)lutende  (Aderlass  ?-)venen.      Es 


172  Robert  Ritter  von  Töply. 

gibt  112  schädliche  Venen,  189  gemischter  Natur,  davon  120  für  die 
äusseren,  inneren  und  mittleren  Teile,  diese  verzweigen  sicli  wieder  in 
360  kleinere,  die  durch  den  Körper  wie  ein  Netzwerk  gehen.  Dann 
gibt  es  noch  19  Nerven  (Venen)  mit  kräftiger  Funktion,  die  vom  Ge- 
hirn herabsteigen,  13  davon  verbinden  verborgen  die  Eingeweide,  die 
6  sichtbaren  die  äusseren  Teile.  Von  ihnen  breiten  sich  16  kleine 
Sehnen  aus.  G r u p p e  4 :  Die  vitalen  Nerven  (Venen) :  a)  begreift 
Kopf  und  Leib;  b)  steht  mit  der  Atmung  in  Verbindung;  der  Haupt- 
nerv verbindet  die  Umlaufskanäle  für  Luft  und  Blut  und  regelt  das 
Wachstum.  Er  heisst  „die  Schlagader"  (Aorta?).  —  Im  ganzen  giebt 
es  900  Nerven  und  Fasern. 

Sonstige  Zahlen :  12  grosse,  250  kleine  Gliedergelenke,  16  Sehnen, 
11000  Kopfhaare,  11  Mill.  Haarporen  am  ganzen  Körper,  9  Oeffhungen 
und  Löcher  (an  anderer  Stelle  13  Oeffnungen  und  Durchgänge  für 
den  Transport  der  Luft,  des  Blutes,  der  Nahrung  beim  Manne,  16  beim 
Weibe).  Der  Chylus  geht  durch  9  Venen  vom  Magen  zur  Leber  und 
wird  dort  zu  Blut. 

Ob  sich  diese  Anschauungen  des  r  Gyud  bzhi  seither  geändert 
haben,  ist  nicht  bekannt,  indes  ist  dies  nicht  wahrscheinlich.  Bei  den 
Mongolen  spielen  die  4  Tantra,  die  5  Elemente,  noch  heute  eine 
Rolle  in  der  Medizin.  Auch  sollen  die  Lama  der  Mongolen  ana- 
tomische Zeichnungen  und  Tafeln  besitzen,  doch  sollen  sie 
sehr  ungenau  sein.  Auch  die  Lama  der  Tibeter  sollen  sich  aus  eigener 
Anschauung  manche  anatomische  Kenntnis  erworben  haben,  in  der 
tierischen  Knochenlehre  ^)  bewandert  sein  und  einige  Bezeichnungen 
für  gewisse  Muskeln  haben. 

Wie  ersichtlich,  verleugnet  die  tibetische  Anatomie  ihren  indischen 
Ursprung  nicht,  doch  finden  sich  auch  Anklänge  an  China,  überdies 
aber,  besonders  in  der  Gefäss-  bezw.  Nervenlehre  Anschauungen 
autochtonen  Ursprungs. 

Griechen. 

Mob.  Fuclis  hat  im  1.  Band  dieses  Handbuchs  auch  das  Wesentlichste  aus 
der  Gesch.  der  Anatomie  mit  Literaturbelegen  iviedergegeben,  so  dass  das  Folgende 
nur  eine  erweiterte  Zusammenstellung  bietet. 


Die  ältesten  Philosophen  ziehen  in  den  Bereich  ihrer  Spe- 
kulationen auch  die  Anatomie,  zum  Teil  gestützt  auf  Naturbeobachtung. 
Die  diesbezüglichen  Nachrichten  sind  jedoch  ein  Gemisch  von  Wahr- 
heit und  Dichtung,  in  dem  der  Mythos  wie  auch  bei  den  Uranfängen 
der  Kultur  anderer  Völker  (China,  Aegypten)  eine  nicht  unwesent- 
liche Rolle  spielt.  So  gilt  Alkmaion  von  Kroton  (um  550—500) 
als  Erster,   der  Sektionen  anstellte^),   als  Entdecker   der  Sehnerven 


^)  Im  Grassi-Museum  zu  Leipzig  habe  ich  im  J.  1898  eine  Statuette  tibetischen 
Ursprungs  gesehen:  Ein  Skelet  von  Silber  mit  einem  Wolkenmantel  von  Gold  tanzt 
am  1.  Bein,  hält  in  der  Rechten  eine  Frucht,  in  der  Linken  ein  kleines  Skelet.  Ich 
habe  Hen-n  Dr.  H.  Lauf  er  darauf  aufmerksam  gemacht,  doch  ist  mir  nicht  be- 
kannt, ob  die  Figur  nicht  schon  vorher  publiziert  war  oder  seither  publiziert 
worden  ist. 

^)  Zweifel  darüber  schon  bei  *Harless  (Fr.)  in  Kurt  Sprengeis  Beitr.  z.  Gesch. 
d.  Med.  1794—96,  I  3,  S.  180.     Vgl.  Fuchs  im  I.  Bd.  S.  173. 


Geschichte  der  Anatomie.  173 

(Holilgäiige.  jTÖQoi)  und  der  Eustachischen  Bohre  bei  Zieg-en.  Em- 
pedoklesvou  Agrigent  (um  490—430)  gar  als  Entdecker  des 
Ohrlabyriuths.  Merkwürdig  ist  dabei  nur,  dass  Alkmaion  und  Em- 
pedokles  bei  ihren  so  eingehenden  Untersuchungen  des  Gehörorgaus 
die  Entdeckung  der  Ohrknöchelchen  so  gelassen  auf  eine  spätere 
Zeit,  und  gleich  auf  2000  Jahre  aufgespart  haben.  Zu  den  Lieblings- 
beschäftigungen jener  älteren  Periode  gehört  auch  die  spekulative 
Embryologie.  Auf  diesem  Gebiete  stellen  sie  ähnlich  wie  die  vor- 
besprochenen orientalischen  Völker  eine  Eeihe  von  allerdings  sehr 
zweifelhaften  Theorien  auf.  Hippon  (5.  Jahrb.,  2.  Drittel)  spricht 
schon  vom  weiblichen  Samen,  welcher  allerdings  nicht  zur  Frucht- 
bildung dient,  dann  von  der  Entwicklung  des  Embryo.  Bei  diesem 
entwickelt  sich  zuerst  der  Stoff,  zuletzt  die  Nägel  und  Zähne.  Die  Aus- 
bildung beansprucht  60  (oder  40?)  Tage,  unter  Umständen  4  Monate. 
Die  erste  Beschreibung  des  Gefässsystems  giebt  Syenesis  der 
Kyprier:  „Die  dicken  Adern  (al  cpUßeg  al  jiaxüai)  verlaufen  folgender- 
massen:  aus  dem  Auge  neben  der  Augenbraue  durch  den  Rücken 
neben  der  Lunge  unter  die  Brüste  geht  die  eine  von  rechts  nach 
links,  die  andere  von  links  nach  rechts,  und  zwar  die  von  links 
kommende  durch  die  Leber  in  die  Niere  und  in  den  Hoden,  die  von 
rechts  kommende  in  die  Milz,  die  Niere  und  den  Hoden  und  von  dort 
in  die  Schamteile  (to  atdolov)"  (Arist.  bist.  III  2,  21).  Diogenes 
von  Appollonia  (um  430)  giebt  schon  ein  ausführlicheres  und 
anschaulicheres  Bild:  ,,Die  Adern  verhalten  sich  beim  Menschen  so: 
Die  zwei  grössten  erstrecken  sich  durch  die  (Bauch-)höhle  neben  dem 
Rückgrat,  die  eine  rechtsseits.  die  andere  linksseits,  eine  jede  in  den 
zugehörigen  Schenkel  sowie  aufwärts  neben  dem  Schiüssel(-bein)  duixh 
die  Drosselgegend  {öia  ziov  ocpayCov)  in  den  Kopf.  Von  diesen  er- 
strecken sich  Adern  in  den  ganzen  Körper  und  zwar  von  der  Rechten 
nach  rechts,  von  der  Linken  nach  links  und  zw^ar  die  zwei  grössten 
am  Rückgrat  in  das  Herz,  andere  etwas  höher  durch  die  Brüste  unter 
der  Achsel  in  jeden  zugehörigen  Arm.  Die  eine  heisst  Milzader 
{oTclr^vlTiQ).  die  andere  Lebe  rader  {r,7taxlTig).  Jede  derselben  spaltet 
sich  an  der  Hand  und  zwar  einerseits  zum  grossen  Finger  (Daumen), 
andererseits  zur  Handfläche  {Tagoog),  von  dieser  das  dünne  und  viel- 
zweigige  in  das  übrige  der  Hand  und  die  Finger.  Von  den  ersten 
Adern  erstrecken  sich  andere  dünnere  rechterseits  in  die  Leber,  linker- 
seits in  die  Milz  und  die  Nieren.  Diejenigen  welche  sich  in  die 
Schenkel  erstrecken,  spalten  sich  am  „Schluss"  (yiaia  rf^v  Ttqöocpvoiv) 
und  erstrecken  sich  durch  den  ganzen  Schenkel.  Die  grösste  erstreckt 
sich  an  der  Rückseite  des  Oberschenkels  und  erscheint  dick,  die  andere 
etwas  dünner  als  jene  einwärts.  Dann  ziehen  sie  neben  dem  Knie 
in  den  Unterschenkel  und  den  Fuss,  gelangen  gleichwie  in  die  Hände 
zur  Fusssohle  und  erstrecken  sich  von  hier  in  die  Zehen.  Auch  spalten 
sich  von  ihnen  zur  (Bauch-)höhle  und  Brusthöhle  viele  dünne  Adern 
ab.  Diejenigen,  welche  in  den  Kopf  ziehen,  erscheinen  in  der  Drossel- 
gegend am  Halse  gross.  Von  jeder  derselben  spalten  sich  schliesslich 
viele  in  den  Kopf  ab  und  zwar  von  den  rechtsseitigen  nach  links, 
von  den  linksseitigen  nach  rechts.  Sie  endigen  jederseits  in  das  Ohr. 
Neben  der  grossen  befindet  sich  am  Halse  jederseits  eine  andere  Ader, 
etwas  kleiner  als  jene,  in  welcher  die  meisten  aus  dem  Kopfe  kommen- 
den Adern  sich  vereinigen.  Und  diese  ziehen  dureh  die  Drosselgegend 
einwärts,  und  ziehen  von  einer  jeden  derselben  unter  dem  Schulter- 


174  Robert  Ritter  von  Töply. 

blatt  in  die  Hände.  Neben  der  Milzader  und  der  Leberader  sind 
andere  etwas  dünnere  sichtbar,  welche  die  Heilkundigen  spalten,  wenn 
unter  der  Haut  etwas  w^eh  thut.  Wenn  aber  der  Bauch  schmerzt, 
eröffnen  sie  die  Leberader  und  die  Milzader.  Andere  ziehen  von 
diesen  unter  die  Brüste,  andere  ziehen  durch  das  Rückenmark  in  die 
Hoden,  andere  ziehen  unter  der  Haut  und  durch  das  Fleisch  in  die 
Nieren  und  endigen  in  den  Hoden  bei  den  Männern,  bei  den  Weibern 
aber  in  die  Gebärmutter  {sig  rög  vozegag).  Die  aus  der  (Bauch-)höhle 
entspringenden  Adern  sind  anfangs  weiter,  dann  werden  sie  dünner, 
bis  sie  sich  von  der  rechten  Seite  nach  links  und  von  hier  nach  rechts 
wenden.  Diese  heissen  Samenadern  {o7teQ(.iaTULdeg).  Das  dickste 
Blut  {al^ia)  wird  von  den  Fleischteilen  aufgesogen,  sobald  es  aber  in 
diese  Gegend  übergeht,  wird  es  dünn,  warm  und  schaumig."  -)  Dies 
sind  die  zwei  ältesten  Dokumente  der  griechischen  Gefässlehre,  darum 
hier  vollinhaltlich  wiedergegeben.  Wie  ersichtlich,  ist  bei  Diogenes 
schon  ein  bedeutender  Fortschritt  gegenüber  Syenesis  merklich,  gleich- 
zeitig auch,  dass  der  Ausdruck  cplfßeg  =  Adern  dem  Sammelbegriff  für 
das  blutführende  Gefässsj^stem  entspricht,  und  dass  das  Herz  dabei 
noch  keine  besondere  Rolle  spielt.  Die  nächste  Stufe  nehmen  dann 
Polybos,  schliesslich  Aristoteles  ein.  Es  ist  kein  Zufall,  dass  es  ge- 
rade Fragmente  aus  der  Gelässlehre  sind,  die  sich  aus  der  ältesten 
Zeit  der  griechischen  Anatomie  erhalten  haben.  Auch  auf  anderen 
Vorstufen  findet  man  die  Gefässlehre,  weil  augenfällig,  mit  Vorliebe 
berücksichtigt.  Bei  Pythagöras  von  Samos  (um  575 — 500)  begegnet 
man  ebenfalls  Spekulationen  über  den  Bau  der  Tierkörper  und  die 
Zeugung,  bei  A 1  k  m  a  i  o  n  von  Kroton,  abgesehen  von  den  bereits  er- 
wähnten Andeutungen  anatomischer  Kenntnisse  ^)  wieder  embryo- 
logische Spekulationen:  männlichen  und  weiblichen  Samen,  dessen 
Ueberwiegen  das  Geschlecht  des  Kindes  bestimmt,  Erstbüdung  des 
Kopfes  beim  Embryo.  Mit  seiner  Schrift  „Ueber  die  Natur"  beginnt 
das  griechische  medizinische  Schriftwesen.  Auch  bei  Parmenides 
aus  Elea  (geb.  um  540)  begegnet  man  embryologischer  Spekulation: 
Abhängigkeit  des  Geschlechts  vom  Ueberwiegen  des  männlichen  und 
weiblichen  Samens,  Bildung  des  Knaben  aus  dem  rechten  Hoden  in 
der  rechten  Gebärmutterhälfte  und  umgekehrt,  eine  Annahme,  die 
nun  gute  2000  Jahre  anhält.  Aehnliches  findet  sich  auch  bei 
Herakleitos  aus  Ephesos  (um  535 — 475).  Seine  Theorien  betreffen 
wieder  die  Geschlechtsbestimmung  und  die  Entwicklung  der  Leibes- 
frucht, ^)  allerdings  in  einer  von  den  Vorgängen  etwas  abweichenden 
Art,  dann  Spekulationen  über  die  Zusammensetzung  der  Knochen  und 
der  Weichteile.  Demokritos  von  Abdera  hat  eine  Anatomie  des 
Chamaeleons  geschrieben.  Plinius*^)  nennt  das  Buch  jedoch  ein 
neues  Zeugnis  der  Lügenhaftigkeit  und  des  Leichtsinns  der  Griechen, 
bespricht  Einzelnes  daraus  (allerdings  nichts  Anatomisches)  und  schliesst 
mit  der  Bemerkung,  Dem.  verdiente  Prügel  für  seine  Schwatzhaftigkeit, 
sowie  mit  den  Worten,  soviel  stehe  fest,  dass  dieser  sonst  so  scharf- 


-)  Arist.  bist.  III  2,  22—25;  vgl.  Pseudo-hippokr.  de  morbo  sacro  VI  (III), 
Fuchs  II  553  f. 

')  Anffassimg  der  Sinnesnerven  als  „Gänge"  (jtö^ot),  die  Gegenüberstellung 
von  Adern  {<HEßts)  und  blutführenden  Adern  {aifiö^^oot  y.\  die  Kenntnisse  der 
Luftröhre  {dprrjfjirj). 

*)  Vgl.  Fuchs  a.  a.  0.  S.  174  u.  f. 

*)  h.  n.  28  k.  29. 


Geschichte  der  Anatomie.  175 

sinnige  und  gemeinnützige  Mann  durch  seinen  allzugrossen  Eifer,  dem 
Menschen  zu  helfen,  in  gewaltige  Fehltritte  verfallen  ist.  Bei  Anaxa- 
goras  aus  Klazomenai  in  Kleinasien  (um  500 — 428)  findet  man  die 
erste  Beobachtung  der  seitlichen  Gehirnhöhlen,  dann  als  pathologischen 
Befund  das  Vorkommen  einer  einzigen  Gehirnhöhle  bei  einem  ein- 
hörnigen Bocke,  also  die  ersten  Anfänge  der  Gehirnzer- 
gliederung, dann  wieder  embryologische  Spekulationen,  wonach  den 
Samen  für  die  Fruchtbildung  nur  der  Mann  liefert,  die  Knaben  aus 
dem  rechten  Hoden  hervorgehen,  im  rechten  üterushorn  liegen  und 
umgekehrt. 

Vorhippokratische  oder  zeitgenössische  Aerzte  des 
Hippokrates.  Euryphon  von  Knidos  wird  von  Galenos  unter  den 
ältesten  Aerzten,  welche  sich  mit  Anatomie  befasst  hatten,  als  letzter 
erwähnt.  ^) 

Das  Corpus  h  i  p  p  o  k  r  a  t  i  c  u  m.  Die  anatomischen  Hauptwerke 
dieser  Sammlung  sind:   1.  die  Anatomie,  2.  das  Herz,  3.  das  Fleisch, 

4.  die  Drüsen,  5.  die  Natur  der  Knochen.  Doch  entspricht  der  er- 
wartete Inhalt  nicht  immer  dem  Titel.  Das  unechte  Bruchstück  „die 
Anatomie"  giebt  nur  eine  Uebersicht  der  Brust-  und  Bauchorgane,  „das 
Herz"  nur  gelegentlich  eine,  noch  dazu  recht  unvollständige  Beschreibung, 
„das  Fleisch"  embryologische  Spekulationen  über  die  Körperbestandteile, 
„die  Drüsen-  eine  immerhin  angehende  Aufzählung,  „die  Natur  der 
Knochen"  nur  eingangs  deren  Aufzählung,  im  übrigen  eine  ausführliche 
Geiässlehre.  Doch  enthalten  die  anderen  Schriften  soviel  Einstreuungen 
anatomischen  Inhalts,  dass  man  sich  einen  genügenden  Begiiff"  von  den 
diesbezüglichen  Kenntnissen  der  Hippokratiker  bilden  kann.  Man  darf 
dabei  jedoch  nicht  vergessen,  dass  die  Schriften  des  Corpus  verschiedenen 
Zeiten,  sowie  verschiedenen  Verfassern  angehören,  woraus  es  erklärlich 
wird,  dass  die  anatomischen  Beschreibungen  nicht  immer  übereinstimmen. 
Die  Frage,  ob  die  Griechen  Anatomie  an  Menschenleichen  geübt 
haben,  ist  vielfach  —  vielfach  von  Anatomen  mit  philologischen,  von 
Philologen  mit  anatomischen  Beweismitteln  —  erörtert  worden. ')  Eine 
genauere  Durchsicht  der  Stellen,  welche  als  Stütze  für  eine  solche 
Annahme  herangezogen  worden  sind,  *)  insbesonders  aber  auch  das 
Eingehen  auf  die  thatsächlichen  anatomischen  Errungenschaften  des 
Corpus  führen  zu  der  Ueberzeugung,  dass  die  Anatomie  des  Corpus 
hippocrat.  auf  gelegentlichen  Beobachtungen,  wie  sich  solche  am 
Krankenbette  ergeben,  auf  Zergliederungen  von  Tieren,  zum  Teil  auf 
reinen  Hypothesen  beruht,  keineswegs  aber  auf  Zergliederungen  von 
Menschenleichen.®)     Die   Topographie    des   Kopfes,   des   Halses,   des 

**)  Diokles,  Praxagoras,  Erasistratos,  Pleistonikos,  Philotimos, 
Mnesitheos,  Dieuches,  Chrysippos,  Antigenes,  Medeios,  Enryphon, 
Gal.  K.  XV  186. 

')  Aeltere  Litteratur:  *.T.  Riolau  Fil,  An  veteres  Anatomici,  praesertim 
Galenus,  humana  cadauera  dissecuerint ?  Opera  Lnt.  Par.  1649,  fol.,  p.  44  sq.:  *Alb. 
V.  Hai  1er,  Quod  corpora  hnmana  secuerit  Hippocrates.  Progr.  ad  priraam  anatomen 
Gottingensem.  Opusc.  sua  anat.  Gotting.  1751,  p.  133  sq.;  *Chr.  G od.  Grüner, 
Analecta  ad  autiquitatcs  medicas.  Vratisl.  1774,  II.  Hippocrates  coi-pora  humana 
insecuerit,  nee  neV  p.  51—  V^  .    Sehr  eingehend,  im  ablehnenden  Sinne. 

•*)  Vgl.  besonders  Grüner. 

"j  Derselben  Ansicht  ist  auch  Schrutz  im  Gegensatze  zuLittre,  Hirsch, 
Haeser.  Vgl.  'Littre,  Oeuvres  de  Hipp.  I,  236,  241;  *Hirsch,  De  collect,  hipp, 
auct.  anatomia,  Berol.  1864;   »Haeser,  Lehrb.  d.  Gesch.  d.  Med.  3.  Bearb.  I.  1874, 

5.  129  u.f. ;  *Schrutz  (Ondrej),  Hippokratovske  näzory  o  püvodu,  skladbe  a  vykonech 
tola  lidskeho.    V.  Praze  1895,  253  Str.  =  Die  Ansichten  der  Hippokratiker  ül)er  die 


176  Robert  Ritter  von  Töply. 

Stammes  und  der  Gliedmassen  ist  hier  ausführlich  bekannt.  Sehr 
schwach  ist  die  Kenntnis  des  Knochensystems.  Die  in  der  Schrift 
von  den  Knochen  angegebenen  Zahlen  sind  willkürlich  (Hand  27, 
Fuss  24,  Hals  7,  Lenden  5,  Rückgrat  20,  Kopf  8,  insgesamt  91),  die 
Knochenverbindungen  werden  zwar  schon  mit  besonderen  Namen  be- 
legt, besondere  Beschreibungen  fehlen  jedoch  (im  allgemeinen  ^vf-ufväg, 
nQÖocpvaig,  im  besonderen  ^aq>ri,  ^vi.icpvaig,  uqOqov,  diäqi^QLooig,  avvdg- 
^Qtüotg).  Der  Schädel  ist  nur  aus  der  Betrachtung  von  aussen  her  be- 
kannt, daher  die  Erwähnung  folgender  Knochen:  Stirnbein  (Augen- 
beine i/rcoTiioi),  Nasenmuscheln  (knorpelig),  Felsenbein,  Nasenbeine, 
Oberkiefer,  Jochbein  {Cvyü)f.ia),  Viiierkiefer  {fj  xatco  yvdO-ug).  Dieser  gilt 
an  einzelnen  Stellen  der  Benennung  nach  als  doppelt  (yvdi/oi,  yiweg). 
Die  Hauptnähte  der  Schädelkapsel  sind  bekannt  (Schuppennähte,  Kranz- 
naht, Pfeilnaht,  Lambdanaht),  jedoch  durch  Umschreibungen  bezeichnet, 
ihre  Zahl  nicht  immer  gleich.  Das  Kiefergelenk  gehört  zu  den  am 
besten  beschriebenen  Gelenken.  Die  Angaben  über  die  Zahl  der 
Wirbel  schwanken.  Insbesonders  sind  bekannt  der  2.  und  7.  Hais- 
und der  5.  Lendenwirbel.  Das  Kreuzbein  (Heiliges  Bein,  iegov  öoTtov) 
wird  häufig  erwähnt.  Der  2.  Halswirbel  heisst  im  ganzen  ..der  Zahn" 
{oöovg).  Die  Zahl  der  wahren  Eippen  beträgt  7,  die  der  falschen  ist 
nicht  bekannt,  das  Brustbein  [oif^d-og)  mit  seinem  „Knorpel"  (yövÖQov) 
ist  erwähnt.  Vom  Schultergürtel  ist  bekannt  das  Schlüsselbein 
(Schlüssel,  xlrjk)  das  Schulterblatt  (oj/^wTildTri)  mit  dem'  „Akromion", 
welches  als  Bindeglied  {^vvöeof.iog)  des  Schlüsselbeins  und  des  Schulter- 
blatts gilt,  wodurch  sich  der  Mensch  von  den  anderen  Tieren  unter- 
scheide. ^")  Auf  den  Oberarm  {ßgayitov)  folgt  der  Vorderarm  mit  dem 
oberen  und  unteren  Bein  (radius,  ulna),  die  Bezeichnung  Olekranon 
kommt  einmal  vor.^')  Eine  eingehendere  Kenntnis  des  Ellbogengelenkes 
besteht  nicht,  ebensowenig  eine  solche  des  Handskelets.  Die  Hüft- 
gürtelknochen sind  nicht  genauer  bekannt.  Die  Unterscheidung  zwischen 
Darmbein  und  Sitzbein  kommt  erst  bei  Galenos  vor.  Das  Scham- 
bein wird  jedoch  schon  erwähnt.  Das  Hüftgelenk  mit  dem  ligam. 
teres  ist  recht  gut  bekannt,  ebenso  das  Oberschenkelbein,  die  Knie- 
scheibe {s7tii.ivlig,  f-iv'^.1]).  keineswegs  jedoch  das  Innere  des  Knie- 
gelenks. Vom  Fusse  wird  nur  erwähnt  das  Sprungbein  unter  dem 
Namen  „Würfel"  (daTQdyaXog),  der  Knochen  der  Ferse  {miQvri),  keines- 
wegs aber  die  übrigen  Bestandteile,  ausser  den  Zehengelenken.  Eine 
eingehendere  Kenntnis  der  Muskeln  besteht  nicht,  nur  in  den  koischen 
Vorhersagungen  geschieht  eine  Erwähnung  von  „Muskelköpfen". ^-)  Der 
Begriff  der  Sehnen  ist  ganz  unklar  {revqa,  zevovieg,  vevQcböseg  zevorteg 
u.  a.).  Mit  einigem  guten  Willen  kann  ein  geübter  Anatom  und 
Historiker  immerhin  Andeutungen  aus  dem  Gebiete  der  Muskellehre 
finden.  Sie  betreffen  folgende  Einzelheiten:  Schläfemuskeln,  Kau- 
muskeln, Nackenmuskeln,  Deltamuskel,  grosser  Brustmuskel,  m.  biceps 
brachii,  m.  brachial,  ant.,  m.  triceps  brachii,  m.  ulnar,  int,  flexor 
digitor.  subl.,  m.  psoas,  m.  biceps  femoris,  die  Achillessehne  u.  dgl.  ^'^j 

Entstehung,  Zusammensetzung  u.  die  Funktionen  des  menschl.  Körpers,  Prag  1895, 
253  S.;  "Schrutz  (0.),  Anatomicke  a  fysiologicke  spisy  sbirky  Hippokratovske. 
casopis  lekafü  cesk^ch  1897  =  die  anat.  u.  physiol.  Schriften  des  Corp.  hipp.  Zeitschr. 
der  tschechischen  Aerzte,  1897,  S.A.,  44  S. 

^<')  Die  Selhständigkeit  des  Akr.  begründete  später  Eudemos  u.  Galenos. 

")  Epid.  VII  61. 

12)  L.  V  698. 

")  Vgl.  Schrutz,  Hipp,  näzory,  S.  120  u.  f. 


Geschichte  der  Anatomie.  177 

Doch  sind  dies  zumeist  Gegenstände,  welche  nicht  auf  Rechnung-  einer 
besonderen  Kenntnis  der  Anatomie  zu  setzen  sind,  sondern  jedem  ge- 
bildeten Künstler  auffallen  und  in  der  ältesten  griechischen  Plastik 
auch  thatsächlich  berücksichtigt  wurden.  Die  Benennung  des  Zwerch- 
fells als  fpQsvsi;  wird  angefochten.  ^*)  Die  Eingeweidelehre  ist  höchst 
oberflächlich.  Sie  stützt  sich,  abgesehen  von  der  Beobachtung  einiger 
leicht  zugängiger  Teile,  auf  die  Tieranatomie.  So  werden  die  Einzel- 
heiten der  Mundhöhle,  der  Rachen,  die  Speiseröhre,  der  Magen,  die 
Därme,  die  Leber,  deren  Lappen,  Pforte,  die  Gallenblase.  Milz,  das 
Bauchfell,  das  Mesenterion  und  Mesokolon  erwähnt,  aber  eine  genauere 
Beschreibung  nicht  dargeboten.  Bekanntlich  hat  eine  solche  für  das 
Bauchfell  erst  Galenos,^^)  später  Vesal  und  Fabricius  ab  Aqua- 
pendente  geliefert.  Am  Kehlkopf  wird  die  Ritze  und  der  Kehldeckel 
erwähnt,  die  Luftröhre  teils  als  Arterie,  teils  als  Sjrinx  bezeichnet. 
An  der  Lunge  werden  5  Lappen  unterschieden,  die  Nieren  als  herz- 
förmig bezeichnet,  die  Harnblase  sowie  die  Harnröhre  (urethre,  Ureter), 
die  Hoden,  die  Samenblasen,  die  ductus  ejaculatorii,  das  Schamglied 
und  die  Vorhaut  sind  bekannt.  Die  Gebärmutter  kommt  unter  ver- 
schiedenen Benennungen  vor.  Die  breiten  Mutterbänder  werden 
deutlich  erwähnt,  die  Hörner  der  Gebärmutter  nur  einmal  ^^).  Die 
weibliche  Scham  ist  nur  im  allgemeinen  bekannt  —  ein  Beweis  für 
die  geringe  gynäkologische  Thätigkeit  der  Hippokratiker  —  hiogegen 
wird  an  den  Brüsten  die  Warze  und  der  Warzenhof  unterschieden. 

Der  Embryologie  ist  viel  Platz  eingeräumt,  das  Chorion,  die 
Kotyledonen,  der  Nabel,  die  Nabelschnur  des  Erabryon  erwähnt.  Mit 
„urachos"  wird  die  Herzspitze  bezeichnet!'') 

Die  Gefässlehre  nimmt  im  Corpus  einen  unverhältnismässig 
breiten  Raum  ein.  obzwar  die  Begriffe  hier  noch  nicht  genau  abge- 
grenzt sind,  da  die  Unterschiede  zwischen  den  einzelnen  Gefässen, 
deren  Verhältnis  zu  den  Nerven  und  Sehnen  nicht  genau  festgestellt 
waren. '^)  Eine  übersichtliche  Schilderung  des  Systems  geben  die 
Schriften  „Natur  der  Knochen- '^)  und  ..Natur  des  Menschen'" : '-•^)  Die 
grössten  (dicksten)  Adern  verhalten  sich  folgendermassen :  Es  giebt 
4  Paare.  Paar  I  geht  hinten  vom  Kopfe  durch  den  Hals,  dann 
aussen  längs  des  Rückgrats  nach  den  Hüften  zu  dem  Schenkel, 
durch  die  Waden  zu  den  äusseren  Knöcheln  in  die  Füsse.  Paar  11 
am  Kopf  längs  der  Ohren  durch  den  Hals  (afpayhideQ\  innen  längs 
des  Rückgrats  an  den  Lenden  entlang  in  die  Hoden  und  den 
Schenkel  und  durch  die  Kniekehlen  an  der  Innenseite  hindurch,  dann 
durch  die  Waden  nach  den  inneren  Knöcheln  und  in  die  Füsse. 
Paar  HI  geht  von  den  Schläfen  durch  den  Hals  zu  den  Schulter- 
blättern, dann  wendet  es  sich  nach  der  Lunge,  und  es  gelangt  dann 
die  von  rechts  nach  links  verlaufende  Ader  unter  der  Brust  nach  der 
Milz  und  nach  der  Niere,   die  von  links  nach  rechts  verlaufende  von 


")  L.  VI  392. 

1»)  K.  II  556— .067. 

'«)  L.  VIII  476. 

*')  Ansführliches  bei  *Fasb ender,  Entwicklungslehre,  Geburtsh.  u.  Gyuäk. 
in  den  hippokr.  Schriften,  Stutt;».  1897. 

**)  Vgl.  die  Bezeichnungen  fUßte,  fkeßla,  äyyeTa,  rev^ea,  £7ti6^oai,  oxeroi,  oSoi, 
OiöSotj  fXTTocfivädss    öiaaxiöe»,  vevgov  Ivatftov,  vavooxoiXtot. 

'»)  Kap.  9. 

^o)  Kap.  11  (Fuchs  XII). 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  12 


178  Robert  Ritter  von  Töply. 

der  Lung-e  unter  die  Brust,  nach  der  Leber  und  der  Niere,  beide  aber 
laufen  im  After  aus.  Paar  IV  geht  von  dem  vorderen  Teil  des 
Kopfes  und  den  Augen  nach  dem  Halse  herab  und  unter  die  Schlüssel- 
beine, dann  durch  die  Arme  oberhalb  nach  der  Armbeuge,  alsdann 
durch  die  Vorderarme  nach  den  Handwurzeln  und  den  Fingern,  dann 
wieder  zurück  von  den  Fingern  durch  die  Ballen  der  Hand  und  durch 
die  Vorderarme  nach  der  Armbeuge,  durch  die  Oberarme  und  zwar 
durch  deren  unteren  Teil  nach  den  Achselhöhlen :  oben  von  den  Rippen 
aus  gelangt  die  eine  nach  der  Milz,  die  andere  nach  der  Leber, 
schliesslich  laufen  beide  über  den  Leib  hinweg  in  den  Geschlechts- 
teilen aus.  Als  Urheber  dieser  Beschreibung  ist  jedoch  nicht  Hippo- 
krates  selbst,  sondern  dessen  Schwiegersohn  P  o  1  y  b  o  s  verbürgt.^^)  Die 
sonstigen  Schilderungen,  besonders  in  der  Schrift  „Natur  der  Knochen" 
lassen  stellenweise  einige  Klarheit  vermissen.  Bemerkenswert  ist,  dass 
das  Herz  noch  immer  nicht  als  Mittelpunkt  des  Systems  gilt.  Dem- 
entsprechend beschränkt  sich  auch  die  Beschreibung  auf  die  Erwähnung 
der  Ohren,  der  Spitze  (urachos),  der  Scheidewand,  der  Kammern,  der 
Mündungen  (stomata),  der  Halbmondklappen,  des  Herzbeutels.  Von 
den  peripheren  Blutgefässen  sind  folgende  wenigstens  angedeutet: 
Aorta,  aa.  intercostales,  a.  femoralis,  aa.  front,  et  temp.,  a.  brachialis, 
a.  subclavia,  a.  pulmonalis,  vena  cava,  portae,  mesaraicae,  azygos,  pul- 
monales, sul3clav.,  jugul.  comm.?,  intt.,  extt.  postt.,  cephalica,  tempo- 
rales, diploeticae,  ophthalmica,  sublinguales,  diaphragmat.,  niammar., 
epigastr.,  mammar.  int.,  thorac.  extt.  resp.  thoracico-epigastr.  longa, 
plexus  pampiuiform.,  basilica,  mediana,  cephalica,  saphena.  Von 
Drüsen  sind  bekannt  die  glandulae  mesaraicae,  auriculares,  sub- 
maxillares,  jugulares,  axillares,  inguinales,  dann  die  Tonsillen,  was  sich 
aber  nicht  auf  anatomische  Forschung,  sondern  auf  die  Beobachtung 
krankhafter  Zustände  gründet.  Sehr  unklar  und  unzureichend  ist  die 
Neurologie,  was  ja  schon  dadurch  begründet  ist,  dass  der  Begriff 
des  Nerven  noch  nicht  genau  festgestellt  ist.  Abgesehen  vom  zwei- 
teiligen Gehirn,  dessen  zwei  Häuten  und  dem  Rückenmark  sind  An- 
deutungen folgender  Nerven  festzustellen:  N.  olfactorius,  opticus, 
trigeminus,  vagus,  plexus  gastrici,  hepaticus  et  lienalis,  laryngeus, 
recurrens,  plexus  l)rachialis,  n.  ulnaris,  intercostalis,  cruralis,  sympa- 
thicus.  Von  einem  System  ist  jedoch  nirgends  die  Rede.  Das  Auge 
ist  nur  äusserlich  bekannt,  ebenso  das  Ohr  bis  zum  Trommelfell  ein- 
schliesslich desselben,  die  Nase,  Haut,  Haare  und  Nägel,  soweit  man 
sehen  kann.--)  Im  grossen  Ganzen  sind  die  anatomischen  Kenntnisse 
der  Hippokratiker,  mehr  der  Fleischbank  als  dem  Seziersaal  entlehnt, 
auf  einer  recht  primitiven  Stufe.  Von  einer  systematischen  Forschung 
ist  noch  keine  Spur,  eine  systematische  Beschreibung  findet  sich  erst 
bei  Polybos,  doch  ist  diese  noch  recht  hypothetisch  und  betrifft  nur 
das  Gefässsytem.  Die  Anatomie  der  Hippokratiker  bedeutet  gegen- 
über derjenigen  der  Vorgänger  keinen  wesentlichen  Fortschritt,  sie 
fügt  sich  völlig  ein  in  den  Kreis  der  bisherigen  Anschauungen  vom 
Baue  des  menschlichen,  eigentlich  des  tierischen  Körpers. 


21)  Arist.  h.  an.  III  4. 

"-)  Vgl.  im  Einzelnen  Schrutz,  Hipp.  näz. 

'^■')  Riiuph.  DR.  162. 

2*)  Gal.  K.  IV  674,  V  182,  185,  XV  136. 

«)  Gal.  K.  XIV  744. 


Geschichte  der  Anatomie. 


179 


Unmittelbare  Nachfolger  des  Hippokrates.  Unter 
ihnen  ragen  vor  allem  die  Anhänger  der  sikelischen  Schule  her- 
vor. Eine  Uebersicht  der  Schule  und  der  Ausläufer  derselben  giebt 
die  folgende  Tabelle. 

Empedokles 


Pausanias      Gorgias     Philistion  v.  Lokroi      Akren 


Euryodes 


Eudoxos 


Chrysippos  v.  Knidos 


Aristoffcnes     Medios   Metrodoros 


Diokles  v.  Karystos 
Praxagoras  v.  Kos 


Erasistratos      Kleophantos    Herophilos 


Xenophon  v.  Kos        Mnesitheos        Pleistonikos        Philotimos 

Von  Philistion  erwähnt  Rhuphos,  er  habe  gewisse  Adern,  die 
durch  die  Schläfe  zum  Kopf  ziehen,  äerovg  (Adler,  Hausgiebel)  ge- 
nannt. Chrysippos  hat  die  Hirnhöhlen,  sowie  das  Herz  als  mit 
Pneuma  gefüllt  aufgefasst  und  mit  Anderen  angenommen,  es  entwickele 
sich  als  erstes  Organ  und  sei  die  Ursprungsstätte  der  Gefässe  und 
Nerven,  wogegen  Galenos  polemisiert.  Weitaus  hervoiTagender  als 
Chrysippos  ist  Diokles  von  Karj'stos,  das  Haupt  der  dogmatischen 
Schule  nach  Hippokrates.  Die  Hauptstätte  seines  Wirkens  war  Athen. 
Er  hat  sich  besonders  mit  dem  Gefässsystem  befasst,  das  Herz  als 
die  Quelle  des  Blutes  angesehen.  Im  Blutgefässsystem  unterscheidet 
er  als  zwei  Grundstöcke  die  „Arterie"  (Aorta)  und  die  „Hohlader"; 
aus  letzteren  gehen  wieder  die  anderen  ..Adern"  hervor.  Die  „Arterie" 
mündet  in  die  linke  Herzkammer  und  erstreckt  sich  bis  zu  den 
Nieren  und  der  Blase.  In  der  Unterscheidung  jener  beiden  vom 
Herzen  ausgehenden  Grundstöcke  schliesst  er  sich  der  im  Buche  vom 
..Fleisch"  des  Corp.  hipp.  (K.  5)  ausgesprochenen  älteren  Ansicht 
an,  „vom  Herzen  gehen  2  hohle  Adern  aus:  die  eine  heisst  Arterie,  die 
andere  Hohlader".  Von  Venen  kennt  er  die  ..Lebervene",  die  Adern 
der  Lunge,  die  Interkostalvenen,  die  tiefen  Venen  des  Kopfes,  die 
Sublingualvenen,  die  innere  und  äussere  Vene  der  Armbeuge  und 
der  Hand.  Hingegen  ist  ihm  der  Begriff  der  Nerven  noch  immer 
nicht  klar,  wie  auch  seinem  Schüler  Praxagoras,  der  die  Nerven 
vom  Herzen  ausgehen  lässt  bezw.  als  die  feinsten  Ausläufer  der 
Arterien  auffasst,  die  durch  Zusammenfallen  ihre  Hohlräume  eingebüsst 
haben,  eine  Theorie,  die  noch  von  Aristoteles  und  Chrysippos  vertreten 
wurde.  Die  Schrift  ttsq!  xaQÖirjg  des  Corp.  hipp,  dürfte  zu  seiner  Zeit 
entstanden  sein.  -^)  Leider  kennen  wir  ihn  nur  bruchstückweise,  was 
umsomehr  zu  bedauern  ist,  da  er  sowie  sein  Schüler  Praxagoras 
die  ersten  sind,  die  je  eine  „A  natome"  betitelte  Schrift  verfasst  haben. 
Den  erlialtenen  Nachrichten  zufolge  dürfte  auch  er  nur  Tieranatomie 
getrieben  haben.  So  hält  er  an  Kotyledonen  der  Gebärmutter  fest, 
die    schon  Alkmaion   angenommen   haben   soll,    Demokritos,    Hippon, 


")  Fredrich,  Wellmann. 


12* 


180  Robert  Ritter  von  Töply. 

Diogenes  von  Apollonia  anerkannt  haben,  und  die  erst  seit  Aristoteles 
verschwinden.  Andererseits  gedenkt  er  der  „Gänge"  von  der  Leber 
zur  Gallenblase,  er  kennt  den  „Magenmund'',  den  „Blinddarm",  das 
orificium  ilei,  orificium  intestini  recti, -')  die  Eierstöcke  („Hoden"),  die 
Eileiter  („Samengefässe"),  lässt  aber  letztere,  wie  auch  später  noch 
Herophilos,  an  den  Blasenhals  herantreten.  Die  Schamlippen  nennt 
er  „Abhänge"  {v.Qri!.ivoL).  Wellmann  steht  nicht  an,  nach  Alkmaion 
ihm  das  grösste  Verdienst  um  die  Ausbildung  der  griechischen  Ana- 
tomie zuzuschreiben.  '^^)  Die  Anatomie  des  Praxagoras  (um  340  —  20) 
ist  verloren  gegangen.  -")  Er  verwechselte  zwar  Nerven,  Sehnen  und 
Blutgefässe  und  wird  deshalb  von  Galenos  zurückgewiesen.  "**),  erklärt 
das  Gehirn  für  einen  Anhang  des  Rückenmarks,  '^'^)  das  Herz  für  den 
Ausgangspunkt  der  Nerven,  •''-)  ist  aber  doch  als  Gründer  einer  aus- 
gebreiteten Anatomen  schule  bemerkenswert.  Unter  seinen  Schülern  ragt 
Xenophon  von  Kos  durch  seine  Verdienste  um  die  schon  vor  ihm 
durch  Aristoteles  begründete  anatom.  Nomenklatur  hervor.  ^'^)  P 1  e  i  s  t  o  - 
nikos  zählt  bei  Gal.  a.  a.  0.  zu  den  ältesten  Anatomen,  ebenso  Philo- 
timos  (um  290  V.  Gh.).  Die  Anhänger  des  Praxagoras  und  Philotimos 
haben  die  Muttertrompeten  „Busen"  Uölnoi)  genannt,  während  sie 
Eudemos  „Fangarme"  {Ttlt-AxävaL)  benannt  hatte.  =^^)  Mnesitheos 
zählt  bei  Gal.  a.  a.  0.  zu  den  ältesten  Anatomen  (ebenso  D  i  e  u  c  h  e  s 
von  Athen). 

Piaton  (427 — 347)  kann  in  einer  Darstellung  der  Geschichte  der 
Anatomie  nicht  gut  übergangen  werden,  da  seine  im  „Timaios"  dar- 
gelegten Ideen  in  späteren  Werken  anatomischen  Inhalts  nicht  selten 
durchschlagen.  Er  selbst  war  in  der  Anatomie  nicht  sehr  be\\^andert 
und  steht  ihr  nur  als  geistreicher  Dilettant  gegenüber.  ='^) 

Aristoteles  (384 — 322)  hat  sich  um  die  Naturgeschichte  der 
Tiere  bleibende  Verdienste  erworben.  Der  Anatomie  des  Menschen 
steht  er  in  seinem  Hauptwerke  jedoch  fremd  gegenüber.  Die  äussere 
Topographie  ist  ihm  selbstverständlich  bekannt,  das  Uebrige  entnimmt 
er  jedoch  der  Tieranatomie,  so  die  Besprechung  des  Gehirns,  der  Hirn- 
häute und  Kammern,  des  Sehnerven  als  Hohlgang  {nÖQog),  der  Ohr- 
trompete, hingegen  leugnet  er  den  Zusammenhang  zwischen  Gehirn 
und  Ohr,  behauptet,  das  Hinterhaupt  sei  leer,  ist  über  die  Schädel- 
nähte ganz  im  Unklaren  und  beschreibt  sie  unrichtig.  Er  kennt  das 
Zäpfchen,  den  Kehlkopf  mit  Kehldeckel,  die  Luftröhre,  deren  Gabelung 
und  Uebertritt  in  die  Lunge,  ist  aber  über  den  Zusammenhang 
zwischen  Lunge  und  Herz  im  Unklaren.  Er  kennt  die  Speiseröhre, 
den  Magen  und  Darm,  das  Netz  und  das  Mesenterium.    Er  stellt  das 

'^')  Die  Blinddarmklappe,  s.  Vindician. 

**)  *M.  Well  mann,  D.  Fragmente  der  sikelischen  Aerzte  Akron,  Philistiou 
und  die  des  Diokles  v.  Karystos,  Berl.,  Weidmann,  1901.  254  S. 

^^)  Gal.  K.  XIV  683  nennt  als  Vertreter  der  logischen  Sekte:  Diokles  den 
Karystier,  Praxagoras  von  Kos,  Heropliilos  von  Chalkedon,  Erasistratos  von  Chios, 
Mnesitheos  von  Athen,  Asklepiades  von  Bithynien.  Kianos  „den  Prusier". 

»ö)  Gal.  K.  V  188-200. 

*i)  Gal.  K.  III  671. 

32)  Gal.  K.  V  187. 

•■'»)  Gal.  K.  XIV  700. 

"')  Herophilos  hat  sie  mit  einem  Halbkreis,  Diokles  mit  wachsenden  Hörnern 
verglichen,  Gal.  K.  II  890. 

^*)  Vgl.  besonders  vom  Kapitel  20  an,  wo  die  Hypothese  von  den  Elementar- 
dreiecken einsetzt.  Textausg.  des  Tiraäos  und  Kritias  mit  gegenüberstehender 
deutscher  Uebers.,  Leipz.,  Engelmaun,  1853. 


Geschichte  der  Anatomie.  181 

Herz  als  Mittelpunkt  des  Gefasssystems  hin.  beschreibt  weitaus  besser 
als  Syenesis,  Diogenes  und  Polybos  das  Gefässsystem,  jedoch  nur 
dessen  Hauptstämme  und  deren  Aeste.  die  Aorta,  die  Hoblvene  bis 
zu  den  Händen  und  Füssen  so^\ie  bis  zum  Kopf  und  zu  den  Bauch- 
eingeweiden. Die  Holilvene  und  Aorta  nennt  er  noch  immer  ..Adern", 
bemerkt  jedoch,  dass  letztere  von  Einigen  ..Aorte"  genannt  ^ird, 
weil  sie  in  der  Leiche  sehnig  aussieht.  „Das  Herz  hat  bei  allen 
Tieren  Höhlungen  im  Innern,  aber  bei  den  ganz  kleinen  ist  kaum 
die  gi'össte  sichtbar,  bei  denen  von  mittlerer  Grösse  auch  die  zweite, 
bei  den  grössten  aber  alle  drei."  Das  Herz  des  Menschen  sowie  die 
Herzklappen  kennt  er  nicht.  Er  erwähnt  das  Zwerchfell,  die  Leber  und 
Gallenblase,  die  Nieren.  Nierenbecken.  Harnleiter,  Xierenvenen,  Harn- 
blase, Harnröhre.  Rute,  die  Hoden,  deren  Blutgefässe,  den  ..Kopf"  des 
Hodens  (Nebenhoden)  die  Samengänge  und  deren  Yerlaull  aber  nicht  die 
Samenblasen.  Er  beschreibt  die  Gebäimutter  (zweihörnig.  da  sie  nahe 
den  Schamteilen  liegtj  aber  nicht  deren  Adnexe,  erwähnt  der  Kotyledonen 
beim  Hornvieh  und  nur  mit  einer  Zahnreihe  ausgestatteten  Tieren  im 
Gegensatze  zur  innen  glatten  Gebärmutter  der  Lebendiggebärenden. 
Wo  er  vom  Menschen  spricht,  trachtet  er  Unterschiede  zwischen  Mann 
und  Weib  zu  finden.  (IIL  7.  Das  AVeib  hat  eine  kreisförmige  Schädel- 
naht, der  Mann  drei  oben  zusammenstossende  Nähte.)  In  der  all- 
gemeinen Anatomie  geht  er  über  die  gewöhnlichen  L'uter- 
scheidungen  von  Adern,  Sehnen,  Fasern,  Knochen,  Knorpeln,  Hörn,  Haut, 
Haaren,  Membranen.  JFleisch.  Fett,  Blut.  Mark,  Milch,  Samen  nicht 
hinaus.  ^^)  In  der  Embryologie  hat  er  gegenüber  seinen  Vorgängern 
durch  Studium  der  Entwicklungdes  Hühnchensim  Ei,  Bildung 
des  Herzens.  Gehirns,  der  Augen,  der  AUantois  und  der  Dottergefässe 
u.  a.  einen  wesentlichen  Schritt  nach  vorwärts  gemacht.^')  Laertios 
Diogenes  nennt  noch  folgende,  leider  verschollene  Werke  des  Aristo- 
teles anatomischen  Inhalts:  avarour/Mv  8  Bücher,  l/j.oyi]  dvaxoiuwv 
1  Buch,  vneg  tcov  ovvd^hwv  Lwiov  1  Buch.  ^^)  Der  anonyme  Verfasser 
der  Lebensgeschichte  des  Aristoteles  bei  Menagios  rechnet  noch  eine 
ctvaToui]  äv^QcüTiov  hinzu.  Ein  späterer  Auszug  aus  Ai-ist.  ist  der  sog. 
Anonymus  des  Lauremberg  =  ävtovvuov  aiaayioyrj   ävaxouiya]'^^) 

Straton,  der  Nachfolger  des  Theophrastos  in  der  peripat^t. 
Schule,  hat  u.  a.  über  die  menschliche  Natur,  die  Hervorbringung  von 
lebendigen  Jungen,  die  Geschlechtsvereinigung  geschrieben.  Klearchos 
von  Soloi  schrieb  ttsqI  oy.e/.€Tü)v.^*')  Kallisthenes  von  Olynthos  (gest. 
um  326),  Neffe  des  Aristoteles,  ein  Werk  über  Anatomie. 

Alexandriner.  Die  Blütezeit  der  alexandrinischen  Schule  unter 
den  Ptolemäern  dauerte  nicht  lang.  Ptolem.  I.  Soter  I.  regierte  304 
bis  285,  und  schon  Ptol.  VIII.  Euergetes  11.  (reg.  in  Aegypten  170 
bis  163,  in  Kyrene  bis  145,  dann  in  Aegypten  und  Kyreue  bis  116) 
vertrieb  die  Gelehrten  einschliesslich  der  Aerzte.    Leichensektionen 


»»)  Vgl.  bes.  Tierkunde  B.  III. 

'')  Vgl.  Tierkunde  B.  5,  6.  Zeugungs-  u.  Entwicklnngsgesch.  1—4:  Text- 
ansgaben mit  gegenüberstehender  deutscher  Uebersetzuug :  *Tierkunde  von  Aubert 
u.  Wimraer,  Lpzg.,  Engelmann,  1868,  2  Bde.,  *Fünf  Bücher  v.  d.  Zengnng  u.  Ent- 
wicklung d.  Tiere  v.  Aubert  u.  Wimmer,  das.  1860:  Erstere  m.  Taf.,  darunter 
Darstellung  des  Gefäss.systems  nach  Diogenes,  Polybos.,  Aristoteles. 

3*1  V  1,  Xn  §  25. 

*»J  Gute  Ausg.  mit  lat.  Uebers.  von  »Triller  u.  Bemard  L.  B.  1744. 

***)  Fragmente  bei  Athenaios,  Deipnosophist. 


182  Robert  Ritter  von  Töply. 

sind  hier  (und  zwar  nur  hier)  sichergestellt,  doch  scheinen  sie  sich 
nur  auf  eine  Eröffnung  der  Bauchhöhle,  dann  der  Brusthöhle  be- 
schränkt zu  haben.  Der  hervorragendste  dieser  Alexandriner  ist 
Herophilos  (4.  Jahrh.  2.  Hälfte  bis  3.  Jahrh.  1.  Hälfte?).  Seine 
anatomischen  Schriften*^)  sind  verloren,  doch  sind  die  Leistungen  von 
den  Nachfolgern  sattsam  hervorgehoben.  Sie  betreffen  1.  Zergliederung 
menschlicher  Leichname,  Vivisektionen  (sehr  fraglich),  anatomische 
Technik  (darsis);  2.  Unterscheidung  des  Grosshirns  und  des  Kleinhirns, 
Gehirnhäute,  Blutsinus  (torcular  Herophili),  Plexus,  Hirnhöhlen,  Schreib- 
feder (calamus  Herophili),  Hirnnerven,  Rückenmasksnerven,  Sinnes- 
nerven, Herznerven,  Häute  des  Auges;  3.  Unterschied  zwischen  Schlag- 
und  Blutadern,  Dicke  der  Arterien,  Lungenpulsader,  Bau  des  Herzens, 
Ursprung  der  Arterien,  Gehirnvenen,  Chylusgefässe  des  Mesenteriums; 
4.  Speicheldrüsen,  Pankreas;  5.  Zwölffingerdarm;  6.  Vergleichung  der 
menschlichen  Leber  mit  der  Tierleber,  Beschreibung  derselben,  Ab- 
weichung in  Gestalt  und  Lage ;  7.  Blutgefässe  der  Hoden,  Nebenhoden, 
Samengang,  Samenbläschen,  Gestalt  des  Uterus,  Blutgefässe,  ver- 
schiedenes Verhalten  des  Halses,  Angabe  des  Muttermundes,  Eier- 
stöcke. Beschreibung,  Vergleichung,  Muttertrompeten  (fallopische 
Tuben);  8.  Zungenbein,  Schienbein;  9.  Samenbildung,  Milchbildung, 
Bewegung  des  Fötus.  Die  Gebiete,  die  er  vorzugsweise  bearbeitet  hat, 
sind  also  das  Nervensystem,  das  Blutgefässsystem,  die  Eingeweide- 
lehre. Mit  ihm  beginnt  die  systematische  Forschung  in  der 
Anatomie.^-)  Eudemos,  von  Galenos  gleichzeitig  mit  Herophilos, 
jedoch  vor  diesem  genannt,  hat  sich  nicht  nur  auf  dem  Gebiete  der 
Drüsen  und  Nerven,  sondern  auch  auf  dem  der  Gefäss-  und  Knochenlehre 
hervorgethan.  Mit  Eudemos  und  Herophilos  beginnt  das  Studium  der 
Osteologie.  Eudemos  insbesondere  hat  das  Akromion  als  ostarion 
=  Knöchelchen  bezeichnet,  den  Griffelfortsatz  des  Felsenbeins  mit 
einem  Hahnen  sporn  verglichen,  aber  unbenannt  gelassen. 

Die  zweite  herophileische  Schule  (in  Menos  Karu)  hat 
sich  um  die  Anatomie  nicht  verdient  gemacht. 

Erasistratos  (um  330— 250/40)  hängt  sowohl  der  Abstammung 
als  dem  Studien  gang  gemäss  mit  der  Schule  des  Chrysippos  zu- 
sammen. *=^)  Er  gehört  neben  Herophilos  auch  als  Anatom  zu  den 
ersten  Vertretern  der  streng  wissenschaftlichen  Forschung.  (Vgl.  über 
ihn  die  ausführliche  Darstellung  von  Rob.  Fuchs  in  diesem  Hand- 
buch I  295 — 306.)  Die  Schule  des  Erasistratos  fand  in  dessen  Schüler 
Straton,  und  wieder  in  des  letzteren  Schüler  Apoll onios  von 
Mempliis  ihre  Fortsetzung.  Dieser  wird  in  dem  fraglichen,  dem 
Galenos   zugeschriebenen  Buch   „Einleitung  o.  d.   Arzt"   gelegentlich 


■")  avnrofuxd^  wenigstens  3  Bücher,  rcsol  ScpO-alficov  =  üb.  d.  Augen. 

*^)  *Marx  (K.  F.  H.),  Herophilus,  Carlsr.  u.  Baden  1838,  8»,  103  S.,  *De  Hero- 
phili celeberrimi  medici  vita  etc.,  Gotting.  1840,  4**,  60  p.  —  Nachtrag  dazu  aus 
Theophilos  p.  t.  t.  anthr.  katask.  IV  5:  „die  Nachfolger  des  Her.  haben  den  aadriv 
=  Rinne  sowohl  Tivekoi  =  Trog  als  auch  yiovri  =  Trichter  genannt". 

■**)  Vgl.  die  obige  Uebersicht  der  Schule  des  Empedokles,  dann  beistehende 
Stammtafel : 


Kretoxene        Medios 
Gatte:  Kleombrotos 


Erasistratos. 


Geschichte  der  Anatomie.  183 

der  Bemerkung:  erwähnt,  dass  Aristoteles  als  Lehrer  und  schrift- 
stellerisch zuerst  die  äusseren  Körperteile  und  deren  Benennungen 
behandelt  habe.  Später  haben  sich  auf  diesem  Gebiete  besonders  die 
Nachfolger  des  Erasistratos  hervorgethan.  wie  Appolonios  von 
Memphis  und  vor  ihm  Xenophon. ^^)  In  den  ..medizinischen  De- 
finitionen" wird  Apoll,  v.  M.  neben  Herophilos  und  Athenaios 
Attaleus  als  auf  diesem  Gebiete  thätig  erwähnt.*')  Her  gehört 
auch  Martianos  (Martialios  =  Martialis),  Verf.  zweier  Bücher  über 
Anatomie.  **') 

Aratos,  Aristogenes.  Der  erstere  (um  315 — 240)  soll  eine 
Embryologie  geschrieben  haben,*')  der  andere  (um  278)  wird  neben 
Medios  als  eifriger  Anhänger  des  Chrysippos  genannt.  *^) 

Pneumatiker  und  Eklektiker,  Ehuphos.  Athenaios 
von  Attaleia  (um  41 — 54  n.  Ch.),  Gründer  der  pneumatischen  Schule 
in  Eom.  hat  im  VII.  Buch  seines  vielbändigen  Werkes  auch  eine 
Embryologie  gegeben,  überdies  auch  ..Definitionen"  geschrieben. 
Ehuphos  von  Ephesos  verdankt  seine  anatom.  Bildung  dem  Studium 
in  Alexandrien,  welches  sich  in  der  römischen  Kaiserzeit  eines 
neuen  Glanzes  erfreute.  Seine  anatomischen  Schriften  haben  sich 
wenigstens  teilweise  erhalten.  Sie  sind  durch  die  zahlreich  einge- 
streuten geschichtlichen  Bemerkungen  sehr  wertvoll.  Es  sind  dies 
a)  Benennung  der  Körperteile  des  Menschen"  und  ein  er- 
gänzendes Anepigraphon  dazu;  b)  ,.Knochen",  die  einzige  aus  der 
vorgalenischen  Zeit  erhaltene  Osteologie.  Bruchstück  einer  grösseren 
Schrift,  in  welcher  dem  vorhandenen  Stücke  eine  Eingeweidelehre 
vorangegangen  war.  Das  erste  Werk  ist  eine  Einleitung  zur  prak- 
tischen Zergliederung  des  Afi'enkörpers  mit  der  Bemerkung,  dass  die 
Alten  derartige  Dinge  allerdings  an  Menschen  gelernt  hatten,  das 
andere  eine  schon  recht  eingehende  Knochenlehre,  mit  genauerer  Be- 
rücksichtigung der  am  Schädel  aussen  (aber  nicht  an  der  Basis)  sicht- 
baren Nähte,  Angabe  der  Zahl  der  Carpusknochen.  noch  ohne  Unter- 
scheidung der  Bestandteile  des  Hüftbeins,  mit  Unterscheidung  des 
talus  und  calcaneus,  aber  ohne  genauere  Kenntnis  der  Tarsusknochen. 

Soranos  aus  Ephesos  hat  ebenfalls  in  Alexandrien  studiert 
(Blütezeit  in  Eom  um  110)  und  u.  a.  ebenso  wie  Ehuphos  eine  Nomen- 
klatur hinterlassen,''")  welche  zwar  im  Original  verloren,  aber  noch 
einigermassen  rekonstruierbar  ist. 

Alexandriner  des  2.  Jahrhunderts.  Dahin  zählen  als 
Anatomen  Herakleianos **')  und  Julianos,*^)  beide  Lehrer  des 
Galenos  in  Alexandrien. 

Schule  des  Marino s.  Eine  Uebersicht  derselben  giebt  die 
folgende  Tabelle:  ") 


*')  Gal.  K.  XIV  699  fg. 

*•')  Gal.  K.  XIX  347. 

*»)  Gal.  K.  XIV  615,  XIX  18. 

*'')  Vgl.  dieses  Handb.  1  318. 

*")  G.  K.  XI  197,  252;  XV  136  hier  wohl  ein  Schreibfehler:  Antigenes. 

*")  TTfoi    ofo^aaifüf  {eTVfioXoyiiüf)    toi  aaiftmos  rov   dv&ocÖTiov  etC.  =  -t.  xara- 
oxev^S  rov  awitmos  rov  df^oeö:Tov. 

^«)  Gal.  K.  X  53  sq.,  XII  177,  95,  XV  136. 
si\  X  53. 

")  Nach  Gal.  K.  TI  217,  283,  V  112,  XV  136.  XVI  197.  524,  XIX  22,  57. 


184 


Robert  Ritter  von  Töply. 

Marinos 

1 
Kointos 


Satyros 


Numisianos 

(Korinth) 


Lykos 
(Makedouier) 


Pelops 

(Srayrna) 


Galenos 

Marinos  ist  der  glänzendste  der  unmittelbaren  Vorgänger  des 
Galenos.  Dieser  beruft  sich  wiederholt  auf  ihn  und  hat  sogar  einen 
4  bändigen  Auszug  aus  dessen  20  bändiger  Anatomie  veranstaltet,  über- 
dies das  Inhaltsverzeichnis  überliefert.^^) 

I  =  Marines  1 — 6.  1.  Vorrede,  dann  Haut,  Haare,  Nägel,  Fleisch,  Speck, 
Fett;  2.  Drüsen,  Häute,  Membranen,  Bauchfell,  Brustfell,  Zwerchfell;  3.  G-e- 
fässlehre  und  ob  in  den  Arterien  naturgemäss  Blut  enthalten  ist;  4.  Kraft 
und  Bethätigung  der  Arterien,  deren  Ursprung  u.  s.  w.,  Harnleiter,  Harnröhre, 
Nabelschnur,  Samengefässe,  Gallengefässe  und  -gänge  und  Drüsen,  Drüsen- 
gefässe,  Kehlkopf,  Milchgänge  der  Brust,  Ergüsse  im  Körper,  Inhalt  der 
Gefässe,  Nahrung;  5.  Kopf,  Nähte,  Fugen  aller  Schädelknochen,  deren 
Höhlen,  Unterkiefer,  ob  er  zusammengewachsen  sei,  Zähne,  Kehlbein  und 
anliegende  Teile;  6.  Hodensack,  Heiligenbein,  Hüfte,  Rippen,  Brust,  Schulter- 
blätter, Schlüsselbeine,  Oberarm,  Vorderarmknochen,  Handwurzelknochen, 
Finger,  Schenkel,  knorpeliger  Knochen  der  Kniee  (Kniescheibe).  II  ^ 
Marin.  7 — 10.  7.  Verhältnis  des  Schädels  zu  den  Hirnhäuten  und  anderen 
Häuten,  Gesichtsnerven,  Schläfe-  und  Kaumuskeln,  Muskeln  der  Wangen 
und  Lippen,  Zahntächer,  Kiefermuskeln,  Muskeln  an  der  Innenseite  des 
Unterkiefers,  Muskeln  an  den  Nüstern,  der  Zunge,  Zungenmuskulatur, 
Muskeln  um  das  Auge ;  8.  Mund,  Lippen,  Zähne,  Zahnfleisch,  Zäpfchen, 
Kehldeckel,  Rachen,  Mandeln,  Nase,  Nüstern,  Ohren,  Hals  und  Halsmuskeln ; 

9.  Zwerchfellmuskeln,  Rückenmuskeln,  Intercostalmuskeln,  Bauchmuskeln, 
Muskeln    des    Oberarms    und    der    Schulter,    des   Vorderarms,    der    Hand ; 

10.  "Wadenmuskeln,  Schenkelmuskeln,  Kniegelenk.     III  =  Marinos   11  — 15. 

11.  ,,0b  in  die  Lunge  Flüssigkeit,  und  ob  beim  Essen  in  den  Magen  Luft 
gelangt",    Schlund,    Speiseröhre,    Lunge,    Herz,    Herzbeutel,    Thymosdrüse ; 

12.  Leber,  Galle,  Milz,  Bauchhöhle,  Mesenterium;  13.  Darm,  Nieren,  Harn- 
leiter, Nabelschnur,  Harnröhre,  Rute,  männliche  und  weibliche  Scham,  Ge- 
bärmutter, Schwangerschaft,  Hoden  (Marinos  nennt  sie  ,, Zwillinge"  öidvf.ioi,), 
deren  drüsige  Substanz;  14.  Anatomie  der  Venen  oberhalb  der  Leber; 
15.  die  vom  Herzen  zur  Leber  führende  Vene,  alle  Venen  unterhalb  des 
Zwerchfells.  Alle  Arterien  des  Tieres  (Marinos  schreibt  also  Tieranatomie). 
IV  ^=  Marinos  16 — 20.  16.  Das  Gehirn  und  dessen  Funktion,  ob  ihm  die 
Pulsbewegung  innewohnt,  ob  wir  darein  Atem  einziehen,  das  Rückenmark, 
die  Meningen;  17.  die  Herrschaft  des  Gehirns;  18.  die  willkürlichen  Thätig- 
keiten,   die  Unterschiede    der  Nerven,    deren    einzelner  Ursprung;     19.  Ge- 


5»)  Im    übrigen    über   Marinos    vgl.    Gal.   K.  II  280,  283,    IV  646,    XIII  25, 
XV  136,  XVIII  B.  926,  935,  XIX  25. 


Geschichte  der  Anatomie.  185 

hirnnerven,    Geruch,    die   Augennerven,    welche    Herophilos    und    Eudemos 
Röhren  nennen,  ferner  .   .  .  (hier  beginnt  eine  Lücke). 

Man  begegnet  hier  schon  einer  vollständigen  systematischen  Ana- 
tomie nebst  angeschlossenen  physiologischen  Bemerkungen.  Kointos 
hat  nichts  geschrieben.  Umso  fruchtbarer  war  wieder  Lykos.  Er 
hat  eine  übrigens  stellenweise  lückenhafte  ^luskelanatomie  verfasst, 
welche  ungefähr  5000  Zeilen  hatte.  ^^  Galenos  bekämpft  ihn,  weil  er 
statt  10  Hüftmuskeln  nur  5  kennt.  •'^)  die  mm.  pterygoidei  sowie  die 
breiten  Halsmuskeln  übersehen  hat,  ^^j  nur  5  Augenmuskeln  annimmt  ^') 
XL.  s.  w..  hat  aber  nichtsdestoweniger  einen  zweibändigen  Auszug  aus 
dessen  Werken  veranstaltet.  Auch  die  Muskelanatomie  des  Pelops 
ist  gleichwie  die  des  Lykos  und  Ailiauos  d.  J.  geschäzt  gewesen. 
Pelops  hat  sie  im  3.  Buche  seiner  Einleitung  zu  Hippokrates  mit  der 
übrigen  Anatomie  abgehandelt,  Ailianos  d.  J.  in  einem  Auszuge  aus 
den  anatomischen  Schriften  seines  Vaters.  Sowol  die  Schriften  des 
Lykos  als  auch  die  des  Pelops  und  Ailianos,  des  Vaters  wie  des  Sohnes, 
sind  jedoch  verloren  gegangen. 

Galenos  (Sommer  130 — Sommer  200?).  Seine  Werke  sind  in 
diesem  Handbuch  I  381  fg.  der  Entstehungszeit  nach  aufgezählt.  Hier 
folgt  eine  Uebersicht  der  anatomischen  Schriften  nach  deren  Inhalt, 
beigesetzt  die  in  jener  Aufzählung  die  Zeitfolge  andeutenden  Nummern. 

A.  Schriften  allgemeinen  Inhalts:  Anatomie  an  Lebenden, 
2  Bücher  (42),  Anatomie  an  Toten,  1  Buch  (43),  Anatomische 
Streitfragen,  2  Bücher  (44).  Die  Urschriften  sind  verloren,  die 
arabische  Uebersetzung  von  Hobeisch  ben-el- Hasan  (vor  987)  ebenso. 
B.  Lehrbücher,  a)  Einleitende  Schriften.  Je  1  Buch  über  Knochen  (45), 
Venen  und  Arterien  (46),  Nerven  (47),  Muskeln  (56):  die  Gefäss- 
lehre  von  den  Alexandrinern  später  in  2  Bücher  geteilt,  b)  Hauptwerke : 
Anatomische  Hantierungen  (9)  in  verschiedenen  Redaktionen,  die 
erhaltene  in  15  Büchern  (nur  1 — ^9  griechisch,  das  Ganze  arabisch  in 
mehreren  Handschriften),  Gebrauch  der  Körperteile  des  Men- 
schen (2),  17  Bücher  (deutsch  von  Nöldeke  1805,  franz.  von  Daremberg 
1854.  Eine  neue  deutsche  Ausgabe  wäre  dringend  notwendig).  C.  Hilfs- 
bücher :  Auszug  aus  den  anatomischen  Büchern  des  Marinos, 
4  Bücher  (s.  oben  bei  Marinos),  Auszug  aus  allen  anatomischen 
Büchern  des  Lykos,  2  Bücher  (s.  oben  bei  Lykos).  Arabische  TJeber- 
setzungen  beider  Werke  kennt  noch  Oseibia.  D.  Kritische  Werke  über 
die  Anatomie  des  Hippokrates,  6  Bücher  (40),  Anatomie  des  Erasi- 
stratos,  3  Bücher  (41),  die  dem  Lykos  unbekannten  ana- 
tomischen Thatsachen  (60).  E.  Sonderabhandlungen  zur  Embryologie : 
Anatomie  der  Gebär  mutter  (33),  Anatomie  d  e  s  Embry  on  (36). 
F.  Mehr  physiologischen  Inhalts  Die  Stimme,  4  Bücher  (39),  Der 
Samen  (52),  Das  Geruchswerkzeug  (55),  Die  Entwicklung  der 
Leibesfrucht  (61). 

Das  Hauptwerk,  die  anatomischen  Hantierungen  {ävcao/iuy.ai 
lyx^iQ^joeig)  hat  folgenden  Inhalt:   1.  Muskeln  und  Bänder  der  Hände, 


**)  Während  Gal.   denselben  Gegenstand   auf  einem  Drittel  des  Umfangs  er- 
schöpft haben  will. 

")  Aussen  3,  innen  2,  G.  K.  XVIII  B.  1000. 
")  K.  II  449. 
•■*"}  XVIII  B.  933. 


186 


Robert  Ritter  von  Töply. 


2.  Muskeln  und  Bänder  der  Füsse,  3.  Nerven  und  Gefässe  der  Glieder, 

4.  Muskulatur  der  Wanden,  Lippen,  des  Kopfes,  Halses  und  Nackens, 

5.  Brust-,  Bauch-,  Lenden-,  Rückenmuskeln,  6.  Nahrungswerkzeug-e : 
Darm,  MsLgen,  Leber,  Milz,  Nieren,  Harnblase,  7.  Herz,  Lung-e,  die 
Arterien  beim  toten  sowie  beim  lebenden  Tier,  8.  Arterien  des  Brust- 
korbs, 9.  Gehirn  und  Rückenmark,  10.  Augen,  Zunge,  Speiseröhre  und 
Umgebung,  11,  Kehlkopf,  ypsilonförmiger  Knochen  (Zungenbein)  und 
Umgebung  samt  deren  Nerven,  12.  Arterien  und  Venen,  13.  Gehirn- 
nerven, 14.  Rückenmarksnerven,  15.  Geschlechtsteile.  Der  Inhalt,  an- 
scheinend durcheinander  gewürfelt,  entspricht  dem  beiläufigen  Gange 
einer  Sektion.  Weitaus  systematischer  sind  die  sog.  kleinen  ana- 
tomischen Schriften. 

Grundzüge  der  Anatomie  des  Galenos. 
Knochenlehre.     System  der  Gelenke  nach  folgender  Uebersicht. 


ovvSeoig 
rwv  doTiüV 
Zusammen- 
setzung der 
Knochen 


ägd-gov 

[avvTatig  = 

ovvSeaig, 

öuilia) 

Gelenk 


avurpvaig 

(eviüoig) 

Ver- 
wachsung 


ÖlCCQ&QlOOtg 

merklich 

beweglich, 

freigelenkig 

awagd-gioaig 

unmerklich 

beweglich, 

straif 


tvdgd-QCüffig   tief 
aQ^gioöla      seicht 
yiyylvf.iog     Wechselgelenk 


gacprj 

yöi-UfLoaig 

äg(.iovLa 


Naht 

Vernagelung 
Strich  fuge 


ovyyövdgioaig 

knorpelig 
avvvevgtoGig . . . 

nervig 

anaodgxiüoig 

fleischig 


veüga  TtgoaigerrKcc  Willens- 
nerven 
vevga  avvdstr/.d  Sehnen 

Tsvovreg  Bänder. 


Kenntnis  der  Aussenansicht  des  Säugetierschädels  mit  den  Nähten, 
auch  an  der  Basis.  Gedachte  Gegenüberstellung  von  Schädelkapsel 
und  Gesichtsteil.  Zusammensetzung  der  Schädelkapsel  aus  6  Knochen 
(zweiteilige  Stirnbeinschuppe,  die  2  Seitenwandbeine,  die  2  Schläfe- 
beinschuppen, Schuppe  des  Hinterhauptbeins).  Kenntnis  des  Keilbeins 
und  der  Flügel,  der  Naht  zwischen  dem  Hinterhauptbein  und  Keil- 
bein (Grundlinie  des  Kopfes  Gal.).  Kenntnis  des  Felsenbeins  mit  dem 
Griffelfortsatz,  proc.  mastoideus,  proc.  zygomaticus,  Gehörgang.  Auf- 
fassung der  Jochbrücke  als  eines  selbständigen  Ganzen.  Genaue 
Kenntnis  der  Nähte  des  Gesichtsteils  des  Schädels,  oberflächliche  der 
Gaumenbeine,  Kenntnis  der  Nasenbeine,  Annahme  eines  Zwischen- 
kieferknochens. Ungenaue  Unterscheidung  der  Bestandteile  des  Ge- 
sichtsteils des  Schädels,  daher  Gesamtzahl  der  „Oberkieferknochen"  je 
nach  der  Auffassung  8 — 15.  Zahl  der  Zähne  32.  Schneide  und  „Hunds- 
zähne" (Eckzähne)  einwurzelig,  je  5  ,. Backenzähne",  im  Oberkiefer 
dreiwurzelig,  im  Unterkiefer  zweiwurzelig,  ausnahmsweise  einige  im 
Oberkiefer  vierwurzelig,  im  Unterkiefer  drei  wurzelig  und  zwar  zumeist 
die  hintersten.  Unterscheidung  von  Kieferladen  und  Zahngruben.  Der 
Unterkiefer  ist  nicht  einfach,  sondern  zweiteilig.    24  Rückgratwirbel 


Geschichte  der  Anatomie,  187 

unter  Umständen  mehr  oder  weniger,  am  Ende  das  „heilige"  oder 
„breite"  Bein.  7  Halswirbel.  Zweiter  Wirbel  („Zahn"  des  Hipp.) 
mit  sondenknoptähnlichem  Fortsatz  (von  Einigen  zahnförmiger  Fort- 
satz genannt ).  Fortsätze  der  5  übrigen  Halzwirbel :  hinterer  Fortsatz 
„Dorn",  seitliche  Fortsätze.  12  Brustwirbel.  Körper,  Dornfortsätze, 
seitliche  Fortsätze.  Lendenwirbel,  deren  Fortsätze.  Das  Kreuzbein 
ist  dreiteilig,  ebenso  das  Steissbein.  Beide  haben  Austrittsstellen 
für  je  3  Xervenpaare,  der  Eest  des  Eückenmarks  tritt  überdies  am 
Ende  des  dritten  Hinterbeinteils  unpaarig  aus.  Brustknochen :  Brust- 
blatt, je  12  Rippen,  12  Rückenwirbel.  Am  unteren  Ende  des  Brust- 
blatts ein  dreieckiger  Knorpel  angewachsen.  Einige  nennen  das 
Brustblatt  schweitiörmig.  Unterscheidung  zwischen  wahren  und 
falschen  Rippen.  Kenntnis  der  Schulterblätter,  des  Grats.  Selbständig- 
keit des  Akromion.  Einige  nehmen  neben  dem  Schulterblatt  und 
Akromion  noch  einen  dritten  Knochen  an,  bald  Beischlüssel,  bald 
Akromion  genannt.  Hals,  Pfanne  des  Schulterblatts,  ankerförmiger 
Fortsatz,  auch  Rabenschnabelfortsatz  genannt.  Schlüssel(-bein).  Ober- 
armbein mit  Kopf,  Hals,  Einschnitt  (sulcus  intertubercularis),  welcher 
den  Kopf  (!)  in  2  höckerähnliche  Abschnitte  trennt.  Undeutliche  Be- 
schreibung des  unteren  Endes.  Andeutung  der  fossa  coronoidea  und 
olecrani,  der  trochlea.  Elle,  deren  2  Schnäbel  (olecranon  und  proc. 
coronoid.),  halbmondförmige  Höhlung  (incis.  semilun.),  säulenförmiger 
Fortsatz  (proc.  xyloid.).  Handwurzel  zweireihig.  Obere  Reihe  3.  untere 
Reihe  4  -j-  1  Knochen.  Eine  Beschreibung  der  einzelnen  Handwurzel- 
knochen fehlt.  5  Mittelknochen,  14  Fingerknochen  (Glieder,  auch 
Stäbchen  genannt).  Das  Becken  als  solches  ist  nicht  bekannt.  Die 
Hüftbeine  als  Ganzes  haben  keinen  eigenen  Xaraen,  ihre  drei  Ab- 
schnitte werden  als  breite  Hüftbeine  (Darmbeinschaufehi).  Hüftgelenks- 
beine (mit  Pfanne),  Schambeine  bezeichnet.  Der  Begriif  des  letzteren 
ist  nicht  ganz  klar.  Sicher  hinzuzurechnen  ist  das  os  pubis  und  der 
Sitzteil  des  os  oschii.  Oberschenkel  mit  Kopf  und  Hals,  unten  zwei 
Knorren.     Xebst    dem   ligam.    teres   noch    3  Kapselbänder    (1  innen, 

1  aussen,  1  zwischen  beiden  hinten).  Trochanteren ,  der  grössere 
heisst  „Hinterbacke".  Schienbein  oben  mit  Ansatz  (Epiphyse),  Gelenks- 
fläche mit  zwei  Gruben,  dazwischen  Vorsprang  für  den  Einschnitt  der 
Oberschenkelknorren.  Schienenbeinvorderteil  =  Kante.  Wadenbein, 
Knöchel,  von  einigen  ..Würfel"  genannt.  Kniescheibe  mit  Vorsprung 
an  der  Rückseite.  Fusswurzel:  ..Würfel"  (Sprungbein)  mit  Geviert 
(trochlea  tali)  Hals,  Kopf.  Kahnförmiges  Bein  (os  naviculare)  mit 
augenbrauenähnlichen  Vorsprüngen  beiderseits;  Ferse  (calcaneus)  mit 

2  Vorsprüngen  für  die  Höhlungen  des  Sprungbeins,  rückwärtigem  Ab- 
schnitt, vorderem  Abschnitt,  Verbindung  mit  dem  Sprungbein  und 
„würfelähnliches  Bein"  (cuboideum);  das  „kahnförmige  Bein"  (navicu- 
lare); weiter  drei  kleine  Knochen,  nicht  näher  bezeichnet  (Keilbeine). 
Vorfuss  mit  5  Knochen,  Zehen  mit  (4x3)-|-2  Knochen.  Der  „Knochen 
im  Herzen",  am  Kehlkopf  („lambda-  oder  ypsilonförmiges  Bein" 
=  Zungenbein),  in  der  Xase  (in  der  galenischen  Anatomie  nicht 
näher  bekannt),   die  Sesambeine  zählen  nicht  zum  Skelet. 

X  e  r  V  e  n  1  e  h  r  e.  A.  Gehirn.  Die  galen.  Anatomie  kennt  folgende 
Gehirnteile.  1.  Balken  Tvlibör^g  ixioga).  2.  die  2  „Vorderkammern", 
3.  dritter  Ventrikel,  4.  Vierter  Ventrikel,  5.  7T6QOi  =  Aquaeduct. 
Sylvii,  6.  P^rnix  Aaudgiov  ze  y.ai  ipaKouötg  (/^iöqiov  ly/.efpaXuv),  7.  Vier- 
hügel, 8,  Zirbeldrüse  -MovaQiov,  9.  rivoneg  =  proc.   cerebelli  ad  corp 


188  Robert  Ritter  von  Töply. 

quadrigemina?  10.  Wurmfortsatz  a>cLi)lr]yio€iör]s  ScTtocpvaig,  11.  Sclireib- 
leder  (calamus  Script.)  Semy'Aicpi]  y.ala^iov  (von  Herophilos  so  genannt), 
12.  Trichter  Tivtlog  xat  xdivrj,  13.  Hypophyse  b  dcÖiiv  zfjg  xodiag.  Die 
Beschreibung  der  Hirngefässe  ist  dem  Tierreich  entnommen,  besonders 
die  des  Netzwerks  an  der  Hirnbasis  (plexus  der  Herophilos),  die  der 
Venensinus  folgt  den  Entdeckungen  des  Herophilos,  besonders  in  der 
Annahme  des  „Kelters"  (torcular).  B.  Hirnnerven.  Sieben  Paare 
(der  Geruchsnerv  als  solcher  nicht  bekannt).  I.  Sehnerv  (hohl), 
IL  Augenmuskelnerv.  III.  Der  „weiche"  Nerv.  1.  Ast  von  Gal.  ent- 
deckt für  die  Kaumuskeln  und  das  Zahnfleisch,  2.  Ast  „Geschmacks- 
nerv".  IV.  Gaumennerv,  dessen  Unabhängigkeit  von  III  durch 
Marin  US  entdeckt,  V.  von  Marinus  als  fünfter  bezeichnet,  nach  Gal. 
aber  ersichtlich  zw^eiteilig  und  zwar  1.  Ast  „Gehörnerv",  2.  Ast  für 
das  Platysma  myoides  (dieses  von  Gal.  entdeckt).  VI.  1.  Ast  =  vagus 
mit  dem  von  (ialenos  entdeckten  laryng.  recurrens,  2.  Ast  für  die 
Muskulatur  des  Rachens  und  der  Zungenwurzel  =  accessorius  3.  für 
die  Schulterblattmuskeln.  Eingehendere  Besprechung  der  Verbindungen 
zwischen  dem  III.,  VI.,  VII.  Hirnnervenpaar  und  dem  I.,  IL  Rücken- 
marksnervenpaar.  Soviel  sich  aus  der  nicht  sehr  klaren  Beschreibung 
entziifern  lässt  entspricht  I  dem  Sehnervenpaar.  Das  Chiasma  ist  be- 
kannt, eine  thatsächliche  Mengung  findet  aber  nicht  statt.  Den  N. 
abducens  sowie  den  „patheticus"  kennt  Gal.  nicht.  V  1  =  acusticus, 
V.  2  =  facialis,  VI.  =  vagus  und  accessorius,  vielleicht  auch  glosso- 
pharyngeus.  Der  recurrens  ist  eine  Entdeckung  des  Galenos.  Dieser 
beschreibt  auch  das  ganglion  cervicale  sup.  et  inf..  sowie  das  gangl. 
coeliac.  Der  Verlauf  des  vagus  und  sympathicus  ist  sehr  oberfläch- 
lich und  verworren  geschildert.  Rückenmarksnerven:  8  Halsnerven- 
paare  genauer,  die  übrigen  oberflächlich  beschrieben.  Die  Zahl  der 
Spinalnerven  wird  einmal  auf  50,  ein  andermal  auf  60  angegeben. 
Von  den  Armnerven  wird  der  radialis,  ulnaris,  medianus  erwähnt, 
auch  sind  die  crurales,  und  ischiadici  beschrieben,  sämtlich  jedoch 
ohne  Benennung.  Im  ganzen  gehört  die  Nervenlehre,  abgesehen  da- 
von, dass  sie  sich  nur  auf  Thiersektionen  stützt,  zu  den  sdiwächsten 
Leistungen  des  Galenos.  ^*) 

Gefäss lehre.  Sie  stützt  sich  ausdrücklich  auf  Zergliederung 
des  Affenkörpers  (/r.  cpleß.  y.al  ägz.,  Einleitung).  Vorangestellt  wird 
die  Beschreibung  der  Venen,  hier  wieder  die  7  Aeste  der  Pfortader 
zum  Magen,  dann  die  Verzweigungen  der  aufsteigenden,  schliesslich 
die  der  absteigenden  Hohlader.  Dieser  Abschnitt  ist  ebenso  ausführ- 
lich als  eingehend  und  lässt  nicht  viel  zu  wünschen  übrig.  Hingegen 
ist  die  Beschreibung  der  Arterien  ziemlich  flüchtig.  Das  Herz  wird  in 
der  Gefässlehre  nur  als  Ursprungsstätte  der  Arterien  erwähnt,  aber 
nicht  beschrieben.  Die  Kranzarterien  sind  aber  angeführt,  ebenso  das 
von  den  Karotiden  an  der  Hirnbasis  gebildete  netzartige  Geflecht 
öixTvoeidhg  nlsyna.  Die  Arterien  der  Bauchhöhle  sind  nur  in  ihren 
Hauptstücken  gestreift,  auf  die  der  Hände  und  Füsse  wird  nicht  ein- 
gegangen. Hingegen  sind  die  Nabelgefässe  und  zwar  als  Doppel- 
paar beschrieben,  während  im  Bauch  nur  eine  Nabelvene  beschrieben 
ist.  Im  fötalen  Herzen  beschreibt  Gal.  das  ovale  Loch,  dessen  Ver- 
schluss. ^^) 

5»)  *Falk  (Friedrich),  Galen's  Lehre  vom  gesunden  n.  kranken  Nervensystem, 
Leipz.  1871,  Veit  u.  Co.,  56  S. 
5»)  US.  p.  XV  6. 


Geschichte  der  Anatomie.  189 

Muskellehre.  Sie  steht  hinter  der  Knochenlehre  weit  zurück, 
indess  hat  Galenos  doch  einige  neue  Benennungen  eingeführt  (plat.ysma 
myoides,  deltoideus.  diaphragma,  Intercostalmuskeln.  Bauchmuskeln). 
Die  Aufzählung  geht  von  den  Funktionen  aus,  wobei  des  Galenos 
Vorliebe  für  die  Physiologie  zum  Durchbruch  kommt.  Am  Kopfe 
nennt  er  den  Hirnmuskel,  6  Augenmuskeln  (4  gerade,  2  schiefe,  der 
7.  der  Tieranatomie  entnommen),  ein  Xasenschliessmuskelpaar.  vier 
Lippenmuskeln  (jederseits  einen  oberen  und  einen  unteren),  vier 
Muskelpaare  am  Unterkiefer,  den  Schläfemuskel.  Kaumuskel,  den 
biventer  und  pterygoideus  int.,  weiter  am  Halse  das  platj'sma  myoides, 
die  Zungenmuskeln,  Schlundmuskeln,  Zungenbeinmuskeln,  10  Kehlkopf- 
muskeln, den  sterno-hyoideus  und  sternothyreoideus  als  ,.Luftröhren- 
muskeln".  Von  den  Kopfbewegern  geht  einer  zum  Schulterblatt,  die 
vielen  übrigen  sind  nicht  genauer  beschrieben.  Am  Brustkorb  be- 
schreibt er  den  subclavius,  serratus  magnus,  die  Zwischenrippen- 
muskeln und  das  Zwerchfell.  Die  Rückenmuskeln  sind  nur  flüchtig 
erwähnt,  besser  der  psoas,  die  Kremasteren.  der  ischio -  cavernosus, 
sphincter  ani,  dann  ein  Blasenmuskel  (bulbo-cavernosus  ?j  besprochen. 
Die  Beschreibung  der  Gliedermuskeln,  abgesehen  von  den  grösseren, 
ist  oft  dunkel  und  lückenhaft.  So  spricht  er  am  Vorderarm  von 
2B  Muskeln,  davon  7  kleine  an  der  Hand,  7  grössere  an  der  Innen- 
seite, 9  an  der  Aussenseite  des  Vorderarms,  er  beschreibt  10  Muskeln 
an  der  Hüfte,  7  am  Knie,  14  am  Unterschenkel  und  4  am  Fuss. 

Eingeweidelehre.  Am  Kehlkopf  kennt  Gal.  nur  3  Knorpel, 
den  Schildknorpel.  Eingknorpel  und  den  Giessbeckenknorpel.  welchen 
er  als  einheitlich  auffasst,  an  der  Lunge  5  Lappen.  Eine  besondere 
Aufmerksamkeit  widmet  er  den  Häuten  der  Verdauungsorgane.  Er 
unterscheidet  im  allgemeinen  an  einem  röhrenartigen  der  "Weiter- 
beförderung dienenden  Gebilde  3  Häute:  a)  eine  innere  mit  Längs- 
fasern zur  Anziehung,  b)  eine  mittlere  mit  Schrägfasern  zum  Fest- 
halten, c)  eine  äussere  mit  Querfasern  zum  Ausstossen.  Der  Magen 
besitzt  die  Fasern  a  b,  der  Darm  die  Fasern  c.  Der  Magen  übergeht 
in  6  weitere  Teile.  1.  Ekphysis  (Zwölffingerdarm),  2.  Leerdarm, 
3.  Dünndarm,  4.  Blinddarm,  5.  Dickdarm  (Kolon),  6.  Mastdarm.  Die 
Leber  ist  mehr  vom  Standpunkt  ihrer  Thätigkeit  beschrieben.  Ihr 
Gegenstück  ist  die  Milz,  deren  Vene  zum  Magen  Aeste  abgiebt  (vas 
breve).  Die  Nieren  sind  nur  ihrer  Form  nach  beschrieben.  In  der 
Beschreibung  der  Geschlechtsteile  hält  Gal.  an  der  Ansicht  von  den 
Hörnern  der  Gebärmutter  fest.  Er  nimmt  darin  2  Kammern  an,  die 
rechte  für  männliche,  die  linke  für  weibliche  Früchte,  und  zwar  beim 
Menschen,  denn  im  allgemeinen  stimmt  die  Zahl  dieser  Kammern  mit 
der  der  Brüste  bezw.  Zitzen  überein.  Vom  Thränenapparat  kennt  die 
galenische  Anatomie  zumindest  die  obere  Thränendrüse  (glandula 
innominata  Galeni).  Der  untere  Thränenpunkt  galt  als  Austrittsstelle 
der  Thränen.  •*'^) 

Mit  Galenos  ist  der  Höhepunkt  der  griechischen  Anatomie  erreicht. 
Nach  ihm  liegt  das  Gebiet  so  ziemlich  ein  Jahrtausend  und  einige 
Jahrhunderte  darüber  brach.  Die  „galenische  Anatomie"  giebt  der 
Medizin  die  Grundlage  bis  zum  Erwachen  der  Renaissance  und  da- 


*")  Daher  der  Name  „Quelle"  {nrjrj)  für  den  inneren  Augenwinkel  bei  Hesychius. 
Eine  genauere  Kenntnis  des  Thränenapparates  stammt  jedoch  erst  seit  Nicol.  Stenon 
(Obs.  anat.  Lugd.  Bat.  1662). 


190  Robert  Ritter  von  Töply. 

rüber  hinaus.  Der  Name  ist  aber  nicht  richtig  gewählt.  Galenos  hat 
nur  die  vor  ihm,  schon  hauptsächlich  in  der  Schule  des  Marinos  vor- 
handene, auch  literarisch  reichlich  bearbeitete  Anatomie  stellenweise 
vervollständigt  und  verbessert,  andererseits  manchen  schon  gethanen 
Fortschritt  wieder  zurückgedrängt.  Was  er  bietet,  ist  Tieranatomie,  die 
Muskellehre  und  Geiässlehre  an  Affen,  das  übrige  an  diesen  und 
anderen  Thieren.  Dabei  ist  er  ein  Kritikaster  gegenüber  den  Leistungen 
Anderer,  ohne  genügende  Kritik  gegen  sich  selbst,  ohne  zu  forschen, 
ob  die  am  Fleischfresser  festgestellten  Thatsachen  auch  beim  Affen 
vorkommen,  ob  die  Befunde  bei  beiden  auch  für  den  Menschen  gelten. 
Er  hat  an  Tieren  festgestellte  Befunde  für  richtig  gehalten,  für 
richtig  erklärt,  selbst  dort,  wo  sie  jenen  Thatsachen  widersprachen, 
welche  von  den  Vorgängen  am  Menschen  als  richtig  erkannt  waren. 
Er  hat  dadurch,  dass  er  seine  Funde  kritiklos  auf  den  Menschen  be- 
zog, eine  fiktive  Anatomie  geschaffen. 

Pseudogalenische  (lateinische)  Schriften.  1.  De  natura 
et  ordine  cuiuslibet  corporis,  ad  nepotem  mit  Erwähnung  des  Hippokrates, 
Aristoteles,  Apollonios  (Memphites?).  2.  De  compagine  membror.  s.  de 
natura  humana  mit  griechischen  Anklängen.  3.  Yocalium  instrumentorum 
dissectio,  Uebersotzung  einer  griechischen  Schrift  aus  der  Nähe  des  Meletios  ? 
4.  De  voce  et  anhelitu.  Arabische  bezw.  lateinische  Uebersetzung  der  Schrift 
TtSQt  cpcüvr]g?  5.  De  anatomia  vivorum  aus  der  Nähe  des  Taddeo  Alderotto 
um  1260 — 1300  (vgl.  die  Analyse  in  H.  R.  v.  Töply,  Studien  zur  Gesch. 
d.  Anat.  im  Mittelalter,   1898). 

Spätere  Kompilatoren.  Oreibasios  (Jahre  der  schrift- 
stellerischen Hauptthätigkeit  360 — 363)  hat  für  seine  Synagogai 
iatrikai,  B.  24,  25  die  Werke  des  Lykos,  ßhuphos,  Soranos,  Galenos  be- 
nützt und  so  ein  Kompendium  folgenden  Inhalts  geschaffen:  I.  Ein- 
geweidelehre, a)  Gehirn,  Rückenmark,  b)  Brust,  c)  Bauch,  d)  Ge- 
schlechtsteile. IL  Knochenlehre.  III.  Muskellehre.  IV.  Nervenlehre. 
Bemerkt  sei,  dass  Oreib.  bezüglich  der  Eingeweidelehre  und  Knochen- 
lehre jene  Rangordnung  einhält,  die  auch  Rhuphos  beobachtet  hatte. 
Die  alexandriner  Encyklopädie  der  „16  Bücher"  des  Galenos,  an- 
fangs des  7.  Jahrhunderts  von  einer  Gelehrten  Vereinigung,  darunter 
Joannes  medicus  s.  grammaticus  Alexandriniis,  hat  als  5.  bezw. 
8.  Teil  die  kleinen  anatomischen  Schriften  des  Galenos  aufgenommen, 
dabei  aber  die  Knochenlehre  getrennt  und  so  folgende  Zusammen- 
stellung bewirkt:  a)  Knochen,  b)  Muskeln,  c)  Nerven,  d)  Venen,  e)  Ar- 
terien. Diese  Schriften  wurden  später  auch  ins  Arab.  und  Hebr. 
übersetzt.  Folgende  Schriftsteller  haben  für  ihre  naturgeschichtlichen 
Werke  anatomischen  Inhalts  den  Galenos  benutzt:  1.  Gregorios 
von  Nyssa  Ttsgi  -AazaGycsif^g  Scv-O-qwtcov  (um  332 — 395.  *Textausgabe 
mit  deutscher  Uebersetzung  von  Oehlerl850) ;  2.  N  e  m  e  s  i  o  s  von  Emesa 
71.  cpvoecog  dvSgwTtov  (um  375 — 400);  3.  Meletios  tt,  t.  tov  avdqwTiov 
Ttagoaxitf^g  (um  600—800);  4.  Theophilos  (Protospatharios  und 
Archiater?);  7t.  x.  tov  av^Qwnov  TtaQaay.Evfjg.  Letzterer  hat  des  Galenos 
Ttegl  XQ^^f^S  (.ioqUov  geradezu  geplündert. 

Aus  dem  XV.  Jahrh.  stammt  eine  ganz  kurze  griech.  Aufzählung 
der  Körperteile  von  Georgius  Sanguinaticius  mit  dem  Bei- 
namen Hypatus  (lebte  um  1450,  war  röm.  Konsul  und  lateranensischer 
Graf)  unter  dem  Titel  sQf^rjveia  iGjv  tov  acb^arog  fisQü/v. 


Geschichte  der  Anatomie.  191 

Anatomische  Abbildungen  als  Illustration  von  Hand- 
schriften haben  sich  aus  der  älteren  Zeit  im  Original  nicht  erhalten, 
obzwar  Andeutungen  solcher  vorkommen.  So  weist  Aristoteles 
wiederholt  darauf  hin,  ^^),  aber  die  Abschreiber  haben  die  Zeichnungen 
weggelassen,  sodass  solche  in  unsere  Ausgaben  erst  von  neuem  ein- 
getragen werden  müssen.  Dies  haben  z.  B.  Aubert  und  Wimmer  in 
ihrer  Ausgabe  der  Tierkunde  des  Aristoteles  dort  gethan  (I S.  306),  wo  der 
Text  ausdrücklich  mitBuchstabeu  auf  die  Einzelheiten  einer  fehlenden 
Zeichnung  der  männlichen  Geschlechtsorgane  hinweist,  ebenso  Kaspar 
Wolf  in  seiner  Ausgabe  des  sogen.  Moschion/-)  indem  er  die  fehlende 
Abbildung  der  weiblichen  Geschlechtsteile  durch  eine  Kopie  nach  Vesal^^) 
ersetzte.  Je  drei  Abbildungen  aus  der  byzantinischen  Zeit  hat  St. 
Bernard  nach  einer  leydener  Handschrift,*^'*)  dann  Rob.  Fuchs 
nach  einer  pariser  *^^)  veröffentlicht.  Die  erstereu  stellen  je  eine 
Vorder-  und  Rückansicht  des  ganzen  Körpers,  dann  die  Vorderansicht 
des  Kopfes  mit  eingetragenen  Benennungen  einzelner  Teile  vor.  Die 
der  Pariser  Hs.  geben  eine  Rückansicht  und  zweimal  die  Vorderansicht 
eines  Mannes,  in  letzterem  Fall  mit  eröffneter  Bauchhöhle  und  spii-alig 
angedeutetem  Darm  in  der  Nabelgegend.  Der  Umstand,  dass  die 
erste  Figur  an  den  Oberarmen  Aderlassbinden  trägt,  spricht  dafür, 
dass  die  Zeichnungen  der  Pariser  und  auch  die  ganz  ähnlichen  der 
Leydener  Handschrift  Chirurgen  zum  Unterricht  gedient  haben. 

Bildliche  Darstellungen  anatomischen  Inhalts  zu 
Kunstzwecken,  als  Weihgeschenke  und  zu  religiösen 
Zwecken  waren  im  Altertum  besonders  in  Italien  nicht  selten. 
Skelete  kommen  nicht  selten  vor.*'")  Man  vergleiche  z.  B.  das 
Mosaik  mit  dem  Totenkopf  als  Tischplatte  aus  Pompeji,  die  Becher 
des  Fundes  von  Bosco  reale  mit  einer  ganzen  Gesellschaft  von  Skeleten, 
eine  ähnliche  Gefässscherbe  im  Museum  zu  Aquileja,  die  Sitte,  bei 
einem  Trinkgelage  ein  silbernes  Skelet  mit  beweglichen  Gliedern  auf- 
zutischen (drastisch  geschildert  im  Gastmahl  des  Trimalchio  bei 
Petronius),  ein  fingerlanges  Bronzeskelet  mit  beweglichen  Gliedern 
im  Albertinum  zu  Dresden. "")  Unter  den  altilatischen  Weihgeschenken 
(donaria)  sind  besonders  solche  mit  plastischer  Darstellung  einer  er- 
öffneten Leibeshöhle  bemerkenswert."^)  Plastische  Darstel- 
lungen der  Leber,  wahrscheinlich  zum  Unterricht  in  der  Opfer- 
schau, sind:  die  Bronzeleber  von  Piacenza,  die  Alabasterleber  von 
Volterra.  "*) 


")  gen.  animal.  I  7,  hist.  anim.  I  14  (=  17.  24),  II  13  (=  IH  1). 

««)  1566  p.  2. 

*')  Hum.  corp.  fahr.  1.  IH  zum  Schluss,  Ed.  1555  p.  505. 

'*)  Im  Anhang  zu  *Anon.  intr.  anat.,  Hypatus,  L.  B.  1744. 

•*)  *Fuchs  (Robert),  Anat.  Tafeln  a.  d.  griechi-schen  Alterthum,  nach  einer 
Paris.  Hs.  zum  ersten  Male  herausg.  deutsche  Med.  Wochschr.  1898,  Nr.  1,  S.A.,  9  S. 

"")  Olfers  (J.  Fr.  M.  v.),  Ueb.  ein  Grab  bei  Kumae  u.  die  in  demselben  ent- 
haltenen merkwürdigen  Beiwerke,  m.  Rücksicht  auf  d.  Vorkommen  von  Skeleten 
unter  den  Antiken.    M.  5  Taf.,  Berl.  1831. 

"")  Saal.  IX,  Vitrine  V  Nr.  384. 

**j  *Stieda  (L.),  Anatom.-archaeolog.  Studien  I.  Ueb.  d.  ältesten  bildl.  Dar- 
stellungen der  Leber,  II.  Anatomisches  üb.  alt-ital.  Weihgeschenke,  S.A.  aus  Bonnet- 
Merkels  anat.  Heften  Bd.  15/16,  1901,  131  S.  m.  5  Taf. 

•")  *Giaco8a  (Piero),  Magistri  salernitani  nondum  editi. 


192  Robert  Ritter  von  Töply. 


Araber. 

Inhalt.  Die  Araber  als  Vebersetzer  der  griechischen  Anatomen.  Sonder- 
werke im  Anschluss  an  die  Griechen. 

Mohammad  ist  i.  J.  632  gestorben.  1492  endet  die  Herrschaft 
der  Nasrids  in  Granada  und  damit  die  Höhe  der  arabischen  Kultur. 
Sie  hat  während  der  Blütezeit,  d.  i.  ungefähr  in  den  Jahren  800  bis 
1300  eine  lange  Reihe  von  Werken  anatom.  Inhalts  gezeitigt.  Die 
folgende  Uebersicht  entspricht  dem,  was  ich  in  meinen  „Studien  zur 
Gesch.  der  Anat.  im  Mittelalter"  ausführlicher  dargelegt  habe. 

Gruppe  I.    Erster  Zeitraum,  vorwiegend  Ueber- 
setzungen,   Hauptsitz   der   literar.  Thätigkeit  Bagdad. 

1.  x4.bu  Othm  an  Amr  el-dschähidh  (gest.  868)  ist  Verfasser 
einer  Tierkunde,  aus  der  er  selbst,  und  später  Abd-el-Letif  einen 
Auszug  veranstaltet  hat.  2.  Dschabril  ben  Bachtischua 
(IX.  Jalirh.)  begann  eine  Uebersetzung  der  Anatomie  des  Galenos,  hat 
sie  aber  nicht  vollendet.  3.  Jahja  ben  Mas  er  weih  (Mesue  d.  Ae. 
IX.  Jahrb.,  1.  Hälfte)  hat  eine  Anatomie  geschrieben.  4.  Hon  ein 
ben  Ischak  (Johannicius,  809 — 873)  hat  folgende  Uebersetzungen 
geliefert:  a)  Hippokrates,  Natur  des  Menschen,  h)  die  Eingeweidelehre 
des  Oreibasios,  c)  die  4  kleinen  anat.  Schriften  des  Galenos.  Ueber- 
dies  hat  er  ein  selbständiges  Werk  über  die  Benennung  (tasmijja)  der 
Glieder  sowie  Anatomica  unbestimmten  Inhalts  verfasst.  5.  Hobeisch 
benel-Hasan  ist  nebst  Honein  Hauptübersetzer  des  Galenos.  Er 
liefert  folgende  Uebersetzungen :  a)  Anatomische  Meinungsverschieden- 
heiten, b)  Anatomie  Lebender,  c)  Anatomie  Toter,  d)  Anatomie  des 
Hippokrates,  e)  Anatomie  des  Erasistratos ,  f)  Anatomie  der  Gebär- 
mutter, g)  der  Samen,  h)  Lehrmeinungen  des  Hippokrates  und  Piaton, 
i)  Anatom.  Hantierungen,  j)  Gebrauch  der  Körperteile.  6.  Thäbit 
ben  Korra  (gest.  901)  hat  eine  Embryologie,  eine  Anatomie  der 
Vögel,  eine  Anatomie  der  Gebärmutter,  ein  Werk  über  die  Körper- 
formen geschrieben.  7.  Jahja  Ibn  el-Batrik  (IX.  Jahrb.,  I.Hälfte) 
hat  die  Tierkunde  des  Aristoteles  ins  Syrische  übersetzt.  8.  Abu 
Ali  ibn  Zer'a  (gest.  1008),  Uebersetzer  zoologischer  Schriften  des 
Aristoteles.  9.  Ibn  Abu  Oseibia  (gest.  1269)  nennt  überdies  noch 
folgende  Galen-Uebersetzungen :  a)  Auszug  aus  der  Anatomie  des 
Marinos,  b)  Auszug  aus  der  Anatomie  des  Lykos,  c)  Unkenntnis  des 
Lykos  in  der  Anatomie,  d)  Unterschiede  der  gleichartigen  Körperteile, 
e)  Anatomie  des  Auges  (d,  e  nach  Honein  unecht).  Am  Ende  des 
10.  Jahrhunders  hatten  die  Araber  demgemäss  beinahe  alle,  bis  zur 
Mitte  des  13.  Jahrb.  alle  anat.  Schriften  des  Galenos,  und  die  Schriften 
anat.  Inhalts  des  Hippokrates  übersetzt. 

Grupp'e  IL    Vorw^iegend  selbständiger  Betrieb  der 
systemat.  Anatomie. 

L  Abu  BekrMuhammed  ben  Zakerijja  er-Räzi  (Razes, 
gest.  923  oder  32).  Die  Anatomie  ist  systematisch  im  Kitaab  al  tib 
al  Mansury  (Über  medicinae  mansuricus)  in  26  Kapiteln  abgehandelt. 
Sie  ist  das  erste  arab.  systematische  Lehrbuch  der  Anatomie,  ein 
Vorbild  für  die  Folgezeit,  auf  Hippokrates  und  Galenos  (Oreibasius) 


Geschichte  der  Anatomie.  193 

fussend.  Ueberdies  schrieb  er-Bäzi  über  das  Auge.  Ohr,  den  Gehör- 
gang,  das  Herz,  die  Leber.  2.  Abul  Kheir  el- Hassan  ben 
Suwär  (pers.  Christ,  942—91)  ist  Verf.  eines  Buches  über  die  Natur 
des  Menschen  und  Zusammensetzung  der  Körperteile  in  4  Abhand- 
lungen. 3.  Abu  Nasr  Muhammed  ben  Muhamraed  ben 
Tarkhän  ben  Aurelag  (?)  el-Färäbi  (gest.  950)  schrieb  über 
die  Organe  der  Tiere.  4.  Dschabril  ben  Obeid  Allah  (gest. 
1005)  ist  Verfasser  einer  Abhandlung  über  die  Eigentümlichkeiten 
der  Tiere.  5.  Abu  Ali  Isa  ben  Ischak  ibn  Zer'a  ben 
Markus  ben  Zar'a  ben  Juhanna  (gest.  1008),  Uebersetzer  des 
Aristoteles,  a)  Tierkunde,  b)  Teile  der  Tiere.  6.  Abu  Dschafar 
Ahmed  ben  Muhammed  ben  Ahmed  ibn  Abul-Asch'ats 
gest.  970),  Verf  eines  Buches  über  Tiere.  Auszug  daraus  von  Abd 
el-Letif  7.  'Ali  ben  el-'Abbäs  el-Madschusi  (Haly  Abbas, 
Perser,  gest.  994).  Seine  Anatomie  ist  enthalten  im  I.  Teil,  Buch  2 
und  3.  des  Al-Malikhi  (über  regius)  in  16  bezw.  37  Kapiteln.  Dies 
ist  das  zweite  arab.  systematische  Lehrbuch  der  Anatomie,  weitaus 
eingehender  als  er-Eäzi.  8.  In  der  anonymen  Encyklopädie  Thohfat 
akhuan  es-safa  =  Geschenk  der  lauteren  Brüder  (10.  Jahrb.,  Basra 
=  Bassora  im  Wilajet  Bagdad)  handelt  Teil  II,  Abschn.  8  von  den 
Tieren,  Abschn.  9  vom  Bau  des  menschl.  Körpers.  9.  Abu  Ali  al- 
Hosein  ben  Abdallah  Ibn  Sina  (Avicenna,  geb.  um  980, 
gest.  1037)  hat  die  systematische  Anatomie  in  95  Kapiteln  in  seinen 
Khitab  el-Kanun  fi  al-ttib  eingeflochten.  Zusammengefasst  M  bilden 
sie  eine  vollständige  und  zwar  umfangreichere  System at.  Anatomie  als 
die  des  Räzi  und  Abbas.  Sie  lehnt  sich  eng  an  Galenos  an,  auch 
in  Bezug  auf  die  masslos  ausartende  Teleologie.  Das  Kapitel  von  den 
Nerven  (I,  1,  3)  hat  Sprengel  (Kurt)  arab.  und  deutsch  in  seinen 
„Beiträgen";  1794  herausgegeben.  Die  Anatomie  des  Ibn  Sina  ist 
das  dritte  arab.  systematische  Lehrbuch  der  Anatomie.  Sie  ist  fortan 
massgebend  gewerden.  10.  Abu'l-Berakät  Auhad  ez-Zaman 
el-Beldi  (XII  Jahrb.,  2.  Hälfte)  ist  Verf.  eines  Kompendiums  der 
Anatomie,  aus  Galenos  entnommen.  11.  Muhammed  el-Gäfiki 
(XII.  Jahrb.,  1.  H.)  behandelt  im  2.  Teil  seines  Morched  (director)  die 
Anatomie  des  Kopfes  und  des  x\uges.  Die  Hs.  Escor,  n.  835  enthält 
auch  Darstellungen  des  Faserverlaufes  der  Arterienhäute,  der  Schädel- 
nähte und  des  Chiasma  opticum.  (Dasselbe  scheint  auch  in  anderen 
arab.  Handschriften  vorzukommen,  wenigstens  deutet  manche  Stelle 
sogar  in  den  Drucken  der  lateinischen  Uebersetzungen  darauf  hin. 
Dass  auch  die  Araber  keine  Feinde  der  bildlichen  Darstellungen 
w^aren,  ist  nun  sattsam  bekannt,  doch  dürften  sich  die  anat.  Ab- 
bildungen, soviel  mir  aus  dem  Studium  der  erwähnten  Drucke  erinner- 
lich,-) nur  auf  schematische  Darstellungen  beziehen.)  12.  Abu  Mer- 
w  ä  n  ibn  Z  o  h  r  (Avenzoar,  Abumeron,  Abhomeron,  span.  Araber,  gest. 
1162)  macht  in  seinem  Iktisad  eine  Bemerkung,  aus  der  hervorzugehen 
scheint,  dass  wenigstens  er  die  Anatomie  an  Knochenpräparaten  studiert 
hat.  13.  Abul-Welid  Muhammed  ben  Ahmed  ibn  Roschd 
el  Maliki  (Averroes  1126—1198)  behandelt  im  Khitab  el-Kullidschät 
(=  lib.  universalis   de   medicina,  Colliget   Averrois,   nach  Husemann 


')  Vgl.,  die  Ztisammenstellung  in  meinen  ..Studien  zur  Gesch.  der  Anatomie  im 
.Mittelalter",  1898,  S.  70. 

*)  S.  die  Schlussbemerkung. 
Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  13 


194  Robert  Ritter  von  Töply. 

(Th.)  in  Götting.  gel.  Anz.  1899  Nr.  1  S.  27—32  ist  der  Khitäb  nach 
1184  geschrieben)  die  Anatomie  in  einem  summarischen  Abriss 
(Traktat  I  Kap.  2—35),  von  dem  er  selbst  erklärt,  er  wolle  damit 
nichts  neues  sagen,  was  des  grossen  Philosophen,  der  ja  Ibn  Roschd 
in  erster  Linie  war,  würdig  ist.  14.  Abu  Abdallah  Fachr  ed- 
Din  er-Räzi  ibn  el-Khatib  (1149—1210)  hat  einen  Kommentar 
zur  Anatomie  des  Ibn  Sina  begonnen,  aber  nicht  vollendet.  15.  Abu 
Hamid  Nedschib  ed-Din  el-Samarkandi  (gest.  1222)  schrieb 
eine  Abhandlung  über  die  Anatomie  des  Auges.  16.  AbuMuhammed 
Abd  el-Letif  el-Bagdadi  (Abdollatif,  1162-1231)  verdiente  den 
Beinamen  „der  Kompendienschreiber".  Er  hat  Kompendien  nach 
folgenden  Werken  veranstaltet:  A.  a)  Aristoteles  Tierkunde,  b)  El- 
Dschähidh  Tierkunde,  c)  Abul-Asch'ats  Tierkunde.  B.  aus  Galenos 
a)  Gebrauch  der  Körperteile,  b)  Lehrmeinungen  des  Hippokrates  und 
Piaton.  C.  Aus  dessen  Schriften,  a)  über  den  Fötus,  b)  die  Stimme, 
c)  den  Samen,  d)  die  Atmungsorgane,  e)  die  Muskeln.  17.  Abu' 
1-Hassan  Ibn  en-Nefis  el-Misri  (gest.  1288/96)  ist  der  Verf. 
des  zweiten  Kommentars  zur  Anatomie  des  Ibn  Sina  (erster  von  Fachr 
ed-Din  er-Räzi  vgl.  Nr.  14). 

Die  anatomische  Literatur  der  Araber  ist  demgemäss  weitaus 
umfangreicher,  als  man  bisher  anzunehmen  pflegte,  auch  hat  sie,  wie 
jede  andere  Literatur,  ihre  Entwicklungsstufen.  Sie  besteht  teils  in 
Uebersetzungen  griechischer  Werke,  teils  in  selbständigen  Schriften. 
Die  übersetzten  Autoren  sind  Aristoteles  und  Galenos,  von  Aristoteles 
die  Tierkunde  und  die  vier  Bücher  über  die  Teile  der  Tiere,  von 
Galenos  alle  rein  anatomischen  sowie  die  physiologischen  Schriften 
mit  anatomischem  Inhalt,  übersetzt,  a)  nach  den  Originalen,  b)  nach 
dem  Auzug  des  Oreibasios,  c)  nach  der  alexandriner  Encyklopädie 
der  „16  Bücher".  Die  selbständigen  Werke  sind:  a)  Kompendien 
der  systematischen  Anatomie  und  zwar  teils  als  in  sich  abge- 
schlossene Schriften,  teils  als  theoretische  Einleitung  oder  Ein- 
streuung in  die  Handbücher  der  praktischen  Heilkunde  (letzterer 
Fall  bei  Ibn  Sina),  b)  zahlreiche  Sonderabhandlungen  über  die  ein- 
zelnen Organe.  Am  umfangreichsten  und  einflussreichsten  ist  in  dieser 
Gruppe  die  Anatomie  des  Ibn  Sina.  Sie  wurde  bereits  von  den  Arabern 
kommentiert,  auch  frühzeitig  ins  Lateinische  übersetzt  (um  1150),  ver- 
drängte schnell  die  Uebersetzungen  anderer  Werke  und  wurde  zum 
Kanon  der  spätmittelalterlichen  Anatomie  im  Abendlande.  Ein  be- 
sonderes Merkmal  der  Anatomie  der  Araber  ist  die  teleologische 
Richtung.  Leichenzergliederungen  sind  nicht  bekannt,  doch  scheinen 
hie  und  da  Nachprüfungen  an  Knochenpräparaten  stattgefunden  zu 
haben.  Beispiele  für  letzteres  die  erwähnte  Stelle  bei  Abu  Merwän 
ibn  Zohr,  dann  die  Thatsache,  dass  Abd  el-Letif  die  irrige  Behauptung 
von  den  zwei  Teilen  des  Unterkiefers  richtig  gestellt  hat.  Die  Ana- 
tomie der  Araber  hat  eine  geschichtliche  Bedeutung  von  grosser  Trag- 
weite, denn  sie  beherrscht  die  ganze  romanische  Periode  des  Abend- 
landes, ihr  Einfluss  lässt  sich  aber  noch  darüber  hinaus,  bis  in  das 
16.  Jahrhundert  verfolgen. 

Ohne  organischen  Zusammenhang  mit  den  Arabern,  aber  doch 
durch  denselben  Glauben  und  dieselbe  Schrift  Erben  ihrer  Kultur,  sind 
die  Türken.  Eine  zusammenfassende  geschichtliche  Darstellung  der 
Medizin  in  der  Türkei  ist  noch  ausständig.  Die  türkische  Buch- 
druckerei in  Konstantinopel  besteht  seit  1726/27,  das  erste  anatomische 


Geschichte  der  Anatomie.  195 

Werk  -wurde  aber  erst  1820  gedruckt.  Es  ist  dies  der  „Spiegel  der 
Körper  in  der  Anatomie  der  Glieder  des  Menschen,  gedruckt  zu 
Skutari  J.  d.  Hedschra  1235,  J.  n.  Clir.  1820",  Fol.  mit  56  Kupfer- 
tafeln, von  Schani  Zadek  Mehemmed  Attaulah.  (Choulant, 
Gesch.  d.  anat.  Abb.  1852  S.  156.) 

Beispiel  für  das  Illustrationsbedürfnis  der  Araber.  Avicenna, 
Uebersetzung  des  Gerhard  v.  Cremoua,  kollationiert  von  Andreas  Alpago 
von  Belluno  nach  der  arabischen  Handschrift,  Juntina  1544  folio  12  verso : 
„Et  hmöi  quide  figura  arcui  similatur,  in  cuius  medio  linea  recta  sicut  per- 
pedicularis  est  recta  [erectaj  quae  est  hoc  mö  ( —  Et  adorem  tertia  inter 
occiput  &  basim  ipsius  cöis  existit :  cuius  puncto,  cü  ipsa  sit  secundum 
figuram  anguli,  extremitas  sagittalis  continuatur,  &  vocatur  adore  laude,  eo 
quod  laude  litere  grece  similis  existat,  q  est  ita  <^  Cumque  duabus  adorem 
quas  prius  noiauimus  coniungitur  [fitj  figura  talis  ( — <C-" 

Mittelalter. 

Inhalt.  Spuren  der  Nachicirkung  des  Altertums  bei  Isidor  von  Sevilla. 
TJehersetzungen  aus  dem  Arabischen,  Arabisten.  Italien,  Mondino  de'Luzzi.  Ueber- 
fragung  der  Anatomie  von  Italien  einerseits  nach  Frankreich,  von  dort  nach  Eng- 
land und  Spanien,  andererseits  nach  Deutschland.  Humanisnms,  Kampf  gegen  den 
Arabismus,  Rückfall  in  den  Galenismus. 

Isidor,  Bischof  von  Sevilla  (Isidorus  Hispalensis,  gest.  636)  hat 
in  seinem  lateinischen  Konversationslexikon  (Etymologiae  o.  Origines), 
geschöpft  aus  etwa  80  älteren  Schriftstellern,  auch  die  Naturgeschichte 
des  Menschen  berücksichtigten.  Buch:  1.  Körperteile,  2.  Altersstufen, 
3.  Missgeburten,  4.  Verwandlungen)  und  dadurch  wenigstens  die  Nomen- 
klatur der  Hauptbestandtdile  des  Körpers  wach  erhalten.  Die  Nach- 
wirkung seiner  diesbezüglichen  Thätigkeit  bekundet  sich  in  den  1011 
Versen  des  wahrscheinlich  um  die  Mitte  des  11.  Jahrhunderts  in 
Italien  entstandenen  Gedichts  Speculum  hominis.  \)  Es  ist  nichts 
anderes  als  Teile  des  in  Eeime  gebrachten  Textes  des  Isidor.  -)  Es 
bricht  plötzlich  ab.  •^) 

*l8idori  Hisp.  episc.  Etymologiarum  11.  XX  ed.  Frid.  Vil.  Otto,  Lips. 
1833,  702  pp.,  4^  (Lindemann,  Corpus  grammaticor.  lat.  vet.  T.  III); 
Collect.  Salernit.  V  p.  173—198. 

Die  lateinischen  Uebersetzungen  aus  dem  Arabischen. 
Als  Europa  nach  der  Völkerwanderung  wieder  zu  sich  gekommen 
war,  fand  es  eine  tabula  rasa  mit  einigen  aber  nur  wenigen  Brocken 
antiker  Kultur.  Eine  wesentliche  Vermittlerrolle  zwischen  dem  alten 
Griechentum  und  dem  Abendlande  spielt  die  eben  besprochene  ara- 
bische Litteratur.  Sie  musste  jedoch  erst  der  lateinischen  und  germa- 
nischen Welt  in  Uebersetzungen  zugängig  gemacht  werden.  Der  erste 
Uebersetzer  arabischer  Schriften  anatomischen  Inhalts  ist  der  Bene- 
diktinermönch Konstantin  von  Afrika  (1018—1106.  Der  Bene- 
diktinerorden war  schon  529   auf  Monte  Casino   gegründet  worden). 


*)  In  der  CoUectio  Salemitana  von  de  ßenzi  V,  p.  173—198  unter  der  Ueber- 
schrift  Poema  anatomicum  aufg:enommeu. 

2)  XI  1,  2;  IX  5,  6,  7;  IV  6,  7. 

')  reuma  =  Isid.  IV  7  Nr.  11,  woran  sich  bei  Isidor  noch  weitere  Deutungen 
f\)h  Nr.  39)  anschliessen. 

13* 


196  Robert  Ritter  vou  Tüply. 

Durch  ihn  gelangte  von  1067—1106,  rund  um  das  Jahr  1100  das 
„Pantegni",  die  willkürliche  Uebersetzung  des  Khitaab  el-malikhi  des 
Abbäs,  und  damit  dessen  Anatomie  zur  Kenntnis  und  raschen  Ver- 
breitung.^) Weiter  hat  Gerhard  von  Cremona  (1114 — 1187)  den 
Khitaab  al-Mansuri  des  Räzi  sowie  den  Khitaab  el-Kanun  des  Ibn 
Sina^)  wiedergegeben.  Somit  waren  um  die  Mitte  des  12.  Jahr- 
hunderts die  drei  hervorragendsten  arabischen  Werke  mit  anatomischem 
Inhalt  zugängig  gemacht.  Die  Sprache,  in  der  das  geschehen  ist, 
weicht  allerdings  weit  ab  von  Cicero,  Deren  Verständnis  ist  um  so 
schwieriger,  als  die  Uebersetzer  eine  gar  lange  Reihe  arabischer 
Ausdrücke  beibehalten ,  viele  dazu  noch  arg  verstümmelt  haben.  ®) 
Ein  kleines  Beispiel  aus  der  Uebersetzung  des  Gerhard  v.  Cremona, 
Avicenna,  lib.  1,  fen  1,  doctr.  V,  summa  1,  Knochenanatomie:  ossa 
sisamina,  laguahic,  laguahicata,  seren  sceu  adorem,  aseid,  nuca,  paxillum, 
ossa  paris,  domesticum  laudae,  neguegiel,  simenia,  athachib,  bucelle, 
alhauis,  alhosos,  aseid,  raseta,  cuzer,  anemel,  alhauim,  pars  syluestris, 
alharafa,  rigil,  alchahab. 


Italien, 

Salem  itaner  Anatomie.  Unter  dem  Einfluss  des  Liber 
Pantegni  entstanden  in  Salerno  zwei  anatomische  Schriften.  Die  erste 
ist  die  Anatomie  des  Kopho  II  (um  1085—1100)^)  eine  kurze  An- 
leitung zum  prakt.  Studium  der  Anatomie  an  einem  Schweine  unter 
der  Annahme,  dass  die  Eingeweide  keines  anderen  Tieres  dem 
Menschen  so  ähneln.  Die  zweite  salernitaner  Anatomie  -)  ist  eine 
erweiterte  Ausgabe  der  ersten  mit  eingestreuter  Polemik  gegen  diese. 
Der  Verf.  tritt  gegen  seine  Schüler  heftig  auf,  tadelt  u.  A.,  man  habe 
ihm  im  vorigen  Jahre  vorgeworfen,  er  hätte  Nerven  für  Blutgefässe 
ausgegeben.  Er  erwähnt  des  Galenos  und  Hippokrates,  nennt  den 
Liber  Pantegni  des  Konstantin  von  Afrika,  das  Buch  über  den  Harn 
des  Ischak  Ben  Soleiman,  die  Aphorismen  des  Hippokrates  und  bezieht 
sich  auf  seine  Aussprüche  in  Philarito  (Philareti  lib.  de  pulsibus)  und 
im  Johannes  (Damascenus  =  Abu  Zakeriija  Jahja  ben  Maser  weih). 
Zu  dieser  Gruppe  zähle  ich  auch  die  Anatomie  des  Magister 
Richardus  (Floriani). -')  Sie  ist  von  den  Uebersetzungen  des  Kon- 
stantin von  Afrika  beeinflusst  (Tegni  galerii,  Pantegni,  Viaticum).  Ich 
setze  sie  auf  Grund  der  in  meinen  „Studien  zur  Gesch.  d.  Anat.  im 
Mittelalter"  angegebenen  Anhaltspunkte  in  die  Zeit  um  1161—1181. 
Der  Verf.  erklärt  ausdrücklich,  dass  gegenwärtig  die  Anatomie  nur 
an  Tieren  betrieben  wird.    Der  Affe  und  der  Bär  seien    aber  dem 


*)  Die  nächste  Uebersetzung  von  Stephanus  in  Antiochia  1127. 

^)  Baseler  Hs.  der  letzteren  Uebersetzung  von  1149. 

*)  *Hyrtl  (Jos.),  Das  Arabische  u.  Hebr.  in  d.  Anatomie,  Wien  1879,  Brau- 
müller,  SlTS.,  *Hyrtl  (Jos.),  Onomatologia  anatomica,  ebendas.  1880,  626  S. 

^)  In  den  ersten  Drucken  unter  dem  Titel  Anatomia  parva  Galeni,  der  1.  Ab- 
schn.  von  Job.  Eichraann  (Dryander)  u.  d.  T.  Anat.  porci  ex  traditione  Cophonis 
1537  herausg.,  Vorrede  dazu  von  Severini  in  seiner  Zootomia  democritaea  1645,  voll- 
ständig bei  Salv.  de  Renzi,  Coli.  Salernit.  11  p.  387—401. 

*)  Aus  der  Hs.  der  Magdalenenbibl.  in  Breslau  von  Henschel  u.  d.  T.  demon- 
stratio anatomica.  fehlerhaft  herausg..  Coli.  Salern.  II  p.  391—401. 

•'')  Nach  der  Berliner  Hs.  Ms.  lat.  fol.  219  zum  ersten  Male  herausg.  von 
♦Florian  (Jul.)  1875,  in  verbesserter  Aufl.  m.  deutscher  Uebers.  u.  d.  T.  *Die  Ana- 
tomie des  Richardus  von  Vict.  Tarrasch,  Berl.  1898,  49  S. 


Geschichte  der  Anatomie.  197 

Menschen  nur  der  äusseren  Gestalt  nach  älinlich.  dem  inneren  Bau 
nach  jedoch  das  Schwein.  Die  an  solchen  Tieren  geübte  Anatomie 
sei  zweckentsprechend,  eine  andere  aber  unnütz. 

Die  Salernitaner  haben  demg-emäss  praktische  Anatomie  getrieben, 
sich  jedoch  auf  die  Beschauung  der  Eingeweide  von  Schweinen  be- 
schränkt. Der  damit  verbundene  theoretische  Vortrag  war  haupt- 
sächlich auf  die  durch  Konstantin  von  Afrika  übermittelte  arabische 
Anatomie  des  Ali  ben  el-Abbäs  gestützt.  Eine  Festigung  hat  das 
Studium  der  Anatomie  hier  durch  die  Verordnungen  Friedrichs  IL 
vom  J.  1240  erlangt.  ^)  Sie  beschränken  den  medizinischen  Unter- 
richt auf  Salerno  und  Neapel,  die  Erlangung  des  Titels  eines  Arztes 
und  der  Berechtigung  zur  Ausübung  der  Heilkunst  auf  Salerno,  setzen 
die  Studienzeit  fest  und  knüpfen  die  Ausübung  der  Chirurgie  an  die 
Vorbedingung  eines  mindest  einjährigen  Studiums,  vor  allem  der 
Anatomie. 

Der  Wortlaut  einer  Stelle  erinnert  auffallend  an  den  in  der  Einleitung 
zur  Knochenlehre  des  Galenos :  nullus  chirurgus-admittatur,  nisi-anatomiam- 
didicerit-sine  qua  nee  incisiones  salubriter  fieri  poterunt,  nee  factae  curari : 
rä)v  doTCüv-STTioraad-al  fpr^iu  /o^j'ßt  rhv  iciTQOv,  elrceg  ye  ögd-öjg  /iul/.ei  zd 
z€  '/.arayuara  avTwv  y.al  tu  i^aob-Qr^uara  läad-ai.  —  oarig  öh  toDto  ayvoü, 
OVIS  OTir^  ra  Ttenov^öra  zf^g  cpvoecog  e^Lozazai,  ovzs  cog  xqtj  avza  STraraysiv 
sig  zb  xcacc  (pvaiv  etaezai. 

Bologna.^)  Die  Anfänge  des  anatomischen  Studiums  an  dieser 
Schule  hüllen  sich  in  Dunkel,  obz^var  mehrere  Andeutungen  über 
die  Teilnahme  daran  im  12.  Jahrh.  vorhanden  sind.-)  Hier  hat  sich 
der  Chirurg  Wilhelm  von  Saliceto  seit  1269  aufgehalten  und  in 
seiner  Chirurgie  (vollendet  1275  oder  1279)  auch  die  Anatomie  be- 
handelt (das  4.  der  5  Bücher).  Man  begegnet  darin  zum  erstenmal 
einer  Anatomie  für  die  praktischen  Zwecke  der  Chirurgie, 
allerdings  ohne  neue  Ergebnisse.  "Wilhelm  ist  der  erste,  der  hier 
(nicht  in  Mailand,  wie  man  irrtümlich  angenommen)  Leichen  ge- 
öffnet, ^)  und  zwar  noch  vor  dem  15.  Februar  1302,  an  welchem  Tage 
Wilhelm  von  Varignana  eine  anatomische  Leichenschau  zu  ge-  ßarwWU-v*»^*«^« 
richtsärztlichen  Zwecken  (Feststellung  einer  Vergiftung)  vorgenommen 
hat.  Lehrmeister  der  Anatomie  katexochen,  nicht  für  Bologna  oder 
für  seine  Zeit,  sondern  gleich  für  2Vo  Jahrhunderte  ist  hier  Mondin o 
de'Luzzi.  Hier  beginnt  also  um  1300  das  seit  der  Ptolemäei-zeit 
vernachlässigte  Studium  des  Menschen,  anfangs  allerdings  nur  damit, 
dass  man  sich  auf  den  Nachweis  des  Ueberlieferten  an  der  Leiche 
beschränkte.  Die  zu  diesem  Zwecke  verfasste  Anatomie  des  Mondino 
ist  das  grundlegende  Werk  der  mittelalterlichen  Universitäten.  Sie 
wird  immer  wieder  tradiert  und  kommentiert  und  neu  gedruckt  bis 
zum  J.  1550,  d.  i.  beiläufig  bis  zum  litterarischen  Auftreten  des  Vesal 
(vgl.  Pavia,  Matteo  Corti).    Die  Einleitung  zu  seiner  Anatomie,  die 


*)  Vollständig  bei  *Huillard-Br  eh  olles,  Historia  diplomat.  Friderici  II. 
Ad.  fidem  chartar.  et  codd.  Par.  1851—61. 

*)  *Medici  (Michele),  Compendio  storico  della  scuola  anat.  di  Bologna,  Bologna 
1857,  4°,  4.S0  p.;  *Medici  (Michele),  Della  vita  e  degli  scritti  degli  auatoraici  e 
medici  fioriti  in  Bologna  dal  cominc.  del  sec.  XIII.  fino  al  pres.,  Bologna  1853,  4*', 
Sammlung  von  13  Monographien. 

*)  Vgl.  die  Kritik  bei  Medici  Comp.  stör,  eingangs. 

''  Laboulbene,  Les  anatomistes  anciens,  Eev.  scientif.  1886. 


198  Robert  Ritter  von  Töply. 

als  Buch  seit  1478  sehr  oft  erschienen  ist,  erwähnt,  dass  das  Nach- 
folgende ein  Schulbuch  sei,  dass  die  Sektion  an  der  Leiche  eines  Ver- 
storbenen, Enthaupteten  oder  Gehenkten  vorg-enommen  wird,  giebt  vor- 
her eine  allgemeine  Uebersicht,  und  geht  dann,  dem  praktischen 
Zwecke  gemäss  in  folgender  Weise  weiter:  I.  Bauch  (venter  inf., 
membra  naturalia),  1.  Myrach  (Bauch),  2.  Bauchmuskeln,  3.  Siphac 
(Peritoneum),  4.  Unterleibserkrankungen,  Bauchwassersucht,  Bauchstich, 
5.  Zirbus  (Omentum),  6.  Dickdarm,  7.  rectum,  Kolon,  8.  Dünndarm, 
9.  jejunum,  10.  duodenum,  11.  mesenterium,  12.  Magen,  13.  kardia 
und  pylorus,  14.  Milz,  15.  Leber,  16.  Gallenblase,  17.  vena  cylis  (Hohl- 
vene), emulgentes  ( Nieren venen),  Nieren,  18.  Nierenkrankheiten,  Nieren- 
stein, 19.  Samengefässe,  20.  Gebärmutter  mit  der  Annahme  von  sieben 
Kammern:  3-|-l+3,  21.  Hoden,  22.  Hoden  und  Samengefässe,  23.  Blase, 
24.  Rute,  25.  After.  IL  Brust  (venter  medius,  membra  spiritualia) : 
26.  Brüste,  27.  Brustmuskeln,  28.  Brustknochen,  29.  Zwerchfell,  Brust- 
fell,, mediastinum,  30.  Zwerchfell,  31.  Herz  (3  Kammern:  a)  rechte 
Kammer  mit  dreizipfeliger  Klappe,  Mündung  der  vena  arterialis  mit 
3  Klappen,  b)  linke  Kammer  mit  3  Klappen  an  der  Adhorti-Mündung, 
Mündung  der  Arteria  venalis,  c)  dritte  Kammer  keine  einheitliche 
Höhle,  sondern  mehrere  kleine  Höhlen  in  der  Scheidewand),  Herzbeutel 
=  casula,  32.  Lunge,  33.  venae  guidem  (jugulares),  Mandeln  (amyg- 
dalae),  34.  Mund,  35.  Mery  (Oesophagus),  trachea  arteria  (Luftröhre), 
36.  Kehldeckel,  37.  Zunge.  III.  Kopf  (venter  superior,  membra  ani- 
mata):  39.  Schädel,  40.  Hirnhäute,  41.  Eückenmark,  42.  Riechorgan, 
(corpora  mamillaria !),  43.  Gehirnnerven  (die  7  Paare  des  Galenos), 
44.  Augen  (die  7  Häute:  1.  Cornea,  2.  conjunctiva,  3.  sclirotica, 
4.  Uvea,  5.  secundina,  6.   aranea,  7.  retina;    3  humores:  1.  vitreus, 

2.  crystallinus  [3.  aqueus]).  45.  Ohr.  IV.  Skelet:  46.  Wirbelsäule, 
47.  Arm  und  Hand,  48.  Schenkel  und  Fuss.  —  Auf  das  Muskelsystem 
sowie  auf  die  peripheren  Gelasse  und  Nerven  geht  Mondino  nicht  ein. 
Aus  gelegentlichen  Bemerkungen  ist  zu  entnehmen,  dass  er  im  Januar 
und  März  1315  je  eine  weibliche  Leiche,  im  J.  1316  eine  Sau  seciert, 
und  dass  er  seine  Anatomie  noch  im  selben  Jahr  geschrieben  hat. 
Sein  Dissector  Ottone  Agenio  Lustrulano  scheint  sich  nur  als 
solcher  bethätigt  zu  haben.  Die  Seltenheit  des  Leichenmaterials  hat 
schon  damals  zum  Leichen  raub  zu  anatomischen  Zwecken 
geführt.  Ein  solcher  ist  für  den  20.  November  1319  festgestellt.  Die 
Sektion  fand  im  Schulgebäude  unter  Anleitung  des  Magister  Alberto 
de'  Zancari*)  statt.  Mondinos  Schüler,  der  Lombarde  Bertuccio 
(Prof.  der  Logik  und  Medizin,  gest.  1347  an  der  Pest)  hat  die  Schul- 
sektionen in  der  Art  seines  Lehrers  in  4  Vorlesungen  abgethan.  Er 
behandelte  an  der  auf  einer  Bank  gelagerten  Leiche:  1.  (wegen  der 
Fäulnis)  die  Baucheingeweide,  2.  die  Brustorgane,  3.  den  Kopf,  4.  die 
Gliedmassen  und  besprach  dabei,  wie  sein  Vorgänger  der  Schulmethode 
folgend,  an   jedem   Gegenstand   9  Punkte:    1.  positio,    2.  substantia, 

3.  complexio,  4.  quantitas,  5.  numerus.  6.  figura,  7.  colligatio,  8.  actio 
et  utilitas,  9.  aegritudines,  (9.  de  Cauliaco,  Chir.  magna  tract.  I.  doct. 
1.  cap.)  im  Anschluss  an  die  Kategorien  des  Aristoteles.  Er 
selbst  hat  in  seinem  „Collectorium"  nur  ein  anatomisches  Kapitel 
mit  einer  kurzen  Beschreibung  des  Gehirns,   doch  deutet  die  Ueber- 


*)  Laureat  1326,  Lektor  der  Med.  bis  IMl.    Feststellung  der  Person  bei  Medici 
Comp.  stör.  p.  37,  Processakten  bei  De  Renzi  Storia  II  p.  249. 


Geschichte  der  Anatomie.  199 

Schrift  auf  den  Ausfall  einer  Fortsetzung.^)  Bertucci  hat  durch 
seinen  Schüler  Guy  de  Chauliac  die  Anatomie  in  Montpellier  be- 
einflusst.  Der  noch  dem  14.  Jahrhundert  angehörende  Tommaso  di 
Garbo  (gest.  1370)  kennzeichnet  sich  durch  seinen  Kommentar  zur 
Embryologie  des  Avicenna  (Kan.  lib.  3.  fen.  21,  tract.  1,  cap.  2  de 
generatione  embryonis)  ebenso  wie  der  etwas  jüngere  Paduaner  J  a  c  o  p  o 
da  Forli  als  Arabist.  Im  15.  Jahrhundert  wurden  die  Leichen- 
zergliederungen durch  die  Universitätsstatuten  von  1405  und  den  Zu- 
satz von  1442  geregelt,  im  allgemeinen  jährlich  2  angesetzt  (je  eine 
männliche  und  weibliche  Leiche,  nur  in  Ermangelung  2  männliche). 
Ob  der  Chirurg  P  i  e  t  r  o  d'  A  r  g  e  1  a  t  a  ( Pietro  della  Cerlata)  Anatomie 
geübt  hat,  ist  zweifelhaft.  Sicher  ist  jedoch,  dass  er  die  Leiche  des 
1410  hier  gestorbenen  Papstes  Alexander  Y.  balsamiert  hat. ^) 
Giovanni  da  Concor eggio  (ursprüngl.  in  Mailand,  dann  Lector 
publ.  in  Bologna,  gest.  in  Pavia  1438)  hat  ein  umfangreicheres  anat. 
Werk  hinterlassen,  ^j  Einen  entschiedenen  Fortschritt  bedeuten  die 
drei  Zeitgenossen  Gerbi,  Achillini  und  Berengar.  Gabriele  Gerbi 
(Zerbi.  Zerbus)  war  Prof.  d.  Med.  1473 — 77,  auch  der  Logik  und 
Philosophie  bis  1483.    Seine  Anatomie  wurde  wiederholt  gedruckt.*) 

(Die  in  der  Literatur  wiederholt  angeführte  ,,Anatomia  infantis"  ist  ein 
ganz  kurzes  Excerpt  —  2  Seiten  und  einige  Zeilen  —  aus  Gerbi,  welches 
Johann  Eichmann  seinen  Illustrationen  zur  Gehimanatomie  angehängt  hat.  ^) 

Der  Gang  seiner  Darstellung  ist  noch  immer  der  von  Mondino  und 
Bertucci  eingehaltene,  dabei  geht  er  aber  schon  weitaus  genauer  auf 
die  einzelnen  Organsysteme  (Knochen,  Gefässe,  Muskeln)  ein  und 
schliesst  mit  der  Embryologie  (s.  oben).  In  diesem  Kapitel  hält  er 
sich  ziemlich  an  Avicenna.  im  übrigen  bedeutet  er  einen  wesent- 
lichen Fortschritt.  Abgesehen  von  einer  Eeihe  besserer  Darstellungen 
I Blase,  Auge,  Pharynx,  Nerven),  beschreibt  er  schon  sehr  genau  die 
Faserung  des  Magens  (iibr.  musc.  obliq..  transv.,  später  Falloppio), 
spricht  nicht  mehr  von  den  Höhlen  des  Uterus,  hält  noch  an  dessen 
Hörnern  fest,  deutet  aber  schon  die  sog.  Fallopischen  Tuben  an,  spricht 
nicht  mehr  von  der  3.  Herzkammer,  entdeckt  die  Thränenpunkte  des 
Auges,^*^)  studiert  den  Geruchsnerven,  erklärt  den  Interkostalnerven  ^^) 
als  Ast  des  V.  Paares  und  untersucht  den  n.  pterygoideus  (guidianus). 
Alessandro  Achillini  (1463—1512).  Seine  ,.Annotationes  anatomicae 
in  Mundinum"  ^-)  zeugen  von  Gewissenhaftigkeit  im  Nachforschen.  Er 
kennt  die  Blinddarmklappe,  entdeckt  die  Einmündung  des  Gallen- 
gan g  e  s  in  den  Zwölffingerdarm,  das  im  Altertum  nur  wenigen  bekannte, 
ja  angezweifelte,  im  Mittelalter  bisher  nicht  erwähnte  Jungfern- 
häutchen (velamen),  beschreibt  genauer  das  Kleinhirn,  die  Hirn- 


^)  Proeminm  primi  libri:  In  quo  de  Anatomia  corporis  humani  agitur.  *Ber- 
trucii  Bononiensis  compendiura.    Colon.  1537,  fo.  XII,  recto 

^)  Beschr.  des  Verfahrens  in  seiner  Chir.  1.  V,  tract.  12  c.  31. 

'')  *Jo  de  Concorezio  lucidarium  et  lios  Medicinae  divis.  in  IV  tractatus,  de 
capite,  de  pectore,  de  stomacho  et  annexis  —  complet  —  1438. 

*)  *Liber  Anatomiae  corp.  hum.,  Venet.  1502,  dann  u.  d.  T.  Opus  praeclarum 
anatomiae  Totius  corp.  hum.,  Venet.  1533. 

")  *Anatoraia,  h.  e.,  corporis  hum.  dissectionis  pars  prior  —  per  Jo.  Dryandrum  — 
Item  Anatomia  Porci,  ex  traditione  Cophonis,  Infantis  ex  Gabriele  de  Zerbis,  Marp.  1537 

^'')  Später  Berengar. 

")  Später  Achillini. 

")  Folio  Bonon.  1522. 


200  Robert  Ritter  von  Töply. 

nerven,  das  Rückenmark,  die  Armvenen,  entdeckt  den  Hammer  und 
Ambos  im  Mittelohr.  Ernennt  als  Anatomiejahre  1502,  1503,  1506. 
Da  seine  Thätigkeit  zu  Bologna  bis  zum  Jahre  1505  reicht  (in  Padua 
1505 — 1508),  so  dürfte  hier  Pietro  Morsiano  da  Imola,  Lector 
der  Chirurgie,  sein  Ostensor  gewesen  sein.  Eine  von  Pietro  aus- 
geführte Sektion  ist  für  den  13.  Okt.  1499  bezeugt.  Pietro  hat  in 
Gemeinschaft  mit  2  Studenten  der  Chirurgie  eine  verbesserte  Ausgabe 
der  Anatomie  des  Mondino  veranstaltet.^^)  Der  Chirurg  Jacopo 
Berengario  da  Carpi  (um  1470 — 1530)  ist  der  weitläufigste  Kom- 
mentator des  Mondino.  ^^)  Das  Hauptgewicht  legt  auch  er  auf  die 
Eingeweide,  denn  die  Nerven  könne  man  nur  an  ausgewässerten,  die 
Muskeln  an  gekochten  Leichen  genauer  studieren,  auch  könne  man 
bei  einem  öffentlichen  Schulvortrag  nicht  demonstrieren.  ^^)  Im  wesent- 
lichen fusst  Berengar,  obzwar  Gegner  des  Galenismus,  doch  noch  auf 
einem  alten  Standpunkt.  Er  hält  mit  Galenos  gegen  Mondino  an 
2  Fächern  des  Uterus,  mit  Mondino  an  der  dritten  Herzkammer  des 
Aristoteles  fest,  bezeichnet  den  Kehldeckel  unter  Berufung  auf  Galen 
als  glotida  und  principalissimum  vocis  Organum,  hingegen  weist  er  das 
Wundernetz  des  Galenos  an  der  Hirnbasis,  die  Hohlheit  der  Sehnerven 
(beides  allerdings  nicht  genug  entschieden)  zurück,  er  hat  zuerst  die 
Paarigkeit  der  Giessbeckenknorpel  erkannt,  auf  die  Klein- 
heit des  mensch  1.  Wurmfortsatzes  hingewiesen.  Doch  hat  er, 
wie  die  Griechen,  an  die  Veränderlichkeit  des  menschlichen 
Typus  geglaubt,  daher  so  mancher  Beobachtung  —  ob  neu,  ob  alt 
—  nicht  den  richtigen  Wert  beigelegt,  obzwar  er  Hunderte  von 
Leichen  öffentlich  und  privatim  zergliedert  haben  will,  auch  Vivi- 
sektion an  Tieren  getrieben  und  am  anatomischen  Präparat  experi- 
mentiert hat.  ^'')  Besonders  hervorhebenswert  ist  sein  Verdienst  um 
die  anatomische  Abbildung,^')  obzwar  die  Tafeln  mehr  Hlu- 
stration  als  genaue  Darstellung  nach  der  Natur,  auch  nicht  alle 
originell  sind.^^)  Gabriel  Falloppio  hat  den  Berengar  als  Reformator 
der  Anatomie  gepriesen.  Das  ist  Berengar  allerdings  nicht  gewesen.  Er 
beschliesst  nur  die  mittelalterliche  um  Mondino  gescharte  Anatomie 
an  einem  Uebergangspunkte  von  der  alten  zur  neuen  Zeit. 

Padua. ^)  Die  nachweislich  älteste  Sektion  hat  1341  statt- 
gefunden, bei  welcher  Gelegenheit  Ge utile  da  Foligno  (gest.  1348) 
einen  Gallenblasenstein  entdeckte;  der  folgenden  Zeit  des  14.  Jahr- 
hunderts   gehört   Jacopo  da  Forli  (f   1413),   durch  seinen  Kom- 


")  Im  Fascic.  medicinae  des  Job.  de  Ketham,  Druck  von  1495.  Vgl.  Choulant, 
Bücherk.  1841,  S.  403. 

^^)  *Carpi  Commentaria  cum  amplissismis  Additionibus  super  anatomia  (!) 
raundiui  una  cum  textu  eiusdem  in  pristimim  et  verum  nitorem  redacto,  Bonon.  prid. 
Non.  Mart.  1521,  4",  528  Bl.;  *Isagogae  Breues  perlucidae  ac  iiberrimae  in  Anatomiam 
bum.  corp.  a  communi  Medicorum  Academia  usitatam  a  Carpo  —  ad  suorum  Schola- 
sticorum  preces  in  lucem  datae,  1523,  15.  Juli,  Bonon.  4",  80  Bl.*):  Beide  Werke 
m.  Holzscbn. 

*)  Die  erste  Aufl.  soll  vom  J.  1522  sein. 

!•')  Comment.  1521  f.  516  a,  500  a. 

18)  Vgl.  die  Kritik  bei  Rotb,  Andr.  Vesalius  1892,  S.  37—48. 

1")  21  mit  der  Zeit  auf  23  erweiterte  Tafeln,  vgl.  die  Zusammenstellung  bei 
Roth  a.  a.  0.  S.  50. 

***)  Auf  ihre  Abhängigkeit  von  verschiedenen  Vorlagen  hat  Roth  a.  a.  0. 
S.  49 — 56  hingewiesen. 

*)  Tosoni  (Pietro).  Della  Anatomia  degli  Antichi  e  della  scuola  anat.  Pado- 
vana  —  Päd.  1844,  4°  m.  1  Taf. 


Geschiclite  der  Anatomie.  201 

mentar  zu  dem  die  Embryologie  behandelnden  Kapitel  des  Avicenna 
(kan.  1.  3,  fen  21  tract  21  kap.  2).  ebenso  wie  der  Bolognese  Tommaso 
di  Garbo  als  Arabist  gekennzeichnet.  Im  15.  Jahrhundert  wird  einer 
Sektion  am  8.  Febr.  1429  an  der  Leiche  eines  Berg-amasken  unter 
Leitung  des  Ugo  de  Senis,  dann  einer  an  einer  weiblichen  Leiche 
am  4.  April  1430  gedacht.  In  beiden  Fällen  hat  der  bekannte  Chirurg 
Leonardo  Bertapaglia  assistiert.-)  1436  wird  Antonio  da 
Padova  als  Anatom  genannt.  Die  praktische  anatomische  Thätig- 
keit  war  sehr  rege,  denn  Bartolomeo  Montagna  d.  Ae.  (Prof. 
1422—1441,  gest.  um  1460)  hat  hier  bis  zum  J.  1444  vierzehn  Sektionen 
erlebt,  und  für  1446  ist  schon  ein  anatom.  Theater  erwiesen,-')  eine 
feierliche  Schulsektion  mit  nachfolgendem  festlichem  Begräbnis  fand 
vom  20. — 28. März  1465  statt.  Eine  Regelung  bcAvirkten  die  Statuten 
der  Artisten  v.  J.  1495.^)  Danach  sollen  womöglich  jährlich 
2  Leichen  verschiedenen  Geschlechts  zergliedert  werden.  Die  wieder- 
holt genannte  Errichtung  eines  anatom.  Theaters  i.  J.  1490  durch 
AlessandroBenedettidaLegnano  (Alex.  Benedictus,  gest.  1525, 
Schüler  des  humanistischen  Florentiners  Ant.  Benvieni)  ist  eine  ge- 
schraubte Annahme  von  Guis.  Cervetto.  Dokumentarisch  sichergestellt 
ist  nach  jenem  aus  dem  J.  1446  nur  die  Errichtung  eines  splendiden 
theatrum  anatomicum.  begonnen  den  23.  Jan.  1584,  fertiggestellt  1595. 
Benedetti  bespricht  in  seiner  ..Anatomice"^  (Vorrede  vom  1.  Aug.  1503) 
nur  gelegentlich  die  Einrichtung  eines  „temporarium  theatrum''  nach 
dem  Vorbilde  derer  in  Eom  und  Verona  und  scheint  auch  ein 
solches  erlangt  zu  haben.  Er  erweist  sich  wie  sein  Lehrer  als  ge- 
bildeter Humanist  (er  kennt  Hippokrates,  Piaton,  Aristoteles,  Galenos, 
Pollux,  Rhuphos,  Alexandros  Aphrodisias,  Lucretius,  M.  Varro,  Cicero. 
Celsus,  Plinius.  A.  Gellius,  Macrobius,  LactantiusX  mit  dem  Bestreben 
über  die  Alten  hinauszukommen,  will  u.  A.  die  Vorhöfe  des  Herzens 
nicht  mehr  als  „Ohren",  sondern  als  Wassergrotten  (specus)  aufgefasst 
wissen,  ist  Entdecker  der  Mündungen  d  e  r  s  o  g.  B  a  r  t  h  o  1  i  n  s  c  h  e  n 
oder  Tiedemannschen  Drüsen.')  Bezeichnend  für  seinen  huma- 
nistischen Standpunkt  ist.  dass  er  seiner  Anatomie  die  Abhandlung 
des  Georg  Valla  von  Piacenza  über  die  anat.  Nomenklatur  an- 
hängt. Seine  Zeitgenossen  und  Nachfolger  Antonio  Capedino  di 
Romano  (1501),  Giambattista  Fortezza  Vicentino  (1504), 
Niccolo  de'Musi  Padovano  (1526),  dann  Bassiano  Landi 
(ermordet  1563)  *^),  sind  hinter  ihm  zurückgeblieben,  obzwar  die  Uni- 
versität seit  der  Wiederherstellung  im  J.  1517  sich  neu  gekräftigt 
hatte,  und  öffentliche  Anatomien  wiederholt  abgehalten  wurden.  Nach- 
gewiesen sind  sie  für  1520  (Lektor  Nico  laus  de  Janua),  1532,  dann 
für  1536  37.  Letztere  dauerte  volle  vier  Wochen,  vom  24.  Dezemb. 
1536  bis  24.  Jan.  1537  und  wurde  verrichtet  von  Giovanni  Nicola 
Leonice no  (1428 — 1524,  Prof  zu  Ferrara)  einem  der  ersten  Vor- 
kämpfer der   neuen  Zeit    und  Lehrer   der  Realdo  Colombo.    Es  war 


•)  Ferrari  I.  c.  p.  128129. 

")  Tosoni  p.  101.    Streit  um  die  Kosten  u.  s.  w. 

*)  Favaro,  D.  Hochschule  Padua  z.  Z.  des  Coppernicus,  deutseh  v.  Curtze, 
Thorn  1881. 

•'■)  Alexandri  Benedict!  physici  anatomice  1.  Aufl.,  Venet.  1493,  *Basil.  1527, 
8«,  119  Bl ,  *Paris  1514,  8«,  82  Bl. 

")  Verf.  von  De  humana  bist ,  v.  singular.  hominis  part.  cogTiitione  11.  duo 
Basil.  1542,  4»,  sq. 


202  Robert  Ritter  von  Töply. 

dies  wohl  eine  der  letzten  Sektionen  der  alten  Schule,  denn  am  Jahres- 
schlüsse, den  6.  Dezember  1537  arbeitet  hier  als  Sekant  bereits  Andreas 
Vesal. ') 

Venedig.^)  Ein  Erlass  des  grossen  Rates  (Maggior  Consiglio) 
vom  27.  M  ai  1368  ^)  verfügt,  dass  die  Chirurgen  je  einmal  eine  Leichen- 
sektion  veranstalten  und  zwar  im  Beisein  der  Vorstände,  Aerzte  und 
Chirurgen.  Die  Kosten  wurden  am  8.  Aug.  1370  nach  einem  dies- 
bezüglichen Streite  zwischen  den  Aerzten  und  Chirurgen  auf  beide 
Parteien  verteilt.  Nachdem  die  Republik  in  den  Jahren  1400—14  die 
Republik  Vicenza,  Belluno,  Feltre,  Rovigo,  Verona,  Padua  erobert 
hatte,  war  der  wissenschaftlichen  Gravitation  nach  letzterer  Stadt  der 
Weg  geebnet  und  sank  der  Betrieb  der  Anat.  an  den  Lagunen.  Eine 
Regelung  gaben  die  Statuten  von  1507.  Danach  hat  der  Vorstand  der  Chi- 
rurgen jährlich  eine  „Anatomie"  zu  veranlassen.  Dabei  hat  Einer  aus 
dem  Collegium  physicum  den  Mundius  vorzulesen,  ein  Chirurg  die  Sektion 
vorzunehmen,  falls  nicht  jemand  aus  dem  Collegium  physicorum  Lust 
dazu  hat.  Das  Schwanken  zwischen  alt  und  neu  spiegelt  sich  hier 
in  Antonio  Massa  (gest.  1569).  Er  nimmt  einen  allgemeinen  Unter- 
hautmuskel an,'^)  benennt  den  von  Galenos  entdeckten  Unterhaut- 
halsmuskel Platysma  myoides,  beobachtet  die  inscriptiones  t en- 
din eae  der  geraden  Bauchmuskeln  (meist  3),  erklärt  dasMeconium 
für  einen  Ausfluss  der  Gallenblase,  hält  mit  Galenos  den  Urachos  für 
den  Harngang  des  Fötus,  glaubt  nicht  an  das  ständige  Vorkommen 
des  Wurmfortsatzes  (s.  Berengar),  kennt  besser  als  Berengar  die 
Nierensubstanz  (Streifung),  nimmt  an  der  Harnblase  mehrere  Schichten, 
an  den  üreteren  nur  eine  an,  kennt  die  von  Berengar  entdeckten 
Samenblasen  nicht,  hat  jedoch  die  Prostata  entdeckt  und  eine 
grössere  Dicke  der  Blasenwand  zwischen  der  Harnröhre  und  der  Mün- 
dung der  Üreteren  beobachtet  (Andeutung  des  trigonum  Lieu- 
taudii),  nimmt  im  Hodensack  ein  „mediastinum",  im  Herzen  drei 
Kammern,  an  der  Zunge  9  Muskeln  (äussere  und  innere)  an,  spricht 
von  zwei  Gehörknöchelchen  u.  a.  *) 

Florenz.  Die  erste  Leichenzergliederung  ist  für  das  Jahr  1388 
erwähnt.  Sie  fällt  in  die  Zeit  des  Nicolo  Falcucci  (gest.  1411, 
s.  Pagel  in  diesem  Hdb.  I  678),  welcher  in  seinen  umfangreichen 
7  Sermones  medicinales  auch  Anatomisches  einflicht.  ^)  Nie.  Falc.  ist 
nicht  zu  verwechseln  mit  dem  weit  jüngeren  Kalabresen  Nicolo 
Regino  de  Deo  propio  (um  1317 — 45),  Herausg.  des  Nikolaos  Myrepsos, 
Uebers.  von  Gal.  de  ump.,  auch  Verf.  einer  „anatomia  oculi".-)  An- 
tonio Benvieni  (gest.  11.  Nov.  1502),  einer  der  Vorkämpfer  der 
Neuzeit,  hat  hier  zumindest  20  Autopsien,  auch  Privatautopsien 
durchgeführt.  ^)  Der  Umstand,  dass  ihm  nur  einmal  eine  Privatautopsie 
verweigert  wurde,  spricht  für  das  schon  sehr  vorgeschrittene  Ver- 
ständnis seiner  Mitbürger  für  Leichensektionen.     Benvienis   Geistes- 


')  Hs.  des  Vitus  Tritonius  Athesinus,  Hofbibl.  Wien  Nr.  11,  195  (med.  119), 
p.  172a  bis  182b,  Bericht  darüber  bei  Roth  a.  a.  0.  S.  454 fg. 

^)  Musatti  (Cesare),  Dell'  anatomia  in  Venezia.  Discorso  del  Dr.  Luigi 
Nardo  (publ.)  con  note  e  ginnte,  Venezia  1897,  8",  pp.  112. 

•')  Bei  de  Renzi  Storia  II  2,  p.  247,  J.  1308. 

')  Von  Ch.  Estienne  Aviderlegt. 

■•)  Anatomiae  üb.  introductor,  Venet.  1536,  4"  u.  f. 

^)  s.  3  memb.  cap.,  4.  mb.  spirit.,  5.  mb.  nat.,  6.  mb.  generat- 

«)  Vgl.  Mercklin  Linden,  renov.  1686,  p.  841. 

^)  Die  Resiiltate  in  „de  abditis  morborum  causis". 


Geschichte  der  Anatomie.  203 

richtung*)  hat  dessen  Schüler  Benedetti  weiter  gezüchtet.  In  dieser 
über  das  jVIittelalter  hinaus  bereits  weit  fortgeschrittenen  Welt- 
anschauung hat  1495  Michelangelo  Buonarotti  seine  ana- 
tomischen Studien  zum  Kruzifix  für  die  Kirche  des  Klosters  S.  Spirito 
an  Leichen  gemacht,  mit  denen  ihn  der  Prior  des  Klosters  versah. 
Im  J.  1505  erhielten  die  Aerzte  von  S.  Maria  Xuova  eine  männliche, 
1533  eine  weibliche  Leiche  zu  anatomischen  Zwecken. 

Siena,  Perugia,  Genua,  Ferrara,  Pisa,  Pavia,  Yer- 
celli,  Verona.  —  Siena  bewirbt  sich  am  9.  Jan.  1427  um  d.  Leiche 
eines  Gehenkten  „pro  faciendo  anatomiam",  Perugia  kann  um  das 
J.  1457  jährlich  2  Verbrecherleichen  beanspruchen,  in  Genua  schliesst 
das  Aerztekollegium  i.  J.  1482  gewisse  Leichen  von  der  Anatomie 
aus.  In  Ferrara  bestimmen  die  wahrscheinlich  vom  Ende  des 
15.  Jahrhunderts  stammenden  Statuten  der  Universität  ^)  die  jährliche 
Lieferung  einer  Leiche  seitens  des  Podestä.  Hier  wirkt  seit  1464 
durch  60  Jahre  Nicolo  Leoniceno  (1428 — 1524)  einer  der  hervor- 
ragendsten Vorkämpfer  des  Humanismus  -).  Er  bekämpft  den  Plinius. 
Avicenna,  Mondino,  Gentile  da  Foligno,  geisselt  den  Benedetti,  weist 
ihm  die  Oberflächlichkeit  im  Klassizismus  und  unbesonnenes  Ab- 
schreiben des  Plinius  sowie  der  Arabisten  nach,  hängt  aber  an  Aver- 
roes  und  Galenos.  Leoniceni  ist,  wie  die  Mitglieder  der  Neuen  Floren- 
tiner Akademie,  Stürmer  des  Arabismus  zu  Gunsten  des  Galenismus. 
In  Pisa  wird  die  Abhaltung  einer  Anatomie  für  das  Jahr  1501 
erwähnt.  Pavia,")  Hier  war  der  Polizeipräfekt  (podestat)  im 
15.  Jahrhundert  verpflichtet  über  Ansuchen  der  med.  Fakultät,  wann  es 
dieser  beliebt,  Leichen  beiderlei  Geschlechts  zu  liefern."*)  Giammateo 
Ferrari  da  Grado  iProf  1432—1472)  gilt  als  Erster,  der  die  weib- 
lichen Hoden  als  Ovarien  bezeichnet  und  (bereits  vor  Stenon,  de  Graaf, 
Verheyen)  gut  beschrieben  haben  soll.  Thatsächlich  hat  Ferrari  kein 
anatomisches  Werk  verfasst,  sondern  nur  in  seiner  ..Practica"  sowie 
in  den  „Expositiones"  auch  anatomische  Erörterungen  eingeflochten, 
u.  A.  bemerkt,  „in  der  Gebärmutter  sind  auch  zwei  Eier  (ovai, 
welche  drüsiges  Fleisch  (carnes  glandose)  heissen,  und  dies  sind 
die  zwei  Hoden  des  Weibes",  dann  die  zwei  Deckhäute  hervorgehoben, 
zwischen  denen  sie  liegen,  schliesslich  die  „Samengefässe",  d.  i.  die 
Muttertrompeten,  welche  er  aber  noch  in  den  Gebärmutterhals  ein- 
münden lässt.  ^1  Behufs  Gründung  einer  anatomischen  Schule  berief 
man  erst  den  Marcantonio  della  Torre  (M.  Ant.  Turrianus.  geb. 
1473,  gest.  schon  22.  Sept.  1506),  einen  Stürmer  des  Arabismus  zu 
Gunsten  des  Galenismus.  Er  starb  während  der  Vorbereitungen  zur 
Ausgabe  eines  grossen  anatomischen  Werkes  „ex  placitis  Galeni". 
dessen  Illustration  Leonardo  da  Vinci  (1442 — 1519)  übernehmen  sollte. 


■*)  Der  Kampf  der  nexien  Florentiner  Akademie  ist  ursprünglich  von  einem 
Stnrm  gegen  die  Araber  zu  gnnsten  des  Galenisraus  ausgegangen. 

^)  Gegründet  1391  durch  Bulle  des  Bonifacius  III. 

^)  Nie.  Leoniceni  Vicentini  De  Plinii  et  plurimor.  alior.  medicor.  erroribus, 
Ferrara  1492. 

')  Vgl.  *Ferrari  (Henri-Maxime),  Une  chaire  de  medecine  au  XVe  siecle,  uii 
professeur  ä  l'Universite  de  Pavie  de  1432-1472,  Par.  1899.  M.  Hs.-Facs.  u.  5  Repi. 
aus  Druckwerken  (betrifft  Giammatteo  Ferrari  da  Grado).  Die  Universität  wurde 
gegründet  durch  Stiftsbrief  Karls  IV.  v.  13.  Apr.  1361.  Päpstliche  Bestätigung 
durch  die  Bulle  Bonifacius  IX.  v.  16.  Nov.  1389. 

*)  Cit.  bei  Ferrari  S.  130. 

*)  Text-Analyse  bei  Ferrari  p.  115—123. 


204  Robert  Ritter  vou  Tüply. 

Die  anatomischen  Studienblätter  des  Leonardo  da  Vinci  liaben  sich 
erlialten.  Ein  Teil  ist  vor  kurzem  in  würdig-er  Weise  veröffentlicht 
worden.")  Sie  zeug-en  von  treuer  Beobachtung  der  Natur.  Ein  ana- 
tomisches Theater  wurde  durch  Beschluss  der  Universität  vom 
21.  Nov.  1522  nach  dem  Vorbilde  derjenigen  von  Pisa  und  nach  An- 
gabe des  Gabriele  Cuneo  errichtet.  Dieser  leitet  als  Schüler  und 
Verteidiger  des  Vesal  bereits  zur  neuen  Zeit  hinüber.  Doch  hielt 
man  andererseits  doch  noch  am  Galenismus,  ja  an  Mondino  fest.  Be- 
weis dessen,  dass  hier  noch  im  J.  1550  Matteo  Corti  den  Mondino  mit 
einem  gleichgesinnten  Kommentar  herausgeben  konnte  ohne  Ahnung, 
dass  mittlerweile  eine  neue  Zeit  angebrochen  war. ') 

In  Vercelli  hat  der  durch  den  Humanismus  aufgeblüte,  haupt- 
sächlich von  den  Florentinern  hochgetragene  Galenismus  lange  nach- 
gehalten. Sein  Verteidiger  ist  Francesco  P o z z i  (Franciscus  Puteus, 
Apologia  in  Anatome  pro  Galeno,  contra  Andream  Vessalium  Bruxel- 
lensem,  Venet.  1562). 

Die  päpstliche  Kurie.')  Der  Sinn  der  das  Verfahren  mit 
Leichen  einschränkenden  Erlässe  der  Päpste  Bonifa  eins  VIIL 
(P.  1294—1303)  und  Sixtus  IV.  (P.  1471—1484)  ist  vielfach  miss- 
verstanden w^orden.  Bonifacius  VIII.  erklärt  nur  diejenigen  für  ex- 
kommuniziert, die  da  Leichen  ausweiden  und  kochen,  um  die  Knochen 
für  den  Versandt  zum  Begräbnis  in  die  Heimat  herzurichten.  -)  Die 
Bulle  richtet  sich  hauptsächlich  gegen  die  Begräbnisse  „more 
teutonico".  Thatsächlich  war  es  Sitte,  die  gelegentlich  der  Kreuz- 
züge in  fremdem  Lande  Verstorbenen  derart  zu  behandeln.  Dies 
Schicksal  erlebte  Kaiser  Barbarossa  in  Syrien,  Ludwig  der  Heilige  in 
Tunis,  dann  die  Landgrafen  Ludwig  III.  und  IV.  von  Thüringen, 
Herzog  Ludwig  von  Bayern,  die  in  Eom  i.  J.  1167  an  der  Pest  ge- 
storbenen Erzbischöfe  Eaynald  von  Köln  und  Daniel  von  Prag,  die 
Bischöfe  von  Speier,  Verdun,  Lüttich,  Regensburg,  Herzog  Friedrich, 
Sohn  des  Königs  Konrad,  Herzog  Weif,  die  Grafen  von  Sulzbach, 
Tübingen,  dann  beim  5.  Kreuzzug  Hademar  von  Kuenring  und  Graf 
Wilhelm  von  Arundel,  der  im  J.  1130  in  San  Germano  gestorbene 
Herzog  Leopold  von  Öesterreich.  =^j  Das  Breve  des  vSixtus  IV.  (keine 
Bulle)  enthält  kein  Verbot  der  Leichenzergliederung,  sondern  es  macht 
nur  diese  von  der  behördlichen  und  geistlichen  Gewalt  abhängig 
(Lussana  (F.),  Lettera  fatta  nella  R.  Acad.  d.  Sc.  il  genn.  1886).  Be- 
weis der  Duldsamkeit  der  Päpste  gegenüber  der  Anatomie  ist  deren 
zeitliche  Uebung  in  Rom  (allerdings  im  Mittelalter  ohne  besonderen 
Erfolg),  dann  der  Umstand,  dass  unter  Clemens  VI  (1342 — 52,  Avignon) 


®)  *I  manoscritti  di  Leonardo  da  Vinci  della  reale  biblioteca  di  Windosor.  Dell' 
Anatoraia  fogli  A.  pnbbl.  da  Teodoro  Säbach  uikoff  transcritti  e  anuot.  da  Giov. 
P  i  u  m  a  t  i  cou  traduz.  in  lingua  f ranc.  preced.  da  uno  studio  di  Mathias-Duval,  Par. 
1898,  Fol.,  in  400  Exemplaren  gedruckt. 

')  *D.  Matthaei  Curtii  —  In  Mundini  Anatomen  explicatio,  Papiae  1550, 
400  p. 

^)DeI  Gaizo  (Modestino),  Dell  azzione  dei  Papi  dell'  anatomia  e  della 
Chirorgia  sino  al  1600.    Milano  1893  (Mera.  publ.  nel  peiiodico  La  scuola  cattolica). 

-)  De  sepulturis  Bonifacius  octauus.  Corpora  defunctorum  exenterantes  et  ea 
immaniter  decoquentes,  ut  ossa  carnibus  separata  ferant  sepelienda  in  terram  suam, 
ipso  facto  sunt  excommunicati.  Datum  Lateran.  XIL  Cal.  Martii,  Pont,  nostro 
anno  sexto. 

')  Vgl.  .,Zur  Geschichte  des  Begräbnisses",  Zeitschr.  f.  deutsche  Philologie 
Bd.  24. 


Geschichte  der  Anatomie.  205 

während  der  Pest  in  Siena  i.  J.  1348  amtliche  pathologische  Ob- 
duktionen vorgenommen  wurden.  Schliesslich  ist  nicht  zu  vergessen, 
dass  Clemens  VII.  (P.  1523—1524)  die  Ausübung  der  Anatomie  an 
Menschenleichen  zu  Lehrzwecken  gestattet  hat.*)  Die  Fortschritte 
der  Anatomie  in  Rom  waren  allerdings  bis  in  die  Zeit  der  Eenaissance 
nicht  bedeutend. 

Literatur  für  Italien  abgesehen  von  LohalgescJiichfe :  *De  Senzi  (Sahatore). 
Storia  della  medicina  in  Italia,  Xapoli,  5  Bände,  Napoli  I  (2.  ed.)  1S48,  II.  llt 
1845,  1Y1S46,  V 1848  (ohne  Belege).  —  *Iloth  (M.),  Andreas  Vesalius  Bntxellensis 
Berl..  Beim  er  1892,  in.  30  Taf.,  500  S.  (sehr  gründlich,  mit  urkundlichen  Belegen) 
—  *Cet'r€tto  (Giuseppe),  Di  alcuni  celebri  Änatomici  ital.  del  15.  sec.  Ed.  2. 
Brescia,  Venturini  1854,  155  p.  (krit.  Nachrichten  üb.  Montagna,  Gerbi,  Della  Torre, 
Benedeiti).  —  I>€l  Gaizo  (Modestino).  Della  pratica  della  anatomia  in  Italia 
-oio  al  1600,  Xap.  1892  (Estr.  degli  Atfi  d.  R.  Acad.  med.-chir.  di  Xap.  a.  46  X 
S.  Xr.  2). 

Frankreich. 

Gründungsjahre  für  die  bis  zum  Schlüsse  des  16.  Jahrh.  zu  Frankreich  ge- 
hörenden Universitäten,  abgesehen  von  Paris  u.  Montpellier,  nach  *tTourdain  (Gh.), 
Bist,  de  Vuniv.  de  Par.  au  17.  et  au  18.  S.  1862:  Toulouse  1229,  Avignon  1308. 
Orleans  1306,  Cahors  1332,  Angers  1364,  Orange  1365,  Aix  1409,  Poitiers  1431, 
Caen  1432,  Yalence  1452,  Xantes  1460,  Bourges  1464,  Bordeaux  1541,  Beims  1547, 
Douai  1562,  Besannen  1564,  Pont  ä  Mousson  1572. 

Paris.  —  Die  Geschichte  des  ärztlichen  Standes  in  der  Seine- 
stadt bietet  während  des  Mittelalters  und  noch  in  die  Neuzeit  hinein 
das  klägliche  Bild  wiederholter  Zänkerei  dreier  Körperschaften.  Neben 
der  medizinischen  Fakultät  (ihr  Ursprung  geht  auf  das  Jahr  1200 — 
1250  zurück)  besteht  die  Bruderschaft  der  Chirurgen,  ^)  dann  die  Gilde 
der  Barbiere  bezw.  Barbierchirurgen.  -)  Diese  gelten  als  C  h  i  r  u  r  g  i  e  n  s 
de  robe  courte  gegenüber  den  Chirurgiens  de  robe  longue 
von  Saint-Come. 

Der  anatomische  Unterricht  geht  auf  die  Zeit  der  Kapetinger 
(987 — 1328)  zurück.  In  die  ersten  Jahrzehnte  der  Universitäts- 
gründung fällt  die  Anatomie  des  Ricardus  Anglicus  (ca.  1242 — 
52).  '^)  in  den  xA.nfang  des  14.  Jahrhunderts  die  des  Chirurgen  Henri  de 
^I 0  n  d  e  V  i  1 1  e  als  Einleitung  zu  dessen  Chirurgie,  *)  doch  gehört  Henri 
dem  "Wesen  nach  der  Schule  von  Montpellier  an  (s.  d.) 

Eine  festere  Organisation  der  Universität  brachten  die  letzten 
Regierungsjahre  der  geraden  Linie  des  Hauses  Valois  (1328—1498), 
dank  der  Thätigkeit  des  Kardinals  Estouteville  (cardinalis  Totavillaeus, 
1452).  Eine  seiner  wichtigsten  Bestimmungen  war  die  Aufhebung 
der  veralteten  Satzung,  welche  den  Verheirateten  die  Lehrbefähigung 
sowie  Amtsberechtigung  (regentia)  innerhalb  der  Fakultät  abgesprochen 
hatte.  Gleichzeitig  wirkte  hier  Jacques  Despars  von  Tournay 
Jacobus  de  Partibus,  gest.  1465,  Leibarzt  Karls  VII.  und  des  Herzogs 


*)  *Del  Gaizo  (Mod.),  II  genio  d'Ippocrate,  1897,  p.  27. 

*)  Confrererie  de  Saint-Come  et  Saint-Damien,  gegründet  den  25.  Feb.  1255; 
das  College  des  maitres  chirurgiens  wird  erst  1553  erwähnt. 

■-)  Aelteste  Urkunde  v.  J.  1301,  seit  1505  neue  Privilegien. 

'•)  *Anatomia  Ricardi  Anglici.  Primum  ed.  Eob.  Töply  Eques,  Vindob.  1902. 
4  ",  5U  pp. 

*)  Chirurgie  de  maitre  Henri  de  Mondeville.  Trad.  franc.  p.  E.  Nicaise,  Par. 
1893,  903  pp. 


206  Robert  Ritter  von  Töply. 

von  Burgund).*)  Dank  seinen  Bemühungen  und  anderer  wurde  zufolge 
Universitätsbeschluss  v.  J.  1469  in  der  Rue  de  la  Bücherie  ein  altes 
Gebäude  gekauft  und  dort  1472—77  ein  Fakultätshaus  errichtet. 
Schon  1478  fand  die  erste  nachweisliche  Leichenzergliederung  statt. 
Seither  ist  die  Fakultät  unausgesetzt  eifersüchtig  bestrebt,  den  ana- 
tomischen Unterricht  zu  monopolisieren.  Seit  1483  verlangt  man  von 
den  Bakalaren  einen  Nachweis  anatomischer  Kenntnisse.  Die  nächste 
Leichenzergliederung  verzeichnen  die  Fakultätsakten  jedoch  erst  1493, 
obzwar  angeblich  seit  Menschengedenken  (ab  omni  patrum  memoria) 
vier  von  der  Fakultät  dazu  bestimmte  Pariser  Aerzte  alljährlich  an 
mindest  vier  Menschenleichen  den  Chirurgen  die  Sezierkunst  (dissecandi 
artificium)  gelehrt  hatten.  <*) 

Die  Könige  der  Linie  Valois-Orle ans  (1498—1589.  Ludwig  XIL 
1498—1515,  Franz  L  1515—47,  Heinrich  IL  1547  -  59,  Karl  IX. 
1560  -  74,  Heinrich  III.  1574 — 89j  haben  die  Medizin  in  Paris  wesent- 
lich gefördert.  Heinrich  IL  hat  eine  Professur  der  Anatomie  und 
Botanik  errichtet.  Umso  eifersüchtiger  wahrte  die  Fakultät  ihre  An- 
sprüche auf  das  Fach.  Sie  erwirkte  gegenüber  der  angeblichen  An- 
massung  der  Chirurgen  im  April  1552  einen  Parlamentserlass,  dem- 
zufolge eine  Leichenzergliederung  nur  unter  dem  Vorsitz  eines  Doktors 
der  Medizin  vorgenommen,  und  niemand  —  weder  der  Strafrichter 
noch  die  Scharfrichter,  noch  die  Magister  des  Hötel-Dieu  oder  der 
Prevot  des  marechaus  —  ohne  eine  vom  Fakultätsdekan  unterzeichnete 
und  mit  dem  Siegel  der  Schule  versehene  Erlaubnis  irgend  eine  Leiche 
ausliefern  darf. "')  Daraus  ergaben  sich  immer  nur  Gehässigkeiten 
zwischen  der  Fakultät  und  den  Chirurgen.  Das  Verdienst  um  die 
weitere  Hebung  der  Verhältnisse  gebührt  dem  Humanisten  Pierre 
de  la  Kamee  (Petrus  Ramus,  1515 — 72),  der  in  einer  an  Karl  IX. 
gerichteten  Rede  für  die  Reform  der  Akademie  und  Befreiung  des 
medizinischen  Unterrichts  aus  den  Fesseln  der  Scholastik  männlich 
eingetreten  war.  ^)  Nun  begannen  auch  die  Vorarbeiten  zur  Errichtung 
eines  anatomischen  Theaters.  Nachdem  der  Doktorschmaus  1564  ein- 
gestellt worden  war,  ^)  bestimmte  ein  Erlass  des  Königs  vom  10.  April 
1568,  dass  in  Zukunft  anstatt  dessen  jeder  neue  Doktor  60  Ecus  für 
den  Bau  eines  anatomischen  Theaters  zu  erlegen  hat.  Das  Geld  floss 
jedoch  lange  nicht  seiner  Bestimmung  zu.  1576  wurde  die  Stelle  eines 
Archidiaconus  (archidiacre,  prosector)  geschaffen.  ^")  Zufolge  Fakultäts- 
beschluss  v.  J.  1496  ist  jede  zergliederte  Leiche  in  geweihter  Erde 
zu  begraben  und  für  deren  Seele  eine  feierliche  Kirchenmesse  abzu- 
halten.   Im  Fakultätshause  scheint  jedoch  für  die  festliche  und  mehr- 


*)  Er  hielt  1432 — 53  Vorlesixngen  über  das  I.  Buch  des  Kanon  der  Avicenna. 
Collecta  Jac.  de  partibus  in  medicina  pro  anatomia,  Ven.  1507.  Die  Articeila- 
ausgaben —  nach  Choulant  die  Venet.  1507,  8  u.  fg.,  auch  meine  Lugd.  1519, 
5.  Öct.  —  enthalten  die  *Summula  Jacobi  de  partibus,  u.  zum  Kapitel  Tom  Aderlass 
als  Illustration  einen  Aderlassmann,  in  der  letztgenannten  Ausg.  fol.  400  verso. 

**)  Ren.  Moreau  vor  J.  Sylvii  Opera  med.,  unter  Berufung  auf  des  Jac.  Sylvias 
Angabe  v.  J.  1531,  cit.  bei  Roth,  Andr.  Vesalius  Bnix.  S.  13,  Anm.  1. 

')  Reg.  de  la  Fac.  t.  VI  fol.  1.'>1  vo.  Nach  Portal  II  384  ist  Germain  Courtain 
der  Urheber  dieses  Erlasses,  den  Riolan  in  das  J.  1540  verlegt. 

»)  Cit.  bei  Riolan,  Anthropogr.  I  19,  Op.  1649  p.  64.  Gedruckt  u.  d.  T.  Pro- 
emium  reformandae  Academiae  ad  Carolum  IX  regem,  Par.  1562,  12",  Advertisse- 
ments  sur  la  reformation  de  l'Universite  de  Paris  au  roy.  1562,  12^  Andre  Wechel. 

'*)  Riolan  Anthropogr.  I  19. 

^'*)  Laut  Dict.  Enc.  IV  p.  225  zuerst  dem  Riolan  verliehen.  Selbstverständlich 
könnte  nur  J.  Riolan  d.  Aeltere,  gest.  18.  Okt.  1605,  gemeint  sein. 


Geschichte  der  Anatomie.  207 

tägige  Veranstaltung  kein  genügender  Platz  gewesen  zu  sein.  ^^)  Die- 
selben Akten  heben  wiederholt  einzelne  Zergliederungen  hervor.  Den 
27.  März  1526  erbittet  sich  die  Fakultät  vom  Parlament  den  Körper 
des  in  der  Conciergerie  in  Haft  befindlichen  zum  Tode  verurteilten 
Jehan  Despatures  „pour  faire  sur  icelluy  aucunes  experiences  con- 
cernant  Tart  et  science  de  medecine".  Der  Bitte  wurde  willfahrt  mit 
der  Bemerkung,  dass  dem  Eechtsstandpunkt  des  Bischofs  von  Paris 
Eechnung  zu  tragen,  die  Leiche  ihm  dann  auszuliefern  und  am  Galgen 
in  Saint-Cloud  zu  henken  ist.  ^-)  Eine  Zergliederung  im  eigentlichen 
Sinne  des  Wortes,  bezw.  eine  Zertrennung  scheint  also  nicht  statt- 
gefunden zu  haben.  Anfangs  März  1551  (1552  N.  S.)  wurde  im  Hotel 
Dien  unter  Vorsitz  des  Jacques  Goupyl  fprom.  1548,  Nachfolger 
des  Jacques  Dubois  am  College  ro3'al)  die  Leiche  einer  während  der 
Geburtswehen  Gestorbenen  untersucht,  was  die  Fakultätsakten  als 
.Seltenheit  (propter  raritatem  casus)  hervorheben. 

L^nter  den  Anatomen  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts 
sind  hervorhebenswert  als  Theoretiker  Jean  Fernel, (Leibarzt  Hein- 
richs IL,  *  1497,  seit  1534  Prof,  f  26.  April  1558),  ^^j  Promotor  des 
Galenisten  Joh.  Günther  von  Andernach  (*  1487,  seit  1527  in 
Paris,  seit  1530  Dr.,  j  1574),  Lehrer  des  Eondelet  und  Vesal.  erster 
Uebersetzer  der  Anatomicae  administrationes  des  Galenos,  **j  als  Prak- 
tiker Guido  Guidi  (geb.  Anf  d.  15.  Jh.,  von  Franz  L  als  Prof  an 
das  College  de  France,  1547  nach  Pisa  berufen),  ^^)  besonders  aber 
Jacques  Dubois  von  Amiens  (Jacobus  Sylvius,  *  1478,  eröffnete 
seine  medizinischen  Vorlesungen  in  Paris  erst  1531.  1550  Nachfolger 
von  Guido  Guidi  am  Coli,  royal,  f  13.  Jan.  1555),^^)  Lehrer  der 
Spanier  Serveto  und  Vasseu,  sowie  des  Andreas  Vesal.  Dieser  erzählt, 
Dubois  habe  (1535)  Vorlesungen  über  Galenos  de  usu  part.  gehalten, 
den  Gegenstand  jedoch  sprungweise  abgethan.  alles  was  sich  auf  die 
Extrema  bezieht  übergangen,  den  Autor  für  unfehlbar  gehalten.  Zu- 
weilen brachte  er  Organe  eines  Hundes  in  die  Vorlesung.  Die  eifrigen 
Schüler  zeigten  ihm  einst  die  Klappen  der  Lungenarterie  und  der 
Aorta,  die  er  tags  vorher  nicht  finden  konnte.^')  Man  darf  dabei 
nicht  vergessen,  dass  bei  den  Anekdoten  des  Vesal  mehr  persönliche 
Empfindung  als  historischer  Gerechtigkeitssinn  die  Rolle  spielt.  Dubois 
war  eben  ein  Kind  seiner  Zeit.  Das  von  Pierre  de  la  Eame  hoch- 
getragene humanistische  Studium  hatte  auf  Hippokrates  und  Galenos 
im  Originaltext  zurückgeführt  und  so  waren  Günther  von  Andernach, 


")  So  verzeichnet  der  Dekan  Jean  Avis  (Loysel)  in  den  Fakultätsakten  ..die 
17  a  januarii  (1505.  X.  S.  1506i  incepta  fuit  lectura  anatomica  per  decanum  in 
ilomo  regia  de  Jsesle  (Hotel  de  Nesle,  jenseits  der  Seine)  juxta  Augustinenses.  Et 
'luravit  lectura  per  tres  dies  integros.  Autem  fecit  soluni  de  membris  naturalibus" 
Reg.  ms.  de  la  Fac,  t.  III,  p.  569). 

1*)  Reg.  ms.  de  la  Fac,  t.  III  fol.  195.    • 

^^)  Lebensgeschichte  in  der  Gesamtausg.  seiner  Werke  von  Otho  Heumius  1656. 

")  Roth,  Andr.  Vesalius  Brux.  S.  67  Anm.  1.  Ueber  Günther  vgl.  E. 
Turner,  Jean  Gninter  d'Andernach  1505 — 74:  Gaz.  hebdom.  de  med.  et  de  chir. 
ISKl.   S.A. 

'•^)  De  anat.  corp.  hum.  11.  VII  erschien  posthum  1611. 

"*)  Ordo  et  ordinis  ratio  in  legendis  Hippocratis  et  Galeni  libris  1539,  *1561, 
l'ar. :  In  Hippocratis  et  Galeni  physiologiae  partim  anat.  isagoge  p.  Alex.  Araand. 
1555,  *  1561.    Corament.  in  Gl.  Galeni  de  ossibus,  Par.  1561.     Opefa  ed.  R.  Moreau  1635. 

'')  Ueber  Vesals  Verhältnis  zu  Dubois  vgl.  Roth  a.  a.  0.  Doch  ist  nicht  zu 
vergessen,  dass  Vesal  seine  Lehrer  Dubois  u.  Günther  v.  Andern,  wie  auch  andere 
mit  ätzendem  Spott  überschüttet  und  dass  Roth  für  Vesal  schwärmt. 


208  Robert  Ritter  von  Töply. 

Dubois,  ja,  so  war  die  ganze  Fakultät  in  das  Fahrwasser  des  Galenis- 
miis  geraten  und  zu  dessen  Verfechter  geworden.  Es  wiederliolt  sich 
hier  dasselbe  Schauspiel  wie  bei  den  Anatomen  in  Italien.  Die  Re- 
naissance war  eine  Wiedergeburt,  aber  sie  führte  geradenwegs  zum 
Rückschlag.  Seine  Leistungen  als  Anatom  sind  die  eingehende  Be- 
schreibung des  Keil b eins,  der  Fortsätze  und  der  Höhlen,  die  Kennt- 
nis des  Gaumenbeins,  die  Beschreibung  der  Wirbel,  ihrer  Gelenk- 
flächen,  die  Bezeichnung  der  Fortsätze  als  schräge  und  quere,  die 
Erwähnung  der  Venenklappen,  die  erhöhte  Sorgfalt  für  die  ana- 
tomische Nomenklatur.  Im  Herzen  ist  er  allerdings  Galenist,  er 
glaubt  an  die  Veränderlichkeit  des  menschlichen  Typus  u.  s.  w^  und 
tritt  für  Galenos  auch  gegen  Vesal  ein. 

Dieser  Galenismus  hält  auch  in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts in  Paris  noch  an,  wenn  auch  schon  öfter  eine  freiere  Natur- 
beobachtung mit  im  Spiele  ist.  Jetzt  sind  es  aber  neben  den  in 
Theorien  befangenen  Doktoren  der  Fakultät  besonders  die  Chirurgen 
und  Barbiere,  die  das  Heft  in  die  Hand  nehmen.  Der  Schüler  des 
Jacques  Dubois,  Michael  Marescot  wird  von  Riolan  d.  J.  als 
„quondam  Scholae  Parisiensis  oracalum"  gepriesen.  Er  hat  die 
Barbiere  zum  Studium  der  i^natomie  herangezogen.  Der  Nachfolger 
G  e  r  m  a  i  n  C  o  u  r  t  a  i  n ,  docteur  regen  t  in  der  medizinischen  Fakultät  ^  ^) 
wird  von  Riolan  d.  J.  sehr  gelobt,  indes  erklärt  Portal  dessen  Werk 
für  eine  elende  Mache.  ^^) 

Der  Chirurg  Jean  Tagault  (1534—38  Dekan  der  medizinischen 
Fakultät,  gest.  1545  im  Apr.)  ist  als  Bearbeiter  des  Guy  de  Chauliac 
erwähnenswert.-")  Mit  Hilfe  des  Chirurgen  Estienne  de  la 
Riuiere  veröffentlichte  Charles  Estienne  (Dr.  1542,  f  1564) 
seine  reich  illustrierte  Anatomie.  -^)  Den  Abschluss  dieses  Zeitraums 
bildet  der  einstige  Barbier  (seit  1554  maitre  im  College  de  S.-Cosme) 
Ambroise  Pare  (*  um  1510,  f  20.  Dez.  1590).--)  Pare  hat  sich 
auch  mit  dem  Balsamierungsverfahren-*^)  befasst.  Seine  Ana- 
tomie ist  schon  von  Vesal  stark  beeinflusst. 

Montpellier.^)  Zur  älteren  Periode  der  Universität-)  gehört 
der  Chirurg  Henri  de  Monde ville  (1260 — 1320),  Zeitgenosse  des 
Bernard  Gordon  in  Montpellier  '^)  und  des  Mondino  de'  Luzzi  in  Bologna. 


^*)  Er  hat  seine  Vorlesungen  über  Anatomie  u.  Chirurgie,  die  er  den  an- 
gehenden Chirurgen  1578  -  87  gehalten,  veröffentlicht. 

1»)  Portal  II  p.  383. 

^"j  De  Chirurg,  instit.  11.  V,  Par.  1543  etc.;  Metaphrasis  in  Guid.  de  Cauliaco, 
Par.  1545. 

^')  De  dissectione  part.  corp.  lium.  11.  tres,  Par.  1545,  franz.  *  1546;  Vor- 
arbeiten a.  d.  J.  1530;  Tgl.  Choulaut,  Auat.  Abb.  S.  36  u.  f. 

^-)  Briefve  coUection  de  l'administr^tion  anatomique:  Avec  la  maniere  de  con- 
joindre  les  os.  Et  d'extraire  les  enfants  tant  morts  que  vivans  du  ventre  de  la 
mere,  1550  (1549?);  Anatomie  universelle  du  c.  h.,  comp,  par  A.  Pare  —  revene  et 
augm.  —  av.  J.  Rostaing  de  Bignose  ProvenQül,  aussi  Chirurgien  Jure  ä  Paris, 
1561  etc.;  *Malgaigne,  Oeuvres  compl.  d'A.  Pare.  —  Vgl.  E.  Turner  in  Gaz.  hebd. 
de  med.  et  de  chir.  1878  Nr.  8.  Hier  Nachweis  der  vesalischen  Figuren.  Cit. 
Roth  a.  a.  0.  S.  250. 

")  Vgl.  Opera,  zum  Schluss. 

^)  *(J.  Riolan  d.  J.),  Curieuses  recherches  sur  les  escholes  en  medecine.  de 
Paris,  et  de  Montpellier,  Par.,  Meturas  1651,  291p.;  Astruc  (Jean),  Memoires  pour 
servir  ä  l'hist.  de  la  faculte  de  med.  Montp.  Rev.  et  pnbl.  p.  Lorry,  Par.  1767,  4. 
Die  Herrschaft  kam  Ende  des  13.  Jh.  an  die  Könige  von  Majorka  u.  erst  1350  an 
Frankreich. 

2)  Gegründet  1289. 


Geschichte  der  Anatomie.  209 

Seinen  1304  in  Montpellier  gehaltenen  Schulvortrag  über  Anatomie 
hat  nach  der  Berliner  Hs.  zum  erstenmal  Pagel  herausgegeben.  *)  Sie 
ist  dem  Ursprung  nach  unter  Einfluss  der  italienischen  Chirurgen 
Borgognoni  und  Lanfranchi  entstanden,  dem  Wesen  nach  ein  Auszug 
aus  Avicenna.  Als  Lehrbehelfe  verwendet  er  13  Abbildungen,  ^)  wahr- 
scheinlich auch  Modelle,  wenigstens  beschreibt  er  ein  Schädelmodell 
zu  Lehrzwecken.**)  Bei  Henri  begegnen  uns  die  ersten  mittelalter- 
lichen Mittel  für  den  Anschauungsunterricht  in  der  Anatomie. 
Seine  anatomischen  ünterrichtstafeln  haben  sich  nicht  erhalten,  doch 
lassen  sie  sich  aus  den  Handschriften  rekonstruieren: 

1.  Vorderansicht  eines  Menschen.  Knochen,  Knorpel,  Ligamente,  Ge- 
lenke. An  den  Gliedmassen  die  Nerven,  Sehnen  und  Muskeln.  2.  Rück- 
ansicht wie  Nr.  1  nebst  Darstellung  der  Rückgratsnerven.  3.  Gefässverlaof 
in  der  Brust-  und  Bauchhöhle.  4.  Ein  Mann,  der  seine  abgezogene  Haut 
an  einem  Stocke  über  der  Schulter  trägt.  Darstellung  des  Unterhautfett- 
gewebes. 5.  Situsbild,  Rückansicht  des  Gehirns  und  der  Hirnhäute,  des 
Brust-  und  des  Bauchfells.  6.  TJebersicht  des  Zentralnervensystems.  7.  Schädel 
von  oben  betrachtet.  8.  Schädel,  Seitenansicht.  9.  Medianschnitt  durch 
den  Körper,  Situs  viscerum.  10.  Das  Auge.  11.  Situs  viscerum,  Rück- 
ansicht.     12.  Das  TJrogenitalsystem  des  Mannes.      13.  Das  des  Weibes. 

Die  angeblich  aus  dem  J.  1340  stammenden  Statuten  schreiben 
den  Prokuratoren  der  Magister  die  Fürsorge  für  Autopsien  vor.  Das 
erste  Privilegium  auf  solche  stammt  jedoch  nach  Astruc  aus  dem 
J.  1376  oder  1377. "')  Den  regen  Anteil  der  Chirurgen  an  der  Ana- 
tomie bekundet  der  astrologisch  angehauchte  Schüler  des  Bertrucci 
Guy  de  Chauliac  (geb.  kurz  vor  1300,  zuletzt  Leibarzt  der  Päpste 
Clemens  VI,  Innocenz  VI,  Urban  V,  1342—62).  Der  erste  der  8  Teile 
seiner  Chirurgie  umfasst  einen  kurzen  Abriss  der  Anatomie.  Er  er- 
weist sich  darin  als  Kenner  der  Literatur,  der  seinen  Vorgängern 
manchen  Irrtum  aus  der  Autopsie  nachweist.  Seine  Anatomie  ist  bis 
in  das  16.  Jahrhundert  für  Montpellier  ebenso  zum  Schulbuch  ge- 
worden me  die  des  Mondino  für  Italien.*)  Johannes  a  Torna- 
mira  (Arzt  der  Päpste  Gregor  XL  und  Clemens  VII.,  1370-78) 
scheint  auch  das  Balsamierungsverfahren  geübt  zu  haben.  ^)  Der 
drittberühmte  Chirurg  von  Montp.,  Laurent  Joubert  (16.  Dez. 
1529  bis  21.  Okt.  1583),  hat  sich  u.  a.  durch  Herausgabe  der  Chirurgie 
des  Guy  de  Chauliac  verdient  gemacht.  '**) 

Ein  anatomisches  Theater  wurde  hier  erst  durch  G u i  1  - 
laume  Rondelet  (1507—1566)  im  J.  1556  errichtet,  ßondelet,  ein 
Schüler  des  Günther  von  Andernach,  ist  besonders  durch  seine  ichthyo- 
logischen  und  botanischen   Arbeiten   bekannt.     Ueber    die   für    die 


*)  Gordons  Lilium   medicine  ist  datiert  vom  Juli  1305,  im  20.  Jahr  der  Lehr- 

iitigkeit,    also   beinahe    gleichaltrig:  mit  Henris   Schul  vertrag.     Dem  Lilium   war 

rangegangen  der  Liber  de  prognosticis,  welcher  aber  in  der  Ausg.  des  Gordon  L.  B. 

>T4   erst   zum  Schluss   angeführt   ist.     Vgl.   *Bernardi   Gordoni   opus   L.  B.   1574 

iioemium  u.  den  Eingang  zum  Lilium. 

*)  *Pagel,  Die  Anatomie  des  Heinrich  von  Mondeville,  Berl.,  Reimer  1889,  79  S. 
*)  Guy  de  Chauliac,  Chir.  tr.  I  doct.  1,  c.  1. 
«)  1.  c.  p.  26. 

')  Bestätigungen  von  1377,  1396,  1484,  1496. 
'')  Berengar.  Comment.  1521,  p.  171a. 
*)  M.  Donatus,  cit.  bei  Roth  a.  a.  0.  S.  12. 
^°)  *Chirurgia  magna  Guidonis  de  Gauliaco,  Lugd.  1585. 
Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  14 


210  Robert  Ritter  von  Töply. 

Zeit  ziemlich  häufigen  Leichensektionen  berichtet  Felix  Platter.  Im 
Ganzen  beschreibt  er  vom  14.  Novb.  1552  bis  10.  Jan.  1557  eil 
Sektionen,  überdies  die  Zergliederung  eines  Affen,  welcher  Rondelet, 
wie  auch  sonst  öfter  präsidierte,  während  ein  Barbier  die  Sektion  vor- 
zunehmen pflegte.  Am  5.  Februar  1556  fand  schon  das  erste  Schau- 
spiel im  neuen  „theatrum  collegii"  statt.  Es  wurden  gleich 
2  Sektionen  zur  selben  Zeit  vorgenommen,  und  zwar  die  eines  jungen 
Mädchens  und  die  einer  jungen  Frau. 


England. 

Die  Kenntnis  der  Anatomie  dürfte  schon  anfangs  des  14.  Jahr- 
hunderts und  zwar  direkt  durch  Henri  de  Mondeville  hier  eingefülirt 
worden  sein.  Wenigstens  hat  J.  F.  Payne  vor  einigen  Jahren  die 
englische  Handschrift  eines  Ungenannten  aus  dem  J.  1392 
entdeckt, ')  der  sich  zwar  als  Schüler  des  Lanfranchi  bekennt,  jedoch 
in  der  ausführlich  in  drei  Abschnitten  wiedergegebenen  Anatomie 
sowol  in  der  Anordnung  des  Stoffs  als  auch  im  Ausdruck  nicht  an 
Lanfranchi,  sondern  an  Henri  de  Mondeville  eng  sich  anlehnt.  Mit 
dieser  Entdeckung  schwindet  die  bisher  gegoltene  Priorität  des 
Chirurgen  Thomas  Vicary  (geb.  um  1490/1500,.  gest.  zwischen 
Sept.  1561  bis  7.  April  1562),-)  denn  die  Textvergleichung  ergiebt, 
dass  der  Anatomie  des  Vicary  vom  J.  1548  jene  Hs.  zu  Grunde  liegt. 
Daraus  geht  übrigens  auch  hervor,  dass  der  Einfluss  des  Henri  de 
Mondeville  sich  hier  bis  in  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  erhalten  hat. 
In  die  Zeit  des  Vicary  fällt  die  Erlaubnis  Heinrichs  VIII.  für  die 
Barbierchirurgen  vom  J.  1540  zu  jährlich  vier  Zergliederungen  von 
Leichen  hingerichteter  Verbrecher.  Dieselbe  Erlaubnis  erhielt  die 
„Gesellschaft  der  Aerzte"  (gegründet  1518  von  Thomas  Linacre  als 
College  of  Physicians)  von  der  Königin  Elisabeth  im  J.  1563. 


Spanien.^) 

Fernando  III  el  Santo  soll  bereits  i.  J.  1290  an  der  Universität 
in  Palencia  eine  Lehrkanzel  der  Anatomie  für  Chirurgen  errichtet 
haben,  welche  später  durch  den  König  Alonso  el  Säbio  nach  Sala- 
manca  übertragen  wurde.  Diese  Angabe  des  Suärez  de  Ribera  und 
Adveva  (18.  Jahrh.)  sind  jedoch  nicht  glaubwürdig.  Im  Hospital  de 
Ntra.  Sra.  de  Guadalupe  zu  Extremadura  (gegr.  1322)  haben  die 
Aerzte  mit  päpstlicher  Erlaubnis  Leichensektionen  vorgenommen,  aller- 
dings mehr  zu  Zwecken  einer  Erkenntnis  der  Todesursache  als  zur 
Erkenntnis  der  normalen  Anatomie.  Urkundlich  nachweisbar  ist,  dass 
durch  einen  Auftrag  des  Königs  Juan  I.  von  Aragon  vom  3.  Juni 
1391  der  Magistrat  angewiesen  wurde,  der  Universität  zu  Lerida 


^)  *The  Anatomie  of  tlie  bodie  of  men  by  Thomas  Vicary.  The  Edit.  of  1548 
as  re-iussed  -in  1577  ed.  by  Fred.  J.  Furnivall  and  PercyFurnival,  P.  I, 
Lond.  1888,  8",  336  p.    Early  Engl.  Text  Soc.  Extra  Ser.  53. 

■)  *Payne  (J.  F.),  On  an  unpublished  eng.  anatomic.  treatise  of  the  14.  cent. 
Brit.  med.  J.,  Jan.  25th,  1896,  S.A.,  10  S. 

^)  *Garcia  (D.  Victor  Escribano),  La  anatomia  y  los  anatömicos  espanoles  del 
siglo  XVI,  Granada,  J.  L.  Guevara  1902. 


Geschichte  der  Anatomie.  211 

Verbrech erleichen  zu  liefern.  -)  Später,  im  J.  1488,  hat  Ferdinand  der 
Katholische  der  Bruderschaft  von  S.  Cosmas  und  Damian  zu  Zara- 
goza ein  Privileg  auf  Verrichtung  von  Leichensektionen  im  Spital 
erteilt.^)  Obzwar  die  Anatomie  also  auf  ein  ziemliches  Alter  zurück- 
blicken kann,  so  ist  sie  doch  recht  langsam  fortgeschritten,  weil  sie 
in  den  Schuhen  des  Galenismus  stecken  blieb.  Es  ging  hier  ebenso 
wie  in  Italien,  wo  man  mit  der  Waffe  des  Galenismus,  mit  der  man 
den  Arabismus  stürmte,  sich  selbst  schlug.  Der  Galenismus  ward  aus 
dem  benachbarten  Frankreich  herübergetragen.  Ihn  vertritt  vor  allem 
der  vielgereiste  Andres  a  Laguna  (1490 — 1560),  befreundet  mit 
Realdo  Colombo  in  Padua.  Seine  Beschreibungen  sind  voll  emphatischer 
Vergleiche.  Die  ihm  zugeschriebene  Entdeckung  der  Ileocoekalklappe 
bestätigt  sich  nicht.  Der  Katalonier  Loys  Vasseu  kennzeichnet 
sich  auch  äusserlich  als  Schüler  des  von  ihm  verehrten  Jacques  Dubois, 
weil  dieser  den  Arabern  den  Garaus  gemacht  habe.  Seine  Schrift  ist 
eine  tabellarische  Zusammenstellung  der  Anatomie,  ähnlich  wie  des 
Dubois  Ordo  et  ordinis  ratio  in  legendis  Hippocratis  et  Galeni  libris, 
aber  kein  anatomisches  Tafel  werk,  wie  behauptet  wurde.  ^)  Luis 
Lovera  de  Avila  beschreibt  den  Körper  romantisch  als  Mikro- 
kosmos. ^)  Bernardino  Montana  deMonserrat  (geb.  um  1482  83) 
ist  der  bedeutendste  der  älteren  Spanier,  der  erste  unter  ihnen,  der 
sein  Werk  mit,  wenn  auch  rohen,  Abbildungen  (Holz sehn.)  ver- 
sieht. **)  Als  60  jähriger  besuchte  er  noch  die  anatomischen  Vorlesungen 
des  Bakalars  Alfonso  Rodriguez  de  Guevara,  ein  verlöschendes  neben 
einem  aufgehenden  Licht.  —  Bis  1551  hatten  an  den  Universitäten 
zu  Salamanca,  Valladolid,  Valencia,  Granada,  Zaragoza  keine  öffent- 
lichen Autopsien  stattgefunden. 

Deutschland. 

Eröffnungsjahre  der  Universitäten  bezw.  Akademien  bis  zur  Mitte  des 
16.  Jahrhunderts:  Prag  1348,  Wien  1365,  Heidelberg  1386,  Köln  1388, 
Erfurt  1392,  Würzburg  1402/10.  Leipzig  1409,  Rostock  1419,  Greifswald 
1456,  Freiburg  i.  B.  1457  60,  '  Basel  1460,  Lüneburg  1471,  Trier  und 
Ingolstadt  1472,  Tübingen  und  Mainz  1477,  Wittenberg  1502,  Breslau  1505, 
Frankfurt  a.  0.   1506,  Marburg  1527,  Königsberg  1544. 

Wien. ^)  Die  Universität  war  1365  gegründet,  die  Akten  der 
medizinischen  Fakultät  laufen  aber  erst  seit  6.  Mai  1399.  Die  erste 
„Anatomie"  wurde  den  12.  Februar  1404  feierlich  begangen,  seither 

^  Veröff.  von  Chinchilla  (Anastasio)  in  Siglo  Medico  Jsr.  12  tom.  1  pag.  94, 
vgl.  Gazette  des  Hopit.  1881,  Nr.  54  p.  430. 

')  Mitgeteilt  bei  Morejon  (Antonio  Hemandez),  Hist.  bibliogr.  de  la  mediana 
espafi.  t   I  p.  252. 

*)  Lodovici  Vassaei  Catalannensis  in  anatomen  corp.  hum.  tabulae  quatnor, 
Paris  1540,  *1542  u.  öfter. 

')  Libro  de  Anatomia  1542. 

■)  Libro  de  la  Anothomia  —  con  nna  declaraciö  de  un  snefio  qua  sono  el  Hustrisimo 
-I  nor  Don  Luis  Hurtado  de  Mendoza  Marques  de  Mondejar,  Valladolid  1551,  fol. 

')  *Aschbach  (Jos.  Eitt.  v.),  Gesch.  d.  wiener  Univ..  Wien,  3  Bde.  I  1865, 
ii  1877,  III  1888.  Nachträge  von  Hartl  (Wenzel)  u.  Seh  rauf  (Karl)  I  1,  1898; 
*D.  älteren  Statuten  d.  Wiener  med.  Fakult.,  von  einer  Fakultäts-Kommission,  Wien 
1847,  293  S.;  *Acta  facultat.  med.  univ.  viudob.  herausg.  v.  Schrauf  (Karl),  Wien, 
I  1399-1435,  II  1436-1501.  —  »Schwarz  (Ign.),  Zur  älteren  Gesch.  des  anat. 
Unterrichtes  an  d.  Wiener  Univ.,  Wiener  klin.  Wochenschr.  Nr.  25,  1895,  S.A.,  11  S. 

14* 


212  Robert  Ritter  von  Töply. 

Öfter,  aber  nicht  regelmässig,  obzwar  die  Bakalare  und  Scholaren  der 
Fakultät  am  4.  Dez.  1435  vorgeschlagen  hatten,  jährlich  eine  Ana- 
tomie zu  begehen  und  zwar  einmal  an  einer  männlichen,  ein  andermal 
an  einer  weiblichen  Leiche.  Seit  1416  erfolgte  die  Einladung  zur 
Beteiligung  durch  Thoranschlag.  Die  Beschaffung  einer  Verbrecher- 
leiche, der  Ort  für  die  Durchführung  des  Aktes  bereiteten  viel  Schwierig- 
keit, Zweimal  ereignete  es  sich,  dass  das  justifizierte,  zur  Sektion  be- 
stimmte „suppositum"  wieder  zu  sich  kam  (1441,  1491  j.  Die  gewöhn- 
liche Dauer  einer  „Anatomie"  betrug  3—8  Tage.  Die  Zahl  der 
Anwesenden  muss  bedeutend  gewesen  sein,  denn  1580  macht  Johann 
Aichholz  den  Vorschlag  zur  Errichtung  eines  hölzernen  Theaters  für 
mindest  300  Zuschauer  und  veranschlagt  die  Kosten  eines  solchen  auf 
15 — 20  Gulden.  Das  Personal  einer  Veranstaltung  bestand  im  15.  Jahr- 
hundert gewöhnlich  aus  dem  Superintendenten,  dem  Prokurator  und 
dessen  Adjunkten,  dem  Lektor,  dem  Indikator,  dann  einem 
Chirurgen  als  Incisor  und  einem  anderen  als  dessen  Koadjutor, 
welche  über  Befehl  der  Doktoren  die  vorgeschriebene  Sektion  „pul ehre  et 
subtiliter"  (1444)  ausführen.  Als  Lektor  war  im  15.  Jh.  besonders 
Mag.  Michael  Puff  von  Schrick  beliebt  (Art.  et.  med.  Dr.,  Lektor 
1444,  1447,  1455).  Als  Zuseher  wurden  nebst  den  Fakultätsmitgliedern 
auch  Magister  in  artibus,  Apotheker  und  Chirurgen  zugelassen  (Aus- 
nahmen s.  Acta  facult.).  Die  Erlangung  einer  Verbrecherleiche,  die 
sonstigen  Vorbereitungen,  die  Kosten  machten  viel  Umstände.  So  be- 
trugen die  Einnahmen  bei  der  Veranstaltung  von  1452  zwar  4  Pfund 
2  Schillinge,  die  Ausgaben  aber  2  Schillinge  mehr,  welche  aus  der  Fakul- 
tätskasse bestritten  w^urden.  Diese  Auslagen  betrafen  1  Pf  für  den 
Scharfrichter  und  die  Ausrufer,  das  Uebrige  für  das  Begräbnis,  Linnen, 
eine  Decke,  Schwämme,  Easiermesser,  Schaffein,  Herrichtung  der  Thür, 
Konfekt,  Bier,  Wein.  Die  Sektion  fand  anfänglich  an  verschiedenen 
Orten  statt  (1440  ausserhalb  der  Stadtmauer),  zufolge  Fakultätsbeschluss 
vom  17.  Mai  1452  in  Hinkunft  im  Bibliothekszimmer.  Als  Grundlage 
für  den  theoretischen  Vortrag  in  der  Anatomie,  welche  jedoch  nebst 
der  Chirurgie  erst  im  fünften  Jahrgang  als  ergänzendes  Fach  vor- 
getragen wurde,  galt  Mondino.  -)  Literarisch  hat  sich  das  mittel- 
alterliche Wien  auf  dem  Gebiete  der  Anatomie  nicht  hervorgethan. 
Es  war  gegen  Italien  um  mehr  als  ein  Jahrhundert  zurückgeblieben. 
Dass  Galeazzo  de  S.  Sophia  das  Interesse  für  die  Anatomie  aus  Padua 
her  verpflanzt  habe,  ist  zu  vermuten,  aber  aus  den  Fakultätsakten 
nicht  direkt  zu  erweisen.  Auf  dieser  ältesten  Stufe  erhielt  sich  Wien 
bis  zur  Eeform  durch  Kaiser  Ferdinand  I.  vom  J.  1533,  welche  an 
der  Fakultät  besoldete  Lehrer  anstellte. 

Die  Universitätsstatuten  von  Tübingen  (spätestens  vom  J.  1485) 
bestimmen,  dass  alle  3  oder  4  Jahre  eine  Leiche  nach  dem  Text  des 
Mondino  zergliedert  werde.  In  Leipzig  befand  sich  das  Studium  der 
Anatomie  von  1409 — 1519  auf  einer  tiefen  Stufe,  doch  ist  wenigstens  an 
der  Wende  des  Jahrhunderts  das  Interesse  an  anatomischen  Ab- 
bildungen erwacht.  Solche  liefert  Johann  Peyligk  zu  seinem 
ganz   kurzen  Abriss   der   Anatomie   (1474—1552),^)    dann   Magister 


^)  Stainpaiss  (Martin),  Liber  de  modo  studendi  seu  legendi  in  Medicina, 
Vienn.  1520,  4". 

')  *Corapendium  philosopbiae  naturalis.  II.  Th.  u.  d.  T.  Compendiosa  capitis 
physici  declaratio,  Liptz.  1499  ix.  öfter  bis  1518. 


Geschichte  der  Anatomie.  213 

Magnus  Hundt  (1449 — 1519) in  einem  etwas  umfangreichen  Werke.^) 
Die  originellen  Bilder  Beider  sind  willkürlich  ersonnen,  einige  bei 
Hundt  teils  Kopien  nach  den  Hlustrationen  zu  Mondino  in  der 
Venetianer  Ausgabe  des  Fasciculus  medicine  des  Deutschen  Johannes 
de  Ketham,-^)  teils  dem  Peyligk  entnommen.  •*)  Erst  1519  bestimmt 
der  Lehrplan  der  medizinischen  Fakultät  die  alljährliche  Abhaltung 
einer  „Anatomie".  In  Strassburg  ist  die  erste  Leichenöffnung  ±ür 
das  Jahr  1517  nachweisbar.  Sie  wurde  unter  Anleitung  des  Doktors 
Wendelin  Hock  von  Brackenau  (Doktor  von  Padua)  abgehalten 
und  eine  Abbildung  der  eröffneten  Leiche  in  Holzschnitt  veröffent- 
licht. ^)  Gleichzeitig  hat  der  Wundarzt  Hans  von  Gerszdorff 
(genannt  Schylhans)  in  seinem  Feldbuch  der  Wundarznei  in 
kurzer  Fassung  die  Chirurgie  des  Guy  von  Chaiüiac  aufgenommen, 
auch  anatomische  Abbildungen  und  einen  „Yocabularius  ana- 
tomie"  hinzugethan. **)  —  In  Wittenberg  hielt  Augustin 
Schürf  im  Juli  1526  eine  öffentliche  Anatomie  ab,  er  musste  sich 
jedoch  wegen  des  schlechten  Wetters  auf  den  Kopf  beschränken  (die 
Veranstaltung  fand  also  im  Freien  statt).  Nach  Raumer  (Gesch.  der 
Pädag.  I,  321)  soll  die  Schule  hier  schon  im  J.  1482  von  Sixtus  TV. 
das  Recht  zur  Ausübung  von  Leichensektionen  erhalten  haben.  —  Für 
Basel,  wo  zufolge  Beschluss  vom  J.  1536  jährlich  oder  mindestens 
alle  zwei  Jahre  eine  „Anatomie"  stattfinden  sollte,  ist  eine  von 
Oswald  Beer  verrichtete  Zergliederung  am  9.  Jan.  1531  festgestellt.^)  — 
In  Marburg  ist  der  hauptsächliche  Vertreter  des  Faches  der  viel- 
seitige Johann  Eichmann  ( Jo.  Dryander,  Prof.  in  Marb.  seit  1536, 
gest.  20.  Dez.  1560 1,  ein  Anhänger  des  Galen  und  Gegner  des  Vesal, 
Sein  anatomisches  Hauptwerk  ist  unvollendet  geblieben.  Der  er- 
schienene 1.  Teil  enthält  nur  die  Vorrede,  Tafeln  zur  Anatomie  des 
Kopfs,  eine  tabellarische  Uebersicht  dazu  und  4  Tafeln  zur  Anatomie 
der  Brust.  Nicht  alle  Tafeln  sind  originell,  gleich  die  erste  ist  eine 
Kopie  nach  M.  Hundt.  ^)  —  In  Prag  fanden  die  ersten  drei  wissen- 
schaftlichen Leichenzergliederungen  erst  anfangs  des  17.  Jahrhunderts 
durch  Bemühung  des  Johann  von  Jessen  (*  1566,  enthauptet  1621) 
statt,  und  zwar  am  5.  Juni  1600,  11.  Februar  und  11.  September  1605. 

Anm.  Die  älteste  in  Deutschland  als  Einblattdruck  vervielfältigte 
anatomische  Abbildung  (Holzschnitt)  ist  ein  Skelet  nach  der  Zeichnung 
des  Pariser  Arztes  Eicardus  Heia,  1493  in  Nürnberg  gedruckt  (ver- 
Öffentl.  von  Wieger  a.  a.  0.,  kleiner  aber  genauer  bei  *P  e  t  e  r  s  (Hennann), 
D.  Arzt  u.  d.  Heükunst  in  d.  deutschen  Vergangenheit,  Lpzg.  1900).  Eine 
besondere  Gruppe  für  sich  büden  die  anatomischen  Klappbilder.     Tafeln 

-)  Antropologium.    Liptzck.  1501,  4 ",  120  ff.,  18  figg. 

')  *rasciculus  medicine.    Venet.  1491  u.  öfter,  folio. 

*)  Die  beste  Wiedergabe  der  Abb.  des  Peyligk  u.  Hundt  bei*Stockton-Hough, 
Bibl.  med.  Vol.  1.   Nr.  1.   Jan.  1.  1890.    Trenton,  New  Jersey. 

*)  Verkl.  Kopie  bei  Choulant,  Gesch.  d.  anat.  Abb.  1852,  S.  26. 

•*)  In  der  Auä.  von   1517  eine  im  Text,  zwei  extra.     *Feldtbüh  der  Wimd- 

iftziiey,  Strassb.  1517   u.  öfter.  —  Ueber  die  ersten  anatom.  Abb.  vergl.  *Wieger 

Friedr.),  Gesch.  d.  Med.  in  Strassb.  vom  J.  1497—1872,  Strassb.  1885;   *Choulant 

Ludwig),  Gesch.  d.  anat.  Abb.,  Leipz.  1852,  Graph.  Incunabeln  f.  Naturg.   u.  Med., 

Leipz.  1858. 

')  M.  Roth,  Beitr.  z.  vaterl.  Gesch.  N.  F.  H,  Bas.  1886,  171.  u.  Andr.  Ves. 
Brux.  1892,  S.  15. 

*)  *Anatomiae,  h.  e.,  corporis  hum.  dissectionis  pars,  prior,  Marp.  1537.  Im  An- 
hang Anat.  Porci  bezw.  Infantis  nach  Copho  bezw.  Gerbi. 


214  Kobert  Ritter  von  Töply. 

zur  Anfertigung  solcher  hat  auch  Vesal  seiner  Hum.  corp.  fabrica  bei- 
gefügt, im  17.  Jahrhundert  hat  Jlemmelin,  im  18.  Hellwig  derartige  zu- 
sammengesetzte Tafeln  herausgegeben .  Im  16.  Jahrhundert  sind  in  Deutsch- 
land mehrere  derartige  Blätter  aus  der  Zeit  der  vorvesalischen  Anatomie 
erschienen,  auch  mit  besonderem  erklärenden  Text  in  Buchform.  (Ein 
solcher  ist  *Au8legung  und  Beschreibung  der  Anathomy  —  Strassb.,  Job. 
Froelich  1544,   14  Bl.,  4».) 

Das  nördliche  Europa. 

lag  in  Beziehung  auf  Kenntnis  des  Menschen  bis  in  die  Mitte  des 
16.  Jahrhunderts  im  tiefen  Schlaf.  Vesal  berichtet,  dass  die  Aerzte 
zu  Löwen  um  1518  von  der  Anatomie  nicht  einmal  geträumt  haben. 
Hier  bedurfte  es  eines  Stürmers  und  Drängers,  und  das  war  Andreas 
Vesal. 


Neuzeit. 

Inhalt.  Einkitung.  Die  Refm-mation  der  Anatomie.  Spanien.  Italien. 
Niederlande.  Dänemark.  England.  Deutschland.  Frankreich.  Schweden.  Russ- 
land.    Amerika.    Japan.     China. 

Einleitung. 

Die  aus  Zergliederungen  von  Tieren  gewonnenen  anatomischen 
Kenntnisse  der  Griechen  hatten  sich  als  fiktive  Anatomie  in  der 
Ueberlieferung  der  Araber  erhalten,  sie  waren  dann  durch  lateinische 
Uebersetzungen  aus  dem  Arabischen  bezw.  aus  dem  Persischen  zur 
Kenntnis  Europas  gelangt  und  galten  dort  so  lange  für  bare  Münze, 
als  die  Verhältnisse  eine  Kontrolle  an  Menschenleichen  nicht  zuliessen. 
Das  klassische  Objekt  der  mittelalterlichen  Anatomie,  das  Schwein, 
spielt  seit  dem  Ende  des  11.  Jahrhunderts  bis  zum  Anfang  des 
14.  die  geradezu  ausschliessliche  Rolle  beim  praktischen  Unter- 
richt, aushilfsweise  wird  es  noch  im  16.  Jahrhundert  und  darüber 
hinaus  verwendet.^)  Die  um  das  J.  1300  in  Italien  aufgekommene 
Eröffnung  von  Verbrecherl eichen,  die  daran  sich  anschliessende  Not- 
wendigkeit der  Errichtung  von  —  anfangs  fallweise  aufgestellten, 
später  für  die  Dauer  gebauten  —  anatomischen  Theatern  hatte  ein 
eingehenderes  Studium  ermöglicht.  Aber  die  den  Arabern  folgenden 
Lehrer,  die  sog.  Arabisten,  hielten  anfangs  dennoch  zähe  an  der  über- 
lieferten Tradition  fest,  was  ja  um  so  leichter  war,  als  die  Sektionen 
vorläufig  nicht  allzu  oft  stattfanden,  da  die  Gelegenheit  dazu  sich 
oft  viele  Jahre  hindurch  nicht  bot,  das  Schauspiel  sich  nur  auf  die 
Eröffnung  der  Körperhöhlen  beschränkte  und  überdies  der  Univer- 
sitätslehrer selbst  nur  selten  praktisch  eingriff,  nur  die  theoretische 


^)  Abb.  des  am  Secierbrett  befestigten  Schweins  bei  Vesal,  H.  c.  fabrica  1555 
pag.  822.  Sektion  des  Schweins  von  Putti  vorgenommen  in  der  reizenden  Initiale  Q 
(im  Quadrat  von  75  ram  Seitenlänge)  das.  p.  255,  708.  Gegenseitige  Kopie  des 
Schweins  am  Secierbrett  bei  Valverde  T.  III  lib.  V  fig.  XXI,  ebenso  am  Titelbl. 
zu  Bauhin  Theatr.  anat.  1621.  Das  Schwein  als  allegor.  Figur  mit  einem  Affeu 
als  Gegenstück  auf  den  Titelblättern  zu  Valverde  Anat.  1560  (abgeb.  bei  Duval 
et  Cuyer  a.  a.  0.  p.  121),  1586  (in  meinem  Besitz). 


Geschichte  der  Anatomie.  215 

Erläuterung  lieferte,  die  Durchführung  der  Sektion  aber  einem  Chi- 
rurgen und  den  Hinweis  auf  das  Erläuterte  dem  Demonstrator  über- 
liess.-)  Eine  wesentliche  Umgestaltung  dieser  Verhältnisse  bewirkte 
die  Erfindung  der  Buchdruckerkunst.  Sie  hat  gleich  in  den  ersten 
Jahrzehnten  mit  ihren  1574  Inkunabeldrucken  medizinischen  Inhalts  ^) 
eine  gewaltige  Umwälzung  der  Geistesthätigkeit  insofern  hervor- 
gerufen, als  sie  einen  schnelleren  Gedankenaustausch,  ein  umfang- 
reicheres Erfassen  und  Vergleichen  des  bisher  Geleisteten  ermöglichte 
und  dadurch  Anlass  zu  neuem  Schaffen  gab.  Nachdem  dann  mit  dem 
Wiedererwachen  der  Geister  der  Humanismus  eingezogen  war  und  in 
raschem  Ansturm  die  bisherigen  Autoritäten  vernichtet  hatte,  stand 
eine  neue  freie  Entfaltung  der  schlummernden  Kräfte  in  Aussicht. 
Aber  so  wie  schon  manche  Revolution  zu  einer  Eestaui-ation  geführt 
hatte,  so  verfiel  auch  der  Humanismus  in  einen  Rückschlag,  der  in 
Form  des  starren  Galenismus  die  Lebenski-aft  der  wenigen  neuen 
Errungenschaften  gefährlich  bedrohte.  Man  pflegt  die  am  Ende  des 
15.  und  anfangs  des  16.  Jahrhunderts  an  der  Umgestaltung  der  alten 
Richtung  beteiligten  Männer  hie  und  da  als  Reformatoren  hinzustellen. 
Mit  nichten.  Nicht  jede  neue  Form  ist  eine  Reform  im  fortschritt- 
lichen Sinne.  Der  Eklektiker  Benedetti.  sowie  Leoniceno  in 
Italien.  Brissot,  Copus,  Günther  von  Andernach,  Dubois 
Jacobus  Sylvius)  in  Paris,  Hagenbut  (Janus  Comarius)  und 
Fuchs  in  Deutschland,  voran  als  Phalanx  die  von  Hagenbut  enthu- 
siastisch erwähnte  ..Neue  galenische  florentiner  Akademie"  mit 
PietroFrancescoPaolo.LeonardoGiachinoan  der  Spitze  *) 
haben  im  Uebereifer  den  Teufel  unbedenklich  durch  Beelzebub  aus- 
getrieben, und  beiläufig  Aehnliches  erreicht,  wie  ungefähr  zur  selben 
Zeit  auf  anderem  Gebiete  Wittenberg,  das  schliesslich  im  Luthertum 


-)  Eine  klassische  Darstellung'  als  Holzschnittülustration  zn  der  Anatomie  des 
Mondino  de"  Luzzi  im  Fasciculos  medicine  des  Ketham  (Johannes  de),  Venet. 
1493  u.  f.:  kleinere  bei  Berengar  da  Carpi  im  Titel  der  Commentaria  .  .  super 
anat.  Mundini  1521,  wiederholt  als  Titel  zu  den  Isagogae  1523,  etwas  geändert  u. 
vergrössert  in  der  Ausg.  von  1535.  Kopie  der  letzteren  bei  Choulant,  Gesch.  d. 
anat.  Abb.  Aelteste  Darstellung  einer  mittelalterl.  Anat.  in  einer  Hs.  zu  Montpellier 
a.  d.  14.  Jahrb.,  wiedergegeben  bei  Nicaise  (E.)  Guy  de  Chauliac,  Paris  1890,  PI. 
m  p.  25.  Grössere  Darstellungen  aus  späterer  Zeit  als  Titel  zu  Vesals  Fabrica 
(Holzschnitt)  u.  als  Titelillustration  zu  Paanw,  Succenturiatus  anatomicus  (Kupfer- 
stich), kleinere  wiederholt  als  Titelschmuck  bis  ins  18.  Jahrb.  Abbildungen  des 
anatomischen  Theaters  in  Altdorf:  „Theatrum  Altdorflnnm  Mauritio  Hof fm anno 
Anatomico  Publ.  Extr.  A.  C.  1659".  Kupferst.  von  Pnschner  repr.  bei  Peters 
(Herrn),  Der  Arzt,  Leipz.  1900,  S.  99,  Abb.  110:  „Das  Theatrum  Anatomicum  in  dem 
Collegio  zu  .\ltdorf-',  Kpfr.  von  Puschner  repr.  bei  Reicke  (Emil),  Lehrer  u. 
Unterrichtswesen,  Leipz.  1901,  S.  125,  Abb.  109.  Ueber  die  Abbildungen  der  anat 
Theater  in  Padua,  Kopenhagen,  Leyden,  vgl.  die  Anmerkungen  zu  den  Kapiteln 
Vesal,  Bartholin,  Paauw,  überdies:  Anatomiesaal  zn  Leyden,  Kpfr.  von 
Swanenburg  (W.)  nach  Woudanus  (J.  C.)  1610,  repr.  bei  Peters  a.  a.  0. 
"  98,  Abb.  109.  —  Skizze  zweier  Männer  bei  einer  Leichensektion  von  M ic bel- 
üge lo  in  Oxford,  Coli.  Taylor,  nach  Photogr.  von  Braun  bei  Duval-Cnyer, 
nat.  plast.,  Par.  1898,  p.  61,  fig.  8. 

')  Verz.  bei  *Stockton-Hough,  Incnnabnla  medica.  Trentoni  in  Novo- 
aesarea  1890,  4». 

*)  Roth,  Andr.  Vesal,  Brux.  S.  36  Anm.  2  erwähnt,  es  sei  ihm  Genaueres 
.iber  diesen  Galenbnnd  nicht  bekannt.  Thatsächlich  sind  die  *Xovae  academiae 
florentinae  opuscula  (Venet.  1533.  8^  47  fol.)  auch  von  Haeser  nicht  gewürdig^t 
worden,  wie  überhaupt  eine  eingehendere  mit  den  gleichzeitigen  Kultnrverhältnissen 
vertraute  Darstellung  des  Uebergangs  aus  dem  Arabismus  zur  neueren  Zeit  noch 
ausständig  ist.    Wertvolle  kritische  Beiträge  liefert  Roth  a.  a.  0. 


216  Robert  Ritter  von  Töply. 

erstarrt,  bald  aufgehört  hatte,  eine  lebendige  Kraft  zu  sein  und  zur 
Zuchtrute  für  kirchlich  freier  sich  entwickelnde  Köpfe  wurde."^)  Indes 
gab  es  daneben  noch  immer  so  manche,  wie  die  Anatomen  Achillini, 
Berengar  da  Carpiu.  a.  die  sich  von  dem  einseitigen  Galenismus 
nicht  unbedingt  fortreissen  Hessen  und  so  jene  wahrhafte  Eeformation 
der  Anatomie  vorbereiteten,  die  an  Ort  und  Stelle  von  Vesal, 
Falloppia, Eustachi  durchgeführt  wurde.  Je  nach  dem  jeweiligen 
Kulturzustande  irgend  eines  Landes  entwickelte  sich  nun  die  Ana- 
tomie bald  hier,  bald  dort,  allerdings  jahrhundertelang  noch  behindert 
durch  die  Schwierigkeit  der  Leichenbeschaffung.  Die  Begründung 
der  vergleichenden  Anatomie  durch  Severino  (Mark  Aurel) <*)  führte 
sie  auf  neue  Wege,  die  Entdeckung  der  Chylusgefässe  durch  A  s  e  1 1  i  o 
in  Italien,  die  des  Blutkreislaufs  durch  Harvey  in  England,  die  Er- 
findung einer  vervollkommneten  Injektionstechnik  durch  Swammer- 
dam  in  Holland  gab  ihr  im  17.  Jahrhundert  eine  neue  Richtung, 
die  schliesslich  am  Ende  des  18.  die  Höhe  der  Vollkommenheit  er- 
reicht zu  haben  schien. 

Indessen  hatten  aber,  wie  so  oft,  technische  Erfindungen  auch 
auf  die  Vertiefung  des  Wissens  ihren  Einfluss  geübt.  Neben  dem 
einfachen  Mikroskop,  das  in  den  zahlreichen  Beobachtungen  eines 
Leeuwe nhoek  (1632 — 1723)  seine  Triumphe  gefeiert  hatte,  war  im 
17.  Jahrhundert  das  zusammengesetzte  Mikroskop  aufgetreten.  Wenn 
dessen  Leistungsfähigkeit  bis  zur  Einführung  des  ersten  wirklichen 
achromatischen  Objektivs  (Buldsnyder  1791)  und  noch  eine  Zeit- 
lang darüber  hinaus  nur  gering  war,  dementsprechend  auch  die  Er- 
rungenschaften der  Anatomie  auf  mikroskopischem  Gebiete  bis  zum 
Schluss  des  18.  Jahrhunderts  nicht  als  wesentlich  bezeichnet  werden 
können,  so  gab  doch  diese  Beschäftigung  mit  den  Gegenständen  der 
Mikroskopie  Anlass  zur  Vervollkommnung  —  man  könnte  beinahe  sagen 
zur  Erschliessung  —  zweier  neuer  vervollständigender  Eichtungen, 
das  ist  die  Embryologie  und  die  Histologie.  Beide  sind  im  19.  Jahr- 
hundert zu  selbständigen  Wissenszweigen  herangewachsen  und  haben 
durch  Einbeziehung  biogenetischer  Fragen  eine  über  den  ursprüng- 
lichen Umfang  hinausreichende  Tragweite  angenommen. 

Embryologie.  Der  eigentliche  Schöpfer  der  Embryologie  ist  W o  1  f f 
(Casp.  Priedr.,  *  1735,  f  1794).  Seine  „Theoria  generationis,  1759"  war 
jedoch  durch  Haller,  der  die  alte  Einschachtelungstheorie  vertrat,  mundtot 
gemacht  worden,  bis  Meckel  (J.  F.)  sie  1812  durch  TJebersetzuug  ins 
Deutsche  wider  ans  Tageslicht  zog.  Durch  Döllinger  (Ignaz,  *  1770, 
•f  1841)  angeregt,  hatte  kurz  vorher  Oken  (Lorenz,  *  1779,  f  1851)  selb- 
ständig den  von  Wolff  angegebenen  richtigen  Weg  eingeschlagen  und  in 
Kies  er  (Dietr.  Georg,  *  1779,  -f  1862)  einen  würdigen  Mitarbeiter  ge- 
funden. Die  seither  sehr  schnell  aufblühende  Embryologie  gelangte  nun 
zur  Geltung  besonders  in  Deutschland  durch  Bär  (Karl  Ernst  von,  *  1792, 
t  1876),  Rathke  (Mart.  Heinr.,  *  1793,  f  1860),  Fand  er  (Chr.,  *  1794J 
t  1865),  Bischoff  (Theod.  Ludw.  Wüh.,  *  1807,  f  1882),  Reichert 
(Karl  Bogisl.,  *  1811,  f  1883),  Remak  (Rob.,  *  1815,  f  1865),  Vogt 
(Carl,  *  1817,  f  1895),  Kölliker  (Rud.  Albert,  *  1817),  Kupffer  (Karl 
Wilh.,  *  1829,  t  1902),  His  (Wilh.,  *  1831).     Die  von  ihnen  gesammelten 


*)  Vgl.  *Gurlitt  (Cornelius),   Die  Lutherstadt  Wittenberg,  Berlin,  Jul.  Band 
1902.  8°. 

*)  *Zootomia  democritea,  Norimb.  1645,  4**,  C.  fig. 


Geschichte  der  Anatomie.  217 

Thatsachen  fanden  im  letzten  Viertel  des  19.  Jahrhunderts  eine  neue  Deutung 
in  der  von  Häckel  (Ernst  Heinr.,  *  1834)  i.  J.  1874  veröffentlichten 
„Gastraeatheorie",  ")  defzufolge  durch  Furchung  der  einen  Eizelle  ein 
kugeliger  Zellenhaufen  (Morula),  aus  diesem  eine  Blase  (Blastula)  und  aus 
letzterer  durch  Einstülpung  die  Gastrula  entsteht.  Dadurch  erklärt  sich 
der  ürmund,  der  Urdarm,  die  Keimhöhle,  die  FuLrchungshöhle,  die  Ent- 
stehung der  beiden  primären  Keimblätter,  des  äusseren  und  des  inneren. 
Hertwig  (Oscar,  *  1849),  der  die  B,eifung,  Befruchtung  und  erste  Furchung 
des  Eies  an  Seeigel  eiern  direkt  beobachtet  und  1875  (u.  f.)  beschrieben 
hatte,  vervollständigte  die  Grastraeatheorie  durch  die  „Theorie  des  mittleren 
Keimblattes"  und  des  Cöloms  (Leibeshöhle),  wodurch  die  Entstehung  der 
.Chorda  dorsalis-  und  die  der  serösen  Höhlen  (Pleura-,  Pericardial-,  Peri- 
tonealhöhle) erklärt  wird. 

In  eine  neue  Phase  trat  die  Entwicklungsgeschichte  am  Schluss  des 
19.  Jahrhunderts  durch  die  von  ßoux  ("Wilh.,  *1850)  ins  Leben  gerufene 
, Entwicklungsmechanik".  Es  beteiligten  sich  auf  diesem  Gebiete  Hertwig 
(0.),  Drie8ch(H.),  Barfurth  (Dietr.,  *  1849),  Herbst  (C),  Enders 
(H.),  Haacke  (Wilh.).*)  Der  in  den  Jahren  1894  und  97  zwischen 
Hertwig  und  ßoux  entbrannte  Kampf  um  die  Frage  , Präformation 
oder  Epigenesis?"  hat  trotz  der  von  beiden  Seiten  aufgebrachten  umfang- 
reichen Argumente  die  Angelegenheit  endgiltig  nicht  geklärt. 

Neben  diesen  Untersuchungen  veröffentlichte  Weismann  1875  u.  76, 
dann  in  einer  Rede  auf  der  Salzburger  Xaturforscherversammlung  1883 
neue  Gedanken  aus  dem  Kreise  der  Biogenese,  welche  in  der  Unmöglich- 
keit der  Vererbung  erworbener  Eigenschaften  gipfelten,  und  dadurch  mit 
der  von  Darwin  und  Häckel  neu  belebten  und  gestützten  Descendenz- 
lehre  im  Widerspruch  standen.  Die  daran  sich  anschliessenden  auch  weitere 
Kreise  ergreifenden  Erörterungen  und  Auseinandersetzungen  haben  am  Ende 
des  Jahrhunderts  ebenfalls  keinen  befriedigenden  Abschluss  erreicht. 

Die  Histologie  gewann  durch  B i c h a t  (Marie  Fran^ois  Xavier, 
*  1771,  -|-  1802),  insbesonders  in  dessen  „Anatomie  generale  1801*'  eine 
systematische  Grundlage.  ^)  Die  Benennung  „Histologie"  hat  jedoch  erst 
Mayer  (Aug.  Franz  Jos.  Karl,  *  1787  2.  Nov.,  j  1865  9.  Nov.)  i«^) 
i.  J.  1819  eingeführt.  ^**^)  Doch  war  die  Histologie  wegen  der  unzureichen- 
den Stärke  und  des  grossen  Fokus  der  ersten  achromatischen  Objektive 
noch  lange  weit  entfernt  vom  thatsächlichen  Eindringen  in  die  Elemente 
des  tierischen  bezw.  menschlichen  Organismus.  Erst  nachdem  die  Kom- 
bination mehrerer  achromatischer  Glieder  zu  einem  System  den  zusammen- 
gesetzten Mikroskopen  endgiltig  zum  Vorrang  über  dem  einfachen  verholfen 
hatte,  feierte  nach  mehreren  Vorarbeiten  die  Zellenlehre  durch  Schwann 
(Theod.,  *  1810  7.  Dez.,  7  1882  11.  Juni)'!)  <j^rch  dessen  Hauptwerk  1839 
den  Einzug.     In    den    folgenden   60  Jahren    des    19.  Jahrhunderts    ist    die 


")  Jenaische  Zeitschr.  Bd.  Vm,  1874. 

*)  *Haacke  (Wilh.),  Gnmdr.  der  Entwicklnngsmechanik,  ni.  143  Fig.,  Leipz. 
1897,  8«,  398  S.    Mit  Literaturühersicht  S.  368-93. 

•)  Neueste  Ausg.  *Xavier  Bichat,  Anat.  generale  appliquee  ä  la  physiol. 
et  ä  la  med.,  Paris  I.  p.  1900,  8«»,  525  p.,  2.  p.  1901.  8°,  604  p. 

'"•)  In  Bern  1813  Prosektor,  1815  Prof.  d.  Anat.  n.  Physiol.,  in  Bonn  1819— 56, 
Vorgänger  von  M.  Schnitze  u.  Helmholtz. 

^"*^)  üeb.  Histologie  u.  eine  neue  Eintheilnng  der  Gewebe  des 
menschl.  Körpers,  Bonn  1819,  8". 

'*)  Aus  der  Schule  von  Joh.  Müller  hervorgegangen,  1839  als  Windischmanns 
Nafhf.  Prof.  d.  Anat.  in  Löwen,  1848-80  Prof.  d.  Physiol.  u.  vergl.  Anat.  in  Lüttich. 


218  Robert  Ritter  von  Töply. 

Zelle  ein  Gegenstand  eingehendster  Forschungen  geblieben,  welche  beinahe 
bis  an  die  Thore  des  Lebensbeginns  geführt  haben. 

Nachdem  Raspail  sowie  Dutrochet,  welche  den  Namen  „Zelle" 
schon  gebraucht  haben,  dann  Treviranus,  Fr.  Arnold,  J.  Müller, 
Henle,  Purkinje  die  Elemente  der  tierischen  Grewebe  gesehen  und  be- 
schrieben hatten  und  der  Zellkern  (bei  Orchideen)  von  R.  Brown  1831 
entdeckt  worden  war,  begründete  Theodor  Schwann  (*  1810,  -j-  1882; 
als  Anatom  seit  1839  Nachfolger  von  Windischmann  in  Löwen,  1848 — 
80  in  Lüttich)  die  tierische  Zellenlehre,  damit  auch  die  moderne  Biologie. 
Seine  hervorragendsten  anatomischen  Entdeckungen  (Nagelzellen,  Feder- 
zellen, die  sog,  G  0  m  e  s  sehen  Zahnfasern,  die  Kerne  der  glatten  und  ge- 
streiften Muskelfasern,  der  sichere  Nachweis  der  schon  von  Prochaska 
gesehenen  sogen.  Schwannschen  Scheide  der  Nervenfasern)  wurden  teilweise 
schon  1838  (in  Frorieps  Neuen  Notizen)  veröffentlicht.  Sein  Hauptwerk 
enthält  die  Grundzüge  der  jetzigen  Zellenlehre. 

Schwanns  Hypothese  von  der  „freien  Zellenbildung"  hat  sich  jedoch 
bald  als  unhaltbar  erwiesen,  nachdem  Robert  Remak  (Berlin,  *  1815, 
t  1865)  i.  J.  1841  und  Rudolf  Virchow  (Berlin,  *  1821,  f  1902) 
i.  J.  1857  einzelne  Fälle  von  miotischer  Zellteilung  beschrieben  hatte. 
Durch  Remaks  weitere  Arbeiten  (Unters,  üb.  d.  Entwickelung  der  Wirbel- 
thiere,  ]  855)  ward  der  Satz  gestützt,  dass  das  Wachstum  der  Gewebe  all- 
gemein und  gewöhnlich  auf  Zellvermehrung  durch  Zellteilung  beruht.  An 
der  Ausarbeitung  dieser  Lehre  haben  sich  Oellacher,  Hermann  Fol, 
O.  Bütschli,  Walther  Flemming,  Auerbach  beteiligt,  doch  hat 
sich  des  Letzteren  Lehre  von  der  „Karyolyse"  oder  palingenetischen  Kern- 
vermehrung, d.  i.  dem  morphologischen  Untergang  des  Kerns  bei  dessen 
Teilung  als  unhaltbar  erwiesen.  Das  Wesentlichste  des  Vorgangs  (von 
W.  Flemming  „Mitose"  genannt)  entdeckte  und  beschrieb  der  Zoolog  Ant. 
Schneider  1873  am  Ei  eines  Plattwurms.  Für  die  meist  fadenförmigen 
Kerngebilde,  welche  dabei  eine  Hauptrolle  spielen,  hat  Waldeyer  den 
Ausdruck  „Chromosomen"  eingeführt.  Die  Centralkörper,  welche  als  Be- 
wegungspunkte (kinetische  Centren)  der  Zelle  angesprochen  werden  (vielfach 
auch  „Centrosomen"  genannt)  wurden  1875 — 76  von  Edouard  van 
B  e  n  e  d  e  n  entdeckt,  alsbald  von  B  o  v  e  r  i  bestätigt.  Es  folgte  dann  das 
Werk  von  Strassburger  (Zellbildung  und  Zelltheilung,  1.  Aufl.  Jena  1875, 
später  2  weitere  Aufl.),  welches  homologe  Vorgänge  für  viele  Pflanzenarten 
aufwies.  1875 — 76  beschrieb  den  Teilungsverlauf  W.  Mayzel  an  fixierten 
und  gefärbten  Objekten  (Tritonlarven),  1878  u.  f.  W.  Flemming  sowie 
Peremeschko  am  wachsenden  Tiergewebe  (Salamanderlarve).  Walther 
Flemming  (*  1843,  seit  1876  o.  Prof.  d.  Anat.  in  Kiel)  gab  schliesslich 
1882  in  einem  zusammenfassenden  Werke  auch  eine  Geschichte  des  Gegen- 
standes (Kap.  26). 

Die  nächstwichtigen  Untersuchungen  veröffentlichte  Edouard  van 
Beneden  (*  1846,  -f  1894,  Prof.  zu  Lüttich,  mit  Ch.  van  Bambeke  seit 
1880  Herausgeber  der  „Archives  de  biologie")  i.  J.  1883  und  1887  mit 
Neyt  (angestellt  am  Ei  von  Ascaris  megalocephala),  indem  er  das  Ver- 
halten der  Fäden  zu  den  Tochterkernen  beschrieb.  Die  Morphologie  der 
Centralspindel  bearbeitete  dann  L.  Drüner  i.  J.  1894,  wobei  er  die 
Wirkung  der  Spindelfasem  als  eine  Art  von  Hemmwirkung  auffasste. 

Die  Ursachen  und  der  Mechanismus  der  Mitose  sind  jedoch  bis  zum 
Schlüsse  des  19.  Jahrhunderts  in  befriedigender  Weise  nicht  aufgeklärt 
worden. 

Daneben    wurde    auch    der  weitaus    seltenere  Weg   der  Zellteilung  (oft 


Geschichte  der  Auatomie.  219 

nur  der  Kernteilung  in  ein  und  derselben  Zelle)  mittelst  direkter  Durch- 
schnürung  (A  m  i  t  o  s  e  ,  Zellteilung  mit  Kernteilung  ohne  Mitose,  sogenannte 
Eemaksche,  einfache  oder  direkte  Kernteilung),  hauptsächlich  von  Julius 
Arnold  (*  1835,  seit  1866  Prof.  d.  pathol.  Anat.  in  Heidelberg,  auf 
histologischem  Gebiete  vielfach  thätig)  studiert,  und  nachgewiesen,  dass  die 
Kemzerlegung  dabei  nicht  so  einfach  ist,  wie  sie  Eemak  ursprünglich  und 
zwar  irrtümlich  für  die  Kernteilung  überhaupt  angenommen  hatte. 

Schtvann  {Th.).  Mikrosk.  Untersuchungen  üb.  d.  Uebei'einstimmiing  in  d. 
Structur  n.  d.  Wachsthum  der  Jhiere  u.  Pflanzen,  Berl.  1839,  m.  4  Taf. ;  Heiden- 
hdin  CJ/.),  Schieiden.  Schwann   u.  d.  Gewebelehre.    Sitzungsber.  d.  phys.  med.  Ges. 

Wärzb.,  S.  16,  1899.  —  Hertivig  (0.).  D.  Zelle  u.  d.  Gewebe,  Jena  1892.  M.  Abb. 
—  Bergh  {R.  S.).  Vorlesungen  üb.  d.  Zelle  h.  d.  einfachen  Getcebe  des  tier.  Körpers, 

Wiesb.  1894.  M.  188  Fig.  —  Flemming  iW),  Zellsubstanz.  Kern-  und  Zell- 
theilung.  Leipz.  1882:  Flemniing  {W.).  Ueb.  Zellteilung  in:  Deutsche  Med.  i. 
19.  Jahrh.  Säcular-Artikel  der  Berl.  Min.  Wochschr.  herausg.  von  Ewald  u.  Posner, 
I.  Bd.,  Berl.  1901. 

Obzwar  die  ersten  Arbeiten  über  die  Zellsubstanz,  die  Kern-  und  Zell- 
teilung noch  in  die  Zeit  einer  relativ  unvollkommenen  Technik  fallen,  so 
wurde  die  Feststellung  der  feineren  Einzelheiten,  wie  überhaupt  das  be- 
wunderungswürdig rasche  Emporblühen  der  Histologie  erst  durch  die  nam- 
hafte Verbesserung  der  technischen  Arbeitsmittel  ermöglicht.  Dahin  gehört 
die  Begründung  der  mikroskopischen  Färberei  und  zwar  anfangs  der  Karmin- 
färbung durch  Gerlach  d.  Aelt.  (Jos.  von,  *  1820  3.  Apr ,  j  1896 
17.  Dez.),  ^-*)  die  Einführung  der  Ueberosmiumsäure,  des  Kali  acet.,  Kon- 
struktion der  Wärmetische,  Einführung  der  sog.  physiologischen  Flüssig- 
keiten durch  Schnitze  d.  J.  (Max  Joh.  Sigism.,  *  1825  25.  März,  -^  1874 
16.  Jan.),  ^■^^)  das  Beizfärbeverfahren  von  Weigert  (Karl,  *  1845,  seit 
1884  Prof.  der  path.  Anat,  in  Frankf.  a.  M.),  die  Untersuchungsmethoden 
von  Golgi  (Camillo,  *  1844),  Ramön  y  Cajal  (Santiago,  *  1852),  die 
Färbung    in  vivo  mittels  Methylenblau    durch  Ehrlich  (Paul.    *   1854),^*) 


^'*)  1850—91  in  Erlangen  Prof.  d.  Anat.,  überdies  bis  1865  der  path.  Anat.,  bis 
1872  der  Physiol.  '2") 

^^'')  Als  Gründungsjahr  der  Kanninfärbung  gilt  1858.  Vgl.  Gerlach  (J.  v.), 
Mikrosk.  Studien  a.  d.  Gebiete  der  menschl.  Morphologie,  Erlang.  1858.  Doch  hat 
Gerlach  schon  1847  die  Kapillären  mit  Karminammonium-Gelatinmasse  injizirt.  Für 
die  Entwicklung  der  photogr.  Methodik  ist  besonders  wichtig  Gerlach  (J.  v.),  D. 
Photographie  als  Hilfsmittel  mikroskopischer  Forschung,  Leipz.  1863.  —  Gerlach 
d.  J.  (Leo,  *  1851  23.  Jan..  1874  Assistent  seines  Vaters.  76  Privatdoz.,  79  Prosektor, 
82  Prof.  e.  o.,  91  Prof.  o.  u.  Dir.  d.  anat.  Inst.)  hat  besonders  die  Entstehungsweise 
der  Doppelmissbildungen  bei  den  höheren  Wirbeltieren  bearbeitet. 

^'"j  Schüler  u.  Prosektor  seines  Vaters,  1854  Prof.  e.  o.  in  Halle,  1859 — 74  Dir. 
d.  anat.  Inst,  in  Bonn,  i'*") 

1=^")  Sein  Vater  Schnitze  d.  Aelt.  (Karl  Aug.  Sigism.,  *  1795  1.  Okt.,  t  1877 
28.  Mai:  Schüler  von  J.  Fr.  Meckel,  1818—21  dessen  Prosektor,  dann  o.  Prof.  d. 
Anat.  u.  Physiol.  in  Freib.  i.  Br..  1831—68  in  Greifswald,  hier  bis  59  Dir.  des  anat. 
u.  physiol.  Inst.,  behielt  dann  nur  die  vergl.  Anat.)  war  ein  hervorragender  Biolog. 
Vgl.  die  folgende  geneal.  Tabelle: 

Karl  August  Sigismund  Schnitze 
*  1795,  t  1877 

Max  Johann  Sigismund  Seh.  Bernhard  Sigmund  Seh. 

*  1825,  t  1874  *  1827 

Oskar  Max  Sigmund  Seh. 
*  1859. 

**)  Dir.  des  Instit.  f.  Serumforschimg  in  Steglitz  bei  Berlin  1896,  in  Frank- 
furt a.  M.  99. 


220  Robert  Eitter  von  Töply. 

die  Einführung  der  Chromsäurehärtung  durch  Hannover  (Adolf,  *  1814 
24.  Nov.,  -|-  1894  8.  Juli),  ^^)  die  der  Chromosmiumessigsäure  durch 
Flemming,  die  Einbettung  in  Paraffin  von  Klebs  (Edwin,  *  1834),^") 
Hiß  (s.  im  Folg.),  in  Celloidin  von  Merkel  (s.  im  Folg.)  und  S chieff er- 
de c  k  e  r ,  der  Einschluss  gefärbter  Präparate  —  nach  vorheriger  Entwässerung 
und  Aufklärung  in  flüchtigen  Oelen  —  in  Balsame  durch  Clarke  (Lock- 
hart) und  Reissner,  die  Befeuchtung  der  Messerschneide  durch  S t i  1 1  i n g 
(Benedikt,  *  1810  22.  Febr.,  f  1879  28.  Jan.),  ')  die  Erfindung  des 
Schlittenmikrotoms,  die  Einführung  der  Immersionssysteme  durch  A  m  i  c  i 
(1850),  die  Bemühungen  von  Abbe  seit  1879  um  die  Erzielung  noch  höherer 
Achromasie,  die  ersten  Apochromate  von  Zeiss  1883,  die  gemeinsamen 
Arbeiten  in  dieser  Richtung  von  Abbe,  Schott  und  Zeiss,  welche  1884 
zur  Errichtung  einer  eigenen  wissenschaftlich  arbeitenden  technischen  Anstalt 
führten,  Verbesserung  der  Beleuchtungsvorrichtungen,  der  Okulare. 

Die  Ergebnisse  der  mit  Hilfe  dieser  Mittel  bewerkstelligten  Forschungen 
sind  in  den  Handbüchern  von  KöUiker,^^)  die  TJntersuchungstechnik  in 
dem  Werke  von  Ran  vi  er  (Louis  Antoine,  *  1835  2.  Okt.,  1875  Tit.- 
Prof.  des  für  ihn  errichteten  Lehrstuhls  der  allg.  Anat.  in  Paris)  ^'•')  zu- 
sammengefasst. 

Die  deskriptive  Anatomie,  ^•^)  welche  mit  Haller  und  dessen  be- 
rühmten Zeitgenossen  den  Höhepunkt  und  in  dem  Handbuche  von 
Sömmering  (1.  Aufl.  1791 — 96)  den  Niederschlag  aller  Vollkommen- 
heit erreicht  zu  haben  schien,  hat  während  des  ersten  Aufschwungs 
der  Histologie  nur  langsame  Fortschritte  gemacht  und  erst  in  der 
Zusammenfassung  durch  Henle  (Friedr.  Gust.  Jakob,  *  1809,  f  1885; 
s.  im  Folg.)  -^)  wieder  eine  würdige  Vertretung  gefunden.  Seither 
haben  neue  Arbeiten  vervollständigenden  Stoff  hinzugebracht,  neue 
Arbeiter  neue  Gedanken  und  neue  Auffassungen  in  das  Fach  hinein- 


^^)  1840  Privatdoz.  der  mikrosk.  Anat.  in  Kopenhagen. 

1«)  Prof.  d.  pathol.  Anat.  1866—92  in  Bern,  Würzburg,  Prag,  Zürich,  seit  95 
in  Asheville  Northc,  seit  96  in  Chicago. 

")  Unters,  üb.  d.  Textur  des  Kückenmarks,  Leipz.  1842,  zus.  m. 
B.  F.  Wallach,  H.  2.  Ueb.  d.  Medulla  oblong.,  Erlang.  1843.  —  Unters,  üb.  d. 
Bau  u.  d.  Verrichtungen  des  (jehirns  I.  Ueb.  d.  Bau  des  Hirnknotens  o. 
der  Varol.  Brücke  m.  22  Kupferst.,  auch  lat.,  Jena  1840  (erhielt  den  Monthyon.  Preis). 
—  Anat.  u.  mikr.  Unters,  üb.  den  feineren  Bau  der  Nerven  etc.,  Frank- 
furt a.  M.  1856.  —  Neue  Unters,  üb.  den  Bau  des  Rückenmarks  m.  Atlas 
mikrosk.  Abb.  von  30  lith.  Taf.,  nebst  1  gr.  Wandt.,  gr.  fol.,  5  Lief.,  Cassel  1857 — 
59.  —  Unters,  üb.  d.  Bau  des  kleinen  Gehirns  des  Menschen,  3  Bde., 
Cassel  1564,  67,  78.  —  Dem  hochverdienten  Stilling  ist  nie  ein  akad.  Amt  zu  teil 
geworden,  einer  der  wunden  Punkte  in  der  Gesch.  der  deutschen  Universitäten  des 
19  Jahrhunderts.  —  Vgl.  *Kussmaul,  Dr.  Benedict  Stilling.  M.  Noten  von  Goltz, 
Waldeyer,  Kussmaul,  Strassb.  1879,  8»,  71  S. 

^*')  Kölliker  (Alb.  v.),  Handb.  der  Gewebelehre  des  Menschen,  6.  Aufl..  2 Bde. 
m.  Abb.,  I  1889,  II  1896;  1.  Aufl.  u.  d.  T.  Mikrosk.  Anat.  u.  Gewebelehre  des 
Menschen,  Leipz.  1850 — 54,  2  Bde. 

^»)  Traite  d'histologie  technique  1875;  2.  ed.  1882;  deutsch  u.  d.  T. 
Technisches  Lehrb.  d.  Histologie  v.  Nicati  (W.)  u.  Wyss  (H.  v.).  M.  395  Holzschn., 
Leipz.  1888. 

2'*)  *Merkel  (Friedr.),  Entwickelung  d.  Anat.  im  19.  Jahrh.  Festrede,  3.  Juni 
1893,  Gotting.,  8",  25  S.  —  *Bardeleben  (Karl  von).  Ein  Ueherblick  üb.  d.  letzte 
Vierteljahrh.  der  Anat.  u.  Entwickelungsgesch.,  Deutsche  Med.  Wochenschr.  1900, 
No.  1,  S.  14—18. 

**)  *Handb.  der  systemat.  Anat.  des  Menschen,  3  Bde.,  Braunschw., 
3.  bezw.  2.  Aufl.,  1871 — 79.  —  Die  überschwängliche  Lobpreisung  von  Henle  als 
Genie  dämpft  *Henke  (Wilh.),  Jakob  Henke,  Arch.  f.  Anat.  u.  Physiol.,  anat.  Abth. 
1892,  S.-A.,  8  »,  32  S. 


Geschichte  der  Anatomie.  221 

getragen .  "welche  ganze  Organsysteme  in  verändertem  Licht  er- 
scheinen lassen.  Die  Skeletlehre  erweiterte  1867  Mever  (Georg 
Herrn,  von,  *  1815  16.  Aug.,  f  1892  21.  Juli)  --)  durch  Entdeckung 
der  Eegelmässigkeit  und  mechanischen  Bedeutung  der  Spongiosa- 
architektur.  welche  von  J.  Wolff,  Merkel.  Albert  an  den  Ex- 
tremitätenknochen, von  Bar  de  leben  (Karl  von)  1874  an  der  Wirbel- 
säule und  den  Eippen  genauer  untersucht  ward.  Das  Kopfskelet  hat 
erst  vor  kurzem  Graf  Spee  in  Bardelebens  Handbuch  der  Anatomie 
des  Menschen  umfassend  dargestellt,  die  Frage  von  Hand  und  Fuss 
hat  Bardeleben  1883  wieder  in  Gang  gebracht  und  1894  in  einem 
Referat  vor  der  anatomischen  Gesellschaft  vorläufig  abgeschlossen. 
Die  Muskellehre  hat  eine  umwälzende  Auffassung  erfahi-en.  seit 
Gegenbaur  und  Fürbringer  zum  Ausgangspunkt  der  Betrach- 
tung die  motorischen  Nerven  gewählt  haben,  demgemäss  der  Muskel 
als  Endorgan  der  Nerven  zu  gelten  hat  'Kühne,  Hensen)  bezw. 
mit  der  Aufstellung  des  Gesetzes  vom  Muskelnerveneintritt  durch 
Schwalbe  (G.)  i.  J.  1879.  Dieses  Gesetz  ist  durch  Bardeleben 
und  Frohse  1887  und  1898  dahin  modifiziert  worden,  dass  die  Muskeln 
eine  grosse  Reihe  von  Nerveneintrittsstellen  besitzen.  Schliesslich 
hat  Bolk  das  Verhältnis  der  Spinalplexus  zu  der  von  ihnen  ver- 
sorgten Muskeln,  die  segmentale  Anordnung  der  Gliedmassenmuskulatur 
festgestellt  und  Rückschlüsse  auf  die  Segmentierung  des  Skelets  ge- 
zogen. Die  Gefässlehre  ist  durch  grundlegende  Arbeiten  von  His 
sowie  Born  über  die  Entwicklung  des  Herzens  erörtert  worden, 
Roux  (W.)  hat  1878  die  Gesetzmässigkeit  in  der  Form  der  Abgangs- 
stellen der  Arterienäste  (Kegel)  und  die  Ablenkung  des  Stammes  in- 
folge Abgabe  grösserer  Aeste  nachgewiesen.  Klärende  Arbeiten 
über  den  Bau  der  Geföss Wandungen,  die  Anpassung  au  die  Druck- 
und  Zugkräfte  lieferten  Bardeleben.  Thoma,  Schiele-Wie- 
gandt,  Bonnet,  der  erstere  überdies  berichtigende  Darstellungen 
der  Hautnerven  der  Extremitäten,  sowie  Untersuchungen  über  die 
Venenklappen  und  deren  Elastizität.  Im  Gebiete  des  Darmtrakts  hat 
Heidenhain  (R.)  durch  seine  Arbeiten  über  die  Speichel-  und 
Schleimdrüsen,  dann  Stöhr  (Ph )  Wichtiges  geleistet.  Die  rätsel- 
haften Gianuz zischen  Halbmonde  erscheinen  nun  im  neuen  Lichte, 
man  hat  die  Form-  und  Strukturänderung  an  Zellen  bei  der  Ab- 
sonderung, die  Haupt-  und  Belegzellen  des  Magens  kennen,  die  sog. 
Becherzellen  der  Dünndarmschleimhaut  als  einzellige  Schleimdrüsen 
auffassen  gelernt.  Die  entwicklungsgeschichtlichen  Untersuchungen 
von  Toi  dt  haben  die  Anatomie  des  Bauchfells  endgiltig  klarge- 
stellt. Die  feinere  Struktur-  der  Leber  (hier  die  wichtige  Entdeckung 
der  Endigung  der  Gallengänge  in  den  Leberläppchen  von  Mac- 
Gillavry)  und  des  Pankreas  ist  nun  genau  bekannt,  die  Kenntnis 
der  Milz  aber  noch  nicht  abgeschlossen.  Die  Keblkopimuskeln  be- 
arbeitete 1875  Fürbringer  (M.),  die  Kehlkopfknorpel  Schottelius 
1879,  Kallius  1897,  Märtens  1898,  die  Entwicklung  der  Schild- 
drüse 1880  Wölfler.  Die  Niere,  welche  nach  Entdeckung  der 
schleifenförmigen  Harnkanälchen  durch  Henle  und  des  Zusammen- 
hanges der  ofifenen  Harnkanälchen  mit  den  gewundenen  Schaltstücken 
durch  Schweigger-Seidel  endgiltig  erforscht  zu  sein  schien,  hat 


**)  Schüler  von  Tiedemann  u.  Joh.  Müller,  1856—89  o.  Prof.  in  Zürich  f.  Anat., 
bis  62  auch  f.  Physiol.,  Histol.,  vergl.  u.  pathol.  Anat. 


222  Robert  Ritter  von  Töply. 

sich  auf  Grund  der  vergleichend-eutwicklungsgeschiclitliclien  Unter- 
suchungen als  echte  mesodermale  Drüse  ergeben.  Die  vielumstrittene 
Spermatogenese  wurde  von  Waldeyer  i.  J.  1887  in  einem  zu- 
sammenfassenden Referate  behandelt,  die  Spermie  von  La  Valette 
und  später  von  Bardeleben  als  Zelle  erwiesen.  Die  Lage  der 
weiblichen  Beckenorgane  ist  seit  1888  genau  festgestellt,  die  Ent- 
wicklung der  weiblichen  Geschlechtsorgane,  besonders  des  Eierstocks 
und  des  Eies  von  Waldeyer,  Mihalkovics,  Nagel  gründlich 
bearbeitet. 

Dem  Cerebrospinalsystem  stand  man  zu  Beginn  des  19.  Jahr- 
hunderts etwa  so  gegenüber,  wie  einst  gegenüber  dem  Schädel,  nach- 
dem Galenos  seine  Untersuchungen  über  denselben  abgeschlossen 
hatte.  Man  kannte  es  in  groben  Zügen  von  aussen,  eingehender  aber 
nicht.  Die  Versuche  von  Keil,  den  Bau  des  Gehirns  durch  Härten 
und  Brechen  zu  entwirren  (die  bedeutenderen  Arbeiten,  aus  den 
Jahren  1808 — 11,  sind  im  Arch.  f.  Physiol.  veröffentlicht)  haben  die 
gröbere  Formbeschaffenheit  des  Kleinhirns  und  der  Insel  (Insula  Reilii) 
festgestellt,  die  Schleife  als  ein  eigenes  Gebilde,  das  aus  dem  Hirn- 
stamm absteigt,  den  Linsenkern  genau  und  auch  den  (roten)  Kern 
der  Haube  kennen  gelehrt,  aber  zu  der  vermeintlichen  Entwirrung 
ist  Eeil  doch  nicht  gelangt.  Weiter  ist  schon  Burdach  auf  Grund 
des  Schnittverfahrens  und  der  Zusammenfassung  der  bisherigen 
Leistungen  in  dem  Werke  „vom  Baue  und  Leben  des  Gehirns  und 
Rückenmarks"  1819 — 25  fortgeschritten.  Er  hatte  damit  die  gröbere 
Morphologie  zu  einem  gewissen  Abschluss  gebracht.  Erst  Stilling 
hat  jedoch  durch  Einführung  der  kontinuierlichen  successiven  Schnitt- 
reihen (Hauptarbeiten  1842 — 78)  eine  Reform  der  Untersuchungs- 
methode des  Faserverlaufs  angebahnt.  Bahnbrechend  wurden  dann 
die  experimentelle  Methode  von  Gudden  (Beruh.  Aloys  von,  *  1824, 
t  1886)-^)  die  entwicklungsgeschichtlichen  Arbeiten  von  Flechsig 
(Paul  Emil,  *  1847),-'^ *)  die  Chromsilbermethode  von  Golgi  (s.  im 
Vorigen).-'^)  Hmen  schliessen  sich  an  die  Arbeiten  von  His,  Cajal, 
Golgi,  Kölliker,  Edinger,  Retzius  (G.,  s.  im  Folg.  Schweden),'-^) 
Nissl.-')  An  den  Nerven  beschrieb  in  den  letzten  Jahrzehnten 
Ran  vi  er  die  nach  ihm  benannten  Schnürringe  (1872),  L  an  t  er- 
mann, Schmidt,  Zawerthal  die  Marksegmentierung  (1874), 
Flechsig  die  Entwicklung  der  Markscheiden  (1876),  Schwalbe 
(Gust,  *  1844,  1.  Aug.),'-^)  Golgi  (Cam.),  Ramöny  Cajal  (Santiago), 

-*)  Prof.  d.  Psychiatrie  in  Zürich,  72  in  München. 

2*»)  Seit  84  0.  Prof.  d.  Psychiatrie  in  Leipzig.  2*'') 

^*'')  D.  Leitungsbahnen  im  Gehirn  u.  Rückenmark  des  Menschen  auf 
Grund  entwickehangsgeschichtl.  Unters.,  Leipz.  1876.  —  Ein  Plan  des  mensch  1. 
Gehirns,  Leipz.  1883.  —  Gehirn  u.  Seele,  Leipz.  1896.  —  Zur  Anat.  u.  Ent- 
wicklungsgesch.  der  Leitungsbahnen  im  Grosshirn  d.M.,  Arch.  f.  Anat. 
u.  Physiol.,  anat.  Abt.  1887.  —  Ueb.  eine  neue  Färbungsmethode  des 
centr.  Nervensyst.  etc.,  Ber.  d.  k.  sächs.  Ges.  d.  Wissensch.,  math.-phys.  Kl. 
1889.  —  Zur  Entwickeluugsgesch.  der  Associationssysteme  etc., 
ebenda  1894. 

")  Studii  istologici  sul  midollo  spinale.  Redinc.  di  3.  congr.  freniatr. 
ital.  1880,  Arch.  ital.  p.  le  malatt.  nerv.  an.  18  •*,  fasc.  I  1881. 

^^)  Biolog.  Untersuchungen,  seit  1881  acht  Foliobände.  —  Das  Menschen- 
hirn. Studien  in  d.  makroskop.  Anat.,  1896.    Mit  96  Taf. 

^')  Begann  seine  Unters.  1893.  Resultat:  die  nach  ihm  benannten  Körperchen 
od.  Granula  in  den  Ganglienzellen. 

^^)  Schüler  von  M.  Schnitze  in  Bonn,  0.  Prof.  u.  Dir.  d.  anat.  Inst,  in  Jena 
1873—81,  zu  Königsb.  i.  Pr.  81—83,  zu  Strassb.  seit  83. 


Geschichte  der  Anatomie.  223 

His  (Wilh.),  Kölliker  (Alb.  V.),  Retzius  (Gust.)  das  Verhalten  der 
Ganglienzellen  in  den  Centralorganen  und  deren  Zusammenhang  mit 
den  aus-  und  eintretenden  vorderen  und  hinteren  Nervenwurzeln.-'') 
Die  wichtigste  Entdeckung  auf  dem  Gebiete  der  Sinnesorgane 
aus  den  letzten  Jahren  ist  die  des  Sehpurpurs  durch  Boll  (Franz 
Christian,  *  1849,  f  79),=^"^)  auf  dem  der  Hautsinnesorgane  der  Nach- 
weis der  „Milchlinie '•  bei  Säugetierembryonen  durch  Schultze  (0.), 
der  „Milchleiste"  bei  menschlichen  Embryonen  durch  Kallius. 

Im  Blut  fanden  Bizzozero,  Hayem,  Pouchet  die  Blutplättchen 
und  die  Hämatoblasten,  Ehrlich  (1879)  die  eosinophilen  Granulationen  m 
den  Leukocyten  und  5  verschiedene  Arten  der  letzteren,  Dekhuyzen 
noch  eine  oder  einige  Arten  mehr,  nachdem  Stricker  (Sara.)  die  Diape- 
desis  der  roten  Blutkörperchen  durch  die  Kapillarwand,  und  nach  ihm 
Cohnheim  und  Hering  die  der  weissen  Blutkörperchen  entdeckt  hatten. 
Daran  reiht  sich  St  Öhrs  Entdeckung  der  Durchwanderung  der  Leuko- 
cyten von  den  Follikeln  (der  Tonsille  etc.)  durch  das  Epithel  des  Ver- 
dauungsapparats. Diese  auf  dem  Grenzgebiet  der  deskriptiven  Anatomie, 
Histologie  und  Physiologie  sich  bewegenden  Entdeckungen  schliessen  sich 
der  Entdeckung  des  Kapillarblutlaufs  durch  Malpighi  würdig  an. 

Eine  nicht  zu  unterschätzende  Stütze  der  wissenschaftlichen 
Forschung,  welche  im  19.  Jahrhundert  einen  so  grossen  Umfang  an- 
genommen und  eine  solche  Tiefe  erreicht  hat,  sind  die  neuen  lite- 
rarischen Hilfsmittel,  welche  in  Gestalt  periodischer  umfang- 
reicherer Druckschriften  Sonderabhandlungen  aufnahmen  oder  die 
Jahresleistungen  berichterstattend  besprachen.  Auch  hier  stand,  wie 
auf  allen  Gebieten  der  Anatomie,  Deutschland  an  der  Spitze.  Dahin 
gehören  das  ..Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie",  herausgegeben 
von  Reil,Autenrieth,  Meckel,  Müller,  Reichert,  DuBois- 
Reymond,  His  und  Braune  seit  1796, •^\)  die  „Jahresberichte  über 
die  Fortschritte  der  Anatomie  und  Physiologie"  von  Hofmann  und 
Schwalbe  seit  1873, ■^■^)  die  „Zeitschrift  für  Anatomie  und  Entwick- 
lungsgeschichte" von  His  und  Braune  als  Vorläufer  des  Archivs 


20)  *Wevermann  (Hans).  Geschichtl.  Entwickelung  der  Anat.  des  Gehirns. 
Inaug.-Diss.,  Würzb.  1901,  S«,  117  S.  (schliesst  mit  Eeil  und  Burdach).  —  *Stieda 
(L.),  Gesch.  der  Entwickelung  der  Lehre  von  den  Nervenzellen  u.  Nervenfasern 
während  des  19.  Jahrh.    I.    Von  Sömmering  bis  Deiters,  Jena  1899,  4  **.    M.  2  Taf. 

—  Van  Gebuchten  (A.),  Les  decouvertes  recentes  dans  l'anat.  et  Fbisto].  du  syst, 
nerv,  centr.  Bruxelles,  1891.  —  Lenhossek  (M.  v.),  Neuere  Forschungen  üb.  den 
feineren  Bau  des  Nervensyst.,  Corrbl.  f.  Schweiz.  Aerzte.  Jahrg.  21.  189i.  —  *"VVal- 
deyer  (W.),  Ueb.  einige  neuere  Forschungen  im  Gebiete  des  Centralnervensvst., 
Leipz.  1891,  8  »,  64  S.  m.  Abb.,   S.-A.  d.  Deutsch.  Med.  Wochschr.  1891,  N.  44  u.  f. 

—  Vgl.  auch  die  Monographie  von  Ziehen  in  Bardelebens  Handb.  der  Anat. 

«°»)  Prof.  der  Physiol.  in  Rom  (i.  J.  1876).  ="»•) 

80'')  Eigentlich  war  die  Entdeckung  von  Boll  eine  Wiederauffindung  (Leydig). 
Weitere  Arbeiten  von  Kühne.  Auf  dem  Gebiete  der  Zoologie  überragt  sie  noch 
die  des  sog.  Parietalanges  bei  den  Reptilien  durch  Spencer  ( 1886,  Vorarbeiten  von 
Ahlborn,  Rabl-Rückhard,  de  Graaf).  Spuren  desselben  sind  bis  zu  den 
Wirbeltieren  nachweisbar. 

")  Serien:  1796—1815  Arch.  f.  Physiol.,  12  Bde.:  1815-23  Deutsches  Arch.  f. 
d.  Physiol.,  8  Bde.;  1826—32  Arch.  f.  Anat.  u.  Physiol,  hrsg.  v.  Meckel,  6  Bde.; 
1834  76  Arch.  f.  Anat.,  Physiol.  u.  wissensch.  Med  ,  hrsg.  v.  Müller  (J.),  Reichert 
(C.  B.),  Du  Bois-Reymond  (E.),  43  Bde.:  1877—1898  Arch.  f.  Anat.  u.  Physiol., 
hrsg.  V.  His  (W.),  Braune  (W.),  Du  Bois-Reymond  (E.),  seit  1898  m.  be- 
sonderer physiol.  Abth.,  hrsg.  v.  Engelmann  (Th.  W.). 

")  Bd.  1-20,  N.  F.  Bd.  1—7,  1873-99. 


224  Robert  Ritter  von  Töply. 

für  Anatomie  (Bd.  I.  II,  Leipzig  1876/77),  der  „Anatomische  Anzeiger" 
von  Bardeleben  (K.  v.)  seit  1886,  das  „Archiv  für  mikroskopische 
Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte",  herausgegeben  von  Schnitze 
(W.)  seit  1865,  fortgesetzt  von  La  Valette  St.  George  und 
Wald ey er  (W.),  die  „Bulletins  de  la  societe  anatom.  de  Paris" 
seit  1825,  das  „Journal  de  l'anat.  et  physiol."  von  Robin  und 
Pouch  et  seit  1864,  die  „Archives  d'anat.  microscopique"  gegründet 
von  Balbiani  (E.  G.)  und  Ran  vi  er  (L.),  gegenwärtig  herausgegeben 
von  letzterem  und  Henneguy  (L.  F.,  Prof.  d.  Embryol.  am  College 
de  France),  das  „Journal  of  anatomy  and  physiology"  conduct.  by 
Humphry  (G.  M.)  and  Turner  (W.),  das  „Journal  of  the  roy. 
microscop.  society"  ed.  by  Jefrey  Bell  (F.),  das  „Monthly  microscop. 
Journal"  ed.  by  Lawson  (H.),  welches  die  Verhandlungen  der  „Roy. 
micr.  soc."  bringt,  die  „Internationale  Monatsschrift  f  Anat.  und 
Histol.",  herausgegeben  seit  1883/84  von  Schäfer,Testut,Kopsch 
(Krause)  u.  A. 

Persönlichen  Meinungsaustausch  und  Anbahnung  gemeinsamer 
Arbeiten  ermöglichte  die  Gründung  anatomischer  Gesellschaften,  dar- 
unter die  der  deutschen  Gesellschaft,  deren  erste  Versammlung  1887 
in  Leipzig  stattfand.  Eine  ihrer  hervorragendsten  Leistungen  ist 
die  Festsetzung  einer  anatomischen  Nomenklatur,  welche  1875  zu 
Stande  gekommen,  die  gegenseitige  Verständigung  wesentlich  er- 
leichtert. Um  das  recht  schwierige  Werk  haben  sich  besonders  von 
Kölliker,  Hertwig  (0.),  His,  Kollmann,  Merkel,  Schwalbe, 
Toldt,  Waldeyer,  von  Bardeleben  (K.),  Krause  (W.,  als 
Redaktor),  dann  Braune,  Henke,  von  Kupffer,  von  Mihäl- 
kovics,  Rüdinger,  Zuckerkandl  verdient  gemacht.^'*) 

Im  Gebiete  der  anatomischen  Abbildung  hat  das  fortschreitende 
19.  Jahrhundert  im  allgemeinen  weitaus  weniger  Wert  auf  die  künst- 
lerische Seite  gelegt,  als  das  18.,  dafür  aber  die  Verständlichkeit 
mehr  berücksichtigt.  Für  die  Textabbildungen  in  Holzschnitt  hat 
Henle  als  Erster  Farben  angewendet.  Merkel  (Fr.)  hat  sich  der- 
selben seit  1885  in  seinem  Handbuch  der  topographischen  Anatomie  in 
w^eit  ausgedehnterem  Masse  bedient  und  die  Farben  rot,  blau,  gelb 
gebraucht.  Die  Errungenschaften  der  photomechanischen  Druckver- 
fahren hat  in  besonders  ausgiebiger  und  mannigfacher  Weise  Rü- 
dinger benützt  (s.  im  Folg.).  Was  die  moderne  Reproduktion  ge- 
rade auf  diesem  Gebiete  zu  leisten  vermag,  beweisen  die  Photo- 
gravüren in  dem  1892  erschienenen  Atlas  über  das  Gehirn  von 
Kronthal.  =^*) 

Wenn  man  die  Entwicklung  der  Anatomie  in  der  Neuzeit  vom  kultur- 
geschichtlichen Standpunkt  überblickt,  so  entrollt  sich  ein  Bild  von  unver- 
muteter Plastik  und  unerwarteter  Lebhaftigkeit.  Man  bemerkt,  wie  in  der 
Umgebung  der  geistig  wiedergeborenen  Höfe  des  Cinquecento  die  Reformation 
einsetzt  und  ihren  Ausgangspunkt  nimmt,  wie  sie  von  den  spanischen 
Schülern  der  Italiener  aufgenommen  wird,  im  Lande  des  Torquemada,    der 


*')  *  Krause  (W.),  D.  anat.  Nomenclatur.  Eine  histor.  Unters.,  Leipz.  1893, 
8  °,  33  S.  —  *D.  anat.  Nomenclatur.  Nomina  anat.  Verz.  der  v.  d.  Anat.  Ges.  .  .  . 
angenommenen  Namen.  Eingel.  ...  von  Wilh.  His,  Leipz.  1895,  8**.  180  S.  m. 
30  Abb.  u.  2  Taf. 

")  Kronthal  (P.),  Schnitte  d.  d.  centr.  Nervensyst.  d.  Mensch.  M.  Vorw 
d.  Prof.  Mendel.    18  Taf.  m.  29  Fig.  in  Photograv.  u.  Text,  Berl.  1892,  gr.  4». 


Geschichte  der  Anatomie.  225 

Stierkämpfe  und  einer  starren  höfischen  Etikette  jedoch  ebenso  schnell  ver- 
siegt, als  sie  erblüht  war.  Man  sieht,  wie  sie  in  dem  durch  die  Restauration 
von  1660  wiedergekräftigten  England,  in  den  von  der  spanischen  Herrschaft 
freigewordenen  Niederlanden  mit  der  üppigen  Entfaltung  geistiger  Kräfte 
gleichen  Schritt  hält,  wie  sie  in  dem  vom  Wohlstande  der  Grossen  und  von 
weltumfassenden  Gedanken  getragenen  Frankreich  in  der  zweiten  Hälfte  des 
17.  und  im  18.  Jahrhundert  fruchtbar  gedeiht,  während  sie  in  dem  parti- 
kularistischen  Staatenwesen  Deutschlands  trotz  einer  Unzahl  von  Hoch- 
schulen fem  von  einem  nennenswerten  Aufschwung  im  Sande  stecken  bleibt. 
Man  kann  verfolgen,  wie  die  lächerlichen  Geistestumiere  der  Barockzeit 
auch  in  den  Kampf-  und  Streitschriften  der  Anatomen  sich  wiederholen, 
wie  die  höfische  Neugier  übersättigter  Potentaten  hie  und  da  die  Abhaltung 
von  Leichenzergliederungen  zu  einem  Schauspiel  von  iingewöhnlichem  Reiz 
erwählt  und  wie  die  zeitgemässe  Devotion  der  Kleinen  gegenüber  den 
Mächtigen  so  manchem  Veranstalter  derartiger  Belustigungen  die  Bürgschaft 
seiner  geistigen  Grösse  vorspiegelt.  Und  nun  kommt  die  grosse,  geistig 
längst  vorbereitete  Umwälzung  am  Schluss  des  18.  und  in  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahi'hunderts.  Bevolution,  Eestauration,  Reaktion,  und  wieder  eine 
neue  Umwälzung  lösen  einander  ab.  Nivellierende  Gedanken,  neue  Ver- 
kehrsmittel, neue  Verkehrswege  umspannen  den  Erdball  und  bahnen  eine 
internationale  Verständigung  an,  allerorten  ein  gleich  emsiges  Schafi'en  in 
gleicher  Richtung.  Rasende  Fortschritte  der  Technik  und  Industrie  ermög- 
lichen die  Ausbildung  zweier  geradezu  neuer  Wissenszweige,  der  Embryo- 
logie und  der  Histologie,  stürzen  die  naturphilosophische  Spekulation  in  der 
Anatomie,  erweitem  und  vertiefen  den  Gesichtskreis  und  erzeugen  Fragen 
der  Onto-  und  Phylogenese.  Die  moderne  Auffassung  der  Muskelanatomie 
ist  ein  unmittelbarer  Ausfluss  des  durch  die  geänderten  Lebensverhältnisse 
und  die  geänderte  Weltanschauung  in  der  Wissenschaft  bedingten  Um- 
schwungs. 

Das  alte  Gleichnis  von  der  Geschichtswissenschaft  als  Spiegel  des 
Fortganges,  und  in  schönfärbender  Auffassung  als  Spiegel  des  ununter- 
brochenen Fortschrittes  der  Medizin,  erweist  sich  bei  einer  derartigen  Be- 
trachtung als  wenig  befriedigend,  weil  unzureichend.  In  der  That,  welcher 
Vorstellung  ist  es  entsprungen?  Hier  der  Spiegel  als  kühler  Reflektor, 
dort  die  jeweilige  Phase  einer  aus  sich  selbst  gewordenen,  sich  selbst  be- 
fruchtenden je  nach  dem  Jahresdatum  nur  die  Farbe  wechselnden  Wissen- 
schaft. Darin  wurzelt  und  gipfelt  die  chronistische,  bisher  zumeist  geübte, 
von  massgebenden  Grössen  gepflegte  und  als  medizinische  Geschichtsforschung 
bezeichnete  Methode.  Ihr  liegt  die  Auffassung  zu  Grunde,  die  Medizin  sei 
ein  Ding  an  und  für  sich,  und  der  Historiker  deren  gewissenhafter  er- 
gebenster Referent.  Sollte  aber  die  Medizin,  sollten  deren  einzelne  Zweige 
und  Wurzeln  nicht  vielmehr  Etwas  sein,  das  durch  Hunderte  von  Fasern 
mit  dem  Werden  und  Vergehen  der  Kultur  verknüpft  ist,  doch  nichts 
Anderes  als  das  Endergebnis  des  Zusammenwirkens  der  unzähligen  Faktoren, 
die  die  Weltereignisse  bedingen  und  wiederum  ein  Niederschlag  dieser  Er- 
eignisse? Giebt  es  überhaupt  eine  Wiss-enschaft,  die  losgeschält  aus  dem 
Zusammenhange  mit  dem  Weltlauf  als  Ding  an  und  für  sich  zu  bestehen 
vermag?  Es  kann  immerhin  im  fernab  schweifenden  Traume  des  Einen 
oder  des  Anderen  vorgekommen  sein,  dieser  oder  jener  Gedanke,  diese  oder 
jene  einem  zündenden  Geistesblitz  entsprossene  Leistung  seien  sein  ureigenes 
Erzeugnis.  Und  doch,  sie  waren  nur  der  Ausfluss  der  ihn  bestimmenden 
Umstände,  das  Ergebnis  gegenseitiger  Wechselwirkung  zwischen  Individuen 
und  den  Massen.  Es  besteht  ein  besonderer  Reiz  darin,  gerade  bei  einem 
Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  15 


226  Robert  Kitter  von  Töply. 

anscheinend  so  abstrakten,  dem  Einflüsse  der  Weltereignisse  entrückten 
"Wissenszweig,  wie  die  Anatomie,  dessen  "Werdegang  zu  verfolgen  und 
dessen  Bedingungen  nachzuspüren  auf  dem  Wege  einer  genetischen  Methode. 
Erst  in  dieser  Auffassung  wird  die  Geschichtsforschung  zu  einer  "Wissen- 
schaft im  modernen  Sinne  des  "Wortes,  ähnlich  verfahrend  wie  jene  Forschungs- 
zweige, die  die  Ontogenese  und  Phylogenese  aufschliessen.  Im  Folgenden 
ist  bald  da,  bald  dort  ein  Verstoss  in  dieser  Weise  unternommen,  aber  nicht 
überall  durchgeführt,  da  es  sich  in  erster  Linie  um  die  vorläufige  Er- 
bringung und  Sammlung  des  Stoffes  handeln  rausste,  über  den  die  Ge- 
schichte der  Anatomie  verfügt. 


Die  Reformation  der  Anatomie. 

Im  klassischen  Stammlande  der  Künstler  und  der  Anatomen 
hatten  zwei  Jahrhunderte  der  knospenden  Kunst  und  Literatur  (das 
Trecento  und  das  Quattrocento)  die  herrlichen  Blüten  des  Cinquecento 
gezeitigt.  Auf  diesem  fruchtbaren  Boden  entwickelte  sich  nun  auch 
die  Renaissance  der  Anatomie  mit  allen  grossen  und  auch  allen  herben 
Zügen,  die  so  vielen  bedeutenden  Kunstwerken  jener  Zeiten  (man 
denke  an  Donatello,  Mantegna,  Michelangelo,  "Verochio)  eigen  sind.  Sie 
entwickelte  sich  auf  einem  Boden,  der  von  kunst-  und  prachtliebenden 
Fürsten,  Päpsten  und  Kardinälen,  wenn  nicht  unmittelbar  abhängig, 
so  doch  stark  beeinflusst  war.  Äeltere  Darsteller  haben  die  Sachlage 
so  zu  deuten  gewusst,  als  ob  die  päpstliche  Kurie  der  Entwicklung 
der  Anatomie  seit  jeher  feindlich  entgegengestanden  sei.  Thatsächlich 
hat  sie  ihr  kaum  irgendwelche  Hindernisse  in  den  Weg  gelegt.  Sie 
hat  im  Gegenteil  die  Anatomie  allenthalben  geiördert,  trotz  des  viel- 
verbreiteten aber  unerwiesenen  Gerüchts,  demzufolge  man  im  16.  Jahr- 
hundert keinen  Anstand  genommen  haben  soll,  lebende  Menschen  zu 
sezieren. 

Die  päpstliche  Kurie.  Unter  Paul  III.  (1534 — 49)  wurden  in 
Rom  Faschulen  für  Anatomie  und  Botanik  errichtet  und  ein  Gehalt  für  den 
Prosektor  festgesetzt.  Realdo  Colombo,  der  Entdecker  des  kleinen  Blut- 
kreislaufs, wurde  durch  Paul  lY.  (1555 — 59)  nach  Rom  berufen  (1549?). 
Seine  Söhne  haben  dessen  Nachfolger  Pius  IV.  (1559 — 65)  das  "Werk  ihres 
Vaters  „De  re  anatomica"  gewidmet.  Kardinal  Giulio  della  Rovere 
brachte  den  Bart.  Eustachi  nach  Rom,  wo  dieser  Stadtarzt  und  Professor 
der  Anatomie  an  der  Sapienza  wurde  (gest.  1574).  Unter  Sixtus  V. 
(1585 — 90)  veröffentlichte  Archang.  Piccolomini  seine  anatomischen 
Vorlesungen  mit  der  "Widmung  an  den  Papst  (1586).  Unter  Clemens  VIII. 
(1592 — 1605)  wurde  Andrea  Cesalpino,  der  angebliche  Entdecker  des 
Blutkreislaufs  (Corradi  1876)  von  Pisa  nach  Rom  berufen.  Unter  Paul  V. 
(1605—21),  Gregor  XV.  (1621—23),  Urban  VIII.  (1623—44),  In- 
nocenz  X.  (1644 — 55)  wirkte  Giov.  Maria  Castellani,  seit  1622  bis 
ca.  1655  als  Professor  der  Anatomie  und  Chirurgie  an  der  Sapienza, 
möglicherweise  Urheber  der  sog.  Berrettinischen  anatomischen  Tafeln  (letzteres 
Annahme  von  Möhsen).  Giov.  Maria  L  a  n  c  i  s  i  war  Leibarzt  der  Päpste 
InnocenzXI.  (1676— 89),  Inno  cen  z  XII.  (1691— 1700),  Clemens  XL 
(1700  — 1721)  und  wirkte  unter  ihnen  als  Professor  der  Anatomie  an  der 
Sapienza.  Mit  Hilfe  des  Clemens  XL  veröffentlichte  er  die  noch  nicht 
abgedruckten  Kupfertafeln  des  Eustachi  mit  einem  eingehenden  Kommentar. 
Lancisis  fleissiger  Nachfolger  Giorgio  Baglivi  wurde  unter  Innocenz  XII. 


Geschichte  der  Anatomie.  227 

Professor  der  Anatomie  (1696;  seit  1701  Prof.  der  theoret.  Medizin).  Er 
hielt  seine  anatomischen  Vorlesungen  mit  Demonstrationen  sowol  des 
morgens  als  abends.  Unter  Clemens  XI.  wurde  ein  neues  anatomisches 
Theater  auf  dem  Janiculus  eröffnet.  Dem  Kardinalfürsten  Annibale 
Albani,  Neffen  des  Clemens  XI.,  widmeten  1728  die  Brüder  Paghanini 
die  2.  römische  Ausgabe  der  Eustachischen  Tafeln.  Benedikt  XIV. 
(1740 — 58)  gab  der  Satztuag  des  Bonifacius  VIII.  eine  freisinnige  Aus- 
legting  dahin,  dass  sie  sich  nicht  auf  jene  schulmässigen  Zergliedertingen 
bezieht,  welche  für  die  ausübende  Medizin  so  notwendig  sind  (Institut.  64. 
„De  cadaverum  sectione  facienda  in  publicis  Academiis, 
utrum  constitutio  Bonifacii  VHI  sectioni  humanorum  cadaverum  adversetur. 
Singulari  dei  beneficio  medicinae  Studium  in  hac  civitate  (Eoma)  magnopere 
floret,  cujus  etiam  professores  ob  eximiam  virtutem  in  remotissimis  terrae 
partibus  commendantur.  Ipsis  sane  maxime  profuit,  quod  incidendis  mortuis 
corporibus  diligentem  operam  contulerint,  ex  qua  procul  dubio  praeclaram 
artis    scientiam,    in    consultationibus    obetindis    pro    aegrotorum    salute  prae- 

stantiam,    morbisque    curandis    peritiam    consecuti    sunt Porro    haec 

membrorum  incisio  nullo  modo  adversatur  Bonifacii  Institutioni  ....  lUe 
quidem  poenam  excommunicationis  indicit,  Pontifici  solo  remittendam,  üs 
Omnibus  qui  audeant  ctiiuscumque  defuncti  corptis  exenterare,  ac  illud 
membratim,  vel  in  frustra  immaniter  concidere,  ab  ossibus  tegumentum  carnis 
excutere.  Tamen  ex  reliquis  ejusdem  constitutionis  partibus  clare  depre- 
henditur,  hanc  poenam  illis  infligi,  qni  sepulta  corpora  e  tumulis  eruentes 
ipsa  nefario  scelere  in  frustra  secabant,  ut  alio  deferrent,  aüoque  sepulchro 
coUocarent.  Quamobrem  membrorum  incisio  minime  interdicitur,  quae  adeo 
necessaria  est  medicinae  facultatem  exercentibus").  Auch  kaufte  er  1757 
für  1000  Thaler  die  von  Giov.  Ant.  Galli  gearbeiteten  anatomischen  Prä- 
parate aus  Terracotta  und  Wachs,  und  schenkte  sie  der  Universität  Bologna 
(GaUi  wurde  noch  im  selben  Jahre  Professor  der  Geburtshilfe  in  Bologna). 
Clemens  XIV.  (1769 — 74)  sowie  Pius  VI.  (1775 — 99)  schenkten  dem 
Ospedale  S.  Spirito  in  Rom,  ersterer  1772,  letzterer  1780,  zahlreiche,  imd 
zwar  Pius  VI.  154  anatomische  Präparate  und  chirurgische  Instrumente. 
Der  Kardinal  Staatsekretär  Franc.  Xav.  de  Zelada  in  Rom  Hess  für 
das  Ospedale  S.  Spirito  einen  aus  36  Stücken  bestehenden  Apparat  zur 
anatomischen  Unterweisung  der  Hebammen  durch  den  anatomischen  Bild- 
hauer Giov.  Batt.  iTanfredini  unter  Leitung  des  Professors  der  Ana- 
tomie Carlo  Mondini  in  Bologna  herstellen  (1779 — 82)  tind  hat  dann 
noch  mehrere  "Wachspräparate,  darunter  einen  ganzen  Rumpf,  durch  letzteren 
bezogen.  -) 

Die  angeblichen  Vivisektionen  des  Menschen  im  16.  Jahr- 
hundert und  die  Beschaffung  des  Materials  zu  Studien- 
zwecken in  der  älteren  Zeit.  Einige  Stellen  bei  Falloppia  tind 
Dulaurens  sowie  spätere  Berichte  begründen  den  Verdacht,  dass  Berengar 
da  Carpi,  Vesal,  Falloppia  lebende  Menschen  zergliedert  haben.  Neuere 
Autoren,  wie  Hyrtl,  Littre,  Burggraeve,  Malgaigne,  Häser,  sind  davon  völlig 
überzeugt.  Neuestens  (1898)  hat  Andreozzi  sogar  Dokumente  als  an- 
geblichen Beweis  erbracht,  dass  in  Florenz  unter  dem  Herzog  (später  Gross- 
herzog) Cosimo   in   den  Jahren  1545 — 70   thatsächlich  Vivisektion    an  Ver- 


')  F.  Lussana,   Lettura  fatta  nella  R.  Accademia  delle  Scienze.   11  17.  g«n- 
naio  1886. 

*)  Die  diesbezüglichen  Schriftstücke  zum  erstenmal  veröffentlicht  von  ♦Curatulo 
(G.  Emilio),  Die  Kunst  der  Juno  Lucina  in  Rom.  Berl.  1902,  247  S. 

15* 


228  Robert  Ritter  von  Töply. 

brechern  geübt  worden  sei.  Eine  genauere  Analyse  aller  einschlägigen 
Stellen  ergiebt  aber  nur,  dass  in  älterer  Zeit  Verbrecher  nicht  nur  zum 
Tode  verurteilt,  sondern  auch  zur  nachträglichen  Ablieferung  an  die  Ana- 
tomie bestimmt  wurden,  und  dass  für  solche  Fälle  sogar  hie  und  da  ge- 
eignete Todesarten  vorausgesehen  waren  oder  gewählt  wurden.  So  bestimmt 
schon  das  Privilegium  der  Universität  von  Lerida  aus  dem  Jahre  1391, 
dass  zu  Gunsten  der  Anatomie  der  Tod  durch  Ertränken  zu  wählen  ist,  und 
Doch  1674  bitten  die  Deputati  der  Universität  zu  Sie  na  den  Grossherzog 
von  Toskana,  es  möchte  wieder  einmal  eine  Anatomie  abgehalten  und  die 
Leiche  eines  zum  Galgen  und  zur  Vierteilung  verurteilten  Verbrechers  zu 
diesem  Zwecke  überlassen  werden,  doch  solle  die  Hinrichtung  nicht  durch 
Vierteilen,  sondern  nach  der  in  Pisa  geübten  Erdrosselungsmetbode  vor- 
genommen werden.  Ein  direkter  Beweis,  dass  in  der  Neuzeit  eine  Zer- 
gliederung an  einem  lebenden  Menschen  vorgenommen  worden  wäre,  ist 
aber  nicht  erbracht.^) 

Indes  darf  man  den  Zeitgeist  vergangener  Jahrhunderte  nicht  über- 
schätzen, und  nicht  glauben,  man  hätte  ehemals  in  uneigennütziger  und 
kühl  erwägender  Selbstbeschränkung  immer  ruhig  zugewartet,  bis  eine 
Leiche  der  Anatomie  zugefallen  war.  So  geht  aus  den  Akten  der  medi- 
zinischen Fakultät  zu  Wien  deutlich  hervor,  dass  die  Fakultät  dem  An- 
erbieten des  Scharfrichters  zur  Vermittelung  von  Materiallieferungen  im 
Jahre  1444  willig  Gehör  geschenkt  und  sich  mit  ihm  in  diesbezügliche 
Unterhandlungen  eingelassen  hat.  Sie  wurden  mit  der  Bekanntgabe  des 
Scharfrichters  an  die  Fakultät  eingeleitet,  es  sei  eben  ein  junges  "Weib  da. 
Falls  die  Person  hingerichtet  werden  sollte,  was  er  aber  noch  nicht  wisse, 
wolle  er  insgeheim  veranlassen,  dass  die  Fakultät  sie  bekomme,  wenn  sie 
dieselbe  für  die  Anatomie  haben  will.  Worüber  die  Fakultät  sehr  zufrieden 
war  und  ihre  Vertreter  beauftragte,  sich  des  Scharfrichters  zu  versichern 
für  den  Fall,  dass  er  eines  derartigen  „Suppositum"  habhaft  werden  könnte. 
Die  Verhandlungen  blieben  nicht  ohne  Erfolg  und  die  Anatomie  kam  zu 
stände.  Aus  den  Eintragungen  über  die  nächste  im  Jahre  1452  abgehaltene 
Anatomie  ergiebt  sich,  wie  umständlich  die  Vorverhandlungen  waren,  wie 
geheim  sie  gepflogen  wurden,  und  schliesslich,  was  eben  ausschlaggebend  ist, 
dass  man  unter  den  6  Weibern,  die  hingerichtet  werden  sollten,  eine  sorg- 
fältige Auswahl  traf,  als  ob  es  sich  um  Schlachtvieh  handeln  würde.  Drei 
von  ihnen  waren  sehr  elegant  und  bemerkenswert  (elegantes  et  notabiles) 
und  unter  diesen  ward  wieder  die  eine  sehr  geeignet  befunden,  ertränkt  und 
der  Fakultät  überwiesen.  Es  genügt  übrigens  das  skandalöse,  sogar  ver- 
brecherische Treiben  der  Resurrektionistenbande  in  England  während 
des  ersten  Viertels  des  19.  Jahrhunderts  als  Beweis,  dass  die  Leichen- 
beschaffung selbst  in  vorgeschritteneren  Zeiten  in  einzelnen  Fällen  nicht 
immer  ganz  einwandfrei  gewesen  ist,  abgesehen  davon,  dass  ehemals  selbst 
hervorragende  Männer  das  Material  zu  Studienzwecken  sich  manchmal  auf 
recht  skrupellose  Weise  zu  beschaffen  wussten.  So  hat  Vesal  im  Jahre 
1536  zu  Löwen  thatsächlich  ein  Skelet  stückweise  vom  Galgen  gestohlen, 
Palfyn  (1650 — 1730)  wurde  am  Friedhof  zu  Kortrijk  beim  Leichen- 
ausscharren  betroffen  und  entging  nur  durch  die  Flucht  nach  Gent  der 
Verfolgung  der  Polizei. 

Ueber  die  an  dem  Aufschwung  Beteiligten  gehen  die  gleich- 
zeitigen und  auch  die  späteren  xA.nsichten  sehr  auseinander.    Falloppia 


')  Vgl.  die  ausführliche  Analyse  bei  Roth  Andr.  Vesal,  Brux.,  S.  473 — 85. 


Geschichte  der  Anatomie.  229 

erklärt  den  Berengar  da  Carpi  (*  vor  1470,  f  1530  24.  Nov.), 
Massa  sich  selbst  für  den  Erneuerer.  Andere  lassen  nur  Vesal 
als  solchen  gelten,  indem  sie  Falloppia  in  den  Schatten  stellen. 
Der  Historiker  Aleandri  bezeichnet  hingegen  den  Eustachi  als 
„principe  degli  anatomici",  indem  er  seinem  Schützling  einen  Titel 
beilegt,  den  in  der  1.  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  Riolan  d.  J.  zu 
Paris  für  sich  in  Anspruch  nahm.  Nach  Abwägung  aller  Umstände 
dürfte  aber  doch  dem  Kleeblatt  Vesal,  Falloppia,  Eustachi  zu  gleichen 
Teilen  das  Verdienst  der  Reformation  der  Anatomie  zuzusprechen  sein. 

Vesal  (Andreas  Vesalius  Bruxellensis),  in  Brüssel  1514  o.  1515 
geboren,  studierte  in  Löwen,  dann  1533(?)— 36  in  Paris  unter  Jacques 
Dubois  (Jac.  Sylvius)  und  Günter  von  Andernach.  Nach  einem  vor- 
übergehenden Aufenthalt  in  Löwen,  Brüssel.  Venedig  wurde  er  Dr. 
in  Padua  und  eröffnete  dort  am  6.  Dez.  1537  als  Prof.  der  Chir. 
seine  Vorlesungen  mit  einer  Schulanatomie.  Er  blieb  nun  bis  1542 
in  Italien,  veröffentlichte  mittlerweile  1538  sechs  anatomische  Tafeln 
und  gleichzeitig  eine  Neuauflage  der  Institutiones  anat.  des  G.  v.  Ander- 
nach, übersetzte  für  die  Juntina-Ausgabe  des  Galen  v.  J.  1541  die 
Schriften  über  die  Zergliederung  der  Gefässe,  die  der  Nerven,  das 
grosse  Bruchstück  de  anat.  administration.,  und  gelangte  dadurch  schon 
1540  zu  dem  richtigen  Schluss  von  der  Unhaltbarkeit  des  Galenos, 
der  nie  eine  Menschenleiche  zergliedert  hatte,  vielmehr  im  wesent- 
lichen die  Anatomie  der  Affen  lehrt.  Er  verbrachte  die  Jahre  1542 
und  43  auf  Urlaub  in  Venedig,  Ferrara  (?),  Basel  und  Hess  hier  1543 
sein  Hauptwerk  „De  humani  corporis  fabrica  libri  Septem"  in  folio 
mit  mehr  als  300  Holzschnittabbildungen,  sowie  ein  Kompendium  u.  d. 
T.  „Suorum  de  hum.  corp.  fahr,  libror.  epitome"  erscheinen.  Der 
Wert  dieser  Werke  liegt  —  ganz  abgesehen  von  dem  Fluss  der 
Schreibweise,  der  den  gebildeten  geistreichen  Mann  bekundet  —  in 
der  wissenschaftlichen  Darstellung,  in  einer  eingehenden,  wenn  auch 
nicht  erschöpfenden  Kritik  der  galenischen  Anatomie,  in  den  Ab- 
bildungen (hauptsächlich  2  nackte  Gestalten  und  5  Muskelmänner 
der  Epitome,  3  Skelette  und  14  Muskelmänner  der  Fabrica),  deren 
wohlthuende  Verbindung  von  wissenschaftlicher  Darstellungsweise  und 
künstlerischer,  manchmal  allerdings  stark  gezierter  Auffassung  sie 
weit  über  Alles  hinaushebt,  das  bis  dahin  geleistet  worden,  in  der 
Berücksichtigung  der  vergl.  Anatomie  bei  gleichzeitiger  Darbietung 
der  ersten  vergleichend  anatomischen  Abbildungen.  Nach  einem  kurzen 
Abstecher  in  die  Niederlande  verbrachte  er  die  Jahre  1543 — 44 
wieder  in  Italien  und  hielt  sich  in  Padua,  Bologna,  Pisa  auf.  1544 
als  kaiserlicher  Arzt  an  den  Hof  Karls  V.  berufen,  begleitete  er  diesen 
zumeist  auf  dessen  Reisen  bis  zum  Verzicht  auf  die  Regierung  i.  J. 
1556.  Er  besorgte  w^ährend  dieser  Zeit  eine  verbesserte  Auflage  der 
Fabrica  (1555),  worauf  er  in  den  Dienst  Philipps  II.  in  Madrid  über- 
trat. Nachdem  er  aus  einem  nicht  aufgeklärten  Anlass  eine  Fahrt 
nach  Jerusalem  unternommen,  starb  er  auf  der  Heimreise,  der  zu- 
verlässigsten Nachricht  zufolge  in  einer  griechischen  Stadt  im 
Jahre  1564. 

Vesal  ist  bei  Lebzeiten  ebensoviel  angefeindet  worden,  wie  er 
bei  Lebzeiten  und  später  in  den  Himmel  gehoben  wurde.  Thatsäch- 
lich  hat  er  als  Anstürmer  gegen  Galenos  den  Ursprung  (die  Ein- 
niündung)  der  V.  azj-gos  oberhalb  des  Herzens  nachgewiesen  und 
ziemlich   getreu  beschrieben,   während  Galen  sie  aus  der   Hohlader 


230  Robert  Ritter  von  Töply. 

entspringen  Hess,  er  hat  diesem  gegenüber  den  Herzknochen  geleugnet, 
die  Einfachheit  des  Unterkiefers,  das  Fehlen  der  Zwischenkiefemaht 
an  der  Gesichtsfläche  des  Schädels,  die  wahre  Form  und  Zahl  der 
Bestandteile  des  Brustbeins  aus  drei  Stücken  (Galen  hatte  7  Stücke 
und  einen  Knorpel  angenommen),  die  Zahl  der  Bestandteile  des  Kreuz- 
beins und  des  Steissbeins  nachgewiesen,  eine  von  Galen  abweichende 
richtigere  Beschreibung  der  Oberarmmuskeln  gegeben,  die  Cartilagines 
arytaenoidae  geschildert,  deren  Paarigkeit  schon  Berengar  gegenüber 
Galen  behauptet  hatte,  er  hat  die  Höhlen  der  Phalangen,  die  Zahn- 
höhle, die  Gelenkmenisken  des  Unterkiefers,  der  Hand  und  des  Knies 
entdeckt  (trotzdem  J.  Dubois  die  Priorität  sich  anzueigenen  versucht 
hat),  die  Solidität  der  Kammerscheidewand  des  Herzens  betont,  den 
Hymen,  die  menschliche  Placenta  beschrieben,  die  Copora  lutea  des 
Eierstocks,  die  fötale  Verknöcherung,  den  fötalen  Kreislauf,  den 
knöchernen  Gehörgang,  die  Weite  der  A.  pulmonalis  beachtet,  den 
Zusammenhang  der  Kniescheibe  mit  den  Sesambeinen  betont.  Hin- 
gegen hat  er  den  dritten  Brustbeweger  des  Galenos,  der  wol  bei 
Affen  und  Hunden  vorkommt,  aber  nicht  am  Menschen,  sowie  die  sog. 
4  Schädelformen  der  Alten  und  Natspuren  am  Brustbein,  ebenso  das 
Kreuzbein  sechsteilig,  die  Zungenbeinhörner  einmal  gleich  lang,  das 
anderemal  das  kleine  doppelt  so  lang  als  das  grosse  und  noch  dazu 
gestückt  abgebildet,  Mm.  levatores  epiglottidis,  einen  siebenten  Augen- 
muskel, einen  inneren  Nasenmuskel,  einen  Truncus  brachiocephalicus, 
das  Hinabreichen  des  Rückenmarks  bis  zum  Hiatus  sacralis  ange- 
nommen, die  Linse  in  die  Mitte  des  Auges  verlegt,  am  Ursprung  der 
Hohlader  von  der  Leber  festgehalten,  die  Venenklappen  nur  als  Ver- 
dickungen oder  Verstärkungen  der  Venenwand  aufgefasst,  die  sich 
bloss  im  erschlafften  Zustand  als  Membran  darbieten,  daher  er  sie 
nicht  abbildet,  er  lässt  die  Gehirn arterien  in  die  Sinus  einmünden 
(von  Falloppia  widerlegt)  und  verwirft  die  Entdeckungen  von  Fal- 
loppia,  nämlich  die  tiefen  Penisarterien,  die  Clitoris  und  deren  Homo- 
logie mit  dem  Penis. 

Vesals  Werke:  Paraphrasis  in  nonutn  librum  Rhazae  ad  Alman- 
8  0  7-.,  Bas.  1537,  8".  —  Sechs  Taf.  gr.  fol.  Impr.  B.  Vitalis,  Venet.  sumpt.  Jo. 
Steph.  Calcar.  1538  (3  Skelete,  4.  Taf.  Pfortadersystem,  Genitalien,  5.  T.  Hohlvenen- 
syst.,  6.  T.  Arteriensystem).  —  Epist.  docens  venam  axill.  dextri  cubiti 
in  dolore  laterali  secandam,  Bas.  1539,  4^.  —  Dehum.  corp.  fabrica  libri 
Septem,  Basil.  1.  Ausg.  1543,  fol.  max.;  *2.  Ausg.  1555.  —  Suor.  de  hum.  corp. 
fabr.  libror.  epitome,  Bas.  1543,  fol.  max.  14  Bl.  —  Epistola  rationem 
modumqii,e propinendi  radicis  Cliynae  decocti,  quo  nuper  invict.  Carolus  V. 
imp.  usus  est,  pertractans,  Bas.  1546 f.;  Venet.  1546,  8°;  Lugd.  1546,  16 '^,  1547, 
12°;  Bas.  1566,  4°,  —  *Anatomicar.  Gabrielis  Falloppii  Observation, 
ex  amen,  Venet.  1564.  —  Gesamtausgabe:  *Andr.  Vesalii  Opera  omnia  anat. 
et  Chirurg,  ed.  H.  Boerhaave  et  B.  S.  Albinus  L.  B.  1725,  fol,  2  vol.  M.  aus- 
führl.  Biographie.  Abb.  in  Kup ferst.  —  Untergeschobene  Werke:  Gabr.  Cunei 
Mediolan.  apologiae  Franc.  Putei  pro  Galeni  anatome  examen,  Venet.  1564,  4  °  (mit 
Bezug  auf  Franc.  Puteus,  Apologia  in  anatome  pro  Galeno  contra  Andr.  Vesalium, 
Venet.  1562  [G.  Cuneo  war  Prof.  d.  Med.  zu  Pavia,  erhielt  dort  1552  Gelder  zur 
Errichtung  eines  anat.  Theaters,  lourde  1554  Lehrer  der  Anat.  Sein  Nachfolger 
war  1573174 — 1606  L.  G.  Carcano  A.  Gorradi,  Memorie  e  documenti  per  la 
storia  delV  Univ.  di  Pavia,  1,  1878);  Chirurgia  magna  ...  a  Prosp.  Borgarutio 
recogn.,  einend,  et  in  lucem  ed.  Venet.  1568,  8 "  (eine  plumpe  Fälschung).  —  Ve^ah- 
biographie:  *Burggraeve  (Ad.),  Etiides  sur  Andre  Vesale,  Gand.  1841.  M. 
Portr.  in  Kupferst.  u.  Facs.  438  S.  Sehr  eingehendes  Referat  über  Vesals  Anor- 
tomie.  —  *Roth  (M.),  Andreas  Vesalius  Bruxellenis.  M.  30  Taf..  Berl.  1892,  500  S. 
{kritische  Arbeit,  bringt  neue  Urkunden,  ergänzt  das  Vorige).  —  *  .Täcks  chath  iE.), 
D.  Begründung  der  modernen  Armt.  durch  Leon,  da  Vinci  u.  d.  Wiederauffindung 


Geschichte  der  Anatomie.  231 

ziceier  Schriften  dess.,  Nmhurgers  „Med.  Blätter^,  Wien  1902,  N.  46  {erklärt  die 
Fahrica  Tesals  als  ein  Plagiat  nach  Leonardo;  verspricht  eine  ausführlichere  Dar- 
legung. In  der  vorliegenden  Fassimg  zu  oberflächlich,  um  eine  iceitere  Würdigung 
zu  verdienen). 

Venetianer  Ausgaben  der  Fabrica  in  kleinerem  Formate  1568  u.  S.  a.;  Werke 
mit  Abdruck  der  Originalholzplatten  von  Torinus  (Alban.),  Bas.  1543,  Ma  sehen - 
baur  [Dr.  u.  Verl.),'  Augsb.  1706,  1723,  *Leveling  {Heinr.  Palmaz),  Ingoist.  1783; 
friihere  Nachahmungen  von  Macrolios  [Aegid.].  S.l.e.a.  [Cöln  1539),  de  Neck  er 
{.lobst.),  Augsb.  1539,  o.  0.  u.  J.  {Cöln),  Ryff  {M.  Ghialth.  Herrn.),  Strassb.  1541; 
spätere  Nachahmimgen  von  Ge minus  {Thom.),  Lond.  1545,  Grevin  {.lacq.),  Par. 
1-569.  Bauman  (Jac),  Nürnb.  1551.  1575,  Amst.  1617,  de  Piles  {Roger)  u.  Torte- 
bat  {FranQ\  Par.  {1667)  1668,  1733,  1798199  (d.  früheste  f.  Künstler  bestimmte 
Anatomie,  Uebers.  von  Ger  icke.  Sam.  TJieod.,  Berl.  1706).  Bonavera  {Domen.), 
S.  l.  e.  a.,  Moro  {Jac.  Giac),  Vin.  1679,  Sandifort  (Ed.),  L.  B.  1783,  —  Vgl. 
Choulant,  Gesch.  d.  anat.  Abb.,  1852,  S.  43 — 58. 

Yesals  Gegner  gehören  zwei  verschiedenen  Richtungen  an.  Die 
Vertreter  der  einen  sind  die  starren  Galenisten.  Dahin  gehört  Du- 
bois  (Jac.  Sylvius)  in  Paris,  der  sich  um  die  anatomische  Nomen- 
klatur ein  umstreitiges  Verdienst  erworben  hat.*)  Er  empfand 
die  Angriffe  Vesals  gegen  Galenos  als  die  eines  Wahnwitzigen 
(vaesani  cuiusdam),  da  er  sich  den  Mangel  an  Uebereinstimmung  der 
Befunde  am  Menschen  mit  der  Beschreibung  des  Galenos  durch  eine 
seither  stattgefundene  und  noch  anhaltende  physische  Degeneration 
des  Menschen  zu  erklären  wusste.^)  Dahin  zählt  auch  der  allerdings 
weniger  bedeutende  Pozzi  (Francesco,  von  Vercelli).^)  Die  andere 
Gruppe  besteht  aus  Männern  des  Fortschrittes,  die  ihn  bei  der 
.schwachen  Seite  angriffen.  Er  hat  sich  nur  gegen  einen  derselben 
o'ewehrt.  das  ist  der  ihm  gleichwertige  Falloppia.  Doch  kam  die  in 
Form  einer  Kritik  gehaltene  Schrift  vom  27.  Dez.  1561  nicht  mehr 
in  des  letzteren  Hände. 

Falloppia  (Gabrielle, ')  *  1523,  j  1562,  9.  Okt.)»)  hat  weder  ein 
so  einheitliches  Werk  herausgegeben  wie  die  Fabrica  Vesals,  noch 
liat  er  der  Illustration  einen  höheren  Wert  beigelegt,  als  den  eines 
gelegentlichen  Verständigungsmittels.  Er  hat  sich  jedoch  in  seinen 
Schriften,  welche  das  ganze  Gebiet  der  Anatomie  betreffen,  einer  be- 
sonderen Genauigkeit  beflissen,  daher  die  Anatomie  um  eine  grosse 
Zahl  von  Entdeckungen  bereichert.  Besonders  hervorhebenswert  sind 
seine  Beschreibungen  des  Knochensystems,  der  Knochenentwicklung, 
des  Gehörorgans.  Er  beschreibt  als  Erster  3  Muskelpaare  des 
weichen  Gaumens,  kennt  die  Gefässe  der  Hirnsubstanz,  verbessert 
Vesal  bezüglich  der  Einmündung  der  Gehirnarterien  in  die  Sinus, 
beschreibt  die  Hals-  und  Lendenanschwellung  des  Rückenmarks, 
liefert  einen  genauen  Nachweis   der  Clitoris  und  stellt  deren  Homo- 


*)  Von  ihm  stammen  die  Gefäss-  ii.  Muskelnamen :  cystica,  gastrica,  intercostalis, 
cervicalis,  renalis,  cruralis,  poplitea,  obturator  ext.,  int.  etc. 

*)  Die  Zurückweisung  Vesals  durch  Dubois  (Vaesani  cuiusdam  calumniamm  in 
Hippocratis  Galenique  rem  anatomicam  depulsio)  u.  die  für  Vesal  eintretende  Ver- 
teidigungsschrift ist  enthalten  in:  *Hener  (Renat.  Lindoens.),  Advers.  Jac.  Sylvii 
depulsion.  anatomicar.  calumnias  pro.  Andr.  Vesalio  Apologia,  Venet.  1555  (Vorrede 
V.  3.  Id.  Nov.  1554),  8  »,  134  +  1  P- 

*)  Puteus  (Franc.  Med.  Vercellens.),  Apologia  in  anatome  pro  Galeno,  contra 
Andr.  Vesalium  Bruxellens.,  Venet.  1562;  Gegenschrift:  Guneus  (Gabr.  Medio- 
laiiens.),  Apologiae  Franc.  Putei  pro  Galeni  anatome  examen,  Venet.  1564,  4  °. 

')  Dies  die  eigene  Schreibweise.  Vgl.  *Corradi  (A.),  Tre  lettere  d'illustri 
anatomici  del  Cinquecento  Aranzio-Canano-Falloppia,  Milano  1883,  30  S. 

*)  Prof.  d.  Anat.  1548  zu  Ferrara,  gleich  darauf  zu  Pisa,  1551  Prof.  d.  Anat. 
u.  Botan.  in  Padua. 


232  Kobert  Ritter  von  Töply. 

logie  mit  dem  Penis  fest,  entdeckt  die  tiefen  Penisarterien,  schildert 
die  nach  ihm  benannten  Tuben,  er  untersucht  das  Auge  und  dessen 
Umgebung,  giebt  dem  „ligamentum  ciliare"  seinen  Namen,  beschreibt 
den  M.  levator  palpebrae,  den  obliquus  sup.  mit  seiner  Rolle,  den 
Ursprung  des  N.  trochlearis  und  dessen  Ende  im  M.  obliq.  sup. 
Seine  Abhandlung  über  die  „partes  similares"  (Knochen,  Knorpel, 
Nerven,  Bänder,  Sehnen,  Arterien,  Venen,  Häute)  ist  weitaus  wissen- 
schaftlicher,  als  die  seiner  Vorgänger.  Wenn  man  ihn  deshalb 
als  Vorläufer  Malpighis  und  Bichats  hinstellt  (Haeser),  so  ist  dies  nur 
mit  dem  Vorbehalt  aufzufassen,  dass  dieses  Kapitel  schon  bei  den 
mittelalterlichen  Anatomen  eine  Hauptrolle  gespielt  hatte,  aber  sehr 
schematisch  behandelt  worden  war.**) 

Eustachi  (Bartolomeo,  da  Sanseverino-Marche,  *  ?,  f  1574 
Aug.)^^j  hatte  ein  umfangreiches  Tafel  werk  in  Kupferstich  mit  mono- 
graphischer Behandlung  der  einzelnen  Abschnitte  vorbereitet,  aber 
nur  einige  Bruchstücke  davon  herausgegeben  (Nieren,  Gehörorgan, 
Knochen,  Vena  azygos  und  tiefe  Armbeugenvene,  Zähne).  Ursprüng- 
lich ein  treuer  Anhänger  Galens,  schwang  er  sich  später  zu  selb- 
ständiger Auffassung  auf.  Er  berücksichtigte  in  den  Abschnitten 
über  die  Nieren  und  Zähne  die  Entwicklungsgeschichte  vom  Fötus 
an  und  flicht  auch  vergleichende  Erörterungen  aus  dem  Tierreiche 
ein.  In  der  Abhandlung  über  die  Nieren  beschreibt  er  Einzelheiten, 
die  später  Bellini  wieder  entdeckt  hat.  Eine  Gesamtausgabe  seiner 
mittlerweile  verschollenen  Tafeln  veranstaltete  erst  1714  Lancisi  mit 
eigenem  Kommentar,  da  der  nicht  gedruckte  des  Eust.  verloren  ge- 
gangen war.  Diese  Tafeln  enthalten,  trotz  ihres  geringen  künstle- 
rischen Werts,  aber  zufolge  ihrer  Genauigkeit  und  Naturtreue  soviel 
des  Neuen,  dass  sie  dem  Urheber  einen  Ehrenplatz  sichern.^ ^) 


Spanien.^) 

Die    in   Italien    reformierte  Anatomie   fand   in   den   spanischen 
Schülern  der  Reformatoren  sofort  entsprechenden  Anklang.    G  i  m  e  n  o 


®)  Anatomische  Werke:  Institutiones  anat. ;  observationes  anat. ;  obser- 
vationes  de  venis;  de  partibus  similaribus.  Das  bedeutendste  darunter,  die  Obss. 
anat.  erschien  Venet.  1561,  8",  1562,  S»,  1571,  8",  Par.  1562,  8»,  Colon.  1562,  8". 
Gesamtausgabe  der  Opera  Venet.  1584  fol.,  Francof.  1600  fol.,  *  Venet.  1606  fol., 
letztere  die  beste,  in  3  Bdn.  —  Untergeschoben:  De  corp.  hum.  fabrica  com- 
pendium,  Venet.  1511. 

^'^)  Seit  1539  angestellter  Stadtarzt  (phisicus),  später  Prof.  d.  Anat.  an  d. 
Sapienza  in  Rom. 

^^)  Opuscula  anat.  *Venet.  1563  (nicht  1564,  wie  Choiilant  u.  Haeser  an- 
giebt),  4  ö,  m.  8  Taf.  (Originalausg.),  L.  B.  1707,  Delphis  1726  m.  schlechteren  Nach- 
stichen. —  Hanptausgaben  der  Tabulae  anat.  Rom  1714,  *1728  (Ed.  Romana  altera, 
vermehrte  Ausg.),  beide  mit  Text  von  Lancisi  (Jo.  Maria),  Rom  1740  u.  d.  T. 
*Riflessioni  anat.  sulle  noti  di  Lancisi  fatte  sopra  le  tavole  del  cel. 
B.  Eustachio  mit  Text  von  Petrioli  (Gaetano),  sämtlich  fol.  Wegen  der  übrigen 
vgl.  Choulant,  Gesch.  d.  anat.  Abb.  S.  59  u.  f.  Die  Tafeln  des  Eust.  haben  graduierte 
Randleisten  wie  die  Landkarten  u.  einen  eigenen  Massstab  als  Beigabe  zur  Orts- 
bestimmung des  gesuchten  Gegenstandes.  Diese  Massstäbe  sind  zumeist  verloren 
gegangen.  Ich  besitze  einen  solchen.  —  *Aleandri  (Vittor.  Eman.),  La  famiglia 
del  cel.  anat.  Bart.  Eustachi,  Bari  1892,  21  S.     (Urkundlich  festgestellte  Genealogie.) 

*)  Portal,  Hist.  de  Tanat:  Choulant,  Gesch.  d.  anat.  Abb.;  Roth,  Andr. 
Vesal.  Brux. ;  Garcia  a.  a.  0. 


Geschichte  der  Anatomie.  233 

(Pedro)-)  hat  schon  1549  eine  sehr  g-enaue  Beschi*eibung  des  Steig- 
bügels gegeben.'^)  Valverde  de  Haniiisco  (Joan,  Schüler  des 
Colombo.  erster  Arzt  des  Kardinals  Joan  de  Toledo  in  Eom;  Lebens- 
umstände nicht  genau  bekannt)  verbessert  den  Yesal  mehrfach,  z.  B. 
bezüglich  der  Zahl  und  Vemchtung  der  Augenmuskeln,  bezüglich  der 
Nasenmuskeln  durch  Beschreibung  der  Levatoren.  bezüglich  des  Ver- 
laufs der  Vertebralarterie.  der  Verästelung  der  V.  subclavia.  Er 
schreibt  aber  sich  selbst  überdies  eine  Keihe  von  Entdeckungen  zu, 
die  schon  Andere  gemacht  hatten.  So  ist  seine  angebliche  Entdeckung 
des  Steigbügels  ein  Verdienst  des  Gimeno.  Valverde  ist  der  erste 
spanische  Anatom,  der  Kupferstichillustrationen  (gezeichnet 
von  Becerra.  ^össtenteils  in  Anlehnung  an  Vesal,  einzelne  originell, 
gestochen  von  Nie.  B e a t  r i z e t)  anwendet.  *)  C o  1 1  a d o  (Luis, 
Schüler  des  Vesal  und  dessen  eifi-iger  Vertreter  gegenüber  Jacq. 
Dubois)  giebt  schon  eine  auf  Naturbeobachtung  gegründete  Knochen- 
lehre, allerdings  ohne  wesentlich  Neues  zu  bringen.^)  Collados  Schüler 
Cosme  de  Medina  (Prof.  zu  Salamanca)  war  ein  eifriger  Freund 
der  Anatomie.  Der  Bakalar  Kodriguez  de  Guevara  (Alfonso) 
hat  an  der  über  sein  Ansuchen  in  Valladolid  errichteten  Lehrkanzel 
der  Anatomie  20  Monate  unter  gi'ossem  Zuspruch  gelehrt,  sich  aber 
später  nach  Lissabon  gewendet,  wo  Juan  IIL  ihm  eine  gut  dotierte 
Lehrkanzel  verlieh.^)  Die  Univereität  zu  Salamanca  setzte  1561  über 
Anregung  des  D.  Covarrubias  fest,  der  Professor  der  Anatomie 
soll  jährlich  zwischen  dem  St.  Lukastag  (18.  Okt.)  bis  Ende  März 
30  öffentliche  Autopsien  an  Menschen-  und  Tierleichen  abhalten. 
1580  war  hier  Väzquez  (Augustin)  Professor  der  Anatomie.  Er 
wurde  1583  für  4  weitere  Jahre  gewählt.  Erst  30  Jahre  nach  dem 
Werke  des  Rodr.  de  Guevara  verfasste  jedoch  wieder  eines  Andres 
de  Leon  (Leibarzt  Philipps  ILj ") 

Im  grossen  Ganzen  ist  das  anatomische  Studium  in  Spanien 
während  des  16.  Jahrhunderts  trotz  der  vielversprechenden  Anfänge 
sehr  schnell  zurückgegangen  um  dann  recht  lang  darnieder  zu  liegen. 
Weitaus  wertvollere  Leistungen,  als  auf  dem  Gebiete  der  deskriptiven 
Anatomie  wurden  auf  dem  der  Kunstanatomie  vollbracht.  Das  Land 
eines  Velazquez  (1599—1660)  undMurillo  (1617—82)  war  ja  nie 
arm  an  Künstlern   mit  Verständnis  für  die   Form  des  menschlichen 


')  Stud.  in  Paris,  Löwen,  Pavia  unter  Dnbois,  Brachelius,  Vesal,  war  20  Jahre 
Prof.  zn  Valencia. 

*)  Dialogns  de  re  med.  . .  .  universam  anatomen  hnm.  corp.  per- 
stringens,  summe  necessarius  omnih.  med.  candidatis.    Valencia  1549. 

*)  Historia  de  la  composicion  del  cuerpo  humane,  Roma  1556, 
fol.  m.  42  Kupfertafeln  u.  Kupfertitel,  u.  öfter  bis  1607  in  verschiedenen  Sprachen. 
Choulant  a.  a.  0.  S.  63  hat  folgende  Ausg.  nicht  erwähnt:  *La  anat.  del  corpo 
um.  da  M.  Giovanni  Valverde  nnovamente  ristamp.  E  con  Taggiunta  di  alcune 
tauoli  ampliata.  In  Yinet.  nella  stamp.  de  Giunti  1586.  Kupfert.,  Vorrede  v. 
20.  Mai  1559  m.  Hinweis  auf  den  Uebersetzer  Tabo  da  Albenga  (Ant.),  Kupferstich- 
portr.  bez.  NB.,  154  Seiten,  42  Kupfer  der  ursprüngl.  Ausg.  nebst  4  Muskelmännem 
als  Zusatz  zum  2.  Buch  (in  meinem  Besitz,  von  tadeUoser  Erhaltung).  —  Portal 
a.  a.  0.  I  536:  Titelblätter  der  Ausg.  Rom  1556  u.  1560  bei  Duval  et  Guy  er 
a.  a.  0.  Fig.  37,  38. 

*)  In  Galeni  librum  de  ossib.  ad  tyrones  enarrationes.  Valent,  8°, 
78  p.,  1555.  Am  Schluss:  Ossium  capitis  foraminum  et  sinnum  ad  tvrones  brevis 
descr.  8  p.  —  Portal  a.  a.  0.  I  523. 

*)  De  re  anat.,  Conimbr.  1559:  1592. 

')  De  anat.  liber.  Besäe  1590,  4». 


234  Robert  Ritter  von  Töply. 

Körpers.  Zu  diesen  gehört  Berruguette  (Alfonso,  1480—1561), 
Felipe  de  Vigarny  (Fei.  de  Borgofia),  Becerra  (Gaspar,  1520 — 
70,  Illustrator  des  Valverde),  hauptsächlich  aber  De  Arphe  y 
Villafane  (Juan  1535—95?;  Schüler  des  Cosme  de  Medina).  Seine 
von  Albr.  Dürer  beeinflusste  Proportionslehre  ist  naturgetreuer, 
lebendiger,  geistreicher  und  eingehender  illustriert,  als  die  des 
deutschen  Meisters.  Den  Wert  der  anatomischen  Figuren  beurteilen 
Duval  und  Cuyer  ,,le  texte  est  accompagne  de  figures,  qui,  pour  la 
myologie,  ont  une  certaine  valeur,  mais  qui,  pour  l'osteologie,  sont 
d'une  inferiorite  surprenante".  Indes,  auch  die  Valeur  der  rayo- 
logischen  Figuren  ist  eine  quantite  negligeable,  wenigstens,  soweit 
dies  den  bekannten,  wiederholt  reproduzierten  Torso  betrifft.^)  Im 
17.  Jahrhundert  folgt  der  wahrhaft  verdiente  M  a  r  t  i  n  e  z  (Crisostomo, 
1650—94),  von  dessen  auf  20  Tafeln  berechnetem  Werk  jedoch  nur 
zwei  erschienen  sind,'"*)  und  erst  im  19.  Jahrhundert  Esquivel 
(Ant.  Maria).^**)  Auch  der  Professor  der  Anatomie  zu  Zaragoza 
während  der  2.  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  Ta bar  (Valero)  hat  sich 
viel  mit  Kunstanatomie  befasst. 

Im  Verhältnis  zu  der  langen  Zeit,  seit  welcher  die  Anatomie  in 
Spanien  heimisch  ist,  und  im  Vergleiche  mit  den  Leistungen  anderer 
Länder  sind  die  Errungenschaften  der  Erben  der  kulturell  hoch- 
stehenden Araber  recht  spärlich.  Erst  in  der  neueren  Zeit  ist  wieder 
ein  feineres  Verständnis  und  ein  tieferer  Sinn  für  die  Aufgaben  der 
Wissenschaft  aufgetaucht.  Die  Professoren  der  Anatomie  in  Granada 
Maestre  de  San  Juan  und  Garcia  Carreras  haben  sich  um 
die  Geschichte  des  Fachs  verdient  gemacht.  Garcia  (Victor  Escri- 
bano)  hat  das  20.  Jahrhundert  mit  einer  übersichtlichen  Besprechung 
der  Anatomie  und  der  Anatomen  in  Spanien  des  16.  Jahrhunderts 
eingeweiht,  Eamon  y  Cajal  (Santiago,  *  1852  1.  Mai)^^)  vertritt 
die  neueste  Richtung  der  histologischen  Forschung,  insbesondere  auf 
dem  Gebiet  des  Nervensystems.^-) 


Italien. 

Für  Italien  bedeutet  das  Auftreten  der  drei  Genannten  eigentlich 
nur  eine  Etappe  in  dem  seit  dem  Mittelalter  ununterbrochen  sich 
fortentwickelnden  anatomischen  Studium.  Es  folgen  einander  nun  im 
16.   Jahrhundert  Ingrassias  (Giov.  Filippo,  *  1510,  f  1580),^)  der 


*)  Varia  commensuracion  para  la  escultura  y  arquitectura, 
Sevilla  1585,  fol.  u.  öfter;  8.  Ausg.,  Madrid  1806  von  Asseusio  y  Torres.  — 
Vgl.  Choulant  a.  a.  0.  S.  72  u.  f.,  Duval  et  Cuyer,  Hist.  de  l'anat.  plast.  p. 
123  sq.    Hier  auch  Näheres  über  das  Todesdatum. 

*)  Beide  Tafeln  bei  Duval  et  Cuyer  fig.  46,  47,  letztere  auch  bei  Chou- 
lant S.  101. 

^°)  Tratado  de  anatomia  pictorica.    Madrid  1848. 

'^)  Schüler  seiues  Vaters,  Professors  der  prakt.  Anat.  in  Zaragoza,  1881  im 
Konkurs  Prof.   d.  Anat.  in  Valencia,  86  d.  Histol.  in  Barcelona,   seit  92  in  Madrid. 

^*)  Manual  de  anat.  general,  Valenc.  1885.  —  Elementos  de  histol. 
normal,  Madr.  1892.  —  Les  nouvelles  idees  sur  la  fine  anat.  du  syst. 
nerveux.  Paris  1895.  —  Textura  del  sist.  nerv,  del  homb.  y  de  los 
vertebr.  1899.  —  Vgl.  Pageis  Lex.  S.  1343,  Waldeyer  Ueber  einige  neuere 
Forschungen  etc.  S.  14  u.  f. 

^)  Prom.  in  Padua  1537,  Prof.  d.  theoret.  u.  prakt.  Medizin  u.  Anatomie  in 
Neapel  bis  1560,  dann  Archiater  von  Sizilien. 


Geschichte  der  Anatomie.  235 

Führer  der  neapolitaniselien  Anatomen,  Entdecker  des  Steigbügels 
(1546J.  Freund  des  Vesal  und  des  Galeuos  zugleich.-)  der  von  ihm 
abhängige  Kompilator  Catti  (Francesco  Antonio,  Professor  der 
Chiurgie  und  Anatomie  in  Neapel).-^)  Ingrassias  Schüler  und  Nach- 
folger Jasolini  (Giul.)."')  Yesals  Hörer  und  Nachfolger  zu  Padua 
und  Pisa  Colombo  (Realdo,  f  1559)^)  rühmt  sich  einer  Hörerschaft 
von  300  Personen  und  darüber.  Er  hat  bis  zu  14  Leichen  in  einem 
Jahr  —  im  Spital  und  privatim  —  seziert.  In  seiner  flott  ge- 
schriebenen Anatomie  unternimmt  er  gegen  50  Angrifle  auf  Vesal, 
über  70  auf  Galen,  20  auf  Beide,  mehr  als  20  auf  Aristoteles.  Er 
misst  sich  viele  Entdeckungen  bei.  obzwai*  er  andererseits  deni  Herzen 
die  muskulöse  Natur,  dem  Penis  Venen  und  Nerven  abspricht,  dem 
Uterus  Acetabula  zuspricht  und  eine  haltlose  Lehre  von  den  Augen- 
muskeln aufstellt.  Hingegen  beschreibt  er  gut  den  Steigbügel,  er 
kennt  die  vordere  Abflachung  der  Linse,  deren  Lage  vor  der  Mitte 
des  Auges,  den  Dui'chtritt  der  Aa.  vertebr.  dui'ch  das  Hinter- 
hauptloch, deren  Vereinigung  zur  A.  basil.  und  abermalige  Trennung. 
Sein  Hauptverdienst  ist  die  Darstellung  des  Lungenblutlaufs.  *) 
Aranzio  (Giulio  Cesare.  auch  Aranzi  de  Maggi  genannt,  *  1530, 
j  1589  7.  April) ")  liefert  eine  Beschreibung  der  schwangeren  Gebär- 
mutter und  des  Fötus  und  entdeckt  den  arteriellen  Gang  zwischen 
der  Lungenarterie  und  Aorta.  *j  welcher  fälschlich  nach  dem  auf 
anatomischem  Gebiete  kaum  erwähnenswerten  Botallo  (Leonardo, 
Konsiliarius  und  Arzt  des  Königs  Karl  IX.,  der  Königin,  des  Herzogs 
Wilhelm   von  Brabant)   benannt  ist^)    Varolio  (Costanzo,  *  1543, 


^)  In  Galeni  librum  de  ossib.  commentaria,  Panonn.  1603  (postiuin). 
—  N.  b.    Laut  Gurlt-Hirsch  Lex.  IH  345,  starb  Ingr.  am  6.  ^'oT.  1680! 

^)  *Anatomes  Enchiridion  .  .  .  medicinae  candidatis  admodum  necessar. 
Neap.  1552,  4^. 

*)  Quaestiones  anat. ,  Osteologia  parva,  de  cordis  adipe,  de  aqua  in 
pericardio.  de  pingnedine  in  gen.,  Neap.  1572.   —  Oollegium  anat.,  Hanov.  1654. 

*)  Schüler  des  Jo.  Ant.  Leonicus  gen.  Flatus  in  Venedig.  Schülers  des  1531 
verst.  Chirurgen  Dom.  Senuus ;  Prof.  d.  Anat.  in  Padua  nach  dem  Abgange  Yesals, 
1544  in  Pisa,  um  1548  in  Eom. 

«)  De  re  anat.  libri  XV,  Venet.  1539,  fol..  *Par.  1562,  8»,  495  S.  u. 
öfter;  deutsch  von  *Schenck  (Job.  Andr.,  nicht  Schenk,  Avie  Haeser  angiebt)  u.  d.  T. 
Anatomia,  d.  i.  sinnreiche  künstliche  begründete  Aufschneidung,  Theilung  vund 
Zerlegung  .  .  .  Mit  angefügter  analogischer  Zugaab  darin  sceleta  Bruta  etc. 
Frankf.  a.  M.,  fol.,  274  S.  m.  Kupf.  Nur  der  Titel  1609,  der  Inhalt  1608,  die  Tier- 
figuren Kopien  nach  Coiter.  —  Kritik  des  Colombo  bei  Koth,  A.  Vesal.  Br. 
S.  256  u.  f. 

')  1556 — 89  Prof.  d.  Anat.  in  Bologna,  wo  er  den  Brauch  abschaffte,  zufolge 
dessen  aUe  Professoren  der  Reihe  nach  iSe  Anatomie  vortragen  mussten. 

*)  De  hum.  foetu  opusc,  Eom  1564,  8°:  Venet.  1571,  1587  u.  ö.  4».  —  Obss. 
anat.,  Venet.  1587,  159.5,  4P;  Basil.  1671,  8«.  —  Brief  an  Aldrovandi  bei  Corradi, 
Tre  lettere  etc.  (s.  oben). 

")  Mit  der  Erwähnung  des  Botallo  sticht  man  in  ein  kaum  entwirrbares  Ge- 
webe von  falschen  Deutungen.  Botallo  hat  in  seinen  anat.  Beobachtungen  das 
bereits  dem  Galenos  bekannnte  fötale  Foramen  ovale  des  Herzens  unter  dem  Titel 
„Vena  arteriamm  nutrix,  a  nullo  antea  notata"  beschrieben  und  in  der  bei- 
geschlossenen Abbildung  des  Herzens  auch  jenen  nach  ihm  benannten  Gang  darge- 
stellt (* Opera  omnia  ...  e  musaeo  Job.  van  Home,  Lugd.  Bat.  1666,  8", 
800  p.  Seite  66  u.  f.).  Bei  der  Beschreibung  des  for.  ov.  gebraucht  er  den  Ausdruck 
„ductus'',  sodass  ein  oberflächlicher  Leser  leicht  den  Eindruck  gcAvinnen  kann,  er 
meine  thatsächlich  jene  Anastomose  zwischen  der  Aorta  u.  Pulmonalis.  Die  Fabel 
der  Biogr.  med.,  wonach  Bot.  ein  Schüler  des  300  Jahre  älteren  Lanfranchi  gewesen 
sein  soll,  hatte  schon  de  Reuzi  (Stör.  d.  med.  in  It.  III  174,  1845)  widerlegt  und 
erklärt.  Bot.,  Schüler  des  TrincaveUa  u.  Falloppia,  ist  um  1530  promovirt  —  nicht  ge- 


236  Robert  Ritter  von  Töply. 

t  1575)^°)  beschreibt  eingehender  das  Cerebrospinalsystem  (pons 
VaroliiV^)  Carcano  (Leone  Giambattista,  *  1536,  f  1606)^-)  be- 
schreibt wieder  einmal  das  ovale  Fenster  und  dessen  Klappe  im  Herzen 
des  Fötus,  dann  die  geraden  und  schrägen  Augenmuskeln,  die 
Thränendrüse  und  die  Thränenwege.^"')  Fabrizi  d'Acquapen- 
dente  (*  1537,  f  1613),'^)  gilt  mit  Unrecht  als  Entdecker  der  Venen- 
klappen,  denn  schon  vorher  hatten  sie  Ch.  Estienne  in  der  V.  azygos 
und  Giov.  Batt.  Cannani  daselbst  wie  auch  anderswo  nachgewiesen, 
auch  Jacq.  Dubois,  Vesal,  Eustachi  hatten  sie  gesehen  und  beschrieben. 
Indes  hat  Fabrizi  die  bis  dahin  ausführlichste  Beschreibung  und  um- 
fangreichste Abbildung  derselben  geliefert  (1603).  Die  Abbildungen  zu 
W.  Harvey's  anatomisch-experimenteller  Studie  über  die  Herz-  und 
Blutbewegung  bei  den  Tieren  (1628)  sind  dieser  Abhandlung  (tab.  2, 
fig.  1)  entnommen.  Sein  grösstes  Verdienst  liegt  auf  dem  Gebiet  der 
Embryogenie.  Die  diesbezüglichen  Abhandlungen  liefern  sachlich 
und  in  Abbildungen  das  Umfangreichste,  was  bis  dahin  in  dieser  Be- 
ziehung geleistet  worden.  Er  hat  darin  als  Erster  die  Decidua  er- 
wähnt und  abgebildet,  als  würdiger  Vorgänger  von  Munniks  van 
Cleef,  Everard  Home,  B,ichard  Owen,  Kölliker,  Giov. 
Batt.  Ercolani  die  Placenta  vom  vergleichend-anatomischen  Stand- 
punkt studiert.  Ueberdies  hat  er  zu  Padua  auf  eigene  Kosten  ein 
schönes  anatomisches  Theater  errichtet. ^^)  Sein  Bedienter,"  Schüler 
und  Nachfolger  Casserio  (Giulio,  *  1561,  j  1616;  seit  1604  Prof  d. 
Anat.  zu  Padua)  veröffentlichte  prachtvolle  Tafelwerke  über  die 
Stimm-  und  Gehörorgane,  dann  über  die  Sinnesorgane  mit  Berück- 
sichtigung der  vergl.  Anatomie.  Er  hinterliess,  ohne  die  Hauptauf- 
gabe seines  Lebens  erfüllt  zu  haben,  78  Platten  zu  einer  illustrierten 
Anatomie.  Sie  wurden  1627  von  Rindfleisch  (Daniel  Bucretius,  aus 
Breslau)  herausgegeben.^")    In  diese  Gruppe  gehört  auch  der  Belgier 


boren  —  worden.  Dennoch  hat  Frölich  im  Biogr.  Lex.  von  Gurlt-Hirsch  I  545 
die  alten  Märchen  wieder  aufgetischt. 

^")  Prof.  in  Bologna,  seit  1573  an  der  Sapienza  in  Rom. 

")  De  nervis  optic.  nonnulltsq.  aliis  praetor  coramunem  opi- 
nion.  in  hum.  capite  observatis  epist.,  Patav.  l.'iTS,  8°,  Francof.  1591.  8**. 
—  Anatoraia  s.  de  resolutione  corporis  hum.  lihri  IV,  Francof.  1591,  8**. 

^^)  Schüler  seines  durch  Vesal  gebildeten  Bruders  Pietro  Martire,  dann  des 
Falloppia,  seit  1593  Lehrer  der  Anat.  zu  Pavia. 

^*)  Suir  unione  dei  vasi  grossi  del  cuore  nel  feto.  Sui  muscoli 
deir  occhio  e  delle  palpebre,  1593. 

**)  Falloppias  Nachf.  zu  Padua  seit  1562. 

^')  Anat.  u.  physiol.  Einzelabhandlungen  in  versch.  Ausgaben,  1600 — 24.  — 
Opera  chir.,  16i3  u.  öfter  bis  1665,  ital.,  Päd.  1672,  fol..  deutsch  von  Job. 
Scultet,  Mrnb.  1673:  *2.  Aufl.,  Nürnb.  u.  Franki.  1684,  4«,  358  S.  u.  Anhang.— 
Opera  omnia  seit  1625  öfter,  L.  B.  cur.  B.  S.  Albin.  1738  f.  —  Opera  omnia 
anat.  et  physiol.  *Lips.  1687,  praef.,  Job.  Bohnii,  Fol.  452  p.,  c.  tab.  (de 
formatione  ovi  pennatorum  pennati  uterorum  bist.  m.  7  Taf.;  de  formato  foetu  m.  32 
Taf . ;  de  ventriculo  intestinis  et  gula;  de  venarum  ostiolis,  m.  8  Taf.;  de  respiratione 
et  ejus  instrumentis ;  de  oculo  m.  4  Taf. ;  de  aure  m.  1  Taf. ;  de  larynge  m.  6  Taf. ; 
de  locutione;  de  motu  locali  animalium;  de  musculis;  de  articulorum  structura;  de 
totius  animalis  integumentis).  —  *Romiti  (Guglielmo),  II  merito  anat.  di  Girol. 
Fabrizi  d'Acquap.  Estr.  da  Lo  Sperimento   1883.     8  p. 

^**)  De  vocis  anditusque  organis.  Ferrar.  1601  fol.  maj.  m.  37  Kpft.  — 
Pentaesthesion  h.  e.  de  quinque  sensib.  liber.  *Venet.  apud  Nicolaum  Misserinum 
S.  a.  (1609)  fol.,  346  S.,  33  Taf.  (in  meinem  Besitze;  Choulant  hat  diese  Original- 
ausgabe nicht  gesehen),  Francof.  1610(1622).  —  *Jul.  Casserii  ...  tab.  anat.  78  ... 
Dan.  Bucretius  20  quae  deerant  supplevit  etc.,  Venet.  1627,  fol.,  97  anat.  Taf.  ui. 
Erkl.  (über  d.  versch.  Ausg.  vgl.  Choulant,  Gesch.  d.  anat.  Abb.  S.  76  u.  f.). 


Geschichte  der  Anatomie.  237 

Van  den  Spieghel  (Spigelius,  Adriaen,  *  1578,  f  1625),^^  dessen 
wichtigste  Arbeiten  die  Leber  nnd  das  Nervensystem  betreffen.'^)  Die 
herrschende  zootomische  Richtung  vertritt  der  Altmeister  Severino 
(Marco  Aurelio,  *  1580  2.  Nov.,  f  1656  16.  Juli).^«')  Mit  seiner 
„Zootomia  democritea"  (1645)  setzt  die  wissenschaftliche  Behandlung 
der  vergl.  Anatomie  ein.  -*')  Ueberdies  verdienen  einer  Erwähnung 
Piccolomini  (Archangelo,  *  1526,  j  um  1605;  Prof.  d.  Anat.  in 
Rom)  wegen  der  von  ihm  herrührenden  Bezeichnung  „linea  alba 
abdominis'',  sonst  ein  mittelmässiger  Schriftsteller  mit  viel  Interesse 
für  Galen ■-^)  und  Boschi  (Hyppolito.  *  1540.  f  ?;  Schüler  von  Canano, 
öffentlicher  Lehrer  am  „Gymnasium"'  zu  Ferrara  und  Gemeinde- 
chirurg), ■-'^)  sowie  der  Friese  Koyter  (Coiter.  Volcher,  *  1534, 
1 1600).-'^)  Dieser  gibt  u.  A.  die  erste,  wenn  auch  kurze  Beschreibung 
und  Abbildung  des  Knochensystems  des  Fötus  und  des  Kindes,  dann 
einen  Vergleich  der  Menschenknochen  mit  denen  der  Affen  und  des 
Wolfs.  Das  Wesentlichste  dieser  Richtung  der  genannten  italienischen 
Anatomen  besteht  in  der  Berücksichtigung  der  Embryogenie  und  der 
vergleichenden  Anatomie.  Dadurch  ragen  sie  über  ihre  Vorgänger  weit 
hervor. 

Im  17.  Jahrhundert  entwickelt  das  wissenschaftliche  Ver- 
einswesen, das  schon  im  16.  eine  Rolle  gespielt  hatte,-*)  neue 
Blüten.  Es  bilden  sich  naturwissenschaftliche  Vereine,  -•^)  auch  einer 
für  die  Pflege  der  Anatomie,  nämlich  der  „Coro  anatomico"  in  Bo- 
logna, gegründet  von  Massari  (Bartolomeo)  und  aus  9  Mitgliedern 
bestehend,  darunter  Capponi  (Giov.  Batt.),  Fracassati  (Carlo), 
Malpighi  (Marcello).  Unter  den  zahlreichen  Lehrern  jener  Zeit,  zu 
denen  ebenso  wie  im  vorigen  Jahrhundert  so  mancher  Ausländer  ge- 


^')  Schüler  von  Fabbrizi  u.  Casserio,  lebte  eine  Zeitlang  in  Mähren,  Prof.  d. 
Anat.  u.  Chir.  in  Padua  1605  —  25. 

^'')  Catastrophe  anatomiae  publicae  in  Lycaeo  Patavino,  Padua  1624.  — 
De  formato  foetu,  Padua  1626,  (durch  L.  Crema).  —  *De  hum.  corp.  fahr, 
libr.  10,  opus  posth.  Dan.  Bucretius  Yratislav,  jussu  authoris  [Venet.  1627)  Fol. 
330  S.  —  *Opera,  quae  extant,  omnia  ex  recens.  1.  A.  van  der  Linden, 
Amst.  1645,  fol,  2  Bde.  (Prachtausgabe).  —  Vgl.  Choulant,  Gesch.  d.  anat.  Abb.  S. 
76  u.  f.:  *Broeckx.  Essai  sur  l'histoire  de  la  niedecine  beige,  Gand  1837. 

^^)  Prof.  d.  Anat.  u.  Medizin  in  Neapel  bis  zu  seinem  Tode. 

^°)*Zootomia  Democritea,  Norimb.  1645,  4°  c.  fig.  —  Hist.  ana- 
tomica  .  .  .  eviscerati  corporis,  Neap.  1629,  4";  franz.  v.  J.  Vigier,  2  vol.,  Par. 
1629  —  Vgl.  *Assmann  (Friedr.  Wilh.).  Quellenkunde  der  vergl.  Anatomie, 
Braunschw.  1847,  319  S. 

■-')  Anatomicae  praelectiones,  Eom  1586,  mit  einigen  minderwertigen 
Abbildungen.  Die  angebliche  2.  Ausg.  u.  d.  T.  Anatome  integra  reuisa  von 
Fantoni,  Verona.  1754  fol.,  ist  ein  Buchhändlerbetrug  mit  Abdruck  der  Platten 
des  Catoptrnm  microcosmic.  von  Job.  Eemmelin.  Vgl.  Choulant,  Gesch.  d.  anat. 
Abb..  Art.  Eemmelin. 

*-)  *De  facultate  anathomica  per  breves  lectiones.  Ferrar.  1600, 
4»,  76  p. 

*')  Prosektor  des  Falloppia,  Schüler  des  Aranzio  u.  Aldrovandi,  Freund  des 
Eustachi,  scliliesslich  .\rzt,  Physikus  u.  Chirurg  der  Stadt  Nürnberg. —  De  ossib.  et 
cartlaginib.  corp.  hum.  tabulae,  Bonon.  15(^6  (Uebersichtstabellen  ohne  Abb.). 
♦Externar.  et  internar.  principal.  c.  h.  tabulae  etc.,  *Norib.  1573,  foL  133p. 
c.  tab.,  Lovan.  1653. 

-*)  Vgl.  die  Neue  Florentiner  Akademie  u.  deren  Angriff  auf  Avicenna 
XL.  Mesue  zu  Gunsten  des  Galenos  *Novae  Academiae  Floreutinae  opuscula  aduersus 
Auicenam  et  medicos  neotericos,  qui  Galeni  disciplina  neglecta,  barbaros  colunt. 
Venet.  L  A.  Junta  1533,  Octob.   47  Bl. 

")  Z.  B.  die  Accad.  del  cimento  in  Florenz  1657. 


238  Robert  Ritter  von  Töply. 

hörte,  zählen  der  Westfale  Vesling  (Johann,  *  1598,  f  1649 
30.  Aug.)?"")  dessen  „Syntagma  anatomicum"  während  der  2.  Hälfte 
des  17.  und  der  1.  des  18.  Jahrhunderts  das  gebräuchlichste  Schul- 
buch war  und  zum  Mittelpunkt  einer  ziemlich  umfangreichen  Litera- 
turgruppe geworden  ist,-')  Marchetti  sen.  (Pietro  de,  *  1593, 
t  1673  16.  April) '^»)  und  Marchetti  jun.  (Domenico  de,  *  1626, 
t  1688),  ^®)  einer  der  Ersten,  der  von  den  Gefässinjektionen  Gebrauch 
machte,*^")  der  Entdecker  des  Blutserums  Barbato  (Hieron.,  Padua, 
17.  Jahrb.,  2.  Hälfte),^^!)  Molinetti  (Antonio,  *  ?,  f  IQlSy^)  Unter 
den  Forschern  ragte  besonders  hervor  erstens  Asellio  (Gasparo,  *  um 
1581,  1 1626  als  Arzt  in  Mailand).  Er  entdeckte  die  allerdings  schon 
vor  ihm  gelegentlich  bemerkten,  aber  nicht  beschriebenen  Chylus- 
gefässe  im  Mesenterium  eines  Hundes  („vasa  lactea"),  Hess  sie  jedoch 
vereinigt  in  die  Leber  gehen.  Die  diesbezügliche  nach  seinem  Tode 
von  Tadino  und  Settala  herausgegebene  Beschreibung  spielt  auch 
in  der  Geschichte  der  anatomischen  Abbildung  eine  hervorragende 
Eolle  durch  4  Hlustrationen  in  Farbenholzschnitt.  =^'^)  Dem  ganz  dem 
17.  Jahrhundert  angehörenden  Malpighi  (Marcello,  *  1628  10.  März, 
f  1694  29.  0.  30.  Nov.)^*)  gebührt  nicht  nur  die  Priorität  in  der 
Anatomie  der  Pflanzen  vor  Grew  (Nehemiah),  das  Verdienst  der  Ent- 


^®)  Stud.  in  Wien,  wurde  1627  Incisor  in  Venedig,  eröffnete  dort  nach  einer 
Orientreise  i.  J.  1628  Privatvorlesungen  über  Anat.  u.  Botan.,  wurde  1632  Prof.  d. 
Anat.  Chir.  u.  Botan.  in  Padua,  gab  1638  d.  Chir.  auf,  unternahm  1648  eine  zweite 
Orientreise. 

^^)  Erste  Ausg.  des  Syntagma  Padua  1641,  seither  öfter,  auch  holländ.,  engl., 
deutsch,  im  ganzen  13  Ausg.  bis  1696;  *Syntagma  anat.  comment.  atque  append. 
a  Ger.  Leon.  Blasio  Amst.,  add.  Epist.  Geo.  Hieron.  Velschü,  Patav.  1677,  4", 
248  p.  c.  tab.  Der  Append.,  enthält  Auszüge  aus  den  jüngsten  Entdeckungsschriften 
des  Pauli,  Asellio,  Bartholin,  Rudbeck,  Tulp,  Highmore,  De  Graaf, 
Bellini,  Malpighi,  Warthon,  Blaes,  Stensen,  Schneider,  Willis, 
Ruysch,  Swammerdam.  —  *Schrader  (Frider.),  Additamenta  ad  Job.  Veslingii 
Syntagma  anat.,  Heimst.  1689,  4"  (16  Disputationen). 

28)  In  Padua  Prof.  d.  Chir.,  1652—61  der  Anat. 

*")  In  Padua  Schüler  seines  Vaters,  Assist,  von  Vesling,  dessen  Nachf.  als  Prof. 
d.  Anat.  1649—88. 

«•>)  Anatomia  Päd.  1652,  1654;  Harderwyk  1656. 

^^)  Dissert.  ...  de  sanguine  et  ejus  sero,  Pav.  u.  Frankf.  1667,  Leyd. 
1736.  —  *De  formatrice,  conceptu,  organizatione,  et  nutritione  foetus  in  utero,  Patav. 
1686,  4°,  144  p.  c.  tab. 

■''^)  In  Padua  seit  1649  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  als  Nachf.  von  Vesling.  seit  1661 
auch  Prof.  d.  theor.  Medizin  als  Nachf.  Licetis.  *Dissertationes  anat.  et 
pathol.  de  sensib.  et  eor.  organis.,  Patav.  1669,  4",  116  p.  c.  tab.,  betr.  den 
Durchschnitt  des  Auges  u.  Lichtstrahlengang,  d.  Augenmuskeln. 

33^  *De  lactibiis  s.  lacteis  venis  quarto  vasor.  mesaraicor.  genere.  Mediol. 
1627  (nicht  1628,  wie  Gurlt  im  Biogr.  Lex.  I  210  angibt),  4»,  79  p.  m.  Kupfertitel, 
Portr.  in  Kupferst.  u.  4  Farbenholzschn.  in  Fol.  Ausg.  nur  mit  Kupferst.  Basil  1628,  4 
(Choulant),  *Lugd.  Bat.  4<',  104  p.  (mihi).  —  Zur  Gesch.  des  anat.  Farbenholz- 
schnitts sei  bemerkt,  dass  Farbendrucke  mit  Verwendung  mehrerer  Platten  schon 
im  15.  Jahrb.  vorkommen.  Eines  der  frühesten  bekannten  Beispiele  ist  das  Titel- 
blatt zu  einem  Passauer  Missale,  Augsb.,  E.  Ratdolt  1498,  mit  den  Heiligen  Valentin, 
Stephan,  Maximilian  (Reprod.  der  Reichsdruckerei  Berlin,  1900  Nr.  633).  Für  den 
ältesten  Farbenholzschnitt  anatom.  Inhalts  halte  ich  das  sog.  „Symbol  des  Todes" 
von  Job.  Wechtlin  (1509 — 19),  einen  Schädel  in  architekton.  Umrahmung  mit  der 
Unterschrift  „Mundanae  felicitatis  gloria"  (Reprod.  das.  Nr.  300).  Choulant  a.  a.  0. 
S.  88  erklärt  die  Tafeln  des  Asellio  für  die  frühesten  anat.  Abb  in  Buntdruck.  Dem 
Gesagten  zufolge  giebt  es  noch  Vorstufen.  —  Die  in  meinem  Bes.  befindlichen  Aus- 
gaben der  Schrift  des  AseUio  sind  von  tadelloser  Erhaltung. 

'*»)  1656—91  mit  2  Unterbrechungen  Prof.  d.  Med.  in  Bologna,  dann  Leibarzt 
des  P.  Innocenz  XII. 


Geschichte  der  Anatomie.  239 

deckung  des  kapillaren  Blutlaufs  (1661)  und  der  Blutkörperchen 
(1665),  er  ist  auch  einer  der  Mitbegründer  der  mikroskopischen  Ana- 
tomie und  Embryologie.  Seine  begonnene  Geschichte  der  Ana- 
tomie ist  leider  nicht  zu  stände  gekommen.^-^)  Malpighis  Mitarbeiter 
Fracassati  (Carlo,  Prof.  in  Bologna  und  Pisa)  ist  an  dessen  Unter- 
suchungen über  das  Gehirn  und  die  Zunge  beteiligt,  ein  anderer  Ge- 
hilfe war  Buonfiglioli.  Der  als  Schriftsteller  durch  Verschweigung 
älterer  Vorarbeiten  gewissenlose  Bellini  (Lorenzo,  *  1643  3.  Sept., 
f  1704  8.  Jan.;"^*^)  bei  seiner  Anstellung  wurde  die  ao.  Professur  der 
Anatomie  in  eine  o.  umgewandelt)  hat  die  bisherige  Annahme,  die 
Niere  sei  ein  strukturloser  fester  fleischiger  Körper,  durch  den  Nach- 
weis der  sog.  Bellinischen  Röhrchen  gestürzt  (Vorarbeit  von  Eustachi), 
die  Zungenpapillen  als  Geschmacksorgan  erkannt  und  deren  Ver- 
bindung mit  den  Nerven  beschrieben. 

Einer  der  ersten  Italiener,  die  der  Harveyschen  Lehre  vom  Blut- 
kreislauf beistimmten,  war  Genga  (Bernardino,  *  1655,  j  1734).-^ '^) 
Er  schrieb  eine  chirurgische  Anatomie  der  Knochen  und  Muskeln 
und  lieferte  die  anatomische  Arbeit  zu  einem  der  hervorragendsten 
Werke  der  Kunstanatomie,  welches  unter  Leitung  von  E  r  r  a  r  d 
(Charles,  f  1689;  Direktor  der  kön.  franz.  Maler-  und  Bildhauerakad. 
in  Rom)  erschienen  ist.^^'')    Den  Text  lieferte  Lancisi  (Giov.  Maria, 


*"')  *Anatome  Plantar.  Cui  subjnngitnr  Appendix  iteratus  et  anctus 
ejusd.  Authoris  De  Ovo  Incubato  obss.  cont.,  Lond.  1645.  Anatomes  plantar.  Pars 
altera,  Lond.  1679,  fol.  ni.  Kupft.  (prachtvolle  Originalausg.).  —  Opera,  Lond. 
1686  f.;  Amstd.  1687,  4°;  *L.  B.  1687,  4«.  —  Opera  posthuma.  Lond.  1697, 
Amst.  1698,  4 »,  *Venet.  1743,  fol.  --  Die  Schriften  anat.  Inhalts  sind :  De  formatione 
pulli  in  ovo  (dazu  Briefwechsel  mit  H.  Oldenburg),  dann  ein  Appendix  des 
Malpighi  an  die  k.  Engl.  Ges.  v.  Okt.  1672  (einschlägig  Ant.  F  e  1  i  x  de  ovis  cochlear. 
epist.,  J.  J.  H  a  r  d  e  r ,  Epist.  de  partib.  genital,  cochlear.  etc.) ;  de  cerebro ;  de  lingua ; 
de  externo  tactus  organo;  de  cornnum  vegetatione;  de  utero  et  viviparor.  ovis;  de 
omento,  pinguedine  et  adiposis  ductib.  (de  cerebro,  de  lingua  mit  Fracassati); 
de  structura  viscerum,  nominatim  hepatis,  cerebri  corticis,  renum  (Malpighische 
Knäuel),  lienis:  de  polypo  cordis:  de  pulmonibus.  —  Ueb.  die  Vorarbeiten  zu  einer 
Gesch.  d.  Anat.  vgl.  Atti,  Notizie  della  vita  e  delle  opere  di  Malpighi  e  di  Bellini, 
Bologna  1547,  4  ". 

*-^)  *Epistolae  anatt.  viror.  clariss.  M.  Malpighii  et  C.  Fracassati, 
Amst.  1669,  12 »,  260  p.  c.  tab. 

*•»)  Schüler  von  OUva,  Eedi,  Borelli,  seit  1663  Prof.  d.  philosoph.  u.  theor. 
Med.  in  Pisa  u.  noch  im  selben  Jahre  o.  Prof.  d.  Anat.  bis  1693. 

**")  Exer^cit.  de  structura  et  usu  renum,  Florenz  1662.  4"  u.  öfter,  zu- 
letzt Leyd.  1724,  4°.  —  Gustus  Organum  novissime  deprehensum, 
Bologna  1665  u.  öfter,  zuletzt  Leyden  1726,  4  •>  m.  d.  Abb.  üb.  d.  Nieren.  —  Opera, 
*Venet.  1708,  4«;  Florent.  1720,  4  «,  1747,  4». 

'•')  Primarchirurg  sowie  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  am  Archiospedale  S.  Spirito 
in  Rom. 

"'*')  Anat.  chirurgica,  cio  e"  istoria  anat.  dell' ossa  e  muscoli  del  corpo  um., 
con  .  .  .  un  breue  traft,  della  circolaz.  del  sangue,  Rom  1672,  1675;  *Bologna  1686, 
S°,  332  p.  (die  in  Gurlt-Hirsch's  Lex.  U  522  als  Bologna  1687  bezeichnete  Ausgabe 
dürfte  mit  dieser  identisch  sein,  welche  weder  im  Titel  noch  zum  Schluss  ein  Datum 
trägt.  Der  Censor- Antrag  zur  Drucklegung  ist  vom  24.  März  1686).  —  Anat.  per 
uso  et  intelligenza  del  disegno  etc.,  Roma  1691,  fol.  maj.  m.  56  Kupferbl.; 
der  allegorische  Nachtitel,  Taf.  21  u.  26  bei  Duval  et  Guy  er,  fig.  55,  56,  57. 
Vgl.  C ho u laut,  Gesch.  d.  anat.  Abb.  S.  96  u.  f.  —  Im  Anhang  zu  dem  ersteren 
Werk  macht  Genga  aufmerksam,  dass  der  Blutkreislauf  zwar  von  Harvey  veröffent- 
licht wurde,  aber  schon  vorher  den  römischen  Professoren  Colombo  (lib.  19  de  re 
anat.  c  2.  de  pulm.)  u.  Cesalpino  (quaest.  med.  qu.  17)  bekannt  war.  In  der  Folge 
behandelt  er  auch  kurz  die  Entdeckung  der  Venenklappen.  Laut  Biogr.  Lex.  von 
Gurlt  u.  Hirsch  II  522  wollte  Genga  die  Entdeckung  des  Blutkreislaufs  dem  Fra 
Paolo  Sarpi  zuschreiben.    Ich  habe  die  Stelle  nicht  finden  können,    lieber  Sarpi  vgl. 


240  Robert  Ritter  von  Töply. 

*  1654  26.  Okt.,  t  1720  21.  JuniV^«'')  Herausgeber  der  Tafeln  des 
Eustachi.«^*^) 

Unter  den  Sonderabhandlungen  jener  Zeit  ist  die  neue  Beschrei- 
bung des  Gehörorgans  von  Folli  d.  Ae.  (Cecilio,  *  1615,  f  16b0)-^^°) 
hervorheben« wert.  Sie  gehört  nebst  den  späteren  Monographien  von 
Du  Verney  und  Cassebohm  zu  dem  Besten,  was  in  der  älteren  Zeit 
über  diesen  Gegenstand  geschrieben  wurde.'^^^)  Eine  umfangreichere, 
auch  die  pathologischen  Verhältnisse  berücksichtigende  diesbezügliche 
Abhandlung  lieferte  später  Valsalva  (Ant.  Maria,  *  1666  15.  Febr., 
f  1723  2.  Febr.). '^*)  Weitaus  vielseitiger  ist  Santorini  (Giov. 
Domenico,  *  1681  6.  Juni,  f  1737  7.  Mai),^"")  hervorragend  durch 
musterhafte  Arbeiten  über  die  Schädeldecken  (Emissarien  des  Sant.), 
das  Gehirn,  den  venösen  Blutlauf,  das  Zwerchfell,  die  Gesichts- 
muskeln (M.  risorius  Sant),  den  Kehlkopf  (Cartilag.  Santor.),  die  Ovarien 
(erster  Nachweis  der  Corp.  lutea  auch  in  den  Eierstöcken  von  Jung- 
frauen), die  Entdeckung  des  Gangl.  oticum.  Sein  unvollendetes  Tafel- 
werk (17  Tafeln  mit  graduierten  Randleisten  nebst  Konturtafeln, 
einzelne  darunter  meisterhaft,  z.  B.  gleich  Taf.  I,  die  Gesichtsmuskeln 
darstellend)  erschien  erst  1725.^*^'') 

Von  geringerer  Bedeutung  sind  Vallisneri  (Antonio,  *  1661 
3.  Mai,  t  1730  28.  Jan.),^^^)  ein  tüchtiger  Mikroskopiker  und  Em- 
bryolog).''^^)  Nanni  (Pietro.  *  1677,  f  1716;  Arbeiten  über  die  Drüsen), 
Bianch'i  (Giov.  Batt,  *  1681  12.  Sept.,  f  1761  20.  Jan.),*-)  Pozzi 
(Giuseppe,  *  1697  6.  März,  f  1752  2.  Sept.),'^^^)  Molinelli  (Pier  Paolo, 

*  1702    2.  März,    f  1764   11.   Okt.),   Bibiena   (Franc.  Maria  Galli, 

*  1720  16.  Jan.,  f  1774  26.  Nov.,  Prof.  in  Bologna;  vergl.-anat.  und 
physiol.  Arbeiten),  Mondini  (Carlo  *  1729  5.  Nov.,  f  1803  4.  Sept.,**) 
Arbeiten   über  das  Gehörorgan,   die   Chorioidea,   die  Gehirnarterien, 


♦Bassaglia  (Leonardo)  Del  genio  di  F.  Paolo  Sarpi,  Vinez.  1785,  8  °,  t.  I  278  p., 
t.  II  200  p. 

'*")  1684—97  im  Konkurs  Prof.  d.  Anat.  am  Coli,  di  Sapienza  in  Rom,  Leibarzt 
von  Innoceuz  XI.  (P.  M.  1676—89),  Innocenz  XIL  (P.  M.  1691—1700),  Clemens  XI. 
(P.  M.  1700-21). 

^"''j  Laut  Gurlt-Hirsch'  Biogr.  Lex.  III  594  Art.  Lancisi  wäre  Innocenz  XU. 
i.  J.  1699  gestorben.  Thatsächlich  hat  er  bis  zum  27.  Sept.  1700  gelebt  (vgl. 
Grotefend,  Handb.  d.  histor.  Chronologie).  —  *Jo.  Mar.  Lancisi  Opera,  4  tom., 
Rom.  1745,  4». 

^*'')  Lehrer  d.  Anat.  in  Venedig. 

'*<>)  Nova  auris  internae  delineatio,  6  Taf.,  Vened.  1645,  1647;  Frank- 
furt 1641. 

'")  Schüler  von  Malpighi,  seit  1697  Prof.  d.  Anat.  in  Bologna:  De  aure  hum. 
tract.,  Bouon.  1704,  4  "  u.  öfter.  —  Opera,  ed.  Morgagni,  *Venet.  1740,  4  "  2  voll.; 
L.  B.  1742.  —  Biographie  von  Fabroni,  Vitae  Viror.  illustr.,  Rom  1770,  tom.  V. 

^^*)  Schüler  Bellinis,  seit  1703  Lehrer  d.  Anat.  in  Venedig. 

*«'0  Obss.  Anat.,  Venet.  1724,  4»;  L.  B.  1739,  40.  —  *Septemdecim 
t a b u  1  a e  . .  .  Addit.  de  structura  mammar.  et  de  tuuica  testis  vaginali  Mich.  Girardi, 
Parm.  1725,  fol.  217  S.  m.  Portr.  u.  Biogr.  —  Opera  Parm.  1773,  4 «.  —  Vgl. 
Choulants  Gesch.  d.  anat.  Abb.  S.  103.  —  Ueb.  d.  Entdeckung  des  Gangl.  ot.  vgl. 
Müller  (Job.)  Hist.-anat.  Bemerkungen.  S.  284. 

*i*)  Schüler  von  Malpighi,  in  Padua  seit  1700  a.  0.,  1709  zweiter,  1711  erster 
0.  P.rof.  d.  theor.  Med. 

*^^)  Istoria  della  generazione  dell'  uomo,  degli  animali  etc.,  Venedig 
1721.  —  Opere  fisico-mediche,  Vened.  1733,  2  vol. 

*^)  Prof.  in  Bologna  u.  Turin;  flüchtige  Schriften  über  die  Leber,  1711,  die 
Thränengänge,  1715,  Gegner  der  Hallerschen  Irrstabilitätslehre. 

*^)  Prof.  in  Bologna;  Ueb.  den  Bau  der  Thymusdrüse  („pulmo  succenturiatus"), 
der  Leber  u.  A. 

**)  Prof.  d.  Anat.  in  Bologna  als  Nachf.  Galvanis. 


Geschichte  der  Anatomie.  241 

den  Wurmfortsatz,  die  Haut,  namentlich  des  Negers,  die  Entwicklungs- 
geschichte), Galvani  (Luigi.  *  1737  9.  Sept.,  f  l'?98  4.  Dez.;*^) 
vergl.-anat.  Arbeiten  über  die  Vögel,  Unters,  über  die  Zirbeldrüse 
1768;  Entdecker  des  „Galvanismus"  1789  6.  Nov.).  Malacarne 
Michele  Vincenzo  Giacinto,  *  1744  28.  Sep.,  f  1816  4.  Dez.);*«^) 
icgte  besonderen  Wert  auf  die  vergleichende  Anatomie,  auch  auf 
historische  Forschungen,  beschrieb  besonders  sorgfältig  das  Kleinhirn.*^'') 
Parallel  und  gleichbedeutend  mit  der  deutschen  Schule  Hallers 
geht  im  18.  Jahrhundert  die  italienische  Schule  des  Morgagni 
(Giovanni  Battista.  *  1682  25.  Feb.,  j  1771  6.  Dez.).*"^)  Seine  ,.Ad- 
versaria  anatomica"  enthalten  eine  derartige  Fülle  von  Neuheiten, 
Hinweise  auf  vergessene  Dinge  und  Kritiken  der  neueren  Autoren, 
dass  sie  zu  den  Hauptwerken  der  Anatomie  zu  rechnen  sind.  *'^)  Die 
meisten  hervorragenderen  italienischen  Anatomen  der  2.  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  sind  direkt  oder  indirekt  aus  Morgagnis  Schule  her- 
vorgegangen. Dahin  zählen  Caldani  (Leopoldo  Marc'  Antonio, 
*  1725  21.  Nov..  t  1813  30.  Dez.),**^)  mit  seinem  Neffen  Floriano 
(Prof.  in  Padua)  Herausgeber  des  zweitgrössten  Sammelwerks,  welches 
ähnlich  wie  das  von  Loder  (1794 — 1803).  die  besten  vorhandenen 
anatomischen  Abbildungen  nebst  solchen  nach  Originalpräparaten  ver- 
einigte,^«^) Girardi  (Michele.  *  1731  30.  Nov..  t  1797  17.  Jun.),*»'') 
Herausgeber  der  Santorinischen  Tafeln.^^'']  Cotugno  (Domenico. 
1736  29.  Jan.,  f  1822  6.  Okt.).^«^'^)  Entdecker  des  ,. Aquaeductus 
Cotunii".  des  N.  nasopalatinus.  verdient  um  den  Aufschwung  des 
Studiums  an  dem  1785  neu  eröffneten  anatomischen  Theater  in 
Neapel, ^*'^)  Malacarne  (Michele  Vincenzo  Giacinto,  *  1744  28.  Sept., 

**)  Seit  1762  Prof.  d.  Anat.  in  Bologna  his  zur  Gründung  der  cisalpin.  Republik. 

***)  1775 — 83  Prof.  d.  Anat.  zu  Acqui,  dann  in  anderen  Stellungen  zu  Turin, 
Pavia,  Padua. 

***')  Nuova  esposizione  della  vera  struttura  del  cerveletto 
umano,  Torino  1776,  8".  —  Delle  opere  de'  medici  e  de'  cerusici  che 
nacquero  o  fiorirono  prima  del  scolo  XVI  negli  stati  deUa  real  casa  di  Sayoja  etc. 
1786,  1789,  4.  2  voU. 

■'^'l  Zu  Bologna  Schüler  u.  Prosektor  von  Valsalva,  nach  dessen  Abgang  nach 
Parma  Demonstrator  der  Anat.,  in  Padua  1712 — 71  Prof.  d.  Anat.  als  Nachf.  von 
Vallisneri. 

*'*')  Adversaria  anatomica  I— "VT,  Bologna  bezw.  Patav.  1706 — 19,  4°;  zu- 
sammen Patav.  1741,  4  °,  * Venet.  1762  (opus  nunc  vere  absolutum,  von  Haeser  nicht 
gekannt)  fol.  244  S.  m.  11  Kpft.  —  Corradi,  Lettere  di  Lancisi  a  Morgagni,  Pavia 
1876,  8",  306  pp.  (Briefe  a.  d.  Zeit  1707—19,  unt.  A.  Beiträge  zum  Streit  mit 
Bianchi). —  Biograpliien  von  Mosca  (Jos.),  Neap.  1768,  8",  Fabroni  (.Vitae  ülustr. 
Italor.),  Tissot  (in  De  sedib.  et  caus.  morb.,  Everod.  1779,  4'*). 

**")  1771 — 1805  Prof.  d.  Anat.  als  Nachf.  von  Morgagni,  ebenso  wie  dieser  mit 
einem  Grehalt  von  500  Dukaten  angestellt. 

"'')  Iconesanat.  ...ex  optimis  neotericor.  operib.,  Venet.  1801 — 13,  fol.  max., 
4  Bde.  m.  264  Taf.;  Expücatio,  Venet.  1802—14,  fol.,  5  Bde.  —  Caldani  (L.  M.  A.), 
Institutiones  anat.,  Tom.  I,  U,  Venet.  1787,  8  Nap.  1791,  8,  Lips.  1792,  8»;  ital. 
V.  Castellani,  Bresc.  1878.  M.  7  T.  —  Caldani  (Florian),  Tabb.  anat.  Uga- 
mentor.  corp.  hum.,  Venet.  1803,  fol.  max.  m.  11  Doppelt.  (=  Icones  anat.  I,  41 — 51); 
Riflessioni  suU' uso  dell' anat.  nella  pittura,  Venez.  1808,  4**;  franz.  v.  Kühnholtz, 
Montp.  1845.  —  Vgl.  C ho u laut,  Gesch.  d.  anat.  Abb.,  S.  153  u.  f. 

**■)  Prof.  d.  Anat.  in  Padua  neben  Morgagni,  dann  in  Parma. 

*•'')  S.  oben,  Girardi.  —  Prolusio  de  origine  nervi  intercost.  Florenz 
1791. 

'"')  Prof.  d.  Anat.  an  der  Univ.  in  Neapel. 

**'•)  De  aquaeductib.  auris  hum.  int.  Neap.  1760,  8",  Vienn.  1774,  12^  — 
*l8truzione  e  stabilimento  per  l'apertura  del  nuovo  teatro  anat.  nel  r.  spedale 
di  S.  Giacomo  degli  Spagnuoli  il  di  1.  Apr.  c.  a.  formati  dall'  ill.  govemo  della  r. 
casa,  e  spedale  sud.,  Nap.  1785,  16  S. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  16 


242  Robert  Ritter  von  Töply. 

t  1816  4.  Dez.,^^**)  Mitbegründer  der  chirurgischen  Anatomie,  Wert- 
schätzer vergleichend-  anatomischer  Studien,  insbesondere  auf  dem 
Gebiete  der  Anatomie  des  Gehirns  verdient,  auch  historisch  ge- 
bildet),"'') Comparetti  (Andrea,  *  1764,  f  1801  22.  Dez.);^''='') 
dessen  vergleichend  -  anatomische  Beobachtung  über  das  Gehörorgan 
nebst  der  einschlägigen  Abhandlung  von  Scarpa  zu  dem  Besten  ge- 
hört, was  in  diesem  Gegenstand  geleistet  wurde.  Er  ist  der  Ent- 
decker des  Ganglion  nervi  vagi  im  Foramen  lacerum,  sowie  des  Ramus 
auricularis  nervi  vagi,  dessen  beide  Aeste  er  schon  angibt.'*-^)  Der 
bedeutendste  Schüler  Morgagnis  ist  Scarpa  (Antonio,  *  1752 
19.  Mai,  t  1832  31.  Okt.).^^*)  Er  erwirkte  die  Erbauung  eines  für 
die  damalige  Zeit  grossartigen  anatomischen  Instituts  in  Modena,  so- 
wie den  Neubau  einer  anatomischen  Schule  in  Pavia,  entdeckte  den 
N.  naso-palatinus,  beschrieb  das  seinen  Namen  tragende  Dreieck  am 
vorderen  Teil  des  Oberschenkels,  lieferte  eine  hervorragende  Unter- 
suchung über  das  Gehörorgan  und  in  seinem  Hauptwerk,  den  von 
Anderloni  gestochenen  „Tabulae  neurologicae",  Muster  anatomischer 
Darstellung,  welche  die  vielgerühmten  Sömmeringschen  Abbildungen 
an  Kraft  des  Stiches  übertreifen.^-^'')  Scarpas  Nachfolger  in  Pavia, 
Fattori  (Santo,  *  ?,  f  1819;  zuerst  in  Pavia,  dann  in  Modena)  ist 
hinter  seinem  grossen  Vorgänger  stark  zurückgeblieben.-^^) 

Erst  Panizza  (Bartolomeo,  *  1785  15.  Aug.,  f  1867  17.  April) ^•^) 
hob  wieder  die  Anatomie  in  Pavia  und  erweiterte  den  Gesichtskreis 
durch    experimentell-physiologische,  insbesondere  durch  vergleichend- 


°^*)  1775—83  Prof.  d.  Anat.  zu  Acqui,  dann  Chef  des  Militär-Medizinalwesens 
in  Turin,  Prof.  der  Chir.  u.  Geburtsh.  in  Pavia,  der  Chir.  in  Padua. 

^"')  Nuova  esposiz.  d.  vera  struttura  del  cerveletto  um.,  Torino  1776, 
8°.  —  Encefalotomia  univers.,  Torino  1780,  8  •'.  —  Nervoencef  alotomia, 
Pavia  1791,  8**.  —  Encefalot.  di  alcuni  quadrup.,  Mant.  1795,  4°.  —  Ricordi 
deir  anat.  chirurg.,  3  Hfte.,  Päd.  1801,  1802,  8".  —  Delle  opere  de'  medici  e 
de'  cerusici  che  nacquero  o  fiorirono  prima  del  sec.  XVI  negli  stati 
della  r.  casa  di  Savoja,  1786,  1789,  4°,  2  vol. 

^•"l  Prof.  d.  Med.  in  Padua  als  Nachf.  von  Bianchini. 

^"^^i  Occursus  medici  de  vaga  aegritudine  infirmitatis  nervor., 
Venet.  1780.  —  Obss.  anat.  de  aure  int.  comparata,  Padua  1789,  4'*,  c.  tab. 
—  Zur  Gesch.  der  genannten  Entdeckungen  vgl.  *Müller  (Job.),  Historisch-anat. 
Bemerkungen,  1837,  24  S.,  8". 

5»")  1772 — 83  0.  Prof.  d.  Anat.  u.  tbeor.  Chir.  a.  d.  Univ.  in  Modena,  in  Pavia 
1783—1803  Prof.  d.  Anat,  überdies  1787-1812  der  Chir. 

^"')  De  structura  fenestrae  rot.  auris  etc.,  Mutin  1772,  8**,  c.  figg.  — 
Anatomicar.  annotat.  lib.  I,  Mutin.  1799,  lib.  II,  Ticin.  1785,  4»  c.  fig-.  Ed.  2, 
Ticin.  1792.  —  Anatom,  disquisition  es  de  auditu  et  olfactu.  Ticin.  1789, 
fol.,  c.  flg.;  Ed.  2  auctior,  Mediol.  1795,.  fol.,  c.  flg.;  deutsch  von  Schreger  (Chr. 
Heinr.  Theod.),  Nürnb.  1800,  4'*.  —  Tabulae  neurolog.  ad  illustrandam  historiam 
anat.  cardiacor.  nervor.,  noni  nn.  cerebri,  glossopharyngaei,  et  pharyngaei  ex  VIII. 
cerebri.  Ticin.  1794,  fol.  maj.,  c.  flg.  —  De  penitiori  ossium  structura,  Lips. 
1799,  40  maj..  c.  fig.;  deutsch  von  Ro ose  (Th.  G.  Aug.),  Leipz.  1800.  —  *Opere  .  . . 
p.  c.  del  0.  Pietro  Van  noni,  2  voll.,  4".  m.  Atlas  gr.  fol.,  52  Taf.,  deren  Ausführung 
jedoch  hinter  den  Originalen  weit  zurückbleibt,  Florenz  1836 — 39.  —  Das  angegebene 
Geburtsjahr  ist  festgestellt  durch  Scarenzio  (Lnigi).  Vgl.  Cautaui  in  Gurlt-Hirsch 
Lex.  V,  197.  —  Ueb.  den  künstlerischen  Wert  der  Anderionischen  Tafeln  s. 
Choulant,  Gesch.  d.  anat.  Abb. 

^*)  Discorso  sulla  natura  dei  nervi,  Pavia  1791.  —  Guido  allo 
studio  della  anat.  um.,  Pavia  1817,  1812. 

'*^)  Freund  von  Mascagui  u.  Bnfalini,  Schüler  von  Atti,  Cairoli,  Volpi,  Scarpa, 
Monteggia,  Palletta,  1814  von  Scarpa  zum  Supplenten  der  anat.  Lehrkanzel  in  Pavia 
vorgeschlagen,  nachdem  diese  durch  Fattoris  Abgang  nach  Modena  freigeworden, 
seit  1817  in  Pavia  0.  Prof.  der  Anat. 


Geschichte  der  Anatomie.  243 

anatomische  Studien  (Foramen  Panizzae  =  Kommunikation  zw.  zwei 
Blutgefässen  bei  Krokodilen).^^}  Sein  Schüler,  Schwiegersohn  und 
Nachfolger  Zoja  (*  1833  Juni)  lieferte  mehrere  Beiträge  zur  Ana- 
tomie der  Knochen,  sowie  eine  eingehende  Beschreibung  des  Anhangs 
der  Schilddrüse  und  ordnete  das  von  Eezia  angelegte,  von  Scarpu 
bereicherte  Museum.^') 

Die  Yorgeschichte  dieses  Museums  reicht  ziemlich  weit  zurück.  Der 
verdiente  Bertrandi  (Giovanni  Ambrogio,  *  1723  17.  Okt.,  -|-  1765 
6.  Dezemb. ;  seit  1755  Prof.  costituto  der  Chir.  an  d.  Univ.  in  Turin  mit 
der  Verpflichtung  zur  Erteilung  praktischen  Unterrichts  in  der  Anat.,  seit 
1758  Prof.  d.  prakt.  Chirurgie)  hatte  zwar  in  Turin  im  Spedale  maggiore 
di  S.  Giovanni  die  Errichtung  eines  anat.  Theaters,  später  die  eines 
Hebamraeninstituts  und  einer  Tierarzneischule  durchgesetzt,  sich  aber  haupt- 
sächlich auf  dem  Gebiete  der  operativen  Chirurgie  hervorgethan,  ^^)  ebenso 
wie  sein  Schüler  Moscati  (Pietro,  *  1739,  f  1824  24.  Jan.;  1764—72 
Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  in  Pavia,  dann  der  Geburtsh.  in  Mailand).  Erst 
dessen  Lieblingsschüler  Rezia  (Giacomo,  *  1749  9.  Xov.,  -f  1825  10.  Febr.; 
Moscatis  Nachf.  als  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  zu  Pavia  1772 — 83,  dann  der 
Physiol.  u.  allg.  Path.  bis  1796,  1802 — 16  Direktor,  später  Generalinspektor 
der  Sanitä  militare)  begründete  jenes,  später  von  Scarpa  weiter  ausgestaltete 
Museum.  ^") 

Morgagnis  Einfluss  erwies  sich  in  gleicher  Weise  wolthätig  auf 
die  Entwicklung  der  Anatomie  in  Siena.  Dessen  Freund  Tabarrani 
(Pietro.  *  1702  3.  Mai.  j  1780  5.  April)  «f»'^)  hob  dort  den  seit  15  Jahren 
darniederliegenden  Unterricht.""^'')  Tabarranis  Schüler  Mascagni 
(Paolo,  *  1752,  t  1815  19.  Okt.) "«)  hat  sich  dm-ch  seine  bis  auf  das 
Jahr  1777  zurückgehenden  Arbeiten  über  das  Lymphgefässsystem 
(dessen  Bestand  er  allerdings  selbst  an  Orten  annahm,  wo  ein  solches 
nicht  vorhanden  ist),  dann  auf  dem  Gebiete  der  mikroskopischen  Ana- 
tomie, der  Kunstanatomie,  schliesslich  auf  dem  der  anatomischen 
Illustration  durch  ein  monumentales  Tafelwerk  mit  lebensgrossen  Ab- 
bildungen, auch  auf  dem  der  plastischen  Nachbildung  anatomischer 
^Präparate  als  einer  der  hervorragendsten  Anatomen  überhaupt  er- 
iesen.*'^'')    Mascagnis  Prosektor   Antomarchi   (Francesco,   *   um 

^«)  Vgl.  Cantani  in  Gurlt-Hirsch  Lex.  IV,  476. 

^')  Eicerche  e  consideraz.  sull'  apofisi  mastoid.,  Milano  1864.  —  S. 

Jnrse  seröse  etc.,   ib.  1865.   —   S.   articolazione  peroneo-tib.    sup.    1867.    — 

lic.  anat.  s.  appendice  d.  glandula  tiroidea,  Eoma  1879,  5  tav.  —  Studij 

8.  varietä  dell'  atlante,  Pavia  1881.  —  Ale.  var.  dei  denti  um.,  Pavia  1881. 

'*■')  Anat.  Arbeiten:   Diss.   anat.  de  hepate  et  de  oculo.    Aug.  Taurinor. 

|1748,  4  "^  (von  Haller  u.  Zinn  gelobt ;  letztere  Arbeit  entspricht  der  Ophthalmographie 

|V.  J.  1745).  —  Obss.  de  glanduloso  ovarii  corpore,  de  placenta  et  de 

Ltero  gravido  in  Miscell.  phüos.-mathera.  Societ.  privatae,  Taurin.  1759. 

^^)  Specimen  Observation,  anatomicar.  et  pathologicar.,  Pavia  1784. 
««•)  Seit  1759  Prof.  d.  Anat.  in  Siena,  63  J.  alt  erblindet. 
"")  Obss.  anat,  Lucca  1853,  4°. 

«*»)  Seit  1774  Nachfolger  von  Tabarrani  in  Siena,   seit  1800  in  Pisa,  1801—15 
rof.  am  Ospedale  S.  Maria  nuova. 

*"')  Prodrome  d'un  ouvrage  sur  le  syst,  lymphat,  Siene  1784,  4", 
4  T.  in  fo.  —  Lettera  di  Aletofilo  al  Giomalista,  Mispoli  (Siena)  1785, 
°  (Gegen-schr.  auf  die  Angriffe  gegen  den  Prodrome).  —  Vasor.  lymphaticor. 
sorp.  hum.  historia  et  ichnographia,  Senis.  1787,  fol.,  138  S.  ra.  41  Kupfert. 
Hauptwerk);  deutsch  in  *Ludwig  (Christ.  Friedr.),  William  Cruikshanks  u.  Paul 
Hascagni'.s  Gesch.  u.  Beschr.  der  Saugadem  des  menschl.  Körpers,  Leipz.,  4»,  1.  u. 
i.  Bd.  1789,   3.  B^.  1794,  letzterer  m.  histor.  Uebersicht  von  der  Entdeckniig  des 

16* 


244  Robert  Ritter  von  Töply. 

1780)  ist  weniger  durch  wissenschaftliche  Forschungen  als  vielmehr 
durch  eine  unbefugte  Neuausgabe  der  'J'afeln  Mascagnis.  sowie  durch 
die  Behandlung  und  Autopsie  Napoleons  I.  auf  St.  Helena  (1819 
23.  Sept.  —  1821  5.  Mai)  bekannt  geworden.  Unter  den  anatomisch 
thätigen  Chirurgen  jener  Zeit  ragt  hervor  Palletta  (Giov.  Batt., 
*  1747,  t  1832  27.  Aug.)  «2) 

Nach  der  weittragenden  Verbesserung  des  achromatischen  Mikro- 
skops i.  J.  182  7  durch  Amici  (G.  B.,  zuerst  in  Modena,  später  Prof. 
und  Direktor  des  Observatoriums  in  Florenz,  f  1862)  kam  an  Ort  und 
Stelle  auch  die  moderne  Histologie  zur  Geltung,  und  zwar  in  erster 
Linie  durch  Pacini  (Filippo,  *  1812  25.  Mai,  f  1883  9.  Juli).«=^'') 
Er  hat  nicht  nur  die  nach  ihm  benannten  (Vaterschen)  Körperchen 
der  Fingernerven  entdeckt,  sondern  auch  eine  hervorragende  Beschrei- 
bung der  menschlichen  Augennetzhaut  geliefert  (erstere  1840,  die 
letztere  1844  veröffentlicht),  überdies  1845  ein  Mikroskop  von  be- 
sonderer Form  mit  schrägem  Okulartubus  angegeben.'^^^)  Die  neueste 
Richtung  der  Histologie  ward  aber  erst  ermöglicht,  nachdem  derselbe 
Amici  i.  J.  1850  mit  seinen  Immersionssystemen  an  die  Oeffentlich- 
keit  getreten  war.    Sie  vertritt  Golgi  (Camillo,  *  1844  7.  Juli)."*) 

'M  Literatur-Nachtrag.  *Sangiorgio  {Paolo),  Cenni  storici  sulle  (lue  uni- 
versitä  di  Pavia  e  di  Milano  etc.  Opera  postuma  .  .  .  per  ctifa  di  Francesco 
Longhena,  Milano  1831,  8^,  681  pag.,  3  Tav.  —  *Iioerner  {Frieder.},  De 
Alexandra  Benedicto  .  .  .  Brunsvigae  1751,  4°,  16  pag. 


duct.  thorac.  (1564)  bis  auf  P.  Lupi  (1793).  —  Posthume  Werke:  Anat.  p.  uso  d. 
stud.  di  scult.  epittura,  Firenze  1816,  fol.  —  Prodromo  d.  gr.  anatomia... 
da  Fr.  Antomarchi,  Firenze  1819,  fol.,  m.  20  Kpft.;  2  ed.  da  Torara.  Farnese, 
Milano  1821,  8  **.  m.  48  Kpft.,  4  °  (letztere  Ausg.  gründlicher).  Der  Titel  dieses 
Werks  ist  unrichtig  gewählt.  Es  behandelt  die  mikrosk.  Anat.  des  Menschen,  der 
Tiere,  der  Pflanzen.  —  Anat.  universa  44  tabulis  .  .  .  cura  ...  Vacca 
Berlinghieri  —  Barzellotti  —  Rosini,  Pisis  1823—32,  m.  88  Taf.  fol.  max., 
darunter  44  farbig.  Aus  je  3  Blättern  ein  ganzer  Körper  zusammenzusetzen; 
Planches  anat.  du  c.  h.  .  .  .  par  F.  Antomarchi,  Paris  1823 — 26.  Lithogr. 
Nachbildung  des  Vorigen.  —  Vgl.  Choulant,  Gesch.  d.  anat.  Abb.  S.  143  u.  f.  — 
Nach  Mascagnis  Präparaten  arbeitete  Font  an  a  (Feiice,  f  1805)  Wachsnachbildungen 
für  die  Sammlung  der  Specola  in  Florenz. 

"-)  Seit  1769  Chirurg  am  Osped.  magg.  zu  Mailand.  Nova  gubernaculi 
testis  Hunteriani  et  tunicae  vagin.  anat.  descr.,  Mail.  1777,  4°.  —  De 
n  er  vis  crotaphit.  et  buccinatorio,  ib.  1784,  4  <>,  c.  t.;  in  Ludwig,  Script, 
neurol.  min.  III,  1793.  —  Die  Ehre  der  ihm  zugeschriebenen  Entdeckung  des  Gangl. 
otic.  gebührt  dem  Santorini.    Vgl.  oben  d.  Anm.  zu  Sant. 

•*''»)  1847  Prof.  der  descr.  u.  Maler- Anat.,  1849  Prof.  d.  topogr.  Anat.  u.  Histol. 
in  Florenz. 

«3b^  Nuove  ricerche  microscop.  s.  tessitura  int.  della  retina, 
Bologna  1845;  deutsch  Freib.  1847.  —  Sulla  scoperta  di  Monneret  dei 
pretesi  muscoli  delle  valvole  semilun.  del  cuore,  Florenz  1850  (J.  A. 
E.  Monneret,  *  1810,  f  1868,  Prof.  d.  Med.  an  d.  Ecole  prat.  in  Paris).  —  Nuove 
ric.  miscrosc.  s.  tessit.  d.  ossa  e  dei  denti  1851.  —  Sopraun  nuovameca- 
nismo  di  microscopio  specialm.  destin.  alle  ric.  anat.  N.  Ann.  d.  Seien, 
nat.  di  Bologna,  Nov.  1845.  —  Nuovo  microscopio  fotogr.  e  chimico,  beschr. 
von  Caruccio  1868.  —  Vgl.  Cantani  in  Gurlt-Hirsch  Lex.  IV,  458;  Petri,  D. 
Mikroskop.  1896. 

«^)  1875  Prof.  0.  d.  Anat.  in  Siena,  76  Prof.  d.  Histol.  in  Pavia,  hier  seit  81 
Prof.  d.  allg.  Path.  Sulla  fina  strutt.  dei  bulbi  olfatt.  1875.  —  Studii 
aulla  fina  anat.  degli  organi  centr.  del  sist.  nerv,  (preisgekr.  1883). 


Geschichte  der  Anatomie.  245 


Niederlande. 

Sebastian  (A.  A.),  Oratio  de  Batavor.  seailo  17.  de  anatome  meriüs  atque 
inventis  in  ea  praestantissimis,  Groning.  1832,  4".  —  *  Van  der  Boon  (A.),  Ge- 
schiedenis  der  onfdekkingen  in  de  ontkedkunde  van  den  mensch,  gedaan  in  de 
noordelijke  Xederlanden  tot  aan  het  hegin  der  19e  eeuw,  Utrecht  1851,  266  S.  m. 
Facs.  —  Israels  (A.  H.)  en  Daniels  (C.  E.),  De  Verdiensten  der  HoUatidsche 
Geleerden  ten  opzichfe  van  Harvey's  leer  van  den  bloedsomloop.  Met  goud  bekroond 
en  nitgegeven  door  het  Prov.  TJtr.  GenootscJuip  v.  Künsten  en  Wetensch.,  Utrecht 
1883,  S*». 

*IUustrium  HoUandiae  et  Wesffrisiae  ordinitm  Alma  Academia  Leidensis. 
Lugd.  Bat.  1614  =  Alma  et  ill.  Acad.  Leidens.  .  .  .  Delineationes  artificiosiisimae, 
4°,  231  S.  m.  Kpf.  —  *M.eursius  (Jo.),  Atlienae  Batavae  sc.  de  tirbe  Leid,  et 
acad.,  virisque  cl.  etc.,  Lugd.  Bat.  1625,  4 ",  351  S.  —  *Fundatons,  curatorum  et 
professorum  etc.  quorum  gratia  .  .  .  Academia  Lugduno-Batava  incepit  .  .  .  effigies. 
A  Leide.  Chez  Pierre  f'an  der  Aa  =  Le  fondateur,  les  premiers  cnrateurs,  les  plus 
renommez  professeurs  etc.  A  Leide,  chez  Pierre  Van  der  Aa,  dans  VAcad.  (Pracht- 
volles Illustrafio7iswerk  in  folio  mit  159  Kupfertafeln  aus  der  berühmten  Offizin  von 
P.  van  der  Aa  m.  spärlichem  lat.  u.  franz.  Text).  —  Suringar  (G.  C.  B.), 
Bydragen  tot  de  geschied,  van  het  geneeskondig  onderwijs  aan  de  hoogeschool  te 
Leiden.  18  Abtl.,  die  Jahre  1575 — 1815  umfassend  in  Xederl.  Tijdschr.  voor  Ge- 
neesk.  1860—  70.  —  *Schotel  (G.  D.  J.),  De  Academie  te  Leiden  in  de  16e,  17e  en 
18e  eeuu:    2L  platen,  Haarlem  1875,  lex.  8  *>,  410  S. 

Groshans,  Histor.  verslag  over  de  geneeskundige  school  te  Rotterdam,  Rotterd. 
1853.  8  ". 

Jonchbloet,  Gedenkboek  der  Groninger  Hoogeschool.  —  Boeles  (Mr.  W. 
B.  S.),  Levensschetsen  der  Groninger  Hoogleeraren,  G)-oningen  1864. 

Sandifort  (Ed.),  De  B.  S.  Albino  anatomicor.  facile  principe  1803.  — 
Camper  (Adr.  Gilles),  Levensschets  van  Petrus  Camper,  Leexiwarden  1791; 
Vrolik  (G.),  De  gutachten  van  Camper  en  Hunter,  aver  het  nut  der  holte  beenen 
in  Vogels  nader  overtcogen  ent  tes  toetse  gebragt,  Amst.  1803,  8°;  fluider 
(Joann.).  Oratio  de  meritis  Petri  Camperi  in  anat.  comp.,  Groningae  1808,  4°; 
Daniels  (Car.  Ed.),  Het  leven  en  de  Verdiensten  van  Petrus  Camper.  M.  goud 
bekr.  en  uitg.  d.  h.  Prov.  Utr.  Genootsch.  v.  K.  en  Wetnsch.,  Utr.  1880,  4^.  — 
Halberfsnia  (Hiddo),  De  Leenicenhoekii  meritis  in  qiiasd.  partes  anatomiae 
microscop.  diss.  etc.,  Deveter  1843.  —  Fleck  (F.  Le  Sueur),  De  Leeuwenhoekii 
etc.,  diss.,  Leyden  1843;  f'an  Charatite  (X.  H),  De  Leeuwenhoek.  etc., 
diss.,  Leyd.  1844;  Haarntann,  Antonius  van  Leeuwenhoek.,  Leid.  1875.  — 
*Schreiber  (Jo.  Frid.).  Hist.  vitae  et  meritor.  Friderici  Ruysch,  Amst.  1732,  4", 
80  S.  m.  Porfr.;  Schelteina  (P.),  Het  leven  van  Fred.  Ruysch,  1886.  —  *Baer  (w.), 
Johann  S wammer dam's  Leben  u.  Verdienste  um  d.  Wissenschaft.  Ein  Vortrag 
geh.  bei  Eröffnnng  der  anat.  Anst.  zu  Königsb.  im  Herbst  1817  {v.  Baer,  Beden  I, 
1864),  8*^,  34  S.  {Aus  der  Biographie  geschöpft,  welche  Boerhaave  seiner  Ausg.  der 
Biblia  nat.  vorgesetzt  hat.)  —  Sinia  (R.),  J.  Swammerdam  in  de  lijst  vom  zijn 
iijd  1878;  *Stokvis  (B.  J.).  Redevoering  fer  herdenking  van  den  200jarigen  sterfdag 
van  Jan  Swammerdam.  Uitg.  door  het  Genootsch.  tot  bevord.  van  Xatur-, 
Genees-  en  Heikunde  te  Amsterd.  1880.  —  *Wittiver  {Phil.  Ludtc),  Xiklaas 
Tulp,  Xürnb.  am  21.  Decemb.  1785,  4»,  24  S.  M.  Abb.  einer  Porträt-Med. ; 
Bogge  (H.  C),  Xicolaas  Tulp,  1880;  *Tilanns  (J.  W.  R),  Xicolaas  Tulp. 
Akad.  proefschr.,  Amst.  1881,  lex.  8",  149  S.  —  *Van  Baemdoncke  (J.),  Levens- 
beschrijvina  van  Philip  Verheyen.  St.  Xikolaas  (Buitengew.  uitg.  van  den  oudheits- 
kundigen  kring  van  het  Laiid  van  Waes  Xr.  1.  o.  ./.,  lex.  8 ",  90  S.  m.  Portr.  — 
*Siiringar  {Ger.  Corn.  Bern.),  Memoria  Gerardi  Sandifort,  Lugd.  Bat.  et 
Amst.  1848,  S**,  58  pag.  —  Suringar  (Piet.  Hendr.),  Byzonderheden  betreff,  het  leven 
van  D.  G.  C.  B.  Suringar,  Amst.  1874.  —  Van  der  Hoei'en  (J),  Levensber.  vari 
Gerardus  Vrolik  in  Jaarb.  der  kon  Akad.  van  Wetensch.  1859.  —  Van  der 
Hoeven  (J.),  Levensber.  van  WUlem  Vrolik  in  Jaarb.  d.  kon.  Akad.  van  Weten- 
sch. 1863. 

Tilanus  (J.  W.  R.),  Beschrijving  der  Schildaijen  afkomstig  van  het  Chirurgiins- 
Gilde  te  Amsterd.,  Amst.,  T.  Muller,  1865.  —  *Triaire  (Paul),  Les  legons  d'atiat. 
et  les  peintres  holland.  au  16e  et  17e  siecles.  Av.  2  eaux-fortes.  Paris  1887,  kl.  4°, 
79  S.  Ill 

In  den  Niederlanden  gelangte  die  Anatomie  erst  im  17.  Jahr- 
hundert,  dann   allerdings    zu   einem   bedeutenden   Aufschwung.     In 


246  Robert  Ritter  von  Töply. 

Holland  war  eine  Festigung  erst  in  der  2.  Hälfte  des  16.  Jahi-- 
hunderts  durch  die  Chirurgengilde  zu  Amsterdam  zu  stände  gekommen, 
später  durch  das  Aufblühen  der  von  Wilhelm  I,  von  Oranien  als 
Akademie  i.  J.  1575  gegründeten  Hochschule  zu  Leyden.  Obzwar 
sich  das  Studium  der  Anatomie  zu  Amsterdam  früher  entwickelt  hatte, 
so  behielt  doch  Leyden  das  Uebergewicht,  und  blieb  bis  in  das  19.  Jahr- 
hundert die  Pflanzstätte  der  niederländischen  Anatomen,  mit  welchen 
es  auch  die  Lehrkanzel  der  Nachbarstadt  zu  versorgen  pflegte.') 

Der  Einfluss  der  von  Italien  ausgegangenen  Reformation  gelangte 
zu  Leyden  bald  nach  Eröffnung  der  Hochschule  zur  Geltung.  Der 
in  Padua  promovierte  De  B o n d t  (Bontius,  Gerardus,  *  1536,  f  1599 
15.  Sept.),  anfangs  (1575 — 81)  der  einzige  Lehrer,  hielt  auch  Vor- 
lesungen über  Anatomie,  der  dann  hinzugekommene  "Van  Heurne 
d.  Ae.  (Heurnius,  Jan,  *  1543  25.  Jan.,  f  1601  11.  Aug.)  hat  dort  als 
Erster  anatomische  Uebungen,  und  zwar  eigenhändig  vorgenommen.-) 
Die  Errichtung  des  anatomischem  Theaters  kam  erst  159  7  zu  stände, 
und  zwar  durch  den  auf  anatomischen  Gebiete  auch  literarisch  thätigen 
Paauw  (Pauw,  Pavins,  Pieter,  *  1564,  j  1617).'')  Durch  Paauws 
Schüler  Tulp  kam  bald  darauf  die  Anatomie  zu  Amsterdam  in  Auf- 
schwung. VanHeurned.  J.  (Otto,  *  1577  8.  Sept.,  f  1652  24.  Juli)*) 
hat  den  klinischen  Unterricht  gestiftet.  Sein  Nachfolger  Van 
Hörne  (Johannes,  *  1621,  f  1670  5.  Jan.)  war  in  zahlreiche  Streitig- 
keiten anatomischen  Inhalts  verwickelt,  welche  durch  die  verschiedenen, 
eben  von  allen  Seiten  auftauchenden  thatsächlichen  und  angeblichen 
Entdeckungen  hervorgerufen  wurden  (dazu  zählten  insbesondere  die 
des  beinahe  gleichalterigen  Louis  De  Bils,  *  1624,  f  1670).  Er 
ist  bekannt  durch  seine  Beschreibung  und  Abbildung  des  Ductus 
thoracicus  beim  Menschen  (s.  im  Folgenden  Amsterdam),  dann  durch 


^)  Die  Liste  der  älteren  Professoren  der  Med.  an  der  Leydener  Hochschnle 
lautet  nach  Van  der  Aa:  Junius  (Hadr.),  Forestus  (Petr.),  Heurnius  (Joh.), 
Dodonaeus  (Robert),  Paauw  (Petr.),  Clusius  (Carol),  Vorstius  (Everh.), 
Heurnius  (Otto),  Bontius  (Reiner),  Screvelius  (Ewald),  Vorstius  (Adolf), 
Kyperus  (Albert),  van  der  Linden  (Jo.  Antouides),  ran  Hörne  (Jo.).  Deleboe 
Sylrlus  (Franc),  Schuyl  (Florent.),  Drelincourt  (Carol.),  Schacht  (Lukas), 
Craanen  (Theod.),  Nnck  (Ant.),  Bidloo  (Godfr.),  Dekkers  (Fred.),  Hot  ton  (Petr.), 
Le  Mort(Jak.),  Albinus  (Beruh.),  Boerhaave  (Herrn.),  Rau  (Joh.  Jak.),  Schacht 
(Herrn.  Oosterdyk),  Albinus  (Beruh.  Siegfried.  B.  F.). 

2)  Alma  Acad.  Leid.  L.  B.  1614,  p.  135. 

*)  Stud.  in  Leyden,  Paris,  Orleans,  Rostock,  Padua,  hier  unter  Fabr.  ab  Aquap., 
Prof.  d.  Anat.  u.  Bot.  seit  1589.  Abb.  dieses  Theaters  in  dem  Prachtwerk  von  Van 
der  Aa,  kleinere  in  der  Alma  Ac.  Leid.  1614  u.  bei  Meursius,  dann  in  einem 
Foliostich  (de  Gheyn  inu.,  Andr.  Stog.  scol.),  welcher  dem  Succenturiatus  anat.  v.  J. 
1616  vorgeheftet  zu  sein  pflegt,  Paauw  im  Seciersaale  vorstellt  u.  offenbar  ein  Seiten- 
stück zu  dem  Titelholzschnitt  von  Vesals  Fabrica  ist.  —  Primitiae  anat.  de 
h.  c.  ossibus,  L.  B.  *1615,  4 «,  188  S.  m.  Kpf.;  1630;  Amst.  1633  (Vorrede  f.  d. 
Gesch.  der  literar.  Thätigkeit  des  Autors  wichtig).  —  Andr.  Vesalii  epitome 
anat.,  opus  rediv. ,  cui  acced.  notae  et  coniment.  P.  Pavii,  Amst.  1616; 
1633.  —  *Succenturiat.  anat.  cont.  comraent.  in  Hippocr.,  de  capit.  vulnerib.  etc. 
L.  B.  1616,  4»,  270  u.  128  S.  m.  Kpf.  —  Epistolar.  ad  amicos  (de  valv.  intest. 
Bauhini  cent.  una  (in  G.  Fabricii  Hild.  Opera,  Oppenh.  1619).  —  *Obss. 
anat.  selectiores  (als  Anhang  zu  Th.  Bartholin.  Hist.  anat.  rarior.  Cent.  III  et 
IV,  Haffn.  1657,  45  pag.).  —  Als  Prof.  d.  Bot.  hat  Paauw  i.  J.  1601  d.  erste  Beschr. 
des  Leydener  bot.  Gartens  herausg.  Ein  Verz.  der  von  1681 — 86  aufgenommenen 
Pflanzen  veröffentlichte  1687  m.  Abb.  Paul  Hermann  (Prof.  d.  Med.  u.  Bot.),  ein 
anderes  nach  den  Mitteilungen  von  Herm.  Boerhaave  (Prof.  d.  Med.,  Bot,  Chemie) 
erschien  in  Rom  1727  in  2  T. 

*)  Als  Nachf.  seines  Vaters  Prof.  d.  Med.,  seit  1617 — 52  auch  der  Anat. 


Geschichte  der  Anatomie.  247 

Untersuchungen  über  die  Geschlechtswerkzeuge,  welche  durch 
Swammerdam  (s.  im  Folgenden)  eine  Ki'itik  erfuhren.^)  Van  Hornes 
Schule  hat  für  die  Entwicklung  der  modernen  Anatomie  eine  weit- 
tragende Bedeutung.  Sie  konzentriert  sich  schliesslich  in  Albr.  v. 
HaUer,  dem  Begründer  der  neueren  Anatomie  in  Deutschland.  Yan 
Hornes  unmittelbare  Schüler  (C.  Bontekoe,  Fred.  Deckers,  Fred. 
Ruysch,  Jan  Swammerdam,  Nie.  Stenonis)  gehören  zu  den 
glänzendsten  Erscheinungen  der  niederländischen  Medizin.  Eine  weit- 
aus geringere  Bedeutung  für  die  Entwicklung  des  Fachs  hat  der  Be- 
gründer der  Chemiatrie,  De  le  Boe  Sylvius  (Franz,  ursprünglich 
Dubois,  *  ?,  t  1672  14.  Nov.).  Seine  zu  Lejden  am  Schluss  des  Jahres 
1640  und  anfangs  1642  gehaltenen  Vorlesungen  im  Anschluss  an  die 
Institutionen  des  Kasp.  Bartholin  vernachlässigen  den  beschreibenden  Teil 
und  gehören  nicht  nur  zu  seinen,  sondern  überhaupt  zu  den  schwächsten 
Leistungen  auf  diesem  Gebiet.**)  Unter  Van  Hornes  Nachfolger  Dre- 
iin court  (Charles,  *  1633.  |  1697).''')  dessen  Verdienst  in  der  Er- 
werbung von  Verbrecherleichen  für  den  anatomischen  Unterricht  nur 
örtliche  Bedeutung  hat,  drohte  die  Anatomie  zu  verflachen,  da  er 
starr,  wie  sein  ehemaliger  Lehrer  Riolan  sein  Interesse  mehr  dem 
Altertum  als  der  Zukunft  zuwendete.  Im  übrigen  beschrieb  er  zu- 
erst die  nach  Vieussens  genannte  Klappe  im  Gehirn,  auch  recht  gut 
den  Larynx  und  die  Drüsen  des  Kehldeckels.  Eine  eigentümliche 
Rolle  spielte  hier  in  den  Jahren  1670 — 86  der  Cartesianer  Craanen 
(Theodorus,  *  1620,  f  1690),  dessen  Abhandlung  über  den  Menschen, 
ähnlich  wie  die  des  Des  Cartes,  sämtliche  Errungenschaften  der  Medizin 
und  der  Naturwissenschaften  zur  Deutung  der  Lebensthätigkeit  heran- 
zuziehen sucht. ^)  Erst  Drelincourts  Schüler  und  Nachfolger  Nuck  (Anto- 
nius, *  1650,  t  1692)^^)  brachte  die  beschreibende  Anatomie  wieder  auf 
eine  höhere  Stufe  durch  seine  eingehenden  Studien  über  die  Lymph- 

•^)  Yan  Home  steht  inmitten  einer  hochinteressanten  wissenschaftlichen,  literarisch 
äusserst  fruchtbaren  Bewegung,  deren  Schilderung  einer  Sonderbesprechung  wert  ist. 
Es  handelt  sich  dabei  aber  um  ein  sehr  umfangreiches,  nicht  leicht  zugängiges 
Material.  Einiges  darüber  bei  Suringar  a.  a.  0.,  1863,  S.  193—206,  Fokker 
(Nederl.  Tijdschr.  voor  Geneesk.  1865,  II.  167  seq.),  *Töply  (Eob.),  Ludwig  de 
Bus.  Prag.  med.  Wochschr.  1887  Nr.  6,  S.-A.  7  S.  (eine  der  Erstlingsarbeiten  des 
Verfassers  auf  histor.  Gebiete,  als  solche  zu  beurteilen).  In  der  Streitfrage  um  das 
Lymphgefässsystem  spielte  schliesslich  Buy  seh  s'  ,.Dilucidatio  valvulär,  in  vasis 
lymphat.  et  lacteis"'  eine  gewichtige  Rolle.  Ausführliche  Verzeichnisse  der  Schriften 
des  Van  Home  bei  Haller,  Bibl.  anat.  1.432  u.  Portal  III 10.  Eine  allgemeinere 
Bedeutung  haben:  Novus  ductus  chyliferus,  nunc  primum  delineat. ,  descript.  et 
eruditor.  eiamini  expositus.,  L.  B.  1652,  4":  Microcosmus  s.  brevis  manuduetio  ad 
historiam  c.  h.,  L.  B.  1660,  *1662,  8  °  u.  öfter;  Suor.  circa  partes  generationis  in 
utroque  sexu  Observation,  prodromus  etc.,  L.  B.  1668,  12  ".  —  Für  die  Beurteilung 
der  erwähnten  Strömungen  vgl.  besonders  *Hoffmann  (Joh.  Maur.,  Maur.  fil.)  .  .  . 
Dissertationes  ...  ad  Joh.  van  Home  .  .  .  Microcosmum  .  .  .  annexa  .  .  .  epist.  de  geni- 
talib.  c.  .  .  .  not.  Joh.  Swammerdamii  etc.    Altd.  noric.  1685,  4 <>,  328  S. 

®)  *Opera,  ed.  J.  Schrader,  Amst.  1679,  40  u.  öfter.  —  *Dictata  ad  Casp. 
Bartholini  Institutiones  anat.  ab  eodem  in  collegio  anat.  suo  sub.  fin.  a. 
IWO  et  init.  a.  1641  Lugd.  Bat.  habito,  explicatas:  in  Opera  medica,  Genev,  1681 
toi.  Seite  672 — 86.  —  Biographisches  in  der  Oratio  funebris  von  Schacht;  in  den 
Opera  1681  Seite  738-47;  Suringar  a.  a.  0.  1863,  497—510;  *Gubler  in  Confe- 
rences historiques,  Paris  1866,  8.  p.  269—308. 

'*)  Schüler  von  Riolan  in  Paris,  in  Leyden  Prof  anat.  1670 — 87. 

'*■)  Verz.  der  Werke  bei  Portal. 

*)  Tractatus  physico-medicus  de  homine.  C.  fig.  aen.  L.  B.  An.  Petr. 
Van  der  Aaa  1689,  4 »,  765  p. 

"•)  Seit  1638  Lektor  Anat.  am  CoUeg.  anat.-chir.  im  Haaff,  1687—92  Prof.  anat. 
et  med.  in  Leyden. 


248  Robert  Ritter  von  Töply. 

gefässe,  die  Drüsen,  die  Gebärmutter.^^)  Ein  unruhiger  Geist  kam 
zur  Geltung  in  dem  extravaganten  B  i  d  1  o  o  (Govert ,  *  1649  im 
März,  1 1713  im  April).^"*)  Sein  künstlerisch  vollendetes  anatomisches 
Tafelwerk  ist  von  G.  de  Lairesse  gezeichnet  (nicht  gestochen,  wie 
Haeser  meint)  und  von  A.  ßlooteling  gestochen,  aber  ohne  wissen- 
schaftliche Genauigkeit.  Die  Schärfe  seiner  Polemik,  ohne  welche  es 
damals  in  der  Wissenschaft  nicht  anging,  erinnert  an  die  seiner  be- 
leidigenden Parodie  der  Gerichte,  auf  Grund  deren  er  für  eine  Zeit 
verhaftet  wurde.^**")  Bidloos  Schüler  Muys  (Weijer  Willem,  *  1682, 
5.  Jan.,  f  1744  19.  April)^^*)  lieferte  die  ersten  wissenschaftlichen 
Arbeiten  über  die  kurz  vorher  von  Leeuwenhoek  nachgewiesene 
fibrilläre  Zusammensetzung  der  Muskulatur.^^^)  Ein  vornehmer  Geist 
gelangte  in  Leyden  zur  Geltung  mit  Albinus  d.  Ae.  (Bernard, 
eigentlich  Weiss,  seit  1656  von  Weissenlöw,  *  1653  7.  Jan.,  f  1721 
7.  Febr.),  12)  dann  Rau  (Johannes  Jacobus,  *  1668,  f  1719),  1=^") 
berühmt  als  Steinoperateur,  verdient  durch  die  Entdeckung  der 
Zusammensetzung  des  Septum  scroti,  Beschreibung  des  Unterkiefer- 
gelenks,  des  langen  Hammerfortsatzes,   des  Auges.  1^^)     Mit  Albi- 

"'*)  De  vasis  aquos.  oculi  L.  B.  1685.  —  De  ductia  salivali  novo  etc 
L.  B.  1687,  12  <*.  —  Beide  zus.  in  Sialo  8:raphia  et  ductuum  aquosor. 
anatome  nova  L.  B.  *169ü,  95,  1727.  —  IDefensio  ductuum  aquosor.  nee 
non  fons  salivalis  nouus,  hactenus  non  descr.  L.  B.  *1691 — 95.  —  Adenographia 
curiosa  et  uteri  foem.  anatome  nova  c.  epist.  ad  amicum  de  inventis  novis  L.  B. 
*1691,  1722.  —  Die  Epistola  ad  amicum  enthält  eine  geschmacklose  Grab- 
schrift für  die  Zirbeldrüse:  „Viator  gradum  siste  omnique  conatu  conarium  respice 
sepultum  partem  tui  corporis  primam  ut  olim  volebant  animae  sedem  glaudulam 
pinealem"  etc.  Die  damaligen  Gelehrten  überboten  einander  in  der  Fabrikation  der- 
artiger Epitaphien.    Aehnliche  Meisterwerke  lieferten  Th.  Bartholin  d.  J.  u.  Swalwe. 

^''')  Schüler  von  Ruysch,  1688 — 90  Lektor  d.  Anat.  und  Chir.  im  Haag  als 
Nachf.  von  Nuck,  nach  verschiedenen  Abenteuern  seit  1694  Prof.  d.  Med.  u.  Chir. 
in  Leyden. 

101))  *Anatomia  h.  c,  105  tabulis  per  G.  de  Lairesse  ad  viv.  delineatis 
demonstrata,  Amst.  1685,  fol.  max. ;  Nachdruck  von  Cowper  (Will,  *  1666,  f  1709), 
Oxford  1697;  dagegen:  *Guil.  Cowper  criminis  literarii  citatus  coram 
tribunali  etc.  per  God.  Bidloo.,  L.  B.  1700,  4  ",  54  S.  m.  Kpft. ;  Cowpers'  Antwort  er- 
folgte bald  darauf  mit  „Eucharistia  in  qua  dotes  plurimae  et  singulares 
G.  Bidloo"  etc.  —  Zum  Streit  mit  Euj'sch:  Vindiciae  contra  ineptas 
animadversiones  F.  Ryschii. 

"")  In  Franeker,  seit  1709  Prof.  d.  Mathem.,  seit  1712  auch  der  Med.,  seit 
1720  überdies  der  Chemie. 

"**)  Investigatio  fabricae,  quae  in  partib.  musculos  componentib.  exstat. 
Diss.  L  L.  B.  1738,  4°,  1741;  franz.  das.  1745;  holländ.  von  J.  A.  Vesser  das.  1747; 
Musculor.  artificiosa  fabrica  .  .  .  iconib.  manu  authoris  delin.  etc.  Diss.  IL 
L.  B.  175L  —  Van  Leeuwenhoek  (Antoni  *1632  24.  Okt.,  ^1123  26.  Xwg.;  39 
Jahre  „Kamerbewaerder  der  Kamer  van  beeren  schepenen"  zu  Delft)  war  der  Erste, 
der  über  eine  grosse  Anzahl  eigener,  origineller,  mit  einfachen  Mikroskopen  ge- 
machter Beobachtungen  in  Avisseuschaftlicher  Weise  berichtet  hat.  Vgl.  nebst  der 
eingangs  citierten  Literatur  das  diesbezügliche  Kapitel  bei  P  e  t  r  i ,  D.  Mikroskop, 
Berl.  1896  S.  18—38. 

^^)  Schüler  von  Drelincourt  u.  Craanen,  seit  1681  Prof.  med.  in  Frankf.  a.  0., 
eröffnete  hier  1684  das  theatr.  anat.,  später  Leibarzt  Friedrichs  I.  in  Berlin,  seit 
1702,  19.  Okt.,  Prof.  ordinär,  med.  theor.-pract.  in  Leyden. 

"")  Stud.  in  Leyden,  dann  unter  Duverney  u.  Mery  in  Paris,  hielt  in  Leyden 
seit  1696  mit  Zustimmung  des  Medizinalkollegs  gegen  den  Willen  von  Ruysch  Vor- 
lesungen, später  auch  im  theatr.  anat.  u.  seit  1705  mit  Erlaubnis  des  Universitäts- 
kuratoriums gegen  den  Willen  von  Bidloo,  wurde  nach  dessen  Tod  i.  J.  1713  Prof. 
d.  Med.,  Anat.,  Chir.,  war  aber  die  letzten  4  Lebensjahre  kränklich. 

i»b)  *Epist.  de  inventoribus  septi  scroti  ad  virum  CI.  F.  Bujsch; 
*Eesponsio  ad  qualemcunque  defensionem  F.  Ruyschii,  beide  1699,  in 
Ruysch,  Opera.  —  *Index  supellectilis  anat.  .  .  .  quam  legavit  .  .  .  Rau  .  .  . 
confect.  a  . . .  B.  S.  Albino  . .  .  L.  B.  .  . .  1725,  4",  48  pag. 


Geschichte  der  Anatomie.  249 

nus  d.  J.  (Bernh.  Siegfr.,  *  1697  24.  Febr.,  f  1770  9.  Sept.y^'') 
hat  die  deskriptive  Anatomie  in  den  Niederlanden  den  Höhepunkt 
ebenso  erreicht  wie  mit  seinem  Zeitgenossen  Haller  (1708 — 77) 
in  Deutschland.  Seine  sämtlichen  Tafelwerke,  zu  deren  Herstellung 
er  sich  der  Meisterhand  eines  J.  Wandelaar  und  besonderer  Vor- 
richtungen bediente,  zeichnen  sich  durch  wissenschaftliche  Genauig- 
keit und  künstlerische  Formvollendung  aus  und  zwar  nicht  nur  das 
Hauptwerk,  welches  die  Knochen-  und  Muskellehre  umfasst.  sowie  die 
zugehörige  Fortsetzung  über  die  Knochen,  sondern  auch  die  kleineren 
Abhandlungen  über  die  Muskeln,  die  Knochen  des  Fötus,  die  hoch- 
schwangere Gebärmutter  und  die  Frucht,  dann  die  lebensgrosse  Dar- 
stellung des  Milchbrustganges,  schliesslich  die  grosse  Zahl  kleiner 
Beiträge  zur  Anatomie.  Physiologie,  Zoographie,  Phytographie.  welche 
in  den  umfangreichen  ,.akademischen  Anmerkungen"  niedergelegt 
sind.  Ein  Vergleich  mit  Haller  ergibt,  dass  Albinus  an  Formvollen- 
dung der  Darstellung  weitaus  über  letzterem  steht,  dass  Haller  jedoch 
an  Umfang  und  Tiefe  des  Wissens,  sowie  durch  die  Menge  neuer 
Errungenschaften  überragt,  dass  die  Beiden  einander  ergänzen  und 
miteinander  den  Gipfel  desjenigen  bedeuten,  was  die  gröbere  Ana- 
tomie bis  zum  Eingreifen  der  Histologie  geleistet  hat.  Abgesehen 
von  den  Originalarbeiten  hat  sich  Albin  durch  sorgfältige  Ausgaben 
der  Werke  des  V e s a  1  (mit  Boerhaave  1 725)  Fabricius  ab  Aqua- 
pendente  (1737)  der  anatomischen  Tafeln  des  Eustachi  (1744) 
verdient  gemacht.  Peter  Camper  hat  ihn  „anatomicorum  princeps 
magnus  Albinus"  genannt.  Wenn  in  der  Wissenschaft  Standes- 
erhebungen üblich  wären,  hier  wäre  sie  nicht  unverdiente*^)  Der  so 
ziemlich  gleichalterige.  ebenfalls  aus  der  Leydener  Schule  hervor- 
gegangene Winter  (Frederik,  *  1712,  j  1760  11.  Nov..^-^'')   gehört 


^^»)  Schüler  von  Bidloo,  Kau,  Boerhaave,  seit  1719.  Okt.,  Lektor  anat.  et  chir., 
nach  dem  Tode  seines  Vaters  auf  Empfehlung  von  Boerhaave  Prof.  anat.  et  chir. 
ord.  his  1745,  Aug.,  dann  Prof.  med.,  in  der  vorigen  Stellung  1745 — 70  durch  seinen 
jüngeren  Bruder  Friedrich  Bernhard  ersetzt. 

"'^'j  Libellus  de  ossib.  c.  h.  1726.  —  *Historia  musculor.  hominis, 
Leid.  Bat.  1734  m.  8  T.,  4^  —  Icones  ossium  foetus  hum.  Acced.  osteo- 
geniae  brevis  bist.,  Leid.  Bat.  1737  m.  32  Kpft.,  4".  —  *Tabulae  sceleti  et 
musculor.  c.  h.,  Lugd.  Bat.  1747.  fol.  max.  m.  40  Kpft.  in  Grossfol.  (Hauptwerk); 
Tabulae  ossium  humanor. .  Leid.  1753,  fol.  max.  70  Kpfbl.  (Forts,  der  Tab. 
sceleti).  —  Tabulae  7  uteri  mulieris  gravidae  cum  jam  parturiret 
mortuae,  Lugd.  Bat.  1784,  fol.  max.;  Tabula r.  uteri...  Appendix  T.  I  ibid. 
1751  f.  max.  —  Tab.  vasis  chyliferi  cum  v.  azyga  etc.,  Lugd.  Bat.  1757, 
fol.  max.  —  *Academicar.  annotation.  libri  1 — 8,  Leid.  1754—68.  4  ",  2  Bde. 
m.  37  Kupferbl.  —  Nachstiche  von  Albins  Tafeln  in  Tarin  (Petr.)  Osteographie, 
Par.  1753,  Brisbane  (John),  Anat.  of  paint,  Lond.  1769,  fol.;  überdies  zahlreiche 
spätere  Nachahmungen.  —  Vgl.  Choulant,  Gesch.  d.  anat.  Abb.  S.  113  u.  f.,  über 
den  Streit  mit  P.  Camper  über  die  Auffassung  einer  zeichnerischen  Wiedergabe  das. 
S.  119,  die  Antwort  des  Albinus  in  Annot.  acad.  Hb.  8.  —  Neben  Wandelaar  be- 
schäftigte Albinus  auch  den  Kupferstecher  Ladmiral  zur  Anfertigung  von  Bunt- 
kupf erdrucken.  Das  so  zustande  gekommene  Sammelwerk  u.  d.  T.  -Anatomische 
Toorwerpen  door  Jan  Ladmiral",  1736—41,  m.  6  Tafeln,  spielt  in  der  Geschichte  der 
anat.  Abbildung  eine  Rolle.  Ich  besitze  die  Stücke  1,  5,  6.  Gegenüber  dem 
modernen  Dreifarbendruck  machen  sie  keinen  besonderen  Eindruck.  Dasselbe  gilt 
für  D'Agot}'  (Gautier).  Ich  besitze  von  ihm  die  Anat.  de  la  tete  par  M.  Du- 
verney  1748.  Vgl.  Choulant,  Ge.sch.  d.  anat.  Abb.  S.  105  u.  f.  Anat.  Buntkupfer- 
drucke verwendete  später  auch  Bleuland  (.L).  Sie  sind  bei  Choulant  nicht  er- 
wähnt.   Vgl.  im  Folgenden  Anm.  18b. 

^^•)  Prof.  d.  Med.  seit  1740  in  Herbom,  seit  1744  in  Franeker.,  seit  1747  in 
Leyden,  hier  um  die  Eröffnung  einer  Poliklinik  verdient. 


250  Eobert  Ritter  von  Töply. 

einer  Richtung  an,  die  einerseits  auf  Leeuwenlioek  und  Muys  zu- 
rückführt, andererseits  von  seinem  Zeitgenossen  Haller  vertreten  wird. 
Obzwar  er  keine  literarischen  Arbeiten  hinterliess,  hat  er  die  von  den 
beiden  Erstgenannten  vertretene  Lehre  von  der  librillären  Struktur 
der  Muskeln  weiterentwickelt  und  die  Irritabilitätslehre  so  gestützt, 
dass  er  in  dieser  Beziehung  Hallers  Mitarbeiter  genannt  zu  werden 
verdiente '^'')  Die  deskriptive  Anatomie  schien  nach  dem  Tode  des 
Albinus  eine  Zeit  lang  stille  zu  stehen.  Sein  Nachfolger  van 
Doveren  (Walther,  *  1730  16.  Nov.,  f  1783  31.  Dez.),^«"^)  ein  viel- 
seitiger Mann,^*"')  steht  in  dieser  Beziehung  weit  zurück  hinter 
Sandifort  d.  Ae.  (Eduard,  *  1742  14.  Nov.,  f  1814  13.  Febr.),i"«) 
von  Cruveilhier  „Vater  der  pathologischen  Ikonographie"  genannt). 
Dieser  folgte  wieder  der  beschreibenden  Methode  des  B.  S.  Albinus, 
ordnete  und  beschrieb  mit  seinem  Sohne  das  mittlerweile  ungemein 
angew^achsene  anatomische  Museum  und  sorgte  wie  Albinus  für  die 
Neuauflage  klassischer  Schriften."*')  Sein  Sohn  Sandifort  d.  J. 
(Gerard,  *  1779,  f  1848  11.  Mai)^'^°)  setzte  das  vom  Vater  begonnene 
Werk  über  das  Museum  fort  und  war  auch  auf  dem  Gebiete  der 
Kraniologie  thätig.^^"^)  Der  aus  der  Schule  der  Letztgenannten  her- 
vorgegangene Bleuland  (Jan.,  *  1756  20.  Juli,  f  1838  8.  Nov.)^^*) 
ist  weniger  wegen  des  Inhalts,  als  wegen  der  Form  seiner  zahlreichen 
Arbeiten  bemerkenswert.  Ein  Meister  der  anatomischen  Technik,  ver- 
fertigte er  über  2000  Präparate,  welche  von  der  Regierung  für  das 
anatomische  Museum  in  Utrecht  gekauft  wurden.  Die  Schaustücke, 
darunter  Meisterwerke  der  Injektionsmethode,  veröffentlichte  er  zu- 
meist mit  Hilfe  des  Zeichners  Van  der  Jagt  in  Buntkupferdruck, 
jenem   seltenen,   schon    von    Ladmiral    und    Gautier  d'Agoty 


^"')  Oratio  de  motu  vitali  et  irritabilitate  fibrar.  1747.  —  Vgl. 
überdies  die  einschläg-igen  zahlreichen  Dissertationen  seiner  Schüler. 

"")  Schüler  von  F.  B.  Albinus  u.  Winter,  seit  1754,  18.  März  Prof.  in  Groningen, 
nach  dem  Tode  des  Albinus  dessen  Nachfolger  in  Leyden. 

"'')  Specimen  Observation,  acad.  ad  monstror.  historiam,  ana- 
tomen,  pathologiam  et  artem  obstetriciam  etc.,  Groning.  et  Lugd.  Bat. 
1765,  4». 

1'»)  Stud.  in  Leiden  1758-83,  war  hier  seit  1771  a.  o.,  seit  1772  o.  Prof.  der 
Anat.  u.  Chir.,  seit  1778  auch  der  Med. 

^''•)  Decsriptio  musculor.  hom.,  L.  B.  1781.  — Descr.  ossium  hom., 
Ib.  1785.  —  Tabulae  intestini  duodeni,  L.  B.  1780,  4".  —  Tabulae  uteri 
puerperae,  Ib.  1781.  —  Exercitationes  acad.,  Ib.  1783  —  85,  2  Teile.  — 
Museum  Anat.  Acad.,  Lugd.  Bat.  descript.  1793—1835,  I,  II  von  Ed.  Sand., 
ni,  IV  von  Ger.  Sand.  —  Vesalii  tabulae  ossium  humanor.,  Lugd.  1782.  — 
Opuscula  anat.  selectiora  (Germani  Azzoguidi  Obss.  ad  uteri  constructionem ; 
J.  B.  Pallettae  Nova  gubernaculi  testis  Hunteriaui  et  tunicae 
vaginal,  descr.,  Jean.  Brugnoni  diss.  de  testium  in  foetu  positu  etc. 
1780—84  (88?). 

^■•')  Prosector  anat.  et  adjutor  seines  Vaters,  später  a.  o.,  1812  o.  Prof.  d. 
Anat.  in  Leyden. 

^''*)  De  accuratioris  et  subtilioris  anatomes  studio,  medicis  et 
chirurgis  maxime  commendando  (Antrittsrede).  —  Tabulae  anat.  situm  vis- 
cerum  thoracicor.  et  abdominal,  deping,  4  Fase,  Leyd.  1801 — 09.  — 
Museum  anat.  Acad.,  L.  B.  III,  IV,  1827 — 35.  —  Tabulae  cranior.  diversar. 
nation.,  Lugd.  Bat.  1838.  Abb.  in  nat.  Gr.  —  Oratio  de  Seb.  Just.  Brug- 
m  a  n  8  (Sebald  Justinus  *  1763,  f  1819,  zuerst  Prof.  in  Leyden,  dann  General-Inspektor 
des  railitärärztl.  Dien.stes,  ein  tüchtiger  Naturforscher.  Beschr.  seiner  vergl.-anat. 
Präparate  von  Sandifort  in  Mus.  Anat.  Acad.  L.  B.  III,  über  300  Seiten). 

**")  Schüler  von  Sandifort,  Albinus.  van  Doeveren,  seit  1791  Prof.  in  Harderwijk, 
1795—1826  in  Utrecht  Prof.  d.  Anat.,  PhysioL,  Zoolog.,  Geburtsh.  bei  gleichzeitigem 
Unterricht  in  der  Med. 


Geschichte  der  Anatomie.  251 

geübten,  aber  für  die  anatomische  Abbildung  nur  wenig  geeigneten 
Verfahren.^ ^'')  Bleuland  zählt  noch  zu  jenen  Anatomen  der  älteren 
Zeit,  die  sich  durch  besondere  manuelle  Geschicklichkeit  ausgezeichnet 
hatten,  für  die  aber  ebendeshalb  die  Freude  an  der  Mache  eines 
Präparats  ausschlaggebend  war,  selbst  wenn  der  wissenschaftliche 
Wert  der  Errungenschaft  keineswegs  im  Verhältnis  zu  der  darauf 
angewendeten  Mühe  gestanden  ist.  Diese  Auffassung  schwand  all- 
mählich, nachdem  die  Histologie  und  moderne  Embryologie  ihren  Ein- 
zug in  die  Anatomie  gehalten  hatten.  Diese  neuere  Richtung  vertritt 
gegenwärtig  zu  Leyden  Professor  Z  a  a  y  e  r. 

In  Amsterdam  ward  i.  J.  1555  durch  Philipp  IL  den  Chir- 
urgen jährlich  eine  Verbcherleiche  für  anatomische  Zwecke  zu- 
gestanden, nachdem  die  Chirurgengilde  die  erste  in  Holland  ge- 
wesen, die  einen  Leichnam  geöffnet  habe,  und  zwar  im  St.  Ursula- 
konvent i.  J.  1550.^^)  Die  Liste  der  hier  wirkenden  Lehrer  der 
Anatomie  weist  erst  im  17.  Jahrhundert  hervorragende  Namen 
auf.  Die  meisten  sind  aus  der  Schule  von  Leyden  hervorgegangen. 
Die  Liste  lautet:  Kost  er  (Maarten  Jansz.  K.  of  Aedituus,  M.  D., 
Bürgermeister,  der  erste  Lector  anatomiae.  *  ?,  angestellt  1578,  f  ?). 
Egbertszoon  (Sebastiaan,  *  ?,  y  1621  23.  April;  1595  Nov.  ..Prof. 
vel  Praelector  chirurgiae"  der  Chirurgyns  Gilde,  1606  Bürgermeister),  -^) 
Fonteijn  d.  Vater  (Joan,  meist  Fontanus  gen..  *  1574,  angest.  1621, 
t  1628  8.  Aug.).^^)  Tulp  (Nicolaas,  auch  Claes  Pietersz  und  Nicolaus 
Petrus  gen..  *  1593,  f  1674).--)  Deijman  (Joan,  *  1666  2.  Dez.),^») 
Euysch  (Fredrik,  *  1638,  f  1731  22.  Febr.),-^)  Roell  (Willem, 
*  1700,  t  1775  27.  Okt.),-')  Camper  (Petrus,  *  1722  im  Mai,  f  1789 

^^^]  Obss.  anat.  med.  de  sana  et  morbosa  oesophagi  structura. 
c.  fig.  L.  B.  1785.  —  Experimenta  anat.  quo  arteriolar.  lymphaticar. 
existentia  probabiliter  adstrnitur,  L.  B.  1784,  4°.  —  *Icon  tnnicae 
villosae  intestini  duodeni,  juxta  felicem  vasculor.  impletionem. 
Ipsis  colorib.,  qui  in  praeparato  conspiciuntur  ed.,  Traj.  ad  Rhen. 
1789,  4"  (Tafel:  Van  der  Jagt  delin.,  J.  Kobell  sculps.).  —  Vascnlor.  in 
intestinor.  tenuium  tunicisdescr.  iconib.  ad  nat.  fid.  etc.,  Traj.  ad  Rhen. 
1797,  4°  (Tafel  von  V.  D.  Jagt).  —  Icon  hepatis  foetus  octimestris,  Traj.  ad 
Rhen.  1789,  4°.  —  *Otium  ccademicum  cont.  descriptionem  speeiminum  non- 
mülar.  part.  c.  h.  et  animalium  subtilioris  anatomiae  ope  etc.,  Traj.  ad  Rhen.  1828, 
40,  93  S.,  24  Taf.  in  Buntkixpferdruck,  Tab  I,  J.  H.  Verheyen  fecit,  J.  C.  D. 
B r u y n  sculp.  —  *Icones,  quae  ad  anat.  animal.  comparatampertinent, 
Ibid.  1826,  4  **,  50  S..  12  Taf.  in  Buntkupferdr.  —  *Icones  anat. -pathologicae, 
Ibid.  1826,  Ibid.  1826,  40,  158  S.,  36  Taf.  in  Lithogr.,  nur  Taf.  IV  in  Buntkupferdr. 
—  De  f abrica  et  functionib.  c.  h.  et  animal.  brutor.  dissectione  prudenter 
illustrandis  (Utrechter  Antrittsrede).  —  Oratio  qua  mem.  H.  D.  Gaubii  — 
commendatur  (Harderwyker  Antrittsrede).  —  Choulants  Gesch.  d.  anat.  Abb.  er- 
wähnt die  Bemühungen  Bleulands  um  den  Buntkupferdnick  nicht. 

'*)  Facsimile  der  Urkunde  bei  van  der  Boon  a.  a.  0.  als  Beil.  I. 

*")  Nach  Daniels  in  Gurlt-Hirsch  Lex.  II,  267  hat  Egbertsz  wahrscheinlich 
schon  vor  1595,  als  Koster  seine  Vorlesungen  eingestellt  hatte,  auch  Anar.  doziert. 
Van  der  Boon  u.  Thijssen  a.  a.  0.  nennen  als  Anstellungsjahr  für  die  Professur 
der  Anat.  1599. 

-'j  Sein  älterer  Sohn  Bernard  Fonteijn  (f  1645)  hat  sich  mehr  mit  der 
Dichtkunst  u.  dem  Theater  befasst,  als  mit  der  Medizin.  Vgl.  Worp  (J.  A.),  Dr. 
Bemard  Fonteyn,  Amst.  1884. 

**)  Schüler  von  Paauw,  Bontius,  0.  Heumius,  Vorstius,  1626—53  Prälektor  d. 
Anat,  1632  von  Eembrandt  gemalt,  1654,  55,  66,  71  Bürgermeister. 

*■')  Praelector  anat.  1653 — 66,  1656  von  Rembrandt  gemalt. 

**)  Schüler  von  Van  Home,  De  le  Boe  Sylvius,  Schuyl  in  Leyden,  Praelect. 
anat.  seit  1666. 

■^)  Angest.  1727  30.  Okt.  als  Assist,  von  Ruysch,  seit  1731—55  als  Prof.  d. 
Anat.  u.  Chir.  wirkend,  aber  erst  1762  entlassen. 


252  Robert  Ritter  von  Töply. 

im  April),2«)  Snip  (Volkert,  *  1733,  f  1771  25.  Juni),^^  Bonn 
(Andreas,  *  1738  im  Juni,  f  ISIS),^»)  Vrolik  d.  Ae.  (Gerardus,  *  1775, 
t  1859),-")  Bosscha  (Hendrik,  *  ?,  f  1829  13.  Sept.),»"«)  Suringar 
(Gerard  Coenraad  Bernard,  *  1802,  f  1874  im  Jan.j,=^')  Vrolik  d.  J. 
(Willem,  *  1801,  j  1863  im  Dez.),=^-')  Berlin  (Willem,  *  ?,  f  1902  im 
Nov.),  der  Schützling'  und  Mitarbeiter  von  Donders,  Fürbringer 
(*  ?,  t  ?),  Rüge  (Georg,  *  1852).«») 

Wenn  man  bedenkt,  dass  die  Anatomen  hier  bis  zum  letzten 
Viertel  des  17.  Jahrhunderts  auch  eine  politische  Rolle  zu  spielen 
pflegten  (Koster,  Egbertsz,  Tulp),  dass  man  später  zur  Anatomie  noch 
Fächer  auflud,  die  mit  dieser  nur  in  sehr  lockerem  Zusammenhang 
standen,  so  muss  man  sich  geradezu  wundern,  dass  Einige  von  ihnen 
eine  weit  über  das  Mittelmass  gehende  Bedeutung  erlangt  haben. 
Allerdings  darf  man  andererseits  nicht  vergessen,  dass  zur  Hebung 
des  Ansehens  Einzelner  auch  das  kulturgeschichtliche  „milieu"  wesent- 
lich beigetragen  hat,  in  dem  sie  sich  bewegten.  Das  gilt  gleich  von 
Tulp  (1593 — 1674).  Kurz  vor  seiner  Geburt  hatte  der  Aufstand  der 
Niederlande  (seit  1566)  mit  der  Utrechter  Union  und  der  förmlichen 
Lossagung  der  nördlichen  Provinzen  von  Spanien  geendet  (1581),  die 
Republik  der  vereinigten  Niederlande  erlangte  im  westfälischen  Frieden 
(1648)  ihre  Unabhängigkeit,  die  Niederländer  wurden  das  grösste 
Handelsvolk  Europas.  Die  Kunst  blühte  auf,  die  Maler  (Aert  Pietersen, 
Thomas  de  Keyser,  Nicolas  Elias,  Rembrandt,  Johan  van  Neck,  Adriaen 
Backer,  C.  Troost,  Regters)  wetteiferten  darin,  die  Anatomen  bei 
ihrer  Arbeit  (Seb.  Egbertsz,  Fonteyn,  Tulp,  Deyman,  Ruysch,  Roell, 
Camper,  die  Bilder  stammen  aus  den  Jahren  1603 — 1758)  durch  die 
Kunst  festzuhalten  und  der  Nachwelt  zu  überliefern,  durch  dieselbe 
Kunst,  mittels  deren  die  Amsterdamer  Aerzte  Ephraim  Bonus,  Manas- 
seh-ben-Israel  ebenso  wie  der  Bürgermeister  Six  berühmt  geworden 
sind,  lediglich  deswegen,  weil  ein  Rembrandt  sie  in  Meisterwerken 
verewigt  hat.  Allerdings  hat  sich  Tulp  durch  die  erste  Beschreibung 
der  durch  Rondelet,  Lehrer  des  Bauhin  entdeckten  sog.  Ileocökal- 
klappe  (Valvula  Bauhini  sc.  Tulpii),  durch  die  erste  Nachweisung 
der  von  Asellio  beim  Hunde  entdeckten  „vasa  lactaea"  beim 
Menschen  (demonstrirt  laut  Angabe  von  Bartholin  an  einer  Ver- 
brecherleiche im  J.  1639,  also  12  Jahre  vor  Joh.  Van  Hörne),  durch 

^^)  Stnd.  in  Leyden,  seit  1749  Prof.  d.  Philos.,  einige  Wochen  später  auch  der 
Anat.  n.  Chir.  in  Franeker,  1755  24.  Apr.  —  1761  23.  Jan.  Prof.  d.  Med.  in  Amster- 
dam, 1763 — 73  Prof.  d.  theor.  Med.,  Anat.,  Chir.  u.  Botan.  in  Groninj^en. 

^')  Stud.  in  Franeker,  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  in  Amst.  1762— 71. 

**)  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  am  Athenaeura  illustre  in  Amsterd.  1771  1.  Nov.— 1798. 

^^)  Stud.  in  Leyden,  in  Amsterd.  seit  1797  Prof.  d.  Botan.,  1798  16.  Mai  Prof. 
d.  Anat.  u.  Physiol.,'  Gehurtsh.,  Botan.  bis  1820,  worauf  er  diese  Fächer  in  den  J. 
1820,  28,  34  an  Bosscha,  Tilanus,  de  Vriese  abtrat. 

='*''')  Seit  1820  10.  Okt.  Prof.  d.  Anat,  Physiol.,  Chir.  am  Athenaeum,  dann 
Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  an  der  über  seine  Anregung  errichteten  1828—65  bestehenden 
klinischen  Schule. '"''') 

**"•)  Daniels  in  Gurlt-Hirsch  Lex.  giebt  sein  Geburtsjahr  mit  1701.au.  Dies 
dürfte  wol  ein  Druckfehler  sein. 

"*)  Stud.  in  Leyden  unter  Sandifort,  Krauss,  Bernard,  seit  18.30  6.  Jan.  Prof. 
d.  Anat.,  Physiol.,  Chir.  am  Athem.  ill.  in  Amst.,  seit  1831  Prof.  d.  Med.  an  d.  klin. 
Schule  u.  Prof.  honor.  am  Athen ,  1843 — 72  Prof.  d.  Med.  in  Levden. 

3«)  1828  a.  0.  Prof.  d.  Anat.  u.  Physiol.  in  Groningen,  1831  1.  Jan.  Prof.  d. 
Anat.  u.  Chir.  in  Amst.,  hier  auch  Lehrer  der  Zoologie  la.  Med.  forens. 

^^)  Geb.  in  Berlin,  1882  a.  o.,  1888—97  o.  Prof.  d.  Anat.  in  Amst.,  dann  in 
Zürich. 


Geschichte  der  Anatomie.  253 

die  erste  Beschreibung  des  Chimpansen  verdient  gemacht,  sein 
literarisches  Hauptwerk  ist  jedoch  nur  eine  kleine  Sammlung  ka- 
suistischer Mitteilungen  aus  beinahe  allen  Gebieten  der  Medizin  und 
der  Zoologie.-^*)  Tulp  war  aber  als  Persönlichkeit  der  Mittelpunkt  eines 
Kreises  von  hervorragenden  Künstlern,  wie  Rembrandt  und  Forschern 
wie  Swammerdam  (Jan.,  *  1637,  f  1680  17.  Febr.).^'»)  Letzterer 
ist  der  Erfinder  der  Injektionen  mit  geschmolzenem  Wachs  (demon- 
strirte  die  Methode  zu  Amsterdam  1666,  wo  Ruysch  sie  ablernte, 
Paris  1669.  London  1671).  Mit  ihm  beginnt  die  feinere  Anatomie  des 
Gefässsystems.  Sein  anatomisches  Hauptwerk  behandelt  die  Blut- 
gefässe des  Uterus.  Die  schönste  der  angeschlossenen  drei  Tafeln  ist 
dem  Tulp  gewidmet. •^■^^)  Swammerdaras  Schüler  in  der  Injektions- 
technik Ruysch  (1638 — 1731)  hat  sich  bekannt  gemacht  durch  den 
Nachweis  der  Klappen  in  den  Lymphgefässen  und  des  Unterschieds 
zwischen  dem  männlichen  und  weiblichen  Skelet,  durch  die  Ent- 
deckung der  Aa.  bronchiales,  intercostales  ext,  der  Art.  centralis 
retinae,  des  Periosts  der  Gehörknöchelchen,  durch  die  genaue  Be- 
schreibung der  Drüsen,  seinen  Streit  mit  Malpighi  über  die  Leber, 
die  Milz,  die  Nieren,  mit  Rau  über  das  Septum  scroti,  durch  seine 
Untersuchungen  über  die  anatomische  Zusammensetzung  des  Auges, 
durch  die  Entdeckung  der  Hautpapillen  und  seine  Mitteilungen  über 
einen  im  Fundus  uteri  kreisförmig  verlaufenden  Muskel. ■^'')  Bekannt 
ist  sein  Verhältnis  zu  Zar  Peter  d.  Gr.,  der  Ankauf  der  einen  Samm- 
lung des  Ruysch  durch  den  Zar  im  Jahre  1717,  der  Zustand  in  dem 
die  Sammlung  in  Petersburg  ankam,  nachdem  die  Matrosen  unter- 
w^egs  den  Spiritus  ausgetrunken  hatten,  die  Anlegung  einer  neuen 
Sammlung,  welche  nach  dem  Tode  des  Ruysch  von  dem  Polenkönig 
Johann  Sobieski  gekauft  und  der  Universität  Wittenberg  geschenkt 
"wurde.  Die  Präparate  seines  Museums  kennzeichneten  sich  durch 
groteske  Anordnung  und  theatralische  Aufstellung  und  entsprachen 
als  solche  nicht  der  wissenschaftlichen  Bedeutung  ihres  Verfertigers, 
wol  aber  der  Barockzeit,    in  der    er  lebte. '^')     Ruyschs  Mitarbeiter 


**)  Observation,  medicar.  libri  tres.  Mehrere  Ausgaben,  hauptsächlich 
Amsterdam  u.  zw.  1641,  8°;  *1652  (iibro  quarto  auctior),  8",  403  S.  m.  Taf.;  1672, 
8**;  1685,  8*^.  D.  Abb.  des  Chimpansen  m.  d.  Ueberschr.  „Homo  sylvestris.  Orang- 
ontang"  in  der  2.  Ausg.,  p.  284,  Tab.  14. 

**■)  Schüler  von  Deijman,  De  le  Boe  Sylvias,  Van  Home,  wurde  durch  Au- 
toinette  Bousignon  de  la  Porte  zum  Schwärmer,  Melancholiker,  Mysticisten. 

^^^)  Miraculum  naturae  s.  uteri  muliebris  fabrica  notis  in  D.  Joh.  van 
Home  prodromum  illustr.  etc.  Adjecta  est  nova  methodus,  cavitates  corporis  ita 
praeparandi  etc  ,  Lugd.  Bat.  Ed.  1.  *1672,  4 »,  57  S.  m.  3  Kpft. ;  andere  Ausg. 
Leyd.  1679,  1717,  1729,  Lond.  1680.  (Mein  schönes  Exemplar  ist  ein  Dedikations- 
exemplar  mit  eigenhändiger  Widmung  des  Autors  an  Tulp.).  —  Tract.  physico- 
anatomico-medicus  de  respiratione  usnque  pulmon.,  Ed.  1  Lugd.  Bat. 
*  1678,  8°,  121  S.  m.  Kpft.  u.  6  Fig.  im  Text,  im  Anhang  Positiones  inaug.  f.  d. 
22.  Febr.  1667;  andere  Ausg.  Leyd.  1677,  1679,  1738.  —  Zu  den  Kontroversen  vgl. 
D  e  G  r  a  a  f ,  Defensio  partium  genit.  adv.  Swammerdammum  L.  B.  1673  ;Lamzweerde, 
Eespirationis  Swammerdammianae  exspiratio,  Una  c.  anat.  neologices  Jo.  de  Raei  etc., 
Amst.  1674.  —  Swammerd.  war  auch  einer  der  Verf.  von  den  „Obss.  anat.  selectiores, 
ed.  a  collegio  med.  privato  Amstelod."  —  Die  Injektionstechnik  vor  Swammerdam 
bediente  sich  der  Einspritzungen  von  Wasser  (Berengar  etc.)  oder  des  Lufteinblasens 
(Ch.  Estienne  etc.).  Letztere  Methode  hat  Eiolan  in  seiner  Abhandl.  üb.  die  Anatorae 
pneumatica  ausführlich  beschrieben.  Hyrtl  hat  in  seiner  Gesch.  der  Injektionen 
(Handb.  d.  prakt.  Zergliederungskunst,  Wien  1860,  S.  583  u.  f.)  diese  Abb.  nicht 
erwähnt. 

*^j  Daniels  in  Gurlt-Hirsch  Biogr.  Lex.  V,  131. 

*')  Von  seinen  in  verschiedenen  Ausgaben  erschienenen  Werken  folgen  hier  nur 


254  Robert  Ritter  von  Toply. 

Kerckring  (Theodor.  *  1640,  f  1693) •'"^")  hat  die  nach  ihm  be- 
nannten Valvulae  conniventes  im  Dünndarm  zum  erstenmal  genauer 
besclirieben,  die  Vasa  vasorum  (beim  Pferd)  entdeckt  und  die  Knochen- 
entwicklung beim  Fötus  stufenweise  verfolgt,^**'')  Ruyschs  zweiter 
Nachfolger  Camper  (1722—89)  entdeckte  den  Proc.  vaginal,  peri- 
tonei,  gab  eine  ausgezeichnete  topogr.  Beschreibung  und  Abbildung 
des  Armes,  des  Beckens  und  des  Leistenkanals,  wies  überdies  zum 
erstenmal  deutlich  nach,  dass  die  Linse  des  Auges  aus  Fasern  be- 
steht, wie  Leeuwenhoek  vermutet  hatte.  Seine  Entdeckung  des  An- 
gulus  facialis  ist  der  erste  Versuch  menschlicher  Schädelmessung.'^") 
Bonn  (1738 — 1818)  ist  mit  seiner  Dissertation  „De  continuatione 
membranarum.  1763"  der  Vorläufer  von  Bichat  und  von  diesem  tliat- 
sächlich  —  allerdings  ohne  Hinweis  auf  Bonn  —  für  den  „Traite  des 
membranes"  ausgenützt  worden.  Vrolik  d.  Ae.  (1775 — 1859),  Be- 
gründer des  von  seinem  Sohne  vermehrten  ,.Museum  Vrolik"  hat  sich 
durch  anthropologische  Studien  über  das  Becken  hervor gethan.^") 
Vrolik  d.  J.  (1801  —  63),  vorwiegend  Zoolog  und  pathologischer  Ana- 
tom, hat  erst  der  Embryologie  in  Amsterdam  Eingang  verschafft.*^) 

Leyden  hat  auch  auf  Utrecht  Einfluss  geübt.  Der  aus  der 
Leydener  Schule  hervorgegangene  Van  Diemerbroeck  (Ysbrand, 
*  1609,  t  1674)*-'')  ist  Verfasser  eines  allen  fortschrittlichen  An- 
forderungen   entsprechenden   Handbuchs.  *''^^)     Einer   seiner   Schüler, 


die  Titel:  *Dilncidatio  valvulär,  iiivasis  lymphat.  et  lacteis.  —  ♦Brief- 
wechsel üb.  anat.  Gegenstände  mit  Gaub  (Job.;  in  der  Antwort  auf  den  3.  Brief 
eine  schöne  Abb.  der  Kranzgefässe  des  Herzens  u.  ihrer  Verzweigung:),  C  am  do- 
rn e  reu  s  (Job.  Jac),  Frentz  (Gerard),  Graetz  (Joh.  Heinr.),  Goelicke  (Andr. 
Ottom.),  Keerwolff  (Barthol.),  Wolf  (Joh.  Chi  ist),  EttmüUer  (Mich.  Ernst), 
Wedel  (Christ.),  Reverhorst  (Maurit.),  Graetz  (Alb.  Henr.),  Vater  (Abrah.)  — 
*De  Fabrica  glandulär,  in  corp.  h um.  (Briefwechsel  mit  Herrn.  Boerhaave). 

—  *Obser  vation.  anat.-chir.  centuria.  Accedit  Catal.  rarior.,  qua  in  Musaeo 
Ruyschiano  asservantur.  —  *Thesaurus  animalium  I,  anatomicus  II — X.  — 
*Resp.  ad  God.  Bidloi  libelluin  quem  Vindicias  inscripsit.  —  *Adversarior. 
anat.-med.-chir.  decas  I,  II,  III.  —  *Curae  posteriores  s.  thesaur.  anat. 
omuium  praecedent.  maxim.  —  *Curae  renovatae  s.  thes.  anat.  post  curas  post. 
novus.  —  *Tractatio  anat.  de  musc.  in  fundo  uteri  obs.  antehac  a  nemine 
detecto  (zugehörig  *Abr.  Vater i,  Epist.  grat.  ad  Frid.  Ruysch.  de  m.  orbic.  in 
fundo  uteri  detecto;  *Epist.  v.  cl.  Hecqueti  ad  D.  D.  .  .  .  de  Ruyschiano  musc.)  — 
*Resp.  ad  diss.  epist.  J.  Ch.  Bohlii  de  usu  novar.  cavae  propagin.  in  syst,  chylo- 
poeo,  nee  non  de  cort.  cereb.,  m.  Bezug  auf  *J.  Ch.  Bohlii,  Biss.  epist.  ad.  Fr 
Ruyschiura  de  usu  etc.  —  Hierher  gehört  auch  *J.  J.  Rau,  Resp.  ad  quäl.  def. 
Fred.  Ruyschii  .  .  .  pro  septo  scroti;  *J.  J.  Rau,  Ep.  de  inveutorib.  septi  scroti  ad 
V.  cl.  Fr.  Ruyschium. 

^^^)  In  Leyden  prom.,  in  Amsterdam  bis  ungef.  1675. 

381.^  *Spicilegium  anat.  cont.  .  .  .  osteogeniam  foetmim  etc.,  Amst.  *1670, 
4°,  280  S.  m.  Kpf.;  Ed.  2.  1673;  Supplement:  *Anthropogeniae  ichnographia 
s.  conformatio  foetus  ab  ovo  etc.,  *Amst.  1671,  4°,  14  S.  m.  6  Fig.;  Paris  1672.  — 
Opera  omnia.  Ed.  1.  ?;  Ed.  2.  1717;  Ed.  3.  1729,  Amst. 

^^)  Demonstration,  anat. -patholog.  lib.  I  cont.  brachii  hum.  fabric.  et 
morbos,  1760;  lib.  II  cont.  pelvis  hum.  fahr,  et  morb.  1762,  Amst.,  fol.  max.,  m.  3 
bezw.  5  Kpft. 

•'")  Over  het  verschil  der  bekkens  in  onderscheiden  volksstammen,  1826. 

—  Ov.  d.  wervelkolon  en  het  Uekken  van  den  mensch,  185Ü.  —  Hoe  raen 
zieh  de  doormetiugen  van  het  vrouwelyk  bekken  bey  den  mensch 
behoort  vor  te  stellen. 

"**)  De  foetu  hum.  animalium  minus  perfector.  forraas  referente.  Antritts- 
rede 1831.  —  T  ab  ulaeadillu  Strand,  embryogenesin  hominis  et  mammalium, 
Amst.  1849,  mit  dem  Monthyon-Preis  gekrönt. 

*2»)  1649  e.  0.,  1651—74  Prof.  o.  anat.  et  med.  zu  Utrecht. 

*-•')  Anatom e    corp.    hum.    plurimis   novis   inventis    illustr.,    Utrecht  1672, 


Geschichte  der  Anatomie.  255 

Hoboken  (Xicolaas.  *  1632,  f  1678)*=^=')  hat  eine  ausführliche  Be- 
schreibung und  Abbildung  der  Nachgeburt  veröffentlicht*-^'')  der 
jüngere  De  Graaf  (Eeinier,  *  1641  30.  Juli,  f  1673) ■*^*)  ist  durch 
seine  Untersuchungen  auf  dem  Gebiete  der  Anatomie  der  Ge- 
schlechtsorgane (Folliculi  Graafiani  ovarii),  den  einschlägigen 
Prioritätsstreit  mit  Swammerdam  über  diesen  Gegenstand,  so- 
wie in  der  anatomischen  Technik  durch  Beschreibung  und  Ab- 
bildung der  Injektionsspritze  bekannt.**^)  Diemerbroecks  Nach- 
folger Munniks  (Johannes,  *  1652.  j  1711)*-^^)  hat  sich  aber  Avieder 
mehr  der  Chirurgie  zugewendet.**'')  Gegenwärtig  lehrt  die  Anatomie 
zu  Utrecht  Prof  Rosen  zweig. 

Das  friesische  Groningen  ist  in  der  älteren  Zeit  gegenüber 
Leyden  und  Amsterdam  an  Bedeutung  weit  zurückgestanden.  Der 
dort  geborene  Koyter  (Coiter,  Yolcher.  *  1534,  j  1576  oder  90)**^") 
hat  seine  Studien  in  Italien  und  Frankreich,  das  übrige  Leben 
in  Deutschland  verbracht,  so  dass  er  nicht  der  niederländischen 
Schule  zugezählt  werden  kann.*'''')    Deusing  (Ant,  *  1612  15.  Okt., 


*1679,  4  ",  606  S.  m.  Kpft.  (Kopien  nach  bewährten  Mustern)  u.  verschiedene  Ausg. 
sowie  üehersetzungen  Genua.  Padua,  Lvon,  Lond. 

**")  Prof.  d.  Mi.thematik  u.  Med.  1663  am  Athenaeum  in  Steinfurt,  1669—72 
in  Harderwyk. 

*'"')  Novus  ductus  salival.  Blasianus  in  lucem  protractus,  1662. — 
Anatom e  secundinae  hum.  15  fignris  ad  viv.  propria  autoris  manu  deliueatis 
illustr.  c.  annexo  Spicilegio  Epistolar.  Traj.  ad  Ehen.  *1669,  8 ",  221  S.  m.  Kpftf., 
Portr.,  Titelkpf.,  Widmung  au  Tulp.  Das  Spicilegium  umfasst  eine  einschlägige 
Korrespondenz  mit  Bartholin  (Th.),  Lamzweerde  (J.  Bapt.  ä),  Heidegger 
(Joh.  Henr.),  Spinaeus  (Gothefred),  Heckhaus  (Gisbert  Heckhusius). 

•"*)  Schüler  von  Diemerbroeck,  De  le  Boe  Sylvius,  Van  Hörne,  Arzt  in  Delft. 

**^}  De  viror.  organis  generationi  inservientib.,  L.  B.  1668;  1670; 
1672.  —  Epist.  ad  Luc.  Schacht  de  nonnullis  circa  partes  genit.  in- 
ventis  novis,  L.  B.  1668.  —  De  mulier.  organis  generat.  inservient. 
tract.  novus,  L.  B.  1672.  —  Partium  genit.  defensio  adv.  Swammerdamm. 
L.  B.  167.S.  —  De  usu  syphonis  in  anat. .  L.  B.  1668.  —  Opera,  Lugd.  Bat. 
*1677,  8^',  717  S.  m.  Kpft. '(Daniels  in  Gurlt-Hirsch.  Lex.  II,  616  kennt  diese  Ausg. 
nicht,  nennt  aber  mit  Berufung  auf  Portal  III,  214  u.  f.  eine  Leydener  Ausg.  vom 
J.  1674,  welche  aber  sowol  Portal  als  mir  unbekannt  ist),  Lond.  1678,  Amst.  1705; 
hoUänd.  Amst.  1686 ;  franz.  Basel  1679,  Lyon  1679.  —  Die  deutschen  Uebersetzungen 
der  älteren  Beiträge  zur  anat.  Technik  verbergen  sich  in  folgenden  Schriften: 
*Timmii  (Job.),  Collectanea  ad  praxin  anatomes.  .  .  .  D.  i.  Sammlung  einiger  zur 
anat.  Vorbereitung  der  menschl.  Cörper  gehör.  Schrifften  (Lyser,  Casp.  Bartholin, 
De  Graaf)  Bremen  1735,  8",  40  S.  m.  4  Kpft.:  *Schultzens  (Joh.  Heinr.)  Ab- 
handl.  v.  d.  Stein-Cur  .  .  .  welcher  heigefüget .  .  .  Alex.  Monro's  ...  Zwo  Versuche 
von  künstlichen  Einspritzen  etc.,  Franckf.  u.  Leipz.  1740.  8",  146  S.  m.  Kpft. 

'^*)  Seit  1677  Lector  anat.,  seit  1678  Prof.  d.  Anat.  u   Bot. 

*^'')  De  utilitate  anatomiae  1677  (Antrittsrede).  —  Liber  de  re  anat.. 
Utr.  1697.  —  *Anat.  nova,  Lugd.  1699,  8°,  229  pag.  c.  fig.  —  Alle  de  werken 
enz.,  Amst.  1740. 

^•")  Seit  1555  Schüler  von  Falloppia,  Eustachi,  Aranzi,  Eondelet,  seit  1569 
Stadtarzt  in  Nürnberg,  später  Militärarzt  unter  Pfalzgraf  Joh.  Kasimir. 

*'"')  De  ossib.  et  cartilaginib.  c.  h.,  Bologna  1566.  —  *Externar.  et 
internar.  principal.  h.  c.  partium  tabulae,  ■Sorib.  1573,  fol.,  133  S.  m.  Kpft. 
Tabellar.  Uebersicht  der  Anat.  mit  eingestreuten  Exkursen:  de  ovor.  gallinaceor. 
generationis  primo  exordio  etc. ;  ossium  tum  hum.  foetus  .  .  .  historia  etc. ;  analogia 
ossium  hum.,  simiae  etc. ;  paradigma  in  explicatione  partium  nostri  corporis  sequend. 
ad  oculum  accomodatum ;  de  auditus  instrumento ;  eine  spätere  Ausg.  Löwen  1653.  — 
Diversor.  aniraalium  sceletor.  explicationes  .  .  .  iÜustratae,  Nürnb.  1575; 
1595.  —  Tractat.  anat.  de  ossibus  foetus  abortivi  et  infantis  dimidium 
anni  nati  (1669  angeblich  durch  H.  Eysson  veröflfentl.  mir  nicht  näher  bekannt).  — 
Man  hat  ihm  allerlei  Entdeckungen  zugeschrieben  (oberste  Nasenmuskeln  =  mm. 
proceres  Santorini,    m.  corrugator   .supercilii,   corpora  lutea,    Ganglien   der  Rücken- 


256  Robert  R-itter  von  Töply. 

t  1666),*'*)  ein  vielseitiger  Polemiker  (gegen  Bartholin,  0.  Borch,  De 
le  Boe  Sylvias,  De  Bils)*'*')  vernachlässigte  schliesslich  den  ana- 
tomischen Unterricht  gänzlich.  Sein  Ersatzmann,  der  ehemalige 
Theolog  Eysson  d.  Vater  (Henricus,  *  1620,  f  1690)**)  sowie  auch 
Eysson  d.  Sohn  (Rudolph,  *  1655,  f  1705  im  Nov.)*"'*)  werden 
als  sehr  tüchtig  geschildert,  indes  sind  die  anat.  Schriften  des  Vaters 
ohne  Bedeutung,  der  Sohn  schrieb  nur  botanische  Arbeiten.*"'')  Der 
hier  eine  ganz  kurze  Zeit  thätige  Mulder  (Johannes,  *  1769  15.  Mai, 
f  1810  im  Nov.)^*^^)  befasste  sich  viel  mit  Geburtshilfe,  Chirurgie, 
Zoologie,^" ^)  Sebastian  (Augustus  Arnoldus,  *  1805,  f  1861)."*) 
hauptsächlich  mit  Physiologie.  ^^^)  Im  grossen  Ganzen  war  den 
Groninger  Anatomen  bis  zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  die  Ueber- 
bürdung  mit  verschiedenen  Lehrfächern  nachteilig,  wodurch  sie  vom 
eingehenderen  Studium  der  Anatomie  abgelenkt  wurden.  Gegenwärtig 
vertritt  das  Fach  Prof.  van  Wyhe. 

Die  ebenfalls  friesische  Universität  in  Fr  aneker,  welche  von 
1585 — 1811  bestand,  bis  sie  von  Napoleon  I.  in  ein  Athenaeum  um- 
gewandelt wurde,  war  in  der  Anatomie  ganz  von  Leyden  abhängig 
(s.  Leyden).  Der  dort  ausgebildete  Blankaart  (Steven,  *  1650 
24.  Okt.,  f  1702)  ^-'')  ist  weniger  durch  sein  kompilirtes  Handbuch 
der  Anatomie,  als  durch  das  seit  1679—1832  in  beiläufig  20  ver- 
schiedenen Ausgaben  erschienenen  medizinische  Lexikon  bekannt.  ^-'') 

Belgien^^^)  ist  auf  anatomischem  Gebiete  hinter  dem  blühenden 
Holland  zurückgestanden.    In  Brabant  galt  die  Universität  zu  L  ö  w  e  n 


marksnerven  etc.).  Vgl.  darüber  Daniels  in  Gurlt-Hirsch  Lex.  n,  51  bezw.  Boon 
1.  c.  p    13  sq. 

*'*)  Stud.  in  Leyden,  1637  in  Groningen,  dann  in  Harderwijk  Prof.  d.  Mathem. 
n.  Physik,  erhielt  hier  1642  einen  für  ihn  errichteten  med.  Lehrstuhl,  seit  1646 
wieder  in  Gron.,  später  Universitätsrektor. 

*'■')  Vgl.  Gurlt-Hirsch  Biogr.  Lex.  II,  170.  Eines  seiner  Hauptwerke,  durch 
Harveys  Entdeckung  des  Blutkreislaufs  hervorgerufen,  ist  *De  motu  cordis  et 
sanguinis  iteinque  de  lacte  ac  nutrimento  foetus  in  utero  diss.,  Groning.  1655, 
12  0,  719  S. 

*8)  Stud.  1639—49  in  Gron.,  seit  1654  Prof.  e.  o.  anat.,  seit  1665  Prof.  med. 

*»»)  1695  Prof.  bot.,  1696  Prof.  ehem.  et  anat.  u.  1705  auch  Prof.  ord.  med. 

**'')  Schriften  des  Henr.  Eysson:  Tractat.  anat.  et  med.  de  ossib.  in- 
fantis  etc.,  Groning.  1659  (vgl.  Koyter).  —  Collegium  anat.  s.  omnium  h.  c. 
partium  bist. 

^"*)  Stud.  in  Franeker,  Leyden,  England,  1794  Lektor  d.  Anat.,  Chir.,  Geburtsh. 
in  Leeuwarden,  später  Prof.  in  Franeker,  seit  1808  Prof.  d.  Anat.,  Chir..  Geburtsh., 
Physiol.  in  Groningen. 

^°^)  Seine  Antrittsreden  betreffen  in  Leenwarden  die  Beinbrüche,  in  Franeker 
die  Ursachen,  warum  die  Niederländer  im  allgemeinen  sehr  wenig  zur  Verbreitung 
u.  Ausbreitung  der  Heil-  u.  Geburtskunde  beigetragen  haben.  Lobrede  auf  P.  Camper 
s.  oben  Literatur verz.  Seine  Gesch.  der  Geburtszangen  ist  für  Historiker  sehr 
wichtig. 

^^')  Stud.  in  Heidelb.,  war  dann  Lektor  d.  Anat.  u.  Chir.  an  d.  milit.-ärztl. 
Schule  in  Utrecht,  1832—49  Prof.  med.  in  Groningen,  dozierte  hier  Anat.,  Physiol., 
Pathol.,  pathol.  Anat.,  theor.  u.  prakt.  Chir.,  dann  prakt.  Arzt  in  Amsterd. 

^"')  Vgl.  Boeler  a.  a.  0.  u.  Daniels  in  Gurlt-Hirsch  Lex.  V,  334. 

***')  Sohn  des  Prof.  Nicolaas  Bl.  in  Franeker,  stud.  dort,  war  seit  1674  prakt. 
Arzt  in  Amsterdam. 

'^2b)  Anatomia  nova  reformata,  Amst.  1688,  8°;  1690;  1695;  Leid.  1695, 
8»;  deutsch  Leipz.  1691,  4°.  -  Opera,  Lugd.  Bat.  1701,  4  »,  2  vol.  —  *Stephani 
Bianca rdi,  Lexicon  medicum  .  .  .  Ed.  novisima  .  . .  a  Car.  Gottl.  Kühn,  Lips.  1823, 
2  vol.,  1743  pag. 

'^•'')  *ßroeckx  (C),  Essai  sur  l'hist.  de  la  med.  beige  avant  le  19e  siecle. 
Chez  Leroux,  Gand,  Brux.  et  Mons  18.37,  8  °,  322  pag.,  4  Portr. ;  Documents  pour 
servir  ä  l'hist.  de  la  bibliogr.  med.  beige  av.  le  19e  s.  (1.  supplem.). 


Geschichte  der  Anatomie.  257 

(Leuven.  Louvain),  während  ihrer  Blütezeit  (1426 — 1797).^*)  besonders 
aber  im  16.  Jahrhundert  als  eine  der  berühmtesten  Europas.  Nichts- 
destoweniger lag  die  Anatomie  in  der  vorvesalschen  Zeit  hier  ebenso 
darnieder,  wie  im  übrigen  nördlichen  Europa.  Vesal  gedenkt  aller- 
dings einer  um  1518  hier  stattgefundenen  Leichen  Zergliederung,^^) 
aber  in  dem  Pädagogium  der  Artistenfakultät,  das  er  ungefähr  1522 — 
32,33  besuchte,  diente  zur  Erklärung  des  Gehirns  eine  noch  äusserst 
primitive  Abbildung.-^*')  Nach  der  Eückkehr  von  Paris  (1536)  wohnte 
er  in  Löwen  einer  Privatsektion  bei  und  beobachtete  dabei  ein  Cor- 
pus lut.  des  Eierstocks,  stahl  sich  ein  Skelet  vom  Galgen  und  ver- 
richtete Ende  1536  oder  anfangs  1537  eine  öffentliche  Zergliederung, 
nachdem  seit  18  Jahren  hier  keine  stattgefunden  hatte.  Die  daran 
sich  knüpfenden  Auseinandersetzungen  brachten  ihn  aber  in  den  Ver- 
dacht der  Ketzerei,  er  ging  daher  noch  im  letztgenannten  Jahr  nach 
Venedig  und  Padua.  Die  angedeuteten  Verhältnisse  hielten  noch 
recht  lange  an.  Die  anatomischen  Schriften  der  ziemlich  gleichalterigen 
Van  Vieringen  (Jean  AVauters,  *  um  1539)  und  Romain  (Adrien, 
*  1541)  sind  bedeutungslos.  Das  17.  Jahrhundert  schliesst  mit  dem 
berühmten  Prof.  der  Anatomie  Van  den  Zype  (Franz).  Aber  auch 
er  hat  sich  mehr  mit  der  Chemiatrie  und  mit  dem  Blutkreislauf  befasst 
als  mit  der  anatomischen  Forschung.  Der  erste  Anatom  von  hervor- 
ragender Thätigkeit  zu  Löwen  war  Verhej'en  (Philip.  *  1648 
23.  April,  t  1710  18.  Jan.).")  Sein  Biograph  ^^)  nennt  ihn  den  Vesal 
des  Landes  von  Waes.  Indes  hatten  schon,  von  Anderen  ganz  abge- 
sehen, in  Deutschland  Schelhammer  (Günth.  Christoph) ^^)  und 
besonders  Heister  Verheyens  Sünden  (zumeist  Unterlassungsiehler) 
aufgedeckt.  Nichtsdestoweniger  war  sein  Handbuch  der  Anatomie  bis 
zum  Erscheinen  von  Heisters  Kompendium  das  gebräuchlichste  Schul- 
buch in  Deutschland,  und  auch  in  Italien  beliebt.  Durch  sein  Ver- 
hältnis zu  bedeutenden  Zeitgenossen  und  die  Beteiligung  an  der  Lösung 
brennender  Streitfragen  stellte  sich  Verheyen  in  den  Mittelpunkt 
wissenschaftlicher  Kontroversen  in  ähnlicher  Weise  wie  der  um  eine 
Generation  ältere  Thomas  Bartholin  zu  Kopenhagen,  ein  Umstand,  der 
zu  seinem  Rufe  wesentlich  beigetragen  hat.  ***^) 


^*)  1426  gegründet,  1797  aufgehoben,  1817  wieder  hergestellt.  1834  wieder  auf- 
gehoben, 1835  durch  die  von  Mecheln  her  verlegte  streng  katholische  Universität 
ersetzt. 

*^)  Feststellung  des  Datums  bei  Roth,  Andr.  Vesal.  Brux.,  S.  15. 

^*)  Roth,  Andr.  Vesal.  Brux.,  S.  63  Anm.  1.  Vgl.  mit  dieser  Stelle  die  Abb. 
zu  Aristoteles  de  anima  auf  Blatt  40  in  *Aristotelis,  Stagyritae  philosophi  de 
anima  etc.  Aug.  Vindelicor.  1520,  fol.,  80  Bl. 

*")  ursprünglich  Theolog,  nach  Verlust  eines  Beins  Mediziner,  in  Löwen  an- 
fangs Lehrer  der  Natur-  u.  Heilkunde,  1689  königl.  ord.  Lehrer  der  Anat.,  1692 
königl.  ord.  Lehrer  der  Medizin. 

'•■')  *Van  Raemdoncke  (J.),  Levensbeschrijving  van  Philip  Verheyen,  St. 
Nikolaas,  o.  J.,  gr.  8 ",  90  S.  m.  Portr.  (Buitgengewoone  uitgaven  van  den  oudheids- 
kundigen  kring  van  het  Land  van  Waes,  N.  1). 

**)  In  der  Vorrede  zu  den  Analecta  anat.-physiol.,  Kiel  1704,  4°. 

««j  Corporis  hum.  anat..  Ed.  1,  Löwen  1693.  1697,  4«;  Lips.  »lege,  8", 
576  pag.,  Portr.,  31  tab. :  1704,  1705,  1711,  1714,  1716,  8°;  vlämisch  u.  d.  T.  Anatomie 
oft  ontleedkundige  beschrijvinge  van  het  menschen  lichaem  door  den  Heer  Philippus 
Verheyen  uit  het  latijn  vertaelt  door  And.  Dom.  Sasseuus,  Brüssel  1711,  gr.  8**, 
798  Blatts,  Ed.  2.  u.  d.  T.  Corporis  hum.  auatomiae  lib.  primus,  Supple- 
nientum  anat.  s.  anatomiae  corp.  hum.  lib.  secundus,  *Brnxell.  1710.  4**, 
2  part.,  400  +  428  pag.,  im  1.  Th.  Portr.  u.  40  Taf.,  im  2.  Th.  6  Taf.  Lib.  U 
tracl.  5  des  Supplements  behandelt  die  Embrjogenie.,  1726,  4";  Köln  1712;  Genev. 
Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  17 


258  Kübert  Ritter  von  Töply. 

Im  benachbarten  Flandern  folgt  zu  Gent  der  von  Verheyen 
angegebenen  Richtung  dessen  Freund  und  Zeitgenosse  Palfijn  (Jo- 
hannes, *  1650  28.  Nov.,  t  1730  21.  Apr.),«!«^)  in  weiteren  Kreisen 
durch  die  Erfindung  der  Geburtszange  bekannt,  nebst  Colombo,  In- 
grassia,  Cabrol,  Severin,  Riolan  einer  der  ersten,  welcher  die  Anatomie 
in  ihrer  Beziehung  zur  Chirurgie  kennen  gelehrt  hat,  wenn  auch  seine 
Anatomie  ebensowenig  fehlerfrei  ist,  wie  die  des  Verheyen."^  ^) 

Zu  den  belgischen  Anatomen  zählt  auch  Despars  (Jacques, 
Jacobus  Departibus,  *  in  Tournay,  hier  f  1465),  dann  der  helmstädter 
Professor  Boeckel  (Jean,  *  1535  1.  Nov.,  f  1605  21.  März).  Der 
erste  ist  noch  ein  eifriger  Ausleger  des  Avicenna,  der  letztere  ein 
Anhänger  des  Colombo. 


Dänemark. 

*Bartholinu8  (Thomas),  Cista  medica  Hafniensis  .  .  .  Acced.  ejusd.  Domus 
anat.  brevissime  descr.,  Hafn.  1663,  12  °,  645  -\-  62  pag ,  Doppelter  Yortit.  in 
Kpfst.  m.  Abb.  des  Anatoniieyebäiidcs.  Enthält  wertvolle  Beiträge  zur  älteren  Gesch. 
der  Med.  in  Kopenhagen.  Wichtiges  Quellenwerk.  Schriften  des  Sim.  Pauli i 
p.  5,  Biogr.  des  Andr.  Christensen  p.  146,  Biogr  u.  Schriften  des  Casp. 
Bartholin  sen.  p.  294,  Biogr.  u.  Schriften  des  Ole  Worm  p.  579.  Beschr.  des 
Anatomiegebäudes  in  der  Domus  anat.  —  Sh'jeldrtip  (Mich.),  Anniversaria  in 
mem.  reip.  sacrae  et  literar.  Hafniensis,  Hafn.  1811,  4 ".  —  Ingerslev  (Joh. 
Vilh.  Christian),  Danmarks  Laeger  og  Laegevaeren  fra  de  aeldste  Tider  indtil  Aar 
1880;  En  Fremstilling  efter  trykte  Kilder.  Deel  1,  2.  Kjoebenhavn  1873,  8^.  — 
Pamnn  (P.  L.),  Universitätsfestschrift  1879.  —  Manni,  Vita  del  lett.  mons. 
Nicolo  Stenone  di  Danimarca,  Firenze  1775.  —  Wichfeld,  Eindringer  om 
N.  Stensen.  Hist.  Tidskrift  8  R,  IV.  —  Gösch,  Danmarks  zool.  Literatur, 
1873,  II,  pag.  149—256.  —  Plenkers,  D.Däne  N.  Stensen,  Freib.  i.  Br.  1884; 
tTörgensen,  N.  Stensen,  Kopenh.  1884. 


1712;  Neapel  1717,  1734;  Leipzig  1718,  1731,  8«;  Amsterd.  1731,  8".  —  Animad- 
versiones  in  anat.  Blancardianam  et  obiter  in  quand.  alias.  Als  Anh. 
zu  C.  h.  anat.,  *Lips.  1699,  8°,  p.  577—611.  —  Epistola  anat.  ad  v.  cl.  ac 
celeb.  d.  Frid.  Ruyschium  (dat.  Lovan.  20.  Maji  1697.  Im  Anli.  zu  C.  h. 
anat.  Lovan.  1697,  *Lips.  1699,  8",  p.  612—22;  Lips.  1705).  Enthält  eine  Kritik 
der  Antworten  Ruyschs  auf  die  Zuschriften  seiner  Schüler.  Ein  von  Raemdoncke  er- 
wähnter früherer  angeblich  auch  veröffentlichter  Brief  an  Ruysch  ist  mir  nicht 
bekannt.  —  Lettre  ecrite  ä  un  chirurg.  deGand,  Paris  1698,  12°;  Seconde 
lettre  ä  un  anatomiste  de  Gand,  Par.  1698,  12  **  (beide  Briefe  an  Palfijn 
in  Gent).  —  Controversia  inter  authorem  supplementi  anat.  et  d. 
Mery...  de  usu  foraminis  ovalis  et  de  circulatione  sanguinis  in  foetu  etc.  Im 
Anh.'  zum  Supplem.  anat.,  *Brux.  1710,  4°,  pag.  397—428  (die  Angabe  von  Raem- 
doncke, die  Controv.  sei  mit  dem  Suppl.  anat.  in  Löwen  1710,  4"  erschienen,  dürfte 
auf  einem  Irrtum  beruhen.  Die  Antwort  von  Mery  in  *Oeuvres  completes  de  Jean 
Mery  par  Petit  (L.  H.),  Par.  1888,  557  p.,  Portr.,  3  pl. ;  eine  Uebersetzung  der 
Kontroverse  habe  ich  seit  Jahren  fertiggestellt,  aber  noch  nicht  veröffentlicht).  — 
Ad.  Wilh.  Henrici  Muller  diss.  de  thymo  resp.,  Lovan.  1706,  4**  (zur  dies- 
bezügl.  Kontroverse  mit  Muller  u.  Bidloo  vgl.  Raemdoncke  1.  c.  p.  44  sq.  u.  Haller, 
Bibl.  anat.,  über  Verheyen  überhaupt  Portal  IV,  156  sq.  u.  Heisters  Compendium  anat., 
Vorrede). 

"'")  Schüler  von  Duvemey,  Winslow,  Albinus,  Mery  u.  A.,  in  Gent  1698 
Meester  Chirurgyn-Barbier,  1708  bis  ungef.  1726  Prof.  d.  Chir.  u.  Anat. 

*'*')  Waare  en  seer  nauwkeurige  beschryving  van  de  beenderen 
etc.,  Gent  1702,  8»,  Leyd.  1727;  Amst.1758;  deutsch  Breslau  1730,  8«;  franz.  u. 
d.  T.  Nouvelle  Osteologie  etc.,  Par.  1731,  8".  —  Descr.  anat.  des  parties 
de  la  femme,  qui  serventälageneration,  Leyd.  1708;  Ontleedk.  beschr. 
van  de  vrouwelyke  deelen  die  ter  voortteeling  dienen,  Gent.  u.  Leyden 
1724.  —  Anat.  du  c.  h.,  av.  des  remarques  utiles  aux  chirurgiens  etc., 
Par.  1726;  verm.  u.  d.  T.  Anat.  chirurgicale,  Paris,  von  Boudon  1734,  2  vol.;  von 
M.  A.  Petit,  1753,  8°,  2  vol.  —  Vgl.  Portal  a.  a.  0.  IV,  289  u.  f. 


Geschichte  der  Anatomie.  259 

Das  ohne  Nebenländer  nicht  einmal  40000  qkm  Flächeninhalt 
umfassende  Dänemark  spielt  nichtsdestoweniger  auf  geistigem  Gebiete, 
sowol  in  der  Kunst  als  in  der  Wissenschaft,  eine  hervorragende  Eolle. 
Für  die  Anatomie  ist  auch  hier,  wie  anderswo,  als  Sammelpunkt  des 
Geisteslebens  die  Landeshauptstadt  massgebend.  Die  Universität  zu 
Kopenhagen  war  im  J.  1478  von  Christian  I.  als  Akademie  gegründet 
worden,  die  med.  Fakultät  hatte  zum  Zeichen  ihrer  endgiltigen  Ge- 
staltung i.  J.  1537  von  Christian  II.  ein  Siegel  erhalten,  dennoch  dauerte 
es  noch  recht  geraume  Zeit,  bis  der  anatomische  Unterricht  in 
Schwung  kam.  Die  ersten  diesbezüglichen  Versuche  von  Chris- 
ten s  e  n  (Anders,  Andreas  Christiernus,  *  1551,  f  1606),\)  auf  private 
Leichenöffnungen  beschränkt,  riefen  allseits  Entsetzen  und  Abscheu 
hervor.  Der  theologisch  angehauchte  Bartholin  (Kaspar  senior. 
Barthol.  Malmogiensis,  *  1585  12.  Febr.,  f  1629  13.  Juli)  2)  begründete 
hier  eine  Professorendynastie,  die  mit  der  verschwägerten  Linie  der 
Familie  Worm  die  Universität  bis  in  das  18.  Jahrhundert  beherrschte.  =*) 
Sein  Schwager  Worm  (Ole  sen.,  *  1588,  13.  März,  f  1654  17.  Sept.),^^j 
ein  hervorragender  Polyhistor  und  Naturaliensammler,  ist  keineswegs 
Entdecker  der  schon  vorher  bekannten,  aber  erst  nach  ihm  benannten 
„Ossa  Wormiana".^**).  Die  Errichtung  eines  Anatomiegebäudes  er- 
reichte im  J.  1645  der  erste  Professor  der  Anatomie  und  Botanik 
Paulli  d.  Ae.  (Simon,  *  1603,  f  1680)."«)    Er  schuf  jedoch  Originelles 


^)  Stud.  in  Kopenhagen,  Wittenberg,  Jena  (soll  dort  Unterricht  in  der  Änat. 
erteüt  haben),  Padna.  Basel,  wnrde  hier  1583  promoviert,  darauf  Prof.  in  Kopenh. 

*)  Stnd.  9  Jahre  im  Auslande  an  fast  sämtlichen  bedeutenderen  Hochschulen, 
1610  von  Bauhin  zum  D.  med.  promoviert,  wurde  in  Kopenh.  Prof.  eloquentiae, 
1613  Prof.  d.  Med.,  1624  Prof.  theol. 

')  Casp.  Bartholin  sen.  war  in  jeder  Beziehung  fruchtbar.  Er  hat  54  Schriften 
veröffentlicht  u.  7  Kinder  gezeugt.  Die  Verwandtschaft  der  Linien  von  Bartholin 
u.  "Worm  giebt  die  folgende  Tabelle: 

Thomas  Fincke 
1561—1656 

Anna  Dorothea 

Gatte:  Caspar  Bartholin  sen.  Gatte:  Ole  Worm  sen. 

1585—1629  1588—1654 


aus  2.  Ehe: 


Thomas  Bartholin       Erasmus  Bartholin  Wilhelm  Worm 

1616—1680  1625—1698  1633—1704 

Caspar  Bartholin  jun.  Ole  Worm  jun. 

1655—1738  1667—1708. 

Anat.  Schriften  des  Casp.  Barth,  sen.:  Institutiones  anat.,  Witteb.,  8°;  Rostock, 
12";  Argent,  12«;  Goslar,  8«;  Oxon.,  12«;  spätere  vermehrte  Ausg.  von  Th.  Barth. 
—  Controversiae  anat.,  Goslar,  8**. 

*•)  Stud.  in  Deutschland,  Italien,  Frankr.,  in  Basel  von  Bauhin  promoviert,  in 
Kopenh.  1613  Prof.  in  der  philos.,  1624  in  [der  med.  Fakultät  als  Nachf.  von  Casp. 
Bartholin  sen. 

*'')  Auch  er  war  überaus  fruchtbar.  Er  zeugte  mit  seiner  ersten  Gattin 
Dorothea  (Fincke)  6  Töchter,  mit  der  zweiten  Susanna  (Matth.  Jani)  3  Söhne  und 
noch  als  Greis  mit  der  dritten  Magdalena  (Motzfeld)  4  Söhne  u.  3  Töchter.  Unter 
seinen  14  Schriften  sind  hervorhebenswert:  Historia  rarior.  MuseiWormiani, 
Lutrd.  Bat.  1655,  fol.  —  Catalogus  Musei  Wormiani,  Hafn.,  16^  1642,  1645: 
4V 1653  ed.  G.  Seger. 

■*•)  Stud.  in  Rostock,  in  Paris  unter  Riolan  d.  J.,  war  seit  1635  Prof.  in  Rostock, 
1639-49  Prof.  d.  Med.,  Anat.,  Botan.  in  Kopenh.,  1650  an  den  kön.  Hof  berufen. 

17* 


260  Robert  Ritter  von  Töply. 

nur  in  der  Botanik  und  trug  die  Osteologie  noch  1641  nicht  nach 
Vesal  vor,  sondern  im  Anschlüsse  an  Galenos  De  ossibus."*^)  Zur  Be- 
rühmtheit brachte  es  erst  Bartholin  d.  Sohn  (Thomas,  *  1616 
20.  Okt.,  t  1680).«'^)  Er  wies  den  Ductus  thorac.  beim  Menschen 
nach,  kurz  nachdem  ihn  vorher  Pecquet  beim  Hunde  entdeckt  hatte, 
er  entdeckte  beinahe  gleichzeitig  wie  der  Schwede  Rudbeck  (Ole) 
die  Lymphgefässe,  er  ist  beteiligt  an  der  Feststellung  der  richtigen 
Auffassung  des  Ductus  Wirsungianus,  der  anfangs  für  ein  Chylus- 
gefäss  gegolten  hatte,  am  Sturz  der  von  Riolan  d.  J.  in  Paris  ver- 
teidigten galenischen  Auffassung  der  Leber  als  blutbildendes  Organ. 
Sein  vielverbreitetes  und  wiederholt  aufgelegtes  Handbuch  ist  eine 
vervollständigte  Ausgabe  der  anatomischen  Institutionen  seines  Vaters. 
Er  beschloss  seine  anatomische  Thätigkeit  mit  einer  eingehenden  Be- 
schreibung des  anatomischen  Theaters.  Die  Einschreibgebühr  für  den 
Besuch  desselben  hatte  Paulli  mit  6  Mark  dän.  festgesetzt.  Die  schon 
von  Paulli  ausgegebene  Eintrittsmarke  (tessera  anatomica)  war  von 
Bartholin  im  J.  1651  geändert  worden.  Bartholin  galt  vielfach  als 
der  grösste  Anatom  seiner  Zeit.  Er  verdankt  dies  jedoch  mehr  dem 
Gewichte  seiner  Persönlichkeit,  dem  Umfange  seiner  literarischen 
Thätigkeit,  der  Beteiligung  an  dem  in  England  durch  Harvey 
(1578 — 1678)  entfachten  Streite  um  die  Lehre  vom  Kreislauf  im  Körper 
und  der  Bekämpfung  des  „Fürsten  der  Anatomen"  in  Paris,  Riolan 
d.  J.  (1580 — 1657),  als  seinen  Errungenschaften  auf  praktisch-ana- 
tomischem Gebiete.*^)    Indes  war  diese  ganze  Thätigkeit  doch  sehr 


^^)  Unter  seinen  12  Werken  ist  das  hervorragendste  die  erste  Veröffentlichung; 
einer  Flora  Danica  1648.  Anat.  Inhalts:  Oratio  introductoria  (cum 
Galenum  de  ossibus.  ad  sceleton,  publice  in  Collegio  Finckiano  esset  interpretaturus), 
Hafn.  1641,  4**.  —  De  anat.  origine,  praestantia  et  utilitate  Syntagma, 
Hafn.  1643,  4**.  —  Ausg.  der  anat.  Tafeln  des  Casserio  m.  deutschem  Text, 
Frankf.,  4  °.  Vgl.  darüber  Choulant,  Gesch.  d.  anat.  Abb.,  S.  80.  —  lieber  seinen 
Sohn  s.  im  Folgenden. 

*")  Stud.  9  Jahre  im  Ausland,  Schüler  von  de  Wale  in  Leyden,  Vesling  in 
Padua,  164.5  in  Basel  von  Bauhin  promov.,  in  Kopenh.  1646 — 48  Prof.  philolog., 
1648 — 61  dritter  Prof.  der  med.  Fakult.  als  Nachf.  von  Simon  Paulli  u.  damit  Vor- 
stand des  anat.  Instituts. 

'"')  Hauptwerk  *Anatomia  Parentis  C.  Bartholini  novis  observa- 
tionib.  et  figuris  locupletata,  L.  B.  1641  8";  secundum  locupl.,  L.  B.  1645, 
auch  franz.  u.  ital. ;  tertium  ad  sanguin.  circulationem  reform.  c.  novis  iconib., 
L.  B.  *1651  u.  öfter,  auch  belg.  u.  engl.;  Anatome  ad.  circulat.  harvejan.  et  vasa 
lymphat.  quartum  renov.  c.  iconib.  nov.  et  indicib.  *L.  B.  1673,  8"  (Kpftit.  1674 
m.  Portr.);  *Lugduni  1684,  8«  (Kupftit.  1677);  quintum  renov.  *L.  B.  1686,  8" 
(Kupftit.  1686)  m.  Port.  —  *Casp.  Bartholini  ..  .Institutiones  anat.  ...  ab 
auctoris  filio  Thoma  Bartholino,  L.  B.  1645,  8  '*,  488  p.,  Kupfertit.  mit  den  Portr. 
von  Hippokrates,  Vesal,  C.  Bau  hin,  Paauw,  Galen,  Riolan,  Spighel, 
0.  Heurne,  C.  Barthol.,  dann  A.  Falcoburg  im  Seziersaal:  *franz.  von  Abr. 
du  Prat,  Paris  1647,  4",  656  pag.  —  Collegium  anat.  disputationib.  18 
adorn. ,  Hafn.  1651,  4".  —  Bequemste  Ausgabe  der  Schriften  über  das  Lyraph- 
gefässsystem  *Opuscula  nova  anat.  de  lacteis  thorac.  et  lymphat.  vasis., 
Hafn.  1670,  12*>,  726  pag.  (1.  De  lacteis  thor.  in  homine  brntisque  obss.,  historia 
anat.;  2.  Vasa  lymphat.  nuper  in  animantib.  inventa,  et  hepatis  exsequiae  (An 
Eiolan);  3.  Dubia  anat.  de  lacteis  thor.,  et  an  hepatis  funus  immutet  medendi 
methodum  (an  Guy  Patin);  4.  Vasa  lymphat.  in  homine  nuper  inventa  et  hepatis 
exsequiae;  5.  Defensio  lacteor.  thor.  contra  Riolan.;  6.  Examen  judicii  novi,  quod 
de  venis  lact.  tulit.  Job.  Riolanus;  7.  Defensio  vasor.  Ij-mphat.  contra  Riolan.; 
8.  Defensio  dubior.  anat.  de  lacteis  thor.  a  Job.  Riolano  necdum  solutor. ;  9.  De 
lacteis  venis  sententia  Guilh.  Harvei  expensa;  Spicilegium  I  ex  vasis  lymphat., 
ubi  Glissonii  et  Pecqueti  sententiae  expendentur;  10.  Spicil.  II  ex  vas. 
lymphat.,  ubiBachii.Cattierii,leNoble,Tardii,Whartoni,Charletoni, 
Bilsii  etc.  sent.  examinantur;  11.  Responsio  de  experimentis  anat.  Bilsianis,  et 


Geschichte  der  Anatomie.  261 

anreg-end.  denn  er  hat  fünf  tüchtige  Assistenten  herangebildet.  Lyser 
(Michael,  *  1626,  f  1659)'-'')  hat  einen  wesentlichen  Anteil  an  der 
Entdeckung-  der  Lvinphgefässe ,  sein  „Culter  anatomicus"  ist  das 
erste  umfassendere  Werk  über  anatomische  Technik,'*')  Moenichen 
(Henrik  a,  *  1631,  f  1709)  verbreitete  während  einer  Eeise  im  Aus- 
lande 1655—61  die  Kenntnis  des  Lymphgefässsystems .  Boy  den 
(Martin,  *  1631,  f  ?  zu  Bern)  verteidigte  in  zwei  Schriften  die  Autor- 
schaft seines  Meisters  an  der  Entdeckung  der  Lvmphgefässe  (1653), 
Seger  (Georg.  *  1629,  f  1698  19.  Dez.;  in  Dänemark  1654-59)  be- 
thätigte  sich  als  Yerfechter  Bartholins,  Angreifer  Eiolans  und  An- 
hänger Harveys.^)  Paulli  d.  J.  (Jakob  Henr.,  Sohn  des  Simon) 
wurde  später  Prof.  d.  Med.,  schliesslich  Historiograph  der  Krone  und 
Diplomat.^)  Thom.  Bartholins  Schüler  Blaes  d.  Vater  (Gerhard 
Leon.,  *  ?,  t  nach  1682)  ^*''')  hat  mehr  als  Herausgeber  zahlreicher 
Schriften  Anderer,   als   durch   seine   eigenen   Werke   Bedeutung.^" •*) 


difficili  hepatis  resurectione  ad  Nie.  Zäsium:  12.  Diss.  anat..  de  hepate  defiincto 
novis  Bilsianor.  experimentis  opposita  ad  Anton.  Densin gium:  13.  de  hepatis 
exantorati  desperata  cansa  cum  praecipuis  orbis  viris  concertatio  (So.  2.  enthält  die 
wenig  geschmackvolle  Grahschrift  m\{  die  Leber :  ,,Siste  viator.  Clauditur  hoc  tumulo, 
qui  tumulavit  phirimos,  princeps  corporis  tui  cocns  et  arbiter,  hepar."  etc.  Xo.  1,  2.  3 
nebst  den  einschlägigen  Schriften  von  Pecqnet  n.  Eudbeck  in  *Hemsterhuis 
(Sibold) ,  Messis  anrea,  L.  B.  1654,  12  °,  347  pag.  Feststellung  des  Anteils  von 
Bartholin  u.  Eudbeck  an  der  Entdeckung  der  Lvmphgefässe  in  des  Letzteren  Briefen 
an  Hemsterhuis  1653,  23  Dec.  st.,  vet.)  —  *Cista  medica  Hafniensis,  Hafn. 
1662,  12",  645  pag.  Anhang:  Domus  anat.  hafn,  s.  oben  Dänemark,  Literaturverz. 
Die  Cista  enthält  zahlreiche  histor.  Beiträge  zur  Gesch.  der  med.  Fakultät,  Bio- 
graphisches über  Ole  Worni  sen.  u.  Casp.  Bartholin  sen.  u.  s.  w.  —  Zum  Streit  über 
die  Leber:  *Diss.  anat.  de  hepate  defuncto  novis  Bilsianor.  observationib. 
Hafn.,  1661,  12**,  84  p.;  *Responsio  de  experimentis  anat.  Bilsianis  et 
difficili  hepatis  resurrectione,  Hafn.,  1661,  12".  40  pag.;  De  hepatis 
exautorati  desperata  causa,  Hafn.  1668.  8°.  —  Zum  Streit  mit  Hofmann: 
Anat.  vindiciae  Casp.  Hofmanno  aliisque  oppositae,  Hafn.  1648,  4"; 
Animad versiones  in  anatomica  Hofmanni.  Ibid.  —  Schriftenverzeichnisse: 
*Catalogus  operum  Thomae  Bartholini  hactenus  editor.,  Anno  1661, 
Hafn.  12",  8  Bl. ;  *De  anatome  practica  ...  consilium  c.  operum  ... 
catalogo,  Hafn.,  1674,  4",  48  pag.  (75  Originalwerke  in  verschiedenen  Ausgaben, 
19  Werke  anderer  Verf.,  von  Barth,  herausg.  bezw.  eingeleitet). 

•")  Beschäftigte  sich  mit  der  Anat.  in  Kopenhagen  1649—52,  ging  dann  nach 
Deutschland  u.  Italien,  war  1656  Prof.  d.  Medizin  in  Leipzig,  später  Provinzialarzt 
in  Dänemark. 

'")  Culter  anatomicus,  Kopenh.  1653,  1665;  Frankf.  1679:  Utr.  1706; 
*Ed.  5.  Lngd.  Bat.  1726,  8",  246  p.  c.  fig.  aen.;  1731;  deutsch  in  *Timmii  (Joh.) 
Collectanea  ad  praxin  anat.  spect.,  Bremen  1735,  8",  254  u.  70  S.  m.  4Kpft.;  engl., 
Lond.  1740. 

*)  Triumphus,  nobilissimi  corporis  nostri  visceri  ac  benignissi- 
mo  oeconomo,  cordi,  post  felicissime  tandem  captam  dnce  Th. 
Bartholino  ex  totali  hepatis  clade  victorians.,  Kopenh.  (nach  Barth, 
domus  anat.  p.  14  i.  J.  1653,  nach  Pagel  in  Gurlt-Hirsch  Lex.  V  343  i.  J.  1654  ersch.) ; 
Basel  1661,  mitAnhang:  Querimonia  nobilissimi  visceris  cordis  quaeri- 
moniae  hepatis  autore  J.  Riolano  ad  medicos  Parisienses  habitae 
opposita.  —  Einige  Dissert.  über  die  Bartholinsche  Lymph.,  Kopenh.  1656. 

•)  Jak.  Heinr.  Paulli  von  ßosenschild  (ursprünglich  Prof.  d.  Med.,  seit 
1663  Prof.  d.  Gesch.,  dann  in  der  angedeuteten  Laufbahn)  spielt  im  Streit  um  die 
angebliche  Entdeckung  eines  ductus  roriferus  durch  De  ßils  eine  Rolle.  Ana- 
tomiae  Bilsianae  anatome.  Access.  .  .  .  Jo.  Jac.  Wepfferi  de  dubiis  auatomicis 
Epist.,  c.  respons.  Argent.  ap.  Simeonem  Paulli  1665,  8",  128  S.  m.  Kpft. 

'"")  Stud.  in  Kopenhagen  u.  Leyden,  hier  1646  promov.,  wurde  1660  Prof.  d. 
Med.  u.  Dir.  des  Hospitals  zu  Arast. 

101.)  *Joann.  Veslingii  .  .  .  Syntagma  anat.  commentario  atque 
appendice  etc.  a  Gerardo  Leon.  Blasio  cui  add.  .  .  .  Epist.  G.  H.  Vel- 
schii,  Pataw.  1677,  4",  48  S.  m,  Kupf.,  Kpft.  m.  Darst.  einer  anat.  Vorlesung.  — 


262  Eobert  Ritter  von  Töply. 

Weitaus  hervorragender  ist  der  geniale  Anatom  und  Geolog  Stensen 
(Niels,  Nicolaus  Stenonis,  *  1638  10.  Jan.,  f  1686  26.  Nov.).^^»)  Seine 
Entdeckung  des  Ausführungsgangs  der  Ohrspeicheldrüse  (Duct.  Steno- 
nianus)  entfachte  einen  heftigen  Prioritätsstreit  mit  Blaes  d.  Vater. 
Seine  Darlegung  des  Mechanismus  und  der  Funktion  des  Thränen- 
apparats  ist  musterhaft,  die  des  Herzens  als  eines  reinen  Muskel- 
organs war  epochemachend,  der  „Discours  sur  l'anat.  du  cerveau" 
wurde  später  von  Winslow  in  dessen  Exposition  anat.  aufgenommen, 
das  „Elementor.  myologiae  specimen"  hat  der  Hallerschen  Irritabili- 
tätslehre die  erste  solide  Grundlage  gegeben.  Seine  Untersuchungen 
der  Haie,  durch  die  richtige  Deutung  der  „Testes  mulierum"  in 
anat.  Beziehung  bemerkenswert,  sind  durch  die  aus  der  weiteren 
Verfolgung  des  Gegenstands  sich  ergebende  Begründung  der  neuen 
naturwissenschaftlichen  Geologie  bahnbrechend  gewesen.^^*')  Nach 
dem  jüngsten  Bartholin  (Caspar  junior,  *  1655,  f  1738)^-*)  sind 
der  Ausführungsgang  der  Sublingualdrüse  und  die  den  Cowperschen 
Drüsen  entsprechenden  Glandulae  Bartholinianae  benannt.  Im  übrigen 
bearbeitete  er  die  von  seinem  Lehrer  Stensen  ermittelten  That- 
sachen.  ^■-'')  Der  Glanz  der  Kopenhagener  Schule  erblich,  nach- 
dem eine  Feuersbrunst  i.  J.  1728  sämtliche  Gebäude  und  Sammlungen 
der  Universität  zerstört  hatte,  und  es  fand  sich  das  ganze  18.  Jahr- 
hundert hindurch  nicht  eine  Kraft,  die  ihn  wieder  herzustellen  im 
Stande  gewesen  wäre. 


♦Anatome  contracta,  Amst.  1666,  12",  281  pag.,  Kpftit.  —  Anat.  med.  spin. 
et  nervor.  inde  provenient.,  Amst.  1666.  —  Obss.  anat  selectior.  ed.  a  coli, 
medicor.  privater.  Am.,  Amst.  1667.  —  Ueberdies  zoolog.  Schriften.  —  Herausg. : 
Pulverinus,  Ph.  Müller,  J.  Beguin,  J.  Primrose,  P.  Morellus,  J.  J. 
V.  Brunn,  Th.  Bartholin,  F.  Licetus,  L.  Bellini,  J.  A.  Borelli,  Th. 
Willis. 

"*)  Schüler  von  Thom.  u.  Rasmus  Bartholin  sowie  Sim.  Paulli  in  Kopenhagen, 
Gerb.  Blaes  in  Amst.,  dann  in  Leyden  von  Van  Hörne  gefördert.  1664  in  Kopenh.. 
dann  mit  Swammerdam  in  Paris,  übertrat  1667  in  Florenz  zum  Katholizismus, 
wurde  1672  Anatomicus  regius  in  Kopenh.,  ging  im  Sommer  1974  wieder  nach 
Italien,  wurde  1675  Priester  u.  Missionar  in  Deutschland. 

"■*)  Obss.  anat,  quibus  vari  a  oris,  oculor.  et  narium  vasa 
describuntur,  novique  salivae,  lacrymar.  et  muci  fontes  dete- 
guntur.  Et  novum.  ..Bilsiidelymphae  motu  et  usu  comment.  exami- 
natur  et  rejicitur,  L.  B.  1662,  12",  *  1680,  12",  108  pag.,  c.  tab.  —  De 
musculis  et  glandulis  obbserv.  specim.,  c.  epist.  (de  anat.  rajae 
et  vitelli  in  intestina  pulli  transitu),  *Hafn.  1664,  4",  Amst.  1664,  12".  — 
Elementor.  myologiae  specim.  c.  musculor.  descr.  geometr.  etc., 
Florent.  1667,  4  ";  Amst.  1699,  8".  —  Discours  sur  l'anat.  du  cerveau,  Paris 
1669,  12";  lat.  Leyden  1761.  12";  aufgenommen  in  die  Anat.  des  J.  B.  Winslow 
(Stensens  petit-neveu).  —  Rekapitulation  der  Speicheldrüsen:  Glandula  parotis  m. 
ductus  Stenonianus,  gl.  submaxillar.  m.  duct.  Whartonianus,  gl.  sub- 
ungualis m.  duct.  Rivini  (8 — 12),  Ausführungsgang  duct.  Bartholini.  Ueberdies 
gl.   Nuhnii  s.  Blandini  an  der  Zungenspitze  in  der  Muskulatur. 

^**)  Seine  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete  der  Anat.,  Phvsiol.,  Physik  umfasst  die 
Jahre  1675—1701. 

^^^)  *De  olfact.  organo,  Hafn.  1679,  4",  18  pag.  —  *Specimen  historiae 
anat.  partium  c.  h.,  Hafn.  1701,  4",  187  pag,  c.  4  tab.  (bemerkenswertere  Beob- 
achtungen: 1.  de  modo,  quo  Peritoneum  viscera  abdom.  involvit;  2.  de  ductu 
salivali  infer. ;  3.  de  lacteis  secuudi  generis  quae  et  lymphatica  sunt ;  4.  demonstratio 
sanguinei  circuli  per  divisionem  ventriculor.  in  septo;  5.  de  secretione  humor.  in 
glandulis;  6.  de  nervis  oculor.  ad  m.  uveae;  7.  de  olfactus  organo;  8.  de 
diaphragmatis  stnictura:  9.  musculor.  vertebral.  fabrica  et  demonstrandi  methodus; 
10.  de  fabrica  et  compositione  ossium  ex  tendinibus  musculor. 


GescMchte  der  Anatomie.  263 


England. 

Der  echt  wissenschaftliche  Geist  der  exakten  Forschung,  durch 
die  sich  Harvey  kennzeichnet,  hat  gleichzeitig  auch  in  die  descriptive 
Anatomie  seinen  Einzug  gehalten.  Schon  die  2.  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts bringt  hier  eine  Reihe  von  Einzeluntersuchungen,  die  sich 
denen   der   Italiener   getrost   zur  Seite  stellen.     Glisson   (Francis, 

*  1597,  t  1677:  Cambridge.  London)  beschreibt  die  Leber  (Capsula 
Glissonii),   den  Magen  und  Darm,^)  sein  Freund  Wharton  (Thomas, 

*  1610,  7  1673  14.  Nov.;  London)  die  Drüsen  und  entdeckt  den  Aus- 
fiihrungsgang  der  Unterkiefer-Speicheldrüse,  -)  der  oxforder  Freund 
Harveys,  Highmore  (Nathanael,  *  1613,  f  1684;  Shaftesbury),  ent- 
deckt die  Oberkieferhöhlen  und  liefert  eine  kritische  Entwicklungs- 
geschichte,-^) Lower  (Richard,  *  1631,  j  1691:  London)  untersucht 
eingehend  das  Herz  (Tuberc.  Lowerij,  insbesonders  dessen  Faserung,*) 
Willis  (Thomas,  *  1622  6.  Febr.,  f  1675  21.  Nov.;  London)  er- 
ötfnet  mit  einer  eingehenden  Abhandlung  über  das  Cerebrospinal- 
system,  die  er  mit  zahlreichen  Abbildungen  belegt,  die  neuere  Rich- 
tung auf  diesem  Gebiete.^)  Shepherd  stellt  in  seiner  Sketch  (s.  unten) 
die  Entdeckungen  des  Willis  auf  dem  Gebiete  des  Nervensystems  auf 
dieselbe  Stufe  mit  denen  von  Wren,  Millington,  Lower.  Das 
wäre  für  die  letzteren  eine  doch  zu  starke  Beförderung.  Needham 
(Walter,  *  ?,  f  1691  16.  Apr.;  London)  beschreibt  die  Xabelgefässe 
und  die  Placenta.  Er  leugnet  die  Durchgängigkeit  des  Urachus  und 
glaubt  nicht  an  die  Allantois,  diesen  Zankapfel  der  alten  Anatomie. 
Ueberdies  polemisirt  er  gegen  die  Priorität  der  Stenonschen  Ent- 
deckungen.*^) 

Die  jüngere  Richtung  teilt  sich  zwischen  London  und  Edinbui'g, 
indes  ist  auch  der  Edinburger  Zweig  auf  London  zurückzuführen. 
Er  wurzelt  in  Cowper  (William,  *  1666,  f  1709  8.  März;  London), 
bekannt  durch  die  Entdeckung  der  Harnröhrendrüsen,  hervorragend 
durch  seine  Muskelanatomie,  der  sich  bis  auf  Albinus  nichts  Aehnliches 
zur  Seite  stellen  lässt.')  Dies  geht  am  besten  aus  einem  Vergleiche 
mit  der  kurz  vorher  erschienenen  Myologie  von  Browne  (^John, 
ordinierender  Chirurg  des  Königs  Karl  IL),  dessen  Figuren  teUs  dem 
Ch.  Estienne,  teils  dem  Casserio  entnommen  wurden  und  nur  dadurch 
von  der  üblichen  Darstellung  abweichen,  dass  die  Namen  der  einzelnen 
Muskeln  aufgedruckt  sind.^)    Cowpers  Schüler  Cheselden  (William, 

*  1688,  f  1752  10.  April,  London)  scliliesst  sich  seinem  Lehrer  durch 

*)  Anatomia  hepatis,  Lond.  1654  u.  ö.  —  De  ventriculo  et  intesti- 
nis,  cui  praemittitnr  de  partib.  continentib.  in  genere  et  in  specie  de  iis  abdonünis 
tract,  1677,  Lond.  4  »,  Amst.  12  °. 

^)  Adenographia  s.  glandulär,  totius  corporis  descr.,  Lond  1656,  8  °  u.  ö. 

*)  *Corp.  hum.  disquisitio  anat..  Hag.  Com.  1651,  fol.  —  The  history 
of  generation,  examining  the  opinions  of  divers  author.,  Lond.  1651,  8". 

*)  *Tractat.  de  corde,  item  de  motu  et  colore  sanguinis  et  chyli  in  eum 
transitu,  Lond.  1669,  8»  u.  ö. 

*)  *Cerbrianatome,  cui  accessit  nervor.  descript.  et  usus.  Lond.  1664. 8  °,  u.  5. 

•)  *Disquisitio  anat.  de  formato  foetu,  Lond.  1666,  Amst.  1669,  8 <»  .— 
Obfervationes  Anatom.,  Ed.  2,  L.  B.  1706.  Leid.  1714,  12". 

")  Myotomia  reformata,  Lond.  1694,  8°,  1724,  fol.  —  The  Anatomy 
ofhum.  bodies.,  Oxf.  1697,  fol.  m.  d.  Tafeln  von  Bidloo.  Wegen  dieses  Plagiats: 
*Guil.  Cowper  criminis  literarii  citatus  per  God.  Bidloo  L.  B.  1700,  4  ",  54  pp. 

")  *Myographia,  Lond.  1681  u.  ö.  bis  Lips.  1715. 


264  Robert  Ritter  von  Töply. 

eine  prächtige  Beschreibung  und  Darstellung  der  Knochen,  sowie 
durch  ein  beliebtes  Handbuch  der  Anatomie  würdig  an.")  Beinahe 
gleichaltrig  sind  die  Brüder  Douglas.  Der  ältere  Douglas  (James, 
*  1675 — 1742,  ein  Schotte,  Leibarzt  der  Königin  v.  England)  hat  die 
vergleichende  Muskelanatomie  bearbeitet,  eine  genaue  Beschreibung 
des  Bauchfells  gegeben  (Cavum  Douglasii)  und  schliesslich  eine  lange 
Zeit  geschätzte  Bibliographie  der  Anatomie  bis  auf  Harvey  (jetzt 
allerdings  veraltet)  zusammengestellt.^*')  Der  jüngere  Douglas 
(John,  *  ?,  t  1759)  hat  sich  durch  Herausgabe  einiger  anat.  Abbil- 
dungen seines  Bruders  Jakob  verdient  gemacht  und  durch  eine  sehr 
abfällige  Kritik  der  geschätzten  Osteographie  des  Cheselden  Aufsehen 
erregt.  ^ ') 

Cheseldens  Schüler  Monro  L  (Alexander,  *  1697,  8.  Sept.,  f  1767 
10.  Juni;  Prof.  d.  Anat.  1721—1759)  begründete  in  Edinburg  eine 
Professoren dynastie,  nachdem  dort  für  den  Unterricht  der  Apotheker- 
Chirurgen  (chirurgeon-apothecaries)  im  Jahre  1705  eine  Professur  der 
Anatomie  mit  einem  Jahresgehalt  von  15  Pfund  Sterling  errichtet 
worden  war.^-) .  (Die  Grundsteinlegung  der  Universität  fand  erst  am 
16.  Nov.  1789  statt.)  Monro  II.  (Alexander,  *  1733  20.  März,  f  1817 
2.  Okt.;  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  1759—1801  allein,  dann  bis  1808/09 
mit  seinem  Sohn)-  gab  die  erste  Beschreibung  der  Schleimbeutel,  über- 
dies —  sow'eit  es  die  damalige  Technik  gestattete,  wertvolle  Beiträge 
zur  Kenntnis  des  Cerebrospinalsystems,  polemisierte  auch  gegen  die 
angeblichen  Entdeckungen  von  John  Hunter.^=^)  Monro  III  (Alex- 
ander, *  1773  5.  Nov.,  f  1859,  10.  März;  anfangs  mit  seinem  Vater, 
dann  allein  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  bis  1846)  hat  in  mehreren  Werken 
die  normale  Anatomie  teils  mit  der  Physiologie,  teils  mit  der  patho- 
logischen Anatomie  verschmolzen.  Neben  den  Monro  wirkten  in  Edin- 
burg Barclay  (John,  *  1759,  f  ?),  einer  der  tüchtigsten  Anatomen 
seines  Zeitalters, i^)  Gordon  (John,  *  1786  19.  April,  f  1818  14.  Juni; 


»)  The  anatomy  of  the  hum.  body,  Lond.  1713  u.  ö.  bis  1778,  8»,  deutsch 
noch  1790  Götting.  von  A.  F.  Wolff  m.  Knpf.  von  Riepenhausen.  —  Osteo- 
graphia,  Lond.  1733/34,  fol.,  m.  56  Kupfern,  die  Knochen  in  nat.  Gr.,  angeblich 
durch  die  Camera  gezeichnet. 

^°)  Myographiae  comparatae  specimen,  Lond.  1707  u.  ö.  bis  1777.  — 
A  description  of  the  Peritoneum.  Lond.  1780  u.  ö.  bis  1740.  —  *BibIio- 
graphiae  anatomicae  specimen.  Ed.  2,  L.  B.  1734. 

")  Animadversion  on  a  late  pompous  book,  intitled:  Osteo- 
graphia,  Lond.  1735.  —  Nine  anatomic.  figures,  repr.  the  extern,  parts, 
muscles  and  bones  of  the  hum.  bodv  1748. 

12)  Osteology,  Edinb.  1726  u.  ö.  bis^l763;  franz.  u.  d.  T.  *Traite  d'osteo- 
logie  trad.  de  l'anglois  de  M.  Monro  .  . .  oü  Ton  a  ajoute  des  pl.  en  t.-d.  .  .  .  par  M. 
Sue  ...  Paris  1759,  317  p.,  31  Doppeltafeln,  fol.  max.  Eines  der  prächtigsten  anat. 
Werke.  Auch  deutsch.  —  Essay  on  compar.  anat.,  Lond.  1744,  1783,  franz.  1766, 
dtsch.  Götting.  1790. 

1*)  De  venis  lymphat.  valvulosis,  Berol.  1757  u.  ö.  —  Microscop. 
inquir.  into  the  nerves  and  brain,  Edinb.  1780,  fol.  —  Observat.  on  the 
struct.  and  funct.  of  the  nerv,  syst,  Edinb.  1783,  fol,  w.  tab.;  deutsch  von 
Sömmering,  Leipz.  1787,  4°.  —  A  description  of  allbursae  muscosae  ofthe 
hum.  body,  Lond.  1758,  fol.;  deutsch  v.  J.  C.  Rosenmüller,  Leipz.  1799,  fol.  — 
Three  treatise  on  the  brain,  the  eye  and  the  ear,  Edinb.  1797,  4".  — 
Observations  anatomic.  and  physiolog.,  wherein  D.  Hunter's  claim 
to  some  discoveries  is  examined,  Edinb.  1758. 

'*)  Descript.  of  the  arteries  of  the  hum.  body,  Edinb.  1812.  —  Series 
of  engravingsrepresent.  the  bones  of  the  hum.  skeletonw.  the  skelet. 
of  some  of  the  lower  animals,  Edinb.  1819.  —  Introductory  lectures  to 
a  course  of  anat.,   deliv.  by  the  late  John  Barclay.    W.  a.  mem.  of  the 


Geschichte  der  Anatomie.  265 

Schüler  des  Chirurgen  J.  Thomson  in  Edinburg  und  von  Wilson  in 
London),  dessen  private  und  später  öffentliche  Vorlesungen  über  Osteo- 
logie  ebensoviel  Anklang  fanden,  wie  sein  Handatlas  desselben  Gegen- 
stands, der  neben  den  ähnlichen  AVerken  über  die  Muskeln  von 
J.  Bell  und  die  Arterien  sowie  die  Nerven  von  Ch.  Bell  zu  den  besten 
Handatlanten  aus  dem  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  gehört,'-^)  dann 
Barclavs  äusserst  thätiger  Nachfolger  Knox  (Robert.  *  1793  4.  Sept.. 
t  1862"  20.  Dez.;  Thät'igkeit  in  Edinburg  1825—44),  besonders  auf 
dem  Gebiete  der  vergleichenden  Anatomie  und  Eassenlehre.  Einen 
Schatten  auf  Knox  wirft  dessen,  übrigens  auch  Anderer  Fühlung  mit 
den  „Resurrektionisten".  Diese  stahlen  Leichen,  um  sie  für  2 — 16  Pf.  St. 
an  die  anatom.  Institute  zu  verkaufen,  nötigenfalls  machten  sie 
auch  Irgendjemand  zur  Leiche.  Nachdem  der  Prozess  gegen  den 
Mörder  Burke  i.  J.  1828  ein  grelles  Streiflicht  auf  dieses  Treiben 
geworfen,  wurde  der  Sache  i.  J.  1832  durch  die  Gesetzgebung  ein 
entschiedenes  Ende  bereitet.^^)  Der  etwas  jüngere  Chirurg  Lizars 
(John,  *  1783,  f  ?,  Schüler  von  John  Bell,  s.  u.)  machte  sich  hier  auf 
anatomischem  Gebiet  durch  ein  umfangreiches  Tafelwerk  bekannt,^  ^) 
während  sein  Bruder  Lizars  (Alexander,  f  1860  22.  Juni),  dem  er 
1831  die  Anatomie  überlassen  hatte,  zwar  später  Prof.  dieses  Fachs  in 
Aberdeen  wurde,  literarisch  aber  auf  dem  Gebiete  der  Chirurgie  auftrat. 
Zu  den  Edinburger  Lehrern  der  neuesten  Zeit  zählt  —  abgesehen 
von  Sharpey,  der  hier  nur  kurze  Zeit  wirkte  (s.  unten)  —  Goodsir 
(John,  *  1814,  t  1867  11.  März),'^")  Entdecker  der  Sarcina  ventriculi, 
nach  John  Hunter  der  berühmteste  Edinburger  Lehrer  der  Anat..'^*") 
dann  die  Trias  Handyside.  Spence,  Lonsdale.  Handvside  (Peter 
David,  *  1808  26.  Okt..  f  1881  21.  Febr.)^'-»^)  hat  sich  neben  der 
Chirurgie  mit  topographischer  Anatomie  und  Teratologie  befasst,^^^) 
Spence  (James.  *  1812  31.  März,  f  ?)-*^)  vorwiegend  mit  Chirurgie. 
Der  etwas  jüngere  Struthers '  (John,  *  1823  21.  Febr.,  f  1899 
24.  Febr.)  ■-^'*)  war  einauch  historisch  gebildeter  Anatom,-^'')  Turner 

life  of  the  aator,  Edinb.  1828.  Herausgegeb.  von  Sir  George  Ballingall,  Prof.  d. 
Mil.-Chir.  in  Edinb.,  Assistent  von  Barclay  (*  1780,  f  1855). 

^*)  A  svst.  of  hum.  anat.,  T.  I,  Edinb.  1815.  —  Engrav.  illustr.  the 
anat.  of  the  skeleton  in  22  plat,  Edinb.  1817,  1818. 

'")  Es  ist  dies  die  sog.  Warburton-Bill.  Anatomical  act,  2nd  and  3d 
William  IV.,  cap.  75,  August  1832.  —  Vgl.  Struthers,  Historical  Sketch  of  the 
Edinburgh  Anatomical  School.  Maclachlan  and  Stewart  1864;  *Lonsdale  (Henry), 
A  Sketch  of  the  life  and  writings  of  Eobert  Knox,  Lond.  1870,  8  °,  420  p. 

^')  Asystem  of  anat.  plates;  accomp.  w.  descriptions,  andphysio- 
logical,patholog.  and  surgic.  observations,  Parti — 12,  Lond.  1822— 1826, 
w.  101  pl.,  fol.,  new.  edit.  1840. 

^*"j  Schüler  von  Knox,  seit  1844  als  Nachf.  von  Mackenzie  Prosektor,  seit  1846 
Prof.  d.  Anat   an  Monros  Stelle. 

^'"')  On  the  development  of  the  teeth,  Edinb.  Med.  and  Surg.  Joum. 
1839.      -  '' 

^^')  Schüler  von  Tiedemann,  als  Nachfolger  von  Struthers  1863  Dozent  d.  Anat. 
am  College  of  Surgeons. 

""')  The  anat.,  particnlar  and  surgic,  of  the  hum.  bodv,  Edinb. 
1837,  4  0,  30  col.  pl. 

-**)  Schüler  von  Knox,  unter  Monro  III  bis  1842  Prosektor-Gehilfe,  lehrte  m. 
Handyside  u.  Lonsdale  4  Jahre  lang  Anat.  ausserhalb  des  Universitätsverbandes,  der 
hervorragendste  schottische  Chirurg  nach  Syme,  ist  Verf.  einer  Abhandlung  über 
das  8.  Nervenpaar:  Inquiry  into  the  anat.  of  the  eight  pair  of  uerves, 
Edinb.  Med.  and  Surg.  Joum.  58,  1842. 

''■•)  1847  Dozent  d.  Anat.  in  Edinb.,  1863—1890  Prof.  d.  Anat.  in  Aberdeen. 

*•'')  Anat.    and   physiolog.    observations  I   1854    II  1863.  —   Osteo- 


266  ßobert  Ritter  von  Töply. 

(Sir  William,    *  1832)22«^)   hat   unt.  a.   die  Topographie   der  Gehirn- 
windungen, die  vergl.  Anat,  der  Placenta  bearbeitet.'^-''). 

Einen  weitaus  grösseren  Einfluss  auf  die  Entwicklung  der  mo- 
dernen Medizin  in  England  übte  die  von  William  Hunter  in  London 
gegründete  Great  Wind mi  11  School  (1770—1833),  bis  ihre 
Thätigkeit  durch  die  neugeschaffene  Universität  abgelöst  ward.  Sie 
war  der  Sammelpunkt  der  Hunter,  Hewson,  Cruikshank,  Baillie  (path. 
Anatom),  Wilson,  B.  C.  Brodie  (Chirurg),  Ch.  Bell,  Shaw,  Mayo,  Caes.  Haw- 
kins  (Anatom  u.  Chirurg).  Der  älteste  H  u  n  t  e  r  (William,  *  1718  23.  Mai, 
I  1783  30.  März;  London)  lieferte  in  seiner  Anatomie  der  schwangeren 
Gebärmutter  ein  grundlegendes  Werk.  Von  ihm  stammt  die  Be- 
nennung „Decidua",  die  Unterscheidung  der  Decidua  vera  und  reflexa. 
Auch  wusste  er,  dass  das  Nabelbläschen  bis  zum  Ende  der  Schwanger- 
schaft bestehen  bleiben  kann.  ^=^)  Der  jüngere  Hunter  (John,  *  1728 
13.  Febr.,  f  1793  16.  Okt.;  London.  Bruder  des  Vorigen,  verheiratet 
mit  der  Schwester  des  Anatomen  Edw.  Home)  untersuchte  die  männ- 
lichen Geschlechtsorgane,  begründete  die  Lehre  vom  Descensus  testi- 
culorum  (Gubernaculum  Hunteri)  und  erklärte  gegenüber  der  älteren 
Ansicht  die  „Samenbläschen"  nicht  für  Samenbehälter,  sondern  für 
drüsige  Organe.  Er  hatte  sich  manche  Entdeckung  zugeschrieben, 
die  ihm  nicht  zukommt,  und  ist  deshalb  mit  seinem  Bruder  William 
und  Monro  II  in  einen  Prioritätsstreit,  betreffend  die  Ausbreitung  der 
Geruchsnerven,  die  Injektion  der  Harnkanälchen,  die  Placentararterien, 
die  Lymphgeiässe  bei  den  Vögeln  u.  a.  geraten.  Hingegen  gebührt 
seiner  Beschreibung  der  Blutgefässe  des  Tintenfisches  (Sepia  offl- 
cinalis)  der  Titel  einer  grundlegenden  Arbeit.-*)  Sein  unstreitiges 
Verdienst  besteht  darin,  dass  er  hervorragende  Schüler  heranzog. 
Darunter  gehört  Matthew  Baillie  (path.  Anatomie),  Thomas  Denman 
(Geburtshelfer),  dann  die  Anatomen  W.  Hewson,  Ch.  Bell,  W.  Cruiks- 
hank, J.  Sheldon.  Hewson  (William,  *  1739,  f  1774)  bearbeitete  das 
beliebte  Thema  vom  Lymphgefässsystem,-*)  Home  (Sir  Everard, 
Bart,  *  1763,  f  1832)  berücksichtigte  besonders  die  vergleichende 
Anatomie.-*')  Die  Brüder  Bell  haben  sich  besonders  um  die  ana- 
tomische Abbildung  verdient  gemacht.  Der  ältere  Bell  (John,  *  1762, 
f  1820;  Edinburg)  war  ein  vorzüglicher  Zeichner.  Er  hat  ein  um- 
fangreiches anatomisches  Tafel  werk  herausgegeben.^')     Der  jüngere 


logical  memoir  1855.  —  Lessons  on  the  hum.  body,  1859.  —  Anatomical 
Sketch  of  the  Edinburgh  Anatomical  School.  Maclachlan  and  Stewart, 
1864.  —  History  of  the  Edinburgh  anat.  school,  1866. 

^^'■)  Schüler  des  St.  Barthol.  Hosp.  zu  London,  1854  Prosektor  an  der  Univ.  zu 
Edinb.,  seit  1867  Prof.  d.  Anat.  das.  u.  an  der  Roy.  Scott.  Acad. 

^'^^)  Atlas  of  hum.  anat.  and  physiol.,  w.  hand-book.  —  Con- 
volutions  of  hum.  cerebrum  topographic.  consid.,  1868.  —  An  introd. 
to  hum.  anat.  includ.  the  anat.  of  the  tissues.  —  Lectures  on  comp, 
anat.  of  the  placenta,  1876.  —  Anat.  as  taught  in  the  Univ.  of  Edinb., 
1867.  —  Address  ad  the  open.  of  the  new  anat.  depart.  of  the  Univ.  of 
Edinb.,  1880. 

^')  Anatomy  of  the  human  gravid  uterus,  Birmingh.  1774,  foL,  Text 
von  Baillie. 

***)  Er  hat  Vielerlei  geschrieben.  Besonders  wichtig  sind  die  Observations 
on  certains  parts  of  the  animal  economy.,  Lond.  1787,  deutsch  von 
Schell  er,  Braunschw.  1803. 

'^'^)  Experim.  inqu  iries  into  the  prop  erties  of  the  blood,  w.  an 
append.  relat.  to  lymphat.   syst. 

^•*)  Lectures  on  comparat.  anat.,  Lond.,  4  voll.,  1814—22. 

*')  The  anatomy  of  the  hum.  body,  3  voll,    Lond.  1793—1816  u.  ö.  — 


i 


GJeschichte  der  Anatomie.  267 

Bell  (Sir  Charles.  *  1774.  f  1842)  bearbeitete  für  dasselbe  die  Nerven. 
Sinnesorgane  und  Eingeweide,  entdeckte  überdies  die  verschiedene 
Funktion  der  vorderen  und  hinteren  Wurzeln  des  ßückenmarks- 
nerven.-^)  Cruikshank  (William,  *  1745,  j  1800;  in  Edinburg 
thätig.  Freund,  Assistent  und  Erbe  der  reichhaltigen  Sammlungen 
von  W.  Hunter)  hat  nach  dem  Tode  von  J.  Hunter  ein  schön  aus- 
gestattetes Werk  über  die  Saugadern  herausgegeben,  welches  den 
Höhepunkt  dessen  bedeutet,  was  auf  diesem  Gebiete  bis  dahin  ge- 
leistet wurde,  und  auch  von  der  ähnlichen  Arbeit  Mascagnis  nicht 
erreicht  wird. "-'-')  Sheldon  (John.  *  um  1765.  f  ?)  reicht  auf  dem- 
selben Gebiete  an  Cruikshank  und  Mascagni  nicht  heran,  er  hat  sich 
vielmehr  durch  die  Beschreibung  der  hier  einzuhaltenden  Präparations- 
technik verdient  gemacht."")  Shaw  (John,  *  1791,  f  1827.  Prof.  d. 
Anat.  an  d.  Windmill  School  mit  Ch.  Bell)  ist  als  Verf.  eines  Hand- 
buchs der  Anatomie  hervorgetreten.^'^)  ebenso  Mayo  (Herbert,  *  ?, 
i  1852),  welcher  ein  kleines  anatom.  Amphitheater  errichtete.-^-)  Hier 
las  bis  1830  Hawkins  (Caesar,  *  1798  19.  Sept.,  j  1884  20.  Juli; 
Schüler  von  Brodie,  Wilson,  Ch.  Bell  in  der  "\Mndm.  School,  Prosektor 
das.  und  Assistent  von  Ch.  Bell  und  Shaw),  worauf  er  zur  Chirurgie 
überging.  — 

Das  Licht  der  Windmill  School  erlosch,  als  neue  Mittelpunkte 
für  den  Betrieb  der  Anatomie  entstanden  waren.  Dahin  gehört  das 
private  Theatre  of  Anatomj'  and  Medicine  in  Webb  Street  (Borough), 
gegründet  von  dem  älteren  Grainger  (Edward),  gegen  20  Jahre 
fortgeführt  von  dessen  Bruder,  dem  jüngeren  Grainger  (Richard 
Dugard,  *  1801,  j  1865  1.  Febr.;  1842—60  Dozent  der  Anat.  und 
Physiol.  am  St.  Thos.  Hosp.,'^-')  bis  es  1842  mit  dem  St.  Thomas- 
Hospital  verschmolzen  wurde.  In  der  etwas  jüngeren,  von  Laue 
(Sam.)  i.  J.  1830  errichteten  Schule  lehrte  eine  Zeitlang  Wilson 
jun.  (James  Arthur,  *  1795,  f  1883  29.  Dez.),  während  dessen  Vater, 
der  Chirurg  Wilson  (James),  nach  welchem  der  Wilsonsche  Muskel 
benannt  ist,  noch  in  der  Windmill  School  die  Anat.  gelehrt  hatte. 

Ein  neues  Leben  brachte  die  neugegründete  Londoner  Universit}*" 
(jetzt   Univ.   Coli).    Das  Haupt  dieser  Richtung  wurden  die  Brüder 


Engravings  explain.  the  anat.  of  the  bones,  muscles  and  joints 
(Lond.  1794,  4»,  u.  ö.).  the  brain  (Lond.  1802),  the  nerves  (Lond.  18031,  the 
viscera  (Edinb.  1804). 

**)  Engrav.  of  the  arteries,  Lond.  1804  u.  ö.  —  Anat.  of  the 
brain,  Edinb.  1802  u.  ö.  —  Aseriesof  engrav.  explain.  the  course 
ofthe  nervs,  Lond.  1804  u.  ö.  —  Seine  Anatomie  für  Maler  erschien  1805 
u.  ö.  Veröffentlichungen  über  die  Funktion  der  Rückenmarksnervenwurzeln  1811, 
1821.  *Karl  Beils  Darst.  d.  Nerven,  frei  bearb.  v.  Robbi  (Heinr.),  Vorrede  v. 
ßose^nmüller  (Job.  Chr.),  Leipz.  1820,  118  S.,  9  Kpft. 

-")  Anat.  of  the  absorbing  vessels  of  the  hum.  body,  Lond.  1786, 
1790,  4".  —  *Will.  Cruikshanks  u.  Paul  Mascagnis  Gesch.  u.  Beschr.  der  einsaug. 
Gefässe  A.  d.  Engl.,  vermehrt  herausg.  v.  Ch.  Friedr.  Ludwig,  3  Bde.,  Lpz. 
1789—94,  4°  (für  Historiker  wichtige  Ausgabe). 

*>)  The  history  of  the  absorb.  Syst.,  Lond.  1784.  4 «.  —  Descr. 
catalogue  of  bis  collect,  anat.  praeparations,  Lond.  1787. 

")  A  mannal  of  anatomy,  2.  Ed.,  Lond.  1822. 

")  Anat.  and  physiologic.  comraentaries  I,  11,  Lond.  1822—23.  — 
A  course  of  dissect.  f.  the  use  of  students,  Lond.  1825.  —  A  series  of 
engrav.  intend.  to  illustr.  the  struct.  of  the  brain  and  spinal  cord 
in  man,  Lond.  1827. 

")  Elements  of  general  anat.,  Lond.  1829.  —  Observ.  on  the 
struct.  and  function  of  the  spinal  chord,  Lond.  1837. 


268  Robert  Ritter  von  Töply. 

Quain.  Der  ältere  Quain  (Jones,  *  1795,  f  1851;  zuerst  anat. 
Prosektor  an  d.  med.  Schule  in  Alderso;ate  Street,  dann  Prof.  der 
Anat.  u.  Physiol.  am  Univers.  CoH.)  ist  Verfasser  eines  Handbuchs, 
das  zu  den  besten  des  19.  Jahrhunderts  gehört  und  sich  über  50  Jahre 
lebenskräftig  erhielt/^*)  der  jüngere  Quain  (Eichard,  *  1800,  f  1887 
15.  Sept.)'"'**)  behandelte  die  Anatomie  der  Arterien  mit  Rücksicht  auf 
deren  chirurgische  Bedeutung.'''^  •')  Der  aus  der  Schule  der  Quain  hervor- 
gegangene Wilson  (Sir  William  James  Erasmus,  *  1809,  f  8.  Aug. 
1884) ''"'')  gab  die  Anatomie  bald  auf  und  widmete  sich  eingehendst 
der  Dermatologie,  der  etwas  ältere  Sharpey  (William,  *  1802, 
f  1880,^')  Mitarbeiter  an  E.  B.  Todd's  „Cyclopaedia  of  Anat.  and 
Physiol",  ist  der  Richtung  von  Jones  Quain  ebenso  treu  geblieben, 
wie  Ellis  (George  Viner,  *  ?,  f  1900),  ein  durch  seine  besondere 
Darstellungsgabe  hervorragender  Lehrer. •^^)  Zu  den  auf  dem  Gebiete 
der  mikroskop.  Anatomie  glücklichsten  Entdeckern  gehört  der  Ophthal- 
mologe Bowman  (Sir  William,  *  1816  20.  Juli,  f  1892  20.  März), 
bekannt  durch  Widerlegung  der  Brückeschen  Annahme  einer  Schich- 
tung des  Glaskörpers,  durch  die  nach  ihm  benannten  Kapseln  der 
Malpighischen  Körperchen  der  Niere,  durch  seine  mit  Todd  heraus- 
gegebene „physiologische"  Anatomie  u.  A.  ^'')  — 

Neben  Edinburg  und  London  tritt  Glasgow  in  den  Hinter- 
grund. Der  Prof.  d.  Anat.  und  Chir.  Jeffray  (James)  ist  bekannter 
als  Erfinder  der  Kettensäge,  denn  in  der  Anatomie.  Dieses  Fach, 
sowie  die  Embryologie  hob  erst  sein  Nachfolger  Thomson  (Allen, 
*  1809  2.  April,  f  1884  22.  März),^«)  Mitarbeiter  an  Todd  und  Bow- 
mans  „Cj^clopaedia",  Herausgeber  der  späteren  Auflagen  von  Quains 
„Syst.  of  hum.  anat.",  ein  eifriger  Darwinianer.^*^'')  Aus  den  letzten 
Jahrzehnten  des   19.  Jahrhunderts  sind  überdies  hervorhebenswert  in 


^^)  Elements  of  descr.  and  pract.  anat.  for  the  use  of  students, 
Lond.  1828;  5.  Aufl.  von  Richard  Quain  u.  Will.  Sharpey;  6.  Aufl.  von 
Sharpey  u.  Ellis  1856;  deutsch  von  K.  E.  E.  Hoff  mann,  Erlangen  1871, 
2.  Aufl.  1877—81. 

***)  Stud.  in  den  med.  Schulen  von  Windmill  Str.  u.  Aldersgate-Street,  war  seit 
1830  Prosektor  bei  Ch.  Bell,  nach  dessen  Resignierung-  1832  selbst  Prof.  d.  Anat., 
übernahm  1834  die  Chirurgie  am  North  Lond.  Hosp.,   dem  jetzigen  Univ.  Coli.  Hosp. 

'**'')  The  anat.  of  the  arteries  of  the  hum.  b.  an  its  applications 
to  pathol.  and  operat.  surgery.  London  1844,  m.  Atlas.  — Ausgabe  der  Anat. 
von  Eich.  Quain  s.  oben. 

*'*)  Assistent  von  Jones  Quain  am  Univ.  Coli.,  später  Prosektor  unter  Rieh. 
Quain,  wurde  1840  Lehrer  der  Anat.  u.  Physiologie  am  Middlesex  Hosp. 

*■)  Ursprünglich  Prof.  d.  Anat.  in  Edinburg,  1836 — 74  Prof.  d.  Anat.  u.  Physio- 
logie als  Nachf.  von  Jones  Quain. 

^*)  Demonstrations  of  anat.,  8.  Aufl.,  Lond.  1879.  —  lllustrations 
of  dissections,  mit  Ford  (G.  H.),  2  Bde.,  58  Taf.,  Lond.  1867;  New  York 
1882.  —  Die  Ausg.  der  Anatomie  von  Quain  durch  Sharpey  u.  Ellis  s.  oben. 

'^^)  D.  Schichtung  des  Glaskörpers  beschrieb  Brücke  1813,  Bowman  widerlegte 
sie  1849.  —  On  the  minute  struct.  and  movem.  of  volunt.  muscle, 
Phil.  Trans.  1840,  Addit.  note  1841.  —  On  the  struct.  and  use  of  the 
Malpigh.  bodies  etc.,  ib.  1842.  —  The  physiologic.  anat.  and  physio- 
logy  of  man.     Mit  Todd,  2  Bde.,  Lond.  1849. 

*°")  Sohn  des  Chirurgen  John  Thomson,  studierte  in  Edinb.  u.  hielt  hier  1831 
bis  181-^6  mit  Sharpey  Lehrkurse  d.  Anat.  u.  Physiol.,  wurde  1839  Prof.  d.  Anat.  am 
Marishai  Coli.  u.  an  d.  Univ.  Aberdeen,  1841  Lehrer  d.  Anat.  an  d.  Extra-mural 
School  in  Edinb.,  1848—77  an  d.  Univ.  Glasg. 

'»*"')  On  the  develop.  of  the  heart  and  bloodvessels.  Diss.  1830, 
the  vasc.  syst.,  1830/31.  —  On  the  early  stages  of  developem.  of  the 
hum.  embryo,  1839. 


Geschichte  der  Anatomie.  269 

Dublin  Cunningham  (J.  D.)  am  Trinity  Coli,  und  Garson  am 
Coli,  of  Surgeons.  in  Cambridge  Macalister.  In  Oxford  hatte 
Acland  (Sir  Henry  Wentworth,  *  1815)  die  naturwissenschaftlichen 
Sammlungen  des  Christ  Church  Coli,  mitbegründet.  Sie  wurden 
später  mit  dem  Museum  der  Universität  vereinigt,  und  von  Thomsen 
(A.)  dem  Studium  zugängig  gemacht.  — 

Literaturnachtrag.  *  Fidler  (Thomas),  The  Sistory  of  fhe  Universiiy 
of  Cambridge,  froin  the  conqiiest  to  the  ycar  1684.  Edid.  by  P  rieh  et  t  (Manna- 
duke) and  Wright  (Thomas),  W.  illtistr.  notes.  Cambridge,  London  1840,  8^, 
327  pag. 

Deutschland. 

Während  der  ersten  vier  Jahrhunderte  des  Bestandes  von  Uni- 
versitäten in  Deutschland  sind  hier  42  Hochschulen  eröffnet  worden.^) 
Wenn  man  bedenkt,  welch  ein  Zuwachs  an  geistigen  Kräften  dadurch 
ermöglicht  war,  und  den  geringen  Nutzen  erwägt,  der  daraus  in  der 
ersten  Zeit  für  die  Anatomie  erwachsen  ist,  so  muss  man  in  dieser 
Beziehung  den  damaligen  Zustand  Deutschlands  im  Vergleiche  mit 
demjenigen  anderer  Kulturländer  als  geradezu  trostlos  bezeichnen. 
Nicht  als  ob  die  Anatomie  hier  keinen  Eingang  gefunden  hätte.  Ist 
doch  deren  praktische  Ausübung  sogar  für  Städte  bezeugt,  die  keine 
Universitäten  besassen,  sondern  nur  Medizinalkollegien,  wie  z.  B.  für 
Ulm,  wo  seit  dem  Ende  des  16.  Jahrhunderts  einzelne  Aerzte  wie 
Bloss  (Sebastian,  *  1559  4.  Nov.,  f  1627  März)  und  seine  Nachfolger 
gelegentlich  eine  Leiche  sezieren  und  einen  erklärenden  Vortrag 
halten,-)  für  Zürich,  wo  sich  1686  ein  ,.anatomisches  Kollegium" 
gebildet  hatte,  für  Frankfurt  a.  M.,  wo  ich  i.  J.  1740  staatlicher- 
seits  eine  Anatomiekammer  gemietet  wurde,  nachdem  einzelne  Aerzte 
dort  anatomische  Demonstrationen  gehalten  hatten  (die  Sencken- 
bergische  Anatomie  wurde  1763  errichtet;  auch  diese  war  eine  Privat- 
stiftung), dann  für  Rudolstadt,  wo  unter  dem  Schutze  des  Fürsten 
von  Schwarzburg  i.  J.  1751  eine  anat.  Schaubühne  eröffnet  wurde,  in 
welcher  Reimann  (J.  Christof)  die  ersten  Zergliederungen  vor- 
nahm.-^) Doch  haben  derartige,  oft  mehr  der  Neugier  als  dem  Wissens- 
drang entsprechende  Veranstaltungen  zumeist  nur  örtliche  Bedeutung. 
Für  die  Gesamtheit,  für  den  Fortschritt  der  Wissenschaft  sind  sie 
belanglos.  Allerdings  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  eine  grosse  Schuld 
die  ehemalige  Organisation  der  Universitäten,  besonders  der  kleineren, 
trägt.  So  besass  die  Universität  in  Greifs wald  bis  1559  nur  einen 
Professor  der  Medizin,  dann  zwei,  seit  1790  drei,  1806—16  aber 
wieder  nur  einen. 


')  Im  14.  Jahrhundert  zu  Pra^,  Wien,  Heidelberg,  Köln,  Erfurt; 
im  15.  Jahrh.  zu  Leipzig,  Rostock,  Greifswald,  Freiburg  i.  B.,  Basel, 
Trier,  Ingolstadt,  Mainz,  Tübingen;  im  16.  Jahrh.  zu  Wittenberg, 
Frankfurt  a.  0,  Marburg,  Königsberg,  Dillingen,  Jena,  Helm- 
stedt, Olmütz,  Altdorf,  Würzburg,  Herborn,  Graz;  im  17.  Jahrh.  zu 
Giessen,  Paderborn,  Strassburg,  Rinteln,  Salzburg,  Osnabrück, 
Dorpat,  Bamberg,  Duisburg,  Kiel,  Innsbruck,  Halle;  im  18.  Jahrh.  zu 
Breslau,  Fulda,  Erlangen,   Göttingen. 

^)  *Schön  (Th.).  Gesch.  des  Medizinal wesens  der  Württemberg.  Städte.  D. 
Medizinalwesen  der  Reichsstadt  Ulm.  Medizin.  Korrbl.  der  Württemberg,  ärztlichen 
Landes  vereine.  Bd.  67,  Nr.  32  v.  14.  Aug.  1897.    (Bis  1780  gehender  Bericht.) 

»)  Albr.  V.  HaUer,  Tageb.  III,  250. 


270  Robert  Ritter  vou  Töply. 

Greifswald.  Universität  errichtet  1456.  Den  ersten  praktischen 
Unterricht  in  der  Anatomie  erteilte  Seidel  (.Jacob,  Prof.  1581 — 1615). 
Er  beschränkte  sich  auf  Tierzergliederungen.  Die  erste  Sektion  einer 
menschlichen  Leiche  machte  Sturm  (Joh.)  vom  14. — 24.  Jan.  1624  im 
juristischen  Auditorium  an  einem  gehenkten  Dieb,  mehrere  Sektionen  mensch- 
licher Leichen  Evert  (Joh.  Eberhard,  Prof.  1617—30),  im  18.  Jahr- 
hundert Westphal  (Andreas,  Prof.  extr.  seit  1748,  lebte  noch  1777), 
Rehfeld  (Carl  Friedr.,  f  1794),  Waigel  (Christ.  Ehrenfried,  seit  1773 
Dir.  d.  bot.  Gartens  u.  d.  anat.  Museums,  1805  quiesziert).  Eine  neue 
Aera  begann  mit  Rudolphi  (*  1771,  -f  1832,  zum  Prof.  d.  Anat.  ge- 
wählt 1807,  bestätigt  1808,  nach  Berlin  berufen  1810).  Sein  Prosektor 
Rosenthal  (1810  nach  Berlin  berufen,  um  an  der  Klinik  von  Beil  die 
anatomischen  Untersuchungen  zu  leiten,  1820 — 29  Prof.  d.  Anat.  u.  Physiol. 
in  Greifswald)  veranlasste  1822  den  Ankauf  einer  anatomischen  Sammlung 
in  Braunschweig  als  Grundstock  des  damaligen  Museums.  Der  nächste 
Prosektor  Barkow  (Hans  Karl  Leop.,  *  1798,  f  1873)  wurde  1826  nach 
Breslau  berufen.  Bis  in  die  Fünfzigerjahre  bestand  die  medizinische  Fakultät 
nur  aus  4  Professoren,  darunter  einer  für  Anat.  u.  Physiol.  Das  anatomische 
Institut  befand  sich  bis  in  jene  Zeit  im  oberen  Stockwerk  des  Universitäts- 
gebäudes. 

Braunschweig.  Die  für  Greifswald  angeschaffte  Sammlung  dürfte 
auf  die  Thätigkeit  der  braunschweiger  Professoren  Bollin  (seit  1750  am 
anat.  Theater  angestellt),  Hausmann  (Joh.  Stephan,  *  1754,  j  1784 
30.  Okt.,  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.),  Hildebrandt  (Georg  Friedr.,  *  1764 
5.  Juni,  f  1816  23.  März,  1786—95  Prof.  anat.  am  Colleg.  med.  in 
Braunschweig,  dann  Prof.  med.  et  ehem.  in  Erlangen,  Verf.  des  bekannten 
Lehrb.  d.  Anat.  1789 — 92  u.  f.)  zurückzuführen  sein,  besonders  aber  auf 
die  des  langjährigen  Prosektors  der  drei  genannten,  Schoenijahn  (Jul. 
Aug.),  dieser  hatte  seit  1762  eine  Sammlung  von  351  Nummern  zustande 
gebracht.  Vgl.  *Schoenijahn  (Jul.  Aug.),  Gesammeltes  Museum  ana- 
tomicum,  Braunschwg.   1792,  8",  44  S. 

In  Basel  hatte  die  medizinische  Fakultät  1460—1529  nur  einen 
Prof.  Ordinarius,  später  zwei,  erst  seit  1589  einen  dritten  für  die 
Anat.  und  Botanik  (dieser  Zustand  erhielt  sich  bis  in  das  19.  Jahrb.), 
wobei  noch,  wie  auch  anderswo,  die  Uebung  bestand,  dass  ein  Vor- 
rücken von  der  anat.  Professur  in  die  theoretische  und  von  da  in  die 
praktische  stattfand,  sodass  einzelne  Vertreter  das  Fach  nur  2 — 3  Jahre, 
ja  sogar  nur  1  Jahr  innegehabt  haben  und  die  Anat.  vielfach  nur  als 
Uebergangsstufe  zu  einer  einträglicheren  Thätigkeit  galt.  Dazu  kommt 
der  Umstand,  dass,  wie  hier  seit  1718,  die  Lehrkanzeln  durch  das 
Los  vergeben,  und  so  oft  tüchtigere  Kräfte  durch  Schicksalsfügung 
minderwertigen  oder  anderswohin  besser  passenden  vorgezogen 
wurden.  So  geschah  es,  dass  z.  B.  hier  der  berühmte  Mathematiker 
Bernoulli  (Daniel)  von  1733—51  die  Lehrkanzel  der  Anat.  ver- 
stizen  musste.*)  Ein  anderer  misslicher  Umstand  war  der, 
dass  —  z.  B.  in  Oesterreich  während  des  19.  Jahrhunderts  bis  zur 
Revolution  von  1848  —  die  Lehrämter  infolge  abgelegter  schriftlicher 


*)  Vgl.  *His  (Wilh.).  Zur  Gesch.  des  anat.  Unterrichts  in  Basel.  S.  A.  aus 
Gedenkschr.  zur  Eröffnung  des  Vesalianums  28.  Mai  1885,  Leipz.  1885,  8  ",  48  S.  m. 
2T.;  *Miescher  (Friedr.)  D.  med.  Fakult.  in  Basel  u.  ihr  Aufschwung  unter 
F.  Plater  u.  C.  Bauhin,  Basel  1860,  4  <>,  53  S. 


I 


Geschichte  der  Anatomie.  271 

und  mündlicher  Konkurse  verliehen  wurden,  wodurch  dem  Protektions- 
wesen ein  wesentlicher  Vorschub  geleistet  war,  schliesslich  der.  dass 
die  Anatomie  bis  tief  in  das  19.  Jahrhundert  an  den  meisten  Uni- 
versitäten nicht  als  selbständiges  Lehrfach  gewürdigt,  sondern  zu- 
meist mit  der  Botanik  oder  Chirurgie,  oft  auch  mit  anderen  Fächern 
zusammengeworfen  wurde.  So  lehrte  Wrisberg  in  Göttingen 
(1764 — 1808)  Geburtshilfe,  Anatomie,  Chirurgie,  Augenheilkunde,  ge- 
richtliche Medizin,  zur  selben  Zeit  C.  C.  Siebold  in  Würzburg 
(1769—1807)  Anatomie,  Chirurgie,  Geburtshilfe.  Wenn  dennoch  so- 
wol  Wrisberg  als  Siebold  Tüchtiges  geleistet  haben,  so  ist  dies 
ihrer  ausnahmsweisen  Veranlagung  zuzuschreiben,  keineswegs  aber 
der  ungebührlichen  Oekonomie,  durch  die  ihre  Kräfte  in  Anspruch 
genommen  waren.  Uebrigens  ist  es  bekannt,  dass  Siebolds  wichtigste 
Leistungen  keineswegs  auf  dem  Gebiete  der  Anatomie  und  Chirurgie, 
sondern  auf  dem  der  Geburtshilfe  und  ihrer  Geschichte  gelegen  sind. 
Eine  eingehendere  kulturgeschichtlich  vorgehende  Darstellung  des 
Ganges  der  Anatomie  müsste  diese  und  andere  Verhältnisse  wie  z.  B. 
die  Stellung  der  Behörden  gegenüber  den  anatomischen  Anstalten, 
die  Leichenbeschaffung  u.  s.  w.  mit  in  Betracht  ziehen,  um  die  Ent- 
wicklung der  Lehre  und  Forschung  aus  dem  Einflüsse  der  Grund- 
bedingungen abzuleiten.  Dem  Widerstand  der  Behörden  gegen  die 
Errichtung  und  Ausgestaltung  anatomischer  Anstalten  könnte  man 
allein  ein  längeres  Kapitel  widmen. 

Bei  Berücksichtigung  der  erwähnten  Verhältnisse  wird  es  ver- 
ständlich, warum  die  neuere  Anatomie  in  Deutschland,  obzwar  sie  in 
B  a  s  e  1  •^)  unmittelbar  an  Vesals  Auftreten  anschliesst ,  lange  hin- 
durch nur  geringe  Fortschritte  gemacht  hat.  Vesal  war  anfangs 
1543  in  Basel  eingetroffen,^)  wo  seit  1531  keine  Anatomie  abgehalten 
worden  war,  hatte  dort  am  12.  Mai  eine  Verbrecherleiche  seziert  und 
das  heute  noch  erhaltene  Skelet  mit  Hilfe  des  Chirurgen  Jeckel- 
mann  (Franz)  verarbeitet.  Im  selben  Jahr  war  hier  seine  Fabrica 
und  Epitome  erschienen  und  letztere  sofort  von  T  o  r  e  r  (Alban )  über- 
setzt worden.')  Jeckelmann  hat  bald  nach  Vesals  Abreise  unter 
romantischen  Umständen  im  Pfarrhaus  zu  Rieken  eine  Leichenöffnung 
vorgenommen.  ^)  Die  nächste  vollzog  aber  im  April  1559  der  23  jährige 
aus  Montpellier  zurückgekehrte  Schwiegersohn  Jeckelmanns  Plater 
(Felix,  *  1536,  f  1614).  Der  Wert  seines  Wirkens  liegt  nicht  in  der 
Verfassung  seines  Handbuchs  der  Anat.,  denn  dieses  ist  nur  eine 
tabellarische  Uebersicht  mit  nach  Vesal  kopierten  wertlosen  Ab- 
bildungen,®) sondern  darin,  dass  er  die  Errichtung  einer  kombinierten 


^)  Jung  (Karl  Gust.),  üeber  das  Verhältnis  der  Anat.  zur  med.  Wissensch.  u. 
üb.  d.  Leistungen  der  Anatomen  an  d.  Baseler  Hochschule.  Rektoratrede  1828.  — 
*Miescher  (Friedr.)  D.  med.  Facult.  in  Basel  u.  ihr  Aufschwung  unter  F.  Plater 
u.  C.  Bauhin,  Basel  1860,  4»,  53  S.  —  *His  (Wilh.),  Zur  Gesch.  des  anat.  Unter- 
richts in  Basel.  S.  A.  aus  Gedenkschr.  zur  Eröffnung  des  Vesalianums,  28.  Mai  1885, 
Leipz.  1885,  8  <>,  48  S.  m.  2  T.  —  *Eoth  (M.),  Andreas  Vesalius  Bmxellensis,  m. 
30  Taf.,  Berl.  1892,  8  »,  500  S. 

*)  His  a.  a.  0.  S.  3  Anm.  sagt  1542;  richtig  gestellt  durch  Roth  a.  a.  0.  S.  128 
Anm.  1. 

')  Von  des  menschen  cörpers  Anatomey,  ein  kurtzer,  aber  vast 
nützer  ausszug  ...,  durch  D.  Albamim  Torinum  verdolmetscht  (Basel  1543). 

*)  Miescher  a.  a.  0.  S.  46  Anm.  2. 

®)  *De  corporis  h.  structura  e t  u s u  Felicis Plateri Bas.  medici  antecessoris 
libri  III.  Tabulis  methodice  explicati  etc.,  Bas.  1583,  fol. 


272  Robert  Ritter  von  Töply. 

Lehrkanzel  für  Anat.  und  Botanik  erwirkte,  welche  mit  ßauhin 
(Caspar,  *  1560,  f  1624  5.  Dez.)^"'')  besetzt  und  in  dem  gleichzeitig 
errichteten  anat.  Theater  i.  J,  1589  den  15.  Oktob.  feierlich  eröffnet 
wurde.  Die  nach  ihm  benannte,  von  ihm  1579  gefundene  und  1586 
zuerst  öffentlich  erwähnte  sog.  Grimmdarmklappe  ist  zwar  eine  Ent- 
deckung des  Guill.  Rondelet  in  Montpellier,  nachmals  beschrieben 
von  dessen  Schüler  Nie.  Tulp  in  Amsterdam,  dafür  gebührt  aber  dem 
Bauhin  ebenso  wie  dem  Jacques  Dubois  ein  besonderes  Verdienst  um 
die  Aufstellung  der  anat.  Nomenklatur.  So  hatte  Vesal  die  Zungen- 
beinmuskeln nur  als  1.  bis  4.  o.  5.  Paar,  Bauhin  jedoch  sie  als  mm. 
sternohyoeidei,  genioliyoeidei,  styloceratoeidei,  coracohyoeidei,  mylohyoei- 
dei  aufgeführt.^"'')  Die  kombinierte  Professur  der  Anat.  u.  Botanik  er- 
hielt sich  hier  bis  1824,  ohne  dass,  nachdem  Bauhin  sie  aufgegeben, 
durch  200  Jahre  Wesentliches  geleistet  worden  wäre.  Das  verfallene 
Studium  hob  erst  wieder  der  vielseitige  Jung  (Car  Gust,  *  1793, 
f  1864  11.  Juni)^''')  durch  Schaffung  einer  anat.  Anstalt  und  einer 
Präparatensammlung,  Abschaffung  des  chronischen  Leichenmangels, 
Anstellung  eines  Prosektors  bei  gleichzeitiger  Abhaltung  von  Vor- 
lesungen über  Chirurgie,  Augenheilkunde,  Ohrenkrankheiten,  Geburts- 
hilfe, gerichtl.  Medizin,  Geschichte  der  Medizin,  Lehre  von 
den  Vergiftungen,  vergl.  Anatomie.  ^^^)  Neben  ihm  lehrten  die  Ana- 
tomie Miescher-His  (Joh.  Friedr.,  *  1811  2.  März) ^"2)  und  Ecker 
(Alexand.,  *  1816  10.  Juli,  f  1887  20.  Mai).^=^)  Nach  einem  20  jährigen 
Zeitraum,  während  dessen  die  Professur  der  Anat.  mit  der  der  Phy- 
siologie verbunden  war  und  von  Bruch  (Carl;  in  Basel  1851—55, 
dann  nach  Giessen  berufen),  Meissner  (Georg;  in  Basel  1855—57, 
dann  nach  Göttingen  berufen)  später  von  His  (Wilhelm;  in  Basel 
1857 — 72,  dann  nach  Leipzig  berufen),  vertreten  ward,  wurde  end- 
lich i.  J.  1872  die  Anat.  selbständig  gestellt.  Nun  erst  konnte 
sie  sich  frei  entfalten.  Dies  geschah  durch  Hoffmann  (Karl 
Ernst  Emil,  *  1827   27.  April,  f  1877  15.  Dez.,  Prof.  in  Basel  1872 


J"*)  Hatte  in  Montpellier  studiert,  Prof.  d.  Anat.  u.  Bot.  1589—1614,  dann 
Prof.  praxeos. 

»"")  Hauptwerk:  Theatrum  anat,  Ed.  1,  Francof.  1605,  4»;  *Ed.  2  opera 
sumptibusque  Jo.  Theod.  De  Ery  1621,  i^,  664  p.  u.  Index  (ohne  Abb.).  —  *yivae 
imagines  partium  corporis  hum.  ...  ex  theatro  anat.  Caspari  Bauhini  ... 
desumptae.  Opera  sumptibusque  Matth.  Meriani  1640,  4 ",  265  S.  m.  Kpf.,  nebst 
12  Bl.  Appendix  m.  Kpf.  —  Von  geringerer  Bedeutung:  Anatomes  lib.  I,  externar. 
h.  c.  appellationem  etc.  cont.,  Bas.  1588;  1591.  —  De  corp.  hum.  fabrica 
ib.  4,  Bas.  1590,  8°.  —  Institu tiones  anat.,  Bas.  1592;  Lugd.  1597;  Bas. 
1609,  8«. 

11")  1822  als  Prof.  d.  Anat.,  Chir.,  Geburtsh.  berufen,  1850  zur  klin.  Professur 
übergetreten. 

1"')  Diss.  sist.  evolutionem  c.  h.,  Heidelb.  1816.  —  Animadversiones 
quaedam  de  ossib.  generatira  et  in  specie  de  ossib.  raphogemi- 
nantib.  quae  vulgo  ossa  suturar.  dicuntur.,  Basel,  4°,  c.  4  tab.  —  Ueb. 
d.  seitl.  Erhabenheit  in  dem  Lateral-Ventrikel  des  menschl.  Ge- 
hirnes, Bas.  1844,  m.  1  Taf.  —  Ueb.  d.  Gewölbe  in  d.  menschl.  Gehirne, 
Bas.  1845,  4  ",  m.  3  Taf.  —  D.  anat.  Anstalt  an  d.  Hochschule  Basel,  in 
Wissenschaftl.  Zeitschr.  herausg.  von  den  Lehrern  an  d.  Baseler  Hochsch.,  Bd.  III 
S.  2,  Basel  1825.  —  Rektoratsrede  s.  oben. 

12)  Schüler  von  Joh.  Müller,  nach  Basel  als  Prof.  d.  Physiol.  berufen,  hier  1837 
bis  1844,  dann  in  Bern,  1850—71  wieder  in  Basel  als  Prof.  d.  path.  Anat.  und  all- 
gemeinen Pathol. 

")  Prof.  d.  Anat.  u.  Physiol.  in  Basel  1845—49,  in  Freiburg  1850—87. 


Geschichte  der  Anatomie.  273 

bis    77)^*)    und    schliesslich    dui'ch    Ko  11  mann    (Julius,    *    1834 
24.  Febr.).^^) 

Professoren  der  Anatomie  in  Basel.  1.  Bauhin,  Caspar, 
1589—1614;  2.  Plater,  Thomas,  1614—25;  i«)  3.  Brunn,  Joh.  Jac.  de, 
1625—29:  4.  Bauhin,  Joh.  Casp.,  1629—60;  5.  Bauhin,  Hieronym., 
1660—65;  6.  Burckhardt.  Joh.  Bud.,  1665—67;  7.  Glaser,  Joh. 
Heinr.,  1667 — 75;  8.  ßot,  Jacob,  1675 — 85;  9.  Eglinger,  Nicolaus, 
1685—87;  10.  Härder,  Joh.  Jac,  1687—1703;  11.  Zwinger,  Theod., 
1703  —  11;  12.  Stähelin,  Joh.  Heinr.,  1711—21;  13.  Zwinger,  ßud., 
1721—24;  14.  Mieg,  Joh.  Eud. ;  15.  König,  Emmanuel,  1732—33; 
16.  BernouUi,  Daniel,  1733 — 51;  17.  Zwinger,  Friedr.,  1751—54; 
18.  Stähelin,  Joh.  Bud.,  1754—76;  19.  Lachenal,  Werner  de,  1776— 
98;  20.  Hagenbach,  Carl  Friedr.,  1798—1808;  21.  Burckhardt, 
Joh.  Eud.,  1808—24;  22.  Jung,  Carl  Gust.,  1822—50;  23.  Miescher, 
Friedrich,  1837—44;  24.  Ecker,  Alexander,  1845—49:  25.  Bruch, 
Carl,  1851 — 55;  26.  Meissner,  Georg,  1855 — 57;  27.  His,  "Wilhelm, 
1857—72;  28.  Hoffmann,  C.  E.  E.,  1872—77;  29.  Kollmann,  Julius, 
1878.     (Näheres  bei  His  a.  a.   0.  S.   32.) 

Weitaus  ungünstiger  gestalteten  sich  schon  die  Verhältnisse  in  dem 
benachbarten  Zürich.  Dort  hat  über  Beschluss  der  Chirurgengesellschaft 
„zum  schwarzen  Garten"  deren  Mitglied  M uralt  (Johann  von,  *  1645 
18.  Febr.,  j  173>  12.  Jan.,  Chir.  et  Med.  Dr.,  promov.  in  Basel)  erst  im 
Jahre  1686  (7.  Jan. — 25.  Novbr.)  einen  Cyklus  von  43  Vorträgen  über 
die  Anatomie  gehalten.  ^ ')  Ein  anatomisches  Theater  wurde  erst  1 742  von 
Ab  egg  (H.  Jak.)  eröffnet  und  1754  in  eine  Staatsanstalt  umgewandelt. 
Unter  den  hier  wirkenden  Anatomen  seien  genannt  Burkhard  sen.  (Joh. 
Eud.,  *  1721,  t  1784,  Demonstrator  u.  Prosektor  bis  1781),  Burkhard 
jun.  (Joh.  Heinr.,  *  1752,  f  1799).  Nachdem  1782,  28.  Apr.  eine 
neue  med.  Lehranstalt  eröffnet  und  1804  zur  Krankenanstalt  erhoben  worden 
war,  trat  die  Gesellschaft  zum  Schwarzen  Garten  i.  J.  1816  von  ihrer  Be- 
einflussimg der  Anatomie  daselbst  zurück.  Unter  den  Anatomen  dieser 
Anstalt,    welche   1833    in    die    jetzige  Hochschule  überging,    verdient    einer 


'*)  Grundriss  d.  Anat.  d.  Menschen,  Leipz.  1865.  —  Die  Lage  derEin- 

feweide  des  Menschen  u.  s.  w.,  Leipz.  1863,  m.  15  Taf. ;  2.  Aufl.  Erlangen 
873  u.  d.  T.  Die  Körperhöhlen  des  Menschen  u.  ihr  Inhalt.  —  Quain- 
Hoffmann,  Lehrb.  d.  Anat.   d.  Menschen,   Erl.   1870—72;  2.   Aufl.  1877—81. 

•*)  Schüler  von  Joh.  Müller,  Th.  L.  W.  Bischoff,  in  Basel  Prof.  seit  1878,  unter 
welchem  1885,  den  28.  Mai,  eine  moderne  Anstalt,  das  Vesalianum  eröffnet  wurde. 
Atlas  der  allg.  tier.  Gewebelehre.  Nach  d.  Natur  photogr.  von  J.  Albert, 
Leipz.  1860.  —  Lehrb.  d.  Entwicklungsgesch.  des  Menschen,  Jena  1898. 
—  Handsammlung  f.  d.  Studierenden  in  den  anat.  Instituten,  Jena 
1895  (empfiehlt  d.  Einrichtung  von  Studiensälen;  vgl.  die  einschlägige  Schrift  von 
A.  Rauber,  Leipz.  1895).  —  Herstellung  der  Teichmannschen  Injektions- 
niassen.  ib.  1895.  —  Mechanik  des  mensch  1.  Körpers,  Münch.  1874.  — 
•Plastische  Anatomie  f.  Künstler  u.  Kunstfreunde,  Leipzig  1886  (über- 
trifft in  der  Auffassung,  Illustration  u.  im  Vortrag  das  ähnliche  Werk  von 
E.  Harless,  bezw.  dessen  2.  Aufl.  von  R.  Hartmann,  Stuttg.  1876). 

'")  Stammbaum  der  Familie  Plater  bei  Miescher  a.  a.  0.  Vgl.  auch 
Fechter  (A.),  Thomas  Platter  u.  Felix  Platter.  Zwei  Autobiographien.  Ein 
Beitr.  zur  Sittengesch.  des  16.  Jahrb.,  1840,  dann  *Düntzer  (Heinr.),  Thomas 
Platters  Leben,  Stuttg.,  CoUekt.  Spemann,  8",  192  S.  —  Verz.  der  Professoren  der 
Anat.  in  Basel  bei  His  a.  a.  0.  S.  32. 

*')  Vademecum  anat.,  Zürich  1677.  —  *Anat.  Collegium  gehalten 
zu  Zürich  i.  J.  Chr.,  1686,  Nürnberg  1687,  8",  775  S.,  anat.  Wortregister, 
Statuten  der  Gesellsch.,  Portr.,  originelles  Titelbl.  —  *Finsler  (J.),  Bemerkungen 
a.  d.  Leben  des  Johannes  v.  Muralt,  Zürich  o.  J.,  4°,  24  S. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.     Bd.  II.  18 


274  Robert  Ritter  von  Töply. 

Erwähnung  Hirzel  (Leonhard,  *  1799,  f  1832)  wegen  der  Untersuchungen 
über  die  Verbindung  des  N.  sympath.  mit  den  Gehimnerven.  In  den  ersten 
Jahrzehnten  der  neuen  Hochschule  fand  ein  unausgesetzter  Wechsel  der 
Anatomen  statt.  Es  wirkten  hier  1.  Demme,  Hermann,  1833 — 34; 
2.  Arnold,  Fr.,  1835—40;  3.  Henle,  Jak.,  1840—44;  4.  Engel, 
Josef,   1844—49;   5.  Ludwig,  Karl  Friedr.  Wilh.,   1849—55.18) 

Ein  weniger  erfreuliches  Bild  wie  Basel  bietet  bis  zur  Schliessung 
der  Universität  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  das  nicht  allzuferne 
Strassburg.  Hier  hatte  das  Aufblühen  einer  chirurgischen  Schule 
anfangs  des  16.  Jahrhunderts  (Brunschwigk,  Gersdorff)  zur  ersten 
Leichenöffnung  mit  öffentlicher  Demonstration  geführt.  1536  war 
ein  Gymnasium  errichtet  und  dieses  1566  in  eine  Akademie  mit 
philosophischen  Promotionen  umgewandelt  worden.  An  beiden  wurde 
auch  medizinischer  Unterricht,  der  anatomische  jedoch  im  16.  Jahrh. 
soweit  bekannt  nur  theoretisch  gelehrt.  Als  Beleg  wie  er  aufgefasst 
worden  sein  dürfte,  kann  die  Anatomie  desRyff  (Walter  Hermenius) 
vom  J.  1541  dienen.  Der  deutsche  Text  ist  oberflächlich,  die  zahl- 
reichen Illustrationen  sind  Kopien.'^*')  Anfangs  des  17.  Jahrhunderts 
macht  Salzmann  (J.  Rud.,  *  1574,  f  1656  o.  1067  2.  Dez.)^«'') 
mehrere  Dissektionen  „publice  in  collegio"  (1604,  05,  08,  09,  14). 
An  der  1621  gegründeten  Universität  bestanden  ursprünglich  nur 
2  Ordinarii  der  Medizin  (ein  theor.,  ein  prakt.).  Sie  sollten  im  Winter 
„so  sie  Gelegenheit  haben  mögen"  eine  Anatomie  halten.  Erst  nach 
weiteren  30  Jahren  wurde  als  dritte  Professorstelle  eine  Lehrkanzel 
der  Anat.  errichtet  (inaug.  1625,  25.  März).  Im  17.  Jahrh.  ist  hier 
die  Anat.  meist  mit  der  Botanik,  im  18.  (1708 — 94)  fortwährend  mit 
der  Chirurgie  verknüpft.  Begreiflicherweise  hat  die  chirurgische 
Thätigkeit  der  Lehrer  das  Interesse  für  die  Anatomie  als  Wissen- 
schaft stark  beeinträchtigt,  und  so  wurde  zwar  in  Strassburg  viel 
praktische  Anat.  getrieben  aber  ohne  literarische  Früchte  zu  erzielen. 
Das  Museum  erhielt  erst  1671  (50  Jahre  nach  Gründung  der  Uni- 
versität) ein  weibliches,  1678  ein  zweites  Skelet.  1687  hielt  Scheid 
zum  erstenmal  „Encoenia  s.  Eleusinia"  d.  h.  eine  feierliche 
16  Tage  dauernde  Demonstration  an  einer  Leiche  sowie  an  abge- 
trennten Stücken  von  4  anderen  Leichen,  überdies  an  Tierleichen 
und  wiederholte  das  Schauspiel  alljährlich  2  mal.  Der  Eifer  der 
Studenten  wurde  infolgedessen  so  gross,  dass  sie  einmal  eine  Leiche 
mittels  Nachschlüssels  aus  der  Leichenkammer  stahlen.  Regelmässige  1 
Sezierübungen  für  Studenten  eröffnete  aber  erst  S  a  1  z  m  a  n  n  (J.) ' 
1708.  Auch  Hess  er  sich  einen  Prosektor  beistellen.  Aber  die  Pro- 
sektoren waren  zünftig   und  munizipal,  sie  beuteten  die  Anat.  aus. 


**)  *Meyer-Ahrens,  Gesch.  des  medicin.  Unterrichtes  in  Zürich  von  seinem 
ersten  Anfange  bis  zur  Gründung  der  Hochschule,  Locher-Balber,  Kurze  histor. 
Skizze  der  med.  Facult.  der  Zürcher.  Hochschule  seit  ihrer  Errichtung  im  J.  1833 
bis  Ende  des  Semesters  1859/60,  Zürich  1860,  zusammen  50  S.,  4*».  —  Zwey  Reden 
üb.  die  Vorzüge  der  Zergliederungskunst  ...  von  Casp.  Hirzel  etc., 
Zürich  1782  (besprochen  in  *Blumenbach,  Med.  Bibl.,  I,  S.  416,  1783). 

^®»)  ""Des  aller  fürtrefflichsten,  hoechsten  vnnd  adlichsten  g_e- 
schoepffs  aller  Creaturen  ...  das  ist,  des  menschen  (oder  dein 
selbst)  wahrhafftige  beschreibung  oder  Anatomi  (etc.,  22  Zeilen)  1541, 
73  Bl.  fol.;  vgl.  Choulant,  Gesch.  d.  an.  Abb.  S.  55,  Wieger  a.  a.  0. 

^»'')  Dr.  in  Basel,  um  1611/12  Prof.  am  Gymnasium  u.  Stadtphysikus,  nachmals 
erster  Prof.  an  der  Universität. 


Geschichte  der  Anatomie.  275 

Salzraanns  Prosektor  M  ay  (J.  Cli.)  hat  sich  auf  diese  Art  ein  Privat- 
museum angelegt,  welches  1736.  15.  Mai  auf  3500  livres  tourn.  taxiert 
von  der  Stadt  für  die  Fakultät  gekauft,  zur  Grundlage  des  anat. 
Museums  wurde.  Das  Leichenmaterial  mehrte  sich  in  beträchtlicher 
Weise  (Winter  1725:  30,  Winter  1760:  60  Leichen),  aber  wenn  man 
von  der  Eevision  des  N.  accessorius  durch  Lobstein  sen.  i.  J.  1760 
absieht,  nicht  entsprechend  ausgenützt.  Nichtsdestoweniger  hatte 
die  Strassburger  Anatomie  wegen  der  Gelegenheit  zu  arbeiten  einen 
guten  Ruf,  Göthe  besuchte  die  Vorlesungen  von  Lobstein  und  die 
Strassburger  Schule  hat  eine  ganz  beträchtliche  Zahl  von  Lehrkanzeln 
in  Deutschland  versorgt.  Salzmann  (J.)  hat  aus  der  Menge  seiner 
Schüler  allein  5  Professoren  der  Anat.  geliefert. 

Professoren    der    Anatomie    in    Strassburg   von    der  Er- 
richtung der  Lehrkanzel    bis  zur  Gründung    der  TJniversite 
de  France  (1652  10.  März  bis  1808   7.  März).    1.  Sebiz  fil.  (Jo.  Albert., 
Melchioris  II,  fil.  *  1614,  7  85  8.  Febr.),  Anat.  1652—84,  Bot.  1652—74 
(Schüler:  Brunn  er,  Job.  Conr.,  Prof.  anat.  in  Heidelb.  1687;  Zwinger, 
Theod.,    *   1658,    Prof.    anat.    in    Basel    1703—11).    —    2.    Scheidt  (Jo. 
Yalent.,  *   1651,  f   1731),  Anat.,  Chirurg.  1685— 90  (Schüler:  Zwinger, 
Jo.  Rud.,    *   1692,    Prof.    anat.    in    BaseF  1721— 24).    —    3.  Sebiz    nep, 
(Melchior  III.    Alberti   fil.,    *  1664    18.  Febr.,    f  1'02    13.  Nov.),  Anat., 
Bot.    1690—1702.    —    4.    Henninger    (Jo.    Sigism.,    *   1667,    f    1719 
27.  Sept.).  —  5.  Salzmann  (Jo.,  *  1679,  f  1738  4.  Febr.,  Anat.,  Chir. 
1708—34.  —  6.  Nicolai  (H.  A.,  Neffe  des  Sebiz,  *  1701,  f  33).     Starb, 
|nachdem    er    durch    8    Tage    seine    erste    solenne    Anat.    abgehalten    hatte. 
(Schüler  von  Salzmann  und  Nicolai:  Albrecht,  Jo.  Wilh.,  Prof.  anat.  in 
[Göttingen  1734—36;    Wein,   J.  Nie,    *  1702,    f  83,  Prof  anat.  et  chir. 
[in  Altdorf  1732—36;    von  Bergen,  Karl  Aug.,  *   1709,  Prof.   anat.    et 
Ibot.    in   Frankf.    a.   0.   1738 — 44    als    Nachfolger    seines  Vaters;    Hub  er, 
Ijoh.  Jac,    Hallers  Prosektor    in  Göttingen,    lehrte    hier  Bot.    und  einzelne 
iKapitel  der  Anat.   1736 — 42,  dann  Prof  am  Gymnasium  in  Cassel;  Fabri- 
|cius,   Phil.   Conr.,    *   1714,    f  74,    Prof.  anat.,  physiol.,  pharm,  in  Helm- 
gtädt  1748.     Idea  anat.  pract.,  Wetzl.  1741,  Methodus  cadavera  rite  secandi. 
id.  2  auct.   1774,    deutsch  von  Schröder,  Kopenh.    1776).    —    7.  Eisen- 
lann  (Georg  Heinr.,  *  1693   18.  Nov.,  7  1768  20.  Sept.),  Enkel  mütter- 
icherseit    des    Sebiz.      Anat.,    Chir.    1734    6.   Okt. — 1756     (Schüler    durch 
irze  Zeit:   Sigwart,    Georg  Friedr.,  *   1711,    ■{-  95,  Prof.  anat.   et  chir. 
^in  Tübingen  1753  als  Nachfolger  von  Mauchard).  —  8,  Boeckler  (Phil. 
Heinr.,    *  1718 — 59,    Schüler   von  Ferrein,    Winslow,    Lieutaud),    Anat.  et 
Chir.  1756—59.    —    9.    Pfeffinger   (Jo.,    *  ?,    7    1782),    Anat.,    Chir. 
1759 — 68  8.  Jun.  (Schüler  von  Morand  in  Paris,  von  Eisenmann  gedrückt, 
durch  Lobstein  vom  Lehrstuhl  verdrängt).  —   10.  Lobstein  (Jo.  Frid.  sen., 
*   1736  30.  Mai,  f  84  11.  Okt.,  Schüler  von  Albinus),  Anat.,  Chir.   1768— 
82.     Diss.  de  n.  spinali  ad  par  vagum  accessor.   1760  m.  Abb.  u.  Zusätzen 
üb.  Venenanomalien  (Schüler:  Meckel,  Phil.  Frid.  Theod.,  *  1756,  f  1803. 
In  Halle  Prof.  anat.  et  chir.   1779;  Metzger,  Jo.  Daniel,  *  1739  7.  Febr., 
t  1805,    Prof.  med.    in    Königsb.    i.  Pr.   1777,    las    über  Anat.,   Physiol., 
PathoL,  Chir.,  ger.  Med.).  —    11.  Roederer  (Jo.  Mich.,    *   1740,  f  98), 
zum    Lehrstuhl    der    Anat.    berufen    1783    23.   Okt.,    wies    das   Anerbieten 
zurück,    hält  dennoch  seine  Inauguralrede   1784  27.  Jan.,    tauscht  aber  mit 
Lauth.    —    12.    Lauth    (Thomas,    *  1758    29.  Aug.,    f    1826    19.  Sept., 
Schüler  von  Lobstein,  Desault,  Hunter,  Adjunkt  von  Roederer),  Demonstr. 

18* 


276  Robert  Ritter  von  Töply. 

d.  Anat.  1784,  Prof.  anat.  Chir.  1785,  als  Prof.  d.  Anat.  an  die  J&cole  de 
santö  übernommen  1794  21.  Dez.  Myologie  et  syndesraologie  1798,  deutsch 
von  J.  8.  Klupsch,  Halle  1805,  mit  viel  Litteraturnachweisen,  *Hi8t.  de 
l'anat.,  Strassb,  1815,  4*^,  1  vol.,  reicht  bis  Bartholin  1671.  Die  ficole 
de  sante  wurde  1802  in  die  Ec.  speciale  de  med.  umgewandelt  und  1808 
durch  die  medizinische  Fakultät  der  neuerrichteten  Universität  ersetzt. 
Daneben  wurde  1856  die  Ec.  imp.  du  service  de  sante  militaire  organisiert, 
aber  erst  1864  errichtet.  An  der  Universität  wirkten:  Lobstein  (J. 
Friedr.,  *  1777  8.  Mai,  f  1835  7.  März),  Chef  des  travaux  anat.  1804, 
Gründer  des  path.-anat.  Museums,  durch  Cuvier  der  erste  Prof.  der  path. 
Anat.  in  Frankr. ;  Ehrmann  (Ch.  H.,  *  1792,  f  1878),  Prosektor  1818, 
Prof.  der  normalen  u.  pathol.  Anat.,  Dir.  d.  anat.  Museums  bis  1862, 
auch  10  Jahre  hindurch  Lehrer  an  der  Hebammenschule;  Lauth  (Gustave, 
*  1793  9.  Mai,  f  1817  13.  Apr.),  älterer  Sohn  des  Thomas  L.,  Prosektor; 
Lauth  (Ernest  Alex.,  *  1803  14.  März,  f  37  März),  Prof.  d.  Physiol. 
1836.  Manuel  d'anat.,  Strassb.  1829;  2e  ed.  1835,  7  pl. ;  deutsch  Stuttg. 
1835,  36,  2  Bde.  Mem.  sur  le  testicule,  Mem.  de  la  Soc.  d'hist.  nat., 
Strassb.,  T.  I,  1832.  üdoge  p.  Ehrmann,  seance  publ.  de  la  Fac.  de  med. 
1837  m.  Bibliogr.;  Küss  (Emile,  *  1815  o.  16,  f  1871  1.  März),  Schüler 
von  Alex.  Lauth,  Chef  des  trav.  anat.,  dann  Prof.  d.  Physiol. ;  Michel 
(Eugene,  *  1819,  f  83  30.  Apr.),  Chef  des  trav.  anat.,  seit  1855  Prof. 
de  med.  operat. ;  Morel  (Ch.  Basile,  *  1823,  -f  84  18.  Jan.,  Prosektor, 
Chef  des  autopsies.  1867  12.  Dez.  Prof.  d.  norm.  u.  pathol.  Anat. 
Manuel  d'histol.  norm,  et  path.  m.  Zeichnungen  von  Villemin.  Zog  1872 
nach  Nancy.  —  (Lobstein  u.  "Wieger  a.  a.  0.  enthalten  manche  Unrichtig- 
keiten. Sie  sind  in  dieser  Uebersicht  richtig  gestellt  und  die  Daten  be- 
züglich der  Lehrthätigkeit  der  älteren  Anatomen  nach  Thunlichkeit  in  Ein- 
klang gebracht.  Eine  urkundliche  Revision  wäre  angezeigt.  Ueber  die 
Anatomen  der  Kaiser  Wilhelms-Universität  s.  im  Folgenden.)  ^^) 

Im  Norden  Deutschlands,  an  der  zu  Kiel  i.  J.  1665  eröffneten 
Universität,  beginnt  der  medizinische  Unterricht  im  selben  Jahre  mit 
zwei  Professoren  (einer  für  praktische,  der  andere  für  theoret.  Medizin). 
Erst  1691  gesellte  sich  hinzu  als  Prof.  der  Anat.  und  Botanik  Wald- 
schmidt  (Wilh.  Huldericus,  *  1669,  f  1731  12.  Jan.).-i)  In  der- 
selben Eigenschaft  wirkte  Lischwitz  (Joh.  Christoph,  *  1693 
8.  Febr.,  f  1743  26.  Aug.),- ^)  neben  ihm  eine  kurze  Zeit  Burchardi 
(Christoph  Martin,  *  1680  1.  April,  f  1744  14.  Dez.).^^')  Es  tritt 
dann  ein  bedenklicher  öOjähriger  Stillstand  ein.^*)  Am  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  vereinigt  die  Prof.  der  Chir.  und  Anat.  Fischer 
(Joh.  Leonh.,  *  1760  19.  Mai,  f  1833  8.  März),^»)  ebenso  dessen  Nach- 


20)  *Lobstein  (Ed.),  J.  Fr.  Lobstein  sen.,  Heidelberg  1880,  94  S.  (enthält  auch 
einen  histor.  Rückblick  auf  die  med.  Fakultät.  —  *  Wieg  er  (Friedr.),  Gesch  d.  Med. 
u.  ihrer  Lehranstalten  in  Strassb.  1497—1872,  Strassb.,  173  S.  M.  Illustr.  zur  älteren 
Gesch.  d.  anat.  Abbildung. 

")  1691  Dr.  med.  u.  o.  Prof.  d.  Anat.  u.  Bot.,  seit  1697  auch  o.  Prof.  d. 
Experimentalphysik  in  der  philos.  Fakult.  Der  hier  1695—1716  als  erster  Prof.  der 
Med.  wirkende  Schelhammer  (Günther  Christoph,  *  1649  13.  März,  f  1716 
11.  Feh.)  war  seit  1689  Prof.  d.  Anat.,  Chir.,  Bot.  in  Jena  gewesen. 

22)  Seit  1732  o.  Prof.  d.  Anat.  u.  Bot. 

2»)  1708—16  a.  0.  Prof.  d.  Anat.  u.  Pathol.  in  Kiel,  dann  o.  Prof.  in  Rostock. 

«*)  Während  deren  nur  Weber  (Georg  Heinr.,  *  1752  27.  JiiU,  f  1828  7.  JuU; 
in  Kiel  1777  a.  o.  Prof.  d.  Medizin  u.  Prosektor,  1780  o.  Prof.  d.  Med.  u.  Bot.  u.  s.  w.) 

2^)  1786  Prosektor  in  Leipz.,  1789  Dr.  med.  u.  a.  o.  Prof.  das.,  1794  o.  Prof.  d. 


Geschichte  der  Anatomie.  277 

folger  Deckmann  (Christian  Gottlieb,  *  1798  8.  April,  j  1837, 
24.  Feb.).-**)  Erst  1837  wird  die  Anat.  von  der  Chirurgie  getrennt 
und  mit  der  Physiologie  vereinigt.  Sie  findet  so  ihre  Vertreter  in 
Behn  (Wilh.  Friedr.  Georg,  *  1808  25.  Dez..  f  1878  14.  Mai),^^)  um 
endlich  1867  auch  von  dem  Ballast  der  Physiologie  frei  zu  werden. 
Nun   erst  entfaltet  sie  sich   zu  voller   Blüte   unter  Kupffer  (Karl, 

*  1829  14.  Nov.,  t  1902  im  Dezember)-*)  und  Flemming  (Walther, 

*  1843  21.  April).^^)  Im  J.  1885  gesellt  sich  ein  eigener  Vertreter 
der   Entwicklungsgeschichte   hinzu.    Graf   von    Spee    (Ferdinand, 

*  1855  5.  April).  =5" 

Aehnliches  wie  in  Basel,  Zürich,  Kiel,  lässt  sich  auch  an  anderen 
Orten  verfolgen  (s.  z.  Tl.  im  Nachfolgenden).  Das  Gesamturteil 
lautet  dahin:  bis  zum  18.  Jahrhundert  ist  das  Studium  der  Anatomie 
in  Deutschland  unverhältnismässig  tief  darniedergelegen.  Einzelne 
Ausnahmen  bilden  die  bei  genauerem  Zusehen  allerdings  nicht  allzu 
hoch  anzuschlagenden  Felix  Plater  d.  Ae.  und  Bauhin  (Caspar), 
der  bis  zur  kritischen  Untersuchung  Portals  als  Anatom  vielfach 
überschätzte  Alberti  (Salomon,  *  1540  zu  Naumburg,  nicht  zu 
Nürnberg,  j  1600  28.  März),^^'')  der  in  seinem  unscheinbaren,  mit 
gräulichen  Holzschnittkopien  nach  Vesal  ausstaffierten  Handbüchlein 
die  Venenklappen,  sowie  die  sog.  Wormschen  Knochen  erwähnt,  auch 
eine  Sonderabhandlung  über  den  Thränenapparat  verfasst  hat,^^^^) 
der   Jenenser    Anatom    Eollfink    (Werner,    Guernerus    Eolfincius, 

*  1599  15.  Nov.,  .t  1673  6.  Mai),=^-*)  Begründer  eines  anat.  Theaters 


Chir.  u.  Anat.  in  Kiel.  1802  Archiater  u.  Mitdirektor  der  akad.  Krankenanst.  i.  d. 
Prüne,  1810  Etatsrat,  Neujahr  1832  emer. 

>"*)  1829  a.  0.  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.,  auch  Prosektor,  1833  o.  Prof.  u.  Direktor 
des  Friedrichshosp. 

*^)  1837  a.  0.  Prof.  d.  Anat.  u.  Physiol.  u.  Direktor  des  zoolog.  Museums, 
1848—67  0.  Prof. 

2»)  Schüler  von  Bidder,  1867  17.  Sept.  o.  Prof.  d.  Anat.  in  Kiel,  Ostern  1878 
Prof.  in  Königsberg,  1880—1902  Prof.  in  München;  s.  im  Folgenden. 

2^)  Schüler  von  F.  E.  Schulze,  W.  Henke,  W.  Kühne,  C.  Semper,  Assistent  der 
drei  letzteren  1868—72,  1873  erster  Prosektor  bei  Henke  u.  a.  o.  Prof.  in  Prag,  seit 
1876  5.  Feb.  o.  Prof.  d.  Anat.  in  Kiel,  s.  im  Folgenden. 

*")  Schüler  von  Hensen  u.  Flemming,  1885  Privatdoz.  f.  Embryologie  u.  physiol. 
Anat.,  seit  1887  etatsmässiger  Prosektor  am  anat.  Instit.  zu  Kiel,  1892  Prof.  e.  o. 
das.,  1898  etatsmässig  als  solcher.  Schriftenverz.  in  Pageis  Lex.  S.  1627.  —  Vgl. 
*Volbehr  (Friedr.),  Professoren  u.  Dozenten  der  Christian- Albrechts-Universität  zu 
Kiel  1665—1887.  Beil.  zur  Chronik  der  Univers.  Kiel  1886/87,  Kiel  1887.  8  «,  102  S. 
—  Vom  selben  Verf.:  Beiträge  zur  Gesch.  der  Chr.-Albr.-Univ.  zu  K. :  Die  drei  Uni- 
versitätsgebäude von  1665,  1768,  1876,  die  Frequenz  der  Univers,  von  1665—1876, 
m.  4  lithogr.  Abb.,  Kiel  1876;  die  Einweihungsfeier  des  neuen  Univers.-Gebäudes 
zu  K.,  24.-26.  Okt.  1876,  m.  2  lithogr.  Abb.,  Kiel  1876 ;  Graph.  Darstellungen  nebst 
Erläuterungen:  1.  der  Frequenz  der  Chr.-Albr -Uuivers.  von  1800—83,  2.  der  Imma- 
trikulationen von  1665—1883.  3.  der  Frequenz  der  med.  Fakult.  von  1863—85, 
4.  der  Freq.  der  philos.  Fakult!  von  1863—86  in  „Chronik  der  Universität"  f.  188283 
bis  1885/86. 

»'»)  Seit  1570  in  Wittenberg,  hier  1573—92  Prof.,  anfänglich  der  Physik,  später 
auch  der  Med.,  dann  kurfürstl.  Leibarzt  in  Dresden. 

'"•)  Historia  plerarumque  partium  hu  m.  corporis.,  in  usumtyron., 
Viteb.  1,583,  8°;  *1585,  S",  121  pag.  u.  1  BL;  1601,  8°;  1602,  8»;  1630,  8°.  —  De 
lacrymis,  Viteb.  1581,  4"  (auch  bei  Haller,  Diss.  anat.  IV,  57  sq.). 

'*•)  Mütterlicherseits  Neffe  von  Schelhammer,  stud.  in  Wittenberg  u.  Leyden, 
bereiste  England,  Frankreich,  Italien,  dozierte  die  Anat.  in  Venedig,  promov.  1625 
in  Padua,  lehnte  1628  eine  Berufung  nach  Padua  ab,  erhielt  den  Lehrstuhl  der 
Anat.  in  Wittenberg,  wurde  1629  Prof.  d.  Anat.,  Chir.,  Bot.  in  Jena,  hier  überdies 
1641  Prof.  d.  Chemie.    Vgl.  *  Witten,  Mem.  med.  1676,  pag.  161,  seq. 


278  Robert  Ritter  von  Töply. 

in  Jena,  wiederholt  an  den  Weimar.  Hof  beschieden,  um  dort  eine 
festliche  Leichenzergliederung  vorzunehmen  (vgl.  die  ähnlichen  Be- 
friedigungen höfischer  Schaulust  in  Rudolstadt,  Kopenhagen,  Schwe- 
den u.  s.  w.),  unter  dem  gemeinen  Volk  aber  berüchtigt  (rolfinken  = 
Leichendiebstahl  zu  anat.  Zwecken ;  vgl.  Resurrektionismus  unter  Knox 
in  England),^-'')  Rollfinks  Vetter  Schelhammer  d,  Ae.  (Christoph, 

*  1620  15.  April,  f  1652  21.  Jan.),"=')  dessen  Sohn  Schelhammer 
d.  J.  (Günther  Christoph,  *  1649  13.  März,  f  1716  11.  Feb.),«^)  Vater 
und  Sohn  gleich  berühmt,  jedoch  ohne  besonderen  Erfolg  für  die 
anat.  Wissenschaft,  die  Praktiker  Schneider  (Conrad  Victor,  *  1614, 
•f  1680)^**)  Entdecker  der  „Schneiderschen  Membran"  und  Vernichter 
der  Galenschen  Lehre  vom  Herabfliessen  (Katarrh)  des  Schleims 
aus  dem  Gehirn,  =^^^)  Wepfer  (Joh.  Jac,  *  1620  23.  Dez.,  f  1695 
28.  Jan.),'^**)  ein  genauer  Kenner  des  Karotidenbereichs  und  der  Ver- 
ästelung der  Hirnhautarterien,  Brunner  (Joh.  Konr.  Brunn  von 
Hammerstein,  *  1653  16.  Jan.,  f  1727  2.  Okt.),^'^)  Entdecker  der 
nach  ihm  benannten  Drüsen  im  Duodenum  des  Menschen  und  des 
Hundes,  demonstriert  durch  Kochen  des  Darms,  bezw.  durch  üeber- 
giessen  mit  kochendem  Wasser, •^'^)  Peyer  (Joh.  Conrad,  *  1653 
26.  Dez.,  t  1712  29.  Feb.),=*«*)  Entdecker  der  nach  ihm  benannten 
Dünndarmfollikel,^^'')  Hof  mann  d.  Ae.  (Moritz,  *  1621  20.  Sept., 
t  1698  22.  April),  "^)  Entdecker  des  Ductus  pancreaticus  beim  Trut- 
hahn (1641,  doch  hielt  er  ihn,  wie  auch  später  Wirsung  denselben 
Gang  noch  beim  Menschen,  für  ein  vom  Darm  in  das  Pankreas  ein- 
tretendes Chylusgefäss),  dessen  Sohn  Hof  man  nd.  J.  (Johann  Moritz, 

*  1653  6.  Okt.,  t  1727  31.  Okt.),^«)  Wirsung  (Georg,  *  ?,  f  1643 
22.  Aug.  meuchlings  erschossen;  Veslings  Prosektor  in  Padua),  Ent- 


32b')  *i)iggej.tatione8  anat.  .  .  sex  libris  compreh.  .  .  ad  circula- 
tionem  accomodatae,  Norib.  1656,  4**,  1303  pag.!  (I.  de  nobilitate,  dignitate, 
addiscendi  anatomicam  artem  modo,  IL  de  ossib.,  III.  de  musculis,  IV.  de  nervis, 
V.  de  venis,  VI.  de  arteriis).  —  Diss.  de  Hepate,  Jenae  1653,  4°.  —  *Diss.  de 
corde  ...  ad   circulat.  accommod.,  Jenae  1654,  4",  100  p. 

*")  Stud.  unter  Rollfink,  dann  im  Ausland,  prom.  1643  in  Basel,  seit  1643  Prof. 
d.  Anat.  u.  Chir.  in  Jena. 

'*)  5  Jahre  auf  wissenschaftl.  Reisen  im  Auslande,  1679  Prof.  d.  Physiol.  u. 
1680  der  Pathol.  u.  Bot.  in  Helmstädt,  1689  Prof.  d.  Anat.,  Chir.,  Bot.  in  Jena,  seit 
1695  erster  Prof.  d.  Med.  in  Kiel. 

'"^*)  Seit  1639  Prof.  in  Wittenb.,  später  auch  Leibarzt  des  Kurfürsten  v.  Sachsen. 

3»")  De  catarrhis  libri  IV,  Viteb.  1660—64,  4  ".  ~  VgL  Marx  in  Abh.  der 
Götting.  Societ.  d.  Wissensch.  1874,  Bd.  19,  S.  1—49. 

^''")  Stadtphysikus  in  Schaffhausen,  Leibarzt  mehrerer  Fürsten. 

3-aj  Wepfers  Schwiegersohn,  nur  1687  o.  Prof.  in  Heidelb.,  dann  Leibarzt  des 
Kurfürsten  v.  d.  Pfalz. 

*'*')  De  glandulis  in  duodeno  intestino  detectis,  Heidelb.  1687,  4**; 
Schwabach  1688,  4";  Francof.  1715,  4°. 

^*')  Stud.  in  Basel  u.  Paris,  hier  unter  Duverney,  war  in  Schaffhausen  Arzt, 
Prof.  der  Rhetorik,  Logik,  Physik. 

*"'')  Exercit.  anat.  med.  de  glandulis  intestinor.,  Schaffhaus.  1677; 
auch  in  Hanget  Biblioth.  u.  in  Parerga  anat.  et  med.  etc.,  Amst.  1683,  Leyd.  1722. 

"»)  Stud.  1641—44  in  Padua.  war  Veslings  Schüler,  lebte  1644—98  in  Altdorf, 
hier  1648  Prof.  extr.  der  Anat.  u.  Chir.,  u.  1649  o.  Prof.  d.  Med.,  seit  1653  auch 
der  Bot. 

*o)  Stud.  Med.  in  Altdorf,  Frankf.  a.  0.,  Padua,  in  Altdorf  1677  Prof.  e.  o.  d. 
Anat.,  1681  Prof.  o.,  seit  ca.  1686  auch  der  Chemie  u.  Bot.,  gab  1709  d.  Anat.  auf, 
behielt  bis  1713  die  Professur  der  Arzneimittellehre,  d^nn  Leibmedikus  des  Mark- 
grafen V.  Ansbach.  *Dissertationes  ...  ad  ...  Joh.  van  Home  .  .  . 
Microcosmum  .  . .  c.  notis  Joh.  Swammerdamii  etc.,  Altdorffi  Noricor.  1685, 
4  0,  328  pag. 


Grescbichte  der  Anatomie.  279 

decker  des  Duct.  pancreat.  beim  Menschen,*^)  Meibom  d.  J.  (Heinrich, 

*  1638  29.  Juni,  f  1700  26.  März),"-^)  Entdecker  der  ,.Meibomsclien 
Drüsen"'  der  Augenlider.*-'') 

Der  erste  deutsche  Anatom,  der  die  Anatomie  gründlich  und 
ihrem  ganzen  Umfange  nach  bearbeitet  hat.  ist  Heister  (Lorenz, 
''  1683  19.  Sept.,  f  1758  18.  April).-'^^^)  Sein  anat.  Kompendium,  1715 
angefangen  und  1717  vollendet,  fusst  in  der  Anlage  auf  dem  damals 
beim  akademischen  Unterricht  gebräuchlichsten  Buch  des  Verheyen, 
doch  ist  der  Stoff  kritisch  gesichtet,  knapp  aber  übersichtlich  an- 
geordnet und  mit  Literaturnachweisen  reichlichst  versehen,  so  dass 
es  zum  beliebtesten  Handbuch  während  der  ersten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  und  darüber  hinaus  geworden  ist  und  das  ältere, 
ursprünglich  sehr  beliebte  Syntagma  des  Yesling  (1.  Aufl.  1641)  so- 
wie die  jüngere  Anatomie  von  Verhejen  (1.  Aufl.  1698)  verdrängt 
hat.*^'')     Der   Heisterschen  Zeit   gehört    Cassebohm   (Joh.    Friedr., 

*  1699  0.  1700,  t  1743  7.  Feb.)**^)  an.  Er  vervollständigte  die 
Untersuchungen  von  Valsalva  (1666—1723)  über  das  Gehörorgan 
durch  die  Darstellung  der  embryonalen  Entwicklung  und  die  Be- 
schreibung des  Spiralblatts  der  Schnecke  und  gab  ein  Handbuch 
der  praktischen  Zergliederungskunst,  welches  als  Anleitung  für  das 
Studium  im  Präpariersaal  betrachtet,  weitaus  eingehender  ist,  als  der 
ältere  „Culter  anatomicus"  von  Lyser  (1.  Aufl.  1653)  oder  die  beinahe 
gleichzeitige    „Anthropotomie"   von  J.-J.  Sue   (1.  Ed.  1750,  *  2.  Ed. 

»1765).**'')  In  Tübingen  wirkten  zur  selben  Zeit  Duvernoy  (Johann, 
*  1691,  t  1759).*^^)  Er  hatte  dort  aber  mit  Armut,  Missgeschick 
nnd  Leichenmangel  derart  zu  kämpfen,  dass  er  Hunde  zum  anat. 
Studium  verwenden  musste  und  nach  Eussland  ging,  wo  sich  ihm  an 
**)  Figura  ductus  cujusd.  cum  multiplicibus  suis  ramulis  noviter 
in  pancreate  in  diversis  corporibus  hum.  observatis,  Päd.  1642,  fol. 
min.;  vgl.  Choulant,  Gesch.  d.  anat.  Abb.  S.  91,  Graph.  Incun.  S.  147,  Joh.  Mor. 
Hofmann,  Idea  machinae  hum..  Altd.  1703.  4  °. 

"•)  Seit  1664  Prof.  d.  Med.  zu  Helmstädt,  dazu  seit  1678  Prof.  der  Gesch.  u. 
Dichtkunst. 

*^^)  De  vasis  palpebrar.  uovis,  Heimst.  1688,  4°. 

*''")  Schüler  von  Kuysch,  Albinus,  Boerhaave,  1709  auf  Empfehlung  von  Euysch 
Oberarzt  im  holländ.  Heere,  1710  Prof.  d.  .\nat.  u.  Botanik  zu  Altdorf,  1720  Prof. 
der  Chir.  in  Helmstädt.  hier  noch  dazu  1730  Prof.  d.  Bot. 

*"^)  Compeudium  anatomicum.  Altdorf  1717,  4°;  1719;  1727;  1732; 
Venedig  17.30;  Amsterd.  173(J;  Yienn.  1761,  8";  mehrere  deutsche,  engl.,  franz. 
Uebers.,  darunter  deutsch  nach  der  5.  lat.  Aufl.  dargest.  von  Clauder  (Gabr.  Fried.), 
*Nürnb.  1756,  8»,  410  S.  m.  Portr.,  9  Tai,  Verl.  G.  Christoph.  Weber.  Die  sog. 
♦Nürnberger  Ausg.  von  1770  ist  keine  Neuauflage,  sondern  die  eben  genannte,  nur 
ist  die  Fusszeile  des  Titels  mittels  Ueberklebung  in  „Verlegts  Johann  Paul  Krausz, 
1770"  verändert.  Die  Vorrede  Heisters  ist  eine  ausführliche  und  scharfe  Kritik  der 
Oberflächlichkeit  Verhevens. 

**")  Schüler  von  Winslow  in  Paris,  Prof.  d.  Anat.  in  Halle  1738,  in  Berlin  1741, 
8.  Novb. 

"'')  Diss.  de  aure  interna,  Francof.  ad  Yiadr.  1730,  4°.  —  *Tractatus 
qnatuor  anat.  des  aure  hum.  tribus  figurar.  tabulis  illustr.,  Halae 
Magd.  1734,  4**,  84  pag. ;  *Tract.  qu intus  .  .  cui  acced.  tract.  sextus  .  .  c. 
trib.  figurar.  tab.  et  indice  .  .,  Hai.  Magd.  1735,  4°,  64  pag.  (die  Titelangabe 
bei  Haeser,  Lehrb.,  3.  Bearb.  2.  Bd.,  1881,  S.  556  ist  demgemäss  richtig  zu  stellen). 
-  Methodus  secandi  musculos  et  meth.  sec.  viscera,  Hai.  1740,  8**; 
'leutsch  1740,  8".  —  Methodus  secandi  o.  deutliche  Anweisung  zur  anat. 
Betrachtung  u.  Zergliederung,  Berl.  *1746,  8«,  664  S.;  1769,  8".  —  Kritische 
.Sichtung  der  biogr.  Daten  bei  •'Waldeyer  (Wilh.),  Zur  Gesch.  des  anat.  Unter- 
richts in  Berlin,  Berl.  1899,  8  »,  48  S. 

**•)  Hallers  Lehrer  der  Anat.  in  Tübingen,  in  Petersburg  1725 — 41. 


Robert  Ritter  von  Töply. 

der  Akademie  der  Wissenschaften  das  reichste  Material  bot,  sodass 
er  dort  sonst  ungewöhnliche  Beobachtungen  vornehmen  konnte  und 
u.  A.  feststellte,  dass  die  in  Sibirien  gefundenen  Riesenknochen  nicht 
dem  Elephanten,  sondern  dem  Mammuth  angehören. *'^^)  Sein  Schüler 
Weit  brecht  (Josias,  *  1702  2.  Okt.,  f  1747  8.  Feb.)*«»)  ist  durch 
eine  grundlegende  Bänderlehre  verdient.  Indes  ist  diese  nicht  auf 
dem  damals  recht  sterilen  Boden  Deutschlands,  sondern  auf  dem 
weitaus  fruchtbareren  der  Petersburger  Akademie  der  Wissenschaften 
gewachsen.  ^•"')  Unter  ähnlichen  misslichen  Verhältnissen  wie  Duver- 
noy  in  Tübingen,  litt  in  Göttingen  Albrecht  (Joh.  Wilh.,  *  1703 
17.  Aug.,  f  1736  7.  Jan.).*'*)  Er  hiess  nur  der  Menschenschinder 
und  fand  kaum  Jemanden  zur  Bedienung.*"')  Eine  historische  Be- 
deutung hat  Cos ch Witz  (*  1679,  f  1729  8.  Mai),*«'')  nicht  so  sehr 
durch  die  Erbauung  des  ersten  anat.  Theaters  in  Halle,  als  durch 
eine  Reihe  vorgeblicher,  aber  als  unrichtig  erwiesener  Entdeckungen, 
welche  allerdings  kein  solches  Aufsehen  erregt  haben,  wie  ehemals 
die  des  Ludw.  de  Bils.  Seine  Klappen  in  den  Ureteren  waren  ein- 
fache Faltungen  der  Schleimhaut,  sein  hartnäckig  verteidigter 
Speichelgang  nur  Venen.***^)  Gegen  diese  Entdeckung  wendeten  sich 
Heister,  Walther  (Aug.  Friedr.),  Duvernoy  (J.  G.),  schliesslich 
des  letzteren  Schüler  Hai  1er,  und  zwar  dieser  schon  im  März  1725 
als  17  jähriger  Student  in  öffentlicher  Disputation.  Das  war  das 
erste  Aufleuchten  einer  neuen  Zeit. 

Ha  11  er  (Albrecht  von,  *  1708  8.  Okt.,  f  1777  12.  Dez.)*»*)  hat 
nicht  nur  die  Universität  in  Göttingen  (gegründet  1733)  auf  eine 
ungeahnte  Höhe  gehoben,  sondern  seiner  ganzen  Zeit  den  Stempel 
seiner  Eigenart  aufgeprägt.  Sein  anat.  Hauptwerk  vervollständigt 
die  von  Winslow  und  Albinus  gegebene  Darstellung  der  Knochen 
bezw.  Muskeln  durch  die  des  Gefässsystems,*»'')  seine  Sammlung  ana- 
tomischer Disputationen  vereinigt  so  ziemlich  alle  kleineren  bis  zum 


**")  Schriftenverz.  bei  Pekarsky  (P.),  Gesch.  d.  Akad.  d.  Wissensch.  zu 
Petersb.,  Tl.  I,  Petersb.  1870,  pa^.  174—180. 

*"*)  Kam  1725  mit  Duvernoy  als  „Student  der  Akad."  nach  Petersburg,  war 
Ajdunkt  f.  Anat.,  seit  1731  o.  Akademiker  f.  Physiol. 

*•'')  Syndesmologia,  Petersb.  1741;  franz.  Paris  1752;  deutsch  Strassb.  i.  E. 
1779.  —  Vgl.  Pekarsky  a.  a.  0.  S.  468  u.  f. 

*■»)  1730  a.  0.  Prof.  in  Erfurt,  1734  o.  Prof.  d.  Anat,  Chir.,  Bot.  in  Göttingen, 
Hallers  Vorgänger  das. 

*''')  Meiners,  Gesch.  u.  Beschr.  von  Göttingen,  Berl.  1801,  S.  115. 

*^")  In  Halle  1716  a.  o.  Prof.  d.  Med.,  1718  in  Bevorzugung  gegen  den  tüchtigeren 
Heinr.  Bass  o.  Prof.  d.  Anat.,  las  in  d.  Folge  über  Bot.,  Anat.,  Chir.,  Medizin,  Er- 
bauer des  ersten  anat.  Theaters  das. 

"'')  De  valvulis  in  ureteribus  repertis,  Halle  1723,  4  <>.  —  Ductus 
salivalis  novus  .  .  nuperrime  detectus  et  publico  adjectis  figuris 
aeneis  exhibitus,  Halle  1724,  4<*.  —  Continuatio  observationum  de 
ductu  saliv.  novo,  Halle  1729,  4".  —  Vgl.  Förster  (J.  Gh.),  üebersicht  der 
Gesch.  der  Univers,  zu  Halle  in  ihrem  ersten  Jahrb.  1794,  8". 

*»»)  Weiht  in  Bern  1734  das  neue  anat.  Theater  ein,  1736—53  Prof.  d.  Anat. 
u.  Physiologie  in  Göttingen,  wo  er  schon  1738  in  einem  neuerrichteten  anat.  Theater 
seine  Zergliederungen  begann. 

*»'')  *Icones  Anat.,  Gotting.  1756,  fol.,  Fase.  I  Diaphragma,  med.  spin., 
vagina  uteri,  Omentum  et  cranii  basis  1743;  Fase.  II  Art.  maxill.,  thyreoid.  inf., 
coeliac.,  Uterus  1745;  Fase.  III  Artt.  capit.,  thorac,  mesenterii,  renum  1747; 
Fase.  IV  Foramen  ovale,  nares  int.  et  vasa  pelvis  1749;  Fase.  V  Artt.  pedis  1752; 
Fase.  VI  Artt.  pect,  et  brachii  1753;  Fase.  VII  Artt.  cerebri,  med.  spin.,  oculi  1754; 
Fase.  Vni  Artt.  tot.  corp.  systema  c.  supplem.  ad  descr.  vasor.  17oi3.  —  *  Opera 
minora,  T.  I— III,  Laus.  1762—68,  4»,  m.  Kpf. 


Geschichte  der  Anatomie. 


281 


Jahre  1750  erschienenen  Abhandlungen,  bildet  daher  eine  für  den 
Historiker  höchst  wertvolle  Urkundensammlung','*'*'')  die  ,.Bibliotheca 
anatomica"  ist  eine  noch  heute  brauchbare  Bibliographie  und  Ge- 
schichte der  Anatomie.^^^)  Seine  hauptsächlichsten  Leistungen  auf 
dem  Gebiete  der  Anatomie  sind:  Nachweis,  dass  der  1724  von  Co  sch- 
witz (Georg  Daniel,  *  1679,  f  1729)  entdeckte  angebliche  Speichel- 
gang eine  Vene  ist,  *^^)  Untersuchung  der  Respirationsmuskeln  und  zwar 
eingehendere  Beschreibung  des  Zwerchfells,  Deutung  der  Zwischenrippen- 
muskeln als  Rippenheber  allein,  Nachweis  der  Uterusmuskulatur  (1737), 
Studium  des  genaueren  Baues  der  männlichen  Geschlechtsorgane  (Rete, 
Coni  vasculosi,  Vasculum  aberrans  Halleri),  richtigere  Schilderung  der 
Herzmuskulatui',  als  Lower  sie  gegeben,  genaue  Beschreibung  des 
Herzbeutels  der  Venenklappen,  einzelner  unvollkommen  oder  gar  nicht 
bekannter  Arterien  (Tripus  Halleri  ^=  dreifache  Verästelung  der  Art. 
coeliaca,  Aa.  musculophrenicae  von  der  Mammaria  int..  Anastomosen 
der  Mamm.  int.  mit  den  Aa.  intercostales),  höherer  Stand  der  Blase 
über  dem  Schambein  im  Kindesalter,  Beschreibung  des  Netzes  und 
des  Zwerchfells,  Nachweis  der  Tela  cellulosa  als  Bindesubstanz  und 
Ueberzug  der  Glieder  des  Körpers.***)  In  Haller  vereinigen  sich 
einerseits  das  AVissen  und  die  Kenntnisse  derjenigen,  von  denen  er 
unmittelbar  beeinflusst  wurde,-^*'^)  andererseits  bildet  er  den  Kern- 
punkt einer  Schule,  in  der  sich  Exaktheit  der  Forschung  und  glück- 
liche Darstellungsgabe  harmonisch  paaren.  Dies  kennzeichnet  gleich 
seine  Nachfolger  in   Göttingen, »*"')  Roederer  (Joh.  Georg,   *  1726 

*^)  *Disputation.  anat.  selectar.,  vol.  I— VII.  Gotting.  1736—51.  4°. 

*^)  *Bibliotheca  anat.,  Tiguri  1774.  77,  40.  Tom.  I  ad  aun.  1700,  Tom.  II 
ab  anno  1701—76. 

**'')  *Experimenta  et  dubia  de  ductu  saliv.  Coschwitziano,    L.  B. 
1727   4 "   Diss. 

'  *»«■)'  *Albr.  von  Haller.     Denkschrift   auf   den    12.  Dec.   1877,   Bern  1877.   4  <», 
118  S.    Mit  Verz.  der  Werke  Hallers. 

**■)  Die  Schule,  aus  der  Haller  hervorging,  ist  im  Folgenden  zusammengestellt : 

Van  Hörne 

1621—1670 

Leyden 


Du  Verney 

1648  - 1730 

Paris 


Euysch 
1638^1731 
Amsterdam 


W  i  n  s  1 0  w 

1669—1760 

Paris 


Du  vernoy 

1601—1759 

Tübingen 


A 1  b  i  n  u  s 

1697-1770 

Leyden 


Douglas 

1675—1742 

London 


Haller 
1708  -1777 
Göttingen. 
*"»')  Sein  Vorgänger  daselbst,  AI  brecht  (Joh.  Wilh.,  *  1703  17.  Aug., 


1736 


<.  Jan.,  Schüler  zu  Jena  von  Wedel,  Teichmeyer  u.  Hamberger,  in  Göttingen  0.  Prof. 


282  Eübert  Ritter  von  Töply. 

15.  Mai,  t  1763  4.  April), "«') i^'^)  Zinn  (Joh.  Gottfr.,  *  1727  4.  Dez., 
f  1759  6.  April), '^2'')  hervorrag-end  durch  eine  klassische  Beschreibung 
des  Auges  und  dessen  Umgebung  (zonula  Zinnii,  ligamentum  Zinnii),^-'') 
Wrisberg  (Heinr.  Aug.,  *  1739  20.  Jan.,  f  1808  29.  März)'^'^j  mit 
seiner  Beschreibung  des  Trigeminus  und  dem  Nachweis,  dass  die  an- 
geblichen Aeste  desselben  zur  Dura  m.  nicht  bestehen,  einer  ein- 
gehenden Kritik  des  Descensus  testiculorum,  einer  Beschreibung  des 
N.  phrenicus,  vagus,  sympathicus,  der  Bauchfelldivertikel,  der  Bauch- 
höhlennerven, insbesondere  des  N.  splanchnicus  supremus,  des  Gangl. 
magnum  des  Herzgeflechts  (Gangl.  Wrisbergii),  der  Nervengeflechte 
der  inneren  weibl.  Geschlechtsorgane,  einer  vermehrten  Ausgabe  von 
Zinns  „Descr.  oculi  hum."  u.  s.  w.  Wrisbergs  Schüler  Soemmering 
(Samuel  Thomas  von,  *  1755  25.  Jan.,  f  1830  2.  März)^-»»)  ist  der 
bedeutendste  deutsche  Anatom  des  angehenden  19.  Jahrhunderts  in 
Bezug  auf  Beschreibung  und  gleichzeitig  künstlerische  Ausstattung 
seiner  Werke.  Die  hauptsächlichsten  betreff'en  die  Hirnbasis  und  die 
Sinnesorgane.  Sein  umfangreiches  Lehrbuch  ist  ein  Markstein  in  der 
Geschichte  der  deutschen  Anat.  an  der  Wende  des  Jahrhunderts.'^*'') 
Man  lernt  es  erst  ordentlich  schätzen,  wenn  man  ältere  Kompendien 
dagegen  hält,  z.  B.   das  von  Kirchheim  (*Vade  mecum  anatomi- 

d.  Anat.,  Ohir.  u.  Botanik  seit  1734)  hatte  als  Menschenschinder  gegolten.  Obss. 
anat.  ca.  duo  cadavera  masc,  Erfurt  1730;  obs.  ca.  vasa  ly mphat.  ven- 
triculi,  Erfurt  1730:  Einladungsschr.  zur  Section  2er  männl.  Leichen, 
Götting.  1735. 

'^•»)  In  Göttingen  1751—63,  Prof.  d.  Geburtsh.,  nach  Hallers  Abgang  i.  J.  1753 
auch  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir. 

*"')  Icones  uteri  hum.,  Gotting.  1759,  fol. 

^^»)  Schüler  von  Haller,  Prof.  d.  Med.  u.  Direktor  des  botan.  Gartens  in  Gott. 
1753—59. 

^^^)  Descr.  anat.  oculi  hum.  iconib.  illustr.,  Gotting.  1755,  4°;  *Nunc 
altera  vice  ed.  etc.  ab  H.  A.  Wrisberg,  ib.  1780,  248  p.,  6  Tab.,  4». 

«ä)  In  Göttingen  seit  1764  o.  Prof.  d.  Gebh.,  seit  1765  a.  o.,  seit  1770  o.  Prof. 
d.  Anat.  Descr.  anat.  embryonis  etc.  1764.  —  *Obss.  anat.  de  quinto  pare 
n  er  vor.  encephali  et  de  nervis  qui  ex  eod.  duram  matrem  ingredi  falso  dicuntur. 
0.  tab.  aenea,  Gotting.  1777,  4°,  28  pag.  —  De  testiculor  ...  descensu.  — 
Obss.  de  nervis  viscer.  abdominis,  Part.  I,  II,  III.  —  De  systemate 
vasor.  absorbente  etc.  1798.  —  Obss.  anat.  de  corde  testudinis  marinae 
etc.  1800,  40.  —  Sylloge  commentation.  anatomicar.  1786,  4".  —  Ex- 
perimenta  et  observ.  de  utero  gravido  etc.  1780,  8°. 

5*")  1779  Lehrer  d.  Anat.  u.  Chir.  am  Carolinum  in  Kassel,  1784—97  Prof.  d. 
Anat.  u.  Physiol.  in  Mainz.    Lebte  1804—20  in  München,  dann  in  Frankf.  a.  M. 

**''j  Ueb.  d.  körperl.  Verschiedenheit  des  Negers  vom  Europäer, 
Frankf.  u.  Mainz,  1.  Aufl.  1784,  8°;  *2  Aufl.  1785,  8°,  80  S.  m.  2  Tafeln. 
Choulant  (Gesch.  d.  anat.  Abb.  S.  134)  kennt  die  Tafeln  nicht,  in  meinem  Exemplar 
sind  sie  illuminiert.  —  *De  basi  encephali  et  originib.  nervor.  C.  4  tab. 
am.  Götting.  1778,  4«,  184  S.;  *Ueb.  d.  Organ  d.  Seele,  m.  Kxipf ,  Königsb.  1796, 
4",  86  S.;  *Tabula  baseos  encephali,  Francof.  ad  Moen.  1799,  fol.,  16  S.  m.  2 
Kupfert.,  gez.  von  Chr.  Köck,  in  Aquatinta  von  P.  M.  Alix  zu  Paris  in  unübertreff- 
licher Schönheit;  *Quatuor  hominis  adulti  encephalum  describentes 
tabulae  publice  defensus  est  E.  d' Alton,  Berol.  1830,  4",  16  S.  m.  4  Taf., 

fez.  von  Chr.  Köck,  lithogr.  v.  A.  Elsasser.  —  *Abbildungen  der  menschlichen 
innesorgane  m.  deutsch,  u.  lat.  Text.  Auge,  Gehörorgan,  Geschmack  und 
Stimme,  Geruch,  1801—10.  —  Tab.  sceletis  fem.,  Frankf.  1797,  fol.  max.  — 
Icones  embryon.  hum.  1799,  fol,  max.  m.  4  Kpf.  —  *Vom  Baue  des 
menschl.  Körpers.  6  Thle.,  Frankf.  1791—96,  2.  Ausg.  1801;  lat.  u.  d.  T.  de 
corp.  hum.  fabrica,  6  Bde.,  1794—1801.  —  Vgl.  Wagner  (Rud.),  S.  Th.  v.  Sömme- 
rings  Leben  u.  Verkehr  m.  seinen  Zeitgenossen,  2  Abt.,  Leipz.  1844,  8";  auch  als 
Bd.  I  der  neuen  Originalausg.  von  Söram.  v.  Baue  d.  menschl.  Körp.  —  S  ö  m  m  e  - 
ring  (Detmar  Wilh.,  fil.)  Catal.  mus,  anat,  quod  collegit  S.  Th.  de  S.  Francof.  a.  M. 
1830,  8  0. 


Geschichte  der  Anatomie.  283 

cum  ...  von  D.  L.  H.  Kirchheim,  4.  Aufl.,  Dresden  1735,  8 "",  113  S.). 
Wi'isbergs  anderer  Schüler  Loder  (Justus  Christian  von,  *  1753 
28.  Feb.,  7  1832  4.16.  April)  ^^*)  hob  die  Anatomie  in  Jena  auf  eine 
höhere  Stufe,  später  die  in  Moskau.  Sein  Tafelwerk  und  seine  Lehr- 
bücher Avurden  seinerzeit  sehr  geschätzt,  ^^''j  Der  aus  der  göttinger 
Schule  Hallers  hervorgegangene  Blumenbach  (Joh.  Friedr.,  *  1752 
11.  Mai,  t  1840  22.  Juni),  der  erste  Professor,  der  Vorlesungen  über 
vergl.  Anat.  hielt,  wurde  zum  Begründer  der  modernen  Anthropologie 
(Clivus  Blumenbachii).^^)  Wrisbergs  und  Blumenbachs  Schüler  Hilde- 
brandt (Georg  Friedr.,  *  1764  5.  Juni,  f  1816  23.  März)^'^) 
ist  Verf.  eines  Lehrbuchs,  das  die  vorangegangenen  Kompendien  ver- 
drängt hat  in  Deutschland  während  der  Jahre  1790 — 1830  und  noch 
später  ausschlaggebend  war.^'^)  Blumenbachs  historisch  gebildeter 
Schüler  Heusinger  d.  Ae.  (Karl  Friedr.  H.  von  "SValdegg.  eigentl. 
Joh.  Christian  Friedr.  Karl,  *  1792  28.  Feb.,  f  1883  5.  Mai),^«'^) 
welcher  in  Würzburg  eine  zootomische  Anstalt  gründete,  zählt  zu 
den  besseren  gleichzeitigen  Vertretern  der  Histologie,  Anatomie, 
Zootomie,  Phj'siologie,  Anthropologie  und  patholog.  Anatomie  der 
1.  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts.^*'')  Dieser  Eichtung  gehört  auch 
Weber  (Ernst  Heinr..  *  1795  24.  Juni,  f  1878  26.  Jan.),^»'»)  dessen 
wichtigste  Leistungen  allerdings  das  Gebiet  der  Physiologie  be- 
treffen.^»^) 

Von  Haller  erhielt  eine  nicht  unwesentliche  unmittelbare  An- 
regung Joh.  Fr.  Meckel  I.  von  diesem  wieder  Alex.  Monro  II,  und 
so  erstreckt  sich  Hallers  Einfluss  beinahe  auf  die  ganze  Anatomen- 
welt seines  Zeitalters. 

Würzburg. ^'')    An  der  1582  gestifteten  Universität  hat  gleich 


^"')  1778  0.  Prof.  d.  Anat.,  Chir.  u.  Hehammenkunst  in  Jena,  1803-06  Prof. 
d.  Anat.  u.  Chir.  in  Halle,  später  in  Königsberg  i.  Pr.,  dann  in  St.  Petersburg. 

^5")  Anat.  Tafeln.  Weimar  1797—1803,  2  Bde.  182  Kpft.,  4  Bde.,  Text  fol. 
—  Grundr.  d.  Anat.,  1.  Bd..  .Jena  1806.  —  Anat.  Handb..  1.  Bd.,  Osteol.  u. 
Syndemologie,  2.  Aufl.,  Jena  1800  in.  Kpf..  lat.  u.  d.  T.  Elementa  anat.  h.  c, 
Moskau  u.  Riga  1823.  —  Vgl.  Stieda  in  Gurlt-Hirsch"  Lex.  IV  23. 

*")  Gesch.  u.  Beschr.  d.  Knochen  d.  menschl.  Körpers,  1786.  — 
Handb.  d.  vergl.  Anat,  1805. 

■^"*)  1786—95  Prof.  d.  Anat.  am  Coli.  med.  in  Braunschw.,  dann  in  Erlangen 
Prof.  d.  Med.  u.  Chemie,  später  auch  d.  Phvsik. 

"»>)  Lehrb.  d.  Anat.  d.  Menschen,  Braunschw.  1789—92,  4  Bde. :  2.  Aufl. 
1798-1800;  4.  Aufl.  von  E.  H.  Weber  1830—32. 

»»")  1824—29  Prof.  d.  Anat.  u.  Physiol.  in  Würzb.  als  Döllingers  Nachf.,  dann 
Kliniker  in  Marburg  bis  1867. 

'•*'')  Ueb.  d.  Bau  u.  d.  Verrichtungen  der  Milz,  Eisenach  resp.  Thion- 
ville  1817.  —  Syst.  d.  Histologie,  Eisenach  1822.  —  De  organogenia, 
Jena  1822.  —  Bericht  v.  d.  k.  zootom.  Anst.  zu  Würzb.  f.  1824/25.  Im 
übrigen  vgl.  Pagel  in  Gurlt-Hirsch  Lex.  III  191  u.  f. 

"'"')  In  Leipzig  1818  ao.  Prof.  d.  vergl.  Anat..  1821  o.  Prof.  d.  Anat.  (bis  1871^ 
und  Physiologie  (bis  1866). 

**'')  Anat.  comp.  n.  sympath.  1817.  —  De  sept.  nerveo  organ.  1817. — 
Epistola  Scarpae  de  gangliis  neruor.  deque  origine  et  essentia  n. 
intercost.  1831.  —  Zusätze  zur  Lehre  vom  Baue  u.  denVerrichtungen 
der  Geschlechtsorgane.  1845.  —  Bearbeitung  der  4.  Aufl.  von  G.  F.  Hilde- 
brandts Lehrb.  d.  Anat,  Braunschw.  1830-32,  der  6.  Aufl.  von  J.  Gh.  Rosen- 
müllers  Handb.  d.  Anat.,  Leipz.  1840. 

®°)  *Bö nicke  (Christ.),  Grundr.  einer  Gesch.  d.  Univ.  zu  Wirzburg,  Wirzb. 
1782,  4",  378  S.  m.  Kupf.  —  Siebold  (Carl  Casp.).  Von  den  Vorteilen,  welche  der 
Staat  durch  öftentl.  anat.  Lehranstalten  gewinnt,  Xürnb.  1788.  Mit  Ansichten  und 
Plänen  der  neuen  Anstalt.  —  *Scharold  (Joh.  Bapt.),  Gesch.  des  gesamrat.  Medicinal- 
wesens  im  ehemaligen  Fürstenthum  Würzb..  Inaug.-Abh.,  Würzb.  1824,  8",  141  S.  — 


284  Robert  Ritter  von  Töply. 

anfangs  weder  Posthius  (Johann,  hier  1569—85,  Leibarzt  und 
Universitätsprof.,  dann  nach  Heidelberg  übersiedelt),  der  sich  eng  an 
die  Anatomie  des  R.  Colombo  hielt,"')  noch  Roman  (Adrian,  aus 
Löwen  berufen,  hier  bis  1609)"-)  etwas  Originelles  geleistet."'*)  Aus 
der  im  17.  Jahrhundert  eingetretenen  Verfallszeit  sind  die  beiden 
Virdung  ab  Hardung  (Hieronymus  Konrad  und  Philipp  Wilhelm, 
1680  bezw.  1691)  als  Anatomen,  der  jüngere  als  Prof.  der  Anat., 
Chir.,  Botanik  gerade  einer  Erwähnung  wert.  Die  Errichtung  des 
ersten  anatomischen  Theaters  erfolgte  erst  um  1724 — 29.  Die  bald 
darauf  erschienenen  Universitätsstatuten  v.  J.  1731  "*)  verordnen  alle 
4  Wochen  eine  öffentliche  anat.  Demonstration,  die  neue  Ordination 
V.  J.  1749  bestimmt  u.  A,  einen  Prof.  der  Theorie  für  die  Geschichte 
der  Medizin  und  die  Medizin,  sowie  die  allgemeinen  Grundsätze 
der  Anatomie.  Bis  dahin  hatten  die  Professoren,  welche  die  Anatomie 
mit  der  Botanik,  wie  Beringer  (Josef  Barthol.  Adam)  und  Orth, 
oder  mit  der  Chirurgie  vereinigen  mussten,  wie  Bauermüller  und 
Heuber  (dieser  auch  Lehrer  der  prakt.  Medizin  und  Prof.  der 
Chemie)  trotz  des  ziemlich  regelmässigen  Betriebes  der  anat.  Demon- 
strationen nichts  Wesentliches  geleistet.  Eine  Besserung  begann  erst 
in  der  2.  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  mit  Siebold  d.  Ae.  (Karl 
Kasp.  von,  *  1736  4.  Nov.,  f  1807  5.  April),"'*  ^)  dem  ersten,  der  hier 
einen  regelrechten  anat.  Unterricht  erteilte,  das  Museum  aus  dem 
Anfangsstadium  hob,  eine  Restaurierung  der  anatom.  Anstalt,  sowie 
die  Anstellung  eines  Prosektors  in  der  Person  Hesselbachs  d.  Ae. 
durchsetzte."^^)  Der  aus  seiner  Schule  hervorgegangene  Acker- 
mann (Jak.  Fidelis,  *  1765  23.  April,  f  1815,  28.  Okt.),«")  ein  Wider- 
sacher der  Galischen  Hirn-,  Schädel-  und  Organenlehre,  verbesserte 
die  Einrichtungen  der  anat.  Anstalt  in  Heidelberg.  Der  Unterricht 
Siebolds,  der  weder  Anatom  von  Fach,  noch  in  der  Physiol.  und 
vergl.  Anat.  bewandert  war,  hatte  eine  spezifisch  praktische  Richtung, 
sowol  unter  Siebold  selbst,  als  unter  dessen  Prosektor  Hesselbach 


*Ringelmann  (A.  F.),  Beiträge  zur  Gesch.  d.  Univ.  Würzb.  in  den  letzten  10  J« 
(Zum  Jubelfeste),  Würzb.  1835,  4»,  90  S.  —  *Kölliker  (Alb.  v.),  Zur  Gesch.  der 
med.  Fakultät  an  d.  Univ.  Würzb.,  Würzb.  1871,  73  S.  4  «.  —  *Kölliker  (A.),  Die 
Aufgaben  d.  anat.  Unterrichts,  Würzb.  1884,  21  S. 

•'^)  In  Realdi  Columbi  anat.  Observationes  anat.,  in  den  Frank- 
furter Ausgaben  von  1590  u.  93  der  Des  re  Anat.  lib.  XV. 

*^^)  Rulaud,  Adrien  Romanus,  prem.  prof.  ä  la  faculte  de  med.  de  Würzb., 
Bruxelles  1867. 

**)  Das  zu  Romans  Zeit  im  anat.  Theater  erwähnte  „scamnum  volubile" 
kann  ebensogut  ein  drehbarer  Seziertisch  wie  eine  transportable  Bank  gewesen  sein. 

«*)  Promulgiert  1734,   gedruckt  1743. 

*^")  Schüler  von  Sabatier,  Bordenave,  Ant.  Petit,  Levret,  Moreau,  Le  Cat,  W. 
Hiauter,  Cheselden,  Mackenzie,  B.  S.  Albin,  Gaub;  anfangs  erster  Gehilfe  des  Ober- 
chirurgen, Demonstrators  d.  Anat.  u.  Hebammenlehrers  J.  B.  Stang,  promov.  1769 
21.  Aug.,  nachdem  er  kurz  vorher  Prof.  d.  Anat.,  Chir.  u.  Geburtsh.  geworden,  trat 
im  Winter  1797  98  von  d.  Anat.  zurück. 

**'^'')  Siebold  (K.  K.),  Von  d.  Vortheilen,  welche  d.  Staat  durch  öffentl.  anat. 
Lehranstalten  gewinnt,  Nürnb.  1788.  Mit  Ansichten  u.  Plänen  der  1788  9.  Juli 
eingeweihten  Anstalt;  Verfügungen  u.  Einrichtungen  in  d.  anat.  Anstalt,  Würzb. 
gelehrt.  Anz.  1791,  Tl.  I,  S.  345—48.  —  Ueb.  d.  Familie  Siebold  vgl.  d.  Stammtafel 
in  Gurlt-Hirsch'  Biogr.  Lex.  V  S.  390. 

*"*)  Stud.  seit  1784  in  Würzb.,  dann  in  Mainz,  später  Schüler  von  P.  Frank, 
Scarpa,  Volta,  Nessi  u.  A.  in  Pavia,  1796 — 98  Prof.  d.  Anat.  als  Nachf.  von  Sömme- 
ring  in  Mainz,  1804  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  in  Jena  an  Loders  Stelle,  1805  Prof.  d. 
Anat.  in  Heidelb ,  seit  1812  Prof.  d.  Botanik. 


Geschichte  der  Anatomie.  285 

d.  Ae.  (Franz  Kaspar,  *  1754  27.  Jan.,  f  1816  24.  Juli),«"^)  welcher 
jedoch  ebenso,  wie  sein  Sohn  Hesselbach  d.  J.  (Ad.  Kasp.,  *  1788 
15.  Jan.,  f  1856  6.  Mai),*^*^)  um  die  Bereicherung  des  Museums 
sorgte.^*'')  Hesselbach  des  Aelteren,  auch  von  J.  B.  von  Siebold  fa- 
vorisierter Schüler  Langen  beck  (Konr.  Joh.  Martin,  *  1776  5.  Dez., 
f  1851  24.  Jan.),^^^)  in  der  Chirurgie  und  praktischen  Anatomie 
gleich  bedeutend,  ifasste  letztere  als  „anatoraia  applicata"  auf,  machte 
sich  um  die  Erbauung  eines  neuen  anat.  Theaters  in  Göttingen  ver- 
dient (1829)  und  veröffentlichte  ein  grossartiges  anat.  Tafelwerk 
„Icones  anat.".«^^)  Siebolds  Schüler  Tiedemann  (Friedr.,  *  1781 
23.  Aug.,  1 1861  22.  Jan.)  ^'^*)  gehört  zu  den  hervorragendsten  deutschen 
Anatomen  der  1.  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts.  Seine  klassische 
Anat.  und  Bildungsgeschichte  des  Gehirns  (1816)  erweist  die  Ueber- 
einstimmung  zwischen  der  bleibenden  Form  des  Tierhirns  mit  der 
embryonalen  des  menschlichen,  seine  Arterientafeln  (1822)  gehören 
zu  dem  Besten,  was  bis  dahin  auf  diesem  Gebiete  geleistet  wurde, 
in  der  Schrift  über  das  Gehirn  des  Negers  und  des  Europäers  lieferte 
er  den  Nachweis,  dass  zwischen  beiden  kein  wesentlicher  Unterschied 
besteht.'"^)  Auch  ist  ihm  die  Erbauung  des  anat.  Theaters  in  Heidel- 
berg zu  verdanken.  Sein  Schüler  Fohmann  (Vincent,  *  1794, 
t  1837) ''^)  hat  in  einer  langen  Reihe  von  Arbeiten  das  Lymph- 
gefässsystem  behandelt, '^^^j  Tiedemanns  hervorragendster  Schüler 
Arnold  (Friedr.,  *  1803  3.  Jan.,  f  1890  5.  Juli)'-'»)  ist  um  die 
Untersuchung  des  Sj^mpathicus  verdient,  wobei  er  auch  der  Geschichte 
des  Gegenstandes  und  dessen  bildlicher  Darstellung  viel  Sorgfalt 
widmete.  Das  von  ihm  vermeintlich  entdeckte  Ganglion  oticum  war 
indes  schon  von  Santorini  (f  1737)  als  „plexus  ganglioformis"  be- 
schrieben, von  Gii-ardi  (1775),   Paletta  (1784),  Comparetti  (1789)  be- 

«"')  Prosektor  seit  1788,  9.  Juli.«'^) 

*''')  Vollst.  Anleitung  zur  Zergliederungskunde,  3  Hefte,  Rudolst. 
1805—08,  m.  Kpf.,  4^  —  Anat.-chir.  Abh.  üb.  d.  Urspr.  der  Leistenbrüche 
1806,  m.  Kpf.,  4«. 

«*»)  Prosektor  1816—28,  dann  Prof.  d.  Chir.  in  Bamberg. 

**'')  Beschr.  d.  mensch  1.  Auges,  1828.  —  Ueb.  d.  Ursprung  u.  Verlauf 
der  unt.  Bauchdeckenschlagader  u.   d.  Hüftbeinschlagader,   1819. 

«»")  Seit  1799  in  Würzburg,  seit  1802  in  Göttingen,  hielt  hier  1803—04  anat. 
Vorlesungen,  zu  denen  er  sich  ein  Amphitheater  bauen  Hess,  1804  Prof.  e.  o.,  1814 
Prof.  0.  d.  Anat.  u.  Chir.,  seit  1848  nur  der  Anat. 

«"")  Anat.  Handb.,  tabellar.  entworfen,  1806;  1817;  1818;  a\ich  ins 
Schwed.  übers.  —  Mikroskop.  -  anat.  Abbildungen  zur  Erläuterung 
seines  anat.  Handbuchs,  1847—50,  m.  17  Taf.  —  Icones  anat,  1826 — 41, 
mehr  als  170  Taf.  folio.  —  Novum  theatrum  anat.  quod  Gottingae  est  a 
regeGeorgio  IV  conditum,  1829. 

^°»)  Prof.  d.  Zool,  menschl.  u.  vergl.  Anat.  in  Landshut  1805,  in  Heidelberg 
auch  der  Physiologie  1816—49. 

'**'')  Anat.  u.  Bildungsgesch.  d.  Gehirns,  1816.  Auch  franz.  u.  engl.  — 
Icones  cerebri  simiar.  etquorundam  animal.  varior. ,  1821.  —  Tabulae 
arteriar.  corp.  h um.  1822.  —  Tabulae  nervor.  uteri,  1822.  —  Ueberd. 
Hirn  des  Orang-Outangs  u.  üb.  das  des  Delphins,  vergl.  m.  d.  Gehirn 
des  Menschen,  1825.  —  Das  Hirn  des  Negers,  vergl.  mit  dem  des 
Europäers,  engl.  1836,  deutsch  1837. 

'*')  Tiedemanns  Prosektor  in  Heidelberg,  1827—37  o.  Prof.  d.  Anat.  in  Lüttich. 

'^^)  Anat.  Unters,  über  die  Verbindung  der  Saugadern  mit  den 
Venen,  Heidelb.  —  Das  Saugadersyst.  der  wirbelt hiere;  der  Fische, 
Heidelb.  u.  Leipz.  1826.  1827. 

'*•)  1834  Prof.  e.  o.  in  Heidelberg,  1835  Prof.  o.  u.  Dir.  d.  anat.  Anst.  Zürich, 
Prof.  d.  Anat.  u.  Physiologie  in  Freiburg  i.  B.  1840,  in  Tübingen  1845,  in  Heidel- 
berg 1852—76. 


286  Robert  Ritter  von  Töply. 

sprochen  worden.'-^)  Tiedemanns  und  Bischoffs  Schüler  in  Heidel- 
berg, Ecker  (Alexander,  *  1816  10.  Juli,  f  1887  20.  Mai) '=''')  lieferte 
eine  grundlegende  Darstellung  der  Hirnwindungen,  dann  eine  muster- 
giltige  Anatomie  des  Frosches.  '''^) 

Nach  dem  Rücktritt  von  K.  K  Siebold  (1797/98)  vertraten  die 
Anatomie  in  Würzburg  während  der  1.  Hälfte  des  19.  Jahrb.,  dessen 
dritter  Sohn  Siebold  (Joh.  Barthol.,  *  1774  3.  Feb.,  f  1814  28.  Jan.) 
und  Fuchs  (Joh.  Friedr.,  seit  1804/5)  ohne  besonderen  Erfolg,  dann  der 
geniale  Döllinger,  der  jedoch  die  Sorge  für  die  descr,  Anat.  seinem 
Prosektor  Hesselbach  d.  J.  überliess,  dessen  Nachfolger  Heusinger 
(1824—29),  der  sich  hier  hauptsächlich  der  Zootomie  zuwendete, 
schliesslich  Münz  (Martin,  *  1785  5.  Feb.,  f  1848  18.  März),''^'')  ein 
Anatom  der  alten  Schule  aus  der  vormärzlichen  Zeit,  der  ähnlich  wie 
Prof.  Mich.  Mayer  in  Wien  20  Jahre  die  Lehrkanzel  versass,  un- 
wissend, dass  zu  seinen  Füssen  die  Neuzeit  hereingebrochen  war.'***) 
Dies  war  zu  stände  gekommen  durch  den  Erweiterer  der  anatom. 
Anstalt  (1817),  den  hochverdienten  Döllinger  (A.  Ignaz,  *  1770 
27.  Mai,  -|-  1841  14.  Jan.),'-^)  den  Begründer  der  Lehre  von  den  Keim- 
blättern und  damit  der  neueren  Embryologie.  Döllinger  war  ein  Meister 
der  anat.  Technik,  besonders  geschickt  in  der  Injektionsmethode,  ver- 
traut mit  dem  durch  neuere  Verbesserungen  erst  recht  verwendbar 
gew^ordenen  Mikroskop,'")  ein  fesselnder,  anregender,  schulemachender 
Lehrer.  Das  Gesamtergebnis  der  hier  1816  und  in  den  folgenden 
Jahren  an  mehr  als  2000  bebrüteten  Eiern  vorgenommenen  Unter- 
suchungen ist  ein  Gemeingut  von  Döllinger,  Pander  und  d'Alton.'') 
Ein  Löwenanteil  am  Ausbau  der  Entwicklungsgeschichte  gebührt  den 
beiden  nach  Eussland  (s.  das.)  ausgew^anderten  Schülern  Döllingers 
Pander  (Heinr.  Christ.,  *  1794  12/24.  Juli,  f  1865  10/12.  Sept.,  in 
Petersb.    1823—27,   42—65)'^)  und  Baer   (Karl    Ernst  von,  *  1792 


'^'')  Diss.  inaug.  ...  de  parte  cephal.  u.  svmpath.,  Heidelb.  1826,  4", 
1.  tab.  —  *lTeb.  d.  Ohrknoten,  Heidelb.  1828,  4"  m.  Abb.  —  *D.  Kopftheil 
des  veget.  Nervensystems,  Heidelb.  u.  Leipz.  1831,  4^  m.  10  Kupfert.  — 
Tabulae  anat.  I,  II,  IV,  Turici  1838—43,  fol.  —  Handbuch  der  Anat.  des 
Menschen,  Bd.  I— III,  Freib.  1843—51. 

'^'')  In  Heidelb.  Prosektor  u.  Privatdoz.  1841,  1844  o.  Prof.  der  Anatomie  u. 
Physiol.  in  Basel,  1850—87  in  Freiburg. 

^•'"')  Der  feinere  Bau  der  Nebennieren,  Braunschw.  1846.  —  Die  Hirn- 
windungen d.  Menschen,  das.  1869;  2.  Aufl.  1883.  —  Die  Anat.  des 
Frosches,  das.  1864—83,  3  Abth. ;  Nerven-  u.  Gefässlehre  mit  Beiträgen,  d.  Lehre 
von  den  Eingeweiden,  dem  Integumeut  und  den  Sinnesorganen,  bearbeitet  von 
R.  Wiedersheim. 

'**)  Tiedemanns  Prosektor  in  Landshut,  1816  a.  o.,  1817  o.  Prof.  d.  Anat.  das., 
seit  1828  in  Würzb. 

•*")  Anat.  Tafeln,  Bambg.  1815,  fol.  —  Handb.  d.  Anat.,  m.Abb.,  5  Tle., 
Landsh.  1821—27,  Würzb.  1835-36. 

'"*)  Schüler  von  Barth  u.  Prochaska  in  Wien,  J.  P.  Frank  u.  Ant.  Scarpa  in 
Pavia,  Prof.  d.  Anat.  u.  Physiol.  in  Würzb.  1803 — 23,  dann  in  München,  wohin  die 
1472  in  Ingolstadt  gestiftete  Universität,  welche  1800  nach  Landshut  kam,  1825 
verlegt  worden  war. 

'")  *  P  e  t  r  i  (R.  J.),  Das  Mikroskop.  Von  seinen  Anfängen  bis  zur  jetzigen 
Vervollkommnung.    M.  191  Abb.  u.  2  Facsimiledr.,  Berl.  1896,  218  S. 

'')  Pander,  Döllinger  u.  D'Alton,  Beiträge  zur Entwickelungsgesch.  des 
Hühnchens  im  Ei,  Würzb.  1817,  fol.  m.  Kupfert.  von  D'Alton;  üb.  d.  Autorschaft 
vgl.  Kölliker  a.  a.  0.  1871  S.  35. 

'*)  Diss.  inaug.  sistens  historiam  metamorphoseos,  quam  ovum 
incubat.  priorib.  5  dieb.  subit.,  Würzb.  1817. 


Geschichte  der  Anatomie.  287 

17.28.  Febr.,  7  1876  16.28.  Xov.l'»»)  Letzterer  ist  der  Entdecker 
des  eigentlichen  Säugetiereies  (Baersches  Bläschen),  der  eigentliche 
Begründer  der  deutschen  anthropologischen  Gesellschaft. '''"')  Zur 
selben  Gruppe  gehört  auch  Tiedemanns  Schwiegersohn  Bischoff 
(Theod.  Ludw.  Wilh.,  *  1807  28.  Okt-V»)  dann  Kölliker  (Rudolf 
Albert  von,  *  1817  6.  Juli).*^^*)  Kölliker  ist  einer  der  hervorragendsten 
Biologen  seiner  Zeit,  sein  Handbuch  der  Gewebelehre  ist  ein  Mark- 
stein in  der  Geschichte  der  Histologie,  es  beherrscht  die  ganze  zweite 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts.  Um  Würzburg  ist  Kölliker  insbesonders 
durch  die  Ausarbeitung  des  Plans  zu  dem  neuen  Anatomiegebäude 
(eröifnet  1883  3.  Nov.)  '^^^)  verdient.  Indes  haben  die  biologischen 
Wissenschaften  in  Deutschland  noch  weitere  Fortschritte  gemacht. 
Davon  zeugt  einerseits  das  ..Biolog.  Centralblatt"  herausg.  von 
Rosenthal  (Isid..  *  1836  16.  Juli;  seit  1872  Prof.  d.  Physiol.  in 
Erlangen)  unter  Mitwirkung  von  Reess  (M.,  Prof.  in  Erlangen)  und 
S  e  1  e  n  k  a  (Emil ;  Prof.  d.  Zool.  in  München),  andererseits  der  Ausbau 
der  Entwicklungsmechanik  durch  Hertwig  (Osk.,  *  1849), 
Roux  (Wilh.,  *  1850,  Begründer  des  ..Arch.  f.  Entwickrungsmechanik" 
1894)  u.  A. 

Berlin.*'-).  Die  erste  anat.  Anstalt  (Theatrum  anatomicum,  ge- 
nannt Anatomiekammer)  wurde  1713  für  das  Collegium  medico-chirurgi- 
cum  errichtet.  Hier  wirkten  an  erster  Stelle  1713 — 19  Spener 
(Christian  Maximilian,  *  1678  31.  März,  f  1719  5.  Mai),  bis  1723  0.  24 
Henrici  (Heinrich,  *  1673,  -;  1728),  bis  1753  Buddeus  (August, 
*  1695,  j  1753),  dann  bis  1773  der  hervorragende  Meckel  I 
(Joh.  Friedr.,   *   1724  31.  Juli,  f  1774  18.  Sept.;  Schüler  des  Albr. 


'»')  In  Königsberg  seit  1817  Prosektor  bei  Burdach.  Prof.  e.  0.  d.  Zool.  1819, 
0.  1822,  endgiltig  in  Petersb.  seit  1834. 

'9'')  Entwickelungsgesch.  d.  T  h  i  e  r  e  ,  Königsb.,  1.  Bd.  1820,  3Taf.,  2.  Bd. 
1837,  4  Taf.  —  Vorlesungen  üb.  Anthropologie,  1.  Bd.,  Königsb.  1824,  mit 
11  Taf.  —  De  ovi  mammal.  et  hom.  geuesi,  Lips.  1827.  —  Vgl.  *Nachrichten 
üb.  Leben  u.  Schriften  des  .  .  .  Dr.  Karl  Ernst  von  Baer,  mitgeth.  von  ihm  selbst. 
Veröffentlicht .  .  .  von  der  Ritterschaft  Ehstlands.  2.  Ausg.,  Braunschweig  1886,  8°, 
519  S.  m.  Portr.;  Stieda  (L.),  K.  E.  v.  Baer,  eine  biogr.  Skizze,  Braunschw.  1878 
(sehr  gründlich). 

"<*)  Seit  1836  Prof.  e.  0.,  seit  9.  Febr.  1843  Prof.  0.  f.  Anat.  u.  Plivsiol.  in  Heidel- 
berg, in  Giessen  seit  22.  Sept.  1843  Prof.  0.  d.  Anat,  seit  1844  auch  d.  Physiol., 
1854—78  in  München.  Entwickelungsgeschichte  der  Säuge  thiere'und 
des  Menschen,  Leipz.  1842:  des  Kanincheneies,  Braunschw.  1843:  des 
Hundeeies,  Braunschw.  1846:  des  Meerschweinchens,  Giessen  1852; 
des  Reheies,  Giessen  1854.  —  Historisch-kritische  Bemerkungen  zu 
den  neuesten  Mitteilungen  üb.  d.  erste  Entwickelung  der  Säuge- 
tier e  i  e  r ,  München  1877. 

®^')  Stud.  seit  1836  in  Zürich  u.  anderswo,  hier  1842  Assistent  bei  Henle,  1845 
Prof.  d.  Physiol.  u.  vergl.  Anat.,  seit  1847  in  Würzb.,  hier  seit  1866  f.  Anat, 
Mikroskopie  u.  Ent-wicklungsgesch.  bis  1897. 

"'')  D.  Entwicklungsgesch.  der  C  eph  al  0  po  d  en  ,  Zürich  1844.  — 
Die  normale  Resorption  der  Knochen,  Zur.  1873.  —  Die  Schwimm- 
polypen von  Messina,  Leipz.  1853.  —  Icones  histologicae,  Leipzig, 
2  Hefte,  1863,  1865.  —  *Handbuchd.  Gewebelehre,  Leipz.  1852,  6.  Aufl.| 
1889 — 96,  2  Bde.  —  *Entwickelungsgesch.  des  Menschen  und  der 
höheren  Thiere,  Leipz.  1861,  2.  Aufl.  1876—79.  —  *Die  Aufgaben  der 
anat.  Institute.  Rede  bei  d.  Eröffnung  der  neuen  Anat,  3.  Nov.  1883,  Würz- 
burg  1884,  21  S.  —  Erinnerungen  aus  meinem  Leben,  Leipz.  1899.  (Auto- 
biographie und   Besprechung  seiner  Publikationen.) 

"*)  *Pagel,  D.  Entwickelung  der  Medicin  in  Berlin.  M.  7  Portr.,  Wiesb. 
1897,  130  S.  —  *Waldeyer  (Wilh.),  Zur  Gesch.  des  anat.  Unterrichts  in  Berlin, 
Berl.  1899,  48  S. 


288  Kobert  Ritter  von  Töply. 

V.  Haller  und  Buddeus).  Er  gab  die  erste  genaue  Beschreibung  des 
N.  trigeminus,  entdeckte  das  Ganglion  sphenopalatinum  (Gangl. 
Meckelii  majus),  sowie  das  Ganglion  submaxillare  (Gangl.  Meckelii 
minus),  und  wurde  der  Stammvater  einer  angesehenen  Anatomen- 
familie. **•')  Sein  Schüler  Wolff  (Kaspar  Friedr.,  *  1733,  f  1794 
22.  Febr.)'*'**)  ist  der  Begründer  der  modernen  Embryologie,  ein 
Gegner  der  von  Leibniz  gebilligten,  von  Haller  gestützten  Ein- 
schachtelungstheorie.  Er  hat  die  Entwicklung  des  Tierleibes  aus 
kugeligen  Gebilden,  die  Entstehung  des  Embryo  aus  einer  Platte,  die 
doppelt  symmetrische  Ausbildung  und  Verwachsung  in  der  Mittellinie, 
die  nach  ihm  benannte  Anlage  („Wolffscher  Körper"),  die  Bildung  des 
Darmkanals  erkannt.**'**')  Meckels  Nachfolger  Walter  d.  Ae,  (Joh. 
Gottlieb,  *  1734  1.  Juli,  f  1818  3.  Jan.)«^'')  hat  die  klassische  Be- 
schreibung des  Auges  von  Zinn  durch  eine  ebenbürtige  Abhandlung 
über  die  Venen  des  Auges  ergänzt  ***  ^)  und  eine  bedeutende  Sammlung 
angelegt,  die  nachmals  zum  Stock  des  anat.-zootomischen  Museums 
der  Berliner  Universität  wurde.  An  zweiter  Stelle  bethätigten  sich 
Cassebohm  (Joh.  Friedr.,  *  1699  o.  1700,  f  1743  7.  Febr.),«*'*)  dessen 
wichtigere  Leistungen  —  Entwicklungsgeschichte  des  Gehörorgans, 
Schilderung  des  Spiralblattes  der  Schnecke  —  allerdings  in  seine 
hallenser  Zeit  fallen,'*^'')  dann  S  pro  gel  d.  J.  (Joh.  Adrian,  *  1728 
3.  Okt.,  t  1807  20.  Aug.;  Schüler  von  Haller),  Schaarschmidt 
(August,  *  1720  6.  Okt.,  f  1791),  Verf.  einer  beliebten  Uebersicht  der 
Anatomie  nach  dem  Vorbilde  von  Winslows  „ Exposition ",^^)  Mayer 


**)  *De  quinto  pari  nervo r.,  Gotting.  1748,  4*^.  —  Zur  Orientierung  über 
die  Familie  Meckel  diene  folgender  Stammbaum: 

Johann  Friedrich  Meckel  der  Aeltere  (I.) 

I 
Philipp  Friedrich  Theodor  M. 

(Anat.  u.  Chir.  Prof.,  HaUe  a.  S.,  175G— 1803) 


Johann  Friedrich  M.  der  Jüngere  (II.)  August  Albrecht  M. 

(Anat.  u.  Chir.  Prof.,  HaUe  a.  S.,  1781-1831)  (Anat.  Prof.,  Bern,  1790-1829) 

I 

Heinrich  M.  von  Hemsbach 

Cpath.  Anat.,  Charit6  Berlin,  1821—56). 

^'*)  Hielt  ursprünglich  Vorlesungen  in  Berlin,  wurde  dort  jedoch  scheel  ange- 
sehen, seit  1767  in  Petersburg,  o.  Mitgl.  d.  Akad.  (f.  Anat.  u.  Physiol.) 

*'*')  Theoria  generationis,  Diss.  1759;  *Uebers.  von  Samassa  (Paul), 
Leipz.  1896,  2  Tle.;  deutsch  von  Wolff  u.  d.  T.  Theorie  der  Generation  1764;  lat. 
Neuauflage  eines  Ungenannten  1774.  —  De  formatione  intestinor.  Nov.  Com- 
ment.  Acad.  Petrop.,  T.  XII,  XIII;  deutsch  von  Meckel  u.  d.  T.  Ueb.  d.  Bildung 
des  Darmcanals  im  bebrüteten  Hühnchen,  Halle  1812. 

**')  Schüler  von  Chr.  Th.  Büttner  in  Königsberg  i.  Pr.  und  J.  F.  Meckel  L, 
in  der  Injektionstechnik  von  N.  Lieberkühn.  Autobiographie  in:  *Funfzigjähriger 
Jubeltag  des  .  . .  Joh.  Gottl.  Walter,  Berlin  1810,  8  »,  54  Seiten. 

84bj  *  Anat.  Sendschreiben  an...WilhelmHunter  ...VondenBlut- 
adern  des  Auges  u.  s.  w.  =  Epist.  anat.  de  venis  oculi  etc.,  Berl.  1778,  4", 
52  S.,  3  Tab.  —  Das  Literaturverz.  in  Gurlt-Hirsch'  Biogr.  Lex.  VI  ist  zu  ergänzen 
durch  *Abhandl.  von  den  trockenen  Knochen  des  menschl.  Körpers, 
Beri.  u.  Strals.  1763,  m.  Kupf.,  8«,  385  S.  u.  Reg.  (1.  Aufl.),  *Von  der  Ein- 
saugung u.  d.  Durchkreuzung  der  Sehnerven.  M.  1  Kupfert,  Berl.  1794, 
8  0,  104  S. 

•*•)  Prof.  d.  Anat.  in  Halle  seit  1738,  in  Berlin  seit  1741. 

8=*»')  *De  aure  hum.,  Hai.  1734,  4«,  Tract.  V,  VI,  1735. 

8»)  *Anatom.  Tabellen,  Frankf.  u.  Leipz.  1775,  8°,  4  Theile. 


Geschichte  der  Anatomie.  289 

Joh.  Christian  Andreas,  *  1747  8.  Dez.,  f  1801), s')  Falkenberg: 
auch  Falckenberg  *  ?,  f  1^82  17.  Nov.),  Knape  (Christoph,  *  1747 
26.  Dez.,  t  1831  15.  Dez.).  Walter  d.  J.  (Friedr.  Aug.,  *  1764 
25.  Sept..  f  1826  18.  Dez.).  Neben  diesen  ragt  besonders  hervor,  ob- 
zwar  mit  keinem  Lehramt  betraut,  dennoch  mit  Recht  als  einer  der 
bedeutendsten  Anatomen  Deutschlands  in  der  Hallerschen  Periode  zu 
bezeichnen,  Lieberkühn  (Johann  Nathanael,  *  1711  5.  Sept.,  f  1756 
7.  Okt.),*'*'*)  Erfinder  des  Sonnenmikroskops  (1738),  berühmt  durch 
seine  Gefässinjektionen,  bekannt  durch  die  Beschreibung  der  nach  ihm 
benannten  „Drüsen"  der  Darmschleimhaut. ^*^) 

Die  fruchtbare  Thätigkeit  des  berliner  Colleginm  medico-chirurgicum 
ist  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  nahe  Universität  in  Frankfurt  an  der 
Oder  (errichtet  1506  27.  Apr.,  nach  Breslau  verlegt  1811)  geblieben.  Die 
Leichensektionen  waren  hier  selten.  Die  erste  wird  für  1600  erwähnt.  Bis 
1646  folgten  weitere  fünf.  Nach  einer  langen  Pause  unternehmen  abermals 
fünf  Sektionen  Andreae  (Tobias,  *  1633  IL  Aug.,  j  1685  5.  Jan.;  in 
Frankfurt  Prof.  med.  1674 — 80,  dann  in  Franeker,  Anhänger  von  Ludw. 
De  Bils)  und  dessen  Nachfolger  Albinus  (Bernard,  *  1653  7.  Jan.,  y  1721 
7.  Feb. ;  in  Frankfurt  Prof.  med.  1681 — 1702,  dann  in  Leyden).  Der 
erstere  beschaffte  1678  das  erste  Skelet,  letzterer  errichtete  zum  teil  auf 
eigene  Kosten  1684  das  erste  anat.  Theater.  Nach  seinem  Abgange  scheint 
die  prakt.  Anatomie  wieder  geschlafen  zu  haben,  und  Goelicke  (Andreas 
Ottomar,  *  1671  2  Febr.,  y  1744  12.  Juni)  fand  Zeit  zu  einer  eingehenden 
historischen  Thätigkeit.  Erst  1723  wird  wieder  eine  Leichensektion  er- 
wähnt. Nachdem  dann  die  Verordnungen  des  Königs  Friedr.  Wilhelm 
(1724  2.  Okt.,  1725  13.  Jan.)  die  Promotionen  in  Frankfurt  und  die  Aus- 
übung der  ärztlichen  Praxis  an  die  Absolvierung  eines  anat.  Kursus  in 
Berlin  und  ein  diesbezügliches  Zeugnis  des  berliner  Collegiums  geknüpft 
hatten  und  der  Einspruch  der  Frankfurter  Fakultät  (sie  bestand  aus  zwei 
Professoren)  zurückgewiesen  war,  scheint  man  die  Leichensektionen  ganz 
aufgegeben  zuhaben.  Wenigstens  ist  in  den  bis  1770  reichenden  Fakultäts- 
akten seither  keine  Sektion  mehr  erwähnt  (Urkundliches  bei  *Preuss 
(H.  C.  R.),  Analecta  ad  historiam  facultatis  med.  Univ.  Francof.  Inaug.- 
Diss.  1847,  Vratisl.,  8  «,  54  pag.). 

Nachdem  das  Colleginm  medico- Chirurg,  aufgelöst  worden  (1809 
14.  Dez.)  und  dessen  anat.  Institut  i.  J.  1810  von  der  med.  Fakultät 
der  neu  errichteten  Universität  übernommen  war,  entwickelte  sich 
eine  neue  Blüte  der  anat.  Thätigkeit.  Rudolphi  (Karl  Asmund, 
""  1771  14.  Juli,  f  1832  29.  Novb.)  vermehrte  die  Walt  ersehe  Sammlung 
im  nahezu  4000  Präparate.  Er  bethätigte  sich  hauptsächlich  auf  dem 
'  iebiete  der  Zootomie,  Zoologie,  vergl.  Anatomie  und  sicherte  sich 
iurch  sein  grundlegendes  Werk  über  die  Entozoen  (1808 — 10)  einen 
(lauernden  5s"amen.  Sein  erster  Prosektor  Rosenthal  (Friedr. 
Christian,   *  1780  3.  Juni,  f  1829  5.  Dez.)»»"»)  bearbeitete  u.  A.  das 


"")  Am  Theatr.  anat.  Berolin.  1774—78,  dann  Prof.  d.  Medizin  in  Frankfurt  a.  0. 

*'")  Schüler  von  Albinus,  in  Berlin  seit  1740. 

**"')  De  fabrica  et  actione  villor.  et  intestinor.  tennium,  Leyden 
1745,  m.  HTaf.  —  Descript.  d'un  microscope  anat.,  Berlin.  1745.  —  Opera 
•d.  Sheldon,  Lond.  1782. 

**■)  Schüler  von  Joh.  Chr.  Reil,   auf  dessen  Veranlassung   seit  1810  in  Berl., 
1815  Prof.  e.  o.,  seit  1820  o.  Prof.  d.  Anat.  u.  Physiologie  in  Greifswald. 
Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  19 


290  Robert  Ritter  von  Töply. 

Cerebrospinalsystem  ^''^)  im  Sinne  von  Reil  (Joh.  Christian,  *  1759 
28.  Febr.,  f  1813  22.  Nov.;  seit  1810  in  Berlin),  dessen  Untersuchungen 
über  den  Bau  des  Cerebrospinalsystems  zu  den  hervorragendsten 
Arbeiten  am  Schlüsse  des  18.  Jahrhunderts  gehören."")  Rudolphis 
späterer  Prosektor  Schlemm  (Friedr.,  *  1795  11.  Dez.,  f  1858 
27.  Mai)®^)  hielt  sich  als  Zweiter  ehrenvoll  neben  dem  hervorragenden 
Joh.  Müller.  Rudolphis  und  Rosenthals  Schüler  Barkow  (Hans  Karl 
Leop.,  *  1798  4.  Aug.,  f  1873  22.  Juli)»-«»)  ist  durch  zahlreiche  kost- 
bar ausgestattete  Abhandlungen,  besonders  aus  dem  Gebiete  der 
Angiologie  hervorgetreten."-'') 

Barkow  ragt  in  der  descr.  Anat.  weit  über  seinen  Vorgänger  und 
dessen  Vater.  Otto  d.  Ae.  (*  1745  6.  März,  f  1835  10.  Nov.;  1758—1811 
Prof.  d.  Med.  in  Frankfurt  a.  0.,  Oberaufseher  des  bot.  Gartens  und  des 
anat.  Theaters)  hatte  sich  als  Ornitholog,  dessen  Sohn  Otto  d.  J.  (Adolph 
Wilh.,  *  1786  3.  Aug.,  f  1845  14.  Jan.;  1813—45  Prof.  o.  d.  Anat.  u. 
Dir.  d.  anat.  Mus.  in  Breslau,  hier  um  die  Erbauung  des  neuen  anat. 
Theaters  1834/35  verdient)  hauptsächlich  auf  dem  Gebiete  der  Tjiutologie 
hervorgethan.  /  f^Y^iXi^^ 

Unter  Rudolphis  Einfluss  entwickelte  sich  dessen  berühmter  Nach- 
folger Müller  (Johannes,  *  1801  14.  Juli,  j  1858  28.  April),*'^^'*)  einer 
der  grössten  Biologen  aller  Zeiten.  Seine  hervorragendsten  Leistungen 
liegen  im  Gebiet  der  Physiologie  und  der  vergl.  Anatomie.  In  der 
descr.  menschl.  Anatomie  betreffen  sie  den  Nachweis  der  Arteriae 
helicinae,  Untersuchungen  über  die  erektilen  Organe  im  allgemeinen, 
über  die  Dammrauskulatur,  über  das  Ganglion  oticum  und  das  obere 
sog.  Ehrenrittersche  Ganglion  des  Glossopharyngeus,  um  dessen  richtige 
Deutung  er  sich  verdient  gemacht.  Das  ihm  unterstehende  Museum 
hat  er  um  12  380  Stücke  vermehrt.  Er  hat  mit  Purkinje  als  einer 
der  Ersten  die  mikroskopische  Anatomie  methodisch  geübt  und  Schüler 
wie  Heule  und  Schwann  herangezogen.  Er  hat  den  alten  Namen 
„Zellgewebe''  durch  „Bindegewebe"  ersetzt,  den  feineren  Bau  der 
Drüsen  monographisch  bearbeitet,  unabhängig  von  Bowman  die  Harn- 
kapseln entdeckt,  den  von  Rathke  1825  entdeckten  Gang  als  Anlage 


®'"')  Ueb.  d.  Structur  des  Gehirns  u.  d.  Nerven,  kurz  vor  dem  Tode 
vollendet,  vgl.  Pagel  in  Gurlt-Hirsch'  Biogr.  Lex.  V,  S.  86.  —  Handb.  d.  chir. 
Anat,  Berl.  1817. 

*°)  Exercitation.  anat.  fasc.  I.  de  struct.  nervor.,  Halle  1796. 

")  1829  a.  0.,  1833  o.  Prof.  d.  Anat.  Arteriar.  capitis  superf.  icou 
nova,  Berl.  1830,  fol.  —  Bemerkungen  üb.  d.  angebl  Ohrknoten  (Gangl. 
otic),  Frorieps  Notizen  1831.  —  Obs.  neurologicae,  quas  ut  locum  in  facult. 
med.  . . .  rite  obtineret,  scrips.,  Berl.  1834,  4  *•,  3  tab. 

»2»)  1821  Prosektor  bei  Eosenth.  in  Greifsw.,  1826—73  Prof.  d.  Anat.  in  Breslau, 
1835  Prof.  0.,  seit  d.  Tode  von  A.  W.  Otto,  d.  i.  1845,  Dir.  d.  anat.  Inst. 

**•')  Disquisitiones  circa  origin.  et  decurs  arteriar.  mammal., 
Lips.  1829,  4  tab.,  4".  —  Disq.  nonnullae  angiol.,  Vratisl.  1830,  4".  —  D. 
Venen  der  ob.  Extrem,  d.  Menschen,  Bresl.  1868,  fol.  m.  Taf.  —  D.  angiol. 
Sammlung  im  anat.  Mus.  d.  königl.  Univ.  zu  Breslau,  Bresl.  1869,  4", 
m.  Taf.  —  D.  Verkrümmungen  d.  Gefässe,  Bresl.  1869,  fol.,  m.  19  Taf.  — 
Erläuterungen  zurLehre  v.  d.  Erweiterungen  u.  Verkrümmungen  der 
Gefässe,  Bresl.  1871,  fol.,  m.  19  Taf.  —  D.  Ursachen  der  Schlagader- 
verkrümmungen u.  d.  Urs.  d.  Schlagadererweiterungen,  Bresl.  1872, 
fol.,  m.  Taf. 

*")  In  d.  Anatomie  Schüler  von  F.  Mayer  u.  M.  J.  Weber,  Privatdozent  in 
Bonn  1824,  seit  1833  o.  Prof  d.  Anat.  u.  Physiol.  in  Berl. 


Geschichte  der  Anatomie.  291 

des  Eileiters  erkannt  u.  A.  ^•^^)  Müllers  Lieblingsscliüler  He  nie 
(Friedr.  Gust.  Jakob,  *  1809  19.  Juli,  f  1885  13.  Mai)^^'')  zählt  als 
Forscher,  Kritiker  und  Schriftsteller  sowie  als  Lehrer  zu  den  be- 
deutendsten deutschen  Anatomen  des  19.  Jahrhunderts.  Zu  seinen 
Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  mikroskop.  Anatomie  gehören  die 
Entdeckung  des  Cylinderepithels  des  Darmkanals,  die  Feststellung 
der  Grenzen  und  der  Verbreitung  der  Epithelien  überhaupt  sowie  des 
Zusammenhangs  aller  Epithelformen,  des  Verhaltens  der  centralen 
Chylusgefässe,  der  inneren  Wurzelscheide  des  Haares,  der  umspinnen- 
den Fasern,  die  erste  genauere  Schilderung  des  feineren  Baues  der 
Hornhaut,  die  Entdeckung  des  Epithels  (Endothels)  der  Blutgefässe, 
der  gefensterten  Gefässmembranen,  der  Leberzellen  (gleichzeitig  mit  .  *•  y.^^^ 
Purkinje),  der  nach  ihm  benannten  Strecke  der  Nerj^ükanälchen  A/läARav 
(Henlesche  Schleife),  des  ausschliesslichen  Vorkommens  von  Zapfen 
in  der  Fovea  centralis,  bezw.  Macula  lutea  der  Netzhaut  u.  A.  Seine 
..Allgemeine  Anatomie"  sowie  die  „Systematische  Anatomie"  bilden 
nicht  nur  die  wissenschaftliche  Zusammenfassung  dessen,  was  bis  da- 
hin geleistet  worden  war,  sie  enthalten  auch  eine  Fülle  neuer  Be- 
reicherungen und  neuer  Gesichtspunkte,  welche  für  die  Zukunft  mass- 
gebend wurden,  z.  B.  die  Nomenklatur  der  Achsen  und  Ebenen  des 
Körpers.'^*'')  Aus  Henles  Schule  ist  eine  grosse  Reihe  tüchtiger 
Anatomen  hervorgegangen,  darunter  Eüdinger  (Nicolaus,  *  1832 
25.  März,  y  1896  25.  Aug.),^^'')  der  die  Karbolinjektionen  der  Präparier- 
saalleichen eingeführt  und  dadurch  das  Studium  an  der  Leiche  ge- 
fördert hat,  sowie  er  durch  Einführung  der  Photographie  und  der 
photomechanischen  Druckverfahren  für  die  Wiedergabe  von  Präparaten 
einen  Ehrenplatz  in  der  Geschichte  der  anat.  Abbildung  einnimmt.^'^^) 
der  geniale  Henke  (Wilh.,  *  1834  19.  Juni,  j  1896  17.  Mai),**«^)  einer 
der  anregendsten  Lehrer,  weil  Anatom  und  Kunsthistoriker  zugleich,*^^) 


^^^)  Biographie  von  *Waldeyer  in  Gurlt-Hirsch'  Biogr.  Lex.  IV  mit  ausführ- 
lichem Literatnruachweis. 

»^'')  1834  Prosektor  hei  J.  Müller  in  Berlin,  1838—40  Dozent  das.,  dann  Prof. 
d.  Anat.  in  Zürich,  seit  1844  in  Heidelherg,  anfangs  2.  Prof.  d.  Anat.  neben  Tiede- 
mann,  seit  dessen  Emeritirung  1849  Dir.  d.  anat.  Anst.,  1852 — 85  Prof.  d.  Anat.  u. 
Dir.  d.  anat.  Anst.  in  Göttingen. 

94b^  *Symbolae  ad  anat.  villor.  intestinal,  inprim.  eo  rnm  epithelii 
et  vasor.  lacteor.  1837.  Habilitationsschrift.  —  *Allgemeine  Anatomie, 
Leipz.  1841.  —  *STStemat.  Anatomie,  3  Bde.,  Braunschweig,  1.  Aufl.  1855, 
2.  Aufl.  1867,  3.  Aufl.  1871—79.  —  *Waldeyer  in  Gurlt-Hirsch'  Biogr.  Lex.  HI, 
l."33  (danach  ohiger  Auszug);  *  Henke  (AVilh.l,  Jacoh  Henle.  Arch.  f.  A.  u.  Ph. 
Anat.  Ahthlg..  Leipz.  1892.    S.-A.,  8°  32  S.  —  Merkel  (F.).  Henle.    Braunschw.  1891. 

°^'')  Schüler  von  Henle,  F.  Arnold,  Th.  W.  L.  Bischoff,  1855  des  letzteren  Pro- 
•ktor  u.  Adjunkt,  1881—96  Prof.  d.  Anat.  in  München. 

*'"')  Atlas  des  peripher.  Nervensystems  des  mensch  1.  Körpers. 
M.  Vorwort  von  Th.  "W.  L.  Bischoff  (Atl.  du  syst,  nerveux  peripherique  du  c. 
hum.)  *1.  Aufl.,  Photogr.  n.  d.  N.  von  Jos.  Albert,  Münch.  1861,  fol.;  2.  Aufl.,  52 
Taf.  vervielf.  mittels  Lichtdruck  von  Max  G  e  m  o  s  e  r  1870.  —  Atlas  des 
menschl.  Gehörorgans,  Münch.  1866  75.  —  Die  Anat.  des  peripher. 
Nervensystems  des  menschl.  Körpers,  m.  37  Taf.  nach  Albertschen 
Photogr.  in  Stahl  gest.,  Stuttg.  1870,  4".  —  Morphologie  d.  Gaumensegels  u. 
d.  Verdauungsapparates,  Lex.  8°,  mit  ,\tlas  in  fol.,  enth.  5  Taf.  in  Farbendr., 
Stuttg.  —  *Topogr.-chir.  Anat.  d.  Menschen,  192  S.  m.  Supplement,  Stuttg. 
1873—89,  m.  Tafeln  in  Lichtdr.  von  M.  Gemoser.  —  Kursus  der  topogr. 
Anat-,  München  1891. 

»»•)  Prof.  d   Anat.  1865  in  Rostock,  1872  in  Prag,  1875—96  in  Tübingen. 

»•'')  Handb.  d.  Anat.  u.  Mechanik  der  Gelenke,  Leipz.  1863.  — 
Topogr.  Anat.  d.  Menschen,  Atlas  u.  Lehrb.,  Berl.  1879— 83.  —  *D.  Menschen 

19* 


292  Robert  Ritter  von  Töply, 

Henles  Schwiegersohn  Merkel  (Friedr,  Sigm.,  *  1845  5.  April),*'*) 
der  Henles  Grundriss  der  Anat.  vollkommen  neu  bearbeitet,  die  topo- 
graphische Anat.  gefördert  hat,  mit  Bonnet  seit  1892  alljährlich  einen 
Band  „Ergebnisse  der  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte"  er- 
scheinen lässt  und  Monographien  anatomischen  Inhalts  u.  d.  T.  „Ana- 
tomische Hefte"  den  Weg  bahnt.""')  Joli.  Müllers  Schüler  Eckhard 
(Konrad,  *  1822  1.  März)  ****")  hat  sich  vorwiegend,  und  schliesslich 
endgiltig  der  Physiologie  gewidmet,'*'*'')  ein  anderer  Schüler,  His 
(Wilh.,  *  1831  9.  Juli)"'*'')  leitet  hinüber  zur  allerneuesten  Aera  der 
deutschen  Anatomie  durch  seine  wertvollen  entwicklungsgeschicht- 
lichen Arbeiten,  als  Mitbegründer  des  Archiv  f.  Anthropologie  (1866), 
sowie  mit  Braune  der  Zeitschr.  für  Anat.  und  Entwicklungsgeschichte 
(1876—78,  1878  in  die  anat.  Abteilung  des  Archiv  f.  Anat.  und 
Physiol.  umgewandelt),  schliesslich  der  jetzt  festgesetzten  anatomischen 
Nomenklatur.""^) 

Johannes  Müllers  Nachfolger  in  Berlin,  Eeichert  (Karl  Bogislaus, 
*  1811  20.  Dez.,  t  1883  21.  Dez.)  i""'')  hat  die  Entwicklungsgeschichte 
und  Histologie  wesentlich  bereichert  und  schon  1842  regelmässige 
Vorlesungen  über  das  erstere  Gebiet  gehalten.  Seine  Funde  betreffen 
die  genauere  Schilderung  der  3.  Hirnkammer,  der  Maculae  acusticae, 
die  Aufstellung  eines  Vorhofs-  und  Kuppelblindsackes  an  der  Schnecke; 
Einführung  der  Zellenlehre  in  die  Embryologie,  Feststellung  der 
Keimblätter  und  Primitivanlagen  bei  den  Batrachiern,  deren  genauere 
Schilderung  beim  Hühnchen,  namentlich  in  histolog.  Beziehung,  Nach- 
weis der  Deckschicht  bei  den  ersteren  (Umhüllungsschicht,  auch  für 
die   Vögel   angenommen),    genauere  Feststellung  der  Umbildung    der 


des  Michelangelo  im  Vergleich  mit  der  Antike,  Rostock  1871.  (Diese 
kleine  Abhandlung  gehört  zu  dem  Besten,  was  ich  über  Michelangelo  gelesen  habe. 
Ausserdem  schrieb  Henke  noch  über  die  Venus  von  Melos  in  der  Zeitschr.  für  bild. 
Kunst  und  Anderes  kunsthistorischen  Inhalts.  Seine  sowie  des  Kunsthistorikers 
Woltmann  Vorträge  in  Prag  bleiben  mir  unvergesslich.  Sie  haben  in  uns  den 
Schönheitssinn  geweckt,  i;ns  eine  über  das  Kleinliche  erhabene  Auffassung  beige- 
bracht und  dadurch  so  Manchem  über  schwere  Stunden  des  Lebens  hinweggeholfen.) 

»"»)  In  Göttingen  1869  Prosektor,  1870  Privatdozent,  1872  Prof.  der  Anat.  in 
Rostock,  1883  in  Königsberg,  1885  in  Göttingen. 

»''')  *Handb.  der  topogr.  Anat,  2  Bde.,  Braunschw.  1885-99.  —  Von 
den  anat.  Heften  ist  seit  1892—1901  Bd.  1—16  erschienen,  darin  auch  S  t  i  e  d  a's 
wertvolle  anat.-arcliäolog.  Studien. 

"**")  Ludwigs  1.  Assist.,  dann  Prosektor  in  Marburg  unter  L.  Fick,  in  Giessen 
\inter  Bischoff,  hier  1849/50  habilitiert,  wurde  Bischoffs  Nachfolger  als  Prof.  d.  Anat. 
u.  Physiol.,  seit  1891  nur  der  Physiol. 

"*'•)  Ueber  d.  Zungenbein  d.  Säugethiere,  Müllers  Arch.  1848;  unter 
Müller  gearb.  —  Ueb.  d.  Hautdrüsen  d.  Kröten,  das.  1849.  —  Lehrbuch 
der  Anat.  d.  Menschen,  1862. 

ö'")  Schüler  von  J.  Müller,  Remak,  Virchow,  1857  o.  Prof.  d.  Anat.  u.  Physiol. 
in  Basel,  1872  d.  Anat.  in  Basel. 

*""')  Beitr.  zur  normalen  u.  path.  Anat.  d.  Cornea,  1856.  —  Crania 
helvetica.  Mit  Rütimeyer  (L.)  1865.  —  Ueb.  d.  erste  Anlage  des  Wirbel- 
thiereies,  1868.  —  *Unsere  Körperform  u.  d.  physiol  Problem  ihrer 
Entstehung,  1875.  —  *Anatomie  menschl.  Embryonen,  1880—85.  —  *Die 
anat.  Nomenclatur.  Verz.  der  von  d.  anat.  Ges.  auf  ihrer  IX.  Vers,  in  Basel 
angenommenen  Namen.  M.  30  Abb.  u.  2  Taf.,  Leipz.  1895.  180  S.  Zu  letzterem 
Gegenstande  vgl.  *Krause  (W.),  D.  anat.  Nomenclatur.  Eine  histor.  Unters., 
Leipz..  1893,  33  S.  —  Verz.  der  die  Entwicklung  des  Cerebrospinalsystems  betreffenden 
Arbeiten  von  His  in  Pageis  Biogr.  Lex. 

i*^»)  Schüler  von  K.  E.  v.  Baer,  Joh.  Müller,  R.  Froriep,  seit  1843  o.  Prof.  d. 
menschl.  u.  vergl.  Anat.  in  Dorpat,  seit  1853  an  Th.  v.  Siebolds  Stelle  Direktor  des 
physiol.  Inst,  in  Breslau,  seit  1858  an  Müllers  Stelle  in  Berlin. 


Geschichte  der  Anatomie.  293 

Kiemenbögen.  der  Entwicklung  des  Amphibienschädels ,  1845  Auf- 
stellung (1er  Bindesubstanzgi'uppe.^"^"')  Neben  ihnen  verdient  einer 
besonderen  Erwähnung  Ehreuberg  (Christian  Gottfried,  *  1795 
19.  April,  f  1876  27.  Juni)  als  Entdecker  der  Nervenzellen^"^)  und 
Remak  (Eobert,  *  1815  26.  Juli,  f  186ö  29.  Aug.,  Schüler  von  Joh. 
Müller),  in  der  Embryologie  hervorragend  durch  seine  Lehre  von  der 
Zusammensetzung  der  Keimhaut  aus  drei  Schichten,  Entdecker  des 
Achsencylinders  und  der  nach  ihm  benannten  Fasern,  sowie  des  Zu- 
sammenhangs des  ersteren  mit  den  Nervenfasern,^^-)  dann  Joh.  Müllers 
Schüler  und  Gehilfe  Lieb  erkühn  (Nathanael,  *  1822  8.  Juli,  f  1887 
14.  April),^"^^'')  ein  hochverdienter  Embryolog,  dessen  Hauptthätigkeit 
allerdings  in  seine  Marburger  Zeit  fällt  (1870— 1880),^''3b^  schliesslich 
Reicherts  Prosektor  Wagener  (Guido  Eichard.  *  1822  12.  Febr., 
f  1896  10.  Febr.),  ^°^^)  auf  dem  Gebiete  der  Entwicklungsgeschichte 
der  Wirbellosen  thätig.  Nachdem  sich  in  Berlin  das  i.  J.  1865  erbaute 
L  anat.  Institut  (Reichert)  als  nicht  hinreichend  erwiesen  hatte,  wurde 
1888  das  IL  anat.  Institut  (Hertwig)  eröffnet.  Der  so  geschaffenen 
neuesten  Aera  gehören  Waldever  (Heinr.  Wilh.  Gottfried,  *  1836 
6.  Okti^oöj  und  Hertwig  (Oskar.  *  1849  21.  April)  am^««) 

Wien^''')  war  gegenüber  anderen  Städten  unverhältnismässig 
lang  zurückgeblieben.  Seit  der  ersten  Zergliederung  einer  menschlichen 
Leiche  (1404  12.  Feb.)  hatten  jahrhundertelang  fallweise  Dissektionen 
stattgefunden  ^"*)  ohne  jedoch  zu  einem  Aufschwung  der  Anatomie  zu 


loob^  De  embryonum  arcub.  sie  dictis  branchialib.,  Berl.  1836.  4**.  — 
Vgl.  Entwickelungsgeschichte  des  Kopfes  der  nackten  Amphibien, 
Königsb.  1838,  4**.  —  Das  Entwickelungsleben  im  Wirbelthierreiche, 
1840,  4°.  —  Bemerkungen  zur  vergl.  Naturforschung  im  Allgem.  u. 
vergl.  Beobachtungen  üb.  d.  Bindegewebe  u.  d.  verwandten  Gebilde, 
Dorpat  1845.  —  D.  monogene  Fortpflanzung,  Dorpat  1845.  —  D.  Bau  des 
menschl.  Gehirns,  2  Abt.,  Leipz.  1859,  1861.  —  Die  feinere  Anatomie  der 
Gehörschnecke.  Äbh.  d.  königl.  preuss.  Akad.  d.  Wissensch.,  1864.  —  Vgl.  die 
Biographie  von  Waldever  in  Gurlt-Hirsch'  Biogr.  Lex.  IV. 

^''*)  Weitaus  weniger  als  o.  Prof.  f.  Gesch.  der  Heilkunde  (seit  1847). 

'*•*)  Vorlauf.  Mittheilung  mikroskop.  Beobachtungen  über  den 
inneren  Bau  der  Cerebrospinalnerven,  MüUers  Arch.  1836.  —  Obser- 
vationes  anat.  et  microscop.  de  systematis  nervosi  structura, 
Diss.  1838.  —  üeber  denselben  Gegenstand :  Hannover  (A.) ,  3Iikroskopiske 
Undersögelser  af  Nervesystemet,  Kjöbenhavn  1842;  Helmholtz  (H.  L.  F.  v.),  De 
fabrica  svstematis  nervosi  evertebrator..  Berolin.  1842. 

^°»»)  Seit  1867  Prof.  d.  Anat.  in  Marburg. 

"•""j  Ueb.  d.  Bewegungserscheinungen  der  Zellen  (Marb.  1870);  Ent- 
wicklungsgesch.  des  Wirbel thierauges  (Kassel  1872);  Eesorption  der 
Knochensubstanz  (m.  Bermann.  Frankf.  1877);  Keimblätter  der  Säugethiere  (Marb.  1880). 

■*^*)  Assistent  von  Brücke  u.  Joh.  Müller,  seit  1867  Prof.  in  Marburg. 

^°^)  Schüler  von  Henle,  seit  1872  o.  Prof.  d.  norm.  Anat.  in  Strassburg,  seit 
1883  Direktor  des  anat.  Inst,  in  Berl. 

lO")  Seit  1881  0.  Prof.  d.  Anat.  in  Jena,  seit  1888  o.  Prof.  d.  aUg.  Anat.  u. 
Entwickelungslehre  in  Berl. 

^°')  *Hyrtl  (Jos.),  Vergangenheit  u.  Gegenwart  des  Museums  f.  menschl. 
Anat.  an  d.  Wiener  Universität,  Wien  1869,  264  S.  —  *Puschmann  (Theod.),  D. 
Medicin  in  Wien  während  d.  letzten  100  Jahre,  Wien  1884,  327  S.  —  »Schwarz 
Qgji-),  Zur  älteren  Gesch.  des  anat.  Unterrichtes  an  d.  Wiener  Univ..  Wien.  klin. 
Wochschr.  Nr.  25,  1895,  S.-A.,  11  S.  —  *Puschmann  (Theod),  Abschn.  Med. 
Facultät  in  d.  Huldigun^festschr.  „Gesch.  der  Wiener  Univ.  von  1848 — 98",  Wien 
1Ä98.  —  *Töply  (Roh.  Kitt,  v.),  Wiener  Aerztefamilien  der  theresian.  Zeit,  in  d. 
Festschr.  ,,Ein  halbes  Jahrtausend",  Wien  1899  (Veröffentlichung  des  Liber  societat. 
vidnar.  incl.  facultät.  medicae,  tom.  I). 

*"*)  Mangels  von  Verbrecherleichen  an  Tierleichen.  Am  Ende  des  15.  Jahrh. 
'  rreclmet  der  Dekan  Mag.  Friedr.  Kraft  eine  Ausgabe  von  17  Denaren  „pro  phorco". 


294  ,  Robert  Ritter  von  Töply. 

führen.  Die  Schuld  lag  teils  daran,  dass  erst  1554  besoldete  Lehrer 
bestellt  wurden,  teils  daran,  dass  die  Selbständigkeit  der  Anatomie  vor- 
derhand nicht  anerkannt  war.  So  hat  der  grundgelehrte  Latz  (Wolf- 
gang, f  1565  19.  Jan.)  im  Collegium  Albertinum  der  Anatomie  zwar  ein 
neues  Lokal  verschafft  (1559),  aber  selbst  auf  dem  Gebiete  nichts  ge- 
leistet, ebensowenig  sein  Nachfolger  Aicholtz  (Joh.,  *  1520,  j  1588 
6.  Mai),  welcher  1558—80  neun  Anatomien  abhielt.  Etwas  mehr 
Fürsorge  widmete  dem  Fach  Sorbait  (Paul,  f  1691.)^*^'*)  Der  neuen, 
durch  Harvey  begründeten  Richtung  huldigt  dessen  Gehilfe  Wolf- 
striegel  (Lorenz)  in  seiner  Doktorthese  (1658),  in  seinen  ausserordent- 
lichen öffentlichen  Vorlesungen  über  Anatomie  und  in  dem  Einflüsse 
auf  seine  im  gleichen  Sinne  literarisch  thätigen  Schüler.  Er  brachte 
das  erste  Menschenskelet  in  Wien  zu  stände,  es  wurde  aber  von  den 
Studenten  gestohlen.  Wolfstriegel  beschrieb  u.  A.  den  embryonalen 
Kanal  des  Keilbeinkörpers.  ^^'^)  Noch  anfangs  des  18.  Jahrhunderts 
lehrte  die  Anat.  der  Prof  institutionum.  Da  seine  Stelle  als  Vorstufe 
zur  Lehrkanzel  des  Prof.  praxeos  galt,  widmeten  die  damit  Betrauten 
der  Anatomie  wenig  Aufmerksamkeit  (vgl.  die  ähnlichen  Verhältnisse 
in  dem  als  hegemon  geltenden  Basel.^")  Die  Anziehungskraft  der 
med.  Fakultät  sank  auf  diese  Weise  beträchtlich  (1723  studierten  in 
Wien  23  Mediziner !),  ihre  Trägheit  ist  dadurch  sattsam  gekennzeichnet, 
dass  im  ganzen  Jahre  1742  nicht  ein  einziger  anatom.  Akt  stattfand. 
Erst  1736  (a.  h.  Entschl.  v.  26.  Jan.)  wurde  eine  Lehrkanzel  der 
Anat.  errichtet,  aber  erst  1739  (3.  Dez.)  besetzt.  Gleich  der  erste 
Professor  Mannagetta  (Fr.  Xav.)  resignierte  schon  1742  (Jan.),  sein 
Nachfolger,  der  ehemalige  Militärarzt  Schellenberger  (1742 
12.  Jan.  —  1754,  f  1779),  war  ein  nichtssagender  Mann,  ebenso  der 
pedantische  Jaus  (Franz  Jos.,  *  1696  13.  April,  f  1761  IS.  Aüg.y^) 
In  der  neu  eröffneten  Universität  (übergeb.  1756  5.  April)  begann 
ein  neues  Leben,  vor  allem  angeregt  durch  die  von  Van  Swieten 
geschenkte  Präparatensammlung. ^^•')  Hier  gab  Gasser  (Lorenz, 
Prof  d.  Anat.  1757 — 65)  der  nach  ihm  benannten  aber  schon  von 
Santorini  (f  1737)  gekannten  Anschwellung  des  N.  trigem.  die  richtige 
Deutung  (Gangl.  semilun.  Gasseri.).^^*)  Neben  dem  unbedeutenden 
Collin  (Matthäus,  *  1739  13.  April,  f  1817;  Prof  d.  Anat.  1765—74) 
lehrte  der  tüchtige  Leber  (Ferdin.  Jos.  Edler  v..  *  1727  31.  Dez., 
t  1808  14.  Okt.;  Schüler  von  Jaus,  Prof  d.  Anat.  1761—86),  dessen 
Handbuch,  ohne  originell  zu  sein,  wegen  der  Uebersichtlichkeit,  der 
deutschen  Benennung  der  Kunstwörter  und  des  deutschen  Vortrags 
die  üblichen  Schulbücher  (Compendium   von  Heister,  Vademecum  von 


^*>®)  Isagog-e  Institution,  medicar.  et  anatomicar. ,  Norimb.  1672,  fol. ; 
Ed.  2.   1680,  Vien.;  Ed.  3.   1701,  Vien. 

^*°)  Ueber  seine  u.  seiner  Schüler  literar.  Tliätigkeit  Hyrtl  a.  a.  0.  S.  XX  u.  f. 

^^')  Ueber  die  anat.  Schriften  aus  jener  Uebergangsperiode  vgl.  Hyrtl  a.  a.  0. 
S.  XXII  u.  f. 

"'^)  Verwaltete  das  neuerrichtete  Amt  eines  Prosektors  seit  1730,  war  1749  o. 
50—61  Prof.  chir.,  1754 — 57  auch  Prof.  anat.  Vgl.  die  urkundlichen  Beiträge: 
*  Töply  (Rob.  Ritter  v.),  Professor  Jaus,  Wien.  klin.  Wochschr.  Nr.  9.  1900, 
S.-A.,  7  S. 

"")  Sie  enthielt  Präparate  von  Ruysch,  Albinus,  Lieberkühn  u.  ward  auf 
20000  fi.  geschätzt. 

11*)  Veröffentlicht  durch  Gassers  Schüler  Hirsch  (Raym.  Balth.)  in  dessen 
Inauguralschr.  1765.  Bis  dahin  galt  das  Gangl.  als  Plexus  (Meckel)  o.  Taenia 
nervosa  (Haller). 


Geschichte  der  Anatomie.  295 

Kirchheim)  verdrängt  hat,*^^)  dann  der  kunstsinnige  Barth  (Jos.. 
*  1745  18.  Okt.,  t  1818  7.  April;  Prof.  d.  Anat.  1774—86),  Erbauer 
eines  anat.  Amphitheaters  für  300  Zuhörer,  besonders  geschickt  in 
der  Injektionstechnik,  und  wenn  auch  literarisch  nicht  besonders 
hervorragend,^'*^)  so  doch  durch  seine  Genialität  der  Mittelpunkt  einer 
nicht  unbedeutenden  Forschergruppe.  Dahin  gehören  sein  Prosektor 
Ehrenritter  (*  ?,  f  1790  o.  91;  hielt  die  anat.  Vorlesungen  seit 
1786),  Entdecker  des  Ramus  tympanicus  und  des  Ganglion  superius 
nervi  glossopharyngei,^' ')  Fischer  (Joh.  Mart.,  *  1740,  f  1820;  seit 
1785  Prof.  d.  Anat.  an  der  Akad.  d.  bild.  Künste),  Yerfertiger  der 
bekannten  Muskelstatue  für  Künstler,^^^)  Prochaska  (Georg,  *  1749 
10.  April,  t  1820  17.  Juli),^!»^)  welcher  die  feinere  Struktur  der 
Muskeln  und  Nerven  untersuchte,^^*"')  Schmidt  (Joh.  Adam,  *  1759 
12.  Sept.,  t  1809  19.  Febr.,  Prof.  an  der  Josefs-Akademie).!-»)  Vetter 
(Alois  Rudolf,  *  1765  28.  Aug.,  f  1806  10.  Okt.).i-i)  Derselben  Zeit 
und  Geistesrichtung  gehört  auch  Gall  (Franz  Jos.,  *  1758  9.  März, 
t  1828  22.  Aug.),  dessen  anerkennenswerte  Forschungen  nach  dem 
Faserverlauf  der  weissen  Substanz  vom  Rückenmark  ins  Gehirn  aller- 
dings weniger  Aufsehen  erregt  haben,  als  seine  Sammlung  von  Schädeln, 
Gypsabgüssen  und  Wachsabdrücken  (in  den  Besitz  des  Jardin  des 
plantes  in  Paris  übergegangen)  und  vor  allem  seine  Schädellehre,  eine 
Parallele    zu    Lavaters    Physiognomik. !--)      Nur    Mayer    (Michael, 

115-)  »Vorlesungen  üb.  d.  Zergliederungskunst,  2.  Aufl.,  Wien  1778, 
488  S.  —  *Vietz  (Ferd.  Beruh.),  Eede  zur  Gedächtniszfeyer  des  .  .  .  Ferd.  Edl. 
T.  Leber,  Wien  1810,  23  S.,  4«. 

"*)  Anfangsgründe  der  Muskellehre,  m.  53  Kpf.  (meist  verkl.  Kopien 
nach  Albin.),  1786:  2.  Aufl.  1819.  —  Schneider  (Eob.  Eitt.  v.),  Ein  Kunstsammler 
im  alten  "Wien  (Prof.  Barth).  Jahrb.  des  Kaiserhauses,  Wien  1900,  fol.  S.-A.,  11  S. 
M.  lUustr. 

"')  1833  von  Joh.  Müller  wieder  beschrieben. 

^**)  Merkwürdigerweise  haben  Duval  u.  Guy  er  (*Hist.  de  l'Aanat.  plastique, 
Paris  1898,  .351  p..  118  flg.)  diesem  prächtigen  Werke,  das  sich  dem  Gladiateur 
combattant  von  Salvage  getrost  zur  Seite  stellen  kann,  ebensowenig  Aufmerksam- 
keit gewidmet,  wie  der  Osteografia  e  miografia  von  Cattani  (*Bologna  1780,  fol. 
max.j,  obzwar  letztere  die  zwei  grössten  anat.  Kupferstiche  enthält,  die  je  ge- 
schaffen wurden.  Besonders  prächtig  ist  der  zweite,  180  cm  hohe  Muskelmann 
(Hercules  Lelli  sculpsit,  Antonius  Cattani  Placentinus  incisit,  Bononiae  1780).  Auch 
Choulant  (*Gesch.  d.  anat.  Abb.  1852)  kennt  letzteres  Werk  nicht. 

1'"»)  1778—91  in  Prag  Prof.  d.  Anat.  u.  Augenheilk.,  seit  86  auch  der  PhvsioL, 
1791—1819  in  Wien  Prof.  d.  Physiol. 

"*'')  De  carne  niusc.  Vindob.  1778  c.  tab.  —  *De  structura  nervor., 
Vindob.  1779,  137  p.  c.  7  tab.'— *  Adnotation.  academic,  Pragae,  fasc.  I,  1780, 
81  p.  c.  4  tab.,  IL  1781,  141  p..  7  tab.,  IH.  1784,  223  p.,  5  tab.  —  *Operum  minor., 
Pars  I,  Vienn.  1800,  404  p ,  7  tab. 

^^"^  Comment.  de  nn.  lumbalib.,  Vindob.  1794,  4  tabb. 

'^')  Seit  1797  der  erste  Prosektor  des  allg.  Krankenhauses  in  Wien,  Gründer 
der  path.-anat.  Sammlung  das..  seit  1803  Prof.  d.  Anat.  u.  Physiol.  in  Krakau.  Anat. 
Lehrb.,  4  Tl.,  Wien  1788— 92,  m.  Kpf.  —  Lehr b.  d.  Anat,  L  Bd.,  3.  Aufl..  Wien 
1803;  Lehrb.  d.  Anat.  . . .  d.  Knochen-  u.  Muskellehre  enth..  Wien  1812.  — 
Ich  kenne  von  Vetter  nur  *Anatom.  Grundbegriffe  von  den  Eingeweiden 
d.  Menschen  u.  ihren  Verrichtengen,  Wien  1788,  m.  4  Kpfrtf.,  8*>,  360  S.  *Kurz- 
gef.  Beschreibung  aller  Gefässe  u.  Nerven  des  menschl.  Körpers.  M. 
4  Kupfert.,  Wien  1789,  491  S.  Hier  gesteht  der  Verf.  „Ich  habe  bei  den  Blutgefässen 
des  Prof.  Mayers  Beschreibung,  bei  den  Nerven  die  Anatome  Eepetita  des  Prof. 
Haase  zum  Grunde  gelegt;  bei  den  lymphat.  Gefässen  habe  ich  mich  grösstenteils 
nach  Prof.  Maskagni  Ichnographie  gerichtet".  Er  erzählt  dann  mit  grosser  Offen- 
heit, sein  Name  werde  mit  Pasquillen  gelästert,  am  8.  Apr.  1788  waren  alle  drei 
Thore  mit  einem  solchen  behängt,  Motto:  Stultitia  et  arrogantia. 

'")  Anat.  et  physiol.  du  syst,  nerveux,  Par.  1810—18,  4  Bde.  —  Eine 
auch  literargeschichtlich  wertvolle  Uebersicht  bei  *Martens  (Frnz.  Heinr.),  Leicht- 


296  Robert  Ritter  von  Töply. 

Prochaskas  Prosektor  seit  1800,  Prof.  seit  1810,  Lehrer  d.  Anat. 
1791 — 1830)  hat  dreissi^  Jahre  seines  Lebens  auf  dem  anat.  Lehr- 
stuhl versessen.  ^-•^)  Immerhin  hatte  sein  bescheidenes  Handbucli 
Avälirend  dieser  Zeit  doch  5  Auflagen  erlebt.  ^■^*)  Sein  Sohn,  der 
jüngere  Mayer  (Franz  Xav.,  seit  1824—63  29.  Dez.  Prof.  d.  Anat. 
in  Graz),  hat  sich  nicht  wesentlich  hervorgethan.  Hingegen  hat  Pro- 
chaskas Schützling  Berres  (Jos.  Edler  v.  Perez,  *  1796  18.  März, 
f  1844  24.  Dez.)^-^*)  die  mikroskopische  Anatomie  in  Wien  als 
Erster  systematisch  gepflegt  und  durch  ein  eigenes  photomechanisches 
Verfahren  die  Illustrationstechnik  gefördert. ^-•'^'')  Sein  Prosektor 
(seit  1833)  Hyrtl  (Jos.,  *  1811  7.  Dez.,  f  1894  17.  Juli)'-««^)  war 
ein  Stern  erster  Grösse  der  neuen  Wiener  medizin.  Schule.  Er  ver- 
einigte universelles  Wissen  mit  einer  seltenen  technischen  Geschick- 
lichkeit und  einer  ebenso  seltenen  Darstellungsgabe.  Sein  in  20  Auf- 
lagen erschienenes  und  in  alle  Kultursprachen  übersetztes  Lehrbuch 
beherrschte  die  2.  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts,  seiner  Initiative  ver- 
dankt Oesterreich  und  Deutschland  die  Einführung  der  topogr.  Ana- 
tomie. Die  von  ihm  geleiteten  und  auch  andere  Museen  verdanken 
seiner  und  seines  Assistenten  Friedlowsky ^^^'')  unermüdlichen 
Thätigkeit  wesentliche  Bereicherungen,  besonders  durch  ganze  Folgen 
vergleichend  -  anatomischen  Inhalts.  Seine  Hauptleistungen  bewegen 
sich  auf  dem  Gebiete  der  vergl.  Anat.  des  Gehörorgans,  der  Injektions- 
technik, der  Korrosionsanatomie,  schliesslich  auf  dem  Gebiete  der  Ge- 
schichte der  Anatomie.  ^ -'''')  Sein  (und  Bochdaleks)  Prosektor  Gruber 
(Wenzel,  *  1814   24.  Sept.,   f  1890  30.  Sept.)^-'^)  hat  die  Schleim- 

fassl.  Darst.  der  Theorie  ...  des  Herrn  Dr.  GaU,  Leipz.  1803,  99  S.,  4 »,  m.  10 
Knpfert.,  5  in  Aquatintamanier  gfeätzt  von  Arndt.  (Für  d.  Gesch.  d.  anat.  Abb. 
beachtenswert  wegen  der  Seltenheit  dieses  Verfahrens.    Von  Choulant  nicht  erw.) 

i23j  Hyrtl,  Verg.  u.  Gegenw.  d.  Mus.  f.  menschl.  Anat.  a.  d.  Wien.  Univ. 
p.  LIX. 

'-*)  *Anat.  Beschr.  des  ganzen  menschl.  Körpers,  Wien  1799,  278  S.: 
*5.  Aufl.  von  Jeitteles  (Andr.  Ludw.),  Wien  1831,  370  S. 

^^^^)  Seit  1817  Lehrer  d.  Anat.  am  Lyceura  in  Lemberg,  seit  1820  an  der  neu- 
gegründeten Univ.  das.  auch  Prof.  d.  path.  Anat.,  begründete  dort  das  anat.  Mus. 
(1848  durch  Brand  zerstört),  1831 — 44  Prof.  d.  Anat.  an  d.  Univ.  in  Wien. 

1"")  Anthropotomie,  1.  Aufl.  Lemberg  1821—27;  2.  Aufl.  1834  von  Hyrtl 
mitbearbeitet;  *Anat.  der  microscop.  Gebilde  des  menschl.  Körpers. 
12  Lieferungen  m.  24  Taf.,  1837 — 43.  —  Ueber  seine  Stellung  in  der  Geschichte  der 
ersten  photomechanischen  Verfahren  vgl.  *Schiendl  (L.),  Gesch.  d.  Photographie. 
W.  P.  L.,  Hartleben  1891,  374  S. 

^^^)  1837-45  Prof.  d.  Anat.  in  Prag,  1845—74  in  Wien. 

i26b^  Anton,  Privatdozent  seit  1868,  zog  sich  später  mit  Hyrtl  ins  Privatleben 
zurück,  lebt  gegenwärtig  in  Kreisbach  bei  Wllhelmsburg  in  Mederösterreich.  Seine 
umfangreiche  Sammlung  von  Porträts  (Aerzte  u.  Naturforscher)  wurde  1901  von  der 
Hofbibliothek  in  Wien  angekauft,  nachdem  sich  die  Universität  einer  derartigen 
Erwerbung  allerersten  Ranges  gegenüber  ganz  gleichgiltig  verhalten  hatte. 

i2öc^  Von  Hyrtls  selbständig  erschieneneu  Werken  verdienen  besondere  Be- 
achtung: Vergl. -anat.  Untersuchungen  üb.  d.  innere  u.  mittlere  Gehör- 
organ d.  Menschen  u.  d.  Säugethiere,  Prag  1845;  *Handb.  d.  prakt. 
Zergliederungskunst,  Wien  1860;  *Vergangenheit  u.  Gegenw.  des 
Wiener  anat.  Museums,  Wien  1869;  *D.  Blutgefässe  der  menschl. 
Nachgeburt,  Wien  1870;  *Corrosions-Anatomie,  Wien  1872if.;  *Das  Arab. 
u.  Hehr,  in  d.  Anatomie,  Wien  1879;  *Onomatologia  anat.,  Wien  1880; 
*Handb.  d.  topogr.  Anat.,  1.  Aufl.  1847.  7.  Aufl.  1882;  *D.  alten  deutschen 
Kunstworte  in  d.  Anat.  1884;  *Lehrb.  d.  Anat,  20.  Aufl.  1889.  —  Vgl. 
*Holl  (Äloritz),  Josef  Hyrtl,  Wien.  klin.  Wochschr.  Nr.  30,  1894,  S.-A.,  14  S.  m.  Verz 
der  von  Hyrtl  veröffentlichten  190  Arbeiten. 

127a)  Prosektor  in  Prag  1844—47,  dann  in  Petersburg,  hier  seit  1855  als  Nacht, 
von  Pirogow  Direktor  des  prakt.  anat.  Inst.,  seit  1858  o.  Prof.  d.  prakt.  Anat. 


Geschichte  der  Anatomie.  297 

beutel,  die  Bildimgsabweichungen  der  Gekröse  und  die  Lagerungs- 
anomalien  der  Eingeweide,  sowie  unzählige  Varietäten  verschiedenster 
Art  teils  in  kleineren  Abhandlungen,  teils  monographisch  (Hals- 
rippen. Process.  supracondvloid.  des  Oberarmknochens)  beschrieben.^-''') 
Neben  und  nach  Hyrtl  hat  Voigt  (Christ.  Aug.,  *  1808,  f  1890)  i-^«) 
die  Verteilung  der  Hautnerven,  das  Liniensystem  der  Haut  unter- 
sucht. Aus  der  Schule  von  Berres,  Hyrtl  und  Brücke  stammt  der 
ungarische  Anatom  Lenhossek  d.  Ae.  (Joseph  von,  *  1818  18.  März, 
f  1888  2.  Dez.),  ^■-'"')  verdient  durch  Beiträge  zur  Histologie  des 
Centralnervensystems,  durch  den  Monthyon-Preis  in  Paris  ausgezeichnet, 
durch  den  Ankauf  seiner  Präparate  für  das  Hunterian  -  Museum  in 
London  geehrt,  um  die  Beschreibung  von  Schädelfunden  in  Ungarn 
beflissen.  Mit  ihm  beginnt  die  neue  Aera  der  Anatomie  in  Ungarn. 
Zu  dieser  zählen  der  aus  der  Budapester  Schule  hervorgegangene, 
aber  in  Wien  von  Schenk  und  Toldt,  in  Leipzig  von  Ludwig  und 
Schwalbe,  in  Strassburg  von  Waldeyer  beeinflusste  Mihalkovics 
(Victor  Geza,  *  1844  29.  Jan..  f  1899  11.  .Tuli),^=^«)  einer  der  be- 
deutenderen Vertreter  der  Entwicklungsgeschichte,  sowie  Len- 
hossek d.  J.  (Michael  IL  von  L..  *  1863  28.  Sept.).  i^^) 

Hyrtls,  aus  der  Schule  von  Berres  hervorgegangener  Nachfolger 
Langer  (Karl,  *  1819,  1 1887), ^='-)  ein  vielseitiger  Mann,  hat  u.  A. 
den  Bewegungsmechanismus  der  Gelenke  festgestellt,  und  ist  zum  Aus- 
gangspunkt der  jüngsten  Wiener  Anatomenschule  geworden.  Zu 
dieser  zählen  in  Wien  —  wo  unter  Langer,  der  hohen  Frequenz  ent- 


1271.^  *Verz.  der  18-f4 — 1887  veröffentl.  Schriften  von  Dr.  Wenzel  Gruber  (von 
einem  Komitee  russ.  Aerzte),  St.  Petersb.  1887,  52  S.,  fol.  In  diesem  ausführlichen 
Verz.  fehlen  noch:  Beobachtungen  a.  d.  menschl.  u.  vergl.  Anat.,  Heft  VIU,  Berl. 
1887,  4  °,  dann  sechs  Aufsätze  u.  d.  T. :  Anat.  Notizen  in  Virchow's  Arch.  Bd.  109. 
(Grubers  Nr.  CCLV — CCLX,  schliesslich  seine  letzte  Arbeit:  Monogr.  des  m.  flexor 
digit.  brev.  ped.  in  Denkschr.  d.  Wien.  kais.  Akad.  d.  Wiss.  56.  Bd.  1889.)  — 
*  Toi  dt  (C),  Wenzel  Grnber,  Wien.  klin.  Wochschr.  1890  Nr.  41,  S.-A.,  4  S. 

'*")  Prof.  d.  Anat.  an  d.  chir.-med.  Lehranst.  in  Laibach  seit  1847,  in  Lemberg 
seit  1850,  an  d.  Univ.  in  Krakan  1854 — 61,  dann  in  Wien  bis  1878. 

^^^)  Sohn  des  Physiologen  Michael  von  L.,  ursprünglich  Prof.  e.  o.  der  topogr. 
Anat.  in  Budapest,  dann  5  Jahre  Prof.  d.  Anat.  in  Klausenburg,  schliesslich  wieder 
in  der  ersten  Stellung.  —  Ueb.  d.  feineren  Bau  der  sog.  MeduUa  spin., 
Wien.  Akad.  Bd.  13.  —  Beitr.  zur  Erörterung  des  histol.  Verb,  des 
centr.  Nervensystems,  Wien  1858.  —  Neue  Unters,  üb.  d.  fein.  Bau  d. 
centr.  Nervensystems,  Wien,  2.  Aufl.  1858,  m.  5  Taf.  —  Lenhossek  ist  der  Be- 
gründer der  modernen  Eichtung  der  Anat.  in  Ungarn.  Aus  der  älteien  Zeit  sind 
erwähnenswert  Trnka  von  Krzowitz  (Wenzel,  *  1739  Okt.  16,  f  1''91  3Iai  12; 
durch  Van  Swietens  Vermittlung  1769  im  Militärkrankenhaus  zu  Wien  angestellt, 
1770  Prof.  d.  Anat.  in  Tyrnau  u.  nach  Aufhebung  der  dortigen  Universität  1777—84 
in  Ofen,  dann  Prof.  d.  Pathol.  in  Pest),  u.  Kieninge r  (Balthasar;  veröffentlichte 
als  Prosektor  d.  Anat.  an  der  königl.  Ungar.  Universität  der  Wissensch.  zu  Pest: 
♦Programm  üb.  d.  Zergliederungskunst,  Pesth  1820,  8**,  53  S.). 

'*")  In  Budapest  Prof.  extr.  der  Embryol.  1875,  Prof.  o.  der  Embryol.  n.  prakt. 
Anat.  1878,  o.  ö.  Parallel-Prof.  der  ges.  descr.  Anat.  1881.  —  Entwickelungs- 
gesch.  des  Gehirns,  Leipz.  1877.   —  Sonstige  Schriften  in  Pageis  Lex.  S.  1140. 

"'j  Prosektor  in  Basel,  Würzburg,  Tübingen,  seit  1900  o.  Prof.  d.  Anat.  u. 
Dir.  d.  I.  anat.  Anst.  in  Budap.  —  Beitr.  z.  Histol.  d.  Nervensyst.  u.  der 
Sinnesorg.,  Würzb.  1895.  —  D.  fein.  Bau  d.  Nervensyst.  im  Lichte 
neuester  Forschungen,  2.  Aufl.,  Berl.  1895.  —  D.  Gesch'macksknospen, 
Würzb.  1894. 

1«)  1843-47  Assist.,  1849  Privatdoz.  f.  Anthropol.,  Anat.,  Physiol.,  1851  Prof. 
d.  Zool.  in  Pest,  1856  der  norm.  Anat.  am  Josefinum,  seit  1870  an  d.  Universität,  — 
Anat.  d.  äuss.  Form  d.  menschl.  Körpers.  M.  120  Holzschn.,  Wien  1884.  — 
Lehrb.  d.  syst.  u.  topogr.  Anat.,  6.  Aufl.  von  Toldt  m.  3  lith.  Taf.,  Wien  1897. 


298  Robert  Ritter  von  Töply. 

sprechend,  die  Lehrkanzel  geteilt  worden,  war  —  Toi  dt  (Karl, 
*1840  3.  Mai), '"-'')  beim  Neubau  und  der  Einrichtung  der  grossen 
anat.  Institute  (Prag  1876— 78,  Wien  1885 — 86),  als  Forscher  auf  dem 
Gebiete  der  systematischen  und  topographischen  Anatomie,  Histologie 
sowie  der  Anthropotomie  bewälirt,  der  Erste,  der  bereits  1878  im  ana- 
tomischen Institut  in  Prag  einen  „Studiensaal"  für  die  Mediziner  er- 
richtet hatte, ^=^-'')  und  Zuckerkandl  (Emil,  *  1849), i=^ •''''),  der  be- 
sonders die  Anatomie  der  Nasenhölile  und  deren  Umgebung  eingehend 
bearbeitet  hat,!^^'^)  in  Graz  Holl  (Moritz,  *1852  28.  Juni),i=^*)  in 
Prag  Rabl  (Karl), ^ ''•''')  in  Lemberg  Kadgi,  in  Innsbruck  Höch- 
st e  1 1  e  r  (Ferdin.,  *  1861  5.  Febr.).  ^  =^«)  Toldts  langjähriger  Mitarbeiter 
und  Assistent  Dalla  Rosa  (Alois)  ^•^'''')  hat  u.  A.  die  Entwicklung 
der  Schläfe  (monographisch),  die  physiolog.  Anatomie,  dann  für  Toldts 
Atlas  die  Gefässlehre  bearbeitet, ^'^'^)  Toldts  Schüler  R  ex  (Hugo,  a.  o. 
Prof.  in  Prag)  hat  in  seinen  meisterhaften  Korrosionspräparaten 
Seitenstücke  zu  dem  Besten  geschaffen,  was  seinerzeit  Hyrtl  geleistet 
hatte. 

Die  Histologie  lehrte  hier  zwar  schon  seit  1849  Wedl  (Karl, 
*1815  14.  Okt.,  tl891  21.  Sept.),  i'^^")  doch  liegt  seine  Thätigkeit 
hauptsächlich  auf  dem  Gebiete  der  pathologischen  Histologie.  ^*^^*') 
Sein  Nachfolger  auf  der  1872  errichteten  Lehrkanzel,  Ebner  (Victor 
Ritter  v.  Rofenstein,  *1842  4.  Febr.),  ^^'''*)  untersuchte  u.  A.  den  Bau 
der  Samenkanälchen,  die  Entwicklung  der  Spermatozoiden,  die  acinösen 
Drüsen  der  Zunge.  ^=^"'') 

Einen  grossen  Einfluss  auf  die  Forschungsmethode  übte  hier 
1849 — 90  der  Physiologe  B  r  ü  c  k  e  (E. ;  s.  Berlin) ,  für  dessen  lang- 
jährigen Assistenten  Schenk  (Leopold)  *1840  23.  Aug.,  f  1902)1*"'') 


132a)  Prof.  d.  Anat.  in  Prag  seit  1876,  in  Wien  seit  1884. 

132b)  *stndien  üb.  d.  Anat.  d.  menschl.  Brustgegend.  M.  8  Holzschn.. 
Wien  1875;  *Lehrb.  d.  Gewebelehre,  3.  Aufl.  M.  Abb.,  Stuttg.  1888:  *Anat 
Atlas.  Unt.  Mitwirkg.  von  AI.  Dalla  Rosa,  Wien  1895-1900.  M.  1463  Holz- 
schnittabb.  —  Vgl.  *Rauber  (A.,  Ueb.  d.  Einrichtung  von  Studiensälen  in  anat. 
Instituten,  Leipz.  1895),  wo  Toldts  Leistung  bei  der  Einrichtung  des  Studiensaales 
in  Prag  ganz  übergangen  ist. 

1"")  0.  Prof.  seit  1882  in  Graz,  seit  1888  in  Wien. 

^'"')  Hauptwerk:  *Norinale  u.  pathol.  Anat.  d.  Nasenhöhle  u.  ihrer 
pneumat.  Anhänge,  Wien  1882-92,  2  Bde.  —  Verz.  der  zahlreichen  übrigen 
Arbeiten  in  Pageis  Biogr.  Lex.  Jüngste  Leistung  Umarbeitung  von  C.  Heitz- 
manns  Atlas,  9.  Aufl.,  56. — 60.  Tausend.  Dieser  Atlas  ist  seit  30  Jahren  (1.  Aufl., 
Wien  1870)  das  übliche  Schulbuch  für  den  Seziersaal.  Als  solches  spielt  er  in  der 
Gesch.  d.  anat.  Unterrichts  neben  Hyrtls  Lehrbuch  eine  ebenso  wichtige  Rolle,  wie 
seinerzeit  die  Werke  von  Vesling,  Verheyen,  Heister,  Kirch  heim,  Leber. 

^**)  Schüler  von  Hyrtl  u.  Langer,  seit  1882  in  Innsbruck,  seit  1889  in  Graz: 
Operationen  an  d.  Leiche,  Stuttg.  1883;  D.  Muskeln  u.  Fascien  des 
Beckenausgangs,  in  K.  v.  Bardelebens  Handb. 

"»)  Suppliert  d.  Lehrkanzel  das.  im  Wintersem.  1885/86,  o.  Prof.  seit  1886. 

i'«)  Hier  seit  1896  o.  Prof. 

^*'*)  Noch  als  Med.  cand.  Assistent  von  Henke  in  Prag,  sodann  u.  noch  jetzt 
von  Toldt,  a.  ö.  Prof.  in  Wien. 

13 ;b)  Physiolog.  Anat.  d.  Menschen.  1.  Th.  Bewegungsapparat.  M.  116 
Abb.,  Wien  1898. 

»3"»)  a.  0.  Prof.  seit  1853,  o.  Prof.  seit  1873. 

138b)  Wedl  gehörte  ebenso  wie  M.  Heider  u.  C.  Stellwag  v.  Carion  jener 
Gruppe  von  Histologen  an,  die  sich  um  Rokitansky  scharten. 

""')  Schüler  von  Brücke  u.  Rollett,  seit  1873  Prof.  d.  Histologie  u.  Entwicke- 
lungsgesch.  in  Insbruck,  seit  1888  o.  Prof.  d.  Histol.  in  Wien. 

139b)  Verz.  seiner  Schriften  in  Pageis  Biogr.  Lex. 

'*»•)  7  J.  Assist.  V.  Brücke,  a.  o.  Prof.  1873—1900. 


Geschichte  der  Anatomie.  299 

erst  im  Jahre  1873  ein  embryologisches  Institut  errichtet 
wurde.  ^*^^)  Einen  ähnlichen  Einfluss  übte  ung:efähr  1868—1898 
Brückes  Schüler  und  Assistent,  der  Experimentalpatholog  Stricker 
(Salomon.  *1834.  tl898  2.  Apr.),i*^^)  ein  Meister  in  der  Methode  der 
Forschung,  ein  ebensolcher  in  der  Unterrichtstechnik.  Seine  und 
seiner  Schule  Verdienste  auf  dem  Gebiete  der  Mikroskopie  der  Gewebe 
betreffen  vor  allem  die  Zelle  und  den  Zellkern  (Struktur,  Proliferation), 
die  Zwischensubstanzen  (Gesetz:  Zellen  können  auch  aus  der  Grund- 
substanz entstehen),  die  Entdeckung  der  Kontraktilität  der  Kapillar- 
wand und  der  Diapedesis,  Feststellung,  dass  die  Hornhaut  aus  einem 
verzweigten  Zellsystem  aufgebaut  ist,  in  dessen  Maschen  sich  die 
Grmidsubstanz  befindet.  ^^'^) 

Pr a g. ^*-)  Seit  der  ersten  Leichenzergliederung  dmxh  Jessenins 
(1600  8. — 12.  Juni)^*=^)  konnte  die  Anatomie  durch  1^,  Jahrhunderte 
zu  keinem  ordentlichen  Aufschwung  kommen,  weil  die  Professoren  die 
Lehrkanzeln  jähiiich  wechselten,  weshalb  die  Anatomie  (in  Verbindung 
mit  Chirurgie  und  Botanik)  nur  als  Uebergangsstufe  zu  den 
höheren  Fächern  galt.  Daher  ist  es  auch  verständlich,  dass  die 
Studierenden,  wie  auch  dereinst  in  Wien,  einmal  um  Vornahme  einer 
Leichenzergliederung  (1688  11.  März),  ein  andermal  um  eine  Kammer 
für  Sezierübungen  (1691)  ansuchen.  Abgesehen  von  Jessenins  ist  im 
17.  Jahrh.  nur  Zeidler  von  Zeidlern  (Sebastian  Christian) 
nennenswert,  und  auch  dieser  weniger  wegen  seines  Lehrbuches,  als 
wegen  der  Erbauung  eines  anatomischen  Theaters  auf  eigene  Kosten 
im  Barmherzigeuspital,  welches  im  Jahre  1688  von  der  medizinischen 
Fakultät  erworben,  im  Carolinum  aufgestellt  wurde.  Seine  Nach- 
folger haben  das  Fach  so  vernachlässigt,  dass  laut  Bericht  des 
Superintendenten  der  Universität  an  die  königliche  Statthalterei  vom 


"<"•)  Lehrb.  d.  vergl.  Embrvol.  d.  Wirbelthiere,  TVien  1874:  Lehrb. 
d.  Histol.  d.  Menschen,  Wien,  L  Aufl.  1885,  2.  Anfl.  1892.  —  Seine  Broschüre 
Einfluss  auf  d.  Geschlechtsverhältniss  des  Menschen  u.  der  Thiere 
(Wien  u.  Magdeburg  1898)  wollte  die  Geschlechtsbestimmung  vom  diätetischen  Ver- 
halten abhängig  machen.  Diese  „Theorie  Schenk"  erregte  ungeheures  Aufsehen  u. 
einen  Sturm  gegen  den  Urheber,  infolgedessen  er  nolens  Tolens  in  den  Ruhestand  trat. 

"1")  Seit  1868  a.  o.,  seit  1872  o.  Prof. 

'*'•')  Handb.  der  Lehre  von  den  Geweben  d.  Menschen  u.  d.  Thiere. 
Unt.  Mitwirkung  von  E.  Klein,  E.  Verson,  Reitz,  Grünwald,  E.  Albert 
2  Bde.,  Leipz.  1871-73:  Manual  of  hum.  and  comp,  histol.  Transl.  by 
Henry  Power,  London,  N.-Sydenh.  Soc.  1870 — 73;  A  manual  of  histol.  In 
coop.  w.  Th.  Meynert  (a.  o.)  transl.  by  H.  Power  of  Lond.,  James  J.  Putman 
and  J.  Orne  Green  of  Bost.  Americ.  transl.  ed.  by  Alb.  H.  Bück,  N.-York  1872.  — 
*30  Jahre  experim.  Pathologie  (Festschr.  m.  Strickers  Portr.),  1898,  97  S.,  m. 
Verz.  der  wissensch.  Public.  Strickers  u.  seiner  Schüler  1857 — 98. 

"*)  *Ilg  (Georg),  Vorwort,  gespr.  b.  d.  feierl.  Einweihung  des  neuen  Locals 
der  anat.  Lehranst.  ...  am  11.  October  18:^0,  Prag,  4°,  16  S.  —  *Jungmann 
(Ant.),  Skizzirte  Gesch.  d.  medicin.  Anstalten  an  d.  Univ.  zu  Prag.  Med.  Jahr- 
bücher N.  F.  Bd.  22.  S.-A.,  Wien  1840,  76S.  —  *Hyrtl  (Jos.),  Bericht  üb.  d.  anat. 
Institut  der  Karl-Ferd.-Univ.  in  Prag,  Prag  1841.  —  *Wintr  (Zikmund),  Deje 
vvsokvch  §kol  prazskvch  1409—1622.  V.  Praze  (Gesch.  der  prager  Hochschulen 
1409-1622,  Prag),  1897,  230  S.  —  *Wintr  (Zikm.),  0  zivote  na  vysokych  skoläch 
prazskvch.  V.  Praze  (1).  Leben  an  den  prager  Hochschulen,  Prag)  1899,  614  S.  — 
•Rabl  (Carl),  Abschnitt  „Anatomie'' in  Die  deutsche  Karl-Ferd.-Univ.  in  Prag  unter 
d.  Reg.  S.  M.  d.  Kais.  Franz  Josef  1.,  Prag  1899,  492  S. 

"')  Anatomiae  Pragae  ao.  1600  abs  se  solenniter  administratae  historia 
(Acced.  de  ossib.  tract.),  Witteb.  1601. 

"*)  *Somatotomia  Andropologica  . . .  publice...  celebrata  ...  prae- 
parante  filio  Bemardo  Norberto  ...  a.  s.  1686,  Pragae,  120  S.,  fol.,  m.  28  Knpfert. 


300  ,  Robert  Ritter  von  Töply. 

Jahre  1712  während  22  Jahren  nur  3  Zergliederungen  vorkamen. 
Unter  den  späteren  Lehrern ^*'^)  sind  hervorhebenswert  Mayer  von 
Mayersbach  (Job.  Ignaz)  wegen  Neuaufstellung  des  verfallenen 
anatomischen  Theaters  auf  eigene  Kosten  im  Jahre  1731,  dann  dessen 
Nachfolger  Biener  (Franz  Ignaz;  Prof.  1739),  ein  in  Holland  und 
Frankreich  gebildeter  Arzt.  ^*") 

Eine  erfolgi-eichere  Entwicklung  wurde  erst  seit  1747  möglich,  in 
welchem  Jahre  jener  Professoren  Wechsel  durch  die  königliche  Statt- 
halterei  aufgehoben  wurde.  Gleich  der  erste  Anatom  Du  Toy  (Franz 
Joseph,  resignierte  1761),  legte  durch  Schenkung  seiner  teils  selbst 
angefertigten,  teils  in  Holland  erworbenen  Präparatensammlung  den 
ersten  Grund  zu  einem  anatomischen  Kabinet  (bis  dahin  hatte  die 
Universität  nur  2  menschliche  Skelete  und  einen  zum  Behuf  der  Myo- 
logie  präparierten  Körper  besessen).  Auch  übte  er  häufiger  die  Zer- 
gliederungen, sowie  er  überhaupt  den  Anschauungsunterricht  pflegte, 
während  seine  Vorgänger  das  Fach  nur  theoretisch,  aus  dem  Buche 
gelehrt  hatten.  Sein  Zögling  und  Nachfolger  Klinkosch  (Joh.  Jos. 
Thaddäus,  -|-1778)  führte  die  praktischen  Zergliederungsübungen  der 
Studierenden  ein.  ^*^)  Der  von  Wien  gekommene  Pro  chaska  (Georg, 
vgl.  Wien)  übernahm  nach  dem  Studienplane  von  1786 .  die  „höhere" 
Anatomie,  Physiologie  und  Augenheilkunde  und  erhielt  einen  besoldeten 
Prosektor,  ^*^)  welcher  die  anatomischen  Vorlesungen  zu  halten  hatte. 
Sein  Nachfolger  Mattuschka  (Ignaz  Hadrian;  vorher  Professor  der 
Anatomie  in  Brüssel)  überliess  die  Professur  auf  dem  Vergleichswege 
(genehmigt  1793  29.  Jan.)  dem  bisherigen  Prosektor  E  o  1 1  e  n  b  e  r  g  e  r 
(Joseph,  *1760),  welcher  dann  mit  seinem  Prosektor  Oechy  (Joseph)  ^*'"') 
die  Beistellung  eines  Sezierraumes,  d.  h.  eines  ebenerdigen  niederen, 
finsteren  Gewölbes  mit  anstossender  Kammer  erreichte  (bis  dahin 
hatten  die  Zergliederungsübungen  im  Hörsaale,  jedoch  unter  den 
amphitheatralisch  angeordneten  Bänken  stattgefunden).  Rottenberger 
lehrte  die  höhere  Anatomie  und  Physiologie  nach  Hallers  Grund- 
riss,  Oechy  die  Anatomie  nach  Leb  er  s  Lehrbuch,  Ilg  (hier 
1809 — 34,  s.  im  Folg.)  in  den  letzten  drei  Jahren,  wie  auch  Hyrtl 
fhier  1837 — 45,  s.  im  Vorigen)  bis  zum  Jahre  1843  nach  dem  Hand- 
buche von  Römer,  Bochdalek  (Hyrtls  Nachf.  1845 — 71)  in  den 
ersten  3  Jahren  und  wahrscheinlich  auch  später  nach  dem  Lehrbuch 
von  Hyrtl.  Henke  (hier  1872—76,  s.  Marburg)  hat  hier  den  histo- 
logischen Unterricht,  der  bis  dahin  fast  ausschliesslich  in  den  Händen 
der  Physiologen  lag,  durch  Heranziehung  von  Flemming  (Walter) 
in  geregelte  Bahnen  geleitet,  Toldt  (hier  1876 — 84,  s.  Wien)  im 
Jahre  1877  das  neue  Anatomiegebäude  eingerichtet  und  1880  endlich 
die  Errichtung  einer  besonderen  Lehrkanzel  der  Histologie  durchge- 
setzt (an  Sigm.  Mayer  übergeben).    Aeby  lebte  hier  zu  kurz,  um 

145)  Verz.  bei  Jungmann  a.  a.  0.  S.  16. 

'*^)  De  organo  auditus  diss. 

"^  Seine  Besoldung  betrag  1000  fl. 

"**)  Jahresgehalt  600  fl.  Bis  dahin  waren  (seit  1746)  die  3  Stadtwimdärzte  als 
Prosektoren  abwechselnd  dem  Prof.  d.  Anat.  beigegeben  worden. 

u9«)  Prosektor  seit  1794  15.  Mai,  übernahm  1808  die  neu  errichtete  Professur 
der  theoret.  Chir. 

U9b)  Anweisung  zur  zweckmässigen  zierlichen  Leichenöffnung 
u.  Untersuchung  Prag  1802.  —  Der  jüngere  Oechy  (Johann)  ist  mit  einer 
merkwürdigen,  die  Geistesrichtung  der  damaligen  Schule  kennzeichnenden  Inaug.- 
Diss.  aufgetreten:  *De  influxu  astror.  in  corpora  hum.  1836,  Pragae,  29  S. 


Geschichte  der  Anatomie.  301 

irgendeinen  nachhaltigen  Einfluss  zu  üben  (1884  30.  August  berufen, 
fl885  7.  Juli,  s.  Bern).  Sein  Nachfolger  Rabl  sowie  Rex  (s.  Wien) 
haben  das  anatomische  Museum  neuerdings  wesentlich  bereichert, 
sodass  es  heute  eine  Stellung  einnimmt,  welche  von  wenigen  Museen 
Oesterreichs  und  Deutschlands  erreicht  und  vielleicht  von  keinem 
übertrofien  wird,  ^^"j 

In  der  Armee  waren  die  Verhältnisse  anfangs  noch  trauriger  als  an 
der  Universität.  Erst  1776  (18.  Okt.)  erliess  der  Hofkriegsrat,  damals  die 
oberste  militärische  Behörde,  eine  Verordnung,  laut  welcher  kein  Feldarzt 
in  der  Armee  angestellt  werden  darf,  der  nicht  Anatomie  studiert  hätte. 
An  der  1785  (7.  Xovb.)  eröffneten  k.  k.  chirurg.  Militärakademie  (nachmals 
k,  k.  medizinisch-chirurgische  Josephs-Akademie)  wurde  zwar  ein  Stab- 
chirurgus  als  Prof.  d.  Anat.  nebst  einem  Prosektor  angestellt  und  im  selben 
Jahre  für  30  000  Gulden  aus  Florenz  eine  der  bedeutendsten  "Wachspräparaten- 
sammlungen  erworben,  aber  noch  1795  hatte  die  kleine  Sektionskammer 
kein  Wasser,  für  anatomische  Uebungen  war  im  Anstaltsgebäude  selbst  gar 
nicht  vorgesorgt.  AJlerdings  war  an  die  abseits  gelegene  Totenkammer  ein 
Zimmer  angebaut,  aber  so  unbedeutend  und  klein,  dass  es  für  Nichts  zu 
rechnen  war.  Ebenso  fehlte  es  an  einer  Knochenbleiche  und  Macerations- 
kammer.  ^^*)  Die  Josephs- Akademie  hat  ursprünglich  bis  1848,  dann 
reorganisiert  von  1854 — 74  bestanden.  In  der  ersten  Periode  wirkten  dort 
als  Professoren  der  Anatomie  und  Physiologie  Böcking  (Wilh.),  Seh  er  er 
(Jos.  Ritter  v.,  *  1750,  7  1844  10.  Okt.),  ^5-)  schliesslich  als  Prof.  d.  Anat. 
Römer  (Ant.),  ^■^'^)  ohne  Besonderes  zu  leisten,  auch  ohne  dass  dem  Gegen- 
stande der  entsprechende  Wert  beigemessen  worden  wäre,  denn  nach  Römers 
Abgang  d.  i.  seit  1843  Hess  man  den  Lehrstuhl  der  Anatomie  bis  auf 
weiteres  unbesetzt.  ^^^) 

Dieser  Schule  entstammte  Ilg  (Job.  Georg,  *  1771,  7  1836  20.  Febr.),^^'*) 
ein  klarer  Kopf  und  scharfer  Denker,  ein  tüchtiger  Fachtechniker,  besonders 
verdient  um  die  Anatomie  des  Gehörorgans,  um  das  1830  eingeweihte  neue 
Lokal  der  anatomischen  Lehranstalt  in  Prag,  i^äb^  Aus  seiner  Prosektur 
sind  hervorgegangen  Purkyne  (Job.  Evang.,  *  1787  17.  Dezb.,  7  1869 
18.  Juli;  Prof.  d.  Physiol.  in  Breslau  u.  Prag),  welcher  bereits  1837  mit 
dem    Grundgedanken    der   Zellenlehre,    also    2  Jahre    vor  Schwann    auftrat, 


i«>)  Rabl  a.  a.  0.  S.  187. 

i^>)  *Habart  fJoh.)  u.  Töply  (Roh.  Ritt,  v.),  Unser  Mil.-Sanitätswesen  vor 
100  Jahren.     Urkundl.  Beitr.,  Wien  1896,  111  S. 

^^'')  Rede  z.  Andenken  des  7  Joh.  Ad.  Schmidt,  Wien  1810,  4»;  Tabb. 
anatt.  quae  exhib.  musei  anat.  Acad.  C.  R.  Josephinae  praeparata 
c  e  r  e  a  =  Anat.  Tabellen  nach  d.  Wachspräparatensammlung  u.  s.  w.,  5  Bde.,  Wien 
1817-21,  302  Taf.  gr.  fol.  m.  lat.  u.  deutsch.  Text. 

"*)  Handb.  d.  Anat.  d.  menschl.  Körpers,  2  Bde.,  Wien  1831;  *Spec. 
Verz.  der  . . .  anat.-physiol.  natürl.  u.  Wachspräparate,  welche  im  Ge- 
bäude der  Jos.-Akad.  aufgestellt  sind,  Wien  1837. 

^^)  Die  Angaben  bei  Pusch mann  (D.  Med.  in  Wien  währ.  d.  letzt.  100  J.) 
imd  Kirchenberge r  (Gesch.  des  k.  u.  k.  österr. - ungar.  Mii.- Sanitätswesens, 
Wien  1895,  259  S.)  über  die  Jahre  der  Lehrthätigkeit  der  Genannten  stimmen  nicht 
genau  überein.    Eine  endgiltige  Klärung  wäre  erwünscht. 

i»*aj  ggj|.  j^jyg  jj  lehrender  Prosektor  am  Josephinum,  seit  1899  in  Prag,  durch 
Stndienhofkommissionsdekret  v.  31.  Jan.  1810  wie  auch  die  übrigen  Prosektoren  u. 
Lehrer  der  Anat.  an  den  Universitäten  und  Lyceen  in  den  Rang  eines  Prof.  er- 
hoben, 1834  auf  eigenes  Ansuchen  enthoben. 

i5»b)  Grundlinien  der  Zergliederungskunde,  Prag  1811,  2  Bde.  — 
Einige  anat.  Beobachtungen,  enth.  eine  Berichtigiing  der  zeitherigen  Lehre 
vom  Bau  der  Schnecke  etc.,  Prag  1821  in  3  Steindr.  —  Anat.  Monogr.  der 
Sehne  urollen,  Prag  1823,  2  Hefte  m.  5  Steindr. 


302  Robert  Ritter  von  Töply. 

Hain  dl  (Prof.  d.  Anat.  u.  Direktor  des  allg.  Krankenhauses  in  Lemberg), 
Bochdalek  (Vincenz,  *  1801,  f  1883  3.  Febr.;  seit  1845—71  „Professor 
der  allgem.  Anat.,  dann  der  koniparat,  u.  chirurg.  Anat."  in  Prag).  In 
des  Letzteren  Zeit  fällt  der  Beginn  des  histologischen  sowie  des  entwicklungs- 
geschichtlichen Unterrichts  in  Prag. 

Römers  Schüler  Eble  (Burkhard,  *  1799  6.  Nov.,  f  1839  3.  Aug.)  "*«") 
ist  als  Historiker  der  Jahre  1800  —  25  bezw.  als  Fortsetzer  der  noch  immer 
unsterblichen  Leistungen  Curt  Sprengeis  einer  der  wenigen  Sterne  erster 
Grösse  des  alten  Josephinum.  J5"i^)  Das  Reglement  von  1854  stellte  an 
die  Zöglinge  weitaus  höhere  Anforderungen  (a  für  den  höheren  5  jährigen 
Lehrkurs :  im  I.  Jahr  descr.  Anat.,  im  II.  Physiol.  u.  vergl.  Anat.,  topogr. 
Anat.  nebst  prakt.  Uebungen,  überdies  das  ganze  I.  u.  IL  Jahr  Sezier- 
übungen;  b  für  den  niederen  3jährigen  Lehrkurs  im  I.  descr.  Anat,  über- 
dies Sezierübungen).  Die  Lehrkanzel  der  descr.  Anat.  hatte  zuerst  Engel 
(Joseph,  *  1816,  f  1899  3  Apr.).  lö'"*)  Sein  Kompendium  der  topogr.  Anat. 
gehörte  zu  den  besseren  Büchern  jener  Zeit.  Er  entwickelte,  wenn  auch 
nicht  ohne  Uebertreibung  und  Paradoxen  den  richtigen  Gedanken,  dass  die 
Form  der  Antlitzknochen  vom  Entwicklungsgrad  der  Kaumuskeln  abhängt.^'''"'') 
Sein  Nachfolger  Langer  (Karl,  am  Josephinum  1856 — 70)  entfaltete  sich 
ausgiebig  erst  an  der  Universität  (s.  oben),  denn  im  beschränkten  Kreise 
einer  reglementierten  Wissenschaft  ist  nur  wenig  Platz  für  den  freien  Ge- 
dankenflug. 

Für  eine  Sonderbehandlung  der  medizinischen  Studien  in  den  deutsch- 
italienischen Provinzen  der  österreichischen,  bezw.  in  den  Ländern  der  österr.- 
ungarischen  Monarchie  kommen  folgende  Städte  in  Betracht :  Brunn, 
Budapest,  Czernowitz,  Graz,  Innsbruck,  Klagen  fürt, 
Klausenburg,  Krakau,^^**)  Laibach,  Lemberg,  Linz,  Mailand, 
Olmütz,  Padua,  Pavia,  Prag,  Salzburg,  Trient,  Triest,- 
Tyrnau,  Wien,  Zara.  An  den  dortigen  höheren  medizinischen  Lehr- 
anstalten, Lyceen  bezw.  Lehranstalten  für  Chirurgie  und  Geburtshilfe,  ab- 
gesonderten Hebammen-Lehranstalten  spielt  der  Betrieb  der  Anatomie  eine 
ungleiche  Rolle,  teils  infolge  der  verschiedenen  Bestandesdauer  sowie  der 
Organisationsänderungen  innerhalb  jener  Schulen,  zum  Teil  unter  dem  Ein- 
flüsse wechselnder  Studienordnungen  (im  19.  Jahrh.  1804,  1810,  1833, 
1850).  Im  grossen  Ganzen  ist  hier  —  wenn  man  von  den  italienischen 
Universitäten,    dann   von    einigen    wenigen  Berufungen    aus    dem  Auslande 


15«»)  10  Jahre  Prosektor,  dann  seit  1832  Regimentsfeldarzt  u.  bis  1837  Biblio- 
thekar der  Josephs-Akad. 

i5öb)  *Diss.  inaug.  med.  de  studio  anat,  c.  tab.  aenea,  Vindob.  1827, 
55  p.  (Gleichzeitig  Beschr.  des  Römerschen  Apparats  zur  Eröffnung  des  Rücken- 
markskanals: eine  Stichsäge,  eine  Knochenzange  und  eine  Hacke,  im  wesentlichen 
nichts  anderes,  als  das  Esquiro Ische  Rachiotom);  *Vers.  einer  pragmat. 
Gesch.  d.  Anat.  u.  Physiologie  v.  J.  1800-1825.  Wien  1836,  355  S.;  *Curt 
Sprengel's  Vers,  einer  pragmat.  Gesch.  d.  Arzneik.  VI.  1.  1800—25, 
Wien  1837,  654  S.  m.  d.  Bildn.  d.  Verf.  —  Vergl.  *Stotz  (Burkh.),  Med.  Biogr. 
Burkh.  Eble's,  Inaug.-Diss.,  Tübing.  1841,  46  S. 

167a-)  1844  Prof.  d.  Anat.  in  Zürich,  1854—74  (od.  1856—73?)  an  d.  Jos.-Akad. 
f.  topogr.  u.  path.  Anat. 

i^'*")  D.  Knochengerüste  des  raenschl.  Antlitzes,  Wien  1850;  Com- 
pendium  der  topogr.  Anat.,  Wien  1860. 

^^^)  Hier  ist  ausser  den  Genannten  noch  hervorzuheben  der  Entdecker  der 
Hämatinkrystalle  Teichmann  (Ludwig  T.-Stawiarski,  *  1823  16.  Sept.  f  1895 
Nov.;  in  Göttingen  Privatdoo.  f.  Anat.  u.  Physiol.  1859,  in  Krakau  1861  Prof.  extr. 
der  path.  Anat.,  1868 — 93  Prof.  o.  der  descr.  u.  vergl.  Anat.),  verdient  durch  Er- 
bauung des  neuen  Anatomiegebäudes.  Das  Saugadersystem  vom  anat.  Stand- 
punkte, Leipzig  1861. 


I 


Geschichte  der  Anatomie.  303 

absieht  —  für  die  Entwicklung  der  Anatomie  als  "Wissenschaft  die  "Wiener 
Schule  massgebend  gewesen. 

Deutschland  hat  in  der  Anatomie  während  des  19.  Jahrhunderts 
thatsächlich  so  viel  und  so  Vieles  geleistet,  dass  es  in  dieser  Eichtung 
gegenwärtig  an  der  Spitze  steht.  Ausser  den  schon  Genannten  seien 
noch  die  Folgenden  erwähnt.  Der  älteren  Zeit  gehört  noch  Krause 
(Karl  Christ,  *1716,  f  1793  26.  Apr.),  ^^'^j  ein  lastrophysiker,  Gegner 
der  Hallerschen  Irratibilitätslehre,  aber  Uebersetzer  von  dessen  Abhand- 
lung von  den  empfindlichen  und  reizbaren  Teilen  (1756),  von  Alex. 
Monros  Knochenlehre  (1761),  Herausgeber  des  Celsus  (1767),  Haase 
(Joh.  Gottlob.  *1739,  flSOl  10.  Nov.),^«^)  ^^j.  Ornithologe  Otto  d. 
Ae.  (Bernh.  Christian,  1745  6.  März.  tl835  10.  Nov.),i«^)  Hempel 
(Adolph  Friedr.,  *1767  3.  Aug.,  tl834  28.  Febr.),i«-'')  dessen  Lehrbuch 
während  der  ersten  drei  Jahrzehnte  des  19.  Jahrhunderts  sehr  beliebt 
war, ^'^-^  der  neueren  Zeit  jedoch  Rosen müller  (Joh.  Christ.,  *1771 
25.  Mai,  tl820  28.  Febr.),  ^<^=^^)  ein  vielseitig  gebildeter  Anatom,  Mit- 
herausgeber der  .,Beiträge  für  die  Zergliederungskunst  1800—01'',^^^*') 
Burdach  d.  Ae.  (Karl  Friedr.,  *1776  12.  Juni,  tl847  16.  Juli),  i«^^) 
Gründer  einer  anatomischen  Anstalt  in  Königsberg  und  mit  Rathke  (H.) 
sowie  Baer  (K.  E.  von)  der  dortigen  anatomischen  Sammlung,  ^^*^) 
Kieser  (Dietr.  Georg,  *1779  24.  Aug.,  tl862  11.  Okt.),  einer  der 
Hauptvertreter  der  naturphilosophischen  Richtung  in  mannigfaltigen 
Anstellungen  zu  Jena,  verdient  um  den  Nachweis  der  schon  beim 
Säugetier  gekannten  Allantois  für  den  menschlichen  Embryo.  ^*'-^)  der 
Teratolog  Otto  d.  J.  (Adolph  "VVilh.,  *  1786  3.  Aug.,  f  1845  14.  Jan.),i«ß) 
Lucae  d.  Ae.  (Sam.  Christian,  *1787  30.  Apr.,  tl821  28.  Mai),i«'») 
einer    der    älteren    deutschen   Anthropologen   und   Embryologen,  ^^^) 


1»")  Seit  1726  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  in  Leipzig. 

"")  Seit  1774  a.  o.,  1786  o.  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  in  Leipzig. 

"1)  1782  Prof.  d.  Naturg.  u.  Oekonomie  in  Greifsw.,  1788  Prof.  d.  Med.  in 
Frankf.  a.  0.,  zugl.  Oberaufseher  des  bot.  Gartens  u.  des  anat.  Theaters  bis  zur 
Verlegung  der  Univ.  1811.    Vgl.  S.  29i). 

1«-")  In  Göttiugen  1789  Privatdoc.  u.  Prosektor,  1808  a.  o.,  1819  o.  Prof. 

ie2b^  Anfangsgründe  der  Anat.,  1801 — 33  sechs  Autlagen. 

163a)  1794  Prosektor,  1802—20  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  in  Leipzig. 

lö.^b)  Part,  externar.  oculi  hum.  impr.  organor.  lachrym.  descr.  .  .  . 
iconib.  illustr.  1797.  —  De  ovariis  embryon.  et  foetuum  hum.  1802.  —  De 
nonnullor.  musculor.;  D  e  singularib.  et  nativis  corp.  h.  varietatib. 
1804.  —  Chir.-anat.  Abb.,  lat.  u.  deutsch,  3  Th.,  Weimar  1805—07.  —  Handb. 
d.  Anat.  nach  Loders  Umr.  1808;  2.  Aufl.  u.  d.  T.  Handb.  d.  Anat.  z  um 
Gebr.  f.  Vorles.  1815;  4.-6.  Aufl.  von  Weber  (E.  H.)  1828—40,  lat.  u.  d.  T. 
Compend.  anat.  1816.  —  De  anatomicor.  terminis  techn.  1811.  —  N.  obtu- 
ratorii  monogr.  1814.  —  De  viris  quibusd.  qui  in  academia  Lips.  ana- 
tomes  peritia  inclaruer.  P.  1.-8,  1815 — 19.  —  Prodrom,  anat.  artifieib. 
inservient.  1819. 

1«*"}  1811  Prof.  d.  Anat.,  Physiol.,  gerichtl.  Med.  zu  Dorpat,  1814  der  Anat.  u. 
Physiol.  zu  Königsberg  i.  Pr.,  Vorst.  d.  anat.  Anst.  bis  1827. 

i«4b)  Ueh.  d.  Aufgaben  der  Morphologie,  1818.  —  Vom  Baue  und 
Leben  des  Gehirns  1819. 

^''*)  *D.  Urspr.  des  Darmkanals  aus  d.  Vesicula  umbil.  dargest. 
im  menschl.  Embryo.    M.  2  Kpft,  Götting.  1810,  4»,  31  S. 

"•)  Sohn  von  B.  Ch.  Otto,  in  Breslau  1813—45  o.  Prof.  d.  Anat.  u.  Dir.  des 
anat.  Mus. 

i»7.j  Prof.  d.  vergl.  Anat.  u.  Physiol.  a.  d.  med.  Spezialschule  in  Frankf. 
1812—13,  dann  Kliniker  in  Marburg. 

"'^j  Schrifenverz.  in  Gurlt-Hirsch'  Biogr.  Lex.  IV  53.  Kulturgeschichtlich 
wichtig    „Programma:  disquis.   cur   nostris    temporib.    multo    parcius 


304  Robert  Ritter  von  Töply. 

AVeber  (Moritz 'Ignatz,  *  1795  10.  Juli,  f  1875  22.  Juli),^««»)  verdient 
um  die  anatomische  Abbildung,  *"**'')  Huschke  (Emil,  *1797  14.  Dez., 
fl858  19.  Juni),*""*)  verdient  um  die  Beschreibung  der  Entwicklung 
der  Schilddrüse  (später  Stieda,  Wölfler),  Einstülpung  der  Linse,  der 
nach  ihm  benannten  Zähne  in  der  Gehörschnecke,  der  Knorpel  in  der 
Nase,  der  Krystallformen  der  Otolithen,  ^*'*"')  Krause  d.  Ae.  (Karl 
Friedr.  Tlieod.,  *1797  15.  Dez.,  tl868  8.  Juni),i'»'')  ein  tüchtiger 
Histolog,  Entdecker  der  Bindegewebsfibrillen,  der  Querstreifung  der 
Herzmuskelfasern,  der  Anfänge  der  Lymphgefässe  in  den  Darmzotten 
(gleichzeitig  mit  Henle),  der  nach  ihm  benannten  acinösen  Drüsen  der 
Augenbindehaut,  der  Ganglienzellenschicht  der  Netzhaut  und  der 
Nervenzellen  des  Orbiculus  ciliaris,  des  Muse,  coraco-cervicalis,  über- 
dies verdient  um  die  Beschreibung  der  Keilbein-  und  Siebbeinhöhlen, 
die  Unterscheidung  des  Foramen  (bezw.  der  Incisura)  supraorbit.  und 
front,  am  Margo  supraorbit.,  eine  mustergiltige  Feststellung  der 
Gestalt  und  der  Dimensionen  des  Auges,  eine  grundlegende  Darstellung 
des  Kopfsympathicus;!^"^)  Wagner  (Joh.,  *um  1800,  tl833;  in  Wien 
1830 — 33  a.  o.  Professor  der  pathologischen  Anatomie),  welcher  1824 
zuerst  von  vorn  den  Wirbelkanal  und  zwar  mit  gewöhnlichen  Meissein 
eröffnet  hat  und  dadurch  eine  Rolle  in  der  Geschichte  der  anatomischen 
Technik  spielt  (vgl.  dazu  die  Methoden  von  Esquirol,  Römer.  Brunetti), 
Burdach  d.  J.  (Ernst,  *1801  25.  Febr.,  f  1876  10.  Okt.),*'i)  B^dder 
(Heinr.  Friedr.,  *1810  28.  Okt.  =  9.  Nov.,  tl894  27.  Aug.),  ^'f*)  Ver- 
fasser mehrerer  biologischer  Arbeiten  mit  Volkmann  (Alfr.  Wilhelm), 
Schmidt  (Karl),  Kupffer  (Karl  Wilh.),!'^^)  Lucae  d.  J.  (Johan 
Christian  Gustav,  *  1814  14.  März,  f  1885  3.  Febr.),*'^*)  dessen  Werke 
sich  auf  die  normale  und  pathologische  Anatomie  des  Menschen, 
vergl.  anatomische  Entwicklungsgeschichte  beziehen,  besonders  die 
Entwicklung  des  Schädels  und  die  Kraniologie  betreffen,  sowie  er  auch 


quam  olim  inter  medicos  juniores  reperiantur  docti  literisque  satis 
imbuti",  Marb.  1820,  4.  —  Vgl.  Wagner  (C.  F.  Ch.)  mera.  S.  C.  L.  Marb.  1822,4. 

^'*'**)  In  Bonn  Prosektor,  1825  Prof.  e.  o.  d.  Anat.,  1830  o.  Prof.  der  vergl.  u. 
path.  Anat. 

i<j8b)  A^nat.  Atlas  d.  menschl.  Körpers  in  nat.  Gr.,  Düsseid.  1830—33, 
2.  Auti.  1835—41,  imp.  fol.,  82  T.;  engl.  1831—33;  franz.  1834.  —  Vollst.  Handb. 
d.  Anat.,  3  Bde.,  Bonn  1839—42;  2.  Aufl.  1845.  —  Hand-Atlas  d.  menschl. 
Körp.  mit  den  in  die  einzelnen  Theile  ein-  o.  beigeschriebenen  Namen  ders.,  ähnlich 
wie  bei  Landkarten.    Nach  B.  S.  Albinus,  Bonn  1853,  imp.  fol. 

1«»")  In  Jena  von  Oken  beeinflusst,  dort  1824  Prof.  e.  o.,  1827—58  Lodere 
Nachfolger. 

i8«b)  Vergl.  Waldeyer  in  Gurlt-Hirsch'  Biogr.  Lex.  III  324. 

i70a^  Aus  der  anat.  Schule  des  Leibchirurgen  Widemeyer  in  Hannover,  Prof. 
d.  Anat.  an  der  reorganisierten  Chirurgenschule  das.  bis  zu  deren  Auflösung. 

1'«"^)  Handb.  d.  menschl.  Anat.,  Hannover  1833—38;  2.  Aufl.  1841—43.  — 
Einige  Bemerkungen  üb.  d.  Gestalt  u.  d.  Dimensionen  des  menschl. 
Auges,  Meckels  Arch.  1832;  Poggendorfi's  Annal.  1833,  36.  —  Synops.  icone 
illustr.  nervor.  systematis  gangliosi  in  capite  hum.  Hannov.  1839.  — 
Artikel  „Haut"  in  R.  Wagners  Handwörterb.  —  Vgl.  K.  F.  Krause,  ein  Lebena- 
abriss  als  Vorwort  zu  W.  Krause,  d.  motor.  Endplatten,  Hannover  1869. 

i"')  In  Königsberg  1839  Prof.  e.  o.,  1844  Prof.  o.  f.  Anat.  Beitr.  zur  mi- 
krosk.  Anat.  d.  Nerven,  Königsb.  1837  m.  2  Kpft. 

1^2«)  In  Dorpat  1836  a.o.  Prof.  d.  Anat.  u.  Prosektor,  1842  o.  Prof.  d.  Anat, 
1843—69  der  Physiol. 

*'•"')  D.  Selbständigkeit  des  sympath.  Nervensyst.  durch  anat. 
Unters,  nachgewiesen. 

^'**)  1851  Lehrer  d.  Anat.  am  Senckenbergschen  med.  Inst.,  1863  Prof.,  seit 
1869  auch  am  Städelschen  Kunstinstitut. 


Geschichte  der  Anatomie.  305 

seit  1843  mit  dem  Bildhauer  Schmidt  v.  d.  Launitz  bemüht  war,  die 
Zeichnungsmethode  anatomischer  Gegenstände  zu  verbessern  und  da- 
durch einen  hervorragenden  Platz  in  der  Geschichte  der  anatomischen 
Abbildung  einnimmt,  ^'^^)  der  auf  dem  Gebiete  der  topographischen 
Anatomie,  dann  durch  die  Entdeckung  der  „Steissdrüse"  (glomus 
coccygeum)  sowie  durch  eine  klassische  Beschreibung  des  Kehlkopfes 
bekannte  Luschka  (Hubert  von,  *1820  27.  Juli,  flSTö  1.  Mai),^'*) 
der  auf  dem  Gebiete  der  Optik,  Mikroskopie,  Histologie,  Anatomie, 
Anthropologie  und  Ethnologie  thätige  Erfinder  des  Miki'otoms  W  e  1  c  k  e  r 
(Herrn.,  *  1822  8.  Apr.,  f  1897), i'^)  Köllikers  Schüler  Gegenbaur 
(Karl,  *  1826  21.  Aug.),  ^^*')  einer  der  hervorragendsten  Vertreter  der 
vergl.  Anatomie  in  Deutschland  während  der  2.  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts, Bidders  Schüler  Kupffer  (Karl  Wilhelm,  *  1829  14.  Nov., 
71902  Dez.),  ^'")  Verfasser  zahlreicher  Arbeiten  auf  den  Gebieten 
der  vergl.  Anatomie,  Embryologie,  Histologie,  Anthropologie,  zumeist 
im  Verein  mit  seinem  Lehrer  Hoffmann  (Karl  Ernst  Emil,  *  1827 
27.  Apr.,  f  1877  15.  Dez.),  ^'^)  der  das  anatomische  Institut  in  Basel 
auf  eine  unerwartete  Höhe  hob,  Goll  (Friedr.,  *1829  1.  März),i'») 
dem  neben  Burdach  ein  besonderes  Verdienst  um  die  Anatomie  der 
Rückenmarksstränge  gebührt,  Braune  (Christian  Wilhelm,  *1831 
17.  Juli,  f  1892  29.  Apr.),  ^^'^)  dessen  Atlas  nach  Durchschnitten  an 
gefrorenen  Kadavern  und  Darstellungen  der  Venen  zu  den  Monumental- 
werken des  19.  Jahrhunderts  gehören, ^^^'^)  Krause  d.  J.  (Wilhelm, 


i'^'O  Abbildungen  der  menschl.  Skelettheile,  Frankf.  1860,  m.  28  Taf. 
gr.  fol.  —  Znr  Anat.  des  weibl.  Torso,  Leipzig  u.  Heidelberg,  m.  12  Taf.,  gr. 
fol.  —  Skelet  eines  Mannes  in  stat.  u.  mechan.  Verhältnissen,  Frankf. 
1876,  1  Taf.  gr.  fol.  m.  Text.  —  Vgl.  Gnrlt-Hirsch  Biogr.  Lex.  IV  53. 

^'*)  1849 — 75  in  Tübingen,  anfangs  Prof.  e.  0.,  seit  Arnolds  Abgang  Prof.  0. 
n.  Vorst.  d.  anat.  Anst.  D.  Brustorgane  d.  Menschen  in  ihrer  Lage.  M, 
6  Tai,  imp.  fol..  Tübingen  1857.  —  D.  Halbgelenke  d.  menschl.  Körpers. 
M.  6  Kpftf.,  Berl.  1858.  —  *D.  Anat.  d.  Menschen  in  Rucks,  auf  d.  Be- 
dürfnisse d.  prakt.  Heilk.,  3  Bde.,  Tübingen  1862—67.  —  D.  Hirnanhang 
u.  d.  Steissdrüse  d.  Menschen,  Berl.  1860.  —  D.  Kehlkopf  d.  Mensch.,  187L 
Im  übrigen  vgl.  Gurlt-Hirsch  Biogr.  Lex.  IV  68. 

^''^j  In  Halle  1859  Prosektor  u.  Prof.  e.  0.,  1866  Prof.  0.  d.  Anat.,  1876—93  als 
Nachf.  von  A.  W.  Volkmann  Direkt,  des  anat.  Instituts.  Verz.  seiner  Schriften  in 
Gnrlt-Hirsch  Biogr.  Lex.  VI  231.  —  VVelckers  Vorgänger  i^  Halle  Volkmann 
(Alfr.  Wilh.,  *  1800  1.  Juli,  f  1877  21.  AprU)  lehrte  dort  1843—72  Physiologie  u. 
überdies  1854 — 76  Anatomie,  obzwar  er  vorwiegend  Physiolog  war. 

^"•*)  In  Jena  Prof.  extr.  1855,  Prof.  0.  d.  Anat.  u.  Dir.  d.  anat.  Anst.  1858,  in 
gleicher  Eigensch.  in  Heidelberg  seit  1873.  —  Grundzüge  der  vergl.  Anat., 
Leipzig  1870,  2.  Aufl.  1878;  engl.  Lond.  1878.  —  Lehrb.  d.  Anat.  d.  Menschen, 
Leipzig  1883,  7.  Aufl.  1899,  2  Bde.  —  Seit  1875  Herausgeber  des  „Morphol.  Jahrb., 
Ztschr.  f.  Anat.  u.  Entwickelungsgesch." 

1'')  1858—66  Prosektor  u.  Prof.  extr.  in  Dorpat,  1866—76  Prof.  0.  d.  Anat.  in 
Kiel,  1876—80  in  Königsb.  i.  Pr.,  dann  1.  Prof.  d.  Anat.  in  München  als  Nachf.  von 
Bischoflf.  —  Unters,  üb.  d.  Textur  des  Rückenmarks  u.  d.  Entwickelung 
seiner  Formelemente,  Leipzig  1857. 

^"*)  Ursprüngl.  Pharmaceut,  dann  Assist,  von  Virchow,  später  von  Eckhardt  in 
Basel,  1872 — 77  0.  Prof.  d.  Anat.  u.  Entwicklungsgesch.  als  Nachf.  von  His.  — 
Grnndr.  d.  Anat.  d.  Menschen,  Leipzig  1865.  —  D.  Lage  d.  Eingeweide 
d.  M.  —  Leipz.  1863,  m.  15  T.;  2.  Aufl.,  Erl.  1873  u.  d.  T.  D.  Körperhöhlen  d.  M. 
—  Quain-Hoffmann,  Lehrb.  der  Anat.  des  M.,  Erlang.  1870—72:  2.  Aufl. 
1877-81. 

^''^)  Schüler  von  Ludwig,  KöUiker,  Virchow,  Gl.  Bemard,  seit  1862  Dozent  in 
Zürich.  —  D.  Verteilung  der  Blutgefässe  auf  d.  Rückenmarksquer- 
«»•hnitte  1864.  —  Ueb.  d.  feinere  Anat.  d.  Rückenmarks,  Zur.  1868. 

"«»)  Schüler  von  E.  H.,Weber,  C.  Ludwig,  Virchow.    1866  a.  0.,  1871  0.  Prof. 
Chir.  in  Leipzig. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  20 


306  Robert  Ritter  von  Töply. 

*  1833  12.  Juli),  ^^^'')  der  die  feinere  und  feinste  Nervenanatomie  be- 
arbeitet, in  seiner  Anatomie  des  Kaninchens  ein  Seitenstück  zu 
Eckers  und  Wiederslieims  Anatomie  des  Frosches  geliefert  und  sich 
U.A.  um  das  Zustandekommen  der  neuesten  anatomischen  Nomenklatur 
verdient  gemacht  hat,  ^»"')  Aeby  (Christoph  Theod..  *1835  25.  Febr., 
1 1885  7.  Juli),  ^  82)  H  e i  t  z  m  a  n  n  (Karl,  *  1836  2.  Okt.,  f  1896  1.  Jan.),  ^ «=^) 
dessen  Atlas  sich  während  der  letzten  3  Jahrzehnte  des  19.  Jahr- 
hunderts ein  Heimatsrecht  in  den  Seziersälen  erobert  und  in  zeit- 
gemässer  Umarbeitung  durch  Zucke rkandl  (Emil)  einen  würdigen 
Einzug  in  das  20.  Jahrhundert  gehalten  hat,^^"'')  Bidders  und  Kupffers 
Schüler  Stieda  (Ludwig,  *  1837  19.  Nov.),  ^^*)  der  eine  Reihe  von  Unter- 
suchungen zur  vergl.  Anatomie  des  Gehirns  und  Rückenmarks  geliefert, 
sich  auch  auf  dem  Gebiete  der  Embryologie  bethätigt,  die  Haupt- 
werke von  Baer  und  Pansch  neu  herausgegeben  hat,  und  durch  seine 
monumentale  Geschichte  der  Entwicklung  der  Lehre  von  den  Nerven- 
zellen und  Nervenfasern  während  des  19.  Jahrhunderts  sowie  andere 
Abhandlungen  geschichtlichen  Inhalts  eine  liervorragende  Stelle  unter 
den  historisch  gebildeten  Anatomen  des  19.  Jahrhunderts  einnimmt,  ^8*^) 
der  besonders  um  die  Morphologie  des  Grosshirns  verdiente  Pansch 
(Adolph,  *1841  2.  März,  tl887  14.  Aug.),^^")  Raub  er  (Aug.,  *1841 


isob)  *Topogr.-anat.  Atlas  nach  Durchschnitten  an  gefron  Ca- 
davern,  1872,  75,  88.  —  *D.  Oberschenkelvene  d.  M.  1871;  d.  Venen  der 
m.  Hand  1875;  der  vorderen  Rumpfwand  (m.  Feenwick)  1884;  d.  m.  Fusses 
u.  Unterschenkels  (m.  Paul  Müller)  1889. 

^*^'')  Schüler  von  Lndwig  in  Göttingen,  1860  Prof.  e.  o.  das.,  1892  Laboratoriums- 
vorst.  im  anat.  Inst.  Berlin. 

^^^^)  D.  terminalen  Körperchen  der  einfach  sensiblen  Nerven 
(Krausesche  Körperchen),  Hannover  1860.  —  D.  motor.  Endplatten  der  quer- 
gestreiften Muskelfasern,  das.  1869.  —  D.  Nervenvarietäten  beim 
Menschen  (m.  Teigmann)  das.  1868.  —  Varietäten  der  Arterien  u.  Venen, 
Braunschw.  1868;  2.  Aufl.  1876.  —  D.  Anat.  d.  Kaninchens.  Leipzig  1868:  2.  Aufl. 
1883.  —  Handb.  der  m.  ^nat.,  3  Bde.,  Hannov.  1876,  79,  80;  ungar.  1881-82; 
franz.  1887-89. 

1S2)  1863  a.  0.  Prof.  in  Basel,  1863  o.  Prof.  d.  Anat.  in  Bern,  1884  in  Prag.  — 
Eine  neue  Methode  zur  Bestimmung  der  Schädelform  von  Menschen 
u.  Säugethieren,  Braunschw.  1863,  m.  8  Taf.  —  Weitere  Bemerkungen 
üb.  d.  Bildung  des  Schädels  u.  der  Extremitäten  im  Menschen- 
geschlecht, Verb.  d.  naturf.  Gesellsch.  in  Basel.  —  Der  Bau  des  menschl. 
Körpers  m.  bes.  Rücksicht  auf  seine  morphol.  u.  physiol.  Bedeutung. 
Leipzig   1871.  —  Im  übrigen  vgl.  Gurlt-Hirsch  Biogr.  Lex.  I  62,  Pageis  Lex.  S.  13. 

^*^*)  Assist,  von  Schuh  u.  Hebra  in  Wien,  seit  1874  in  N.  York. 

188b)  *D  descr.  u.  topogr.  Anat.  d.  M.  in  600  Abb.,  Wien,  1.  Aufl.,  2  Bde., 
1870,  75;  9.  Aufl.  von  Em.  Zuckerkandl,  1902,  50-60.  Tausend. 

"**)  In  Dorpat  1866  Prosektor  u.  Prof.  extr.,  1875  Prof.  o.  der  Anat.  in  Königs- 
berg i.  P ,  seit  1885  o.  Prof.  d.  Anat.  u.  Dir.  d.  anat.  Anst. 

i84bj  ygj.2.  der  Schriften  üb.  d.  Gehirn  u.  Rückenmark  in  Pageis  Lex.  S.  1652.  — 
Zur  Embryologie:  Entwicklung  des  Gl.  thyr.  u.  Gl.  thymus,  Leipzig  1880; 
Baer  (K.  E.  v.),  Entwicklungsgesch.  der  Tiere,  IL  Ausg.,  Königsb.  1888.  —  Pansch 
(A.),  Grundr.  d.  Anat.  d.  Mensch.,  3.  Aufl.,  Berl.  1891.  —  Historisches:  Baer  (K.  E.  v.), 
Lebensgeschichte  Cuviers,  Braunschw.  1897;  *Gesch.  u.  Entwicklung  der  Lehre 
von  Nervenzellen  u.  Nervenfasern  während  des  19.  Jahrb.,  Jena  1899; 
Anatom. -archäolog.  Studien  in  Bonuet- Merkels  anat.  Heften.  I.  Ueber  d. 
ältesten  bildlichen  Darstellungen  der  Leber.  II.  Anatomisches  üb.  alt-ital.  Weih- 
geschenke (Band  15/16,  1901).  III.  D.  Infibulation  bei  Griechen  u.  Römern  (Heft  62 
=  19.  Bd.,  Hft.  2.  1902). 

1»»)  In  Kiel  1865  Prosektor,  1866  Privatdoc,  zuletzt  Prof.  extr.  —  De  sulcis 
et  gyris  in  cerebr.  simiar.  et  hom,  Comment.  anat.  Eutin  1866,  c.  tab.  — 
*Modell  des  menschl.  Grosshirns,  Kiel  u.  Hamb.  1878.  M.  3  Taf.  —  D. 
Furchen   u.  Wülste   am  Grosshirn  d.  M.,  zugl.  als  Erläuterung  zum  Hirn- 


Geschichte  der  Anatomie.  307 

22.  März),!««)  Schwalbe  (Gust,  *1844  1.  Aug.)/«'^)  Herausgeber 
der  Jahresberichte  für  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte,  der 
Zeitschrift  für  Morphologie  und  Anthropologie,  ^^'^j  dessen  Assistent 
Mehnert  (Ernst,  *  1864  21.  Febr..  tl902).is8)  ßudge  d.  J. 
(Albrecht,  *1846  23.  Aug.,  tl885  17.  Juli),*»»)  Bardeleben  (Karl 
Heinr.  von,  *1849  7.  März),  !®^)  Begründer  und  Herausgeber  des 
Anatomischen  Archivs  (Jena,  seit  1886),  der  Verhandlungen  der  ana- 
tomischen Gesellschaft  (seit  1887),  des  gross  angelegten  Handbuchs 
der  Anatomie  des  Menschen  (seit  1896),  Adamkiewicz  (Albert, 
*1850  11.  Aug.),  !^!)  dessen  Arbeiten  über  die  Blutversorgung  des 
Rückenmarks  diejenigen  von  Goll  vervollständigen,  !^!'')  Bonnet 
(Robert,  *1851  17.  Febr.),  !^-)  mit  Merkel  Herausgeber  der  anatomischen 
Hefte,  hauptsächlich  auf  dem  Gebiete  der  Histologie  und  Embryologie 
thätig. 

Frankreich. 

Paris  hatte  sich  bis  in  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  gegen- 
über Montpellier  das  höhere  Recht  auf  die  Wissenschaft  angemasst, 
dennoch  war  es  noch  zu  Beginn  der  Regierung  des  Hauses  Bourbon 
(1589—1792)  im  Vergleiche  mit  Italien  weit  zurückgeblieben,  weil  es 
im  Galenismus  stecken  geblieben  war.  Der  Aufschwung  der  Anat. 
setzt  ein,  nachdem  die  Universität  durch  die  Reformation  vom  3.  Sept. 
1598  gefestigt  worden  war.  ^)    Endlich  wurde  1604  in  der  rue  Fouarre 


modeil,  Berl.  1879,  III  u.  51  S.  m.  3  Taf.  —  Beitr.  z.  Morphologie  des  Gross- 
hirns der  Säogeth.,  Leipzig  1879.  —  Grundr.  d.  Anat.  d.  M.,  Berl.  1881; 
3.  Axafl.  von  Stieda  Berl.  1891. 

^**^)  Schüler  von  Bischoff  u.  Eüdinger;  seit  1886  o.  Prof.  d.  Anat.  n.  Dir.  d. 
anat.  Anst.  m  Dorpat.  Vatersche  Körperchen  der  Bänder-  u.  Periost- 
nerven, Inaug.-Diss.,  Neust,  a.  H.  1865.  —  Unters,  üb.  d.  .  .  .  Vaterschen 
Körperchen,  Münch.  1867.  —  Lehrb.  d.  Anat.  d.  M.,  Bd.  I,  6.  Anfl.,  1143  z.  T. 
färb.  Abb..  1902,  Bd.  U,  5.  Aufl.,  773  z.  T.  färb.  Abb..  1898. 

1»'»)  Schüler  von  M.  Schnitze  in  Bonn,  1871-73  Prof.  e.  o.  in  Leipzig,  73—81 
Prof.  0.  u.  Dii-ekt.  d.  anat.  Institutes  in  Jena,  1881—83  in  Königsberg  i.  Pr.,  seit 
1883  in  Strassburg. 

i87b^  Ueb.  die  Kaliberverhältnisse  der  Nervenfasern,  Leipz.  1882. — 
Als  2.  verm.  u.  umgearb.  Aufl.  von  C.  E.  E.  Hoffmanns  Lehrb.  d.  Anat:  Lehrb. 

d.  Neurologie  1881,  der  Anat.  der  Sinnesorgane  1886,  Erlangen. 

"^)  Stud.  in  Dorpat,   Schwalbes  1.  Assist,  in  Strassb.  1890—98,  seit  1898  Prof. 

e.  0.  u.  Prosektor  am  anat.  Inst,  in  Halle  a.  S.  Verz.  seiner  Arbeiten  in  Pageis 
Lex.  S.  1114. 

"»)  Seit  1884  Prof.  e.  o.  f.  Anat.  in  Greifswald,  Embryolog. 

190^  1872  Assist,  bei  His  in  Leipzig,  1873  Prosektor  bei  Schwalbe  in  Jena, 
1878  a.  0.,  1888  o.  Prof.  in  Jena. 

^*'»)  Schüler  von  Haidenhain  u.  Eecklinghausen,   1880—91  o.  Prof.  in  Krakau. 

i9ibj  *j)  Blutgefässe  des  mensch  1.  Rückenmarks,  Sitzungsber.  d. 
k.  Akad.  d.  W.,  Wien  1881,  84.  Bd.;  1882,  85.  Bd.  —  D.  Arterien  des  ver- 
längerten Markes  vom  üebergang  bis  zur  Brücke,  Denkschr.  das.  1892, 
57.  Bd.  —  D.  Blutkreislauf  d.  Ganglienzelle,  Berl.  1886.  —  Tafeln  zur 
Orient,  an  d.  Gehirnoberfl.  des  leb.  Menschen  (bei  chir.  Operationen  u. 
klin.  Vorlegungen),  2.  Aufl.  Wien  u.  Leipzig  1894,  4  Taf. 

'®"-)  Stud.  in  München,  1870  Privatdoc,  1881  o.  Prof.  a.  d.  Centraltierarznei- 
schule,  1889  a.  o.  Prof.  in  Würzburg,  1891  o.  Prof.  d.  Anat.  in  Giessen,  1895  in 
Greifswald. 

*)  *Leges  et  Statuta  in  usum  Academiae  et  Universitatis  Parisieusis,    lata  et 

promulg.  A.  D.  1589  die  3.  Sept.   jubente  et   mandante  Christ,    et  invict.    Francor 

I  et  Navar.  rege  Henr.  IV.    Abdr.  bei  *Jourdain  (Ch.),   Hist.  de  Tuniv.  de  Par.  au 

I  17e  et  au  18e  s.    Paris  1862—66.    Unter  den  66  Absätzen  der  zugehörigen  Statuten 

20* 


308  Robert  Ritter  von  Töply. 

binnen  15  Tagen  ein,  allerdings  nicht  wetterfestes  anat.  Theater  her- 
gestellt.-) Einen  beständigen,  wenn  auch  vor  Wind  und  Kälte  schlecht 
geschützten  Neubau  errichtete  erst  Eiolan  d.  J.  (Jean,  *  1580 
20.  Feb.,  t  1657  21.  Feb.).^")  Trotz  einer  10jährigen  Abwesenheit 
im  Dienste  der  Königin  (f  1642  3.  Juli)  masst  er  sich  bis  zum  Tode 
die  Herrschaft  in  der  Anatomie  an.  Er  lässt  sich  mit  Behagen  den 
Fürsten  der  Anatomen  nennen,  kritisiert  den  Dulaurens,  Bauhin, 
Spighel,  Kasp.  Bartholin,  Hofmann,  Parisano  und  Andere,  bekämpft 
den  Harvey.  Er  nennt  sich  mit  Stolz  den  Entdecker  und  Benenner 
des  Muse,  anconaeus,  der  halbmondförmigen  Z^ischenknorpel  an  der 
oberen  Gelenkfläche  der  Tibia,  er  hebt  hervor,  dass  er  als  Erster  die 
Schlundmuskeln  beschrieben  und  benannt,  ebenso  die  Beweglichkeit 
der  Iliosakralsymphyse  beschrieben,  den  Gallengang  als  doppelt  hin- 
gestellt, weiters  nachgewiesen,  dass  die  Nieren  l)eim  Fötus  sowie 
beim  Kinde  bis  zum  3.  Jahr  und  darüber  der  Kalbsniere  ähneln,  er 
erklärt  sich  für  den  Entdecker  der  Klappe  in  der  V.  jugularis  int. 
und  den  Ersten,  der  die  Ursprünge  und  Insertionen,  die  Zahl  und 
die  Namen  der  Muskeln  aufgestellt,  für  denjenigen,  der  die  Ana- 
tomie der  endgiltigen  Vollendung  zugeführt  hat.  Thatsächlich  gehört 
er  zu  den  belesensten  Anatomen  aller  Zeiten  und  zu  den  hervorragendsten 
seiner  Zeit.  Aber  sowohl  sein  Gehaben  als  dasjenige  seiner  Genossen 
trägt  den  Stempel  unleidlicher  Unduldsamkeit.'^'') 

Am  7.  Nov.  1612  verbot  der  Prevot  von  Paris  den  Chirurgen,  den 
anatomischen  Unterricht  anders  als  bei  offenen  Thüren  zu  erteilen  und 
Leichenzergliederungen  nicht  anders  als  in  Gegenwart  von  Schülern  vorzu- 
nehmen. Zufolge  Parlamentserlass  vom  23.  Nov.  1615  hat  das  Hotel-Dieu 
„et  tout  autres"  nicht  das  Pecht,  ohne  Erlaubnis  der  Fakultät  den  Chirurgen 
und  Barbierchirurgen  Leichen  auszuliefern.  Infolgedessen  hat  die  Fakultät 
Leichen,  die  den  Chirurgen  ohne  Erlaubnis  ausgeliefert  werden,  wiederholt 
mit  Beschlag  belegt  (Arret  du  11.  nov.  1615,  14.  dec.  1630),  andererseits 
haben  sich  die  Chirurgen  wiederholt  Leichen  angeeignet.  Auf  Grund  eines 
von  dem  Könige  am  20.  Jan.  1608  durchgesetzten  zwangsweisen  Haus- 
verkaufs bezw.  Erwerbs  erbaute  die  Fakultät  nach  langen  Verhandlungen 
endhch  1619 — 22  ein  anatomisches  Amphitheater  (Ecke  der  rue 
de  la  Bücherie  und  rue  de  l'Hotel-Colbert,  Nr.  13).  Die  Eröffnungsfestrede 
des  Jean  Riolan  ist  erhalten  (Doctissimis  et  amantissimis  collegis  eucharisticon, 


für  die  med.  Fakultät  bestimmt  der  Abs.  56  jährlich  wenigstens  2  Anatomien. 
Leichen  sollen  behördlicherseits  nur  über  Anforderung  des  Dekans  ausgefolgt  werden. 
Der  Lehrer  der  Anat.  soll  einen  „Archidiakon"  (Referenten)  ernennen.  Zwischen 
zwei  Anatomien  soll  nicht  mehr  als  ein  Jahr  verlaufen.  Der  Archidiakon  soll  die 
Auseinandersetzungen  des  Lehrers  nicht  widerlegen.  Den  Dissektor  haben  die 
Barbierchirurgen  beizustellen.  Vgl.  *Sabatier  (J.  C),  Eecherches  historiques  sur 
la  facnlte  de  medecine  de  Paris.    Paris,  Montpellier  1835,  8°,  448  pag.  , 

2)  Reg.  rass.  de  la  Fac.  t.  XI,  fol.,  119  ro. 

''")  Riolan  war  über  Vorschlag  des  Dulaurens  (Andree),  Prof.  d.  Anat.,  Botanik 
u.  Pharmakopoe  geworden  (Riolan,  Anthropogr.  I,  19,  *Opera  1649).  Vgl.  über  ihn 
*  Töply  (E.  R.  V.),  Jean  Riolan  d.  J..  in  Intern.  Klin.  Rundschau,  Wien,  Nr.  42  u. 
44,  1894,  S.-A.,  8<*,  11  S.  In  meinem  Besitze  befindet  sich  eine  Quittung  vom 
13.  Nov.  1647,  worin  Riolan  als  Prof.  der  Anat.,  Botanik  u.  Pharmakologie  sowie 
als  Dekan  den  Empfang  eines  halbjährigen  Gehalts  von  600  livres  bestätigt.  Nach 
der  bis  1796  bestandenen  Münzeinheit  waren  81  L.  toumois  =  80  Frank  jetziger 
Rechnung.    Demgemäss  betrug  das  Jahresgehalt  des  Riolan  rund  1185  Franken. 

^^)  Opera  anat.  Lut.  Paris.  1649,  fol.,  872  pag.  Ausser  dieser  Gesamt- 
ausgabe besitze  ich  noch  einzelne  Schriften  Eiolans  in  14  Exemplaren. 


Geschichte  der  Anatomie.  309 

pro  extructione  theatri  anatomici.  Haec  oratio  recitata  fait  cum  capta  fait 
Eupella,  et  profligati  Britanni.  Anthropogr.  I.  19,  Opera  1649  p.  63  sq. 
Danach  scheint  Eiolan  diese  Rede  ziemlich  spät  gehalten  zu  haben,  denn  die 
Eroberung  von  La  ßochelle  fällt  in  das  Jahr  1628).  Die  erste  Vorlesung 
wurde  jedoch  durch  das  Eindringen  Bewaffneter  unterbrochen.  Sie  ver- 
letzten einige  Hörer  und  schleppten  schliesslich  die  zum  Gegenstand  der 
Vorlesung  bestimmte  Leiche  davon.  Die  nachträgliche  Verurteilung  der 
Chirurgen  als  Anstifter  des  Skandals  durch  das  Parlament  bedeutete  in 
diesem  langjährigen  Kampf  um  die  Leichen  nur  einen  Waffenstillstand.  Den 
12.  März  1633  erwirkte  die  Fakultät  einen  Erlass  des  obersten  Gerichts- 
hofs dahin,  dass  die  Lieferung  der  Leichen  nur  zum  „pilier  des  Halles" 
stattfinden  darf  und  erwirkte  gegen  den  Chirurgen  De  la  Noue  eine  Geld- 
strafe von  60  livres,  weil  er  ohne  ihre  Bewilligung  eine  Leiche  zergliedert 
hatte.  Den  23.  April  1646  wurde  der  Chirurg  de  robe  longue  Granger, 
weil  er  sich  die  dem  königlichen  Arzte  Chartier  zugesprochene  Leiche  des 
hingerichteten  Vigot  angeeignet  hatte,  verurteilt,  sie  dem  Bittsteller  aus- 
zuliefern, andernfalls  man  die  Kammer,  darin  die  Leiche  eingesperrt  ist, 
von  einem  Schlosser  öffnen  lassen  würde  (Arch.  gen..  Collect.  Eondonneau, 
§  II  nr.  511).  Den  12.  Feb.  1672  war  den  Chirurgen  von  Saint-Come 
ohne  Mitwissen  der  Fakultät  eine  Leiche  geliefert  worden.  Den  nächsten  Tag 
verlangte  der  Dekan  durch  einen  Gerichtsdiener  (huissier  du  parlement)  die 
Auslieferung.  Mauriceau,  Vorstand  der  Chirurgen,  verweigerte  die  OefFnung  der 
Pforte  von  Saint-Come,  worauf  der  Gerichtsdiener  das  Thor  von  einem  Schlosser 
aufsperren  Hess,  die  Leiche  aber  nicht  fand.  Einige  Tage  später  entsendete 
der  Dekan  Puylon  einen  Gerichtsdiener  mit  6  Häschern.  Am  24.  drang 
dieser  ein  und  fand  Mauriceau  in  Gesellschaft  bei  der  Leichenzergliederung. 
Es  entbrannte  wegen  der  Rückerstattung  ein  heftiger  Streit,  bis  weitere 
70  Häscher  ankamen  und  die  Leiche  in  die  medizinische  Schule  trugen. 
Der  Gerichtsvollstrecker  erhob  gegen  die  Chirurgen  eine  Klage,  und  der 
Gerichtshof  entschied  zu  Gunsten  der  Fakultät,  ohne  jedoch  Mauriceau  zu 
strafen.  Hingegen  verurteilte  den  13.  Apr.  1683  der  Polizeileutnant  den 
Chirurgen  des  Herzogs  von  Orleans,  De  Blegny  zur  Verbannung  aus  dem 
Königreich,  sowie  zur  Einziehung  der  Güter  zu  Gunsten  des  Königs,  und 
dessen  Mitschuldigen  De  la  Noue  zur  Stäupung  (ä  etre  battu  et  fustige 
nu  des  verges  aux  carrefours  et  lieux  accoutumes),  überdies  zu  einer  Geld- 
strafe von  30  livres,  weil  sie  von  den  Söhnen  des  Totengräbers  zu  Saint- 
Sulpice  mehrere  ausgegrabene  Leichen  gekauft  hatten.  Das  Urteil  wurde 
indes  an  den  in  der  Conciergerie  Gefangenen  nicht  vollinhaltlich  vollstreckt, 
der  Gerichtshof  beschränkte  es  auf  eine  Rüge  und  Geldstrafe. 

Das  von  der  Fakultät  usurpierte  Monopol  auf  die  Anatomie  erlitt 
einen  heftigen  Stoss  durch  die  Errichtung  des  „Jardin  Royal  des 
Plantes  Medicinales"  (angeregt  von  Guy  de  la  Brosse,  dann  Herouard 
und  Ch.  Bouvard.  Erster  königlicher  Erlass  über  die  Errichtung 
vom  6.  Jan.  1626,  Organisationsstatut  vom  15.  Mai  1635)  bezw.  durch 
den  königl.  Erlass  vom  20.  Jan.  1673,  welcher  die  Professoren  des 
Jardin  royal  zur  Abhaltung  chirurgischer  Operationen,  anatomischer 
Sektionen  und  Demonstrationen  befugt  und  anordnet,  dass  die  erste 
Leiche  eines  Hingerichteten  ihnen  und  in  Zukunft  abwechselnd  ihnen 
und  der  Fakultät  auszuliefern  ist  und  dass  „die  genannten  Kurse  und 
Demonstrationen  von  den  Professoren  des  genannten  königl.  Gartens 
unentgeltlich  und  in  gewohnter  Weise  abgehalten  werden".  Zu  diesem 
Zweck  wurde  im  Winter  1672 — 73  provisorisch  im  Jardin  roy.  eine 


310  Robert  Bitter  von  Töply. 

„salle  des  6coles"  erbaut.  Die  Vorträge  lockten  täglich  400 — 500 
Zuschauer  heran.'*)  Hier  wirkte  nun  dem  Namen  nach  Cureau  de 
la  Chambre  (Frangois,  f  1680  29.  März),*^)  welcher  jedoch  die  Aus- 
übung des  Amts  schon  1672  dem  in  der  Scholastik  der  alten  Fakultät 
befangenen  Cr  esse  (Pierre)  als  theoret.  Lehrer  und  dem  Dionis 
(Pierre,  f  1718  11.  Dez.) .  als  ausübendem  Lehrer  überliess.  Mit 
letzterem  beginnt  die  neue  physiologische  Richtung  der  Anatomie  in 
Paris.  Sein  Handbuch  der  Anat.  wurde  bis  in  die  Mitte  des  18.  Jahrh. 
in  Frankreich  fast  ausschliesslich  benutzt.")  Ihre  folgenden  Vertreter 
sind  Duverney  (Joseph  Guichard,  *  1648  5.  Aug.,  f  1730  10.  Sept.),'^) 
dessen  Abhandlung  über  das  Gehörorgan  das  beste  Werk  dieser 
Gattung  im  17.  Jahrhundert  ist,  ^^)  Duverneys  Schüler  Tauvry 
(Daniel,  *  1669,  f  1701  1.  März),  ^)  dann  Win  slow  (Jacques  Benigne, 
*  1669  2.  April,  -f  1760  3.  April),  Gründer  eines  neuen  anat.  Theaters 
i.  J.  174.5  und  Verf.  eines  Handbuchs,  das  wegen  der  Fülle  des  Stoffs, 
der  übersichtlichen  Anordnung  sowie  der  musterhaften  Genauigkeit  das 
des  Dionis  weit  überragt  und  bis  gegen  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
massgebend  geblieben  ist.  Winslow  ist  nicht  nur  der  bedeutendste 
Anatom  des  18.  Jahrhunderts  in  Frankreich  (sowie  Riolan  der  be- 
deutendste des  17.),  sondern  einer  der  bedeutendsten  und  einfluss- 
reichsten überhaupt.®)  Nach  ihm  erschienen  als  Sterne  2.  Grösse 
Verdier  (Cesar,  *  1685  24.  Juni,  f  1759  19.  März), i«)  dessen  Schüler 
Sue  „de  la  Charite"  (Jean  Joseph,  *  1710  20.  April,  f  1792 
15.  Dez.),^^'')  Verfasser  eines  Abrisses  der  Anat,,  eines  vortrefflichen 


*)  Dionis,  Vorrede  zu  seiner  Anat. 

^)  Erster  Arzt  der  Königin,  ordinierend.  Arzt  des  Königs. 

*)  L'anat.  de  l'liorame,  suiv.  la  circulat.  du  sang  et  les  dernieres 
decouv.,  Par.  1690  u.  öfter  bis  1729;  *3e  ed.,  Par.  1698,  8»,  671.  M.  Kpf.  Meinem 
Exemplar  ist  auch  ein  vermutlicb  nicht  zugehöriges  Portr.  des  Dionis  beigeheftet  u. 
dem  Titel  ein  Stich  von  Thomassin  vorgesetzt:  „Amphitheatre  des  Ecoles  de  St. 
Cosme,  oü  l'on  fait  l'anatomie  de  l'homme".  —  üeb.  die  Errichtung  des  Jardin  des 
plantes  *Hamy  (M.  E.-T.),  Les  debtits  de  l'anthropologie  et  de  l'anat.  hum.  au  Jardin 
des  plantes,  M.  Cureau  de  la  Chambre  et  P.  Dionis,  1635 — 80.  Extr.  de  L'Anthro- 
pol.  t.  V.  an  1894,  Par.  1894,  S.-A.,  8 »,  19  p. 

'*)  Seit  1679  Prof.  anat.  am  Jard.  roy.  als  Nachf.  von  Dionis. 

"'')  Traite  de  l'organe  de  l'ouie,  conten.  la  structure,  les  usages  et  les 
maladies  des  toutes  les  parties  de  l'oreille,  Paris  *1683,  12*>,  210  pag.,  16  pl.  u. 
öfter,  auch  lat,  deutsch,  englisch.  Deutsch  Berl.  1732,  8".  —  Ouvres  anat, 
Par.  1761,  4  <>,  2  vol. 

•*)  1697  Doct.  reg.  der  Fakult.,  1699  Mitgl.  der  Acad.  des  sc.  Nouv eile  anat. 
raisonnee  .  .  .  suiv.  les  principes  des  mechaniques,  Par.  1690;  1693;  1698;  1720; 
*lat.  u.  d.  T.  Nova  anat.  ratiociniis  illustr.  ...  lat.  don.  a.  Melch.  Frid. 
Geudero,  Ulmae  1694,  8,  472  S.  m.  20  Kpft.  (in  Gurlt-Hirsch'  Biogr.  Lex.  V,  621 
nicht  angeführt). 

")  Exposition  anat.  de  la  structure  du  corps  hum..  Par.  1732,  4; 
Amsterd.  1732,  8:  *Nouv.  ed.  corr.  et  enrich.  de  flg.,  Amsterd.,  8",  4  t.  u.  öfter. 
Paris  zuletzt  1766.  Ueberdies  deutsch,  engl.,  holländ.,  ital.,  lat,  zuletzt  Venet.  1776. 
—  Abhandlungen  über  das  Herz,  die  halbmondf.  Klappen,  den  Blut- 
lauf im  Foetus  u.  s.  w.  in  den  Mem.  der  Akad.  der  Wiss.  Briefe  bei  Rigels 
De  fatis  chirurgiae,  Hafn.  1787,  8,  p.  545  sq.  —  Biogr.  in  der  letztgenannten 
venetianer  Ausg.,  bei  Portal  IV  466  sq.  —  Abb.  des  von  Winslow  errichteten 
anat.  Theaters  bei  Corlieu,  L'ancienne  faculte  de  med.  de  Paris,  Par.  1877. 

'°)  In  Montpellier  Schüler  von  Nissole  u.  De  Lapeyronie,  in  Paris  von  Duverney, 
Amand,  J.  L.  Petit,  hier  maitre  en  chir.  1724,  anat.  Prosektor  an  den  Ecoles  roy. 
de  chir.  1725.  Abrege  d'anat.  du  c.  h.,  Par.  1725,  2  vol.  u.  öfter  bis  1768; 
Brüssel  1752;  deutsch  Hamb.  1744;  engl.  Lond.  1750. 

""),  Maitre  en  chir.  1751,  als  Verdiers  Nachf.  Prof.  u.  Demonstrator  der  Anat 
an  den  Ec.  roy  de  chir.,  schon  vorher,  dann  daneben  an  der  kön.  Maler-  u.  Bildhauer- 


f 


Geschichte  der  Anatomie.  311 

Handbuchs  der  anatomischen  Technik,  üebersetzer  der  Osteologie  von 
Monro  in  einer  selten  schönen  Prachtausgabe,^^'')  Siie  ,.le  jeune" 
(Pierre,  *  1739  28.  Dez.,  f  1816  28.  März),i-)  verdient  durch  mehrere 
medizinisch-geschichtliche  Arbeiten,  darunter  die  hier  einige  mal 
citierten  „Anecdotes  historiques",  Sue  „le  fils"  (Jean  Joseph  *  1760 
13.  Jan.,  f  1830  21.  Aprili,^^^^)  Verfasser  einer  Anat.  für  Künstler, 
üebersetzer    der    vergl.   Anat.    von  Monro,  ^^'')    Ferrein    (Antoine 

*  1692  25.  Okt..  7   J-769  28.  Feb.y*)  Hunauld   (Francois  Joseph, 

*  1701  24.  Feb.,  f  1742  15.  Dez.)/^)  Petit  (Antoine,  *  1718,  f  1794 
21.  Okt.),i«)  Demours  d.  Ae.  (Pierre,  *  1702,  f  1795  26.  Juni)i^)  und 
dessen  Gegner  Descemet  (Jean,  *  1732  20.  April  f  1810  17.  Okt.).^») 
beide  bekannt  durch  den  1769 — 71  dauernden  Prioritätsstreit  um  die 
innere  Basalmembran  der  Hornhaut,  die  mit  mehr  Recht  den  Namen 
des  letzeren  führt.i^)  Vicq-d'Azyr  (Felix,  *  1748  23.  April,  f  l'?94 
20.  Juui),"-*^^)  besonders  durch  zootomische  und  tierärztliche  Arbeiten 
bekannt,-*^»')    Portal   (Antoine   Baron   P.,   *   1742   5.  Jan.,   f  1^32 


akademie  Adjunkt  von  Sarrau  1746 — 72,  Prof.  tit.  d'anat.  72—92,  überdies  Chirurg.- 
major  am  Hop.  de  la  Charite  etc. 

^^^)  Abrege  del'anat.  du  corps  de  l'homme  1748.  —  Anthropotomie 
ou  l'art  d'injecter,  de  dissequer,  d'embaumer  et  de  conserver  les 
parties  du  c.  h.,  Par.  1750;  *2e  ed.  Par.  1765,  12",  291p.  —  *Traite  d'osteo- 
logie  trad.  de  l'angl.  de  M.  Monro,  Par.  1759,  fol.  max.  Eeproduktion  daraus 
bei  Duval  et  Cuyer  a.  a.  0.  Fig.  87—91. 

^*)  Maitre  en  chir.  1736,  Prof.  d.  Anat.  an  der  Ecole  prat.  in  Paris  1787,  Prof. 
der  Therapie  das.  1780,  Bibliothekar  u.  Prof.  d.  Bibliogr.  an  d.  Ecole  de  sante  1794, 
Prof.  d.  gerichtl.  Med.  1808. 

^'*)  Schüler  seines  Vaters,  maitre  en  chir.  1781,  an  der  Kunstakad.  Adjunkt 
seines  Vaters  1789-92,  Prof.  tit.  1792—1830,  Vater  des  bekannten  Komanciers. 

^"')Elemens  d'anat,  ä  Tusage  des  peintres,  des  sculpteurs  et 
des  amateurs,  le  ed.  1788:  2e  ed.  1805.  —  Essai  sur  la  physiognomie  des 
Corps  vivans,  consideree  depuis  l'homme  jusqu'ä  la  plante  1797.  —  Traduction 
du  traite  d'anat.  comparee  de  Monro  1786.  —  Das  Biogr.  Lex.  von  Gurlt- 
Hirsch  V.  578  enthält  mehrere  Unrichtigkeiten  in  den  Artikeln  Sue.  Vgl.  über  die 
Familie  Duval  et  Cuyer  a.  a.  0.,  daraus  folgende  genealog.  Uebersicht: 

Jean  Sue  Jean- Joseph  Sue  „de  la  Charite" 

1699—1762  1710-1792 

i  I 

Pierre  Sue  ,.le  jeune''      Jean-Joseph  Sue  ..le  fils" 
1739-1816  '  1760-1830 

I 
Marie-Joseph-Eugene  Sue 
1804—1857 

")  Seit  1741  Anatom  bei  der  Akad.  der  Wissensch.,  seit  1742  Prof.  d.  Med.  u. 
Iiir.  am  Coli.  roy. 

")  Schüler  von  Duvemey  u.  Winslow,  Nachf.  des  Ersteren  am  Jard.  seit  1730. 

**)  Xachf.  des  Ferrein  am  Jard.  du  roy  bis  1776,  Herausgeber  der  Anat.  chir. 
des  Belgiers  Palfijn  1753. 

^')  1730  Demonstrator  u.  Aufseher  des  naturhist.  Kabinets  beim  Jard.  du  roy, 
2  Jahre  später  Hilfsarbeiter  des  Ant.  Petit,  dann  Augenarzt  u.  kön.  Okulist. 

^'')  Vertrat  an  der  Universität  in  Paris  die  Anat.  u.  Bot. 

'»)  Demo  Urs,  Lettre  ä  M.  Petit,  Par.  1767;  Mem.  de  I'Acad.  1768,  pag.  177; 
Nouvelles  refiexions  sur  la  lame  cartilagineuse  de  la  comee,  Par.  1770,  8.  —  Des- 
cemet, An  sola  lens  crystallina  cataractae  sedes?  Diss.  Par.  1758. 

*°")  Von  Ant.  Petit  zum  Stellvertreter  u.  Nachf.  ausersehen,  aber  nicht  ernannt, 
- -it  1788  Nachf.  von  Buffon. 

-*•*•)  Traite  d'anat.  et  physiol,  Par.  1786,  fol.,  m.  kolorierten  Abb.  Nur 
de  1.  Teil  erschienen.  —  Oeuvres,  Par.  1805,  6  vol.,  S",  1  vol.  4<*,  ed.  Moreau 
der  la  Sarthe. 


312  Robert  Ritter  von  Töply. 

23.  Juli),-'")  Verfasser  einer  umfangreichen  Geschichte  der  Anat.  und 
Chir.  von  bleibendem  Wert.^^*') 

Beachtenswert  sind  auch  die  Leistungen  des  Pariser  Chirurgen 
Mery  (Jean,  *  1645,  f  1722),--)  die  Arbeiten  über  das  Auge  von 
Pourfour  du  Petit  (Fran^ois,  *  1664  24.  Juni,  f  1741  18.  Juni),-^^^") 
dessen  Namen  der  Kanal  an  der  Peripherie  der  Linse  führt  (Canalis 
Petitii), -'''')  die  historischen  Arbeiten  von  Astruc  (Jean,  *  1684 
19.  März,  f  1766  5.  Mai),^^)  die  Schrift  über  das  Herz  von  Senac 
(Jean-Baptiste,  *  1693,  f  1770  20.  Dez.),  -^)  die  „Essais  anatomiques" 
von  Lieutaud  (Jos.,  *  1703  21.  Jan.,  f  1780  11.  Dez.),-«'')  verewigt 
im  „Trigonum  Lieutaudii".  ^^^) 

Neben  den  Grössen  von  Paris  verdienen  die  von  Montpellier'-') 
umsomehr  einer  Erwähnung,  als  zwischen  den  medizinischen  Schulen 
beider  Städte  jahrhundertelang  eine  nicht  unbegründete  Rivalität  be- 
standen hat.  Wenn  auch  mehrere  Aerzte  von  Montpellier  dem  Schau- 
platze ikrer  Hauptthätigkeit  gemäss  ebensogut  zu  den  Parisern  ge- 
rechnet werden  können  (dies  trifft  schon  bei  Henri  de  Mondeville  zu), 
so  beansprucht  doch  die  Hauptstadt  des  Departement  Herault  (im 
früheren  Languedoc)  folgende  Männer  als  Anatomen  für  sich  (vgl.  die 
Uebersicht  von  Bouisson).  Rondelet  (Guillaume,  *  1507  27.  Sept., 
1 1566  30.  Juli),  Joubert  (Laurent,  *  1529  6.  Nov.,  f  1582  29.  Okt.), 
Cabrol  (Barthelemy,  *?,  f  ?),  Dulaurens  (Andre,  Andreas  Lauren- 
tius,  *?,  11609;  Nachf.  von  Joubert),  Eicher  de  Belleval  (Martin, 
*?,  t  1644),  Ranch  in  (Frangois,  *  um  1560—65,  f  1641),  Pecquet 


*^*)  Hielt  schon  in  Montpellier  unter  Laboire  anat.  Vorlesungen,  seit  1766  in 
Paris,  wurde  Prof.  d.  Anat.  des  Dauphin,  1769  anatomiste  adjoint,  1772  Prof.  d. 
Anat.  am  Coli,  roy  de  France,  1776  durch  Buffon  Nachf.  von  Ant.  Petit  am  Jard. 
du  roy,  seit  1788  Arzt  der  Könige. 

"•^j  *Histoire  del'anat.  etdela  chir.,  Paris,  6  tom.,  1770—73,  8.»  Portal 
ist  kein  eigentlicher  Geschichtsdarsteller.  Er  reiht  nur  Biographien  und  Bücher- 
besprechungen chronologisch  aneinander,  bringt  aber  soviel  Stoff  zusammen,  dass 
sein  Werk  für  den  Geschichtsforscher  unentbehrlich  ist,  während  es  sonst  für  Ge- 
schichtsfreunde unverdaulich  wird. 

^-)  Mitgl.  der  Acad.  des  sc,  Chirurgien-major  des  Invalides,  erster  Chirurg  des 
Hotel-Dieu  in  Paris.  —  *Oeuvres  completes  par  le  Dr.  L.  H.  Petit,  Paris  1888, 
gr.  8»,  557  pag.,  3  pl. 

23a-)  Feldarzt,  später  Arzt  in  Paris. 

®'"'  Lettre,  dans  laquelle  il  demontre,  que  le  cristallin  est  fort 
pres  de  l'uvea,  Par.  1729,  4°.  Giebt  genaue  Abmessungen  des  Auges.  Abdr.  bei 
Haller  Disput,  chir.  V.  —  Keflexions  sur  les  decouvertes  faites  sur  les 
yeux,  Par.  1732. 

''*)  1706—10  supplierender  Prof.  in  Montpellier,  1711 — 15  Lehrer  der  Anat.  in 
Toulouse,  1716—28  in  Montp.,  nach  mehreren  Reisen  in  Paris  1731  Prof.  als  Nachf. 
von  Geoffroy.  Memoires  pour  servir  ä  l'hist.  de  la  Faculte  de  med. 
de  Montpellier.  Revus  et  publ.  par  Lorry  (Anna  Gar.).  Par.  1767,  4".  M. 
Portr.  —  De  morbis  venereis  libri  novem.  Ed.  altera  Lut.  Paris  1740,  4* 
(wertvollste  Ausg.  Ueb.  die  Verlässlichkeit  vgl.  Proksch  in  Gurlt-Hirsch'  Biogr. 
Lex.  I  215.  Die  von  Astruc  veröffentlichten  Statuten  der  Königin  Johanna  für 
das  Bordel  in  Avignon  wurden  in  letzter  Zeit  bestimmt  als  Fälschung  erkannt). 

^^)  Leibarzt  Ludwigs  XV.  seit  1752  als  Nachf.  von  Chicoyneau.  —  *Traite  de 
la  struct.  du  coeur,  de  son  action,  et  de  ses  maladies,  Paris  1749,  4°, 
1774,  4°,  2  vol.  504,  694  pag.,  17  pL;  deutsch  Leipz.  1781,  8«. 

**")  Nachf.  Senacs  als  Leibarzt  Ludwigs  XV.,  dann  des  XVI. 

20b)  *Essais  anat.,  conten.  l'hist.  exacte  de  toutes  les  parties  qui 
composent  le  corps  de  l'homme,  avec  la  manierede  dissequer,  Par. 
•1742,  8»  724  pag.,  6  pl.  u.  öfter  bis  1782;  deutsch  Leipz.  1782,  8«. 

^')  *Bouisson  (F.),  Tableau  des  progres  del'anat.  dans  l'ecole  de  Montpellier. 
Montp.,  Par.  1838,  8  »,  39  pag. 


Geschichte  der  Anatomie.  313 

(Jean,  *  um  1622,  f  1674  im  Febr.).  Yieussens  (Eaymond  de.  *  1641, 
t  1715  0.  16),  Chirac  (*  1650,  j  1732  1.  Märzi,"'  La  Peyronie 
(Frangois  de,  *  1678  15.  Jan.,  j  1747  25.  Apr.),  Deidier  (Antoine, 
*?.  t  1746),  F  er  rein  (Antoine,  *  1692  25.  Okt.,  j  1769  28.  Feb.), 
Fizes  (*  um  1690,  j  1765  14.  Ang.),  Borden  (Theophile  de,  *  1722 
22.  Feb.,  t  1776  23.  Xovb.\  Lamure  (Francois  Bourgignon  de  Bus- 
siere  de,  *  1717  11.  Juli,  t  1787  18.  März),  Barthez  (Paul  Joseph, 
*  1737  11.  Dez..  f  1806  15.  Okt.),  Grimaud  (Jean  Charles  Marguerite 
Guillaume  de.  *  1750,  f  1789  5.  Aug.),  Dumas  (Charles  Louis,  *  1765 
8.  Feb.,  1 1813  28.  März),  Delpech  (Jacques,  *  1772,  j  1832  28.  Okt.), 
Lordat  (Jacques.  *  1773  11.  Feb.,  f  1870  25.  Apr.),  Delmas  (*?, 
t?).  L  allem  and  (Claude  Francois.  *  1790  26.  Jan.,  f  1853  23.  Juni), 
Dubreuil  (Joseph  Marie,  *  1790  14.  Aug..  f  1852  19.  Nov.).  Duges 
(Antoine,  *  1798.  f  1838).  Bouisson  (Etienne  Frederic.  *  1813 
14.  Juni,  t  1884  28.  März). 

Unter  den  Vertretern  des  16.  Jahrhunderts  ist  hervorhebenswert 
Eon  de  1  et  wegen  der  Errichtung  des  ersten  anatomischen  Theaters 
(1556,  vgl.  S.  210  oben)  sowie  als  Lehrer  des  Dubois,  Koyter,  Kasp. 
Bauhin,  Posthius  (*  1537,  f  1597,  Kommentator  des  Eealdo  Colombo, 
lebte  in  "Würzburg  und  Heidelberg),  Rousset  (Francois,  bekannt  durch 
seine  Schrift  über  den  Kaiserschnitt),  Joubert  (Herausgeber  und  Kom- 
mentator des  Guy  de  Chauliac),  dann  als  Entdecker  der  Blinddarm- 
klappe (über  die  Prioritätsfrage  Tgl.  Bauhin  Theatr.  anat.  1621 
pag.  63)  sowie  der  knorpeligen  Rolle  für  den  oberen  schrägen  Augen- 
muskel (Prioritätsnachweis  gegenüber  Falloppia  bei  Riolan  Animadv. 
in  Ubr.  anat.  Adi'.  Spigelii.  Opera  1649  pag.  740).  Cabrol  war  der 
Erste,  der  die  von  Henri  lY.  im  J.  1595  geschaffene  Stelle  eines 
„dissecteur"  bezw.  „anatomiste  royal"  erhielt  (Gehalt  100  ecus  =  rund 
592  Franken.  Riolan  in  Paris  bezog  50  Jahre  später  das  Doppelte. 
S.  oben  Anm.  3aj.  Dul aureus  hat  sein  Handbuch  der  Anat.  (Vor- 
rede von  1599),  welches  sich  auf  behördlich  zugestandene  4  Schul- 
sektionen jährlich  stützt  (lib.  I  cap.  9),  durch  umfangreiche  Erörte- 
rungen aus  dem  Gebiete  der  Physiologie  und  Pathologie  der  spekulativen 
Richtung  der  Schule  von  Montpellier  angepasst.  Sein  Schüler  Gelee 
(Theophile,  *?,  f?;  medecin  ordinaire  der  Stadt  Dieppe)  veröffentlichte 
eine  franz.  L^bereetzung  der  Werke  des  Meisters,  dessen  Vorlesungen 
aus  dem  Jahre  1587  u.  88,  dann  selbständig  einen  beliebt  gewordenen 
Abriss  der  Anat.  Nach  einer  kurzen  Verfallszeit  stellte  Ranchin 
das  anat.  Amphitheater  wieder  her  (1620).  Durch  die  Bemühungen 
des  Asellio  und  Harvey  um  die  Lehre  vom  Kreislauf  im  Körper  an- 
geregt entdeckt  dann  Pecquet  bei  einem  Hunde  die  Cystenia 
chyli  und  den  Ductus  thoracicus  (1647).-^)  Yieussens  veröffent- 
licht zwei  Jahrzehnte  nach  Willis  das  bestillustrierte  Werk  des 
17.  Jahrhunderts  über  das  Nervensystem  (1684).  Er  macht  auf  die 
Pyi'amiden  und  Oliven  zuerst  aufmerksam,  und  verfolgt  unter  Anderem 
ziemlich  genau  den  Faserverlauf  von  den  Pyramiden  bis  zum  Corpus 
striatum.  Sein  Name  ist  im  „centrum"  der  Marksubstanz  des  Gehirns 
sowie  in  der  Anatomie  des  Herzens  (limbus  foraminis  ovalis  s.  isthmus 

'*)Experimenta  nova  anat.,  qnibus  incognitum  hactenus  chyli  recep- 
taculum,  et  ab  eo  per  thoracem  in  ramos  nsque  subclavios  vasa  lactea  detegiintiir  etc. 
Ed.  1,  Harderwyk  1651;  *Ed.  2,  Paris  1654.  Access,  de  thoracicis  lacteis  diss.,  in 
qua  Jo.  Riolani  resp.  ad  eadem  experimenta  nova  anat.  refutatur  et  .  .  .  canalis 
Virsnngici  demonstratur  usus  etc.  4«»,  252  pag.;  auct.  ib.  1655:  Amst.  1661. 


314  Robert  Ritter  von  Töply. 

Vieussenii)  verewigt.-**)  In  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts 
gerät  die  Schule  von  Montpellier  durch  Borden  und  Barthez  in 
das  Gebiet  der  noch  in  L  ordat  anklingenden  vitalistischen  Spekulation. 
Das  Gebiet  der  exakten  anatomischen  Forschung  bleibt  brach. 

Nachdem  die  Kollegien  und  Fakultäten  in  Frankreich  durch 
Dekret  vom  17.  Sept.  1793  geschlossen  worden,  schuf  das  Dekret  vom 
14.  frimaire  III  für  Paris  12  Lehrkanzeln,  darunter  als  erste  die  der 
Anatomie  und  Physiologie  (chaire  theorique).  Hier  wirkten 
Antoine  Dubois  (professeur-adjoint  14.  frim.  —  2.  messid.  111  = 
1795),  Le  Clerc  (prof.-adj.  2.  messid.  III  —  9.  pluv.  IX  =  1795— 
1801),  A.  M.  C.  Dumeril  (prof.-adj.  9.  pluv.  IX  —  23.  Okt.  1818), 
P.  A.  Beclard  (prof.-adj.  6.  Nov.  1818  —  21.  Nov.  1822).  Diese 
Lehrkanzel  wurde  den  2i.  Nov.  1822  aufgelassen  und  den  2.  Feb. 
1823  eine  eigene  für  „Anatomie"  errichtet  (chaire  theorique).  Die 
Inhaber  waren  P.  A.  Beclard  (1823 — 25),  Jean  Cruveilhier 
(1825—35),  Breschet  (1836— 45),  Denonvillier  (1846—56),  Jar- 
javay  (1858-67),  Sappey  (1867—86;  sein  Vorschlag  vom  12.  Mai 
1881  auf  Errichtung  einer  Lehrkanzel  für  „normale  Anatomie" 
fand  bei  der  Fakultät  keine  Unterstützung),  Farabeuf  (seit  1886). 

Im  Zusammenhang  mit  der  Fakultät  besteht  die  „ecole  pra- 
tique".  (Eine  solche  für  Anatomie  und  Operationsübungen  besass 
schon  das  alte  College  de  Chirurgie.)  Die  Anfänge  der  alten  ecole 
pratique  gehen  auf  die  der  ecole  de  sante  zurück.  Sie  hat  mehrere 
Reorganisationen  durchgemacht  (1823,  1828,  1840,  1865)  bis  sie  1871 
einging.  Die  neue  ecole  pratique  wurde  1886  in  der  rue  de  l'Ecole- 
de-Medecine  Nr.  15  untergebracht  (Grundsteinlegung  zum  neuen  Ge- 
bäude 4.  Dez.  1878).  Sie  begreift  alle  praktischen  Uebungen  der 
Fakultät,  darunter  in  erster  Linie  die  anatomischen  Sezierübungen 
(geregelt  durch  Erlässe  v.  4.  Aug.  1859  und  30.  Dez.  1878).  Sie 
wurden  bis  1834  in  einem  Saal  des  Franziskanerkonvents  (Couvent 
des  Cordeliers)  abgehalten.  Seither  finden  sie  in  Pavillons  statt 
(anfangs  5  für  je  60  Schüler  und  einer  für  Sonderarbeiten,  jetzt  9 
für  je  90  Schüler).  Das  Personal  der  praktischen  Schule  für  Anatomie 
besteht  aus  dem  Vorstand  (chef  des  traveaux  anatomiques),  den 
Prosektoren,  und  den  Gehilfen  (aides  d'anatomie).  Vorstände  waren 
Fragornard  (seit  29.  pluviose  III,  f  im  germinal  VII),  Dumeril 
(A.  M.  C,  13.  thermidor  VII — 19.  ventose  IX,  dann  prof.-adj.  der 
Anat.  und  Physiol),  Dupuytren  (14.  germinal  X —  Feb.  1812,  dann 
Prof.   der   operativen   Medizin),   Pierre   Augustin   Beclard   (7.  Juli 


***)  Arzt  am  Hop.  Saint -Eloy  in  Montpellier,  hat  etwa  500  Sektionen  vor- 
genommen. Später  Leibarzt  der  Prinzessin  von  Montpenaier  in  Paris  als  Nachf.  von 
Dubelloi,  nach  deren  Tod  wieder  in  der  alten  Stellung. 

2*'*)  Neurologia  universalis,  Lugd  1684,  fol.,  Ulmae  1690,  Francof. 
1690,  8»  (Portal  IV  7).  Haeser,  Gesch.  d.  Med.,  3.  Bearb.  II  301  setzt  noch  hin- 
zu Lngd.  1716  f.,  Tolos,  1715,  4°,  nennt  aber  die  Ausg.  Francof.  1690  nicht  8", 
sondern  f.  Gurlt-Hirsch  Biogr.  Lex.  VI  111  nennt  eine  Ausg.  Lyon  1685,  1761, 
Toulouse  1775,  keine  der  drei  Stellen  aber  die  folgende:  *Neurographia  uni- 
versalis...Editio  nova,  Lugd.  1684,  fol.,  252  pag.  m.  Portr.,  Kpftf.,  die 
Nervenstämme  sammt  Aesten  in  nat.  Gr.  —  *Novumvasor.  corp.  hum.  systema., 
Amst.  1705,  8",  260  pag.  Vortitel  in  Kupferst.  mit  Darst.  des  Verf.  bei  einer 
Leichensektion.  —  Nouvelles  decouvertes  sur  le  coeur,  Par.  1706,  12".  — 
Traite  sur  la  struct.  de  l'oreille,  Toulouse  1714,  4<>.  —  Die  übrigen  Schriften 
spielen  eine  Rolle  in  der  Geschichte  der  Physiol.  u.  Chemie  des  Bluts,  Entdeckung 
einer  Säure  in  dems.  (Prioritätsstreit  mit  Chirac),  der  fermeutativen  Wirkung  des 
Speichels. 


Geschichte  der  Anatomie.  315 

1812—18.  dann  Prof.  d.  Anat.  und  Phvsiol.),  Brescliet  (30.  April 
1819  —  21.  Nov.  1822,  1823—36,  dann  Prof.  d.  Anat),  Blaudin 
(1837—41,  dann  Prof.  der  Chir.  und  Verbandlehre).  Denonvilliers 
(1841—46,  dann  Prof.  d.  Anat),  Gosselin  (30.  Dez.  1846—52), 
Jarjavay  (1853—58.  dann  Prof.  d.  Anat.),  Sappey  (10.  Ang.  1859  — 
68,  dann  Prof.  d.  Anat),  Marc  See  (1.  Okt  1868—1.  Nov.  1878), 
Farabeuf  (1878— 86,  dann  Prof.  d.  Anat),  Poirier  (19.  Okt 
1887—98),  Rief  fei  (seit  1.  Okt  1898  für  9  Jabre).  Das  Prosektorat 
wurde  im  Jahre  III  errichtet  (die  festgesetzte  Zahl  der  Prosektoren 
schwankte  seither  zwischen  6,  4,  3,  2,  3,  9),  das  der  Gehilfen  am 
19.  frimaire  VIII.  Vorübergehend  (1878 — 79)  bestanden  überdies  20 
..nioniteurs".  Das  anatomische  Museum  wurde  im  Jahre  III  gegründet. 
Es  umfasst  (zufolge  Erl.  v.  23.  Jan.  1835)  Gegenstände  der  noi-malen 
sowie  der  pathologischen  Anatomie,  überdies  auch  die  für  den  Unter- 
richt erforderlichen  zoologischen  Präparate.  Daneben  besteht  seit 
1835  das  Museum  für  patholog.  Anatomie  (Musee  Dupuytren),  seit 
1847  das  Museum  für  vergleichende  Anatomie  (Musee  Orfila),  letzteres 
nach  dem  Muster  des  Hunterian  Museum  in  London.  Seit  1823  be- 
steht noch  das  Amt  der  „agreges".  Unter  den  ersten  20,  welche 
am  2.  Feb.  ernannt  wurden,  war  Serres  für  Anatomie.  Seither 
werden  sie  im  Konkurswege  ernannt,  unter  ihnen  für  Anatomie 
Dumeril  (1844),  Aristide  Auguste  Verneuil,  Louis  Auguste  Se- 
gond  (1852),  Charles  Marie  Benjamin  Rouget  (1856  für  Anatomie 
und  Physiologie),  Marc  See,  Liegeois  (1860),  De  Seynes  (1863  für 
Anat.  und  Physiol.),  Joseph  Frangois  Benjamin  Polaillon,  Charles 
Perier  (1866  f.  Anat  und  Physiol.),  Cadiat,  Farabeuf  (1875  für 
Anat  und  Physiol.),  Robert  Charles  Riebet  (1878  ebenso),  Auguste 
Charles  Remy  (1880  ebenso).  Reynier  (1883  ebenso),  Edouard 
Andre  Victor  Alfred  Quenu,  Paul  Julien  Poirier  (1886  ebenso), 
Marie  Guillaume  Honore  Pierre  Sebileau  (1892),  Louis  Joseph  Paul 
Thiery  (1895),  Pierre  Emile  Launois  (1898).=^") 


Schweden. 

*SacMen  (Joh.  Fredr.),  Sveriges  Läkare-Historia.  Xykoeping,  S°.  1.  Äfd. 
1822,  920  S.;  2.  Äfd.  1.  Haft.  182S',  764  S.,  2.  Haft.  1824,  574  S.  —  Wistrand 
(Eilarion),  Briizeliiis  (A.  J.),  Edling  (Carl),  Sveriges  Lakare  Historia.  Dehn  1, 
H,  Stockholm  1873,  76,  8°.  (Neue  Folge  des  gleichnamigen  Werkes  von  Sackten.) 
—  HJelt  (Otto  Edw.  Aug.),  Svenska  och  Finska  Medicinalverkets  Historia  (1663 — 
1812)  I—IIl  Helsingfors  1891—93. 

HJelt  (0.  E.  A.),  Finska  LäkaresäUskapet  1835—84  (Gesch.  d.  Ges.  d.  fin. 
Aerzte),  Helsingfors  1885. _  —  *Fagerlund  (L.  W.)  och  Tigerstedt  (Robert), 
Medicinens  Studium  vid  Äho  Universitet,  Helsingfors  1890,  216  S.  (Skrifter  utg. 
af  Svemka  Literatursällskapet  in  Finland.  XVI).  —  HJelt  (0.  E.  A.),  Natural- 
historiens  Studium  vid  Äbo  Universitet,  Helsingf.  1896. 

Hvasser  {J.),  Olof  ßudbeck,  Upsala  1846.  —  Ätterhoni,  Minne  af  Ol. 
Rudbeck  d.  Ae.,  in  Verh.  d.  schwed.  Akad.  XXIII,  Stockholm  1850.  —  Tiger- 
stedt (Rob.),  Om  lymfkärlens  upptäckt,  Helsingfors  1885. 


'°)  *Sabatier  (J.-C),  Recherches  histor.  sur  la  faculte  de  med.  de  Paris. 
Par.,  Montp.  1835,  8°,  448  pag.  —  *Faculte  de  med.  de  Paris,  Conferences 
lü^^toriques,  faites  pend.  Tann.  1865,  Paris  1866,  497  pp.,  darin  Leon  Le  Fort, 
Hi' hm.  —  A.  Corlieu,  Centenaire  de  )a  facxilte  de  med.  de  Paris  (1794—1894). 
Paris,  Impr.  Nat.  1896,  fol.,  606  pp.  —  A.  Pievost,  La  facalte  de  med.  de  Paris  de 
1794  ä  1900,  Par.  1900,  295  pp.  —  A.  Chereau,  Art.  „Anatomie  (hist.)"  in  Dict. 
Enc.  IV. 


316  Robert  Ritter  von  Töply. 

Bei  Beurteilung  der  älteren  Medizin  ist  hier  nicht  zu  vergessen, 
dass  die  schwedischen  Hochschulen  bis  in  das  18.  Jahrhundert  that- 
sächlich  nur  Vorbereitungsschnlen  für  das  im  Auslande  fortzusetzende 
med.  Studium  waren.  Dies  gilt  ebenso  von  Upsala,  wo  die  erste 
med.  Promotion  1738  feierlichst  begangen  wurde.  Nichtsdestoweniger 
waren  die  Entdeckungen  eines  Asellio  und  Harvey  auch  dort  baldigst 
bekannt  geworden,  und  harrten  nur  des  offenen  Kopfes,  in  dem  sie  auf- 
keimen sollten.  Ein  solcher  war  Rudbeck  (Olof  d.  Ae.,  *  1630, 
f  1702  12.  Sept.),^'')  Gründer  des  bot.  Gartens  und  Erbauer  eines 
neuen  Anatomiesaals,  Entdecker  der  Lymphgefässe,  welche  er  schon 
im  April  1652  in  Anwesenheit  der  Königin  Christine  demonstrierte, 
nachdem  er  zu  den  diesbezüglichen  Untersuchungen  binnen  4  Jahren 
400  Tiere  verbraucht  hatte.  Ueberdies  fand  er  unabhängig  von  der 
Entdeckung  Pecquets  i.  J.  1651  die  Cisterna  chyli  und  1652  den 
Ductus  thorac.  Er  demonstrierte  schon  anfangs  1651,  dass  die  serösen 
Gefässe  der  Leber  nicht  Chylus  zur  Leber,  sondern  Serum  oder 
Lymphe  von  hier  zur  Cisterna  chyli  und  weiter  zum  Herzen  führen, 
und  bestritt  schon  1652  die  Irrigkeit  der  galenischen  Auffassung  der 
Leber  als  Organ  der  Blutbereitung.  In  dem  zwischen  ihm  und 
Th.  Bartholin  geführten  Prioritätsstreite  über  das  Lymphgefässsystem 
gebührt  Eudbeck  die  Ehre  der  ersten  Entdeckung,  Bartholin  hingegen 
die  der  ersten  Veröffentlichung.^^)  Dem  Einflüsse  Rudbecks  auf 
seinen  Schüler  Tillandsz  ist  die  Einführung  der  Anat.  in  Abo  zu 
verdanken  (s.  im  Folgenden). 

In  Stockholm  fand  die  moderne  Anat.  Eingang  durch  R e t z i u s 
d.  Ae.  (Anders  Adolf,  *  1796  18.  Okt.,  f  1860  18.  April).-^)  Seine 
ersten  Beiträge  zur  Anat.  der  Fische  waren  Vorläufer  der  Arbeit  von 
Joh.  Müller.  Er  erwies  1832  auf  anat.  Wege  den  Zusammenhang 
zwischen  dem  spinalen  und  sympathischen  Nervensystem,  untersuchte 
den  Klappenmechanismus  des  Herzens,  die  feinere  Anatomie  der  Leber, 
begründete  das  mikroskopische  Studium  in  Schweden  und  machte 
in  der  Ethnologie  den  ersten  wichtigen  Versuch  einer  Klassifikation 
der  Menschenrassen  nach  der  Schädelform. 2'')  Sein  Sohn  Retzius 
d.  J.   (Magnus   Gust.,   *  1842   17.  Okt.)^'')  hat  sich  auf  dem  Gebiete 

^*)  Schüler  von  Joh.  Frank  u.  Olaus  Stenius,  stud.  später  in  Leyden,  in  Ups. 
0.  Prof.  med.  1660 — 90,  wegen  Streitsucht  des  Amtes  enthoben. 

^'')  De  circulatione  sanguinis,  1652  (Dr.-Disp.).  —  Nova  exercitatio 
anat.  exhib.  ductus  hepat.  aquosos  et  vasa  glandulär,  serosa,  nunc 
primum  inventa,  aeneisque  figuris  delineata,  Arosiae  (Westeräs)  1653. 
Aufgenommen  in  *Hemsterhuis,  Messis  aurea,  L.  B.  1654,  12",  pag.  238  sq. 

^")  Stud.  in  Lund  u.  Kopenhagen,  seit  1824  stellvertretender,  1840—60  o.  Prof. 
d.  Anat.  u.  Inspektor  am  Karolinischen  Institut. 

^^)  Ueb.  d.  Zusammenhang  der  Pars  thorac.  u.  sympath.  mit  den 
Wurzeln  der  Spinalnerven,  Meckels  Aren.  1832.  —  Bemerkungen  über 
Anastomosen  der  Pfortader  u.  der  unt.  Hohlader  ausserhalb  der 
Leber,  Tiedemanns  u.  Treviranus'  Zeitschr.  f.  Phys.  1833.  —  Einige  Bemerk, 
über  d.  Scheidewand  des  Herzens  beim  Menschen,  Müllers  Arch.  1835.  — 
Ueb.  d.  Mechanismus  des  Zuschliessens  der  halbmondf.  Klappen, 
ib.  1843.  —  Om  lefverns  finare  bygnad,  Verh.  d.  skand.  Naturfvers.  1844.  — 
Cm  rätta  tydningen  af  sidouts  kottens  pä  rygg-  och  ländkotoma 
hos  menniskan  och  dägdjuren,  Verh.  d.  schwed.  Ak.  d.  Wiss.  1848;  deutsch 
in  Müllers  Arcb.  1849.  —  Mikrosk.  undersökningar  öfver  tändernas, 
särdeles  tandbesets  struktur,  ib.  1836;  deutsch  in  Müllers  Arch.  1837.  — 
Om  formen  af  Nordboernas  kranier  1842.  —  Ethnol.  Schriften  von  And. 
Retzius,  Stockh.  1864. 

3*)  Seit  1877  a.  o.  Prof.  d.  Histol.  am  Karolin.  In§t.,  1889—90  o.  Prof.  der 
Anat.  das. 


Geschichte  der  Anatomie.  317 

der  vergl.  Anat.  des  Gehörorgans,  des  Studiums  finischer  und  alt- 
schwedischer Schädel,  durch  biologische  Untersuchungen,  eine  Mono- 
graphie über  das  Menschenhirn,  überdies  mit  Key  (E.  Axel  Heni\, 
*  1832,  seit  1862  Prof.  d.  path.  Anat.  am  Karolin.  Inst.)  durch  das 
umfangreiche  Werk  „Studien  in  der  Anatomie  des  Nervensystems  und 
des  Bindegewebes"  einen  hervorragenden  Platz  unter  den  Anatomen 
der  2.  Hälfte  des  19.  Jahrh.  gesichert.^*') 

F Inland.  Das  im  12.  und  13.  Jahrh.  von  den  Schweden  er- 
oberte, 1808  in  das  russische  Reich  einverleibte  und  1811  zu  einem 
Grossfürstentum  umgestaltete  ^  Finland  zählt  literargeschichtlich  zu 
Schweden.  Die  i.  J.  1640  zu  Abo  gegründete  Universität  wurde  nach 
dem  Brande  i.  J.  1827  nach  Helsingfors  verlegt.  Bis  dahin  ist  dort 
auf  anat.  Gebiete  kaum  Nennenswertes  geleistet  worden.  Der  erste, 
der  die  Anatomie  dort  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  einführte,  war 
Tillandsz  (Elias.  *  1640.  f  1693).*)  Die  im  18.  Jahrh.  um  das 
Fach  verdienten  Leche  (Johann,  *  1704  22.  Sept,  f  1764  17.  Juni),^) 
und  Spöring  (Herman  Diedrik,  *  1710  19.  Okt.,  f  1747  17.  Juni)«) 
haben  nur  örtliche  Bedeutung.  Auch  an  dem  nach  Helsingfors 
verlegten  Studium  kam  die  Anat.  zu  keiner  höheren  Blüte,  offenbar 
deshalb,  weil  die  Professoren  hier  wie  auch  in  Abo  zu  vielseitig  in 
Anspruch  genommen  waren.  Der  aus  der  Prosektur  zu  Helsingfors 
hervorgegangene  mannigfach  thätige,  auch  als  Historiker  verdiente 
Hjelt  (Otto  Edward  Aug.,  *  1823  18.  April)')  hat  das  Studium  der 
patholog.  Anat.  in  Helsingfors  begründet,  nachdem  rund  100  Jahre  seit 
dem  Erscheinen  von  Morgagnis  Monumentalwerk  „De  sedibus  et 
causis  morborum"  vergangen  waren.  Dem  unbefangenen  Beobachter 
macht  es  übrigens  den  Eindruck,  dass  der  Kampf  um  die  nationale 
|iind  politische  Selbstständigkeit  die  geistigen  Kräfte  in  Finland  ähn- 
lich wie  der  der  Slaven  in  Böhmen  und  Polen  zu  sehr  in  Anspruch 
[nimmt,  um  eine  ausschlaggebende  Entfaltung  auf  wissenschaftlichem 
"rebiete  zuzulassen. 


Russland. 

JRicJiter  {W.  M.),  Gesch.  d.  Med.  in  Rnssl,  3  Bde.,  Moskau  1813 — 17.  — 
iTschistoH'itsch  (Jacob),  Gesgh.  d.  ersten  med.  Schulen  in  Russl.  {russ.),  St.  Petersb. 
11883.  —  *Brückner  (A.),  D.  Atrzte  in  Riissl.  bis  zum  J.  1800,  St.  Petersb.  1887, 
\80  S.  —  *Sti€da  (L.)  im  Biogr.  Lex.  von  Gurlt  u.  Hirsch. 

Russland  ist  erst  unter  der  DjTiastie  Romanow  (1613 — 1762)  zur 
I Wertschätzung  der  Anatomie,  wenn  auch  anfangs  nur  langsam  ge- 
langt. Im  17.  Jahrh.  bestand  im  Volke  eine  ausgesprochene  Vorein- 
genommenheit gegen  Studien  in  dieser  Richtung.  Der  i.  J.  1626  ein- 
gewanderte holländische  Arzt  Bremburg  (Quirinus)  wäre  wegen 
des  Besizes   eines  Skelets  beinahe  gelyncht  worden  und  musste  in- 

*")  D.  Gehörorgan  der  Knochenfische  1872,  der  Wir  belthiere  1 1$81, 
II 1884,  Stockholm.  —  Finska  kranier,  ib.  1878;  Crania  suec.  antiqua  1899.  — 
D.  Menschenhirn,  Studien  in  d.  makrosk.  Anat.  1896.  —  Stud.  in  d.  Anat. 
des  Nervensyst.  u.  d.  Bindegewebes  m.  A.  Key  I,  II  1  §tockh.  1875,  76. 

*)  Schüler  von  Olaf  Rudbäck  in  Upsala,  einziger  Prof.^iu  Abo  seit  1670. 

*)  1740  in  Lnnd  promov.,  seit  1748  Prof.  d.  Med.  in  Abo. 

•)  Stud.  in  „Upsala  u.  Stockholm,  1726  in  Harderwiik  promov.,  seit  1728 
Prof.  d.  Med.  in  Abo. 

")  Seit  1856  Prosektor  der  Anat.,  1859—85  Prof.  der  pathol.  Anat. 


318  Robert  Ritter  von  Töply. 

folgedessen  das  Land  verlassen.  Noch  Olearius  bemerkt  (1663),  dass 
die  Russen  vor  aller  Anatomie,  vor  dem  Sezieren  von  Leichen  die 
grösste  Abscheu  haben.  Unter  Peter  L  (Alleinherrscher  1689—1725) 
begann  der  Aufschwung,  anfangs  durch  Heranziehung  von  Ausländern 
im  Interesse  des  Hofes.  Der  Czar  hatte  Holland  besucht,  seit  1698 
mit  Fr.  Ruysch  Umgang  gepflogen,  anat.  Museen,  anat.  Präparate  mit 
Enthusiasmus  besichtigt,  Leichensektionen  beigewohnt.  Die  Folge 
davon  war  die  Gründung  des  Militärhospitals  in  Moskau  i.  J.  1706 
und  damit  der  ersten  mediz.-chirurg.  Schule  in  Russland  durch  Bidloo 
(Nicolaus,  *  ?,  t  1735  23.  März),^)  dann  der  Ankauf  der  Sammlung 
anatomischer  Präparate  von  Fred.  Ruysch  für  30000  fl.  i.  J.  1717 
durch  Vermittlung  von  Blumentrost  (Laurentius  III,  *  1692  29.  Okt., 
t  1755  27.  März).-)  Bald  darauf  (1725)  wurde  Duvernoy  (Joh., 
*  1691,  t  1759)«)  für  das  Fach  der  Anat.  und  Physiol.  an  die 
Akademie  der  Wissenschaften  in  Petersburg  berufen.  Mit  ihm  kam 
als  „Student  der  Akademie"  Weitbrecht  (Josias,  *  1702  2.  Okt., 
f  1747  8.  Feb.).  welcher  später  den  Katalog  des  Museum  Ruyschianum 
zusammenstellte.^)  Der  an  seiner  Stelle  zum  Mitglied  der  Akademie 
für  das  Fach  der  Anat.  und  Physiol.  gewählte  Kaau-Boerhaave 
(Abraham,  *  1715  5.  Jan.,  f  1758  14.  Juli)  erfreute  sich  grosser  Be- 
liebtheit. Ebenso  wie  Weitbrecht,  steht  auch  Schreiber  (Joh. 
Friedr.,  *  1705  26.  Mai,  f  1760  28.  Jan.)ö=*)  noch  ganz  unter  der 
Nachwirkung  von  Ruysch.  ^^)  Der  in  Strassburg  und  Leyden  ge- 
bildete Protassjew  (Alexei,  *  1724,  f  1796  5.  Mai)«)  gilt  in 
Russland  als  bedeutender  Anatom.  Jedenfalls  war  er  einer  der 
ersten  Russen,  die  sich  mit  der  Anatomie  wissenschaftlich  befasst 
haben.  In  Moskau  ragen  hervor  Hildebrandt  als  Prof.  d.  Anat. 
und  Physiol.  an  der  Hospitalschule,  sowie  dessen  Neffe  Hildebrandt 
(Justus  Friedr.  Jacob)  als  einer  der  angesehensten  Professoren  an  der 
i.  J.  1755  daselbst  gegründeten  Universität.  Nachdem  1763  ein  Medi- 
zin al-Kollegium  errichtet  worden  war  und  1768  die  erste  Doktor- 
promotion in  Russland  stattgefunden  hatte,  kam  auch  in  Wilna  i.  J. 
1776  eine  Lehrkanzel  für  Anat.  und  zwar  durch  den  Fürstbischof 
zu  Stande.  Der  erste  Professor  war  hier  der  französische  Chirurg 
Regnier.')  Erst  1802  erfolgte  die  Gründung  einer  Universität  in 
Dorpat,  später  in  Kijew,  Kasan,  Charkow.  (Ueber  L  o  d  e  r,  in  Moskau 
seit  1809,  s.  Haller.) 

Eine  ganz  neue  Richtung  schien  hier  durch  das  Auftreten  der 
deutschen  Embryologen  Wolff,  Pander,  Baer  angebahnt.  Wolff 
(Kasp.  Friedr.,   *  1733,  f  94)  *)   hat  hier  seine  Untersuchungen  über 

*)  Sohn  des  Anatomen  Govaert  B.  in  Leyden,  Inspektor  u.  Prof.  d.  Anat.  an  d. 
Schule  bis  zu  seinem  Tode. 

^)  Erster  Präsident  der  unter  Katharina  I.  (1725 — 27)  eröffneten  Akademie 
der  Wissensch.  zu  St.  Petersb. 

^)  Hallers  Lehrer  in  der  Anat.  zu  Tübingen,  in  Petersb.  1725 — 41. 

*)  Hauptwerk:  Syndesmolog-ia,  Petersb.  1741,  franz.  Par.  1752,  deutsch 
Strassb.  i.  E.  1779;  „Insigne  opus"  Haller. 

■*")  Schüler  von  Albin,  seit  1742  Prof.  d.  Anat.  u.  Chir.  an  d.  St.  Petersb.  Hospital- 
schule. 

^^)  Novae  quaed.  obss.  de  ossib.  etc.  et  ratio,  qua  crescunt, 
Amst.  17.S1.  —  Hist.  vitae  et  merit.  Fried.  Euyschii,  Amst.  1732. 

*)  Prof.  e.  0.  d.  Anat.  in  Petersb.,  seit  1771  o.  Akademiker. 

')  *Sue,  Anecd.  bist,  litter.  et  crit.  sur  la  med.  etc.,  Amst.  et  Par.  1785,  I, 
p.  150;  die  Sache  wird  von  Brückner  a.  a.  0.  nicht  erwähnt. 

*)  In  Petersb.  seit  1767  o.  Akademiker  f.  Anat.  u.  Physiol. 


i 


Geschichte  der  Anatomie.  319 

die  Bildung  des  Darmkanals  veröffentlicht,  doch  wurden  sie  weiteren 
Kreisen  erst  durch  Meckel  zugängig  (s.  Berlin).  Fand  er  (Heinr. 
Christ,  *  1794,  f  1865)^)  hatte  schon  vorher  seine  embryologischen 
Hauptwerke  in  Würzburg  (1817),  seine  zoologischen  in  Bonn  (1821) 
herausgegeben.  „Die  Zierde  und  der  Stolz,  die  Seele  der  Akademie^ 
durch  mehr  als  30  Jahre,  der  vielseitige  Baer  (Karl  Ernst.  *  1792, 
f  1876),^**^)  fand  hier  keinen  Boden  für  die  Fortsetzung  seiner  em- 
bryologischen Studien,  hat  dafür  jedoch  die  Kraniologie  gepflogen. ^*^^) 
Die  neueste  Aera  beginnt  mit  dem  Chirurgen  Pirogow  (Nikolai 
Iwanowitsch.  *  1810  10./25.  Nov.,  f  1881  23.  Nov./5.  Dez.)."*)  Er 
setzte  die  Einrichtung  eines  besonderen  anat.  Instituts  (für  prakt. 
Anatomie)  an  der  militär-med.  Akademie  in  Petersburg  durch  und 
machte  sich  auf  anat.  Gebiete  besonders  durch  seine  Arbeiten  über 
die  Arterien  und  Fascien  bekannt."^).  Der  von  ihm  als  Prosektor 
berufene  Grub  er  (Wenzel,  1814—90;  in  Petersburg  seit  1847,  1855  — 
88  Direktor  der  prakt.  Anat.,  s.  oben  Hyrtl  und  Bochdalek),  verdient 
um  die  Errichtung  des  neuen  anat.-physiol.  Instituts  und  durch  die 
Gründung  eines  reichhaltigen  Museums,  hat  40  Jahre  der  Varietäten- 
forschung gewidmet  und  so  ein  Material  gesammelt,  dessen  Verwertung 
der  vergleichenden  Anatomie  und  Phylogenese  zu  gute  fallt.  In 
Dorpat  hat  Raub  er  (August,  *  1841  22.  März)i-*)  i.  J.  1890  in 
dem  erweiterten  anat.  Institut  einen  Studiensaal  eingerichtet,  wie  dies 
seinerseits  Toldt  in  Prag  gethan,  und  wie  dies  auch  1885  im  Vesa- 
lianum  zu  Basel  geschehen  war.  ^-^) 


Amerika. 

Unter  den  drei  grössten  Städten  der  Vereinigten  Staaten  (New 
York,  Chicago,  Philadelphia)  gebührt  dem  pennsylvanischen  Phila- 
delphia ein  grosses  Verdienst  um  den  Aufschwung  der  Medizin  (die 
medizinische  Schule  wurde  hier  schon  1764  gegründet),  insbesondere 
der  Anatomie. 

Zu  den  älteren  hervorragenden  Vertretern  des  P^achs  gehören 
Wistar  und  Horner.  Wistar  (Caspar,  *  1761  13.  Sept.,  f  1818 
22.  Jan.),  ^*)  ein  unermüdlicher  Lehrer,  Verfasser  eines  beliebten 
Lehrbuchs,  gab  auch  eine  neue  Beschreibung  des  Siebbeins.  ^^)   Nach- 


»)  In  Petersburg  1823—27  u.  1842—65,  o.  Akademiker  f.  Zoologie  1826—27. 

^°')  Endgiltig  in  Petersb.  1834—67  als  Akademiker  f.  Zoologie,  1841—52  Prof. 
d.  vergl.  Anat.  an  d.  med.-chir.  Akademie. 

^^)  Crania  selecta,  Petrop.  1859.  —   Ueb.  Baer  u.  Pander  Tgl.  Würzburg. 

"»)  1836—40  Prof.  d.  Chir.  in  Dorpat,  1840-47  der  Hospitalchirurgie  an  der 
militär-med.  Akad.  in  Petersb. 

"**)  Anat.  chir.  truncor.  arteriar.  atque  fasciar.  fibrosar.,  Dorpat 
u.  ßeval,  1837—40,  Atlas  m.  lat.  u.  deutsch.  Text.  —  Anat.  topogr.  sectionib. 
per  corp.  hum.  congelatum  triplici  directione  ductis  illnstr., 
St.  Petersb.  1849. 

**•)  Schüler  von  Bischoff  u.  Küdinger  in  München,  später  Prosektor  von  His, 
«dt  1886  0.  Prof.  d.  Anat.  in  Dorpat. 

*2b)  Lehrb.  d.  Anat.  d.  Menschen.  2  Bde.,  5.  Aufl.  1897,  98.  —  *Ueb.  d. 
Einriebt  11  ng  von  Studiensälen  in  anat.  Instituten.  M.  phot.  Abb.,  Leipz. 
1895,  20  S. 

'•)  Seit  1792  Adjunkt-Prof.  der  Anat.,  Geburtsh.  u.  Chir.  neben  Wm.  Shippen, 
nach  Teilung  der  Lehrkanzeln  —  1805  —  mit  letzterem,  u.  nach  dessen  Ableben  — 
1808  —  allein  Prof.  d.  Anat. 

""j  A  System  of  anat.  f or  the  use  of  students  of  med.  Philad.  1811, 


320  Kobert  Ritter  vou  Töply. 

dem  sein  ausersehener  Nachfolger,  der  Chirurg  Dorsey  (John  Syng, 
*1783  23.  Dez.,  f^SlS  12.  Nov.)  gestorben  war,  erhielt  die  Lehr- 
kanzel der  berühmte  Chirurg,  aber  unbedeutende  Anatom  Physick 
(Philip  Syng,  *1768  7.  Juli,  tl837  15.  Dez.). -)  P^rst  dessen  Nachfolger 
Homer  (William  Edmonds,  *1793  3.  Juni,  tl853  23.  Jan.,  seit  1816 
Prosektor),  brachte  das  Fach  zu  neuer  Blüte.  Er  entdeckte  den  sog. 
Muse,  tensor  tarsi,  verfasste  ein  in  den  medizinischen  Schulen  all- 
gemein eingeführtes  Handbuch  und  errichtete  an  der  Universität  mit 
Wistar  das  „Horner  and  Wistar  Museum",  eine  der  bedeutendsten 
anatomischen  Sammlungen  der  Welt.**) 

Neben  der  Universität  entstanden  hier  im  19.  Jahrhundert 
mehrere  Privatanstalten  für  den  Betrieb  der  Anatomie,  so  1818  die 
des  Dr.  Parish  (Joseph)  mit  Harlan  (Richard)  als  Lehrer,  1822  die 
des  Dr.  Hewson  (Thomas),  1829  die  des  Dr.  McClellan,  überdies 
eine  vierte  (Gründer  nicht  zu  erforschen),  als  bedeutendste  aber  die 
„Philadelphia  School  of  Anatomy"  (bestand  vom  März  1820  bis 
März  1875).  Sie  wurde  ursprünglich  als  „Philadelphia  Anato- 
mical  Rooms"  errichtet  von  Dr.  Lawrance  (Jason  Valentine 
O'Brien,  *1791,  f  1823,  August;  seit  1822  Assistent  von  Horner). 
Dessen  Nachfolger  Godman  (John  D.,  *1794,  f  1830)*)  untersuchte 
besonders  die  Verbreitung  der  Fascien,  auch  übersetzte  er  1824  die 
Osteologie  von  Scarpa. •^^)  Ihm  folgte  1826  Webster  (James,  1830 
an  die  Lehrkanzel  für  Anatomie  am  Geneva  Med.  Coli,  berufen)  und 
diesem  Pancoast  d.  Ae.  (Joseph,  *  1805,  f  1882  7.  März), ^)  welcher 
Joh.  Friedr.  Lobsteins  Abhandlung  über  den  N.  sympathicus  übersetzte, 
Manec's  Abhandlungen  über  das  sympathische  und  Cerebrospinal- 
nervensystem,  Quains  anatomische  Tafeln  in  4 "  sowie  Wistars  und 
Horners  Anatomie  in  einer  Umarbeitung  herausgab.  Sein  Nachfolger 
Dunott  (Justus)  verband  sich  drei  Jahre  später  mit  Allen 
(Joshua  M.).  **)  Diese  Beiden  wurden  im  Jahre  1841  in  einer  ähn- 
lichen aus  dem  Jahre  1838  stammenden  Gründung  des  Mc-Clintock 
(James)')  ansässig  und  benannten  ihre  Anstalt  nun  „Philadelphia 


2  voU.;  1816;  1822;  Neuaufl.  von  Horner;  5.  edit.  1830;  7.  edit.  by  Pancoast 
1839.  —  D.  Abbandln g.  üb.  d.  Siebbein  in  den  Transact.  of  the  Coli,  of  Physic. 

2)  Schüler  von  John  Hunter,  Prof.  d.  Anat.  1819—1831. 

^)  A  descript.  of  a  muscle  connect.  w.  the  eye,  lately  discovered, 
Lond.  medic.  Repository  1822.  —  Descr.  of  a  small  muscle  of  the  int.  com- 
missure  of  the  eyelids.  Philad.  Journ.  of  Med.  and  Pbys.  Sc,  1824.  —  An 
inquiry  into  the  discov.  of  the  tensor  tarsi  musc,  being  an  answer 
to  the  objections  of  Sig.  Gaetano  Flajani  of  Roma.  Ebenda.  —  A  trea- 
tise  on  the  descr.  anat.  of  the  hum.  body.    2  voll.,  Philad.  1826;  7.  ed.  1846. 

*")  Er  war  ein  Schüler  von  Davidge,  Prof.  d.  Anat.  a.  d.  Univ.  in  Maryland, 
wurde  1821  Prof.  d.  Anat.  am  Med.  College  in  Ohio,  kam  1823  nach  Philad.,  wo  er 
mit  an  der  anat.  Schule  zu  lesen  begann,  erhielt  1826  die  eben  errichtete  Lehrkanzel 
d.  Anat.  an  Rutgers  Medic.  College  in  New- York. 

*^)  Anatomie.  Investigations,  comprehend.  descriptions  of  the 
Various  Fasciae  of  the  Hum.  B.  (the  discov.  of  the  manner  in  wh.  the 
pericardium  is  forraed  fr.  the  superfic.  fascia,  the  capsul.  ligament  of  the  shoulder- 
joint  fr.  the  brachial-fascia,  and  the  caps.  ligam.  of  the  hip-joint  fr.  the  fascia 
lata  etc.),  Philad.  1824. 

«*)  Am  Jefferson  Med.  Coli.  Prof.  d.  Chir.  seit  1838,  der  Anat.  1847—74;  Nach- 
folger in  letzterer  Eigenschaft  sein  Sohn  William,  *  1835. 

•*)  Wurde  1852  Prof.  d.  Anatomie  am  Pennsylvan.  Med.  Coli. 

')  Wurde  1841  Prof.  d.  Anat.  au  der  Vermont  Academy,  nachmals  Castleton 
Med.  Coli.,  später  an  der  Berkshire  Med.  Institution,  Pittsfield,  Massachusetts.'») 

'*)  Ueber  die  Transactionen  bei  dieser  Gründung  während  der  Jahre  1838 — 
1847  vgl.  den  Schlussbericht  von  Keen  p.  12  u.  f .  (s.  unten). 


Greschichte  der  Anatomie.  321 

School  of  Anatom 3"'.  Allen  hat  sie  bis  1852  mit  viel  Erfolg 
fortgeführt,  später  auch  eine  Anleitung  für  Seziersaalarbeiten  ver- 
öffentlicht. ^)  Eine  ähnliche  lieferte  sein  Nachfolger  Agnew  (D. 
Haj^es). ^)  Nachdem  dann  Garretson  (James  E.),  ^^j  Andrews 
(James  P.).  Sutton  (R.  S.)  einander  schnell  abgelöst  hatten,  übernahm 
die  Leitung  Keen  (William  W.,  *19.  Jan.  1837),  ii)  ein  sehr  beliebter 
Lehrer.  Er  ist  Verfasser  einer  Skizze  der  älteren  Geschichte  der 
praktischen  Anatomie,  Herausgeber  von  Flowers  Diagrams  of  the 
Nerves  und  Heaths  Practical  Anatomy.  Er  schrieb  mit  Thomson 
(William)  über  die  Anatomie  des  Chiasma  n.  optici,  die  Ossifikation 
des  Atlaswirbels,  und  lieferte  schliesslich  eine  kurze  Skizze  seiner 
Anstalt,  an  der  er  die  Anatomie  und  operative  Chirurgie  gelehrt  und 
eine  Menge  von  Schüleni  herangebildet  hatte.  ^-) 

1856  errichtete  auch  Forbes  (William  S.)  eine  ähnliche  Schule, 
hauptsächlich  für  Sezierübungen  der  Studenten  der  Dental  Colleges, 
und  lehrte  dort  als  Professor  der  Anatomie  12  Jahre. 

Zu  den  ausdauerndsten  Lehrern  des  19.  Jahrhunderts  gehört 
Ford  (Corydon  L..  *1812,  f  1894),  ^^)  zu  den  auch  historisch  gebildeten 
Shepherd  (Francis  J.),  Professor  der  Anatomie  an  der  Mc-Gill 
University,  ^^)  zu  den  Vorkämpfern  einer  vereinfachten  anatomischen 
Nomenklatur  Wilder  (Burt  C), ^^)  zu  den  bedeutendsten  Embryo- 
logen Minot  (Charles  Sedgwick,  Prof  of  Histology  and  Hum. 
Embryology  Harvard  Medical  School  Boston),  ^"^j 


Japan. 

Ot-Souki-Shiouzi,  Geschichte  der  abendländischen  Wissenschaften  in  Japan, 
Yeddo  1878.  Jajxiniich.  —  *Ardouin  (Leon),  Aperm  siir  Vhistoire  de  la  medecine 
au  Japon,  Paris  1884,  8  **,  49  pag. 

Nachdem  im  Jahre  1542  ein  portugiesiches  Schifft  auf  dem  Wege 
von  Siam  nach  China  an  der  Küste  von  Japan  gestrandet  war.  be- 
gann die  Invasion  portugiesischer  Jesuitenmissionäre,  ihr  folgte  1613 
die  Ansiedlung  der  Holländer  zu  Handelszwecken.    JEin  gegenseitiger 


*)  Practica!  anatomist  or  the  students  guide  in  the  dissectiug  room, 
Philad.  1856,  m.  266  Abb. 

*)  Hier  1852—1862,  dann  Demonstrator  d.  Anat.  u.  schliesslich  Prof.  d.  Chir. 
an  d.  Universität.  Practical  anatom}'.  A  new  arrangement  of  the  London 
Dissector  etc.  1868.  —  Ein  vorbereitetes  Werk  über  die  Fascien  ist  nie  erschieaea. 

'")  Uebemahm  1864  die  Lehrkanzel  der  Chir.  am  Philad.  dental  Coli. 

")  Hielt  die  Anstalt  vom  22.  Okt.  1866  —  1.  März  1875. 

'^)  *The  history  of  the  Philadelphia  School  of  Anatomy  and  its 
relations  to  medical  teachiug,  Philad.  1875,  8''.  32  pp. 

")  40  Jahre  Prof.  d.  Anat.  an  der  Universität  Michigan,  1.  Prosektor  beim 
medizinischen  Departement  der  Universität  Buftalo. 

")  *Sketch  of  the  early  history  of  anatomy.  Reprint,  from  the 
Canada  Med.  and  Surg.  Journ.  8  ",'  25  p.  (o.  J.). 

^*)  Fissural  diagrams  of  the  hum.  brain.  Macroscop.  Vocabulary  of 
the  brain  present.  to  the  Assoc.  of  Araeric.  anatomists  at  Boston.  Mass.  29.  Dec.  1890. 
—  The  fundamental  principles  of  anatomic.  Nomenclature.  Med. 
News.  19.  Decemb.  1891.  —  American  Reports  upon  Anatomic.  Nomen- 
'  lature.     1889—90,  w.  Notes  by  Wilder,  Comell  University,  5.  Feb.  1892. 

'*)  Lehrb.  der  Entwicklungsgesch.  des  Menschen.  Deutsche  Ausg.  von 
Kästner  (Sandor),  ni.  463  Abb.  lex.  8»,  1894,  Leipzig. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  21 


322  Robert  Ritter  von  Töply. 

literarischer  Aifstauscli  fand  jedoch  aus  sprachlichen  Gründen  lange 
Zeit  hindurch  nicht  statt,  so  dass  die  Medizin  in  Japan  vorderhand 
auf  dem  alten  Standpunkt  blieb.  Der  wissenschaftliche  Einfluss 
Chinas  auf  Japan  hatte  sich  bekanntlich  —  wenigstens  in  medizinischer 
Beziehung  —  nicht  unmittelbar,  sondern  durch  die  Einfuhr  koreanischer 
Aerzte,  und  zwar  schon  im  5.  Jahrh.  v.  Chr.  geltend  gemacht.  Der 
im  Jahre  668  berufene  koreanische  Gelehrte  Kicit  Siuzi  errichtete 
hier  während  der  Jahre  697 — 707  öifentliche  medizinische  Schulen, 
welche  jedoch  schon  um  914  in  Verfall  geraten  waren,  worauf  die 
grobe  Empirie  der  Chinesen  für  Jahrhunderte  Platz  griff.  Die  auf 
der  Insel  Desima  sässig  gewordenen  Holländer  zogen  zwar  zum  ärzt- 
lichen Hilfsdienste  in  der  Faktorei  Eingeborene  heran  und  erteilten 
ihnen,  wenn  sie  Fortschritte  gemacht  hatten,  sogar  Diplome,  die  vom 
Direktor,  dem  Arzte  und  noch  einem  Offizier  der  Faktorei  ausgestellt 
waren,  ^)  ohne  damit  jedoch  mehr  erzielt  zu  haben,  als  dass  ihnen  die 
Japaner  einige  praktische  Handgriffe  abgelauscht  hätten,  weil  die 
Regierung  jeden  anderen  als  den  Handelsverkehr  verboten  hatte,  die 
Befolgung  misstrauisch  überwachte  und  einen  literarischen  Austausch 
nicht  zuliess.  Erst  unter  dem  Shogun  Yossimoune  (1716 — 47)  erlangten 
drei  Dolmetsche  zu  Nagasaki  die  Erlaubnis  zum  Studium  des  hol- 
ländischen Alphabets,  womit  das  Eis  wenigstens  teilweise  gebrochen 
war.  Durch  dieses  Ereignis  angeregt  erwarben  im  Jahre  1771  die 
drei  Aerzte  Sougita  Essai,  Arzt  des  Daimio  von  Nagatsou, 
Mayeda  Riotakou  (11802)  und  Nakagara  Kiowan  (f  1781) 
von  einem  Dolmetsch  zu  Nakagara  mit  Unterstützung  des  Daimio  von 
Nagatsou  für  200  Rios  (=  1000  Fr.)  eine  illustrierte  holländische 
Anatomie.  Nachdem  sie  sich  dann  gelegentlich  der  an  einem  Ver- 
brecher vollzogenen  Strafe  des  Geschundenwerdens  von  der  Richtig- 
keit der  Abbildungen  überzeugt  hatten,  brachten  sie  binnen  vier 
Jahren  eine  Uebersetzung  jenes  Werkes  bei  getreuer  Wiedergabe  der 
Abbildungen  zu  stände.  Bald  darauf  kam  Thunberg  als  Arzt  der 
Faktorei  zu  Desima  nach  Japan  (1775).  Er  führte  einige  medizinische 
und  botanische  Werke  ein.  Beiläufig  zur  selben  Zeit  gründete  der 
Shogun  Yehar  (1761 — 91)  im  Viertel  Kanda  zu  Yedo  die  grosse  unter 
dem  Namen  Sei-ziou-kouan  bekannte  medizinische  Schule.  Später 
bildete  Von  Siebold  (kam  1824  als  Arzt  der  Faktorei  zu  Desima  nach 
Japan)  eine  Reihe  von  Japan.  Aerzten  heran.  Aber  all  diese Vorstösse 
hatten  nur  die  möglichst  schnelle  Erreichung  praktischer  Erfolge  be- 
zweckt. Erst  nachdem  um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  einzelne 
Vertragshäfen  geöffnet  wurden,  die  Russen,  Holländer  und  Engländer 
in  unmittelbaren  Verkehr  mit  Japan  getreten  waren,  begann  hier 
eine  neue  Zeit.  Ueber  Veranlassung  des  Shoguns  errichtete  der 
Holländer  Dr.  Pompe  Van  Meerderwort  im  Jahre  1857  zu 
Nagasaki  die  erste  europäische  medizinische  Schule  (er  war  hier 
Vorstand  von  1857 — 62).  Der  anatomische  Unterricht  wurde  anfangs 
nur  an  der  Hand  anatomischer  Tafeln  betrieben.  Erst  1858  (3.  Aug.) 
gab  der  Hof  zu  Yedo  die  Erlaubnis  zur  Vornahme  von  Sektionen  an 
Verbrecherleichen.  Die  erste  fand  den  9.  September  1858  bei  gleich- 
zeitiger Vorweisung  der  anatomischen  Tafeln  von  Weber  statt,  die 
zweite  am  7.  November  1859.     Die  Schule  von  Nagasaki  blühte  bis 


')  Ein  solches  Diplom  vom  J.  1668  hat  sich  erhalten.    Ardouin  a.  a.  0.  p.  26. 


Gesclüchte  der  Anatomie.  323 

zui*  KeTolution  von  1868.  worauf  die  Aerzte  in  die  Spitäler  zu  Kobe, 
Niigala,  Yedo.  Yokohama  verteilt  wurden  und  dort  auch  Unterricht 
erteilten.  Doch  erg-aben  sich  dort  bedeutende  sprachliche  und  sach- 
liche Schwierigkeiten.  So  hatte  Dr.  Vi  dal  im  Hospital  zu  Xiigata 
(1873 — 74)  für  den  anatomischen  Untemcht  nur  ein  Skelet,  einen 
deutschen  anatomischen  Atlas  und  eine  schwarze  Tafel  zur  Verfügung 
und  verkehrte  mit  seinen  Schülern  nur  mittels  Dolmetsch.  Nach  der 
Neugestaltung  des  Reiches  wurde  1871  zu  Yedo  eine  medizinische 
Schule  errichtet,  aber  erst  1877  endgütig  zusammengestellt.  Von 
dieser  Zeit  an  macht  sich  in  der  Medizin  der  Einfluss  Deutschlands 
geltend.  Die  neueren  japanischen  Aerzte  arbeiten  mit  bewundenings- 
würdiger  Selbstlosigkeit  und  hoher  Intelligenz  ganz  im  Sinne  der 
modernen  Wissenschaft,  in  erster  Linie  an  der  Universität  zu  Tokio.  ^) 
Dasselbe  kommt  auch  in  der  Kunst  zum  Ausdruck.  Die  völlig 
naturalistische  Auffassung  der  genialen  Zeichner  H  o  k  u  s  a  i  (Katsushika) 
und  K  i  0  s  a  i  (Kawanabe)  zeugt  von  einer  Feinheit  der  Xaturbeobachtung, 
wie  sie  europäischen  Künstlern,  sobald  sie  auf  das  anatomische  Gebiet 
abschweifen,  nicht  allzu  oft  eigen  ist.  ^) 


China. 

*  Lockhart  {William),  D.  ärztl.  Missionär  in  China.  Hebers,  von  Bauer 
{Hermann),  Würzb.  1863,  8«,  246  S. 

Bis  zum  19.  Jahi'hundert  kam  China  mit  der  europäischen  Medizin 
nur  wenig  in  Berührung.  Erst  durch  die  Medizinalbeamten  der  Ost- 
indischen Kompagnie  lernte  das  Volk  dieselbe  praktisch  kennen. 
Pearson  (Alexander)  führte  1805  die  Kuhpockenimpfung  in  Kwantung 
ein  und  erzielte  noch  bevor  er  das  Land  verliess  (1832)  die  Errichtung 
eines  Impfinstituts  daselbst.  Seine  Abhandlung  über  die  Impfung 
wui'de    von    Staunton    (G.)    in    das   Chinesische    übersetzt.     Rev. 


*)  z.  B.  Sliibasaburo  Kitasato  am  bakteriologischen  Institut  der  Universität 
za  Tokio,  dann  an  der  Anstalt  für  Infektionskrankheiten  zu  Shibata  (Provinz 
Yechigo),  Takaki,  Shiga,  Moriga,  Tatsuhiko  Okamura. 

^)  Sehr  lehrreich  ist  in   dieser  Beziehung   ein  Vergleich  zwischen  Hans  Hol- 
beins  Totentanzbildem  in  *Les  simulachres  et  historiees  faces  de  la  mort  (A  Lyon, 
1538,  4 ".    Facs.  Reprod.  von  G.  Hirth,  Münch.  1884)  u.  d.  Skeletdarstellungen  des 
Kiosai,  wobei   das  Urteil  zu  Ungunsten   des  Ersteren   ausfallen   muss.    Eine  be- 
sonders mangelhafte  Kenntnis   des  Skelets  bekundet  Eethel  (Alfred)   in  seinen  be- 
rühmten Totentanzbildem.    In  dem  Blatte  „Der  Tod  als  Würger"  geigt  dieser  statt 
auf  einer  Fiedel   auf  einem   Knochen,    dessen  eines   Ende   die   obere  Epiphyse  der 
Tibia,  das   andere   die  untere    des   Femur   aufweist.    Auf  dem  6.  Blatt  der  Folge 
„Ein  Todtentanz  a.  d.  J.  1848^   ist  der  Reiter  in  geradezu  haarsträubender  Weise 
dargestellt.    Der  weitaus  längere  Radius  des  rechten  Vorderarms  artikuliert  irgend- 
vr.  hinten   mit  dem  Humerus,   die  Fibula   des   linken  Unterschenkels   hinten   oben 
gendwo  mit  dem   Femur,   unten   mit  der  Tuberositas  calcanei.    Etwas  mehr  Ge- 
nauigkeit in  anat.  Beziehung  würde  unseren  Künstlern  ebensowenig  schaden  als  sie 
andererseits  unsere  Bewunderung    der  japanischen  Kunst  erregt.     Ueber  letztere 
^2:1.  *Stratz  (H.),  Die  Koi-performen  in  Kunst  u.  Leben  der  Japaner.  Stuttg.  1902, 
",  196  S.  m.  112  Abb.  u.  4  Taf.  —  Eine  kurze,  aber  gediegene  Einführung  in  die 
esch.  des  Japan.  Holzschnitts  ist:  *Anderson  (W'üliam),  Japanese  Wood  Engravings. 
-nd.  1895,  8°,   80  S.   m.  6  Taf.  u.  37  Abb.  im  Text.  —   Die   erste  Reproduktion 
ner  Japan,   farbigen  Abb.    von   patholog.  Interesse  (Tumor  am   Unterkiefer)    bei 
Heusinger   (Carol.   Frid.) ,    Specimen    artis  japonicae    anthropologico-medicum. 
;irb.  Cattor.  1830,  fol.,  6  S.  m.  kolor.  Tafel. 

21* 


324  Robert  Ritter  von  Töply. 

D.  Morrison  und  der  Wundarzt  der  Ostind.  Komp.  Mr.  Living- 
ston  eröffneten  1820  eine  von  eingeborenen  Praktikern  geleitete 
Heilanstalt,  1828  eröffnete  Mr.  CoUedge,  Wundarzt  der  Faktorei 
der  Ostind.  Komp.,  ein  Hospital  zu  Makao,  hauptsächlich  für  Augen- 
krankheiten. Auf  seine  Anregung  wurde  später  China  teils  von 
Amerika  teils  von  England  aus  von  „ärzlichen  Missionären"  heim- 
gesucht, welche  von  den  im  Mutterlande  bestehenden  sowie  eigens  zu 
diesem  Zwecke  errichteten  Gesellschaften  (in  London  unter  Aber- 
combie),  teils  von  der  1838  in  Kwantung  sowie  von  der  1845  in 
Hongkong  errichteten  „ärztlichen  Missionsgesellschaft  in  China"  unter- 
stützt, während  der  Jahre  1835—45  in  Kwantung  (1835),  Makao 
(1838),  zu  Tinghai  auf  der  Insel  Tschusan  (1840),  in  Hongkong  (1843), 
Schanghai  (1844),  später  auch  anderwärts  Hospitäler  gründeten  mit 
dem  Zwecke  „die  Ausübung  der  Heilkunde  als  Hilfsmittel  bei  der 
Einführung  des  Christentums"  zu  benutzen.^)  Unter  jenen  ersten 
ärztlichen  Missionären  (Rev.  Dr.  Peter  Parker,  Mr.  William  Lockhart, 
Dr.  B.  Hobson)  verdient  einer  besonderen  Erwähnung  Hobson  (B.) 
von  der  Londoner  Missionsgesellschaft,  welcher  1837  in  China  ankam 
und  seit  1850  folgende  Schriften  in  chinesischer  Sprache  veröffent- 
lichte: 1.  Anatomie  und  Physiologie  (1850),  2.  Naturphilosophie  und 
Naturgeschichte,  3.  Grundsätze  und  Ausübung  der  Chirurgie  (1857), 
4.  Praktische  Medizin  und  Heilmittellehre  nebst  englisch-chinesischem 
Wörterbuch,  5.  Geburtshilfe  und  Kinderheilkunde.  Die  mit  vielen 
Abbildungen  versehene  Abhandlung  über  Anatomie  und  Ph5^siologie 
beginnt,  nach  einigen  allgemeinen  Bemerkungen  über  die  Wichtigkeit 
des  Studiums,  mit  den  Knochen  und  einer  Vergleichung  des  Skelets 
verschiedener  Tiere,  den  Bändern  und  Muskeln,  worauf  eine  Be- 
schreibung des  Gehirns,  des  Rückenmarks  und  des  Nervensj'stems 
folgt.  Nach  einem  kurzen  Abriss  der  Optik  und  Akustik  werden  die 
Sinnesorgane  mit  Rücksichtnahme  auf  die  vergleichende  Anatomie  der 
niederen  Tierklassen  abgehandelt.  Es  folgt  die  Beschreibung  der  Ein- 
geweide und  ihrer  Funktionen,  des  Herzens  und  seiner  Thätigkeit, 
der  Blutgefässe  und  Saugadern  sowie  des  Blutkreislaufs,  dann  Be- 
merkungen über  die  Harn-  und  Geschlechtswerkzeuge.  Das  Werk 
schliesst  mit  einem  andächtigen  Bekenntniss  des  Schöpfers  dieses 
wunderbaren  Körpers,  „welches  in  sehr  klarer  Weise  das  Wesen,  die 
Weisheit  und  Güte  des  allmächtigen  Schöpfers  nachweist".  Die 
Schlussseiten  sind  einer  kurzen  Angabe  über  die  psjxhologischen 
Unterschiede,  wie  sie  sich  durch  eine  Betrachtung  des  materiellen 
Baues  der  Seelenorgane  ergeben,  gewidmet.  Dieser  Band  wurde 
kurze  Zeit  nach  dem  Erscheinen  von  dem  Vizekönig  zu  Kanton 
wieder  veröffentlicht.  Die  Illustrationen  wurden  neu  geschnitten, 
separat  gedruckt  und  aufgerollt.  Seither  sind  die  verschiedenen 
Bände  der  ganzen  Reihenfolge  gleich  nach  dem  Erscheinen  von  den 
Chinesen,  und  nach  J^röffnung  des  Verkehrs  mit  Japan  auch  dort 
nachgedruckt  worden.  Doch  haben  die  Japaner  alle  Beziehungen  auf 
die  christliche  Religion  oder  auf  deren   europäischen  Ursprung  weg-  | 


^)  Dies  hatte  chinesischerseits  zu  Schanghai  i.  J.  1845  die  Gründung  der  „An- 
stalt für  unentgeltliche  ärztliche  Hilfe"  (Schi-i-king-keuh)  zur  Folge.  Aehnliche 
Institute  daselbst:  die  Heilanstalt  Ting-jin-tang  (tun-jin-tang)  =  Halle  der  ver- 
einigten Wolthätigkeit  in  Verbindung  mit  der  Poo-yuen-tang  =  Unterstützungshalle 
zur  Anschaffung  von  Särgen  auf  Kredit,  ein  Siechenhaus,  ein  Findelhaus. 


Geschichte  der  Anatomie.  325 

gelassen.  Die  weniger  aufrichtigen,  dem  Transcendentalen  sowie  allem 
Pietismus  abgeneigten  Chinesen  hatten  dies  nicht  gethan.  Sie  haben 
den  Einbruch  in  ihr  durch  Tradition  geheiligtes  Wissen  anscheinend 
ruhig  hingenommen.  Sie  haben  aber  zum  Schluss  des  Jahrhunderts 
der  Welt  oifen  zu  verstehen  gegeben,  dass  das  Missionswesen  die 
Schuld  an  ihren  Feindseligkeiten  mitträgt,  dass  sie  viel  zu  auf- 
geklärt sind,  um  sich  einer  Wissenschah  gegenüber  entgegen- 
kommend zu  erweisen,  die  ihnen  mit  Kontrebande  im  Sack  auf- 
gedrungen wii'd.  -) 


Türkei.  1) 

Der  Pufferstaat  für  die  rivalisierenden  Grossmächte  Europas  hat 
sich  in  wissenschaftlicher  Beziehung  recht  langsam  entwickelt.  Zwar 
hatte  schon  Sultan  Mohammed  IL  (reg.  1451—81),  der  bekannte  Er- 
oberer von  Konstantinopel,  hier  eine  Medizinschule  errichtet,  doch 
blieb  sie  ohne  Bedeutung,  Erst  Machmud  11.  (reg.  1808 — 39)  gründete 
1827  im  Galata  Sserai  zu  Pera  eine  Schule  zur  Ausbildung  von 
Militär-  und  Marine-Aerzten,  anfangs  allerdings  nur  mit  zwei  Lehrern. 
Der  Unterricht  in  der  Anatomie  wurde  nui*  an  der  Hand  der  Loderschen 
Tafeln  erteilt,  denn  Leichensektionen  waren  unstatthaft  und  Präparate 
nicht  vorhanden.  Die  erwähnte  türkische  Anatomie  von  Schani 
Zadeh  aus  d.  J.  1820'-)  war  als  Lehrbuch  verboten.  Erst  ein  Trade 
vom  8.  März  1838  erlaubte  (unter  Aufrechterhaltung  des  Verbots, 
mohammedanische  Leichen  zu  verwenden)  für  anatomische  Zwecke 
die  Leichen  von  Christen  und  Juden  zu  sezieren.  Ein  wesentlicher 
Fortschritt  vollzog  sich  unter  Abd-ul-Medschid  (reg.  1839—68).  Der 
1.  J.  1839  berufene  Wiener  Arzt  Dr.  Bernard  (f  1844  9.  Novemb.  in 
Konstantinopel)  reorganisierte  als  Direktor  der  Medizinschule  von 
Galata  Sserai  die  Anstalt  nach  den  Grundsätzen  der  Wiener  Schule. 
Er  begründete  ein  anatomisches  Kabinet  mit  Präparaten  von  Jos. 
Hyrtl.  Sein  Nachfolger  Spitzer  (Sigmund,  *  1813,  f  kurz  vor  Neu- 
jahr 1895  in  Wien)'^)  erreichte  schliesslich,  dass  der  türkische  Chef- 
arzt Tahir  Pascha  und  dessen  Adjunkt  Abdullah  Efendi 
einen  kaiserlichen  Befehl  erwirkten,  demzufolge  die  Leichen  der  in 
den  Gefängnissen  verstorbenen  Verbrecher  ohne  Unterschied  der  Kon- 
fession in  die  Schule  zu  Galata  Sserai  gebracht  und  seziert  werden 
sollen.  Der  Anfang  wurde  gleich  mit  der  Leiche  eines  Moham- 
medaners gemacht,  schon  im  April  1846  wurden  sogar  Frauenleichen 


*)  Um  sich  ein  richtiges  Urteil  über  das  "Wesen  u.  Wissen  der  Chinesen  zu 
lüden,  darf  man  nicht  die  Feuilletons  europamüder  Globetrotters  lesen,  sondern  man 
nss  sich  in  die  Werke  der  Chinesen  selbst  vertiefen.  Daz\i  empfiehlt  sich  z.  B. 
i^  Studium  der  Encyklopädie  der  chinesischen  Jugend,  des  Buches  des  ewigen 
•istes  und  der  ewigen  Materie,  des  buddhistischen  Katechismus,  der  Reden  u.  Ver- 
:  ilnungen  chinesischer  Kaiser  an  ihr  Volk  sowie  die  Reden  vornehmer  u.  berühmter 
hinesen  an  ihre  Kaiser,  des  kleinen  philosophischen  Werks  De-Pe-a,  schliesslich 
r  Abhandlung  des  Generals  T sehe ng-Ki-Tong  über  China  und  die  Chinesen. 

'}  *Stern  (Bernhard),  Medizin,  Aberglaube  und  Geschlechtsleben  in  der  Türkei, 
'■rlin  1903,  S«,  2  Bde.,  437  u.  417  S. 

*)  Vgl.  S.  195  oben;  dazu  Henschels  Janus  1848  III.  Bd.  S.  370. 

')  Ebenfalls  aus  Wien  berufen,  zuerst  Prof.  d.  Anat.,  1844  der  medizin.  Klinik, 
lann  Direktor  der  Schule,  später  in  diplomat.  Diensten. 


326 


Robert  Ritter  von  Töply. 


(die  zweier  moslem.  Negerinnen)  seziert.  Unter  Sultan  Abd-ul-Aziz 
(reg.  1861 — 76)  ging  das  medizinische  Studium  wider  stark  zurück, 
doch  hat  es  sich  unter  Abd-ul-HamId  II.  (reg.  seit  1876)  wieder  ge- 
hoben. Die  in  Haidarpascha  im  Bau  begriflFene  Schule  dürfte  hoffent- 
lich den  Forderungen  gerecht  werden,  die  die  Wissenschaft  auf  Grund 
ihrer  Entwicklung  in  dem  eben  abgelaufenen  Jahrhundert  allerorten 
zu  stellen  berechtigt  ist. 


k 


jeschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendimg  auf  die 
Medizin  bis  zum  Ende  des  neunzehnten  Jahrhunderts. 

Yon 
Heinrich  Boruttan  (Göttingen). 


Litterarische  Vorbemerkungen. 

Eine  umfassende  Darstellung  der  Geschichte  der  Physiologie  fehlt  bis  jetzt. 
Historisches  Material  findet  sich  reichlich  in  allen  grösseren  älteren  Lehr-  und  Hand- 
büchern der  Physiologie,  z.  B.  in  Halters  Elementa  physiologiae.  Von  neueren  Werken 
finden  sich  kurze  historische  Einleitungen  in  den  Lehrbüchern  von  Hermann  und 
von  Landois.  Eine  kurze  aber  ausgezeichnete,  besonders  die  allgemeinen  Gesichts- 
punkte berücksichtigende  Darstellung  der  Enitcicklung  der  biologischen  Wissenschaft 
hat  Verivarn  in  seiner  „allgemeinen  Physiologie^  gegeben.  Es  sei  ferner  hier  gleich 
aufmerksam  gemacht  atif:  M.  Foster,  „Histm-y  of  physiology  in  the  16^f  17<J*  and 
IS»*  centuries"',  Cambridge  1901,  auch  auf  Franz  Carl  3IiUlers  „Geschichte  der 
organischen  Naturwissenschaften  im  19.  Jahrhundert'^,  Berlin  1902  (mehr  populär). 
Eine  lose  Aneinanderreihung  bildgezierter  Biographien  bildet  das  von  W.  Stirling 
privat  herausgegebene  Prachtwerk  „Some  Apostles  of  Physiology-,  Manchester  1902. 
Natürlich  findet  sich  eine  reichliche  Zahl  speziell  die  Physiologie  interessierender 
Litteraturangaben  in  den  grösseren  Werken  über  die  Geschichte  der  Medizin,  Haeser, 
Sprengel,  vor  allem  Pageis  trefflicher  „Einführung  u.  s.  jc",  sowie  Biblio-  und 
Biographisches  in  Choulant,  Paiilys  Bibliographie,  dem  älteren  und  neueren 
..biographischen  Lexikon  hervorragender  Aerzte'^,  für  die  7ietie8te  Zeit  umfassend  in 
Pageis  medizinischer  Bibliographie. 

I. 

Altertum  und  Mittelalter. 

Bei  den  alten  asiatischen  Kulturvölkern  und  bei  den  Mittelmeer- 
völkern der  vorgriechischen  Kulturperiode  kann  mangels  der 
allernötigsten  anatomischen  Kenntnisse  auch  von  Physiologie 
nicht  dieRede  sein.  Erst  die  Gelegenheit,  welche  sich  den  Aerzten 
der  Asklepiadenschulen  bot,  Opfertiere  zu  sezieren,  das  allgemeinere 
Interesse  für  den  Bau  und  die  Funktionen  des  menschlichen  Körpers, 
welches  die  gymnastischen  Hebungen  des  klassischen  Hellenentums 
weckten,  der  hiermit  und  mit  den  grossen  Kriegen  zusammenhängende 
Antrieb  zur  Vervollkommnung  chirurgischer  Thätigkeit  hob  die  Ana- 
tomie der  Griechen  auf  eine  höhere  Stufe,   als  sie  noch  heutigen 


328  Heinrich  Boruttau. 

Tages  bei  den  Chinesen  steht,  und  gab  damit  auch  die  nötige  Grund- 
lage für  die  Erforschung  der  speziellen  Funktionen  des  menschlichen 
Organismus.  Hierzu  kam  als  zweiter,  gewaltig  treibender  Faktor  die 
frühzeitige  Entwicklung  der  Philosophie  bei  diesem  hoch- 
begabten Volke,  d.  h.  der  harmonisch  vereinigten  Geistes- 
und Natur  Wissenschaften  im  weitesten  Sinne  des  Wortes. 
Die  gegenseitigen  Beziehungen  zwischen  griechischer  Philosophie  und 
Medizin  sind  bereits  im  ersten  Bande  dieses  Werkes  in  vortrefflicher 
Weise  besprochen  worden  (S.  170  u.  ff.);  auch  sei  hier  noch  besonders  auf 
das  interessante  Werk  von  E.  Chauvet,  La  Philosophie  des  Medecins 
grecs,  Paris  1886,  hingewiesen.  An  angeführter  Stelle  des  ersten 
Bandes  sind  auch  zugleich  mit  den  physikalischen  und  anatomischen 
die  wichtigsten  physiologischen  Anschauungen  der  älteren  griechischen 
Philosophenschulen  kurz  beschrieben :  Thaies,  Anaximenes, 
Diogenes  von  Apollonia  (Adern  und  Puls);  Pythagoras  und 
seine  Schule;  Alkmaion  (Luftröhre,  Ohrtrompete,  Theorie  der  Ge- 
schlechtsbestimmung) ;Heraklitvon  Ephesus  (Theorie  der  Sinnes- 
empfindungen) ;  Demokrit  vonAbdera  u.  a.  Charakteristisch  für 
diese,  wie  für  jede  spätere  „Naturphilosophie"  ist  die  Spekulation 
über  die  Ursachen  alles  Seins,  die  Grundstoffe  und  Urkräfte  der  un- 
belebten, wie  auch  belebten  Natur,  —  „Erklärung  des  Lebens"  — ,  wie 
^ie  als  Endzweck  auch  die  moderne  allgemeine  Physiologie,  doch  ver- 
sehen mit  dem  Eüstzeug  des  Experiments  und  der  Induktion,  erstrebt. 
Auch  die  allgemein-  wie  speziell-physiologischen  Kenntnisse  und  An- 
schauungen der  Blütezeit  hellenischer  Philosophie  und 
Heilkunde,  welche  in  dem  Konvolut  der  sog.  hippokratischen 
Schriften  niedergelegt  sind,  haben  bereits  im  ersten  Bande  dieses 
Werkes  (S.  236  ff.)  eine  Darstellung  gefunden.  Es  sei  nur  hier  daran 
erinnert,  dass  bereits  Alkmaion  (um  580  v.  Chr.)  und  Plato 
(429 — 337  v.Chr.)  das  Geh  irn  zum  Sitz  des  Denkens,  der  Ueber- 
legung  erhoben,  während  die  übrigen  Erscheinungen  des  Seelenlebens 
(Leidenschaften,  Begierden,  Empfindungen)  noch  nach  altem  Brauch 
ins  Herz,  auch  ins  Zwerchfell  und  in  die  Baucheingeweide  verlegt 
wurden. 

Die  älteste  zusammenhängende  rein  anatomisch  -  physiologische 
Schrift,  w^elche  wir  besitzen,  ist  wohl  des  grossen  Aristoteles  TteQi 
Zd)iov  fioglcov,  eine  Anatomie  und  Physiologie  der  Tiere, 
aber  nicht  des  Menschen,  mit  welchem  er  sich  nicht  beschäftigt  zu 
haben  scheint.  Er  kennt  die  vier  Elemente  der  älteren  Naturphilo- 
sophen —  Feuchtes  und  Trocknes,  Warmes  und  Kaltes,  als  Urelement 
der  beiden  letzteren,  als  „quinta  essentia"  noch  den  Aether,  das  be- 
lebende Prinzip  (ob  identisch  mit  dem  Ttvev^ia?).  Von  ihm  rührt  die 
Unterscheidung  der  bfxoio(.ieQfi  (.wqia  und  der  &vo{.ioiof.i£0l  (.löqia  her, 
der  gleichartigen  und  der  ungleichartigen  Teile,  womit  er  dasjenige 
unterscheidet,  was  wir  jetzt  Gewebe  einerseits  und  Organe  anderseits 
nennen.  Der  Sitz  der  Seele  ist  für  ihn  das  Herz,  in  welchem  das 
Blut  sich  sammelt,  der  Träger  der  „eingepflanzten  Wärme",  e^cpvxov 
&€Q^bv,  calor  innatus.  Die  eingeatmete  Luft  dient  zur  Abkühlung 
desselben,  doch  weiss  Aristoteles,  dass  durch  die  Atmung  die  Luft 
verdorben,  zum  Weiterleben  ungeeignet  wird.  Die  Bedeutung  des 
Nervensystems  wird  völlig  ignoriert,  ein  Eückschritt  gegenüber  den 
Pythagoräern  und  Plato;  das  Gehirn  ist  empfindungslos,  schleim- 
absondernd  (s.  spätere  Bemerkung   auf  S.  345).     Nevqov   heisst   die 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       329 

Sehne,  nicht  der  Nerv.  Auch  die  Entwicklungsgeschichte  hat 
Aristoteles  bekanntlich  behandelt  in  seinem  Buche  negl  ^wiov 
yevioecog.  Das  neue  Individuum  entsteht  aus  der  Vereinigung  des 
männlichen  mit  dem  weiblichen  Samen,  welche  er  sich  als  eine  Art 
Gerinnung  vorstellt;  das  Festgewordene  organisiert  sich. 

Mehr  anatomische  als  physiologische  Fortschritte  haben  gebracht 
die  Alexandriner,  vorab  Herophilus  und  E r a s i s t r a t u s.  Der 
erstere  verlegt  wieder  den  Sitz  der  Seele  ins  Gehirn  und  unterscheidet 
als  erster  zwischen  Bewegungs-  und  Empfindungsnerven,  ebenso 
zwischen  Arterien  und  Venen,  deren  erstere  ein  Gemisch  von  Blut  und 
Pneuma  führen  sollen.  Er  wie  auch  Erasistratus  haben  bereits 
die  später  vergessenen  und  erst  von  Aselli  im  sechzehnten  Jahr- 
hundert neuentdeckten  Chylusgefässe  gesehen  und  beschrieben, 
Erasistratus  auch  die  Gallengänge  in  der  Leber. 

Direkt  an  diejenige  der  Alexandriner  lehnt  sich  an  die  Physio- 
logie G  a  1  e  n  s  (130 — 201  n.  Chr.) ;  dieser  Meister  der  antiken  Medizin 
hat  geradezu  eine  „Physiologie  des  Menschen**  geschrieben,  die 
17  Bücher  negl  xQ^iag  tCov  iv  ard^QwTvov  atoLiaji  {.ioquov,  „De  usu  partium 
corporis  humani"  —  beste  Uebersetzung  u.  s.  w.  in  den  ,.OeuvTes 
anatomiques.  physiologiques  etc.,  precedees  d'une  introduction  etc. 
letztere  leider  ungedruckt  geblieben)  von  Ch.  Daremberg;  Paris 
1854—57;  siehe  auch  desselben  verdienten  Medizinhistorikers  Disser- 
tation, „Exposition  des  connaissances  de  Galien  sur  l'anatomie,  la 
Physiologie"  etc.,  These  de  Paris  1841  — .  „Ueber  den  Nutzen  der 
Teile"  u.  s.  w.  lautet  die  wörtliche  und  richtige  Uebersetzung  dieses 
Titels  der  galenischen  Physiologie,  womit  ihr  Standpunkt  eben  auch 
charakterisiert  ist,  als  rein  teleologisch-dedu zierend:  für  jedes 
Organ  wird  erklärt,  dass  es  zweckmässigerweise  so  und  so  gebaut  sei, 
damit  es  so  und  so  funktioniere,  nämlich  in  einer  Art  und  Weise,  die 
oft  der  Tradition  einfach  nachgebetet  ist,  oft  „aus  der  Luft  gegriffen", 
doch  manchmal  auch  aus  experimenteller  Grundlage  geschöpft,  indem 
Galen  Tierversuche,  anscheinend  ziemlich  zahlreich,  angestellt 
hat,  gelegentlich  auch  sie  beschreibt  und  über  dieselben  berichtet; 
auch  mit  klinischen  Erfahrungen  belegt  er  seine  physiologischen  An- 
schauungen. Es  ist  über  dieselben  im  ersten  Bande  dieses  Werkes 
(S.  396 — 398)  genügend  ausführlich  berichtet  worden,  unter  teilweiser 
Angabe  der  Stellen  in  „De  usu  partium";  es  mag  darum  gestattet 
sein,  hier  nur  auf  diejenigen  Punkte  nochmals  hinzuweisen,  welche 
für  die  Weiterentwicklung  unserer  Wissenschaft  massgebend  sind. 
Wie  bei  Aristoteles,  so  ist  auch  für  Galen  der  Geist,  7tvsv(.ia, 
>^piritus,  die  Triebfeder  des  Lebens,  welche  überall  im  Organismus 
vorhanden  ist,  nur  je  nach  dem  Ort  oder  Sitz  verschiedenartige 
Kräfte,  öwdiuig,  virtutes  äussert;  die  höchste  Funktion  besitzt  er  im 
Gehirn  als  nvsvj.ia  i/zü/r/dv,  spiritus  animalis;  eine  niedere  im  Blute 
als  nvsCfia  tioriy.öv,  Spiritus  vitalis,  die  niedrigste  in  der  Leber  als 
:iveCfia  ffiai-AÖv,  spiritus  naturalis,  ebenso  wie  die  Seele  zwar  als 
höchststehende  „denkende",  ifjvxrj  ).oyioti/.r^,  anima  rationalis,  ihren 
Sitz  im  Gehirn,  dem  Ausgangsort  der  Bewegung  und  Empfindung 
bat,  wogegen  die  Leidenschaften  noch  im  Herzen  und  die  Begierden 
in  der  Leber  ihr  Organ  haben.  Die  verschiedenen  Spiritusarten  oder 
-Zustände  stehen  in  inniger  Beziehung  zu  den  Vorgängen  der  Er- 
nährung und  Blutbewegung.  Die  erste  Verdauung,  Tieipig,  con- 
coctio,   erfolgt  im  Magen,   der  Speisebrei  gelangt   aus  dem  Darm  in 


330  .  Heinrich  Boruttaii. 

die  Pfortader,  die  ihn  der  Leber  zuführt,  hier  unter  Wirkung-  des 
Spiritus  naturalis  die  zweite  „Verdauung",  Umwandlung  der  Nahrung 
in  „rohes"  Blut,  nachdem  die  Milz  ihre  Unreinigkeiten  aufgenommen 
und  daraus  die  schwarze  Galle,  f-ieXayxioUa  der  Hippokratiker, 
bereitet  hat.  Das  rohe  Blut  gelangt  in  das  rechte  Herz  und  giebt 
durch  die  Lungenarterie,  cpXhip  äQTriQul)Ö7]g,  vena  arteriosa,  wie  sie 
Herophilus  nannte,  Russ,  Xiyyvg,  fuligo,  an  die  Lunge  zur  Aus- 
atmung ab  (dritte  Verdauung);  so  gereinigt  vermischt  es  sich  durch 
Vermittlung  der  damals  angenommenen  Foramina  saepti  mit  dem  im 
linken  Herzen  vorhandenen  7tvev(.ia  Cwrr/oV,  spiritus  vitalis.  Ueber  das 
AVesentliche  der  Blutbewegung  ist  nun  den  Büchern  Galens  eine 
feste  Vorstellung  schwer  zu  entnehmen,  und  er  hat  sicher  nicht  den 
Kreislauf  in  unserem  Sinne  gekannt ;  es  klingt  am  wahrscheinlichsten, 
dass  er  sowohl  in  den  Arterien  als  auch  in  den  Venen  des  Körpers 
einerseits  und  der  Lunge  andererseits  eine  wie  Ebbe  und  Flut  hin- 
und  hergehende  Bewegung  angenommen  habe,  —  wenigstens  thaten 
dies  mit  Gewissheit  seine  mittelalterlichen  Nachfolger  und  Interpreten.^) 
Der  Ausdruck  dieser  rhythmischen  Flutwelle  ist  der  Puls,  dessen 
Qualitäten  mit  einer  Fülle  von  Unterscheidungen  Galen  genau  be- 
schreibt und  pathologisch  verwertet. 

Bessere  Anschauungen  hat  Galen  über  den  Mechanismus 
der  Atmung,  deren  Zwecke  übrigens  auch  ihm  noch  die  Abkühlung 
des  durch  das  im  Herzen  residierende  ei-ifpvTov  Osq^öv  erhitzten  Blutes 
ist,  —  sowie  über  die  Funktionen  der  Nerven,  die  er,  wie  an- 
gedeutet, in  motorische,  und  zwar  harte,  und  sensible,  und  zwar  weiche, 
unterscheidet;  sie  entspringen  sämtlich  aus  dem  Gehirn,  welches  für 
ihn  nicht  die  schleimbereitende  Drüse  der  Hippokratiker,  des 
Aristoteles  und  wieder  späterer  dunkler  Zeiten  ist,  —  zum  Teil 
unter  leitender  Vermittlung  des  Rückenmarks,  an  welchem  Galen 
bereits  Durchschneidungsver suche  angestellt  hat,  mit  Be- 
obachtung der  konsekutiven  Lähmungen  u.  s.  w. 

Dieser  Bestand  an  physiologischem  Wissen  resp.  Glauben  hat  nun 
für  viele  Jahrhunderte,  durch  schriftliche,  übersetzende,  kommentierende, 
wie  durch  mündliche  Tradition  festgehalten  und  verschlimmbessert, 
vorhalten  müssen;  denn  wenn  es  auch  eine  bj^zantinische,  arabische 
und  mittelalterliche  Medizin  giebt,  über  Fortschritte  auf  dem  Gebiete 
von  deren  wissenschaftlichen  Grundlagen,  über  eine  arabische,  mittel- 
alterliche u.  s.  w.  Physiologie  ist  so  gut  me  nichts  zu  berichten! 


IL 
Renaissance,  16.  und  17.  Jahrhundert. 

Die  Fortschritte  der  Physiologie  im  Zeitalter  der  Renaissance 
sind  zunächst  unbedeutend  gegenüber  denjenigen,  welche  ihre  Vor- 
bedingung bilden  mussten,  den  Fortschritten,  oder  besser  gesagt  der 
Reformation  der  Anatomie.  Ein  Hauptantrieb  für  die  letztere  lag, 
wie  es  bei  der  Entwicklung  der  altgriechischen  Medizin  der  philo- 
sophische Geist  gewesen  war,  jetzt  unbedingt  in  der  Entwicklung 


^)  Danach  wäre  auch  das  galenische  Kreislauf sschema  Richets,  reproduziert  in 
Pageis  Einführung,  S.  125,  zu  modifizieren:  keine  Pfeile  in  bestimmter  Richtung! 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       331 

des  künstlerischen  Geistes,  welchen  die  Prunkliebe  der  all- 
mächtig-en  Kirche  förderte;  die  Leistungen  eines  Eaphael  und 
Michelangelo  sind  ohne  anatomische  Studien  undenkbar;  der  viel- 
seitige Lionardo  da  Vinci  (1452 — 1519)  bethätigte  sich  auf  ana- 
tomischem und  physiologischem  [er  kannte  den  Farbenunterschied 
zwischen  dem  arteriellen  und  dem  venösen  Blut  und  beobachtete  die 
Sauerstoffzehrung  des  Blutes],  me  auf  physikalischem  und  chemischem 
Gebiete  graphisch  darstellend,  beobachtend  und  philosophierend  nach 
Grundsätzen,  welche  Veranlassung  gegeben  haben,  das  Zeitalter  der 
exakten  Wissenschaften  mit  ihm  beginnen  zu  lassen.  \)  Der  grosse 
Reformator  der  Anatomie  xlndreas  Vesalius  selbst,  welcher  die 
Alleinherrschaft  der  fehlerhaften,  der  Tier-  und  nicht  Menschenleichen- 
zergliederung entlehnten  anatomischen  Lehrsätze  Galens  brach,  wagte 
in  seiner  Jugend  nicht  und  gelangte  wahrscheinlich  infolge  seines 
frühen  Todes  auch  später  nicht  mehr  dazu,  an  die  fehlerhafte  galenische 
Physiologie  Hand  anzulegen,  wenngleich  er  seinen  Zweifeln  an  den 
Angaben  des  alten  Meisters  oft  genug  und  unzweideutig  genug  Aus- 
druck verleiht.  Auch  den  durch  anatomische  Forschungen  ausge- 
zeichneten Schülern  und  Zeitgenossen  Vesals  hat  die  Physiologie 
viele  Fortschritte  nicht  zu  verdanken,  weder  den  Galenikern  Eustacchi 
und  Ingrassia,  noch  Aranzio,  Botallo  und  dem  bedeutendsten 
Schüler,  späteren  Gegner  und  Verbesserer  Vesals,  dem  ausgezeich- 
neten Gabriele  Falloppio,  der  jedenfalls  auch  ein  guter  Experi- 
mentator war  (Versuche  am  lebenden  Menschen,  s.  die  fanatischen, 
doch  zeitgemässen  Bemerkungen  Jos.  Hyrtls  in  dessen  historischer 
Einleitung  in  seinem  Lehrbuch  der  Anatomie). 

Derjenige  Abschnitt  der  Physiologie,  in  welchem  der  Mangel  an 
richtiger  Erkenntnis  seitens  der  Alten  einschliesslich  Galens  am  ver- 
hängnisvollsten wirkte  und  naturgemäss  auch  die  weiteren  Fortschritte 
auf  dem  Gesamtgebiete  unserer  Wissenschaft  hindern  musste,  war  und 
blieb  die  Lehre  von  der  Haupternährungsflüssigkeit  des  Körpers, 
dem  Blute,  und  seiner  Bewegung  in  den  Ge fassen.  Die 
bereits  beschriebenen  Vorstellungen  über  diese  Dinge,  an  welchen  die 
mittelalterliche  Medizin  blind  haften  geblieben  war,  wurden  auch 
noch  von  Vesal  nachgebetet,  doch  offenbar  widerwillig,  indem  schon 
in  der  ersten  Auflage  seiner  7  Bücher  „De  humani  corporis  fabrica" 
1543,  und  noch  deutlicher  in  der  zweiten,  späteren  Auflage  er  seinen 
Zweifel  in  sarkastischen  Worten  durchleuchten  lässt,  insbesondere  hin- 
sichtlich des  Durchtritts  von  Blut  aus  dem  rechten  Ventrikel  durch 
das  Saeptum  hindurch  in  den  linken  Ventrikel.  Indessen  verging 
eine  lange  Zeit,  ehe  die  Forschung  zu  einer  richtigen  Erkenntnis  des 
Kreislaufs  kam.  Den  Lungenkreislauf  beschreibt  R e a  1  d o 
Colombo  (Columbus,  1 1559),  Vesals  eitler  und  undankbarer  Nach- 
folger, zwar  richtig,  ebenso  wie  der  unglückliche  theologische  Streiter 
und  Polyhistor  Michael  Servetus  (1509 — 1553)  in  seiner  „Restitutio 
Christianismi"  ausdrücklich  erklärt,  dass  das  Blut  aus  dem  rechten 
Herzen  nicht  durch  Löcher  im  Saeptum  sondern  durch  die  Vena 
arteriosa  (Lungenarterie),  durch  die  Lunge  hindurch  und  durch  die 
Arteria  venosa  (Lungenvene)  in  das  linke  Herz  gelange,  sowie  dass  die 

*)  Arthur  König-Berlin  (t)  in  seiner  öifentlichen  Vorlesung  über  die  Ge- 
schichte der  Entwicklung  der  exakten  Wissenschaften.  Vgl.  einen  neuerdings  er- 
whienenen  Artikel  von  Bottazzi  (Archivio  per  l'Antropologia,  vol.  32,  1902)  über 
L.  da  Vinci  als  Physiolog. 


332  ,  Heinrich  Boruttau. 

Mischung  des  Blutes  mit  den  Spiritus  vitales  in  der  Lunge  erfolge 
und  daselbst  das  dunkelrote  Blut  hellfarbig  werde !^)  Andreas 
Caesalpinus  (1519 — 1603),  Professor  der  Medizin  und  Botanik  in 
Pisa  von  1555—1592,  später  Leibarzt  des  Papstes  Clemens  des 
Achten  in  Rom,  hat  in  seinen  Quaestiones  peripateticae  (1571)  eine 
grosse  Zahl  von  Gegen  gründen  und  Leitsätzen  gegen  die  galenische 
Blutbewegungslehre  aufgestellt,  so,  dass  kein  Luftaustausch  zwischen 
Lungen  und  Herz  möglich  sei,  weil  der  Rhythmus  der  Erweiterung 
und  Verengerung  bei  beiden  Organen  unabhängig  ist,  —  dass  Herz- 
schlag und  Arterienpuls  isorhythmisch  sein  müssen  und  die  Semilunar- 
klappen  den  Rücktritt  des  Blutes  aus  den  Arterien  in  die  Ventrikel 
verhindern,  —  und  manches  andere;  doch  scheint  er  das  Wesen  des 
sog.  grossen  Kreislaufs,  den  Uebertritt  des  Arterienblutes  in  die  Körper- 
venen und  Rückkehr  durchdieselben  zum  rechten  Herzen  noch  nicht 
ausdrücklich  erkannt  zu  haben.  Fabricius  ab  Aquapendente 
(1537 — 1619),  welcher  die  angeblich  von  Cannanus  schon  1547  be- 
obachteten Venenklappen  1574  in  seinem  Buche  „De  venarum  ostiolis" 
beschrieb,  hält  sie  für  dazu  bestimmt,  den  Strom  des  Bluts  in  den 
Venen  abwärts  (centrifugal !)  zu  hemmen  und  zu  verhindern,  dass  die 
Extremitäten  auf  Kosten  der  oberen  Körperteile  zu  viel  Blut  erhalten, 
ohne  ihre  Bedeutung  für  die  Erleichterung  des  Blutstroms  zum  Herzen 
zurück  zu  erkennen.  Auch  in  seinem  späteren  Buche  1599  ,.De 
respiratione  et  eins  instrumentis"  (wesentlich  Atembewegungslehre) 
zeigt  er  sich  als  reiner  Galeniker,  ebenso  in  seinen  fleissigen  Arbeiten 
über  Entwicklungsgeschichte.  Alle  bisherigen  Bemühungen  können 
eben  nur  als  Vorläufer^  der  eigentlichen  Entdeckung  des 
Kreislaufes  gelten,  welche  erst  dem  nächsten,  16.  Jahrhundert  vor- 
behalten blieb. 

In  der  hier  betrachteten  Zeitperiode  steckte  die  Chemie  noch 
in  den  Kinderschuhen,  oder  genauer  gesagt  als  Alchemie  im  Banne 
des  aus  dem  Mittelalter  übernommenen  Aberglaubens,  welcher  aus  der 
Astronomie  die  Astrologie  machte,  im  traurigen  sozialen  Niedergange 
auch  noch  späterer  Zeiten  (dreissigj ähriger  Krieg),  insbesondere  den 
grossen  Seuchen  gegenüber  allen  medizinischen  und  naturwissenschaft- 
lichen Fortschritten  trotzte  und  Hexenprozesse,  Judenverfolgungen 
u.  s.  w.  zeitigte.  Mehr  als  von  Aerzten  und  Professoren  wurden 
chemische  Experimente  von  Handwerkern,  Bergleuten,  Quacksalbern 
und  Mönchen  betrieben:  Berthold  Schwarz,  Basilius  Valen- 
tin us.  Dem  letzteren  verdankt  die  Chemie,  wie  seinerzeit  dem  Araber 
Geber  (AI  Giafr)  immerhin  ernsthafte  Fortschritte:  als  sein  be- 
geisterter Anhänger  erkannte  und  betonte  in  einseitiger  Weise  der 
grosse  medizinische  Mystiker  jener  Zeiten,  der  als  excentrischer  Sonder- 
ling und  prahlerischer  Schwindler  einst  vielverschrieene,  neuerdings  in 
seinen  wirklichen  Verdiensten  erkannte  und  rehabilitierte  Paracelsus 
(Theophrastus  Bombast  von  Hohenheim,  1490—1541)  dieBedeutung 
der  chemischen  Vorgänge  für  die  Lebens-  und  Krank- 
heitsprozesse und  insbesondere  für  die  therapeutische  Beeinflussung 
der  letzteren,  welche  für  ihn  die  Hauptsache  war,  so  dass  er  wohl 
mehr  als  Vater  der  jetzt  so  bezeichneten  Pharmakologie,  denn 


*)  Es  sei  hier  hier  erinnert  an  die  Bemühungen  Henri  Tollins  [Die  Ent- 
deckung des  Blutkreisl.,  Jena  1875  u.  a.  v.  a.  0.],  Servetus  die  Priorität  der  Ent- 
deckung des  Gesamtkreislaufs  zu  vindizieren. 


Geschichte  der  Physiologie  iu  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      333 

als  Begründer  einer  wirklichen  phj'siologischen  Chemie  gelten  kann. 
Valentin  US  entlehnt  er  die  Annahme  dreier  „Elemente"  oder  besser 
gesagt  chemischen  Körperklassen:  „Schwefel"  =  verbrennliche  Köi'per; 
„Quecksilber"  =  flüchtige  Körper,  und  „Salze"  =  feste  Rückstände. 
Ein  während  der  Dauer  des  Lebens  dem  Organismus  innewohnendes 
Lebensprinzip  („Archaeus")  lenkt  den  normalen  Gang  der  den 
Funktionen  zu  gründe  liegenden  chemischen  Vorgänge.  Die  übrigen, 
gleichfalls  der  neuplatonischen  Mystik  ähnelnden  Grundlehren  des 
Paracelsus  (Krankheitsursachen,  Arcana,  Signaturen'  gehören  nicht 
hierher.  Mochte  nun  auch  dieser  Stürmer  und  Dränger  die  galenischen 
Lehi-en  und  mit  ihnen  das  Studium  der  von  alters  her  und  auch  noch 
heute  als  wesentlich  erkannten  Grundlagen  der  wissenschaftlichen 
Medizin  verwerfen,  der  Anatomie  und  Physiologie  eigentlich  fernstehen, 
so  mögen  seine  Lehren  doch  zur  späteren  Inangriffnahme  der  ernst- 
haften Erforschung  der  chemischen  Grundlagen  der  Lebensprozesse 
einen  wichtigen  Anstoss  gegeben  haben. 

Das  siebzehnte  Jahrhundert,  das  Jahrhundert  des  Be- 
freiungskampfes der  germanischen  Völker  gegen  die  dogmatische 
Tyrannei  der  katholischen  Kirche,  ist  ein  Zeitalter  gewaltiger  Fort- 
schritte auf  dem  Gebiete  der  Philosophie,  Mathematik,  Physik  und 
Chemie,  welche  naturgemäss  auch  auf  die  gleichzeitige  und  spätere 
Entwicklung  der  physiologischen  Wissenschaft  von  entscheidendem 
Einflüsse  sein  mussten.  Der  glänzende  Geist  eines  englischen  Juristen, 
welcher  die  Stellung  eines  Grosskanzlers  erreichte,  aber  wegen  Amts- 
verfehlungen im  Alter  abgesetzt  wurde  —  eine  Schmach,  welche  auch 
seine  wirklichen  Verdienste  in  den  Augen  der  Menge  vielfach  ver- 
dunkeln musste  — ,  die  kritische  Schärfe  ßacos  von  Verulam 
(1560 — 1626)  war  es,  welche  ihn,  der  selbst  nicht  Arzt  von  Fach,  Natur- 
forscher nur  aus  Liebhaberei  war,  es  mit  dürren  Worten  aussprechen 
Hess:  Gläubige  Herleitung  neuer  Lehrsätze  von  alten,  kritiklos  hin- 
genommenen Dogmen  führt  nimmer  zum  Fortschritt  in  der  Erkennt- 
nis; der  Anfang  alles  Wissens  ist  der  Zweifel,  die  Grund- 
lage der  Xaturforschung  das  Experiment.  Er  verurteilt 
die  unfruchtbare  Teleologie  des  Galen  wie  die  Humoralpathologie  des 
Hippokrates;  ausschliesslich  von  der  Beobachtung  der  Krankheits- 
symptome, von  der  von  ihm  postulierten  Untersuchung  der  krankhaft 
veränderten  Organe  (der  nach  über  2  Jahrhunderten  erst  wahrhaft  er- 
standenen und  Bacos  Erwartungen  über  alles  Mass  erfüllenden  patho- 
logischen Anatomie)  erwartet  er  wahrhafte  Fortschritte  der  praktischen 
Medizin;  er  ist,  wenn  auch  nicht  als  der  erste  geistige  Urheber,  so 
doch  als  der  erste  Beachtung  findende  glänzende  rednerische 
Fürsprecher  der  induktiven  Methode  mit  Recht  anzusehen. 

Gleich  grosse,  wenn  auch  z.  T.  nur  indirekte  Bedeutung  für  die 
Entwicklung  unserer  Wissenschaft  gebührt  dem  Manne,  welcher  die 
Philosophie  den  Banden  der  Scholastik  entriss,  dem  Begründer  der 
analytischen  Geometrie,  Cartesius  (Rene  Descartes.  1596 — 1650), 
dessen  Bedeutung  speziell  für  die  Entwicklung  der  Nervenphysiologie 
und  Psychologie  wir  weiter  unten  noch  ausführlicher  würdigen  werden. 
Es  genügt,  die  Namen  Kepler,  Galilei,  Newton  und  Huyghens; 
Torricelli,  0.  v.  Guericke,  Mariotte  und  Boyle  zu  nennen, 
um  die  Bedeutung  der  in  Rede  stehenden  Periode  für  die  Entwicklung 
der  Physik  und  Chemie  zu  kennzeichnen. 

Wir  haben  nun  zunächst  als  Wendepunkt  in  der  Geschichte  der 


334  Heinrich  Boruttau. 

Physiologie  die  sog.  Entdeckung  des  Kreislaufs,  d.  h.  den 
Nachweis  des  Körperkreislaufs  und  die  richtige  Darstellung  des  ge- 
samten Blutbewegungssystems  durch  William  Harvey. 

William  Harvey  ist  am  2.  April  1578  in  Folkestone  an  der  Südküste 
von  England  geboren,  wurde  in  Gonville  and  Caius'  College  zu  Oxford  auf- 
genommen im  Jahre  1593,  daselbst  M.  A.  (Magister  Artium)  im  J.  1597, 
ging  1598  nach  Padua  um  Medizin  zu  studieren,  vorwiegend  bei  Fabricius 
ab  Aquapendente,  erhielt  daselbst  1602  die  Doktorwürde,  desgleichen  noch 
im  selben  Jahre  zu  Cambridge;  1604  Hess  er  sich  in  London  nieder  und 
wurde  ins  Royal  College  of  Physicians  daselbst  aufgenommen  (F.  ß.  C.  P.) 
und  1609  Arzt  des  St.  Bartholomew's  Hospital;  1615  wurde  er  am  Royal 
College  Professor  der  Anatomie  und  Physiologie  und  begann  durch  seine 
Vorlesungen  über  die  Herz-  und  Blutbewegung  Aufsehen  zu  erregen ;  erst 
1628  aber  erschien  sein  berühmtes  kleines  Buch,  die  Exercitatio  de  motu 
cordis  etc.  (s.  unten).  Er  wurde  Leibarzt  der  Könige  Jacob  I.  und  Karl  I., 
folgte  letzterem  bei  Ausbruch  der  Revolution  1646  nach  Oxford,  kehrte 
nach  Beendigung  derselben  nach  London  zurück  und  blieb,  durch  den  Krieg 
verarmt,  nur  noch  wissenschaftlich  arbeitend,  in  der  Zurückgezogenheit  des 
Privatlebens  bis  zu  seinem  am  3.  Juni  1657  erfolgten  Tode. 

Harveys  physiologisch  icichtigste  Schrift  „Exercitatio  miatomica  de  motu  cordis 
et  sanguinis  tn  animalibus"  erschien  zuerst  Frankfurt  a.  M.  1628.  Die  „Exer- 
citationes  de  generatione  animalium"  —  s.  später  Harveys  Bedeutung  für  die  Ent- 
icickbmgsgeschichte  —  London  1651.  Sämtliche  Werke  Harveys,  London  1846,  auch 
ins  Englische  übersetzt  von  R.  Willis,  nebst  Biographie,  London  1847.  Wegen 
biograpliischer  Litteratur  s.  den  Anhang. 

Harveys  klassische  Schrift  „Exercitatio  anatomica  de  motu  cordis 
et  sanguinis  in  animalibus"  ist  mustergültig  in  Bezug  auf  die  tadel- 
lose rein  experimentell-physiologische  Methodik  und  anatomische  Be- 
gründung. Sie  versetzt  so  (Vorwort)  der  galenischen  Blutbewegungs- 
lehre, welche  auf  falscher  Tradition  und  wertloser  teleologischer 
Deduktion  beruhend,  durch  Jahrhunderte  aller  besseren  Einsicht  ge- 
trotzt hatte,  den  Todesstoss  durch  die  scharfe  Waffe  der  InduktioiL 
Jahrelange  Vivisektionen  an  allen  möglichen  Tierarten,  Kalt-  und 
Warmblütern,  bei  letzteren  insbesondere  die  Betrachtung  des  beim 
Absterben  immer  seltener  und  langsamer  schlagenden  Herzens,  die^ 
gründliche  anatomische  Untersuchung  des  Klappenapparats,  Injektions- 
versuche mit  Flüssigkeiten  an  der  Leiche  führten  ihn  zu  der  in  diesem  j 
klassischen  kleinen  Buche  entwickelten  Darstellung  der  Blutbewegung,' 
welche  in  allen  wesentlichen  Punkten  die  heutige  ist:  die  thätige 
Phase  der  Herzbewegung  ist  nicht,  wie  viele  glaubten,  die  Diastole,] 
sondern  die  Systole,  d.  h.  die  durch  Anspannung  und  Verkürzung  der! 
Muskelfasern  der  Herzwand  erfolgende  Verkleinerung  des  betreffenden 
Hohlraums,  welche  das  Blut  aus  diesem  in  der  Richtung  des  sich 
öffnenden  Klappenapparats  austreibt ;  die  Systole  der  Atrien  geht  der- 
jenigen der  Ventrikel  voraus  und  erfolgt  synchronisch  einerseits  bei 
beiden  Vorhöfen,  andererseits  bei  beiden  Ventrikeln.  Die  systolische 
Wandverdickung  und  -Verhärtung  ist  es,  welche  den  fühlbaren  Herz- 
stoss  an  der  Brustwand  erzeugt  (allein  richtige  Darstellung  schon 
hier,  bereits  250  Jahre  und  mehr  vor  Chauveau  und  Marey  und 
Haycraft  und  Paterson,  s.  später!).  Der  Klappenapparat  ist  der- 
artig angeordnet,  dass  die  zwei-  und  die  dreizipflige  Vorhofsklappe  dem 
Blut  aus  den  Vorhöfen  während  der  Diastole  der  Ventrikel  den  Ein- 


Geschichte  der  Physiologie  iu  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       335 

tritt  in  diese  gestatten  —  diese  also  während  der  Diastole  sich  an- 
füllen —  dagegen  bei  deren  Systole  den  Eücktritt  des  Blutes  in  die 
Vorhöfe  und  Venen  verhindern;  dagegen  treiben  die  sich  zusammen- 
ziehenden Ventrikel  dasselbe  in  die  Aorta  und  in  die  Vena  arteriosa 
(Pulmonalarterie)  aus,  und  die  Arterienklappen  verhindern  den  Eück- 
tritt des  Blutes  aus  den  Arterien  in  das  diastolisch  erschlaffte  Herz. 
Das  gesamte  Blut  des  rechten  Ventrikels  wird  dabei  in  und  durch 
die  Lunge  getrieben  und  gelangt  durch  die  Arteriae  venosae  (Pulmonal- 
venen)  in  den  linken  Vorhof;  von  Durchlässigkeit  des  Saeptums  und 
Vermischung  des  Blutes  beider  Ventrikel  ist  keine  Kede.  Dieser 
Vollständigkeit  des  Blutdurchtrittes  durch  die  Lungen  entspricht  ein 
ebenso  vollständiger  Durchtritt  des  Blutes  durch  das  „Parenchym" 
der  Körperorgane  hinüber  in  die  Körpervenen,  durch  welche  dasselbe 
in  rein  centripetalem  Strome  zum  rechten  Vorhof  fliesst,  so  dass  im 
ganzen  das  Blut  „eine  Bewegung,  wie  im  Kreise"  vollführt. 
Wohinaus  sollte  sonst  das  Blut,  welches  das  linke  Herz,  eine  Portion 
bei  jedem  Schlage,  in  die  Aorta  treibt?  fragt  mit  Eecht  Harvey  die 
Galenisten.  —  und  wenn  man  jede  dieser  Portionen,  —  dasjenige  also, 
was  man  heutzutage  das  Schlagvolumen  nennt,  —  auch  noch  so  klein 
annimmt!  Und  wie  sollte  all  das  Blut,  welches  aus  den  Hohlvenen 
in  das  rechte  Herz  fliesst,  eben  erst  frisch  aus  der  Nahrung  erzeugt 
sein?  Der  Kreislauf  des  Blutes  dagegen  erklärt  eine  Fülle  von  Ver- 
suchsergebnissen, mit  denen  die  alte  Anschauung  nichts  anzufangen 
weiss,  —  so  die  Entleerung  des  Herzens  nach  Unterbindung  der  Hohl- 
venen, das  Anschwellen  einer  Extremität  nach  Kompression  ihrer 
Hauptvenen,  und  ihr  Blutleer-  und  Blasswerden  nach  Unterbindung 
der  Arterien,  die  Möglichkeit  der  Verblutung  des  Körpers  aus  einer 
einzigen  grossen  Vene;  die  von  ihrem  Entdecker,  dem  Lehrmeister 
Harveys,  Fabricius  ab  Aquapendente.  unverstandene  Be- 
deutung der  Venenklappen  wurde  mit  einemmale  klar:  sie  unterstützen 
die  Eückkehr  des  Blutes  zum  Herzen  I  Eine  Lücke  bleibt  freilich  vor- 
läufig noch  in  dem  Gesamtbilde  des  Blutkreislaufs  bestehen,  nämlich 
der  Mangel  an  genauer  Kenntnis  der  Uebertrittswege  des  Blutes  aus 
den  Arterien  in  die  Venen;  die  Existenz  solcher  vermochte  Harvey 
schon  durch  Injektionsversuche  mit  Flüssigkeiten  zu  beweisen,  ihre 
Gestalt  und  ihr  Wesen  zu  erkennen,  blieb  der  Anwendung  des  Mikro- 
skops vorbehalten,  welche,  wie  wir  sehen  werden,  erst  einige  Zeit 
später  erfolgte. 

Wie  V  e  s  a  1  als  Anatom,  so  hielt  auch  H  a  r  v  e  y  als  Physiologe  sich 
an  das  Sichtbare,  ohne  sich  viel  um  das  Unsichtbare  und  Hypothetische 
zu  kümmern;  die  drei  Arten  von  ..Geistern",  die  Spiritus  naturales, 
vitales  und  animales  haben  in  seiner  Kreislaufs  lehre  keinen 
Platz,  denn  in  dem  einheitlichen  Zirkel  kreist  ein  einheitliches  Blut. 
Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  die  Angriffe  einzugehen,  welche  Harveys, 
des  „Circulators"  [mit  boshaftem  Doppelsinn  für  ..Sch^nndler"  ge- 
braucht], rein  auf  die  Thatsachen  gegründete  Lehre  von  seifen  zahl- 
reicher, an  der  Ueberlieferung  mit  gutem  oder  schlechtem  Gewissen 
zäh   festhaltender  Gegner  erfuhr:   wie  schnell   sie   sich  Bahn  brach, 

rhellt  aus  der  raschen  Folge  der  Entdeckungen,  welche  das  Ver- 
iiiittelungswerkzeug  z\dschen  dem  Blute  und  den  Organen,  das 
Lymphsystem  betreffen,  und  die  ohne  das  richtige  Verständnis  der 
P>lutbewegung   kaum   gemacht   und   sicher  nicht   verstanden   werden 

^onnten.      1622    beschrieb    der    Professor    der    Anatomie    in    Pavia. 


336  Heinrich  Boruttau. 

Gasparre  Aselli  aus  Cremona,  die  von  ihm  bei  Gelegenheit  einer 
am  28.  Juli  des  betr.  Jahres  ausgeführte  Vivisektion  zuerst  richtig  er- 
kannten Chylusgefässe  (welche  von  anderen,  darunter  Harvey, 
wohl  schon  früher  gesehen,  aber  missdeutet  worden  waren)  in  der 
Schrift  „De  lacteis  venis,  quarto  vasorum  mesaraicorum  genere  nove 
invento  Dissertatio" ;  er  erkannte  das  Vorhandensein  von  Klappen  in 
ihnen  und  beschrieb  das  Lymphdrüsenpacket,  durch  welches  der  Chylus 
zunächst  hin  durchtritt,  als  „Pankreas"  [P.  Asellii],  nahm  aber  irrtüm- 
lich an,  dass  der  weitere  Weg  des  Chylus  in  die  Leber  führe;  erst 
1647  entdeckte  Jean  Pecquet  aus  Dieppe  [1622 — 1674;  später  Arzt 
daselbst  und  in  Paris]  als  Student  in  Montpellier  den  Ductus  Thoracicus, 
erkannte  dann  auch,  dass  in  ihm  der  in  der  Cysterna  Chjii  gesammelte 
weisse  Saft  weiter  fliesst  und  sich  in  dem  Jugulariswinkel  ins  Venen- 
blut ergiesst;  genau  von  ihm  beschrieben  in  den  1651  in  Paris  er- 
schienenen „Experimenta  nova  anatomica".  Dieselbe,  anscheinend  un- 
abhängig von  Pecquet  gemachte  Entdeckung  veröffentlichte  1652 
der  Holländer  van  Hörn. 

Ebensowenig  wie  um  dasjenige,  was  wir  jetzt  die  Zusammen- 
setzung und  die  chemischen  Veränderungen  des  Bluts  nennen,  kümmerte 
sich  Harvey  um  eine  exakte  mechanische  Untersuchung  des 
Kreislaufs.  Eine  solche  unternahm  aber  noch  um,  die  Mitte  des 
siebzehnten  Jahrhunderts  ein  durch  die  Vielseitigkeit  seiner  Leistungen 
bewundernswerter  Mann,  der  italienische  Mathematiker,  Phj^siker  und 
Physiologe  Bor  eil  i. 

Giovanni  Alfouso  Borelli,  gebox'en  zu  Neapel  am  28.  Januar  1608, 
studierte  in  E,om  unter  Benedetto  Castello  Mathematik,  war  Professor  dieser 
Wissenschaft  in  Messina  von  1640 — 1656  (mit  kurzer  Unterbrechung  durch 
eine  Reise  nach  Florenz  1642,  um  Galilei  zu  besuchen,  welcher  aber  noch 
in  diesem  Jahre  starb);  wurde  1656  durch  Ferdinand  von  Toscana  nach 
Pisa  berufen,  wo  er  mit  Redi  und  Malpighi  zusammenwu'kte  und  1657  die 
Accademia  del  Cimento  mitbegründete;  1668  kehrte  er  indessen  nach 
Messina  zurück,  von  wo  er  1674  wegen  Verdachts  der  Teilnahme  an  einem 
Aufstande  gegen  Spanien  nach  Rom  flüchten  musste,  war  dort  als  Privat- 
gelehrter mit  Unterstützung  der  Königin-Witwe  Christine  von  Schweden 
thätig,  verlor  aber  1677  durch  Raub  sein  geringes  Besitztum,  zog  sich  1677 
in  die  Bruderschaft  von  San  Pantaleone  m  Rom  zurück  und  starb  am 
31.  Dezember  1679. 

Physiologisches  Hauptwerk  ,.De  motu  animalium",  mit  Voricwt  des  Pater 
Carlo  Giovanni  da  Gesii  zuerst  erschienen  Leyden  1681.  Wegen  biogrophischer 
Litteratur  s.  den  Nachtrag. 

In  seinem  physiologischen  Hauptwerk  „De  motu  animalium", 
welches  schon  1662  verfasst  war,  aber  erst  nach  seinem  Tode  1680 — 81 
erschien,  ist  die  ganze  tierische  Bewegungslehre  bearbeitet;  darunter 
befinden  sich  beachtenswerte  Ansätze  zu  einer  Hämodynamik, 
in  welchem  neben  manchem  Irrtümlichen  sich  viele  wichtige  Grund- 
sätze ^um  erstenmal  richtig  dargestellt  oder  wenigstens  angedeutet 
finden,  so  vor  allem  die  Bedeutung  der  Elastizität  der 
Arterienwand  für  die  Gleichmässigkeit  der  Blutbe- 
wegung; dass  seine  Schätzungen  der  Herzarbeit  u.  s.  w.  zu 
unrichtigen  Werten  führten,  kann  für  jene  Zeit  kaum  Wunder  nehmen. 

Die  notwendige  Ergänzung  von  Harvey s  grossem  Werk,  sowie 
die  weiteren  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  vegetativen  Physiologie, 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendimg  auf  die  Mediziu  etc.       337 

blieben,  wie  schon  erwähnt,  der  Anwendung  eines  Werkzeugs  vor- 
behalten, welches  durch  die  Fortschritte  in  einem  anderen  Zweige  der 
Ph3'sik.  nämlich  der  Optik,  seine  hierzu  nötige  Vervollkommnung  er- 
hielt. Die  Erfindung  des  zusammengesetzten  Mikroskops 
wird  den  Holländern  Cornelius  Drebbel  il621i  und  Gebrüder 
Janssen  (angeblich  schon  1608'  zugeschrieben,  doch  benutzte  der 
grosse  autodidaktische  Mikroskopiker  L e  e u  w e n h o e k  (Anthony  van  L. 
aus  Delft  1632—1723)  noch  einfache  stark  vergrössernde  Linsen,  mit 
denen  er  bekanntlich  den  Bau  der  KrjstalUinse  erkannte,  die  Infusorien 
entdeckte  und  selbst  Bakterien  gesehen  und  richtig  gezeichnet  hat. 
ßecht  unvollkommene  Instrumente  waren  es  sicher  auch  noch,  mit 
welchen  die  anderen  grossen  Mikroskopiker  jener  Zeit  afbeiteten,  so 
vor  allem  der  Entdecker  der  Blutkörperchen  und  der 
r'apillaren.  Malpighi. 

Marcello  Malpighi,  geboren  am  10.  März  1628  zu  Crevalcore  bei 
Bologna,  studierte  daselbst  von  1645  ab.  wurde  1653  Doktor  der  Medizin 
und  Philosophie,  1656  Professor  der  Medizin,  ging  als  solcher  noch  im 
selben  Jahre  nach  Pisa,  1659  wieder  nach  Bologna  zurück,  1662  nach 
Messina,  1666  wieder  endgültig  nach  Bologna  zurück.  Er  ging  später  als 
päpstlicher  Leibarzt  nach  Rom,  wo  er  1694  gestorben  ist. 

In  seinen  ,,De  pulmonibus  observationes  anatomicae"  vom  Jahre 
1661  beschreibt  Malpighi  die  Lungenkapillaren,  \ne  sie  die 
von  ihm  genauer  erkannten  Lungenbläschen,  in  welchen  die  sich  ver- 
zweigenden Bronchien  schliesslich  endigen,  umgeben,  und  wie  der 
Blutstrom  durch  sie  hindurch  fliesst  aus  den  Verzweigungen 
der  von  ihm  bereits  als  solche  bezeichneten  Lungenarterie  in  die- 
jenigen der  (desgl.)  Lungenvenen.  Damit  war  von  der  dii'ekten  „Ver- 
mischung" von  „Spiritus  vitalis"  oder  Luft  mit  dem  Blute  auch  nicht 
mehr  die  Rede.  1668  beobachtete  auch  Leeuwenhoek  den  Capillar- 
kreislauf,  zuerst  gleichwie  Malpighi  am  Frosche,  dann  auch  an 
anderen  Amphibien  und  an  Fischen.  William  Cooper  in  London, 
F.R.C.P.  [1666—1709]  wies  ihn  auch  bei  der  Katze  nach.  Schon 
1665  sah  Malpighi  in  den  Mesenterialgefassen  die  Blut  kör  per, 
hielt  sie  aber  für  eingewanderte  Fettzellen,  wogegen  der  Amsterdamer 
likroskopiker  Joh.  S  wammer  dam  [1637—1680]  sie  schon  1658 
-iim  Frosch  sah  und  richtig  beschrieb,  welche  Entdeckung  allerdings 
ist  1738  in  des  Autors  „Biblia  Xaturae~  durch  Boerhaave  publiziert 
wurde. 

Malpighi  ist  auch  der  Entdecker  der  Pflanzenzellen, 

welche   er   in   seiner   Pflanzenphysiologie    gleichzeitig    mit   Robert 

Hooke   in   London  (1665)   beschrieb  und  als  „utriculi"  bezeichnete. 

lalpighis  weitere  Hauptverdienste  um  die  vegetative  Physiologie 

-ruhen  aber  auf  seinen  Arbeiten  über  die  mikroskopische  Anatomie 

er  drüsigen  Organe. 

Als  Drüsen  mit  Ausführungsgängen   sah  man  noch  zu  Vesals 

Zeiten  an  die  Nieren,   welche  den  wässerigen  Anteil  des  Blutes  ab- 

heiden  sollten,  der  als  Harn  sich  im  Nierenbecken  .sammle  und  durch 

•n  Harnleiter  weitergeführt  werde,  —  ferner  die  Leber,  welche  die 

lurch  die  Pfortader  und  nach  Aselli  auch   durch  die  Chylusge fasse 

iirekt  zugeführte  Nahrung  einer  Art  Gärung  unterziehen  sollte  (näheres 

ehe  weiter  unten),  wodurch  aus   ihr  das  Blut  gebildet  werden,  und 

-leich  dem  Schaum   und  der  Hefe   bei  der  ^^'eingärung  zwei  Arten 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.     Bd.  II.  22 


338  Heinrich  Boruttau. 

Galle  entstehen  sollten,  die  gelbe  Galle  der  Hippokratiker,  welche 
durch  die  Gallengänge  ausgeschieden  wird  und  in  der  Gallenblase  sich 
sammelt,  sowie  die  schwarze  Galle  der  Hippokratiker,  welche  durch 
venöse  Verbindungen  in  die  dritte  angebliche  Drüse  mit  Ausführungs- 
gang, die  Milz,  übergeführt  werden  sollte;  der  Ausführungsgang  der 
letzteren  sollte  die  von  ihr  veränderte  und  unschädlich  gemachte 
schwarze  Galle  in  den  Magen  führen,  wo  sie  beim  Verdauungsgeschäft 
mitwirke,  dann  den  Darm  passiere  und  den  Kot  färbend  ausgestossen 
werde.  Bereits  Vesal  spottet  über  diese  allen  anatomischen  That- 
sachen  zuwiderlaufende  physiologische  Phantasterei ;  indessen  hat  auch 
er  noch  nicht  die  Ausführungsgänge  der  Bauch-  und  Mundspeichel- 
drüsen gekannt.  Als  Drüsengebilde  fasste  man  damals  übrigens  nicht 
nur  die  ebenerwähnten,  sowie  die  jetzt  vielfach  als  Blutgefässdrüsen 
bezeichneten,  eines  Ausführungsgangs  thatsächlich  entbehrenden  Ge- 
bilde, Brust-  und  Schilddrüse,  sowie  die  Lymphdrüsen  auf,  sondern 
auch  die  graue  Hirnsubstanz,  ja  selbst  die  Zunge  und  das  Herzfleisch 
hielten  manche  für  drüsig.  Eine  wichtige  Vorbedingung  der  weiteren 
Fortschritte  auf  dem  Gebiet  der  Verdauungs-  und  Absonderungs- 
physiologie bildete  die  anatomische  Entdeckung  der  Ausführungsgäuge 
der  Speicheldrüsen:  desjenigen  der  Bauchspeicheldrüse  beim  Menschen 
durch  den  Bayern  Joh.  Georg  Wirsung  [1641;  Ductus  Wir- 
sungianus  =  pankreaticus ;  derjenige  des  Truthahns  kurz  vorher  durch 
Wirsungs  Studiengenossen  Hof  mann  entdeckt];  desjenigen  der 
Unterkieferdrüse  durch  Thomas  Wharton  aus  Yorkshire  [1610—73; 
Arzt  in  London;  Hauptwerk  ,, Adenographia  s.  glandularum  totius 
corporis  descriptio'' ;  Ductus  Whartonianus  =  submaxillaris] ;  desjenigen 
der  ünterzungendrüse  durch  den  jüngeren  Bartholin  [Caspar 
Bartholin  US  aus  Kopenhagen,  Sohn  des  Anatomen  Thoraas  Bar- 
tholin, 1616 — 1680,  Autor  grosser  Sammelwerke  über  die  Lymph- 
gefässe;  Ductus  Bartholinianus  =  subungualis] ;  endlich  desjenigen  der 
Ohrspeicheldrüse  durch  den  berühmten  dänischen  Forscher  Stensen 
[näheres  über  ihn  weiter  unten;  Ductus  Stenonianus  =  parotideus]. 
Die  Einsicht  in  die  Struktur  der  Drüsen  war  bereits  gefördert 
worden  durch  die  Arbeiten  Glissons  (Francis  Glisson,  1597 — 
1677,  Professor  in  Cambridge,  später  Arzt  in  London)  über  die  Leber 
(„Glisson sehe  Kapsel"),  deren  Zusammensetzung  aus  Läppchen 
(lobuli,  nicht  acini)  er  mit  genauer  Berücksichtigung  der  Gefäss- 
verteilung  beschrieb,  und  als  deren  Funktion  er  ansah,  die  abzu- 
sondernde Galle  von  dem  Blute  abzuscheiden,  durch  die  Wirkung  von 
verschiedenen  Teilen  des  Parenchyms,  welche  zu  dem  einen,  beziehent- 
lich anderen  Safte  grössere  Verwandtschaft  haben,  —  sowie  die  ganz 
analogen  Verdienste  von  LorenzoBellini  (aus  Florenz,  1643 — 1704 ; 
Professor  der  Anatomie  in  Pisa,  später  Leibarzt  Cosimos  III.  von 
Medici),  welcher  in  seinem  Buche  De  structura  renum  die  geraden 
Harnkanälchen  zuerst  richtig  beschrieb  und  als  Schüler  Boreliis 
eine  mechanische  Filtration  des  Harns  aus  dem  Blute  in 
die  Harnkanälchen  annahm.  Auch  Schneiders  (1614 — 80  Pro-  , 
fessor  in  Wittenberg;  „de  catarrhis";  Schneid  er  sehe  Membran)  ' 
Nachweis,  dass  die  Lymphgefässe  nicht  Drüsensekrete  führen,  war  von 
bleibender  Bedeutung. 

Malpighi  beschrieb  auf  Grund  mikroskopischer  Beobachtung 
die  Leber  acini,  das  Miteinanderverlaufen  der  Portalgefässe  und 
Gallengänge  in  der  Leber  und  wies  nach,  dass  die  Galle  nicht,  wie 


Geschichte  der  Physiol(^e  in  ihrer  Amreiidung  auf  die  Medizin  etc.       339 

manche  damals  behaupteten,  in  der  Gallenblase  gebildet  werde.  Er 
sieht  sie  als  Yerdauungssaft  an.  ohne  sich  zu  vagen  Behauptungen 
über  ihre  Funktion  im  einzelnen  versteigen  zu  wollen.  In  der  Niere 
entdeckte  er  die  ja  nach  ihm  als  Malpighische  Körperchen  be- 
zeichneten GlomerulL  erkannte  ihre  Struktur  und  ihren  Zusammen- 
hang mit  der  Nierenarterie  und  schrieb  ihnen  eine  wahi-scheinlich 
giosse  Bedeutung  für  die  Hanisekretion  zu.  Auch  die  Milz  unterwarf 
er  sorgtaltiger  mikroskopischer  Untersuchung,  erkannte  die  nach  ihm 
benannten  Körperchen  und  ihren  Zusammenhang  mit  dem  Gefässsystem, 
sowie  die  Trabekeln  und  ihre  Kontraktilität.  Man  kann  ohne  Üeber- 
treibung  sagen,  dass  Malpighi  für  die  Drüsenphysiologie  eine  histo- 
logische Grundlage  schuf,  welche,  abgesehen  von  einigen  Zusätzen 
(Injektionen  der  Nierengefässe  durch  Kuysch  —  Amsterdam,  1638 — 
1731 ;  Gegner  Malpighis  —  Nierenkanaluntersuchungen  Ferreins, 
1749  u.  a.)  bis  ins  neunzehnte  Jahrhundert  vorgehalten  hat.  In  Be- 
zug auf  die  Erklärung  der  Drüsen funktionen  konnten  die 
allgemeineren  Anschauungen  Vesals  wie  auch  Malpighis,  die 
spezielleren  ,.iatrophysischen"  Annahmen  der  Borellischen  Schule, 
endlich  Whartons  eigentümliche  Behauptung  eines  Zusammenhangs 
der  Nerven  mit  den  Drüsen,  welche  den  ^.Succus  nerveus"  (s.  unten) 
reinigen,  oder  etwas  zu  ihm  hinzuthun  sollten,  kaum  genügen:  hier 
ebenso  wie  für  die  V er d a nun gs Vorgänge,  welche  die  Alten  durch 
die  tierische  Wärme  für  genügend  erklärt  hielten,  war  die  Berück- 
sichtigung der  Chemie  unerlässlich. 

In  der  Würdigung   der  Bedeutung   dieser  Wissenschaft  für  die 

Medizin   trat  in  Paracelsus'   Fusstapfen   der  Brüsseler  Johann 

Baptist  van  Helmont  [geboren  1577  oder  78,  studierte  in  Löwen 

Philosophie,  dann  Jura  und  Cameralia.  wandte  sich  dann  zur  Botanik 

und  schliesslich  zm-  Medizin,  wui'de  1599  Doktor,  praktizierte  während 

der  Pest  in  Antwerpen  1605.  später  in  Brüssel,  starb  1644  in  Yilvorde] ; 

Paracelsist  in  Bezug  auf  die  mystische,   ..neuplatonische"  Auffassung 

der  Lebensprinzipien,  legte  er  besonderes  Gewicht  auf  chemische 

Untersuchungen  und  schuf  den  Begriff  des  „Gas",  neben 

velchem    der    mystischere   des    „Blas"    dem    Archaeus    des    Para- 

e  1  s  u  s  gleichend,  der  späteren  Lebenskraft  zu  entsprechen  scheint 

von  ihm  als  Mehrheit  unterschieden  —  Archaeus  insitus,  körperliche, 

egetative  Kraft,   und  Archaeus  influus,   göttliches,   die   somatischen 

und   psychLschen   Prozesse    regulierendes  Prinzip).      Sein    ,.Gas"    ist 

übrigens  unsere  Kohlensäure,  nicht  Luft;  ausser  dieser  letzteren  nimmt 

an  Helmont  als   zweites  Element  nur  noch  das  Wasser  an  und 

alt  das  ,.Gas"  irrtümlich   für  eine  besondere  Form  des  Wassers:  er 

ncht  nachzuweisen,   dass   die  Pflanzen  aus  Wasser  allein   bestehen, 

1  er  einen  Baum  in  200  Pfd.  trockener  Erde  durch  blosses  Be- 

f-u  mit  Wasser  von  16  Pfd.  auf  169  Pfd.  wachsen  lässt  und  zum 

" ihluss  das   Gewicht   der  getrockneten   Erde    wieder    genau    gleich 

J'X)  Pfd.  findet :  Dererstequantitative.  freilich  durch  die  feflende 

Berücksichtigung  der  Kohle  und  des  Sauei-stofFs  [und  dabei  war  die 

K'ohlensäure  das  in  anderen  Versuchen  von  Helmont  schon  so  richtig 

-ewürdigte  ..Gas*"!!]  mangelhafte  „St  off  Wechsel  versuch".     Van 

Helmont  berücksichtigte  natürlich  besondere  die  chemische  Seite  der 

V^-r-iauungsvorgänge:    Wie  schon  andere  vor  ihm,   vergleicht  er  die- 

n  mit  der  weingeistigen  Gärung:   er  verwirft  die  von  den  Alten 

Kommene  dreifache  Umwandlung  —  der  Nahning  in  die  spiritus 

22* 


340  Heinrich  Boruttau. 

naturales  (rohes  Blut)  durch  die  Leber,  dieser  in  die  Spiritus  vitales 
(arterielles  Blut)  durch  Lungen  und  Herz,  und  dieser  endlich  in  die 
Spiritus  animales  durch  das  Gehirn;  an  stelle  derselben  setzt  er  sechs 
„Verdauungs-"  oder  Gärungsvorgänge:  Der  erste  findet 
im  Magen  statt  (er  kennt  keine  Mund  Verdauung)  durch  ein  Fer- 
ment unter  Beihilfe  einer  Säure,  sowie  Mitwirkung  der  Milz; 
der  Speisebrei  wird  im  Duodenum  durch  Alkali  neutralisiert  und 
die  zweite  Verdauung  durch  ein  Ferment  der  Galle  fortgesetzt  (Un- 
kenntnis des  Pankreas);  die  dritte  Verdauung  in  den  Mesenterial- 
gefässen,  der  Leber  und  der  Hohlvene  macht  aus  der  Nahrung  Blut 
(entspricht  also  dem,  was  wir  jetzt  Assimilation  nennen),  und  zwar 
durch  die  Wirkung  zweier  von  der  Leber  gelieferter  Fermente;  die 
vierte  macht  aus  dem  dunklen  Blut  das  helle,  die  fünfte  verwandelt 
es  in  den  Lebensgeist  des  Archaeus,  welcher  endlich  sechstens  alles 
lebendige  Fleisch  bildet  und  schaö"t.  Van  Helmont  kennt  nicht 
—  oder  erkennt  nicht  an  —  die  Harveysche  Kreislaufslehre,  ihn 
kümmert  die  anatomische  Grundlage  der  Physiologie,  gleich  Para- 
c  eis  US,  viel  zu  wenig:  viel  gründlicher  in  dieser  Richtung  ist  der 
dritte  in  der  Reihe  und  Hauptbegründer  der  sog.  iatro- 
chemischen  Schule,  Sylvius. 

FraiiQois  de  le  Boe  oder  Dubois,  lateinisch  Franciscus  Sylvius,  geboren 
1614  in  Hanau,  studierte  in  Sedan  und  Basel,  wo  er  1637  promovierte, 
praktizierte  in  seiner  Vaterstadt  und  in  Amsterdam,  wurde  1658  Professor 
in  Leyden,  starb  dort  1672. 

Physiolog.  bedeutende  Werke:  „Exercitationes  medicae  de  primariis  corporis 
humani  functionibus" ,  Cöln  1675.  „Idea  praxeos  medicae",  1671.  Gesamtwerke 
zuerst  Amsterdam  1679. 

Er  suchte  die  chemischen  P>fahrungen  seiner  Zeit  mit  den  gale- 
nischen  physiologischen  Anschauungen,  aber  auch  mit  den  anatomischen 
Fortschritten,  insbesondere  der  Kreislaufslehre  Harveys  in  Einklang 
zu  bringen;  er  identifiziert  die  Verdauungsvorgänge  und 
„Fermentationen"  vollständig  mit  ein  fachen  chemischen 
Reaktionen,  wie  dem  Aufbrausen  und  Gasentweichen  beim  Auf- 
giessen  von  Säure  auf  Kalk.  Er  kennt  aber  schon  den  Speichel 
als  Verdauungssaft,  und  sein  Schüler  Regner  de  Graaf  aus 
Schoonhaven  (1641—1673)  entdeckt  1664  den  Pankreassaft. 
Sylvius  unterscheidet  eine  saure  und  eine  alkalische  Fermentation 
[ebenso  auch  pathologische  Schärfe  (acrimonia)  im  Blute,  doch  ist 
hier  nicht  der  Ort,  auf  die  pathologischen  Anschauungen  näher  ein- 
zugehen]. Vieussens  (De  natura  fermentationis,  1688),  Graaf  u.a. 
diskutieren  umständlich  die  Wirkung  der  Verdauungssäfte,  Magensaft, 
Galle  und  Pankreassaft,  auf  einander,  nach  Massgabe  dessen,  was  man 
sich  damals  von  dem  Wesen  der  „Gärungen"  eben  vorstellte:  die 
saure  Natur  des  Magensaftes,  die,  wie  schon  angedeutet, 
bereits  van  Helmont  so  richtig  erkannt  und  gedeutet  hatte,  wird 
wieder  bestritten;  im  Jahre  1677  beschreibt  Johann  Conrad 
Beyer  aus  Schaff  hausen  (1653 — 1712)  die  nach  ihm  benannten  Drüsen- 
haufen des  Darmes  und  entscheidet  sich  dafür,  dass  sie  sekretorischer 
Natur  (sog.  konglomerierte  Drüsen)  seien,  und  nicht  lymphatischer 
(sog.  konglobierte  Drüsen,  —  welche  Unterscheidung  bereis  Sylvius 
ganz  richtig  gemacht  hatte);  nachdem  ferner  Johann  Conrad 
Brunn  er  aus   Dieffenhofen   (1653—1727,    1687   als   Professor   nach 


I 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       341 


Heidelberg  berufen)  gezeigt  hatte  (Experimenta  nova  circa  pancreas, 
1682),  dass  Hunde  nahezu  vollständige  Pankreasexstir- 
pation  überleben  können,  wurde  die  Bedeutung  des  Pankreas 
wieder  geleugnet  und  auf  das  hypothetische  Sekret  der  Pey  er  sehen 
Haufen  und  der  von  Brunn  er  1687  beschriebenen  nach  ihm  be- 
nannten Drüsen  oder  ^j^pten.  den  famosen  Darmsaft,  übertragen. 
Auch  bei  der  Magenverdauung  wurde  bereits  von  selten  B  o  r  e  1 1  i  s  selbst 
und  seiner  „iatrophysischen"  Nachfolger  der  mechanischen  Zer- 
kleinerung der  Nahrung  ein  überwiegender  Einfluss  zu- 
gesprochen. Im  ganzen  vernünftige  Ansichten  über  die  Verdauungs- 
physiologie, z.  T.  auf  grund  fleissiger  eigener  Untersuchungen,  äussert 
Joh.  Bohn  aus  Leipzig  (1640 — 1718,  daselbst  Professor;  Exer- 
citationes  physiologicae  1668 — 1677). 

Die  Aufnahme  chemischer  Ueberlegungen  in  die  physiologische 
Forschung  bildet  eine  Vorbedingung  für  das  richtige  Verständnis  der 
Atmung.  Die  wirkliche  Bedeutung  der  Aufnahme  von  Luft  in  die 
Lungen  und  "Wiederaustreibung  derselben  durch  die  Atembewegungen, 
als  deren  Zweck  den  Alten  die  Abkühlung  des  Herzens,  beziehungs- 
weise des  Blutes  erschienen  war,  kam  ebenso  langsam  zum  Verständ- 
nis der  Aerzte,  wie  der  Mechanismus  der  Atembewegungen  selbst. 
Zwar  kannten  schon  Galen  wie  Vesalius  die  „künstliche 
Atmung".  —  sei  es  rhythmische  Thoraxkompression,  sei  es  Luft- 
einblasung in  die  Lungen  vermittelst  Blasebalges  zum  Zwecke  der 
Wiederbelebung  von  Tieren,  doch  zeigte  erst  1667  Robert  Hooke 
(1635 — 1702,  Assistent  Boyles,  später  Experimentalkurator  der  Royal 
Society),  dass  letztere  auch  bei  eröffneter  Brusthöhle,  ohne 
jede  Bewegung  der  Brustwand  wirksam  ist.  Schon  der  be- 
rühmte latrophysiker  Santorio  Santoro  (1561 — 1636.  Professor  in 
Padua  und  Venedig,  Erfinder  eines  Pulsüogium  und  anderer  künst- 
licher medizin-physikalischer  Apparate)  hatte  erkannt,  dass  das  Ge- 
wicht der  aufgenommenen  Speisen  und  Getränke  grösser 
sei  als  dasjenige  der  Exkremente  zusammen  mit  der 
etwaigen  Körpergewichtsdifferenz  —  erste,  wenn  auch  rohe 
und  falsche  Stoffwechselschätzung  beim  Menschen  und 
Tier,  vgl.  das  oben  bei  van  Helmont  bemerkte  —  und  für  den 
Unterschied  den  später  soviel  umstrittenen  Begriff  der  Perspiratio 
insensibilis  aufgestellt:  Ausscheidung  durch  die  Haut  und  die 
Lungen;  die  wirkliche  Bedeutung  dieses  letzteren  Organs  mochte  in- 
dessen Santoro,  gegen  dessen  Lebensende  erst  Harveys  Ent- 
deckung fällt,  ebensowenig  richtig  einschätzen,  wie  er  von  der  che- 
mischen Grundlage  der  „Ausdünstung"  eine  Ahnung  haben 
konnte.  Englischen  Forschern  des  siebzehnten  Jahrhunderts 
blieb  der  weitere  Einblick  vorbehalten:  Hooke  fand  weiterhin,  dass 
auch  gleichmässige  Durchlüftung  der  eventuell  durchlöcherten  Lunge, 
ohne  rhythmisches  Blasen,  das  Versuchstier  am  Leben  erhielt,  und 
Lower  [Richard,  aus  Cornwallis,  1631 — 1690,  Arzt  in  London, 
Schüler  von  Willis,  verdient  durch  ausgezeichnete  Forschungen  über 
das  Herz  (Tuberculum  Loweri)  und  den  Kreislauf]  machte  auf  das 
Hellrotwerden  des  Blutes  bei  der  künstlichen  Atmung, 
und  das  Dunkelwerden  bei  deren  Unterbrechung  ganz  be- 
sonders aufmerksam.  Ein  Zusammenhang  zwischen  Luft  und  Blut- 
farbe war  ja  allerdings  schon  länger  bekannt  (vgl.  das  früher  über 
Lionardo  da  Vinci  Bemerkte),  und  man  stritt  sich  nunmehr  darüber, 


342  ,  Heinrich  Borattau. 

ob  das  Blut  die  ganze  Luft  aufnehme  oder  nur  einen  Anteil  derselben, 
oder  ob  es  etwas  an  sie  abgebe,  oder  wie  es  sonst  durch  dieselbe  ver- 
ändert werde.  Der  Wahrheit  in  wunderbarer  Weise  nahe  kam  der 
englische  Advokat  John  Mayow  [geb.  1643  in  London,  1678  F.R.S., 
gestorben  1679],  dessen  chemische  Experimente  (berichtet  in  seinen 
Tractatus  quinque  physico  -  medici  etc.,  erschien  zuerst  Oxford  1669) 
ihn  zu  der  Erkenntnis  brachten,  dass  in  der  Luft  ein  eigentüm- 
licher Bestandteil  vorhanden  sei,  der  sich  auch  im  Sal- 
peter vorfinde  und  die  rasche  Verbrennung  des  Schiesspulvers 
verursache;  dieser  „spiritus  nitro-aereus"  (auch  ,.igneo-aereus")  sei 
das  „Pabulum  ignis^  des  grossen  Boyle,  sein  Verbrauch,  nicht  die 
Anwesenheit  des  Rauches,  verursache  das  Verlöschen  eines  Lichtes  in 
einer  geschlossenen  Flasche,  sein  Mangel  das  Ausgehen  der  Flamme 
und  den  Tod  des  Sperlings  im  Rezipienten  der  Luftpumpe  in 
Guerickes  und  Boyles  Versuchen;  dies  beweise  die  Thatsache, 
dass  in  dem  zweiten  Falle  das  Verlöschen  viel  schneller  stattfinde,  als 
in  dem  ersteren.  Dieser  Spiritus  nitro-aereus  verbindet  sich 
mit  jeder  „schwefligen"  (in  des  Basilius  Valentinus  Sinne,  d.  h. 
verbrennlichen)  Materie;  weil  er  im  Salpeter  enthalten  sei,  verbrenne 
ein  Gemisch  von  diesem  mit  Schwefel  auch  im  luftleeren  Räume. 
Durch  die  Verbindung  mit  ihm  wird  Antimon,  welches 
man  mit  Hilfe  des  Brennglases  an  der  Luft  verbrennt, 
nachweislich  schwerer.  Er  ist  es  aber  auch,  welcher  bei 
der  Atmung  vom  Tierkörper  verbraucht  wird:  Tier  und 
Licht  in  demselben  geschlossenen  Raum  verkürzen  sich  gegenseitig 
die  Lebens-  beziehungsweise  Brenndauer  durch  Verbrauch  desselben. 
In  einer  wasserabgesperrten  Glocke,  in  welcher  ein  Licht  brennt  oder 
ein  Tier  atmet,  steigt  das  Wasser:  der  verbrauchte  Spiritus  nitro- 
aereus  war  die  elastische  Kraft  („elater"),  welche  die  Luft  verloren 
hat.  Seine  Verbindung  mit  den  verbrennlichen  Teilen  des  Blutes  u.  s.  w. 
erzeugt  dessen  Wärme  und  die  tierische  Bewegung.  Man  sieht,  dass 
der  Spiritus  nitro-aereus  von  Mayow  nichts  anderes  als  unser  Sauer- 
stoff ist,  und  dass  dieser  Forscher  das  Wesen  der  Verbrennungs- 
und Atmungschemie  bereits  im  modernen  Sinne  völlig  richtig  erkannt 
hat;  doch  wurde  sein  Werk  vergessen  oder  wenigstens  falsch  ver- 
standen, und  erst  hundert  Jahre  später  gelang  es  Lavoisier.  die- 
selben Wahrheiten  wiederzufinden  und  durch  exakte  wägende  und 
messende  Versuche  zum  dauernden  Besitz  der  Wissenschaft  zu  machen. 
Während  nun,  wie  wir  sehen,  die  Forscher  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts auf  dem  Gebiete  der  vegetativen  Funktionen  ent- 
schieden bereits  viel  erreicht  haben,  kann  ein  gleiches  auf  dem  Ge- 
biete der  Bewegungen  und  Empfindungen,  bei  der  Schwierig- 
keit der  Forschung  auf  demselben  möchten  wir  geradezu  sagen  von 
vornherein  nicht  erwartet  werden.  Für  die  Sinnesphysiologie, 
insbesondere  diejenige  des  Gesichtssinnes,  waren  allerdings  die 
Arbeiten  der  grossen  Physiker  des  siebzehnten  Jahrhunderts  von 
eminenter  Bedeutung,  von  denen  man  geradezu  sagen  kann,  dass  sie 
die  physikalische  Grundlage  der  physiologischen  Optik 
geschafien  haben ;  auch  wichtige  Teile  dieser  selbst  entspringen  diesem 
Zeitabschnitt.  Nachdem  schon  Porta,  der  Erfinder  der  Camera 
obscura,  das  Auge  mit  dieser  verglichen  hatte,  gab  Kepler  (1571 — 
1630)  1602  einen  Grundriss  der  Dioptrik  des  Auges,  erkannte 
auch     die    Notwendigkeit    der    Akkomodation    (1604),    das 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       343 

Wesen  der  Eefraktionsanomalien  und  die  Wirkungsweise 
der  Brillengläser.  Der  Jesuitenpater  Scheiner  (1575 — 1650) 
zeigte  das  verkehrte  Bild  auf  der  Netzhaut  am  tierischen 
(1609)  und  menschlichen  Auge  (1625 1  und  gab  den  nach  ihm  be- 
nannten Versuch  über  die  Zerstreuungskreise  an.  Huyghens 
demonstrierte  alle  die  genannten  Dinge  an  einem  künstlichen 
Augenmodell;  was  desselben  grossen  Forschers,  wie  auch  Newtons 
optische  Arbeiten  im  übrigen  für  die  physiologische  Optik  be- 
deuten, braucht  hier  nicht  noch  besonders  betont  zu  werden.  Es  sei 
nur  daran  erinnert,  dass  Fr.  Ruysch  in  Amsterdam  (1638 — 1731) 
die  Netzhaut  entdeckte,  an  der  sehi-  bald  Leeuwenhoek  —  der 
ausserdem,  wie  schon  erwähnt,  den  Bau  der  Kristalllinse  eingehend 
untersuchte  —  trotz  seiner  primitiven  Mikroskope  die  Stäbchen- 
schicht  deutlich  unterscheiden  konnte.  Wenn  auch  die  gröber-ana- 
tomischen  Verhältnisse  des  Gehörapparates  durch  die  verdientesten 
Anatomen  jener  Zeiten  (Eustachius,  Scarpa,  Folius,  Glaser, 
Rivinus  u.  viele  andere)  schon  genau  erkundet  waren,  so  konnte 
indessen  bei  dem  damaligen  Stande  des  betreffenden  Gebietes  der 
Physik  und  mangels  mikroskopischer  Kenntnis  des  eigentlichen  nervösen 
Aufnahmeapparats  von  einer  physiologischen  Akustik  in  unserem  Sinne 
damals  noch  nicht  die  Rede  sein;  noch  schlimmer  stand  es  um  die 
sog.  niederen  Sinne. 

Die  Kontraktilität,  Zusammenziehung  der  Muskeln,  welche 
als  Ursache  aller  tierischen  Bewegung  von  alters  durchaus  nicht  klar 
erkannt  worden  war.  wurde  als  solche  erst  1652  von  de  Marchettis 
festgestellt,  und"  zwar  an  der  peristaltisch  sich  kontrahierenden  Darm- 
muskulatur; doch  hielt  man  damals  die  Sehnen  und  das  zähfaserige, 
später  als  intei-stitielles  Bindegewebe  erkannte  Material  für  das  eigent- 
lich kontraktile  und  das  rote  Muskelfleisch  für  zur  Ernährung  des 
ei"Steren  bestimmt,  ein  Irrtum,  welchen  schon  Vesal  bekämpft  hatte, 
mit  welchem  aber  erst  Steno  endgültig  aufräumte. 

Niels  Stensen  (Nicolaus  Steno)  wurde  am  10.  Januar  1638  in  Kopen- 
hagen geboren,  studierte  in  seiner  Vaterstadt,  in  Leyden  und  Amsterdam, 
woselbst  er  den  Ausführungsgang  der  Parotis  entdeckte  (s.  oben),  reiste  in 
Deutschland,  Frankreich  und  Italien,  wurde  1666  in  Florenz  Leibarzt 
Ferdinands  II.  und  Cosimos  III.  von  Medici,  liess  sich  1677  zum  katho- 
lischen Priester  weihen,  ging  dann  als  Professor  nach  seiner  Vaterstadt 
zurück,  wo  er  aber  nur  kurze  Zeit  wirkte;  er  lebte  dann  in  Hannover  und 
Schwerin  als  Asket  bis  zu  seinem  1686  erfolgten  Tode. 

Physiolog.  Werke:  „Observationes  anafotnicae"  etc.,  Leyden  1662.  „De  mits- 
"lis  et  glanduUs  observationnm  spedmen"'.  Kopenhagen  1664.  „Discours  sur  l'ana- 
>mie  du  cerveau'-',  abgedr.  in  Winslou:s  Exposition  anatomique,  Paris  1732.  „Ele- 
t'intoi-um  myologiae  specimen^,  Kopenh.  1667. 

Stensen  gab  das  makroskopische  Bild  von  dem  Bau  des  Muskels, 
im  wesentlichen  wie  wir  es  jetzt  besitzen;  dasselbe  A^nirde  ange- 
:ionimen  von  Boreil i,  welcher  in  den  entsprechenden  Kapiteln  seines 
.:T0ssen  Werkes  ,.De  motu  animalium"  ^j  den  ersten  wahrhaft 
wissenschaftlichen  Versuch  einer  allgemeinen  Muskel- 
physiologie gab.  Die  bewegende  Wirkung  der  Muskeln  beruht 
nach  ihm  auf  ihrer  Verkürzung  und  Verdickung ;  doch  nahm  er,  durch 

>)  Bd.  n,  Kap.  1—3. 


344  Heinrich  Boruttau. 

oberflächliche  Betrachtung  des  sich  kontrahierenden  Herzens  („Wand- 
verdickung  und  Verkleinerung  der  Ventrikel  bis  zum  buchstäblichen 
Verstreichen  ihrer  Höhlung")  getäuscht,  an,  dass  das  Volumen  des 
Muskels  bei  der  Kontraktion  zunehme.  Er  bekämpft  nun 
aber  weiterhin  die  Annahme,  dass  diese  Volumzunahme  oder  „Auf- 
blasung" durch  hineintretende  Luft  oder  die  aus  den  Nervenröhren 
kommenden  Spiritus  bewirkt  werde ;  der  Impuls  vom  Nerven  her  giebt 
nach  ihm  vielmehr  nur  die  Veranlassung,  dass  chemische  Prozesse 
(„Fermentationes")  im  Muskel  entstehen,  welche  die  Ursache  der 
Volumänderung  sind. 

Die  Volum  zun  ahme  des  Muskels  bei  der  Thätigkeit  wurde 
nun  aber  widerlegt  durch  Glisson  auf  grund  eines,  in  seinem 
Buche  De  Ventriculo  beschriebenen  volumetrisclien  Versuchs  mit  dem 
Arm  eines  lebenden  Menschen,  welcher  ihm  eher  Volumverminderung 
bei  der  Kontraktion  ergab.  Er  schrieb  als  erster,  in  seinem 
1672  erschienenen  Buche  De  natura  substantiae  energetica,  dem 
Muskelgewebe  „Reizbarkeit",  Irritabilitas,  zu,  freilich 
nicht  in  dem  spezifischen  später  von  H  a  1 1  e  r  verteidigten  Sinne,  viel- 
mehr war  bereits  ihm,  als  Vorläufer  der  modernen  allgemeinen  Physio- 
logen, die  Reizbarkeit  eine  allgemeine  Eigenschaft  jedweder 
lebendigen  Substanz. 

Was  im  Anschlüsse  hieran  die  spezielle  Bewegungslehre 
betrifft,  so  ist  ihre  Ausbildung  nach  Massgabe  der  damals  vorhandenen 
anatomischen,  mathematischen  und  mechanischen  Grundlagen  ja  gerade 
die  Lebensaufgabe  und  das  ureigenste  Verdienst  Borellis  gewesen. 
Die  ausführlichen  Darstellungen  der  Mechanik  der  Skelettmuskulatur, 
der  Lokomotionsprinzipien  bei  Mensch  und  Tieren  in  seinem  Haupt- 
werke De  motu  animalium  können  heute  noch  mit  Interesse  gelesen 
werden ;  was  an  ihnen  unrichtig  sein  niusste,  ^)  konnte,  wie  wir  sehen 
werden,  erst  dem  Scharfsinn  der  Gebrüder  Weber  und  der  graphischen 
Technik  der  letzten  Jahrzehute  weichen. 

Die  Wirkungsweise  der  peripherischen  Nerven  stellt 
sich  das  siebzehnte  Jahrhundert  meist  nicht  mehr  in  der  grobsinn- 
lichen Weise  der  Alten  als  mechanische,  wie  diejenige  von  Klingelzügen 
vor,  sondern  sie  sind  Röhren,  in  welchen,  sei  es  die  Spiritus  animales, 
sei  es  ein  besonders  gearteter  Saft,  Succus  nerveus,  Succus  spirituosus 
fliesst  oder  wenigstens  sich  bewegt :  denn  auch  der  anatomischen  That- 
sache,  dass  eine  wirkliche  röhrenartige  Aushöhlung  der  Nerven  eben 
doch  nicht  zu  konstatieren  ist,  trägt  z.  B.  Borelli  Rechnung  durch 
Annahme  einer  schwammigen  Struktur  (analog  z.  B,  dem  Hollunder- 
mark),  welche  mit  dem  Nervensaft  durchtränkt  sei,  der  an  dem  Orte 
der  Erregung  in  eine  schwingungs-  oder  stossartig  sich  fortpflanzende 
Bewegung  versetzt  werde,  so  dass  an  dem  Erfolgsorte  nur  einige 
Tropfen  des  „Spiritus"  aus  der  Nervenröhre  austreten,  welche  (durch 
chemische  Einwirkung  gedacht)  die  Muskelkontraktion  in  Gang  setzen. 
Eine  derartige  Einrichtung  vermochte  ja  auch  in  genügender  Weise 
die  normalerweise  doppelsinnige  Leitung  zu  erklären,  welche  man 
den  heute  als  gemischt  erkannten  Nerven  damals  zuschrieb,  als  von 
einer  anatomischen  Trennung  beider  Faserarten  in  ihnen  und  Ver- 


^)  So  versetzt  Borelli  die  den  Körper  horizontal  vorwärts  stemmende  Wirkung 
der  Extensoren  beim  Gehen  ganz  in  die  Zeit,  in  welcher  beide  Füsse  den  Boden  be- 
rühren ! ! 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       345 

folgung-  ihrer  Bahnen  in  die  Centralorgane  nicht  die  Rede  sein  konnte.^) 
Wir  gelangen  hiermit  zu  der  Geschichte  der  Physiologie  des 
Centraine rvensystems  in  dem  in  Rede  stehenden  Jahr- 
hundert, mit  deren  Besprechung  diejenige  der  psychologischen 
und  allgemein-physiologischen  Anschauungen  notwendig 
verbunden  ist. 

Nachdem,  wie  seinerzeit  Galen,  bereits  Vesal  über  die  Funk- 
tionen des  Centralnervensystems  recht  vernünftige  und  uns  modern 
erscheinende  Ansichten  geäussert  hatte,  unter  Bewahrung  grösster 
Reserve  hinsichtlich  des  Zusammenhangs  der  psychischen  Erschei- 
nungen mit  der  Hirnthätigkeit,  erscheinen  uns  die  Aeusserungen 
Descartes'  und  van  H e  1  m o n t s  als  verwunderliche,  phantastische 
Spekulationen.  Das  Altertum  liess  aus  dem  Pneuma  oder  dem  im 
linken  Herzen  mit  den  Spiritus  vitales  gesättigten  arteriellen  Blute, 
welches  durch  die  Carotiden  zum  Kopfe  aufsteigt,  im  Gehirn  die 
Spiritus  animales  sich  bilden;  das  Wie?  liess  Vesal  offen;  Mal- 
pighis  unglücklicher  histologischer  IiTtum,  welcher  einen  drüsigen 
Bau  des  Gehirns  nachgewiesen  zu  haben  glaubte,  liess  das  Gehirn 
als  Drüse  [wie  den  pathologischen  Schleim,  der  durch  das  Siebbein 
als  Schnupfen  —  rheuma  ex  cerebro,  Fluss  vom  Gehirn  —  in  die 
Nase  filtrieren  sollte,  nach  dem  erst  von  Schneider  beseitigten  (s.  o.) 
hartnäckigen  Aberglauben]  die  Spiritus  animales  sezernieren; 
sie  sammeln  sich  in  den  Hirnventrikeln  und  fliessen  von  hier  aus  in 
die  Nerven !  Descartes,  welcher  von  allen  diesen  Dingen  in  seinem 
Buche  „De  homine*'  eine  eingehende,  leider  eben  rein  spekulative, 
ad  hoc  ersonnene  und  jeder  anatomischen  Grundlage  bare  Beschreibung 
giebt  vergleicht  das  Nervensystem  dabei  mit  einer  Wasserkunst  mit 
Reservoiren  und  Röhren,  deren  Spiel  von  einem  centralen  Punkte  aus 
reguliert  werden  kann;  diese  Centralstelle  verlegt  er  in  die 
Zirbeldrüse  (Glandula  pinealis),  welche  für  ihn  der  Sitz  der 
„vernünftigen  Seele",  anima  rationalis,  ärae  raisonnable,  ist, 
welche  lediglich  beim  Menschen  vorhanden  und  gött- 
lichen Ursprungs,  die  vollkommene  Maschine  beherrscht,  die  im 
übrigen  der  menschliche  Körper  ebenso  gut  darstellt,  ^vie  jeder 
tierische,  nur  dass  die  Tiere  die  „vernünftige  Seele"  eben  nicht  be- 
sitzen. Hierin  ist  Descartes  eben  durchaus  Dualist,  während  sein 
philosophisches  Grundprinzip,  dass  jede  Erklärung  von  der  Erfahrung 
unserer  Sinne  auszugehen  hat  (cogito,  ergo  sum)  sich  in  der  Erkennt- 
nis seiner  Richtigkeit  von  selten  der  grössten  Denker  der  Neuzeit  — 
Kant,  Schopenhauer,  Mach  —  seine  Bedeutung  als  Grundlage 
des  modernen  „Monismus"  erkämpft  hat.  -)  Indem  er  aber  die  „Seele" 
als  Voraussetzung  aller  „willkürlichen",  „bedachten"  Handlung  dem 
Tiere  absprach,  dessen  Centralnervensystem  doch  auch  seine,  nach 
Descartes  „willenlosen",  rein  maschinenmässigen  Handlungen  ver- 
mittelt,  gelangte   er  zu  einer  exakten  Definition  solcher  auch  beim 

*)  Speziell  Bor  eil  i  unterscheidet  von  dem  der  Leitung  dienenden  Succus 
spirituosus  einen  ernährenden  „Succus  nerveus  nntritivus",  welcher  in  wirklichen 
kapillaren  Röhren  im  Innern  der  Nerven  nach  den  von  diesen  versorgten  Organen 
fliesst  und  für  deren  Erhaltung  ein  wesentliches  heiträgt  (die  his  heutzutage  so  eifrig 
diskutierte  „trophische  Nervenwirkung"). 

*)  Verworn  (Allg.  Physiologie,  3.  Aufl.,  Einleitung  S.  15)  sieht  sich  fast  zu 
der  Annahme  verführt,  dass  hereits  Descartes  im  Herzen  Monist  gewesen  sei  und 
sein  Dualismus,  resp.  die  Vindizierung  der  besonderen  unsterblichen  Seele  für  den 
Menschen,  nur  eine  Konzession  an  die  damals  allmächtige  Kirche. 


346  Heinrich  Boruttaii. 

Menschen  ohne  Eingreifen  des  Willens  —  der  „vernünftigen  Seele"  — 
stattfindenden  Vorgänge,  die  wir  noch  heute  mit  ihm  als  Reflex- 
aktionen  bezeichnen,  mit  einem  Bilde,  welches  ausdrücken  soll,  dass 
der  Nervenimpuls,  der  vom  Sinnesorgan  dem  Centralnervensystem 
zugeleitet  wurde,  wie  ein  vom  Spiegel  zurückgeworfener  Lichtstrahl, 
d.  h.  nach  einem  feststehenden  Gesetze  zur  Peripherie  zurückkehre 
und  daselbst  das  Erfolgsorgan  in  Thätigkeit  versetze.  Dass  hin-  und 
rückwärts  stets  getrennte  Bahnen  benutzt  werden,  diese  Erkenntnis 
blieb,  wie  wir  sehen  werden,  einer  weit  späteren  Zeit  erspart;  das 
Beispiel  indessen,  an  welchem  bereits  Descartes  den  Reflex  exempli- 
fiziert, nämlich  der  reflektorische  Lidschlag  auf  Lichteinfall  ins  Auge, 
bietet  den  Vorteil,  in  den  betreff'enden  Hirnnerven  direkt  makro- 
skopisch getrennte  Bahnen  zu  demonstrieren.  Aber  auch  die  phan- 
tastische Lokalisierung  der  Seele  in  der  Zirbeldrüse  ist  nicht  ohne 
bedeutungsvolle  Folgen  geblieben:  indem  man  sich  später  bemühte, 
einen  „passenderen"  Sitz  der  Seele  zu  suchen,  ward  hieraus  die  Frage 
nach  dem  „lebenswichtigen  Teile"  des  Centralnerven- 
system s ,  in  ihrem  Gegensatze  zu  einer  „Lokalisation"  der  psychischen 
Funktionen,  welche  zunächst  versucht  wurde,  und  zwar  von  dem  zu 
seiner  Zeit  angesehensten  Neurologen  (wenn  man  ihn  schon  so  nennen 
darf)  des  siebzehnten  Jahrhunderts,  nämlich  von  Willis. 

Thomas  Willis  aus  Great  Bedwyn,  geb.  den  27.  Jan.  1621,  studierte 
in  Oxford,  wurde  1642  Magister  Artiura,  beschäftigte  sich  von  1846  ab  mit 
Medizin,  wurde  nach  der  Wiederherstellung  des  Königreichs  Sedleian  Pro- 
fessor und  Mitbegründer  der  Royal  Society,  ging  1666  nach  London,  wo  er 
am  11.  Nov.  1675  starb.  Sein  zu  seinen  Lebzeiten  weitverbreiteter  und 
vielbeneideter  Ruhm  beruhte  anscheinend  mehr  auf  geschickter  Benutzung 
fremder  litterarischer  und  experimenteller  Arbeit  (so  seines  Schülers  Lower) 
als  auf  wirklich  bedeutenden  eigenen  Leistungen. 

Physiolog.  toichUge  Werke:  ..Diatribae  duae,  I  de  fermentatione.  II  de 
febribus^  etc.,  zuerst  Haag  1659.  „Cerebri  anatome,  aii  accessit  nervorum  descriptio 
et  usus",  Lond.  1664.  „Affectiomim  hysteric.  etc.  pathologia  spasmodica  vindicata; 
acc.  exerc.  medico-physicae  duae  de  sanguinis  accensione  et  de  motu  musculari'^, 
Lond.  1670.  „De  anima  brutarum  exercitationes  duae^,  Oxford  1672.  Gesamt- 
werke  zuerst  Genf  und  Lyon  1676. 

Willis  verdankt  die  Anatomie  des  Centralnervensj'Stems  ent- 
schieden wertvolle  Ergebnisse  (sein  Name  erhalten  im  Circulus 
arteriosus  Willisii  und  im  Nervus  recurrens  Willisii);  für  die  Physio- 
logie desselben  kann  er  als  Vater  des  Lokalisations- 
gedankens  bezeichnet  werden,  d.h.  er  machte  den  ersten  Versuch, 
die  Hirnfunktionen  zu  trennen  und  in  verschiedene  Hirnteile  zu 
verlegen,  —  nämlich  die  Sinneswahrnehmung  in  die  Corpora  striata, 
die  Vorstellung  in  den  Balken,  das  Gedächtnis  in  die  Windungen  der 
Grosshirnhemisphären ;  dieser  Lokalisation  der  Geistesthätigkeit  gegen- 
über suchte  er  den  Sitz  des  tierischen  Instinkts  in  den  Thalami  optici 
und  Corpora  quadrigemina  und  die  Beherrschung  der  lebenswichtigen 
Funktionen  (Herz,  Atmung,  Darmbewegung)  im  Kleinhirn !  Abgesehen 
von  der  letztgenannten  Annahme,  zu  welcher  die  bereits  bekannt  ge- 
wordene Tötlichkeit  der  Durchschneidung  der  Vagi,  deren  Ursprung 
Willis  ins  Kleinhirn  verlegte,  auch  pathologische  Befunde  und  rohe 
Tierversuche  einigermassen  zu  berechtigen  schienen,  in  welchen  zu- 
sammen   mit    dem   Kleinhirn    auch    das   verlängerte    Mark    verletzt 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       347 

wurde,  —  waren  Willis'  Annahmen  auf  reine  Spekulation  gegründet, 
so  dass  es  kaum  Wunder  nimmt,  wenn  ihr  bald  andere  nicht  minder 
seltsame  Behauptungen  gegenübergestellt  wurden:  Vieussens  [Raj— 
mond,  aus  Montpellier,  1641 — 1717,  verdient  um  die  Herzanatomie 
und  Pathologie:  Traite  des  causes  des  mouvements  du  coeur;  „Ansa 
Vieusseni",  „Isthmus  Yieusseni"]  verlegt  den  Sitz  der  Seele  in 
die  weisse  Substanz  der  Hemisphären  —  „Centrum 
s emiovale  Vieusseni",  offenbar  auf  grund  von  Sektionsbefunden 
bei  Apoplexie,  wie  sie  auch  von  Johann  Jakob  Wepfer  [aus 
Schaffhausen,  1620 — 1695],  von  Willis  und  eudlich  von  Lancisi  be- 
obachtet und  in  Spezialwerken  beschrieben  wurden;  der  letztgenannte 
(Giovanni- Maria  Lancisi  aus  Eom,  1654 — 1720,  päpstlicher 
Leibarzt)  sucht  den  Sitz  der  Seele  [Buch  „De  sede  cogitantis 
animae",  1718]  im  Balken  und  weist  der  von  Descartes  bevor- 
zugten Zirbeldrüse  eine  untergeordnete  Stelle  zu.  Diese  Lancisi  sehe 
Hypothese  glaubte  der  französische  Chirurg  La  Peyronie  [1648 — 
1747]  durch  chirurgisch-pathologische  Erfahrungen  stützen  zu  können ; 
erst  die  experimentellen  Bemühungen  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
machten  all  dem  Schwindel  ein  Ende,  welcher  zuvor  seine  Höhe  er- 
reichte in  der  aus  missverstandenen  Beobachtungen  über  die  sog. 
Pulsation  des  Gehirns  abgeleiteten  TheoriePacchionis  [Antonio 
P.,  1665 — 1726.  Schüler  Malpighis;  „De  durae  matris  fabrica  et 
usu",  Rom  1701],  dass  die  Dura  aktiv  sich  bewege  und  den 
Nervensaft  im  Kreislauf  erhalte,  so  wie  das  Herz  auf  das 
Blut  wirke!  Dieser  Theorie  hatte  sich  angeschlossen  der  berühmte 
latrophysiker  Giorgio  Baglivi  [aus  Ragusa,  1668 — 1 707 ;  studierte 
in  Neapel,  von  1696  an  Professor  in  Rom],  ein  Mann,  welcher  theoretisch 
alle  Lebensvorgänge  physikalisch  deutete  oder  wenigstens  allegorisierte, 
alle  normalen  Bewegungen  wie  auch  pathologischen  Vorgänge  von  dem 
Nervensystem  abhängen  Hess  („Nervosismus"),  im  praktischen  ärzt- 
lichen Handeln  dagegen  sich  um  Theorie  überhaupt  nicht  kümmerte, 
sondern  rein  empirisch  verfuhr. 

Die  Zeugungs lehre  und  Entwicklungsgeschichte  hat 
mit  den  übrigen  Fortschritten  der  Anatomie  und  Phj'siologie  im  sieb- 
zehnten Jahrhundert  durchaus  Schritt  gehalten.  Die  alte  aristotelische 
Anschauung,  wonach  das  Säugetierindividuum  sich  aus  der  Vereinigung 
des  männlichen  und  des  weiblichen  „Samens"  entwickelt,  definitiv 
widerlegt  zu  haben,  ist  Harveys  Verdienst,  welcher  in  seinen,  dem 
Kreislaufsbuch  ebenbürtigen  „Exercitationes  de  generatione  Animalium" 
iLondon  1651)  die  Urzeugungslehre  bekämpft  und  feststellt,  dass 
alle  Geschöpfe  aus  Eiern  hervorgehen,  „omne  vivum  ex  ovo"!  Diese 
Eier  glaubte  bei  den  Säugetieren  zu  erkennen  Regnier  de  Graaf 
s.  oben)  in  den  von  ihm  entdeckten  und  jetzt  nach  ihm  benannten 
Eierstocksfollikeln.  Malpighi  beschrieb  1687  (s.  oben)  in  vorzüg- 
licher Weise  die  Entwicklung  des  Hühnchens,  S  wammer  dam  die 
Furchung  des  Froscheies.  Dieser,  sowie  Francesco  Redi  (aus 
Arezzo,  1626 — 1694)  bestätigten  Harveys  Lehre  an  vielen  Beispielen 
aus  der  niederen  und  höheren  Tierwelt.  Der  Student  J  o  h.  Harn  aus 
Arnheim  entdeckte  1677,  unter  Leeuwenhoeks  Leitung  arbeitend, 
die  Spermatozoen,  welche  in  der  Folge  zunächst  als  „Samentierchen", 
Animalcula  seminis,  angesprochen  wurden.  Den  Streit,  ob  aus  ihnen 
oder  aus  den  Eiern  das  neue  Individuum  hervorgehe  („Animalculisteu 
und  Ovisten")   entschied   Antonio  Vallisneri  (1662—1730,   Pro- 


348  -  Heinrich  Bornttau. 

fessor  in  Padua)  in  seiner  Storia  della  generazione  etc.  experimentell 
durch  Darstellung  der  Bedeutung  des  Eies  in  der  Entwicklung. 

Anhang: 

Kurzer  bibliographischer  Uini/reig  betreffend  die  Physiologie  des 
16.  und  17.  Jahrhunderts. 

Varigny,  JT,  de,  La  philosophie  biologique  aux  17  et  18  silcles.    Revue  scienti- 

fique,  T.  48;  1888. 
Foüter,  M.,  Lectures  on  the  history  ofphysiology  in  the  16"^,  17^^  and  18"*  centnries. 

Cambridge  1901. 
Pinto,  G.,  i  fisiologi  Olandesi  nel  17^»  e  18"^o  secolo.    Boll.  delVAccad.  med.  di 

Roma,  vol.  19;  1893. 
Derselbe,  Alfonso  Borrelli  e  la  medicina  iatromeccanica  in  Italia  nel  secolo  17^**o. 

Ebenda,  vol.  7;  1881. 
St.-Gerinain,  B.  de,  Descartes  comme  physiologiste  et  comme  medecin,  Paris  1869. 
Baas,  Jos.  H.,   William  Harvey  u.  s.  iv.,  Stuttgart  1878. 
Paget,  J.,  Zum  Andenken  an  Marcello  Malpighi.    Deutsche  medizinische  Wochen' 

Schrift,  .Jahrg.  1894. 

Im  übrigen  wird  durchaus  auf  die  am  Eingang  dieses  Abschnitts  genannte 
hio-  und  bibliographische  Litteratur  verwiesen. 


III. 

Das  achtzehnte  Jahrhundert  und  seine  Wende. 

In  einer  verhältnismässig  kurzen  Spanne  Zeit,  kaum  anderthalb 
Jahrhunderten  hatten  die  Natur-  und  medizinischen  Wissenschaften 
einerseits  eine  so  vielseitige  und  detaillierte  Bereicherung  erfahren, 
dass  das  Bedürfnis  nach  einer  ruhigeren  Periode  sich  geltend  machte, 
in  welcher  die  erworbenen  Schätze  festgehalten  und  systematisch  ge- 
ordnet werden  konnten,  und  andererseits  war  der  Erfolg  der  An- 
wendung der  neu  erstandenen  Physik  und  Chemie  auf  Physiologie  und 
Pathologie  ein  so  berauschender  gewesen,  dass  mancher  sich  vermass, 
mit  rohen  und  unentwickelten  Vorstellungen  alles  erklären  zu  können 
—  die  extremen  Auswüchse  der  iatrophysischen  und  iatrochemischen 
Richtungen  —  und  auf  so  vermessenes  Unternehmen  schwere  Ent- 
täuschung und  mit  ihr  die  Reaktion,  der  Rückschlag  in  eine  mehr 
weniger  extreme  Mystik  erfolgen  musste.  Hierher  gehört  die  „Mona- 
dologie" Gottfried  Wilhelm  Leibniz',  des  gi'ossen  deutschen 
Philosophen,  welcher  im  übrigen  durch  seinen  Idealismus,  seine  mathe- 
matischen Leistungen  (Erfindung  der  Infinitesimalrechnung)  und  sein 
Interesse  für  alle  naturwissenschaftlichen  und  medizinischen  Arbeiten, 
seinen  regen  Verkehr  mit  den  seinerzeit  grössten  Vertretern  dieser 
Gebiete,  mittelbar  auch  für  unsere  Wissenschaft  fruchtbringend  ge- 
wirkt hat.  Hierher  gehört  aber  vor  allem  das  System  Stahls,  des 
Chemikers  und  Arztes,  welcher  den  drei  grossen  „Systematikern"  der 
Medizin  zugerechnet  wird:  Friedrich  Hoff  mann  [aus  Halle,  1660 — 
1742,  daselbst  Professor  von  1694  ab  mit  kurzer  Unterbrechung  bis 
an  sein  Lebensende],  Stahl  und  H  e  r  m  a  n  n  B  o  e  r  h  a  a  v  e  [1668—1738, 
dauernd  in  Leyden,  daselbst  Professor  seit  1713]. 

Georg  Ernst  Stahl,  geboren  1660  zu  Ansbach,  studierte  in  Jena,  war 
Hofarzt    in  Weimar,    wurde  gleichzeitig    mit   HofFmann  1694   Professor  in 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       349 

Halle,   entzweite  sich  später  mit  jenem  und  ging  1716  als  preussischer  Leib- 
arzt nach  Berlin,  wo  er   1734  starb. 

Haupticerli :  Tlieoria  medica  vera  etc.,  Halle  1707.  Phlogisfontheorie  in: 
.Zymotechnica  fundamentalis  s.  fermentatioiiis  theoria  generalis  etc.',  ebenda  1697. 

Stahl  nahm  an,  dass  alle,  auch  die  scheinbar  einfachsten 
phj'sikalischen  und  chemischen  Vorgänge  in  dem  be- 
lebten Wesen  grundsätzlich  andere  seien,  als  in  der 
leblosen  Welt,  indem  sie  von  einer  „empfindenden  Seele", 
anima  sensitiva,  geleitet  werden  („Animismus"),  welche, 
gi'undverschieden  von  der  „vernünftigen  Seele"  des  Cartesius,  die 
eben  den  Menschen  vor  dem  Tiere  auszeichnen  sollte,  an  Hippo- 
krates"  (pvoiz  und  Paracelsus'  und  van  Helmonts  Archaeus 
erinnert ;  sie  ist  überall  in  allem  Lebendigen  vorhanden  und  schändet 
daraus  mit  dem  Tode ;  sie  ist  der  Vorläufer  der  späteren  „Lebenkraft" ; 
Stahl  ist  nach  den  Ausschreitungen  der  latrophysiker  und  -Chemiker, 
der  erste  „Vitalist".  Diese  Stellungnahme,  welche  zunächst,  in  Reaktion 
gegen  den  herrschenden  Materialismus,  jede  nicht  transscendente 
Funktionserklärung  verwirft,  wui'de  indessen  gerade  für  die  Weiter- 
entwicklung der  Xervenphysiologie  zum  befruchtenden  Ferment,  indem 
ihre  späteren  gemässigteren  Anhänger  den  Bestrebungen,  die  Seele 
oder  das  Lebensprinzip  an  einem  Punkte  des  Centralnervensystems  zu 
lokalisieren,  eifrigst  entgegentreten  und  Tierversuche  veranlassten, 
welche,  wie  wir  sehen  werden,  für  die  Entwicklung  der  Eückenmarks- 
physiologie  und  Eeflexlehre  von  weittragender  Bedeutung  waren. 
Wenn  man  Optimist  sein  will,  mag  man  wohl  etwas  Aehnliches  sagen 
von  der  anderen,  gegen  früher  schon  dagewesenes  (Mayowi  rein 
reaktionären  Lehre  Stahls  auf  dem  Gebiete  der  Chemie:  es 
ist  dies  eine  ihm  anscheinend  von  seinem  Jenenser  Lehrer  Johann 
Joachim  Beccher,  dessen  Physica  subterranea  er  selbst  1703  mit 
Zusätzen  herausgab,  überkommene  Theorie  der  Verbrennung, 
welche  besagt,  dass  alle  verbrennlichen  Körper  einen  besonderen 
„Feuerstoff",  das  „Phlogiston"  enthalten  und  ihn  bei  der  Ver- 
brennung abgeben,  somit  leichter  werden  und  nicht  schwerer,  wie 
loch  schon  Mayow  nachgewiesen  hatte  u.  s.  w.  Es  bedurfte  über 
tines  halben  Jahrhunderts,  bis  die  Wissenschaft  von  dieser,  alle  that- 
sächlichen  Verhältnisse  auf  den  Kopf  stellenden  Irrlehre  glücklich 
befreit  wurde. 

Des  diitten  grossen  „Systematikers",  des  liebenswürdigen  und  er- 
folgreichen Praktikers  und  begeisterten  und  gelehrten  Medizinhistorikers 
Hermann  Boerhaave  würdiger  Schüler  ist  der  bedeutendste  Ver- 
treter unserer  Wissenschaft  im  18.  Jahrhundert,  der  gemeiniglich  mit 
Recht  als  Schöpfer  der  modernen  Experimentalphysiologie  angesehene 
..grosse"  Hall  er. 

Albrecht  von  Haller  wurde  geboren  am  18.  Oktober  1708  in  Bern 
als  vierter  Sohn  eines  dortigen  Rechtsanwalts ;  er  soll  bereits  als  Kind  sehr 
begabt  gewesen,  Beobachtungs-,  Sprach-  und  dichterisches  Talent  gezeigt 
und  vor  allem  grossen  Sammeleifer  bewiesen  haben.  Er  verlor  mit  13  Jahren 
seinen  Vater,  lernte  mit  fünfzehn  bei  einem  Arzte  in  Biel,  bezog  1723  die 
Universität  Tübingen,  1725  Leyden,  wo  er  sich  an  Boerhaave  und  den 
jüngeren  Albinus  (Anatomen)  anschloss,  auch  den  90  jährigen  Ruysch  be- 
suchte. Er  promovierte  1727  auf  Grund  einer  Dissertation  gegen  Coschwitz, 
Professor    in  Halle,    welcher   einen    neuen  Speichelgang    entdeckt   zu  haben 


350  Heinrich  Boruttau. 

fälschlich  glaubte.  Dann  reiste  er  nach  England  und  Paris,  trieb  1728  und 
29  in  Basel  bei  Bemouilli  Mathematik  und  vertrat  auch  den  erkranktou 
Anatomen  Mieg.  1730  nach  Bern  zurückgekehrt,  praktizierte  er  und  trieb 
Privatstudien,  bis  er  1736  durch  Georg  II.  von  England,  Kurfürsten  von 
Hannover  und  Braunschweig,  an  die  neugegründete  Universität  Göltingeu 
als  Professor  der  Anatomie,  Botanik,  prakt.  Medizin  und  Chirurgie  berufen 
wurde.  Hier  begründete  er  Anatomie,  botan,  Garten,  Entbindungsanstalt  u.  a., 
beteiligte  sich  wesentlich  an  der  Gründung  der  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften, deren  Vorsitzender  Sekretär  er  bis  an  sein  Lebensende  blieb  und 
deren  „Commentarii"  er  herausgab.  Er  lehnte  mehrere  Berufungen,  u.  a. 
durch  Friedrich  den  Grossen  nach  Berlin  ab,  kehrte  aber  1753  nach  Bern 
zurück,  teils  aus  Kränklichkeit,  teils  aus  Heimweh  und  Ehrgeiz  nach  Amts- 
stellungen  in  seinem  Vaterlande,  deren  er  mehrere  bekleidete  (Ammann, 
Salzwerksdirektor  in  Roche,  Mitglied  des  grossen  Rats  u.  s.  w.).  Er  starb 
am  12.  Dezember  1777  in  seiner  Vaterstadt.  Haller  war  dreimal  verheiratet. 
Es  ist  hier  nicht  der  Ort  seine  Bedeutung  als  Botaniker,  als  Volkswirt- 
schaftler, endlich  als  Dichter  und  Roman-  und  Reiseschriftsteller  näher  ein- 
zugehen ;  doch  sei  auf  seine  ausserordentliche  Vielseitigkeit,  bei  der  natürlich 
manches,  insbesondere  seine  praktisch  medizinische  und  chirurgische  Wirk- 
samkeit immer  mehr  zurücktreten  musste,  noch  ganz  besonders  hingewiesen. 

Physiologische  Sammehverke  A.  v.  Hallers: 

1.  Commentarii  ad  H.  Bocrhaave  praelectiones  acaclemicas  et  snas  rei  mcdicae 
instittitiones.    4  Bände.    Erste  Aufl.,  Gott.  1739 — 1744. 

2.  Icones  anatomicae  (Anatom.  Atlas  in  7  Heften),  Gott.  1745 — 1754. 

3.  Primae  lineae  Physiologiae  (Grundriss  der  Physiologie),  1.  Aufl.,  Gott.  1747, 
oft  aufgelegt  und  in  4  Sprachen  übersetzt. 

4.  Elementa  Physiologiae  Corporis  humani.  8  Bände,  Lausanne  und  Bern 
1759—1766. 

5.  De  partium  corporis  humani  fäbrica  et  functionibus.  Unvollendete  NcAi- 
hearbeitung  des  vorigen.    6  Bände  erschienen,  Bern  1777 — 78. 

Berühmteste  Monographien: 

1.  De  respiratione  experimenta  anatomica,  Pars  I  und  II,  Glitt.  1746  u.  1747.' 

Auch  Französisch.  i 

2   De  motu  sanguinis  per  cor,  Gott.  17.^       \  ^^-^^^  ^^^j^  p 

3.  De  motu  sanguinis  corollaria,  Gott.  1754  / 

4.  De  partibus  corporis  humani  sentientibus  et  irritabilibus.  Commenta 
Gott.  1753.  In  5  Sprachen  übersetzt;  franz.  auch  erweiterte  Ausgabe  mit  Versucht 
j/rotokollen.    Zusätze.     Comm.,  Gott.  1773  u.  1774. 

5.  De  formatione  pulli  in  ovo,  Gott.  1757,  1758.    Auch  Französ. 
Sonstige  physiol.  etwa  ivichtige  Schriften  sind  im  Text  citiert. 

H  a  1 1  e  r  ist  der  grösste  medizinische  Polyhistor,  den  es  je  gegeben 
hat  und  speziell  epochemachend  durch  seine  sachlich  und  litterariscU 
erschöpfenden  anatomischen  und  physiologischen  Sammelwerke,  welche 
weiteres  Zurückgehen  auf  die  litterarischen  Quellen  früherer  Zeit  teils 
aufs  äusserste  erleichtern,  teils  ganz  überflüssig  machen.  Bei  ihm  ist 
die  Physiologie  mit  der  Anatomie  noch  untrennbar  ver- 
bunden, die  Physiologie  ist  ihm  Anatomia  animata,  er  will  von  ihrer 
Lostrennung  nichts  wissen  (Vorrede  zu  den  Elementa  Physiologiae). 
und  doch  ist  er  der  erste  gewesen,  der  sie  gewissermassen  selb- 
ständig gemacht  hat  durch  die  ganz  besondere  Betonung  (ebenda) 
der  Bedeutung  des  Experiments  am  lebenden  Tier,  deren 
er  zahllose  angestellt  hat.  Darum  haben  auch  seine  Elementa  Physio- 
logiae, das   erste,  klassische  grosse  Handbuch  unserei'  Wissenschaft. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Auw-eudung  aiif  die  Medizin  etc.       351 

einen  durchaus  ..modenien"  Charakter,  und  man  findet  in  ihm  alles 
auf  Grund  der  anatomischen  Untersuchung  (auch  Histologie,  doch  war 
Mikroskopieren  mit  stärkeren  Vergrösserungen  H  a  1 1  e  r  ziemlich  fremd), 
einfachen  Beobachtung  und  Vivisektion  mit  Anwendung  der  damals 
vorhandenen  Reizmittel  u.  s.  w.  Erreichbare  in  auch  heute  noch  voll- 
gültigen "Worten  beschrieben,  litterarisch  belegt  und  kritisch  be- 
sprochen. Was  bei  dem  damaligen  Stande  der  Chemie,  der  Physik 
und  insbesondere  physikalischen  Technik  (elektrische,  optische  u.  s.  w. 
Hilfsmittel  i  nicht  besser  erkannt  werden  konnte,  ist  natürlich  unrichtig 
oder  mangelhaft. 

Die  Hämodynamik,  deren  Anfänge  wir  bei  H a r v e y ,  Bellini 
und  Borelli  gefunden  haben,  erfuhr  eine  wesentliche  Förderung 
durch  die  Versuche  des  englischen  Geistlichen  Stephen  Haies 
[geb.  1677  zu  Bekesbourne  in  Kent,  gest.  1761  in  Teddiugton],  welcher 
auch  durch  pflanzenphysiologische  Arbeiten  und  hygienische  Vorschläge 
sich  verdient  gemacht  hat;  seine  Haemastatics  [erschienen  1732  als 
zweiter  Band  der  Statical  Essays]  enthalten  die  Ergebnisse  seines 
klassischen  Unternehmens,  den  hydrostatischen  Druck  des 
Blutes  durch  Einbinden  eines  gläsernen  Steigrohrs  in 
die  Arterie  des  lebenden  Tieres  zu  bestimmen.  Haller 
führt  in  seinen  Elementa  diese  Ergebnisse  nicht  bei  der  Besprechung 
des  arteriellen  Seitendrucks,  sondern  als  „Bestimmung  der  Herzkraft"  ^i 
an  und  scheint  auch  sonst  Haies  nicht  genügend  zu  würdigen.  Er 
selbst  bespricht  ausführlich  die  Bestimmung  der  Kreislaufszeit.  ')  kennt 
den  Einfluss  der  Schwerkraft  und  der  Atembewegungen  auf  den  Blut- 
strom in  den  Venen,  '•^)  widerlegt  die  behauptete  Selbststeuerung  des 
Coronarkreislaufs  [welche  Kontroverse  sich  im  19.  Jahrhundert  trotz- 
dem wiederholte,  Hyrtl  contra  Brücke],  stellt  die  Automatie  des 
Herzens  fest,  wovon  weiter  unten  noch  die  Rede  sein  wird.  Bei  der 
Besprechung  des  Herzstosses  betont  er,  anders  als  H  a  r  v  e  y  ( s.  früher) 
die  Formveränderung  des  Herzens. 

Hai  1er  gebührt  das  Verdienst,  die  Mechanik  der  Atem- 
bewegungen  richtig  erkannt  zu  haben.  Einen  für  ihn  höchst 
verdriesslichen  Streit  mit  dem  Jenaer  latromathematiker  G.  E.  H  a  m  - 
berger  [1697  —  1755],  welcher  angeblich  ursprünglich  nach  Göttingen 
hatte  berufen  werden  sollen  und  deshalb  gegen  H  a  1 1  e  r  doppelt  miss- 
günstig war,  entschied  er  dahin,  dass  nicht,  wie  Hamberger  und 
viele  Aelteren  fest  und  steif  behaupteten,  in  dem  Pleuraraum  zwischen 
Lunge  und  Brustwand  Luft  enthalten  sei  und  die  atmende  Lunge  sich 
selbständig  kontrahiere,  dass  vielmehr  der  Pleuraraum  nur  eine 
kapillare  Spalte  sei,  die  Lunge  mit  ihrem  visceralen  Pleuraüberzug 
überall  der  costalen  Pleura  dicht  anliege:  es  gelang  ihm  nämlich 
dieses  letztere  unmittelbar  vor  Augen  zu  bringen,  indem  er  am  lebenden 
Tiere  die  Pleura  costalis,  ohne  sie  im  geringsten  zu  verletzen,  von 
den  darüberliegenden  Weichteilen  so  vollständig  befreite,  dass  die 
Lunge  durchschimmerte;'')  er  zeigt,  dass  die  Lunge,  weil  elastisch, 
bei  der  Einatmung  sich  passiv  erweitert,  indem  sie  dem  Zuge  des 
Thorax  und  Zwerchfells  folgt.    Diesen  letzteren  wichtigen  Muskel 

')  Vol.  III,  S.  453. 

*)  Vol.  II.  S.  345. 

»)  ebenda.  S.  332,  340. 

*)  Vol.  I.  S.  393. 

*j  De  respiratione  experimenta  anatomica. 


352  Heinrich  Boruttau. 

hat  er  in  seinem  anatomischen  Baue  sehr  genau  beschrieben,  \)  ebenso 
dürfte  er  in  dem  zweiten  Streitpunkte  gegenüber  Ham berger  im 
Rechte  damit  geblieben  sein,  dass  alle  Intercostalmuskeln  inspiratorisch 
wirksam  sind  (wenn  überhaupt!).  Auch  die  Physiologie  der 
Stimme  und  Sprache,  um  welche  der  schon  gewürdigte  Willis 
sich  bedeutende  Verdienste  erworben  hatte,  ist  in  seinen  Elementa,  -) 
soweit  es  der  damalige  physikalische  Standpunkt  gestattete,  in  vorzüg- 
licher Weise  und  selbst  mit  linguistischen  Details  abgehandelt.  ^)  Leider 
fehlt  ihm  die  Chemie  der  Atmung ;  in  dem  Dunkel  der  Phlogistontheorie 
befangen,  würdigt  er  Mayows  Buch,  das  er  übrigens  citiert,  nicht; 
„salpetrige"  Dünste  im  Blute  können  für  ihn  und  seine  Zeitgenossen 
höchstens  krankhafte  Verunreinigungen  sein ;  *)  er  kennt  keine  Blutgase 
und  unterschätzt  den  Unterschied  zwischen  arteriellem  und  venösem 
Blut:"*)  freilich  kennt  er  den  Eisengehalt  des  Blutes,  über 
welchen  er  seinen  Schüler  Rh a  des  eine  Dissertation  schreiben  lässt") 
und  bringt  ihn  mit  der  roten  Farbe  in  Zusammenhang.  Für  ihn  verliert 
die  Luft  durch  die  Atmung  ihren  „Elater"  (ihre  Elastizität,  s.  weiter 
oben)  und  bringt  dem  Blute  beziehungsweise  Körper  etwas  Nützliches 
zu,  doch  was,  das  weiss  er  nicht  recht.  Nicht  viel  besser  geht  es 
ihm  bei  der  Besprechung  der  Funktion  der  Verdauungssäfte,  die 
übrigens,  soweit  nicht  die  mangelhaften  chemischen  Kenntnisse  jener 
Zeit  stören,  vortrefflich  ist  und  gegen  früher  manchen  Fortschritt  er- 
kennen lässt.  Die  Thätigkeit  der  Speicheldrüsen  auf  Nerveneinfluss  (Ge- 
schmacks- und  Geruchsreize,  Stahl,  de  Borden  u.  a.)  will  ihm 
nicht  recht  einleuchten,  wenngleich  er  eine  gewisse,  in  künstlichen 
Versuchen  schwer  konstatierbare  „Reizbarkeit"  (vgl.  unten)  dieser 
Organe  zugiebt ; ')  der  Speichel  ist  ihm  weder  alkalisch  noch  sauer, 
er  kennt  seine  stärkeverdauende  Wirkung  noch  nicht  und  sieht  seine 
Funktion  nur  in  der  Formung  und  Schlüpfrigmachung  des  zu  schlucken- 
den Bissens.^)  Die  Drüsen  der  Magenschleimhaut  liefern  nach  ihm 
nui'  Schleim ;  der  Magensaft  ist  nur  eine  Art  Transsudat  der  Arterien, 
weder  alkalisch  noch  sauer,  sondern  neutral ;  Säure  ist  es  nicht,  welche 
die  Verdauung  zu  stände  bringt,  sondern,  wenn  vorhanden,  so  stammt 
sie  aus  abnormer  Zersetzung  des  Mageninhalts,  auch  der  Name  des 
Fermentes  passt  ihm  nicht  recht  für  die  Wirkung  des  Magensaftes, 
welche  übrigens  durch  die  „zerreibenden"  Magenbewegungen  sehr 
wesentlich  unterstützt  werden.  ^)  Als  eine  der  ihm  übrigens  noch 
nicht  genügend  bekannten  verschiedenen  Funktionen  des  Pankreas- 
saftes  erscheint  ihm  die  Neutralisierung,  „Milderung"  der  Galle,  in 
welcher  er  einen  speziellfürdieFettebesonders  wirksamen 
Verdauungssaft  erblickt,  die  sofort  emulgiert  werden,  und  was 
er  dui'ch   Gallenausschaltungsversuche   noch  besonders   beweist;    die 


')  De  diaphragmate,  Gott.  1741. 

2)  Vol.  III,  S.  366. 

')  Auffälligerweise  erkennt  er  nicht  die  glottisöffuende  Funktion  des  Crico- 
arytaenoideus  lateralis. 

*)  Freilich  hatte  Mayow  selbst  den  Spiritus  nitro-aereus  in  den  sauren  Fieber- 
schweissen  zu  erkennen  geglaubt! 

*)  Vol.  II,  S   10. 

«)  Gott.  1753. 

')  Elementa,  Bd.  6,  S.  57. 

*)  ebenda,  S.  61. 

«)  ebenda,  S.  227—239. 


Gescliichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       353 

Galle  ist  für  ihn  kein  Exkret.  ^)    Er  betont  besonders,  dass  die  Galle 
von   der  Leber  erzeugt  wird  und  nicht  von  der  Gallenblase,  was  die 
Gallenproduktion  bei  Tierarten  ohne  Gallenblase  beweise,  eine  Gelegen- 
heit für  ihn,  um  die  Wichtigkeit  der  vergleichenden  Physio- 
logie zu  betonen,    als  deren  Vater  Hall  er  mit  Eecht  gelten  darf. 
Sehr  interessant   ist  seine  im  Anschluss  an  die  Verdauungslehre  ge- 
gebene   Besprechung   der   Nahrungsmittel,-)    sowie    seine   litterarisch 
urgründliche  Darstellung  des  Baues  und  der  Funktionen  der  Nieren; 
natürlich   entspricht    das  Kapitel   über   den  Harn   den   mangelhaften 
I    Kenntnissen   jener  Zeit.    Anatomisch  ganz  vorzüglich,   besser  als  in 
'    funktioneller,  insbesondere  physikalischer  Hinsicht,  ist  in  den  „Ele- 
j    menten"    die   Sinneslehre,    obschon   Hai  1er   selbst   hierzu   noch   am 
;    wenigsten  Neues   beigetragen  hat.    Die  Verdienste  Hallers   um  die 
i    allgemeine  Muskelphysiologie  sind  untrennbar  von  denjenigen  um  die 
I   Physiologie  des  Nervensystems,  indem  es  sich  um  die  Einführung 
eines  Begriffs  handelt,   welchen  vor   ihm  schon  Glisson,   wenn 
auch  in  ganz  anderem,  modern-weiterem  Sinne  aufgestellt  hatte  (siehe 
oben)  und  zwar  hier  als   ausschliessliche  Eigenschaft  der 
\  Muskeln,  nämlich  der  Reizbarkeit  oder  ..Irritabilität",  im 
Gegensatz  zum  Empfindungsvermögen  oder  der  ,.Sensi- 
bilität",   welche  Haller  ausschliesslich   den  Nerven    und 
den  mit  solchen  versehenen  Organen  zuschreibt.    Er  ge- 
langte zu  dieser  Anschauung  durch  unzählige  Tierversuche,  über  deren 
Ergebnisse  er   unter  dem  Titel  „De  partibus  corporis  sentientibus  et 
irritabilibus"  (s.  oben)  der  Göttinger  Sozietät  berichtete,  und  welche 
fast  alle  in  der  gleichen  einfachen  Weise  angestellt  waren,   dass  er 
das   betreffende  Organ   am  lebenden  Tier  vorsichtig   entblösste   und 
dann,  wenn  das  Tier  völlig  ruhig  geworden  war,  durch  Kneifen,  Ein- 
stechen eines  Skalpells  oder  chemische  Mittel  (konzentrierte  Säuren, 
Antimonbutter)  möglichst  lokal  reizte,   so  dass  benachbarte  Partien 
nicht  mitbetroffen  wurden.    Er  konstatierte  so,  dass  nur  die  Muskel- 
substanz sich  aktiv  zusammenzieht,  was  er  eben,  wie  schon  erwähnt, 
als   die  „Reizbarkeit"   oder  „Irritabilität",  als   eine  spezifische  vitale 
Eigenschaft   dieser  Substanz  bezeichnet,   ohne  dafür  eine  bestimmte 
Erklärung  zu  wissen:   in  dem   betreffenden  Kapitel   der  Elementa*^ 
berichtet   er  natürlich  sorgfältigst   über   alle   älteren  „Theorien  der 
Muskelkontraktion",  wie  wir  jetzt  sagen  würden.    Er  betont,  dass  der 
Nerv  keinerlei  eigene  Kontraktilität  besitzt  noch  sich  irgendwie  aktiv 
bewegt,  wie  immer  wieder  behauptet  worden  w^ar,  berichtet  über  aUe 
Vorstellungen  vom  AVesen  der  Nervenfunktion,   wobei  er  die  damals 
zuerst  auftauchenden  elektrischen  Hypothesen  ablehnt,  vielmehr  für 
ts  Fliessen   des  nervösen  Spiritus   und  zwar  in  wirklichen  Röhren, 
■  icht   in   schwammiger   Substanz   (nach  Borelli  s.  oben)   eintritt*) 
fndem  er  bei  seinen  Reizversuchen  nun  auf  Schmerzäusserungen  und 
\bwehrbewegungen  der  Tiere  achtet,  findet  er,  dass  die  „Sensibilität" 
'r  einzelnen  Organe  von  ihrem  Nervenreichtum  abhängt:  die  ^Muskel- 
iiiche  besitzen  sie  auch  neben  ihrer  ..Irritabilität",  nicht  aber  (nach 
inen  meist  chemischen  Reizversuchen)  die  Seimen  und  Gelenke,  nur 


ehenda,  S.  605. 
Bd.  6,  S.  188-258. 
Bd.  4,  S.  532-542. 
ebenda,  S.  357—388. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  11.  23 


I 


354  Heinrich  Boruttau. 

in  geringem  Masse  das  Peritoneum:  Die  Unvollkommenheit  seiner 
Methodik  bedingte,  dass  er  hier  vielfach  zu  weit  ging,  so  besonders 
bei  seinen  Eeizversuchen  an  den  Hirnhäuten  und  dem  Gehirn.  Nach- 
dem schon  der  Engländer  Ridley  1703  gezeigt  hatte,  dass  die  Hirn- 
bewegung auch  nach  partieller  Zerstörung  der  Meningen  fortdauert, 
ausser  ihm  Fantoni  (Giovanni,  1675—1758)  und  Santorini 
(Domenico,  1681 — 1737)  in  Italien  gegen  das  Baglivi-Pac- 
chionische  Hirngespinst  aufgetreten  waren,  hatte  der  holländische 
Arzt  Schlichting  um  1750  gezeigt,  dass  die  pulsatorische 
Hirnbewegung  von  dem  Einflüsse  der  Herzthätigkeit 
und  der  Atembewegung  herrührt,  leider  aber  sich  zur  An- 
nahme einer  anderen  Art  aktiver  Hirnbewegung  verführen  lassen, 
welche  erst  durch  den  Pariser  Professor  Lorry  (1725 — 1786)  wider- 
legt wurde,  der  hinwiederum  aber  auch  die  pulsatorische  Hirnbewegung 
für  pathologisch  hielt  [über  Lorrys  Verdienste  um  die  Physiologie 
des  Kopfmarks  siehe  weiter  unten].  Genauer  präzisiert  wurde  dann 
die  Entstehung  des  Hirnpulses  durch  die  venöse  Rückwärtsstauung 
seitens  Hallers  ')  und  in  von  ihm  freilich  nicht  anerkannter  Priorität 
durch  den  Franzosen  Lamure.  Auf  Grund  mangelhafter  z.  T.  auch 
von  seinen  Schülern  Zinn  und  Zimmermann  mit  gleichem  Erfolge 
angestellter  Versuche  leugnetHaller  aber  auch  die  Sensibilität 
derDura  mater,  ebenso  diejenige  der  grauen  Hirnrinde, 
von  welcher  aus  er  nur  in  einem  einzigen  Hunde  versuch  Krämpfe  auf 
chemische  Reizung  eintreten  sah;  dagegen  erhielt  er  positive  Ergeb- 
nisse bei  jeder  Art  Reizung  der  weissen  Markmasse,  die  aber  eben  so 
roh  ausgeführt  wurde  (Einstechen  von  Nadeln  oder  säuregetränkten 
Holzstäbchen),  dass  es  nicht  wunder  nehmen  kann,  wenn  er  immer 
die  gleichen  Effekte  —  Hinfallen  der  Tiere  mit  Krämpfen  und 
Schmerzäusserungen  =  unseren  wohlbekannten  epileptischen  Anfällen 
bei  zu  starker  Rindenreizung  —  erhielt  und  sich  darum  gegen  jede 
Lokalisation  der  Hirnfunktionen,  zu  welcher,  wie  wir  oben 
sahen,  bereits  Ansätze  vorlagen,  aussprach.  ^)  Er  erkannte  aber,  dass 
in  vorsichtigen  Versuchen  das  Kleinhirn  sich  durchaus  ebensowenig 
als  lebenswichtiges  Organ  zeigt,  wie,  selbst  bei  schweren  Verletzungen, 
das  Grosshirn,  und  gab,  auf  Lorrys  hierüber  angestellte  wichtige 
Versuche,  sowie  seines  eigenen  bedeutenden  Schülers  Joh.  Gott  fr. 
Zinn  (1727 — 1759)  Drängen  hin  die  Wichtigkeit  des  ver- 
längerten Marks  zu,  doch  stets  unter  Betonung  dessen,  dass 
eine  lebenswichtige  Hirnstelle  nicht  auch  „Sitz  der 
Seele"  sein  müsse.  =^)  Es  ist  ein  dieser  Bemerkung  gleichwertiges 
Verdienst  Hallers,  dass  er,  wie  schon  angedeutet,  die  prinzi- 
pielle Unabhängigkeit  der  Herzthätigkeit  vomCentral- 
nervensystem  strikt  nachgewiesen  und  besonders  be- 
tont hat,  dass  die  Ursache  der  durch  das  ganze  Leben  hindurch 
fortdauernden  rhythmischen  Thätigkeit  in  dem  Herzen 
selbst,  dem  „reizbarsten"  aller  tierischen  Gebilde,  gelegen  ist:*) 
indem  er  auf  diese  Weise  einerseits  der  früher  Mode  gewesenen 
engen  Lokalisierung  des  „Lebensprinzips"   entgegentrat,  andererseits  i 


^)  Elem.,  Bd.  4,  S.  171. 
2)  ebenda,  S.  338  ff. 
')  ebenda,  S.  349  ff. 
Elem.,  Bd.  1,  S.  488  ff. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       355 

sich  zu  den  Anhängern  der  Lehre  Stahls  in  absichtlichen  direkten 
Gegensatz  stellte,  denen  ein  unabhängig  von  der  Anima,  vom  Central- 
nervensystem  losgetrennt  funktionierendes  Organ  undenkbar  schien,  hat 
Hall  er  seine  Zeitgenossen  und  Nachfolger  zu  eifriger  Diskussion 
angeregt,  in  welcher  seinem  Vorbild  entsprechend  reichlich  und  all- 
mählich immer  vollkommener  angestellte  Tierversuche  schliesslich  zu 
den  Wahrheiten  geführt  haben,  zu  denen  vorzudringen  ihm  selbst 
nicht  gegeben  war. 

Nachdem  die  schliesslich  noch  übrige  Würdigung  Hallers  auf 
dem  Gebiete  der  Ent\\icklungsgeschichte  wohl  der  besonderen  Be- 
arbeitung, welche  die  Geschichte  der  inzwischen  selbständig  gewordenen 
embryologischen  Wissenschaft  in  diesem  Buche  findet,  füglich  über- 
lassen werden  darf,  haben  wir  es  mit  den  weiterenFortsch  ritten 
unserer  Wissenschaft  im  achtzehnten  Jahrhundert  und 
im  Beginn  des  neunzehnten  zu  thun;  und  wenn  wir  hier 
zunächst  von  denjenigen  reden  wollen,  welche  auf  anatomischer  und 
einfach  experimenteller  Basis  beruhen,  so  sind  es  gerade  diejenigen 
auf  dem  Gebiete  der  Funktion  des  Nervensystems,  bei 
welchen  wir  hier  einfach  fortfahren  können. 

Was  die  Leistungen  noch  von  Zeitgenossen  Hall  er  s  auf  diesem 
Gebiete  betrifft,  so  zeigte  der  schon  erwähnte  L  o  r  r  y ,  dass  die  einzige 
Stelle  des  ganzen  Centralnervensystems,  von  welcher  aus  sich  Krämpfe 
mit  Sicherheit  bei  sauberem  Experimentieren  auslösen  lassen,  und  auf 
deren  isolierte  Verletzung  hin  plötzlicher  Tod  eintreten  kann,  im 
verlängerten  Marke  gelegen  ist;  es  wurde  bereits  erwähnt,  wie 
auch  Hai  1er  hier  halb  und  halb  zustimmt,  während  er  ein  anderes 
zeitgenössisches  Verdienst  voll  und  ganz  anerkannt  hat,  nämlich  die 
anatomische  und  experimentelle  Begründung  der  kontralateralen 
Innervation  durch  den  französischen  Ai'zt  Pourfour  du  Petit 
[FrauQois,  1664 — 1741],  welcher  die  Pyi-amidenkreuzung  nachwies 
und  auf  Eindenläsionen  bei  auf  der  einen  Seite  trepanierten  Tieren 
gekreuzte  Parese  genau  beobachtete  und  beschrieb  ^) :  die  physio- 
logische Erfüllung  eines  auf  Grund  der  Sektionsbefunde  Apoplektischer 
u.  s.  w.  gelegentlich  schon  von  den  Alten  aufgestellten  Postulats.  Be- 
stätigung brachten  auch  noch  die  Versuche  des  Bologneser  Anatomen 
P.  P.  Molinelli  (1702— 1764j.  Was  nun  weiterhin  die  durch  den 
anregenden  Einfluss  einerseits  der  Irritabilitätslehre  und  andererseits 
des  St  ah  Ischen  Animismus  veranlassten  Forschungen  betrifft,  so 
waren  es  insbesondere  der  Engländer  Robert  Whytt  (1714 — 1766) 
und  der  Deutsche  Unzer  (1727—1799),  welche  die  Abhängigkeit  der 
Irritabilität  von  der  Sensibilität  betonten,  auf  die  auffällig  zweck- 
mässigen Bewegungen  geköpfter  Frösche  hinwiesen,  schliess- 
lich das  „Gefühl"  von  der  wirklich  be  wussten  (dem  „Sensorium 
commune"  zugeleiteten)  „Empfindung"  unterschieden  und  so 
für  das  wirkliche  Verständnis  der  Reflexbewegungen  und  des  Rücken- 
marks als  Vermittler  derselben  die  Wege  ebneten.  Auch  die  be- 
ginnende Beachtung  der  Ganglien  (R  i  o  1  a  n ,  W  i  1 1  i  s ,  M  o  r  g  a  g  n  i  u.  a.) 
denen  freilich  die  abenteuerlichsten  Funktionen  zugeschrieben  wnirden 
ohon  seit  Galen  Verstärkung  der  Nerven erregung,  später  Hemmung 
iiid  Unterdrückung  derselben)  trug  hierzu  bei:  sprach  sie  der  Prager 
l'rofessor  Prochaska  (1749—1820)  doch  direkt  als  Reflexvermittler 

')  Trois  lettres  d'un  medecin  etc.,  Namur  1710. 

23- 


356  Heinrich  Boruttau. 

an!  (Neuerdings  für  „sympathische  Keflexe"  znr  Thatsache  geworden 
—  Langley  und  Sherrington  — ,  nachdem  Ganglien  und  Anasto- 
mosen schon  damals  für  die  Deutung  fabelhafter  Vorgänge  —  „Sym- 
pathie", „Somnambulismus"  —  hatten  herhalten  müssen).  Die  Vor- 
bedingung zur  richtigen  Erklärung  der  Keflexphäno- 
mene  bildete  indessen,  wie  schon  oft  .bemerkt,  der  Nachweis 
getrennter  motorischer  und  sensibler  Nervenbahnen. 
Nachdem  derselbe  von  manchen  in  mehr  oder  weniger  unvollkommener 
Weise  vorgeahnt  worden  war,  machte  im  Jahi-e  1811  Ch.  Bell  die 
erste  hierhergehörige  experimentelle  Beobachtung. 

Charles  Bell  ist  1774  in  Doun  in  Schottland  geboren,  studierte  in 
Edinburgh,  gab  mit  seinem  älteren  Bruder,  dem  Anatomen  John  Bell  zu- 
sammen anatom.  Tafeln  heraus,  wurde  1799  F.B/iC.  S.,  ging  1804  nach 
London,  dort  1824  Prof.  der  Anatomie  am  B.C.  S.,  1828  der  Physiologie 
an  der  London  TJniversity  auf  kurze  Zeit,  ging  1835  als  Chirurgieprofessor 
wieder  nach  Edinburgh,  starb   1842  auf  der  Reise  in  Worcester. 

Physiolog.  Ilauptschrifteri:  Die  tintenerwähnte  „Idea  etc."  1811;  An  exposition 
of  tJie  natural  System  of  nerves  in  human  body,  London  1824,  Zusammenfassung 
mehrerer  morphophysiol.  Publ.  in  den  Philosophical  Transactions.  Daselbst  später 
noch  zahlreiche  Einzelschriften.  Animal  Mechanics,  London  1828 — 29  und  andere 
mehr  popiilär-anat.-physiol.  Bücher. 

In  seiner,  nur  noch  in  einem  einzigen  Druckexemplar  im  British 
Museum  existierenden  kleinen  Schrift  „Idea  of  a  new  anatomy  of  the 
brain,  submitted  for  the  Observation  of  the  author's  friends"  berichtet 
Bell,  dass  beim  Säugetier  Rückenmarksreizungen  unbestimmt  wirkten, 
dieDurchschneidungderhintereuRückenmarks  wurzeln 
keine  Bewegungen  veranlasste,  auf  blossen  Einstich 
der  Messerspitze  in  die  vorderen  Wurzeln  Muskel- 
krämpfe auftraten,  woraus  er  schloss,  dass  die  vorderen  Wurzeln 
Bewegungen  vermittelten  [resp,  durch  ihre  und  der  weissen  Vorder- 
stränge Vermittlung  das  Grosshirn],  während  er  sich  über  die  Funktion 
der  hinteren  Wurzeln  noch  nicht  bestimmt  ausspricht.^)  In  den 
nächsten  elf  Jahren  veröffentlichte  Bell,  welcher  grosse  Abneigung. j 
gegen  die  Vivisektion  besass,  nichts  weiter  über  diese  Dinge,  und  erst , 
als  1822  Magendie  Versuche  über  die  verschiedene  Funktion  der 
hinteren  und  vorderen  Wurzeln  veröffentlichte,  kam  Bell  darauf 
zurück  und  behauptete  auf  Grund  seiner  inzwischen  (ebenso  wie  von 
dem  Italiener  Bellingeri)  angestellten  Versuche  an  Hirnnerven  — 
Erkenntnis  der  Motilität  des  Facialis  und  Sensibilität  des  Trigeminus  — 
die  Motilität  der  vorderen  und  Sensibilität  der  hintere-n 
Wurzeln.  Ueber  den  weiteren  Verlauf  der  Geschichte  dieses  für 
die  moderne  Nervenphysiologie  so  durchaus  grundlegenden  „Beil- 
Magen  die  sehen  Gesetzes"  (Eckhard,  Bickel)  wird  im  nächsten 
Abschnitt  zu  berichten  sein.  Inzwischen  war  aber  auch  auf  dem  Ge- 
biete der  Abhängigkeit  der  vegetativen  Funktionen  vom 
Centralnervensystem  weiter  gearbeitet  worden.  Nachdem 
Durchschneidungs-  und  Reizversuche  am  Vagus,  selbst  mit  der  durch 
Caldani  (1725 — 1813)  in  die  Nervenphysiologie  eingeführten  Elektri- 


1)  A.  Bickel  (Pflügers  Archiv  Bd.  84,  S.  276;  1901)  liest  heraus,  dass  Bell 
iie  mit  dem  Grosshirn  zusammenhängenden  vorderen  Wurzeln  für  gemischt-motoriseb- 
sensibel,  die  mit  dem  Kleinhirn  zusammenhängende  hinteren  Wurzeln  für  visceral- 
trophisch  gehalten  habe. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizia  etc.       357 

zität  in  der  damals  einzig  vorhandenen  Anwendungsweise  („elektro- 
statisch'' im  heutigen  Sinne)  seitens  des  grossen  Feiice  Fontana 

iTeistlicher  in  Bologna.  1730 — 1805]  und  anderer  nichts  Sicheres  über 
eine  nervöse  Beeinflussung  der  Herzthätigkeit  ergeben  hatten,  war 
man  in  Bezug  auf  diejenige  der  Atmung  glücklicher:  Nachdem  schon 
Beobachtungen  des  jüngeren  Hunt  er  (John,  1728—1793,  welt- 
berühmter Chirurg,  Begründer  des  Londoner  H  u  n  t  e  r  sehen  Museums), 
von  Cruikshank  (William,  1746 — 1800)  und  dem  grossen  Be- 
gründer der  allgemeinen  Anatomie  Bichat  (siehe  später)  die  Be- 
deutung des  Halsmarks  füi-  die  normalen  Atembewegungen  gesichert 
hatten,  begi'enzte  der  französische  Forscher  Legallois  (Julien- 
Tean-Cesar,   1770 — 1814)  das  Atemcentrum  auf  eine   circum- 

kripte  Stelle  der  Oblongata  in  Versuchen,  welche  er  in  seinen 
..Experiences  sur  le  principe  de  Ja  vie".  Paris  1812  beschrieben  hat: 
Eückenmarksdurchschneidung  bei  der  Katze  in  der  Höhe  des  7.  Hals- 
wirbels sistiert  die  Eippen-,  solche  in  der  Höhe  des  1.  Halswirbels 
auch  die  Zwerchfellatmung;  Abtrennung  der  Oblongata  vom  übrigen 
Gehirn  sistiert  beim  jungen  Kaninchen  die  Atmung  nicht;  erst  wenn 
bei  ihrer  schichtenweisen  Abtragung  der  Vagusursprung  mit  abge- 
tragen wird,  geschieht  dies  und  das  Tier  stirbt.  Auch  Versuche 
über  die  Beeinflussung  der  Verdauung,  Darmbewegung,  tierischen 
Wärmeproduktion  u.  s.  w.  fallen  bereits  in  jene  Zeit.  Endlich  hat  die 
Kühnheit  der  französischen  Chirurgen,  welche  häufige  Trepanationen 
am  Menschen  machten  und  sich  durch  Tierversuche  zu  belehren  be- 
strebt waren,  manches  Bemerkenswerte  gefördert  betreffend  Hirn- 
druck,  Nystagmus,  besonders  aber  Anzeichen  für  eine  trotz 
Haller  und  Stahl  bestehende  Lokalisation  der  Hirnfunk- 
tionen (Saucerotte,  Sabourant,  Chopart).  Gleich  direkt  ins 
äusserste  Extrem  dieser  Eichtung  schoss  endlich  gegen  Ende  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  Franz  Joseph  Gall  [aus  Tiefenbrunn 
bei  Pforzheim.  1758—1828],  welcher  in  öffentlichen  Vorträgen   zuerst 

796  in  Wien  behauptete,  dass  jeder  Teil  des  Gehirns  Sitz  einer  be- 

'inderen  Verstandes-  oder  Gefühlsäusserung  sei,  und  dass  das  Vor- 
wiegen eines  solchen  ».Triebes"  oder  ,.Sinnes"  (Zerstörungstrieb, 
Pietätssinn,  Zahlensinn,  Musiktalent  u.  s.  w.)  an  äusseren  Gestaltungs- 
merkmalen des  Schädels  zu  erkennen  sei.  Für  diese  „Phrenologie" 
oder  Kranioskopie  wurde  von  ihm  seit  1807  von  Paris  aus  zusammen 
mit  seinem  Freunde  J.  Chr.  Spurzheim,  einem  tüchtigen  Anatomen 
^1776—1832.  gest.  in  Boston]  in  allen  Ländern,  zuletzt  auch  in  Amerika, 

'ropaganda  gemacht.  Diese  unwissenschaftliche  Lehre  hat  sich  seit- 
dem in  laienhaftem  Unfiig  fast  völlig  ausgetobt;  über  die  litterarische 
Hinterlassenschaft  von  Gall  und  Spurzheim,  die  „Anatomie  et 
l>hysiologie  du  sj'steme  nerveux  etc.",  Paris  1810—1819,  mit  ana- 
'' »mischen  Tafeln,  scheinen  die  Meinungen  in  jüngster  Zeit  noch  recht 

eteilt  zu  sein.  ^) 

Die  Verdauungsphysiologie  wui-de  im  achtzehnten  Jahr- 
liundeit  weiter  gefördert  durch  den  grossen  französischen  Naturforscher 
Eeaumur  (1683—1757),  welcher  zueret  beim  Vogel  und  beim  Säuge- 
tier systematische  „Verdauungs versuche"  anstellte:  seinen  Er- 

'bnissen  entsprechen  die  obenerwähnten  Angaben  Ha  Hers  über  die 


*)  Vgl.  die  Polemik   zwischen  Rolle tt  und  Holländer  in  Pflügers  Archiv 
'1.  79  und  80,  1900. 


358  ,  Heinrich  Boruttau. 

Magenverdaimng.  Noch  zahlreichere  „Verdauung-s versuche"  insbe- 
sondere auch  in  vitro  mittels  durch  Verschluckenlassen  von  an  Fäden 
gebundenen  Schwämmen  u.  s.  w.  gewonnenen  (auch  eigenen)  Magen- 
saftes stellte  an  der  bedeutende  italienische  Physiologe  Spallanzani 
[Lazzaro,  geboren  1729  zu  Scandiano  bei  Reggio,  Schüler  Vallis- 
neris  in  Padua,  1754  Professor  der  Mathematik  in  Reggio,  1760  der 
Naturwissenschaften  in  Modena,  1768  in  Pavia,  wo  er  1799  starb]. 
Er  stellte  die  auflösende  Fähigkeit  des  Magensaftes  für 
Fleisch  u.  s.  w.  —  dagegen  nicht  Stärke  u.  s.  w.  —  sicher  fest, 
hielt  ihn  aber  noch  für  neutral.  Endlich  bearbeitete  dieses  Gebiet 
auch  John  Hunt  er  (s.  oben),  welcher  in  vielen  Punkten  Spallan- 
zani bekämpfte,  Fäulnis  und  Verdauung  streng  trennte  und  die 
fäulnis widrige  Wirkung  des  Magensaftes  betonte,  den  er 
gelegentlich  sauer  reagierend  fand ;  dass  diese  Reaktion  bei  nüchternem 
Magen  fehle  und  unmittelbar  nach  der  Fütterung  auftrete,  fand 
Carminati  (1750 — 1830)  im  Jahre  1785;^)  doch  dauerte  es,  wie  wir 
sehen  werden,  noch  lange,  ehe  die  Natur  der  Säure  richtig  erkannt 
wurde.  Noch  kann  man  ja  selbst  im  dritten  Viertel  des  18.  Jahi'- 
hunderts  nicht  von  der  Existenz  einer  wirklichen  „physiologischen 
Chemie"  reden;  ihr  Geburtstag  fällt  vielmehr  zusammen 
mit  dem  Beginne  einer  wirklichen  wissenschaftlichen 
Chemie,  welche  bei  der  „Scheidung"  und  Verbindung  der  Körper 
nicht  allein  fragt  „was",  sondern  „wieviel",  deren  vornehmstes  Rüst- 
zeug die  Wage  ist.  Der  unsterbliche  Ruhm  eines  Vaters  der  modernen 
wissenschaftlichen  Chemie  in  diesem  Sinne,  wie  auch  der  physio- 
logischen Chemie  gebührt  einzig  Lavoisier,  welcher  über  das  Wesen 
der  Verbrennung  und  Atmung  uns  die  unverbrüchliche  Wahrheit  ge- 
zeigt hat,  nachdem  seines  Vorläufers  Mayow  geniale  Versuche  und 
wunderbare  Vorahnung  des  wahren  Sachverhaltes  in  Vergessenheit 
geraten  waren  (s.  o.).  JosefBlack  [1728 — 1799,  Professor  der  Chemie 
in  Glasgow  und  Edinburgh]  entdeckte  1754  einen  mit  Kalk,  Alkalien 
u.  s.  w.  sich  leicht  verbindenden  und  aus  dieser  Verbindung  durch 
Hitze  oder  Säuren  austreibbaren  Bestandteil  der  gewöhnlichen  Luft, 
welchen  er  fixierte  Luft  nannte,  erkannte  dessen  Identität  mit 
van  Helmonts  „Gas"  (gas  silvestre)  und  bestätigte  dessen  Angabe, 
dass  es  sich  bei  der  Verbrennung  von  Holzkohle  und  beim  Atmen 
bilde.  Er  hielt  es  zuerst  für  identisch  mit  dem  das  Atmen  nicht  unter- 
haltenden Bestandteil  der  Atmosphäre,  w^elchen  Scheele  und  Ruther- 
ford isoliert  hatten,  liess  sich  aber  1772  seitens  des  letztgenannten 
von  der  Unrichtigkeit  dieser  Voraussetzung  überzeugen;  Cavendish 
und  C  h  a  p  t  a  1  erkannten,  dass  aus  dem  letztgenannten  Körper  durch 
elektrische  Entladungen  Salpetersäure  entstehen  kann,  woher  der  Name 
„Nitrogenium".  Endlich  entdeckte  Josef  Priestley  [1733—1804, 
Geistlicher  in  Leeds  und  Birmingham]  1771,  dass  lebende  Pflanzen 
durch  Feuer  oder  Atmung  „verdorbene"  Luft  wieder  brauchbar  machen, 
sowie  1774,  dass  durch  Erhitzen  mit  dem  Brennglase  roter  „Queck- 
silberkalk" eine  Luftart  abgiebt,  welche  die  Verbrennung  begünstigt 
und  Atmung  vorzüglich  unterhält.  Indessen  beherrschte  Stahls 
Phlogistontheorie  (s.  oben)  die  Geister  dermassen,  dass  Priestley  den 
wahren  Sachverhalt,  den  schon  der  vergessene  Mayow  erkannt  hatte, 
ganz  verkannte,  vielmehr  ein  Bild  von  dem  Wesen  der  Verbrennung  und 


^)  Eicerche  sulla  natura  ecc.  del  succo  gastrico,  Mailand  1785. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      359 

Atmung  entwarf,  welches  die  Wahrheit  geradezu  auf  den  Kopf  stellt: 
Der  Quecksilberkalk  nimmt  für  ihn  in  der  Sonnenhitze  FeuerstofF, 
Phlogiston  aus  der  Luft  auf,  diese  wird  „dephlogistisiert"  und  daher 
zum  Brennen  und  Atmen  geeigneter;  dazu  ungeeignet  wird  Luft  eben 
durch  völlige  Sättigung  mit  Phlogiston.  Blacks  fixe  Luft,  welche 
ausgeatmet  zu  werden  scheine,  kommt  nach  ihm  gar  nicht  aus  der 
Lunge,  sondern  entsteht  in  der  Luft  durch  die  zersetzende  Wirkung 
des  abgegebenen  Phlogistons!  Mit  dem  Handwerkszeug  des  modernen 
Chemikers,  der  Wage,  wurde  es  Lavoisier  leicht,  die  auf  den  Kopf 
gestellte  Wahrheit  aufzui'ichten  und  gleichzeitig  der  Ausgeburt 
Stahlscher  Spekulation  für  immer  den  Todesstoss  zu  versetzen. 

Antoine  Laurent  Lavoisier,  geboren  am  26.  August  1743,  studierte  in 
Paris  erst  Rechte,  dann  Naturwissenschaft.  In  der  Domänenverwaltung  be- 
schäftigt, Hess  er  sich  auch  auf  grössere  Industrieunternehmungen  ein,  sowie 
er  den  staatlichen  Pulverfabriken  sein  chemisches  Wissen  zu  gute  kommen 
Hess.  'Seit  1768  Mitglied  der  Academie  des  Sciences,  wurde  er,  als  dieselbe 
während  der  französischen  Revolution  verdächtigt  und  1793  aufgehoben 
wurde,   gefangen  genommen  und  starb    am  8.  Mai  1794   auf  dem  Schaffot. 

Physiologisch  bedeutsame  Werke:  Experiences  sur  la  respiration  des  animaux etc., 
Mein,  de  VAcad.  des  Sciences  1777,  T.  185;  Memoire  sur  la  Chahtir  {mit  Laplace), 
Art.  IV,  ebenda  1780;  Alterations  qu'eprouve  l'air  respire,  in  Eecueil  de  manoires 
de  Vacad.  de  Med.,  t  3  {178o).  Sur  la  respiration  des  animaux  und  Sur  la  trans- 
piration  des  animaux,  beide  mit  Seguin,  in  Mim.  de  VAc.  des  Sciences  1789,  p.  185 
lt.  1790,  p.  77.    Rapport  sur  la  nutrition  des  vegetaux  1793. 

1775  bewies  Lavoisier,  dass  verbrennliche  Körper  bei  der  Ver- 
brennung etwas  aus  der  Luft  nehmen  und  schwerer  werden,  ebenso 
„verkalkende"  Metalle  bei  der  Verkalkung,  und  1777,  dass  dieser  Stoff 
in  allen  Säuren  enthalten  sei  und  schlug  für  ihn  den  Namen  Oxj-genium 
oder  „Sauerstoff"  vor.  Weiterhin  zeigte  er  in  demselben  Jahre, 
dass  auch  bei  der  Atmung  der  Tiere  und  des  Menschen  der  gleiche 
Stoff  verbraucht  werde,  nannte  den  unbrauchbaren  Rückstand  Azotum 
oder  „Stickstoff  und  wies  nach,  dass  bei  der  Atmung  wie 
auch  bei  der  Verbrennung  dieselbe  fixe  Luft  entstehe, 
welche  man  aus  an  der  Luft  gehaltenem  Kalk  durch  Uebergiessen 
mit  Säure  entbinden  könne,  und  welche  selbst  sauer  reagiere,  weshalb 
er  sie  zunächst  Kalksäure  nannte,  und  bald  [nachdem  er  schon  1775 
gezeigt  hatte,  dass  sie  aus  Kohle  (Diamant)  bei  der  Verbrennung  in 
Sauerstoff  entstehe  und  eine  Verbindung  beider  darstelle],  „Kohlen- 
l  u  r  e". 

Noch  vollkommener  wurde  der  Vergleich  zwischen  Verbrennung 
und  Atmung  durch  die  Berücksichtigung  der  tierischen  Wärme. 
Nachdem  letztere  den  Alten  eigentümlichen,  höheren,  göttlichen  Ur- 
sprungs erschienen  war  (innatus  calor,  eingeborene  Wärme)  hatten 
allerdings  schon  die  älteren  „Fermenttheoretiker",  vorab  van  Hel- 
mont,  sie  auf  chemische  Prozesse  zurückgeführt,  in  Analogie  zu  der 
bei  Gärungen  u.  s.  w.  auftretenden  Wärme;  doch  zogen  es  die  latro- 
physiker  seit  Borelli  vor,  sie  durch  die  Reibung  des  Blutes  in  den 
Grefässen  entstehen  zu  lassen.  Hai  1er  betont  schon  ganz  offen,  dass 
diese  Wärmequelle  auf  keinen  Fall  allein  genügen  könne,  ^)  und  durch 
die  Versuche  Crawfords  [Adair,  1749—1795],  welcher  die  Blackschen 

*J  Elem.,  Bd.  11,  S.  286—308. 


360  Heinrich  Boruttau. 

Begriffe  des  Wärmestoffs,  der  spezifischen  Wärme  und  Wärmekapazität 
in  wenn  auch  absonderlicher  Weise  auf  die  tierische  Wärme  anzu- 
wenden bestrebt  war,  war  die  Frage  erst  recht  in  Fluss  geraten.  Als 
nun  der  grosse  Laplace  1780  die  Grundzüge  derWärmelehre 
gab,  wie  sie  auch  heute  noch  gültig  sind,  und  als  erster  richtige 
Kalorimetermessungen  anzustellen  lehrte,  wandte  sein  Freund  Lavoisier 
die  neu  errungenen  physikalischen  Fortschritte  alsbald  auf  die  Chemie 
und  Physiologie  an,  zeigte,  dass  die  völlige  Verbrennung  einer  be- 
stimmten Kohlenmenge  auch  stets  dieselbe  bestimmte  Wärmemenge 
giebt  und  postulierte  ein  gleiches  für  die  tierische  Wärme- 
produktion, welche  gleichfalls  von  der  Oxydation  des 
Kohlenstoffs  im  Tierkörper  herrühre,  nur  dass  diese  eben 
nicht  unter  Feuererscheinung  vor  sich  geht,  weshalb  er  sie  „eine 
langsame  Verbrennung''  nannte. 

Inzwischen  hatte  Cavendish  (1731 — 1810)  seine  Versuche  über 
das  schon  seit  Boyle  (1672),  ja  schon  länger  bekannte  „brennbare 
Gas"  begonnen  (1766)  und  hatte  1781  die  Zusammensetzung  des 
Wassers  erkannt,  aus  Sauerstoff  und  dem  jetzt  als  Hydrogenium, 
„  W  assersto  ff  bezeichneten  brennbaren  Gase.  Lavoisier,  welcher 
hier,  wie  bei  allen  chemischen  Prozessen,  Mass  und  Gewichtsverhält- 
nisse genau  berücksichtigte,  publizierte  1785  die  Ergebnisse  der 
ersten  „Respirations versuche*',  wie  wir  sie  jetzt  nennen, 
d.  h.  genauer  Bestimmungen  der  von  einem  (hier  zunächst  in  abge- 
sperrtem Räume  gehaltenen)  Tiere  in  bestimmter  Zeit  produzierten 
Kohlensäure  und  des  verbrauchten  Sauerstoffs ;  er  hatte  gefunden,  dass 
des  letzteren  Menge  grösser  sei,  als  die  in  der  produzierten  Kohlen- 
säure enthaltene  Sauerstoffmenge  („der  respiratorische  Quotient  -— 

ist  meist  kleiner  als  1"  sagen  wir  heutzutage);  der  üeberschuss, 
folgerte  Lavoisier  ganz  richtig,  wird  verbraucht  zur  Verbrennung 
von  im  Organismus  enthaltenen  Wasserstoff  zu  Wasser.  La- 
voisier stellte  noch  weitere,  auch  die  Wasserproduktion  berück- 
sichtigende Respirationsversuche  an  zusammen  mit  dem  Physiologen 
Seguin  (veröffentlicht  1790),  welcher  ihn  wahrscheinlich  in  der 
irrtümlichen  Annahme  bestärkt  hat,  dass  die  tierische  Oxydation 
in  der  Lunge  selbst  vor  sich  gehe,  in  welcher  die  beiden 
Forscher  einen  kohlenwasserstoffähnlichen  Körper  aus  dem  Blute  aus- 
schwitzen Hessen,  welcher  durch  die  Atmung  oxydiert  direkt  Kohlen- 
säure und  Wasser  geben  sollte.  Doch  schon  1791  wies  Lag  ränge 
auf  die  Unwahrscheinlichkeit  der  Annahme  hin,  dass  die  Lunge  der 
Ort  der  tierischen  Oxydation  sein  solle,  und  sein  Assistent  Hassen- 
fratz  betonte  den  Farben  Wechsel  des  Bluts  bei  Berührung  mit  Sauer- 
stoff resp.  Kohlensäure.  Man  verlegte  dann  zunächst  den  Ort  der 
tierischen  Oxydation  in  das  Blut,  und  wenngleich  Spallanzani, 
dessen  zahlreiche  und  wertvolle  Versuchsergebnisse  über  die 
Atmung  (Einfluss  physikalischer  und  physiologischer  Bedingungen 
aller  Art)  erst  1803  nach  seinem  Tode  im  Druck  erschienen,^)  den 
Gas  Wechsel  ausgeschnittener  „überlebender"  Organe 
unwiderleglich  nachwies,  ja  selbst  zeigte,  dass  Kaltblüter  auch 
in  einer  Wasserstoff- oder  Stickstoffatmosphäre  weite r- 
atmen  und  Kohlensäure  abgeben,   so  blieb  doch  die  falsche 

^)  „Memorie  siilla  respirazione",  Mailand  1803. 


Geschichte  der  Physiologie  iu  ihrer  Anwendnng  auf  die  Medizin  etc.       361 

Lokalisation  der  tierischen  Oxydationsprozesse  zunächst  vorherrschend, 
bis  die  Beschäftigung  mit  den  Blutgasen  (Hassenfratz,  Davy, 
Schröder  v.  d.  Kolk)  und  ihre  schliessliche  genaue  Bestimmung 
durch  Anwendung  der  Quecksilberluftpumpe  (Magnus  1837,  Lothar 
Meyer,  Ludwig,  P  f  1  ü  g  e  r  s.  später)  sie  endgültig  beseitigen 
konnte. 

Die  schnellen  Fortschritte,  welche  die  allgemeine  Chemie  im  An- 
schluss  an  Lavoisiers  grundlegende  Thaten  machte,  kamen  auch 
der  physiologischen  Chemie  weiterhin  zu  gute;  es  seien  hier  nach- 
geholt die  grundlegenden  Versuche  von  William  Hewson  (1739 — 
1774)  über  die  Gerinnung  des  Blutes;^)  es  sei  erinnert  an 
G.  R.  Treviranus'  [Bruder  des  Botanikers,  s.  w.  unten]  chemische 
Arbeiten  (Rotfärbung  des  Speichels  mit  Eisen;  Yerdauungsversuche 
u.  s.  w.),  endlich  an  die  grundlegende  Erkenntnis  der  Zusammen- 
setzung der  tierischen  Fette  aus  Glycerin  und  Fett- 
säuren und  des  Wesens  der  ..Verseifung"  durch  den  berühmten 
C  h  e  V  r  e  u  1  (M  i  c  h  e  1-  E  u  g  e  n  e ,  1786—1889,  Paris).  Wenngleich  die 
Pflanzenphysiologie  eigentlich  nicht  in  den  Rahmen  dieses  Buches 
gehört,  so  darf  doch  im  Anschluss  an  die  obenerwähnte,  die  Sauei*stoff- 
abgabe  der  Pflanzen  betreff'ende  Beobachtung  Priestleys  der  in 
diese  Periode  fallende  Ausbau  der  Lehre  von  der  pflanz- 
lichen „Assimilation"  wegen  seiner  allgemeinbiologischen  Be- 
deutung nicht  mit  Stillschweigen  übergangen  werden:  1796  wies 
Ingenhousz  [1730 — 1799]  die  Kohlensäureaufnahme  und  Sauerstoff- 
abgabe der  grünen  Pflanzenteile  am  Tage  sicher  nach  und  die  daneben 
bestehende  Kohlensäureproduktion  nebst  Sauerstoffverbrauch,  welche 
bei  Nacht  hervortreten;  N.  Th.  Saussure  [1767—1845]  zeigte  1804, 
dass  mit  der  Zersetzung  der  Kohlensäure  Gewichtszunahme  einher- 
geht, welche  dem  zurückgehaltenen  Kohlenstoff  plus  gebundenem 
Wasser  entspricht  (vgl.  den  früher  erwähnten  Versuch  van  Hel- 
monts);  endlich  bewies  Senebier  [1742 — 1809]  die  Notwendigkeit 
des  Lichtes  und  des  grünen  Farbstoffs  für  die  ..Assimilation". 

Die  Verdienste  des  Physikers  Laplace  um  die  Aufklärung  der 
Ursachen  der  tierischen  Wärme  sind  bereits  gewürdigt  worden.  Leider 
waren  die  Fortschritte  jener  Zeit  auf  einem  anderen  Gebiete  der 
Physik  für  die  Physiologie  nicht  so  unmittelbar  fruchtbringend, 
nämlich  auf  dem  der  Elektrizitätslehre,  indem  man  umgekehrt 
geradezu  sagen  kann,  dass  die  Bestrebungen  der  Physiologen,  im 
lebenden  Körper  elektrische  Vorgänge  nachzuweisen  und  zur  Er- 
klärung von  Lebenserscheinungen  heranzuziehen,  ohne  hier  besonders 
viel  zu  erreichen,  die  Veranlassung  zu  den  grossartigsten  und  theoretisch 
wie  technisch  fruchtbringendsten  Bereicherungen  der  physikalischen 
Elektrizitätslehre  geworden  sind :  Die  Zuckungen  der  Froschschenkel, 
welche  im  Jahre  1790  der  Bologneser  Anatora  Luigi  Galvani 
(1737 — 1798)  auf  Berührung  mit  einem  aus  zwei  verschiedenartigen 
Metallen  bestehenden  Schliessungsbogen  auftreten  sah,-)  wurden  von 
dem  grossen  Physiker  in  Pavia  Alessandro  Volta  (1745—1827) 
auf  den  Strom  zurückgeführt,  welcher  eben  stets  in  einer  Kette  aus 
zwei  verschiedenen  Leitern   erster  und  einem  zweiter  Klasse  kreist; 


')  Hauptwerk :  Experimental  inquiries  into  the  properties  of  the  blood,  London 
1771/72;  au.sserdem  mehrere  kleinere  Ahh.  in  den  Philos.  Transactions. 

*)  De  viribus  Electricitatis  in  motu  musculari  comraeutarius,  Bologna  1791. 


362  Heinrich  Boruttau. 

die  Lehre  von  diesem  Strom,  welcher  voltaisch  und  nicht  galvanisch 
heissen  sollte,  da  Galvani  seinen  rein  physikalischen  Ursprung  nicht 
zugeben  wollte,  ist  freilich  später  die  Grundlage  aller  physio- 
logischen Reiztechnik  wie  des  Verständnisses  der 
tierisch-elektrischen  Erscheinungen  geworden;  zunächst 
aber  führte  der  Streit  zwischen  Galvani  und  Volta  dahin,  dass 
jener  sich  Mühe  gab,  „Zuckungen  ohne  Metalle"  zu  erhalten, 
was  ihm  dann  schliesslich  gelegentlich  gelang,  als  er  die  Nerven  eines 
Froschpräparates  mit  in  verschiedenem  Zustande  befindlichen  Muskel- 
stellen unbewusst  in  Berührung  brachte.  ^)  Freilich  wollte  der  durch 
Galvanis  Verblendung  und  Aldinis  Dreistigkeit,  mit  welcher  die 
beiden  die  rein  physikalische  Natur  der  Metall-Flüssigkeitsströme 
(Aldini  selbst  nach  Konstruktion  der  „Säule"  durch  Volta  1800 2)) 
leugneten,  gereizte  Volta  von  der  Zuckung  ohne  Metalle  nicht  viel 
wissen,  und  auch  als  Humboldt  u.  a.  ihre  Richtigkeit  bestätigten, 
blieb  diese  zuerst  entdeckte  wirklich  tierisch  -  elektrische  Spezial- 
erscheinung  eine  wenig  beachtete  unverstandene  Kuriosität,  welche 
eben  nicht  denselben  Eindruck  machte,  wie  die  viel  grossartigere 
Erscheinung  des  Schlages  der  Zitterfische,  dessen  Ursache 
B  0  r  e  1 1  i  so  gut  wie  H  a  1 1  e  r  •'^)  und  seine  Zeitgenossen  für  mechanisch 
hielten,  während  schon  Adanson  und  Gravesande  um  1750  ihn 
mit  demjenigen  der  eben  erfundenen  Leydener  Flasche  verglichen: 
bereits  1772  stellte  Walsh  in  La  Rochelle  die  elektrische 
Natur  des  Schlages  von  Torpedo  fest,  welche  Cavendish 
1776  noch  weiter  sicherte,  —  also  lauter  Dinge,  welche  schon  vor 
der  Entdeckung  des  Galvanismus  erfolgt  waren. 

Was  nun  schliesslich  die  Schicksale  der  allgemein-biologischen 
Vorstellungen  am  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
betrifft,  so  haben  wir  es  mit  dem  von  Frankreich  ausgegangenen 
Bestreben  zu  thun,  an  die  Stelle  von  Stahls  Anima  ein  an  des  in 
Montpellier  von  jeher  so  sehr  verehrten  Hippokrates*)  q)vaig  ge- 
mahnendes physiologisches  und  pathologisches  Prinzip  zu  setzen: 
FrauQois  de  Sauvages  [1706—1767],  Theophile  Borden 
[1722—1776],  Paul  Barthez  [1734—1806],  alle  drei  aus  Montpellier 
sind  die  Hauptvertreter  dieser  Richtung,  deren  letztgenannter  als 
letzte  Ursache  allen  lebendigen  Geschehens  das  „principe  vital" 
bezeichnet.  Ihnen  folgten  Philipp  Pinel  [1755 — 1826],  der  be- 
rühmte Reformator  der  Irrenheilkunde,  welcher  die  anatomische  und 
„analytische"  Methode  der  pathologischen  Forschung  begründete,  und 
Franz  Xaver  Bichat  [aus  Thoirette  im  Jura,  1771 — 1802,  studierte 
in  Montpellier,  Lyon  und  Paris,  Arzt  am  Hötel-Dieu,  eifriger  Anatom, 
starb  jung  an  der  Schwindsucht],  welcher  in  seiner  die  heutige  Ge- 
webelehre begründenden  „Anatomie  generale"  und  seinen  „Recherches 
physiologiques  sur  la  vie  et  la  mort"  (beide  Werke  1801  in  Paris  er- 
schienen), wie  schon  seine  Vorgänger,  zu  der  Ueberzeugung  gelangt, 
dass  Physik  und  Chemie  die  Lebensvorgänge  nicht  ge- 
nügend   zu    erklären    vermögen     und    als    deren    Causa 


*)  Trattato  dell'  uso  dell'  arco  conduttore  ecc,  Bologna  1794;    u.  Supplement. 

*)  Vgl.  über  alle  diese  Dinge  Abschn.  1,  Kap.  1  von  du  Bois-Reymonds 
klassischen  Untersuchungen  über  tier.  Elektrizität. 

")  Elementa  Physiol.,  Bd.  4  S.  484-485. 

*)  Vgl.  noch  aus  dem  J.  1803  Delavauds  „Physiologie  d'Hippocrate"  (Be- 
arbeitung von  de  aere  u.  s.  w.). 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      363 

movens  die  „Lebenskraft"  hinstellt.  Seinen  anatomischen  und 
pathologischen  Verdiensten  gerecht  zu  werden,  muss  anderen  Ab- 
schnitten dieses  Werkes  vorbehalten  bleiben. 

In  Deutschland  waren  ausgesprochene  Anhänger  des  ..Yitalismus" 
unter  anderen  der  berühmte  Begründer  der  wissenschaftlichen  ..Anthro- 
pologie", der  Göttinger  Professor  Joh.  Friedrich  Blumenbach 
[1752 — 1840]  und  der  Anatom  und  Kliniker  in  Halle  und  Berlin 
Joh.  Christian  Eeil  [1759 — 1813;  ..Insula  Reilii"].  Für  unsere 
Wissenschaft  von  ganz  besonderer  Bedeutung  ist  übrigens  R  e  i  1  durch 
die  1796  durch  ihn  erfolgte  Begründung  des  ..Archivs  für  Phj'sio- 
logie'',  von  dessen  weiteren  Schicksalen  noch  die  Rede  sein  wird. 

Schlimmer  als  der  als  Reaktion  auf  übertriebene  Hoffnungen 
immerhin  erklärliche,  wenn  nicht  damals  berechtigte  Vitalismus  in 
Frankreich  war  in  Deutschland  die  Erniedrigung  des  geistigen  Lebens 
nach  der  ..Sturm-  und  Drangperiode",  nach  der  Klassiker  gewaltigen 
Dichtwerken  und  Kants  philosophischer  Meisterlehre  zu  der  Natur- 
philosophie der  Schelling,  Hegel  und  Konsorten.  Ueber  deren 
Wesen  und  Wirkung,  über  die  damit  verbundenen,  hier  nicht  her 
gehörigen  Dinge,  naturhistorisch-parasitäre  Pathologie  und  die  anderen 
AfterdJsziplinen —  Homöopathie.  Rademacher  sehe  Erfahrungsheil- 
lehre, über  Mesmers  tierischen  Magnetismus  als  Vorläufer  des 
modernen  Hypnotismus  ist  eine  treffend-kritische,  brillante  Darstellung 
gegeben  worden  durch  Pagel  in  seiner  Einführung  in  die  Geschichte 
der  Medizin,  zwanzigste  Vorlesung,  sowie  eine  mehr  populäre,  doch 
nicht  minder  lesenswerte  von  Franz  Carl  Müller,  im  einleitenden 
Kapitel  seiner  „Geschichte  der  organischen  Naturwissenschaften  im 
19.  Jahrhundert." 

Anhang: 
Einige  bibliographische  Xotizen. 

Varigny,  H.  de,  La  philosophie  biologique  atix  17  et  18  siecles.  Rexnie  scientifique, 
T.  43,  1888. 

Foster,  31.,  Tlie  History  of  Physiology  in  the  16"*,  17*^  and  18"*  centttries,  Cam- 
bridge 1901. 

yeuburger,  M.,  Die  historische  Entwicklung  der  Gehirn-  und  Bnckenmarks- 
physiologie  vor  Flourens,  Stuttgart  1897. 

Maller,  Albr.  von,  Denkschrift,  herausgegeben  von  der  beauftragten  Kotninission 
auf  den  12.  Dezember  1877.,  Bern  1877. 

Mac  KenflHck,  J.  G.,  On  Spallanzani,  a  physiologist  of  the  last  Century. 
British  Journal  1892. 

Rosenthal,  <!.,  Lavoisier  und  seine  Bedeutung.  Biologisches  Centralblatt,  Er- 
langen 1890. 

Im  übrigen  siehe  die  QueUenzusammensteUung  am  Beginn  des  Abschnittes. 


IV. 

Das  Zeitalter  Johannes  Müllers. 

Eine  vielfach  naturphilosophische  Färbung  und  zähes 
Festhalten  an  der.  wie  wir  gesehen  haben,  aus  Frankreich  —  Schule 
von  Montpellier,  Bichat  —  importierten  Lehre  von  der  Lebens- 
kraft zeichnet  die  gerade  im  Anfange  des  neunzehnten  Jahrhundei-ts 
sehi-  zahlreich  erschienenen  physiologischen  Lehr-  und  Handbücher 
deutscher  Autoren  aus,   so  Blumenbachs  (1752—1840,  Professor 


364  Heinrich  Bor utt au. 

der  Medizin  in  Göttigen,  bedeutender  Naturforscher,  Begünder  der 
modernen  Anthropologie,  hielt  die  ersten  Vorlesungen  über 
vergleichende  Anatomie)  Institutiones  physiologicae  (Göttingen  1787), 
G.  R.  Treviranus'  [Bremen  1776— 1837 J  „Biologie"  oder  die  „Philo- 
sophie der  lebenden  Natur",  Gott.  1802—22;  letzteres  Werk  von 
grosser  Bedeutung  für  die  spätere  Entwicklung  der  allgemeinen  Phy- 
siologie, resp.  des  zusammenfassenden  Bandes  der  biologischen  Wissen- 
schaften, wogegen  des  Italieners  Stefano  Gallini  (1756—1836, 
Professor  in  Padua)  allgemeine  Physiologie  und  Pathologie  („Intro- 
duzione  alla  fisica  del  corpo  umano  sano  ed  ammalato",  Padua  1802; 
„Nuovi  elementi  della  flsica  ecc,  ebenda  1818)  mehr  für  die  Ein- 
teilung und  Methodologie  der  Physiologie  und  insbesondere  der  allge- 
meinen Pathologie  grundlegend  ist.  Das  Bestreben  einer  wenigstens 
relativen  Objektivität  muss  immerhin  zuerkannt  werden  dem 
„Handbuch  der  empirischen  Physiologie  .1.  H.  Ferdinand 
von  Anten rieths  (Tübingen  1801 — 02),  des  grossen  Tübinger 
Anatomen,  Physiologen,  Pathologen  und  Klinikers  (1772 — 1835), 
welcher  auch  vom  7,  bis  zum  12.  Bande  —  1807 — 1814  —  an  der 
Herausgabe  von  E  e  i  1  s  Archiv  (s.  oben)  teilnahm ;  ferner  des  um  die 
Entwicklungsgeschichte  so  verdienten  Bayern  Ignaz  Döllinger 
(1770—1841)  „Grundriss  der  Naturlehre  des  menschlichen 
Organismus",  Bamberg  1805,  und  endlich  dem  unvollendet  ge- 
bliebenen „Grundriss  der  Physiologie"  (Berlin  1821 — 28) 
C.  A.  Eudolphis  [1771—1832,  Professor  in  Rostock  und  Berlin],  des 
verdienten  Lehrers  von  Johannes  Müller, 

Der  Ruhm,  dem  physiologischen  Experiment  wieder  zu  der 
Bedeutung,  welche  ihm  Harvey  und  Hall  er  einst  gegeben  hatten, 
verholfen  und  es  auf  die  Grundlage  absoluter  „Voraussetzungslosig- 
keit"  gestellt  zu  haben,  gebührt  zwei  Nichtdeutschen,  in  erster  Linie 
wohl  dem  Franzosen  Magendie. 

Fran^ois  Magendie,  geb.  am  6,  Okt,  1783  in  Bordeaux,  studierte  in 
Paris,  wurde  1801  Interne,  dann  Prosektor  bei  dem  Anatomen  Boyer,  1808 
Doktor  mit  der  These  „sur  les  usages  du  voile  du  palais  et  sur  la  fracture 
des  cotes",  1826  Arzt  an  der  Salpetriere,  1836  an  Recamiers  Stelle  Pro- 
fessor am  College  de  France  und  Arzt  am  Hotel-Dieu,  sowie  Vizepräsident 
der  Ak.  der  Wissenschaften,    starb  am  7.  Okt.  1855    in  Sannois   bei  Paris, 

Physiologische  Hauptwerke:  „Precis  elementaire  de  physiologie'^,  zuerst  Paris 
1816.  „Anatomie  des  systemes  nerveux  des  animaux  ä  vertebres,  apj)liquee  ä  la 
Physiologie  et  ä  la  Zoologie",  Paris  zuerst  1821.  „Le^ons  sur  les  phenomenes 
2)hysiques  de  la  vie",  Paris  1835 — .38.  „Legons  sur  les  fonctions  et  les  maladies  du 
Systeme  nerveux,  redigees  par  C.  James'^,  Paris  1839. 

Bereits  im  Jahre  nach  seiner  Promotion  trat  Magendie  in  einer 
kleinen  Schrift  „Quelques  idees  gönerales  sur  les  phenomenes  parti- 
culiers  aux  corps  vivants",  Bulletin  des  sciences  medicales,  1809,  T,  2, 
aufs  energischste  gegen  die  herrschende  Lehre  von  der 
Lebenskraft,  welcher  er  vorwarf,  dass  sie  nur  ein  Wort  gebe  für 
das  unbekannte,  noch  zu  erklärende,  sowie  dass  von  einer  einheit- 
lichen Lebenskraft  gar  nicht  die  Rede  sein  könne,  dass  es  vielmehr 
sich  um  eine  ganze  Reihe  von  Eigenschaften  der  verschiedenen  Organe 
handele  (Kontraktitität,  Sensibilität  u.  s.  w,),  deren  Erklärung  im  ein- 
zelnen auf  der  Grundlage  der  Physik  und  Chemie  experimentell 
erfolgen  müsse.    Et  hat  sich  in  der  That   von  dieser  Zeit  ab  vor- 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       365 

wiegend  mit  T  i  e  r  v  e  rs  u  c  h  e  n  beschäftigt,  welche  der  Phj'siologie, 
der  Pathologie  und  der  Pharmakologie  in  gleich  hervorragender  Weise 
zu  gute  gekommen  sind.  In  Bezug  auf  die  erstrebte  Yoraussetzungs- 
losigkeit,  wie  auf  das  Bestreben,  möglichst  einfache  physikalische 
und  chemische  Erklärungen  scheinbar  verwickelter  Phänomene  zu 
geben,  schoss  er  freilich  oft  weit  über  das  Ziel  hinaus;  er  perhorres- 
cierte  die  historische  Forschung,  kümmerte  sich  so  gut  wie  gar  nicht 
um  die  frühere  Litteratur  und  trat  den  Anschauungen  seiner  Zeit- 
genossen mit  einem  bisweilen  übertriebenen  kritischen  Sarkasmus  ent- 
gegen. Seine  im  Jahre  1836  im  College  de  France  abgehaltenen 
..Legons  sur  les  phenomenes  physiques  de  la  vie",  im  Druck  erschienen 
1839  in  Paris,  sind  in  jeder  Beziehung  charakteristisch  für  die  Vor- 
züge wie  für  die  Schwächen  dieses  grossen  Meisters  der  Experimental- 
physiologie.  Physiologisches,  Pathologisches  und  Klinisches  ist  hier 
an  der  Hand  des  Tierexperimentes  wie  des  gerade  verfügbaren  klini- 
schen und  Autopsiematerials  in  zwangloser  Reihenfolge,  ja  manchmal 
buntem  Durcheinander  besprochen;  manches  mutet  uns  jetzt  höchst 
bedenklich  an.  Die  Besprechung  der  Resorptionswege,  der  Haut- 
poren und  der  physikalischen  Eigenschaft  der  „Imbibition"  der  Ge- 
webe führt  Magendie  zu  der  Behauptung,  dass  auch  die  von  ihm 
für  flüssig  gehaltenen  Krankheitsvirus  durch  Imbibition  aufgenommen 
würden,  wogegen  die  geringe  Quellungsfähigkeit  der  Epidermis 
schütze;  er  leugnet  daher  die  ,.Kontagiosität"  der  meisten  für 
ansteckend  erklärten  Krankheiten,  wie  Flecktyphus,  Cholera,  Pest, 
Gelbfieber  u.  s.  w.,  im  Sinne  der  damaligen  Vorstellungen  mit  Recht, 
angesichts  des  wirklichen  [heutzutage  erkannten]  Sachverhalts  mit 
einer  höchst  gefährlichen  Ueberzeugungstreue !  Auf  Grund  physika- 
lischer Versuche  an  flüssigkeitsgefüllten  Glasröhren  mit  eingebundenen 
Herzklappen  leugnet  er  die  Entstehung  der  Herztöne  durch  den 
Klappenschluss  und  will  sie  durch  Anschlagen  des  Herzens  an  die 
Brustwände  erklären;  daher  angeblich  ihr  Verschwinden  bei  Hydro- 
perikard  u.  s.  w.  Andererseits  finden  wir  eine  musterhafte  experimen- 
telle Hämodynamik,  unterstützt  durch  die  systematische  Anwendung 
des  von  Poiseuille  zur  Blutdruckmessung  eingeführten  u-förmigen 
Quecksilbermanometers  („hemodj-namometre")  und  die  Berücksichti- 
gung der  ausgezeichneten  physikalischen  Untersuchungen  dieses  Ge- 
lehrten über  die  Flüssigkeitsströmung  in  Röhren. 

Jean  Louis  Poiseuille,  Paris  1799 — 1869,  promovierte  1828  mit  der 
These  ..Recherches  sur  la  force  du  coeur  aortique",  welche  ebenso  wie  seine 
„Recherches  sur  les  causes  du  mouvement  du  sang  dans  les  veines"  (1832) 
preisgekrönt  wurde.     Mitglied  der  Acad.   de  medecine  seit   1842. 

Sonst  IC ichtige  Schriften:  „Recherches  sur  les  causes  du  mouvement  du  sang 
dans  les  capillaires"  {1829)  und  „Recherches  sur  les  liquides  dans  les  tubes  de  petit 
diametre"  {1844). 

Vor  allem  gross  und  musterhaft  ist  Magendie  in  der  experimen- 
tellen Untersuchung  wie  klinischen  und  pathologischen  Belegung  der 
Funktionen  des  Nervensystems.  Im  Jahre  1822  publizierte  er 
in  dem  von  ihm  begründeten  ..Journal  de  Physiologie  exp.  et  pathol." 
[11  Bände,  1821 — 1831]  ^)  die  Ergebnisse  seiner  Versuche  an  jungen 
Hunden,  welche  ihm  zeigten,  dass  Durchschneidung  der  vorderen 

>)  T.  2,  1822,  p.  276  u.  366. 


366  Heinrich  Boruttau. 

Wurzeln  des  Rückenmarks  die  betreffende  Extremität 
resp.  Körperhälfte  bewegungslos,  bei  erhaltener  Empfin- 
dung, macht,  und  Durchschneidung  der  hinteren  Wurzeln 
umgekehrt  Empfindungslosigkeit,  bei  erhaltener  Be- 
weglichkeit auf  schmerzhafte  Reizung  anderer  Teile, 
erzeugt.  Reizversuche  waren  weniger  eindeutig,  indem  von  allen 
Stümpfen  aus  seien  es  Schmerzäusserungen,  seien  es  Bewegungen  zu 
erzielen  waren.  Also  ergänzte  sich  die  Bei  Ische  Entdeckung  zu 
dem  auch  heute  noch  gültigen  „B eil- Magendi eschen  Gesetz", 
dass  die  vorderen  Wurzeln  vorwiegend  motorische,  die  hinteren 
Wurzeln  vorwiegend  sensible  Funktionen  besitzen.  Nachdem  Fod^ra 
[Michele,  Italiener,  wirkte  in  Paris],  der  ältere  Beclard  [1785 — 
1825],  Bellingeri,  Backer  in  Utrecht  u,  a.  denselben  Gegenstand 
mit  wechselnden  Ergebnissen  behandelt  hatten,  kam  im  Jahre  1831 
Johannes  Müller,^)  von  dessen  grundlegenden  Verdiensten  um 
die  deutsche  Biologie  des  neunzehnten  Jahrhunderts  bald  die  Rede 
sein  wird,  auf  Grund  von  wesentlich  an  Fröschen  angestellten  Ver- 
suchen (Durchschneidung  der  hinteren  Wurzeln  auf  der  einen  und  der 
vorderen  Wurzeln  auf  der  anderen  Seite)  zu  imgeiähr  den  gleichen 
Ergebnissen  wie  Magendie,  doch  erschienen  ihm  die  hinteren 
Wurzeln  in  Reizversu^hen  als  ausschliesslich  sensitiv.  Erst  1839  ent- 
deckte und  erklärte  Magendie-)  die  „sensibilite  recurrente" 
der  vorderen  Wurzeln  durch  die  Anastomosenbildung;  der  Verlauf 
von  vasomotorischen,  visceralen,  sekretorischen  u.  s.  w.  Fasern  in  jeder 
von  beiden  Wurzelarten  konnte  erst  in  viel  späteren  Zeiten  unter- 
sucht werden  und  ist  bekanntlich  z.  T.  noch  heute  streitig. 

Zugleich  mit  Magendies  Verdiensten  um  die  Nervenphysiologie 
müssen  genannt  werden  diejenigen  von  Flourens. 

M.  J.  P.  Flourens,  geb.  den  24.  April  1794  bei  Beziers  (Herault) 
war  bis  1848  Professor  der  vergleichenden  Anatomie  in  Paris,  später 
Sekretär  der  Akad.  der  Wiss.  und  Pair  von  Frankreich,  lebte  seit  48  als 
Privatmann,  starb  am  5.  Dezember  1867.  Er  ist  im  übrigen  verdient  durch 
seine  embryologischen  Arbeiten,  speziell  Knochenentwicklung,  eine  Ge- 
schichte der  Entdeckung  des  Blutkreislaufs  (18.57)  und  ein  Buch  über  „la 
Longevite  humaine"    1855. 

In  seinen  zuerst  1824  erschienenen  „Recherches  experimentales 
sur  les  proprietes  et  les  fonctions  du  Systeme  nerveux  dans  les  animaux 
vertebres"  (auch  deutsch  von  Becker)  und  deren  1825  erschienene 
Fortsetzung  „Experiences  sur  le  Systeme  nerveux"  ist  der  Lokalisations- 
gedanke  der  leitende  Faden.  Flourens  sieht  in  den  Grosshirn- 
hemisphären das  Organ  des  bewussten  Empfindens  und  Wollens;  die 
Koordination  der  Bewegungen  dagegen  verlegt  er  auf  Grund  zahl- 
reicher, alle  früheren  an  Exaktheit  übertreffenden  Tierversuche  und 
klinischen  Beobachtungen  indasKleinhirn.  Hiermit  im  Zusammen- 
hang steht  seine  berühmte  Entdeckung  der  lokomotorischen  Ko- 
ordinationsstörung nachLabyrinthexstirpation  bei  Tauben 
[in  den  Memoires  de  l'Acad.  des  Sciences  1828].  Am  bekanntesten 
wohl  ist  aber  seine  1837  angestellter  Versuch  der  Lokalisation  des 
Atemcentrums  in  der  Medulla  oblongata,  indem  er  auf  Ausstanzung 


? 


Frorieps  Notizen  1831,  S.  113. 

Lebens  sur  les  fonctions  nerveuses,  T.  2,  p.  153. 


I 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      367 

einer  kleinen  Partie  an  der  Spitze  des  Calamus  scriptorius  die  Atmung 
plötzlich  sistieren  und  die  Tiere  sterben  sah,  weshalb  er  diese  Stelle 
den  Lebensknoten  („Noeud  vital")  nannte  (veröffentlicht  in  der 
zweiten  Ausgabe  der  „Recherches  experim.  etc.",  Paris  1842,  Man 
ist,  wie  wir  sehen  werden,  seitdem  von  dieser  engbegrenzten  Lokalisation 
wieder  abgekommen.  Wir  haben  bereits  früher  gesehen,  wie  ältere 
Erfahrungen  über  die  zweckmässigen  Bewegungen  geköpfter  Kalt- 
blüter u.  s.  w.  zur  richtigen  Erkenntnis  der  BedeutungdesRücken- 
markesimReflexmechanismus  vorbereitet  hatten :  die  definitive 
Erkenntnis  der  Funktion  der  vorderen  und  hinteren  Wurzeln  bildet 
eine  weitere  Brücke  hierzu:  die  endliche  Darstellung  des  Reflex- 
mechanismus knüpft  sich  an  den  Namen  des  Engländers  Mars  hall 
Hall  [geb.  1790  in  Nottinghamshire,  studierte  und  promovierte  in 
Edinburgh,  bereiste  Frankreich  und  Deutschland  bis  1815,  praktizierte 
dann  als  Arzt  in  Nottingham,  von  1826  ab  in  London,  starb  1857  am 
Oesophaguskrebs].  Dieser  reichte  1833  der  Royal  Society  eine  Ab- 
handlung ein  „Thereflex  functionofthemedullaoblongata 
and  medulla  spinalis",  welcher  im  Jahre  1837  eine  zweite  folgte 
„The  true  spinal  marrow  and  excitomotory  System  of  nerves",  in 
welcher  er  die  Ansicht  aufstellte,  dass  es  neben  den  eigentlich  sen- 
siblen, die  Empfindungen  zum  Gehirn  leitenden  Nervenfasern  noch 
eine  besondere  Art  nur  bis  zum  Rückenmark  leitender  und  durch 
dessen  Vermittlung  die  Reflexbewegungen  erregender  —  „excito- 
motorischer"  Fasern  gebe,  was  er  später  auch  auf  die  Visceral- 
bewegung  ausdehnte  (Sphinktererschlaffung ,  „diastaltisches  Nerven- 
system"). Im  wesentlichen  richtig  hat  Marshall  Hall  die  Wirkung 
des  Strychnins  auf  das  Rückenmark  dargestellt,  wogegen  er  in 
seinen  übrigens  sehr  fruchtbaren  Untersuchungen  über  die  Epilepsie 
dem  Rückenmark  eine  übertriebene,  dem  Grosshirn  eine  nur  sekundäre 
Bedeutung  zuwies  und  als  Gegner  nicht  nur  der  G  all  sehen  Phreno- 
logie sondern  jeden  Lokalisationsgedankens,  der  weiteren 
Hirnforschung  in  diesem  Sinn  gewissermassen  hinderlich  geworden  ist. 
Ohne  in  den  Fehler  der  Annahme  eines  besonderen  excitomoto- 
rischen  Nervensystems  zu  verfallen,  und  völlig  unabhängig  von 
M a rshall  Hall  gelangte  gleichzeitig  zum  richtigen  Verständ- 
nis des  Reflexmechanismus  und  der  Bedeutung  des 
Rückenmarks  für  denselben  unser  grosser  Johannes  Müller*); 
auf  dessen  weitere  Verdienste  um  die  Nervenphysiologie  (Sympathicusj 
soll  weiter  unten  eingegangen  werden.  Die  Vorbedingung  für  die 
weitere  genaue  Würdigung  des  Rückenmarks  in  seiner  Doppel- 
rolle als  Reflexvermittler  und  als  Leitungsapparat  zum 
und  vom  Gehirn  musste  nunmehr  die  Untersuchung  der  Funktion  der 
einzelnen  Anteile  dieses  Organs  sein;  hierum  vor  allem  hat  sich  ein 
weiterer  Forscher  französischer  Nationalität  verdient  gemacht,  nämlich 
L  0  n  g  e  t. 

Frangois  Achille  Longet,  geb.  1811  in  St.  Germain  en  Laye,  1835  in 
Paris  promoviert,  Dozent  für  Experimentalphysiologie  daselbst,  1844  Mitglied 
der  medizin.  Akademie,  starb   1871  in  Bordeaux,  wohin  er  geflüchtet. 

Dieser  wies  im  Jahre  1841  in  seinen  „Recherches  sur  les 
proprietes  et  les  fonctions   des  faisceaux  de  la  moelle 


')  a.  a.  0. 


368  Heinrich  Boruttau. 

6  p  i  n  i  e  r  e"  u.  s.  w.  (mit  den  Monthyon-Preis  gekrönt)  auf  experi- 
mentellem Wege,  wie  auf  Grund  klinisch-anatomischer  Erfahrungen 
(Degeneration)  nach,  dass  die  weissen  Vorderseitenstränge 
die  willkürliche  Bewegung,  die  Hinterstränge  dagegen 
die  Empfindung  vermitteln;  später  fasste  er  in  einem  gleich- 
falls preisgekrönten  klassisch  gewordenen  Werke  „Anatomie  et 
Physiologie  du  Systeme  nerveux  de  l'homme  et  des  animaux  vertebres 
(2  Bde.  und  vorzügliche  Tafeln,  Paris  1843/46)  die  damaligen  Kennt- 
nisse über  das  Nervensystem  zusammen,  ein  Unternehmen,  welches 
in  gleichem  Umfange  bis  auf  den  heutigen  Tag  noch  nicht  wieder- 
holt worden  ist.  Die  Unterscheidung  der  Funktion  der  vorderen  und 
hinteren  Rückenmarksstränge  erfolgte  übrigens  gleichzeitig  und  un- 
abhängig auch  durch  van  Deen  (1804 — 1869,  eigentlich  Isaak 
Abrahamsohn  aus  ßurgsteinfurt,  studierte  in  Kopenhagen,  promo- 
vierte in  Leyden,  seit  1851  Professor  der  Physiologie  in  Groningen 
und  Begründer  des  dortigen  physiolog.  Instituts],  dem  allerdings  ihre 
isolierte  Reizung  noch  nicht  recht  glücken  wollte;  die  weitere  Ent- 
wicklung der  Physiologie  des  Nervensystems  von  hier  ab  kann  füglich 
erst  nach  Besprechung  der  Entdeckung  der  Ganglienzelle  und  der 
Begründung  der  Zellenlehre  erörtert  werden,  welche  die  Voraussetzung 
für  die  richtige  Deutung  dieser  Entdeckung  und  die  weitere  histo- 
logische Bearbeitung  dieses  Gebietes  bildete.  Von  Longets  Arbeiten 
sei  hier  gleich  noch  erwähnt,  dass  er  in  seinen  „Recherches  sur  les 
fonctions  des  muscles  et  des  nerfs  du  larynx"  und  anderen  Abhand- 
lungen unsere  modernen  Kenntnisse  von  der  Innervation 
des  Kehlkopfes  begründet  hat;  er  arbeitete  ferner  über  die 
Klassifikation  der  Hirnnerven,  [deren  man  bis  dahin  9  oder  10  Paare 
zählte,  der  Vago-accessorius  war  das  8.],  über  die  spezifische  Reiz- 
barkeit der  Muskelsubstanz  und  vieles  andere  und  gab  1850—52  ein 
grösseres  französisches  Handbuch  der  Physiologie  heraus 
(Traite  de  physiologie,  4.  Aufl.  1873,  3  Bde.). 

War  in  Frankreich  Magendie  als  Neubegründer  der 
Experimentalphysiologie  erstanden,  so  wirkte  als  erster  im 
gleichen  Sinne  auf  deutschem  Sprachgebiet  der  Czeche 
Purkinje. 

Job.  Evangelista  Purkyne,  geb.  am  17.  Dezember  1787  in  Libochowitz 
bei  Leitmeritz,  bereitete  ßich  erst  zum  Geistlichen  vor,  studierte  aber  dann 
in  Prag  Medizin,  wurde  anatomiscli-physiologis^cher  Assistent  daselbst  bei 
Rottenberger  und  Ilg,  promovierte  1819  mit  der  Aufsehen  erregenden  Disser- 
tation „Beiträge  zur  Kenntnis  des  Sehens  in  subjektiver  Hinsicht",  welche 
ihm  die  Freundschaft  und  Protektion  Goethes  verschaffte.  1823  wurde  er 
als  ordentlicher  Professor  der  Physiologie  und  Pathologie  nach  Breslau  be- 
rufen, wo  er  das  erste  selbständige  physiologische  Institut  begründete  und 
bis  1849  wirkte.  In  diesem  Jahre  Hess  er  sich,  nachdem  schon  vorher 
czechischer  Nationalpatriotismus  stark  bei  ihm  vorgetreten  war,  nach  Prag 
in  eine  gleiche  Stellung  berufen,  gründete  auch  hier  ein  physiologisches 
Institut,  sowie  die  czechische  naturwissenschaftliche  Zeitschrift  „Ziva".  Er 
trat  1867  wegen  hohen  Alters  von  der  Professur  zurück  und  starb  1869 
am  28.  Juli. 

Physiologisch  ivichtige  Schriften  ausser  obiger  Dissertation :  „De  examine  phyaio- 
logico  organi  visus  et  systematis  cutanei",  Breslau  1823. 

„Beobachtungen  und  Versuche  zur  Physiologie  der  Sinne:  Neue  Beiträge  zur 
Kenntnis  des  Sehens  u.  s.  tt?.",  Berlin  1825. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       369 

„Beiträge  ztir  Kenntnis   des  Schwindels'"   1820.    „De  plmenomeno  etc.  motus 

ibratorii   continui  in    niembranis  etc.",    mit    Valentin,    Breslau    1835.    Ausserdem 

viele  Dissertationen  unter  seiner  Leitung,   Mitteilungen  in  den  Krakauer  Annalen, 

in  Müllers  Archiv  [siehe  unten)  und  anderen  Zeitschriften,  sowie  Artikel  in  Rudolphi 

und  Wag7iers  Handbüchern  u.  s.  to.     Vgl.  noch  den  bibliograph.  Anhang. 

Purkinjes  Verdienst  ist  die  Begründung  der  experimen- 
tellen Erforschung  der  Sinnesphysiologie,  speziell  des 
Gesichtssinnes,  zunächst  in  subjektiver  Richtung:  Beobachtung  der 
nach  ihm  benannter  Aderfigur,  der  Druck-  und  galvan.  Durch- 
strömungsphosphene,  des  ..Pur  kinj  eschen  Phänomens", 
dass  zwei  verschiedenfarbige  mit  gleicher  Intensität  beleuchtete 
Flächen  verschieden  hell  erscheinen;  —  doch  auch  in  objektiver 
Hinsicht:  die  Beschi-eibung  der  nach  ihm  benannten  Flammen- 
bildchen im  Auge;  auch  akustische  Beobachtungen  (Abhören  der 
Chladnischen  Klangfiguren  mit  dem  Hörrohi')  gehören  hierher. 
Von  ihm  stammt  ein  Grundbegriff  der  allgemeinen  Sinnes-,  Nerven- 
und  Muskelphysiologie,  die  „Reizschwelle".  Er  entdeckte  zu- 
sammen mit  Valentin  (s.  unten)  1835  die  kontinuierliche  Flimmer- 
bewegung an  Schleimhäuten  und  wies  ihre  Unabhängigkeit  vom 
Centralnervensystem  nach.  Zahh-eich  sind  seine  Verdienste  um  die 
Entwicklungsgeschichte  (Entdeckung  des  Keimflecks  u.  a.), 
und  von  phj'siologischer  Bedeutung  seine  mikroskopischen  Unter- 
suchungen speziell  des  Nervensystems :  Auf  der  Prager  Xaturforscher- 
versammlung  1837  teilte  er  Beobachtungen  über  den  Bau  der  Nerven- 
faser mit  und  gebrauchte  zuerst  die  Bezeichnung  des 
,.Achsency linders"  für  deren  centrales  Gebilde,  welches  er  für 
flüssig  hielt  (Remaks  „Achsen band"),  some  über  die  „Ganglien- 
körper"  oder  ,.Ganglienkugeln",  wie  sie  ihr  erster  Beobachter 
Ehrenberg  1833  genannt  hatte,  und  sprach  sich  für  ihre  Bedeutung 
als  Centralorgane  aus.  Ebendaselbst  hatte  er  auch  auf  die  ,.Kern- 
gebilde"  als  Grundsubstrat  („Enchym")  aller  Drüsen  hingewiesen 
und  deren  Analogie  mit  den  Kernen  der  Pflanzenzellen  erwähnt,  wes- 
halb ihm  wohl  auch  die  Priorität  vor  Schwann  als  Begründer  der 
tierischen  Zellenlehre  zugeschrieben  worden  ist.  ja  er  selbst  die  Grund- 
idee in  einer  Besprechung  von  Schwanns  Buch  (s.  u.)  1839  auch 
für  sich  in  Anspruch  nahm.  Weitere  Verdienste  Purkinjes  um 
die  Anatomie  des  sympathischen  Systems  und  die  Physiologie  der 
Verdauung  werden  noch  an  entsprechender  Stelle  erwähnt  werden. 
Eine  „Schule"  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  hat  Purkinje 
nicht  begründet,  indessen  hat  die  Physiologie  seinem  begabtesten 
Schüler  und  Mitarbeiter  Valentin  manches  zu  verdanken. 

Gabriel  Gustav  Valentin,  geb.  den  8.  Juli  1810  in  Breslau,  promovierte 
daselbst  1832  mit  der  Dissertation  „Historiae  evolutionis  systematis  mus- 
cularis  prolusio",  wurde  1836  als  ordentlicher  Professor  der  Physiologie 
nach  Bern  berufen,  von  welchem  Amte  er  infolge  Schlaganfalls  1881  zurück- 
trat, starb  am  24.  Mai  1883. 

Er  schrieb  höchst  wichtige  Bücher  zur  Entiiicklungsgeschichfe,  zahlreiche  Einzel- 
abhandlungen in  den  verschiedensten  Archiven  und  Zeitschriften,  gab  18.36— 184.H 
den  ersten  selbständigen  Jahresbericht,  das  „Repertorium  für  Anatomie  und  Physio- 
logie" heraus,  1844  ein  grosses  Lehrbuch  der  Physiologie  (Braunschw..  2  Bde.), 
2  Jahre  späte}'  einen  ,^Grundriss"^  (ebenda  1846).  Von  seinen  Einzelarbeiten  wird 
bei  Gelegenheit  noch  die  Rede  sein. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  24 


370  Heinrich  Boruttau. 

Etwas  jünger  als  M  a  g  e  n  d  i  e  einerseits  und  Purkinje  anderer- 
seits, doch  mit  ihnen  gleichzeitig  wirkend  tritt  uns  ein  Mann  ent- 
gegen, dessen  geniale,  gründliche  und  vielseitige 
Forschung  und  dessen  Beispiel  und  Lehrthätigkeit 
Deutschland  den  ersten  Platz  in  der  Experimental- 
physiologie  der  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
gesichert  hat  —  Johannes  Müller. 

Johannes  Müller  wurde  als  Sohn  eines  Schuhmachers  in  Coblenz  am 
14.  Juli  1801  geboren,  schon  während  seiner  Schulzeit  durch  den  damaligen 
Coblenzer  Schulrat  und  späteren  vortragenden  Kat  im  preussischen  Kultus- 
ministerium Joh.  Schultze  „entdeckt"  und  in  jeder  Weise  gefördert,  studierte 
1819  in  Bonn,  erwarb  sich  den  Fakultätspreis  mit  der  Arbeit  „De 
respiratione  foetus"  (im  Druck  erschienen  1823),  promovierte  1822  mit 
der  Dissertation  „De  phoronomia  animalium"  (unter  Benutzung  einer  in 
demselben  Jahre  in  Okens  „Isis"  veröffentlichten  Abhandlung  „Beobach- 
tungen über  die  Gesetze  und  Zahlenverhältnisse  der  Bewegung  in  den  ver- 
schiedenen Tierklassen".  Dann  ging  er  mit  ministeriellen  Unterstützungen 
nach  Berlin,  wo  er  in  nähere  Beziehungen  zu  Rudolph!  (s.  oben)  trat,  bei 
diesem  sich  eifrig  mit  Anatomie  und  Physiologie  beschäftigte  und  1824  das 
medizinische  Staatsexamen  ablegte.  Noch  im  selben  Jahre  habilitierte  er 
sich  in  Bonn  als  Privatdozent,  wurde  1826  ausserordentlicher  und  1830 
ordentlicher  Professor.  Durch  Schultzes  Einfluss  beständig  unterstützt  (Er- 
holungsreise nach  einer  Nervenerkrankung  infolge  Ueberarbeitung  1827), 
wagte  er  nach  dem  Tode  seines  Lehrers  Eudolphi  1833  in  einem  Schreiben 
an  den  Minister  Altenstein  sich  selbst  zu  empfehlen  und  wurde  auch  im 
selben  Jahre  ordentl.  Prof.  der  Anatomie  und  Physiologie,  Direktor  des 
anatom.  Theaters  und  anatom.-zoolog.  Museums  in  Berlin,  welche  Stellung 
er  bis  zu  seinem  trotz  eingetretener  Kränklichkeit  ziemlich  plötzlichen  Tode 
am  28.   April  1858  bekleidete. 

Physiologisch  wichtige  Schriften  ausser  den  bisher  schon  erwähnten:  „Zur  ver- 
gleichenden Physiologie  des  Gesichtssinnes  des  Menschen  und  der  Tiere'^  u.  s.  v.. 
Leipz.  1826.  —  „  Ud)er  die  pJmntastischen  Gesichtserscheinungen",  Coblenz  1826.  — 
„Gh'undriss  der  Vorlesungen  über  Physiologie",  Bonn  1827.  —  „De  Glandularuin 
secernentium  structura  2}cnitiori  earumque  prima  formatione  etc.",  Leipz.  1830.  — 
„Bildungsgeschichte  der  Genitalien"  u.  s.  tu.,  Düsseldorf  1830.  —  „Handbuch  der 
Physiologie  des  Menschen  für  Vorlesungen",  1.  Band  zuerst  Coblenz  1833/34,  letzte, 
4.  Aufl.  ebenda  1841144;  2.  Band  einzige  Auflage,  ebenda  1837 — 1840.  Ausserdem 
zahllose  kleinere  Abhandlungen  in  Handbüchern,  Zeitschriften  und  Archiven. 

Joh.  Müllers  grosse  Bedeutung  liegt  einmal  in  seinem  un be- 
irrten Streben  nach  Objektivität,  in  welchem  er  sich  anfangs 
von  den  grundlegenden  Irrtümern  der  Naturphilosophie  allmählich  zu 
Besserem  bekehren  lassen  musste  (Einfluss  R  u  d  o  1  p  h  i  s  u.  a.) :  nach  d  u 
Bois-Reymonds  Aeusserung  in  seiner  klassischen  Biographie  J o h. 
Müllers^)  das  Charakteristikum  des  wahren  Reformators  (z.  ß. 
Luther),  weiterhin  aber  in  seiner  fast  universellenVielseitig- 
keit,  welche  alle  Gebiete  der  gesamten  biologischen  Wissenschaften 
beherrschte  und  durch  eigene  Arbeiten  förderte;  durch  diese  beiden 
Eigenschaften  hat  er,  auch  ohne  eine  oder  mehrere  bestimmte  Ent- 
deckungen zu  machen,  welche  auf  einem  Spezialgebiet  selbständig 
epochemachend  gewirkt  hätten,  der  gesamten  biologischen  Forschung 
bis  weit   über  Deutschlands   Grenzen   hinaus   für   alle   Zukunft   die 


^)  Abh.  der  Berl.  Ak.  d.  Wissensch.,  Jahrg.  1859,  hier  spez.  S.  86.  87. 


Geschichte  der  Physiologie  in  iht-er  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       371 

richtigen  Wege  gewiesen.  Umfassend  wie  seine  forschende  und 
lehrende,  war  auch  seine  litterarische  Thätigkeit;  nachdem  er  schon 
vorher  für  viele  Zeitschriften  u.  s.  w.  selbständige  wie  referierende 
Beiträge  geliefert,  solche  insbesondere  einem  bei  dieser  Gelegenheit 
speziell  zu  erwähnenden,  von  entschiedenem  Streben  nach  Objektivität 
geleiteten,  doch  aber  immer  noch  nicht  von  naturphilosophischen 
Banden  freien  Unternehmen  zugewendet  hatte,  nämlich  des  älteren 
B  u  r  d  a  c  h  [K  a  r  1  F  r  i  e  d  r  i  c  h .  1776 — 1847,  Prof.  in  Dorpat  und  Königs- 
berg] großem  Werke  „Die  Physiologie  als  Erfahrungswissen - 
Schaft''  (6  Bände,  Leipzig  1826— 1840),  ließ  er  auf  seine  kleinen  Grund- 
risse der  Physiologie  und  der  allgemeinen  Pathologie  (1827  und  1829)  sehr 
bald  sein  berühmtes  ..Handbuch  der  Physiologie"  folgen, 
ein  Werk,  welches  als  erstes  des  Vergleiches  mit  Hallers 
Elementa  wiederum  würdiges  Werk  mit  Eecht  gepriesen 
worden  ist,  wenngleich  weder  die  Vollständigkeit  des  Inhalts,  insbe- 
sondere der  Litteratur,  noch  die  Form  der  Darstellung  an  Haller 
heranreichen.  Nach  dem  Tode  des  grossen  vergleichenden  Anatomen 
.T.  F.  Meckel  des  jüngeren  [1781 — 1833],  welcher  als  Fortsetzung 
des  Eeilschen  „Archivs  für  die  Physiologie"  (die  späteren  Bänden 
mit  Autenrieth,  vgl.  oben)  vom  Jahre  1815  ab  das  „deutsche  Archiv 
für  [Anatomie  und]  Physiologie"  herausgegeben  hatte,  übernahm  1834 
Johannes  Müller  die  Weiterführung  desselben,  welche  unter  dem 
Titel  „Archiv  für  Anatomie,  Physiologie  und  wissen- 
schaftliche Medizin"  erfolgte  und  fügte  demselben  alsbald  einen 
mit  ihm  verbunden  bleibenden  „Jahresbericht  über  die  Fort- 
schritte der  Anatomie  und  Physiologie  (im  Jahre  1833)"  bei,  nach- 
dem er  früher  für  die  zwei  Jahre  1824  und  25  den  Jahresbericht  der 
schwedischen  Akademie  der  Wissenschaft  über  die  Fortschritte  der 
Anatomie  und  Physiologie  der  Tiere  und  Pflanzen  übersetzt  und  mit 
Zusätzen  herausgegeben  hatte.  In  der  Einleitung  seines  Handbuchs 
zeigt  sich  Joh.  Müller  als  unbedingter  Anhänger  der  Lehre 
von  der  „Lebenskraft",  welche  als  gewissermassen  personifi- 
ziertes Agens  mit  absoluter  Kenntnis  der  Gesetze  der  Physik  und 
Chemie  die  Lebensfunktionen  leiten,  mit  diesen  aber  durchaus  nicht 
zu  identifizieren  sein  sollte.  Trotz  der  von  seinen  eigenen  Schülern 
in  diese  Lehre  gelegten  Breschen  ist  M  tt  1 1  e  r  Zeit  s  e  i  n  e  s  L  e  b  e  n  s 
Vitalist  geblieben:  vielleicht  war  es  ein  Rest  der  anfänglich 
von  ihm  betretenen  naturphilosophischen  Richtung,  welcher  haften 
geblieben  war,  einer  Richtung,  die  als  wertvollere  Folge  eine  im 
wahren  Sinne  des  Wortes  philosophische,  d.  h.  logisch  ver- 
bindende und  zusammenfassende  Behandln ngsweise  der  bio- 
logischen Disziplinen  gefördert  hatte,  sowie  auch  ein  stetes 
Interesse  für  die  Avissenschaftliche  Psychologie  [siehein 
seinem  Handbuche  den  Abschnitt  über  Gehirn  und  Seelenleben], 
deren  einzig  richtige  Grundlage  Johannes  Müller  be- 
reits in  den  Thesen  zu  seiner  Dissertation  mit  den 
klassischen  Worten  „Nemo  psychologus  nisi  physio- 
logus"  für  alle  Zeiten  festgelegt  hat,  —  und  das  zu  einer 
Zeit,  wo  er  selbst  noch  die  einfache  Beobachtung  weit  über  das 
Experiment  stellte!  Es  hing  wohl  mit  dieser  Jugendrichtung  zu- 
sammen, dass  seine  ersten  wichtigen  Arbeiten  grossenteils  die 
Sinnesphysiologie  betreifen,  und  zwar  zunächst  das  subjektive 
(„Phantasmen"),  später  auch  das  objektive  (vergleichende  Physiologie 

24*"^ 


372  Heinrich  Boruttau. 

des  Gesichtssirines)  speziell  des  Gesichtssinnes,  doch  in  so  glänzender 
Weise  bearbeitet,  dass  diese  Untersuchungen  zusammen  mit  den- 
jenigen Purkinjes  ein  würdiges  Vorspiel  der  Glanzleistungen  von  Helm- 
holtz  und  Hering  bilden.  Was  die  Verdienste  Müllers  um  die 
Nervenphysiologie  betrifft,  so  ist  von  der  Reflexlehre  schon 
oben  die  Rede  gewesen ;  andere  Arbeiten  betreffen  das  sympathische 
System  und  zwar  besonders  seine  Beziehungen  zu  den  Geschlechts- 
organen und  zur  Erektion,  \)  deren  Mechanismus  übrigens  Müller 
durch  die  Entdeckung  der  Arteriae  helicinae  -)  aufgeklärt  zu  haben 
glaubte  —  leider  zu  früh;  auch  Untersuchungen  über  dem  Sym- 
pathicus  analoge  Nervengebilde  ^)  und  über  die  Geschlechtsorgane  und 
ihre  Entwicklung  bei  verschiedenen  Tierarten  liegen  vor  und  bilden 
nur  ein  weniges  von  dem  vielen,  was  Müller  auf  dem  Gebiet  der 
vergleichenden  Physiologie  geleistet,  und  womit  er  der  Er- 
forschung des  Lebens  neue  Wege  gewiesen :  war  ihm  doch  jede 
Methode  recht,  welche  zum  Ziel  führt,  und  war  kein  Gebiet 
für  ihn  ohne  Interesse.  Mangelhaft  erscheint  uns  jetzt  die  Dar- 
stellung der  allgemeinen  Muskelphysiologie  in  seinem  Handbuch,  wo- 
gegen er  wieder  die  spezielle  bereichert  hat  durch  die  Entdeckung 
der  „Kompensation"  bei  der  Stimmbildung  im  Kehl- 
kopf*) [d.  h.  der  Einstellung  der  Stärke  der  Exspiration  und  der 
Stimmbandspannung  für  jede  Note  bei  verschiedener  Lautheit],  dessen 
physikalische  Natur  als  membranöse  Zungenpfeife  von 
ihm  zuerst  richtig  dargestellt  worden  ist.  Die  Zirkulationslehre 
hat  er  durch  die  Entdeckung  der  Lymphherzen  beim  Frosche^) 
bereichert;  für  die  Kenntnis  der  Drüsen  und  des  Sekretions- 
vorgangs durch  die  hier  wie  sonst  bei  ihm  so  erfolgreiche  An- 
wendung des  Mikroskops  bahnbrechend  gewirkt,  indem  er  („de 
glandularum  secernentium  structura",  s.  oben)  ihnen  mit  einem  Kapillar- 
netz umgebene  spezifische  Wandungen  (der  Bläschen  oder 
Schläuche)  zuschrieb,  mit  für  jede  Drüsenart  spezifischer 
Fähigkeit  bestimmte  Stoffe  aus  dem  Blute  zu  entnehmen; 
noch  kannte  er  damals  nicht  die  von  seinem  Schüler  Schwann  ent- 
deckte tierische  Z  e  1 1  s  t  r  u  k  t  u  r ,  für  weche  Entdeckung  er  übrigens 
ebenso  gut  wie  Purkinje  zum  Vorläufer  wurde  durch  die  Be- 
schreibung der  Knorpelkerne  gelegentlich  seiner  pathologisch- 
anatomischen Studien  über  die  Enchondrome  und  andere  Neubildungen, 
auf  welche  hier  leider  ebensowenig  näher  eingegangen  werden  kann, 
wie  auf  seine  zahllosen  rein  zoologischen  Arbeiten ,  welche 
beginnend  mit  seiner  vergleichenden  Anatomie  der  Myxinoiden  (1834) 
in  seiner  Berliner  Zeit  immer  mehr,  in  den  letzten  Jahren  ausschliess- 
lich in  den  Vordergrund  traten  und  ihm  ausser  seiner  speziell  physio- 
logischen Bedeutung  noch  zu  einem  der  grössten  Zoologen,  zum  Ri- 
valen Cuviers  gemacht  haben.  In  der  Entwicklungsgeschichte 
ist  sein  Name  unsterblich  geworden  durch  den  „Müll  er  sehen  Gang", 
den  rudimentären  Ovidukt  des  Mannes.  *) 


')  Physika!.  Abh.  der  Berl.  Akad.,  Jg.  1835,  S.  93. 
*)  Müllers  Arch.,  1836.  S.  202. 
3)  Verf.  der  Leop.-Carol.  Ak.  VI,  1,  S.  71 ;  1829. 

*)  Ueber  die  Kompensation  der  physischen  Kräfte  am  menschl,  Stimmorgan  u.  s.  w. 
Berlin  1839. 

•■*)  Müllers  Archiv,  Jahrg.  1834,  S.  296  (schon  33  engl,  in  den  Phil.  Trans.). 
")  Bildlingsgeschichte  der  Genitalien,  Düsseld.  1830. 


I 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       373 

Endlich  fehlt  es  auch  nicht  an  chemischen  Arbeiten  Müllers, 
z.B.  mit  Schwann  über  die  Verdauung',^)  u.v.a.,  so  dass  es  bei 
solcher  Vielseitigkeit  nicht  Wunder  nehmen  darf,  dass  im  Laufe  der 
Thätigkeit  der  vielen  bedeutenden  Schüler,  welche  Joh. 
Müllers  Lehrthätigkeit  anzog  [u.  a.  du  Bois-Eeymond,  Brücke, 
Claparede,  Häckel,  Helmholtz,  Henle,  Lieberkühn  d.  j., 
Remak,  Schwann,  Max  Schnitze,  Virchow]  aus  seiner 
..Schule"  mehrere  Schulen  oder  vielmehr  Arbeitsrich- 
tungen abzweigten,  welche  wir  fügUch  einteilen  können  in  die 
histologische,  die  physikalisch-experimentelle  und  die 
chemische  Richtung,  eine  Spezialisierung  der  Physiologie  um 
die  Mitte  des  Jahrhunderts,  zu  welcher  sicher  beigetragen  hat  die 
Thätigkeit  einiger  hervorragender  Zeitgenossen  Johannes 
Müllers,  denen  wir  uns  zunächst  zuwenden  müssen. 

Hier  sind  als  Pioniere  der  physikalischen  Physiologie 
zunächst  die  drei  Brüder  Weber  zu  nennen,  zwei  Physiologen 
und  Anatomen  (der  älteste  und  jüngste),  ein  Physiker  (der  mittlere), 
alle  drei  Söhne  des  ,.frommen  Biedermannes".  Theologieprofessors  in 
Wittenberg.  Michael  W^eber  (7  1833). 

1.  Ernst  Heinrich  Weber,  geb.  24.  Januar  1795,  promovierte 
1815  in  Wittenberg,  habilitierte  sich  mit  den  Dissertationen  „De  systemate 
nerveo  organico"  und  „Anatomia  comparatu  nervi  sympathici"  1817  in 
Leipzig,  wurde  1818  Extraordinarius  für  vergl.  Anatomie  daselbst,  1821 
Ordinarius  für  Anatomie  und  Physiologie,  gab  letztere  1866,  erstere  1871 
Alters  halber  auf,  starb  am  26.  Januar  1878. 

Seine  physiolog.  und  anatom.  Schriften,  meist  als  Programme  erschienen,  sind 
gesammelt  als  ,,Annotationes  anatomicae  et  physiolog icae'-',  Leipz.  1851;  sonst  ist  zu 
criL-ähnen  der  Artikel  „Tastsinn  und  Genteingefühl"  in  Rnd.  Wagners  Handwörter- 
hitch  (s.  später),  die  Bearbeitung  von  Hildebrands  und  von  Rosenmüllers  Anatomie- 
büchern; von  seinen  Anteilen  an  der  „Wellenlehre''''  loird  unten  die  Rede  sein. 

2.  Wilhelm  Ed.  Weber,  der  berühmte  Physiker,  geb.  am  24.  Okt. 
1804,  1826  promoviert,  von  1831  bis  1837  (Absetzung  als  einer  der 
-Gröttinger  Sieben")  und  wieder  von  1848  bis  zu  seinem  Tode  Ordinarius 
der  Physik  in  Göttingen,   gest.  am  25  Juni   1891. 

Hier  soll  nur  auf  seinen  physiJcal.-mathem.  Einfiuss  au f  die  Arbeiten  der  anderen 
Brüder,  sowie  seine  Beteiligung  an  der  „Wellenlehre-',  mit  E.  H.  Weber,  1825  in 
Leipzig  erschienen,  und  an  der  ,.Mechanik  der  menschlichen  Gehwerkzeuge",  mit 
Eduard  Weber,  1837  in  Göttingen  erschienen,  hingewiesen  tcerden. 

3.  Eduard  Fr.  Wilh.  Weber,  geb.  6.  März  1806,  promovierte  in 
Halle  1829.  praktizierte  erst,  wurde  1836  Prosektor  bei  seinem  älteren 
Bruder  in  Leipzig,  habilitierte  sich  1837  mit  der  später  noch  zu  erwähnen- 
den Schrift  „Quaestiones  physiologicae  de  phaenomenis  galvano-magneticis 
in  corpore  humano  observatis",  wurde  1847  Extraordinarius,  starb  am 
18.  Mai   1871. 

Er  schrieb  den  Artikel  ,.Muskelbeicegung"  in  Wagners  Handwörterbuch,  gab  mit 
Wilh.  Weber  die  „Mechanik  der  menschl.  Gehwerkzeuge-"  heraus  u.  a.  m. 

Diesen  drei  Brüdern  gebührt  das  unsterbliche  Ver- 
dienst, die  moderne,  exakte,  in  allen  Teilen  mathema- 
tisch bearbeitete  Physik  mit  früher  ungeahntem  Er- 
folge  auf  die   differenzierten   Funktionen  der  Organe 

')  Müllers  Arch..  1836.  S.  66. 


374  .  Heinrich  B,orattau. 

und  Systeme  des  höheren  Organismus  angewendet  zu 
haben.  Die  „Wellenlehre,  begründet  auf  Experimente,"  Ernst 
Heinrichs  und  Wilhelms  wurde  in  gleicher  Weise  grundlegend  für 
die  Hämodynamik  —  Entstehung  und  Fortpflanzung  der  Puls  welle  als 
„Schlauchwelle"  — ,  wie  auch  für  die  physiologische  Akustik,  die  Ein- 
führung der  Elastizitätslehre  in  die  allgemeine  Muskel- 
physik durch  E  d  u  a  r  d  AV  e  b  e  r  wurde  der  Anstoss  zur  exakteren  Be- 
arbeitung dieses  Gebietes,  wenngleich  mit  seiner  so  fruchtbringenden 
Auffassung,  dass  die  Elastizitätsverhältnisse  des  Muskels  bei  seiner 
Thätigkeit  sich  ändern,  der  prinzipielle  Fehler  der  Identifizierung  der 
elastischen  Kraft  und  der  Kontraktionskraft  verbunden  war,  dessen 
allmäliche  Überwindung  später  Mühe  kostete.  Grundlegend  durch 
ihre  exakte  Methodik  wurden  Wilhelm  und  Eduards  gemein- 
schaftliche Untersuchungen  über  die  Mechanik  dei- 
menschlichen  Gehwerkzeuge,  in  welchen  sie  eine  zumal  in 
Anbetracht  der  primitiven  damaligen  Hilfsmittel  wunderbar  voll- 
kommene Erklärung  der  menschlichen  Lokomotion  gaben,  welche  mit 
den  Borellischen  Irrtümern  gründlich  aufräumte,  wenn  auch  mancher 
theoretische  Schluss  darin  (die  passive  Pendelschwingung  des  in- 
aktiven Beins,  das  Prinzip  der  horizontalen  Bewegung  des  Schwer- 
punktes u.  a.  m.)  später  besserer  Erkenntnis  hat  weichen  müssen. 

Die  inzwischen  erfolgte  Entdeckung  des  Elektromag-netismus 
[Oersted  1820]  und  der  elektrischen  und  elektromagnetischen  In- 
duktion [Faraday  1832]  bot,  gleichwie  sie  der  Physik  und  Technik 
eine  neue  Welt  erschloss  und  gerade  in  Gauss'  und  Wilh.  AVebers 
Hand  zu  der  umwälzenden  Erfindung  des  elektromagnetischen  Tele- 
graphen führte  (1833),  auch  der  Physiologie  ein  neues  Hilfsmittel 
zu  wirklich  exakten  elektrischen  Keizversuchen  in  Ge- 
stalt der  Induktionsströme  (Pixiis  und  Stöhrers  magnet- 
elektrische Maschinen),  deren  Applikation  wieder  in  den  Händen  der 
Brüder  Eduard  und  Ernst  Heinrich  Webe  r  die  so  überraschend  klare 
Beantwortung  der  bis  dahin  so  streitigen  Frage  nach  der  Wirkung 
der  Herznerven  brachte :^)  Eeizung  des  Vagus  (die  Brüder 
Weber  hielten  noch  gleichzeitige  Reizung  beider  Vagi  für  nötig) 
bewirkt  Verlangsamung  oder  Stillstand.  Reizung  des 
Sympathicus  Beschleunigung  der  Herzthätigkeit.  Gleich- 
zeitig und  unabhängig  machte  übrigens  Budge  die  nämliche  Ent- 
deckung. [Julius  L.  Budge,  geb.  1811  in  Frankfurt,  1833  promo- 
viert; habilitiert,  Extraordinarius  und  Ordinarius  in  Bonn,  seit  1856 
Ordinarius  für  Anatomie  und  Physiologie  in  Greifswald,  starb  1888; 
von  seinen  Verdiensten  um  die  Physiologie  des  Auges,  der  Leber,  des 
Sympathicus  im  allgemeinen  wird  noch  die  Rede  sein.]  Verdienste 
der  Gebrüder  Weber  werden  uns  noch  bei  mancherlei  Gelegenheit 
begegnen;  als  bedeutender  Schüler  Ernst  Heinrich  Webers  ist 
vor  allem  Volkmann  zu  nennen  [Alfred  Wilhelm  (von)  V o  1  k m a n n . 
geb.  1.  Juli  1800  in  Leipzig,  studierte  und  promovierte  daselbst  mit  einei- 
Abhandlung  über  den  tierischen  Magnetismus,  habilitierte  sich  ebenda 
1828,  wurde  1834  Extraordinarius  für  Zoologie,  ging  1837  als  Ordi- 
narius für  Physiologie  nach  Dorpat,  1843  desgleichen  nach  Halle, 
übernahm  1854  auch  die  Anatomie,  gab  1872  die  Physiologie  an 
Bernstein  ab,  trat  1876  ganz  zurück,  starb  am  21.  April  1877].  auf 


*)  1835,  Mitteilung  auf  der  Naturforscherversammlung  iu  Neapel. 


Geschichte  der  Physiologie  iu  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      375 

dessen  Leistungen  und  Schriften  wir  bei  der  Besprechung  der  Fort- 
schritte der  Hämodynamik  und  der  Sympathicusphysiologie  noch  zu 
sprechen  kommen  werden.  Hier  hätten  wir  einstweilen  noch  Her- 
mann Nasses  [geb.  1807  in  Bielefeld,  1831  in  Bonn  habilitiert,  1837 
Ordinarius  in  Marburg  und  Direktor  des  physiologischen  Instituts  bis 
1879,  wo  er  zurücktrat,  gestorben  1892]  zu  gedenken,  welcher  mit 
seinem  Vater,  dem  Bonner  Kliniker  Christ.  Friedr.  Nasse  (1778  bis 
1851)  im  Jahre  1835—39  die  ..Beiträge  zur  Physiologie  und 
Pathologie  des  Bluts"  herausgab  und  auch  weiterhin  in  seinen 
Arbeiten  ,.Ueber  den  Einfluss  der  Nahrung  auf  das  Blut"  und  ,.Ueber 
die  Lymphe  und  deren  Bildung"  insbesondere  die  Lehre  von  der 
Resorption  und  Lymphbildung  gefördert  hat. 

Um  die  Entwicklung  der  physiologischen  Chemie 
hatten  sich  bereits  vor  Joh.  Müller  zwei  Männer  verdient  gemacht, 
deren  einer  gleichzeitig  einer  der  angesehensten  Physiologen  seiner 
Zeit  überhaupt  war,  wenngleich  seine  nichtchemischen  Arbeiten  mehr 
rein  anatomischer  und  nicht  experimenteller  Art  sind:  es  ist  dies 
Tiedemann  [Fried rieh,  geb. 23.  August  1781  in  Cassel,  promovierte 
1804  in  Marburg,  wurde  1805  ord.  Professor  der  Zoologie  und  Ana- 
tomie in  Landshut,  1816  desgl.  sowie  ausserdem  noch  Vertreter  der 
Physiologie  in  Heidelberg,  erbaute  das  dortige  anatomische  Theater,  trat 
infolge  des  Revolutionsjahi-es  1849  zurück,  starb  in  München  am 
22.  Jan.  1861.  Er  gab  eine  unvollendet  gebliebene  Physiologie  des 
Menschen  heraus  d.  Bd.  1830.  3.  1836).  Auch  von  physiologischer 
Bedeutung  sind  sein  grosses  Tafelwerk  der  menschlichen  Arterien 
1 1822 ),  sowie  seine  vergleichend  anatomischen  Arbeiten  über  das  Gehirn, 
auf  welche  wir  noch  zurückkommen  werden] ;  der  andere,  einer  alten, 
weitverzweigten  Gelehrtenfamilie ^)  angehörige,  ist  Leopold  Gmelin 
[geb.  den  2.  August  1788  in  Göttingen.  1813  promoviert  und  in 
Heidelberg  habilitiert,  wurde  daselbst  1814  Extraordinarius.  1817 
Ordinarius  für  Medizin  und  Chemie,  in  welcher  Eigenschaft  er  viele 
rein  chemische  Arbeiten  hervorgebracht  hat,  ausser  den  gleich  zu  be- 
sprechenden physiologischen;  trat  1851  zurück  und  starb  am  13.  April 
1853].  Diese  beiden  Forscher  vereinigten  ihr  Wirken 
zu  einer  grossartig  erfolgreichen  Bearbeitung  der  ge- 
samten Lehre  von  der  Verdauung.  Resorption  und  Assi- 
milation; über  die  letzteren  beiden  Gebiete  erschien  bereits  1820 
in  Heidelberg  das  Schriftchen  ..Versuche  über  die  Wege,  auf  welchen 
Substanzen  aus  dem  Magen  und  Darmkanal  ins  Blut  gelangen,  über 
die  Verrichtung  der  Milz  und  die  geheimen  Harnwege",  in  welchem 
sie  durch  schlagende  Experimente  die  Bedeutung  des  Lymph- 
systems für  die  Resorption  aufklärten,  den  Grund  zur  Erkennt- 
nis der  Funktionen  der  Milz  als  blutbildenden  Organs  legten  und  die 
Unhaltbarkeit  des  immer  noch  bestehenden  Aberglaubens  der  Existenz 
geheimer  Harnwege  ein  für  allemal  bewiesen.  Ein  durch  systematische 
und  vergleichende  Anwendung  der  chemischen  wie  auch  experimen- 
tellen und  mikroskopischen  Methodik  zustande  gebrachtes  grosses 
Werk  von  bleibender  Bedeutung  schufen  ferner  Tiedemann  und 
Gmelin  in  ihrer  „Verdauung  nach  Versuchen"  (Heidelbg.  u. 
Lpz.  1826/27  erschienen,  nachdem  1824  das  als  Preisschrift  eingesendete 
Manuskript  von  der  französischen  Akademie  nur  einer  ehrenvollen  Er- 

')  Stammbaum  siehe  in  Hirschs  biogr.  Lexikon,  Bd.  2,  S.  579. 


376  Heinrich  Boruttavu 

wähnung  gewürdigt  worden  war,  welche  aber  die  Autoren  ablehnten). 
In  ihr  sprechen  sie  bereits  von  einer  die  Nahrungsmittel  auflösenden 
Wirkung  des  Speichels,^)  welche  indessen  erst  durch  (1  F.  Leuchs 
(aus  Nürnberg)  1831  genauer  auf  dieVer  zuckerung  der  Stärke 
präzisiert  wurde ;  -)  sie  bestätigten  dessen  Rhodangehalt,  Was  die 
Magenverdauung  betrifft,  so  fanden  sie  bereits,  dass  die  Magen- 
bewegungen, wie  auch  die  Menge  des  sezernierten  Safts  von  der  Menge 
und  Verdaulichkeit  der  eingeführten  Stoffe  abhängig  sind;  die  von 
Prout  [William,  in  London,  1785—1850;  1811  in  Edinburgh  pro- 
moviert, 1829  F.  R.  C.  P.,  Arzt,  Chemiker,  Physiker  und  Metereologej 
1824  entdeckte  freie  Salzsäure,  neben  welcher  sie  noch  an  das 
Vorhandensein  von  Essigsäure  im  Magensaft  glaubten,  hielten  sie  für 
dessen  wirksames  Prinzip ;  dagegen  erklärte  sich  J  o  h  a  n  n  e  s  M  ü  1 1  e  r,-^) 
indem  er  vielmehr  das  eigentlich  verdauende  Prinzip  für 
„einen  noch  unbekannten  organischen  Stoff  hielt, 
welcher  auf  dieselbe  Weise  wirke,  wie  die  Diastase  auf 
das  Stärkemehl".  In  der  That  zeigte  in  seiner  im  J.  1834  in 
Würzbung  erschienenen  „Physiologie  der  Verdauung"  J.  N. 
Eberle,  dass  verdünnte  Säuren  erst  dann  die  Nahrung  „chymifizieren", 
wenn  ihnen  etwas  Magenschleim  oder  ein  Stück  Magenschleimhaut 
zugesetzt  wird,  glaubte  aber,  dass  auch  andere  tierische  Schleimhäute 
ebenso  wirken  könnten;  doch  gar  bald  —  1836  —  gelang  es 
Joh.  Müllers  grossem  Schüler  Schwann,  den  wirksamen 
Stoff  aus  dem  Wasserextrakte  der  Magenschleimhaut  und  zwar  nur 
dieser  zu  isolieren  und  er  nannte  ihn  „Pepsin";  er  wirke  eben 
nur  mit  der  Salzsäure  gemeinschaftlich,*)  Wichtige  histologische 
Untersuchungen  über  die  Magensaftdrüsen  und  ihr 
Epithel  veröffentlichte  Purkinje  in  seinem  Vortrage  auf  der 
Prager  Naturforscherversammlung  1837  „Ueber  die  Magendrüsen  und 
die  Natur  des  Verdauens  im  Magen",  während  andererseits  Prout 
schon  1834  in  seinem  vortrefflichen  Bridgewater  Treatise  „Chemistry, 
meteorology  and  the  function  of  digestion  etc."  die  Entstehungs- 
möglichkeit der  freien  Salzsäure  aus  den  Chloriden 
des  alkalischen  Blutes  diskutiert  hatte.  Im  Jahre  1834 
stellte  endlich  auch  der  amerikanische  Arzt  Beaumont  [William, 
1785 — 1853]  seine  berühmten  Beobachtungen  und  Versuche 
an  dem  canadischen  Jäger  A.  Saint-Martin  an,  bei 
welchem  ein  Flintenschuss  eine  Magenfistel  erzeugt 
hatte;  Bassow  (1842)  und  Blondlot  (1843)  legten  an  Tieren 
die  ersten  künstlichen  Magenfisteln  an.  Was  nun  die  Pro- 
dukte der  künstlichen  Verdauung  speziell  der  Eiweisskörper 
betrifft,  so  nannte  der  durch  Untersuchungen  auf  diesem  Gebiet  be- 
sonders verdiente  Franzose  Mialhe  (Louis,  geb.  1807,  Prof.  der  Phar- 
makologie in  Paris,  schrieb  u.  a.  eine  „Chimie  appliquee  ä  la  Physio- 
logie et  ä  la  therapeutique",  Paris  1852)  dieselben  „Albuminose".  wo- 
gegen der  Nestor  der  deutschen  physiologischen  Chemie, 
von  dem  wir  noch  öfters  reden  werden,  Carl  Gotthelf  Lehmann 
[geb.  1812  in  Leipzig,  1835  Dr.  med.  mit  der  Dissertation  „De  urina 


')  a.  a.  0.,  1.  Band  S.  290. 

')  Kastners  Arch.  f.  Chemie  u.  Meteorologie,  1831,  1.  Bd.  S.  105. 
*    Handbuch,  1.  Bd..  1.  Aufl.,  S.  530. 
Müllers  Arch.,  1836,  S.  90. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  anf  die  Medizin  etc.       377 

diabetica".  1837  habilitiert.  1843  Extraordinarius  der  physiologischen 
Chemie  daselbst.  1857  Ordinarius  der  Chemie  in  Jena,  starb  dort  1863 ; 
Hauptwerke  ..Lehrbuch  der  physiologischen  Chemie",  Leipz. 
1842,  3  Bände;  ..Handbuch  desgl.''.  Ebenda  1854]  den  Xaraen 
Pepton  einführte;  von  den  weiteren  Untersuchungen  dieser 
Stoffe  wird  noch  die  Rede  sein.  Schon  Tiedemann  und  Gmelin 
erkannten,  dass  der  Chymus  in  den  oberen  Darmabschnitten 
stets  sauer  reagiere,  erst  viel  weiter  unten  alkalisch  werde  durch 
die  von  ihnen  sehr  betonte  Alkalescenz  des  Pankreassaftes, 
welchem  sie  im  übrigen  nicht  die  nötige  Bedeutung  zuerkannten,  wo- 
gegen die  von  ihnen  sehr  abfällig  beurteilten  französischen  Forscher 
Leuret  und  Lassa igne,  denen  die  andere  ehrenvolle  Erwäh- 
nung der  französischen  Akademie  zu  teil  geworden  war,  ihn  sehr 
treffend  mit  dem  Mund  Speichel  vergleichen.  Seine  fett- 
spaltende Wirkung  zeigte  schon  1836  Purkinje  [mit  Pappen- 
heim, publiziert  in  Müllers  Archiv,  1838  Eberle  (s.  oben)  die 
emulsionierende.  Valentin  1844  die  diastatische,  endlich  bestätigte 
der  jüngere  Corvisart  (Lucian,  Neffe  des  berühmten  C,  Leibarztes 
Napoleons  des  Ersten,  geb.  1824)  erst  im  Jahre  1857  die  „tryp tische" 
ei  weiss  verdauende  Funktion^)  des  Pankreassaftes, 
welche  der  grosse  Claude  Bernard  (s.  später)  bereits  im  Jahre 
1850  behauptet  hatte.  Viel  Mühe  gaben  sich  Tiedemann  und 
Gmelin  mit  der  Erforschung  der  Zusammensetzung  und  Bedeutung 
der  Galle:  sie  erkannten  deren  anregende  Wirkung  auf  die  Peristaltik 
und  brachten  die  Angabe  einer  fäulniswidrigen  Wirkung  auf.  Gmelin 
beschäftigte  sich  mit  den  Eigenschaften  der  Gallenfarbstoffe 
[G  nie  lins  Reaktion  mit  rauchender  Salpetersäure],  isolierte  das 
Cholesterin,  einen  schwefelhaltigen  Stoff  (das  Taurin)  und 
erkannte  die  Unreinheit  des  von  dem  grossen  Berzelius  als  Gallen- 
stoff [..Bilin"j  abgesonderten  Prinzips.  Die  Begründung  der  heute 
als  richtig  anerkannten  Lehre  von  den  beiden,  als  Natronsalze 
(Demaury  1838)  in  der  Galle  enthaltenen  Säuren  (Glyko-  und  Tauro- 
cholsäure]  und  ihrer  Zusammensetzung  gab  erst  viel  später  Strecker 
[1822 — 71.  Professor  der  Chemie  in  Christiania,  Tübingen  und  Würz- 
burg]. Dass  die  Galle  im  Darm  das  vom  Magen  eingetretene 
Pepsin  vernichtet,  erkannte  schon  Purkinje  [mitgeteilt 
auf  der  Prager  Naturforscherversammlung  1837],  und  Schwann  be- 
gründete die  Lehre,  dass  die  Galle  mehr  als  ein  blosses  Exkret  ist, 
dui'ch  die  Anlegung  der  ersten  künstlichen  Gallenfisteln  1844.-) 
Alles  weitere,  auf  diesem  Gebiet  zu  Besprechende  knüpft  sich  an  die 
später  zu  besprechenden  Arbeiten  von  Bidder  und  Schmidt  und 
ihren  Schülern.  Eine  besondere  Berücksichtigung  fand  auch  bereits 
in  der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  die  wissen- 
schaftlich-chemische Untersuchung  des  Harns,  der  Ex- 
kretflüssigkeit,  welche  man  nicht  mit  Unrecht  die  Muttersub- 
stanz der  physiologischen  Chemie  genannt  hat.  Zwar  waren 
mehrere  Hauptbestandteile  desselben  schon  im  siebzehnten  und 
achtzehnten  Jahrhundert  entdeckt  worden,  so  der  Phosphor,  welcher 
aus   Harn   überhaupt   zuerst    dargestellt  wurde   durch  den  Alchy- 


')  „Sur  une  fonction  peu  connue  du  pancreas,  la  digestion  des  aliments  azotes''. 
Paris  1858. 

=  1  Müllers  Arch.  1844,  S.  127. 


378  ••  Heinrich  Boruttau. 

misten  Brand  in  Hamburg  um  1676,  der  Harnstoff,  welcher 
von  dem  jüngeren  Rouelle  (1718—1779)  in  Jahre  1773  zuei-st  als 
„seifiges  Harnextrakt"  beschrieben,  dann  1799  von  Fourcroy  und 
Yauquelin  rein  dargestellt  und  als  Harnstoff  (Urea,  uree)  benannt 
wurde,  die  Harnsäure,  welche  1776  von  dem  grossen  Chemiker 
Scheele,  (1742 — 1786)  als  „Blasensteinsäure"  dargestellt,  später  von 
Fourcroy  als  Harnsäure  bezeichnet  wurde.  1800  entdeckte  ferner 
Yauquelin  das  A 1 1  a n t o i n  in  der  Allantoisflüssigkeit  von  Kälbern. 
Die  nähere  Untersuchung  aller  dieser  Körper  wurde 
nun  in  der  in  Rede  stehenden  Periode  zu  einer  Haupt- 
aufgabe der  jungen  Wissenschaft  der  „organischen 
Chemie",  um  so  mehr  als  die  Mehrzahl  ihrer  Haupt- 
begründer ihre  Laufbahn  als  Mediziner  begonnen 
hatten,  so  vor  allem  Gmelins  und  Wohl  er  s  grosser  Lehrer,  der 
Altmeister  Berzelius  [1779—1848,  seit  1807  Professor  in  Stock- 
holm, Begründer  der  elektrochemischen  Theorie;  gab  auch  „Vorlesungen 
über  Tierchemie"  (Stockh.  1806—08)  heraus]  und  Wo  hl  er  selbst. 

Friedrich  Wöhler  wurde  geboren  am  31.  Juli  1800  zu  Eschersheim 
bei  Frankfurt  a/M.,  studirte  in  Marburg  und  Heidelberg,  woselbst  er  1823 
Dr.  med.  wurde,  arbeitete  dann  auf  den  Rat  Gmelins,  bei  welchem  er  sich 
viel  mit  Chemie  beschäftigt  hatte,  2  Jahre  lang  bei  Berzelius  in  Stockholm, 
wurde  1825  Gewerbeschullehrer  in  Berlin,  1831  desgl.  in  Cassel,  1836  in 
Göttingen  ord.  Prof.  der  Medizin  und  Direktor  des  chemischen  Instituts, 
als  welcher  er  bis  zu  seinem  am  25.  September  1882  erfolgten  Tode  wirkte. 
Seine  zahlreichen  Arbeiten  physiolog.-chem.  Bedeutung  sind  meist  in  Annalen 
und  Zeitschriften  publiziert. 

Wöhler  stellte  im  Jahre  1828  Harnstoff  aus  cyansaurem 
Ammoniak  künstlich  dar^)  und  erbrachte  damit  den 
ersten  Beweis,  dass  organische  Verbindungen,  deren 
Entstehung  man  für  gebunden  an  lebende  Organismen, 
resp.  die  Lebenskraft  hielt,  auch  unab  hängig  von  diesen 
synthetisch  erhalten  werden  können.  Wenig  später  gab  er 
zusammen  mit  seinem  Freunde  und  Mitarbeiter,  dem  bald  zu  würdigen- 
den grossen  Liebig,  die  exakte  Elementaranalyse  des 
Harnstoffes  und  1838  auch  der  Harnsäure.  1829  erkannte, 
untersuchte  und  benannte  Lieb  ig  die  schon  von  Rouelle  d.  j. 
sowie  Vauquelin  und  Fourcroy  erhaltene  aber  irrtümlich  für 
Benzoesäure  gehaltene  Hippursäure,  und  1841  wurde  von  Ure.-) 
im  Jahre  darauf  von  Keller  unter  W  ö  h  1  e  r  s  Leitung  ^)  konstatiert, 
dass  dem  tierischen  Organismus  einverleibte  Benzoe- 
säure als  Hippursäure  im  Harn  erscheint,  der  tierische 
Organismus  also  nicht  nur  zur  Spaltung,  sondern  auch  zur  Syn- 
these befähigt  ist.  Was  die  Chemie  des  Blutes  betrifft,  so  hatte 
Berzelius  den,  wie  wir  früher  sahen,  schon  zu  Hallers  Zeiten  be- 
kannten Eisengehalt  der  Blutasche  Zweiflern  gegenüber  sicher- 
gestellt; Engelhart^)  wies  nach,  dass  derselbe  in  der  That  an 
den  Blutfarbstoff  gebunden  ist.  aus  welchem  das  Eisen  durch 


')  Annaleu  der  Physik,  Bd.  12,  S.  53:  15,  S.  627. 

2)  Joum.  de  pharm.  T.  27,  p.  646. 

2)  Anualen  der  Chemie,  Bd.  43.  S.  108. 

*)  Diss.  Göttingen,  1825. 


Geschichte  der  Physiologie  iu  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       379 

Chlor  freigemacht  werden  kann;  der  grosse  Anatom  C.B.  Reichert 
(1811—1883.  in  Berlin)  sah  1847  zum  ersten  Male  den  Blut- 
farbstoff krystallisiert. 

Fast  ausschliesslich  der  klinischen  Blut-  und  Harnchemie  widmete 
sich  ein  passend  schon  hier  zu  erwähnender  Schüler  von  Wo  hl  er 
und  Liebig,  Johann  Florian  Heller  [aus  Iglau,  1813—1871. 
Dozent  der  pathol,  Chemie  in  Wien],  dessen  Proben  auf  Eiweiss  und 
Blutfarbstoff  im  Harn  noch  seinen  Namen  tragen,  und  welcher  im  An- 
schluss  an  Fr.  Simons  gleichartige,  aber  nur  ein  Jahi-  bestandene 
rnternehmung  von  1844 — 1847,  sowie  von  1852—1854  ein  ..Archiv 
für  physiologische  und  pathologische  Chemie  und  Mi- 
kroskopie" herausgab. 

So  sehen  wir,  wie  die  Untersuchung  des  Blutes  und  der  Aus- 
scheidungen seitens  der  Mediziner  und  der  medizinisch  ausgebildeten 
Chemiker  allmählich  die  rein  chemische  Erkenntnis  der 
Schlacken  und  der  Bestandteile  des  Organismusförderte: 
von  der  Aufklärung  der  Chemie  der  Fette  durch  Chevreul  ist  schon 
die  Rede  gewesen ;  auch  die  elementare  Zusammensetzung  von  Stärke, 
Zucker,  Gummi  u.  s.  w.  ward  öfter  bestimmt,  und  es  ist  C.  Schmidt 
in  Dorpat,  von  dessen  Verdiensten  bald  die  Rede  sein  wird,  welcher 
deren  Bezeichnung  als  „Kohlenhydrate"  zuerst  einführte.^)  Am 
mangelhaftesten  sah  es  zu  dieser  Zeit  natürlich  mit  der  auch  heute 
noch  so  rätselhaften  Chemie  der  Eiweisskörper  aus.  in  welcher 
sich  übrigens  der  Holländer  Gerardus  Johannes  Mulder  [geb. 
27.  Nov.  1802  in  Utrecht.  1824  Dr.  med.,  1841  Professor  der  Chemie, 
trat  1867  krankheitshalber  zurück,  starb  am  10.  April  1880;  Ver- 
fasser einer  ,.Proeve  eener  physiologische  Scheikunde"  u.  a.]  grosse 
Verdienste  erwarb;  auch  führte  er  den  Namen  ..Protein"  ein. 
Grundlegend  für  die  moderne  physikalisch-chemische 
Richtung  in  der  Physiologie  ist  die  aus  jener  Zeit  stammende  Ent- 
deckung der  Diosmose  durch  den  Franzosen  Dutrochet 
[Rene  Joachim  Henri.  1776—1847,  1806  in  Paris  promo- 
viert, Militärarzt  später  Privatgelehrter,  hochverdient  auch  um  die 
Pflanzenphysiologie,  sammelte  seine  wichtigsten  Schriften  unter  dem 
Titel  ..Memoires  pour  servir  ä  l'histoire  anatomique  et  physiologique  des 
vegetaux  et  des  animaux",  Paris  1837 ;  von  seinem  Verdiensten  um  die 
Leberphysiologie  und  als  Vorläufer  der  Zellenlehre  wird  bald  die  Rede 
sein],  welche  1828  veröffentlicht  wurde, -)  und  an  welche  hier  Grahams, 
des  grossen  englischen  Chemikers  [Thomas  Graham  aus 
Glasgow,  1805 — 1869  Professor  daselbst  und  in  London,  zuletzt 
Direktor  der  Kgl.  Münze]  grundlegende  Arbeiten  über  die 
Diffusion  der  Gase  und  ihre  Gesetze,")  über  die 
Diffusion  der  Flüssigkeiten  mit  der  Unterscheidung 
zwischen  Kry stalloiden  und  Colloiden,*)  sowie  über  die 
dabei  wirksamen  „osmotischen  Kräfte"*)  anzuschliessen  sind.  — 
lauter  Dinge  von  grosser  Bedeutung  für  die  weitere  Entwicklung 
der  Biophysik  und  -Chemie.  Im  Begriffe,  die  zu  der  modernen,  im 
wesentlichen  mit  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  zusammen- 

*)  Ann.  der  Chemie  u.  Pharm.,  Bd.  51,  S.  30;  1844. 

-)  Nonvelles  Recherches  snr  Tendosraose  et  l'exosmose  etc ,  Paris  n.  Lond.  1828. 

')  On  the  Law  of  diffusions  of  gases.   R.  Soc.  Edinb.  Transact.  vol.  12.   1834. 

*)  On  tlie  difiusion  of  liquids.     Phil.  Transact.  185()  und  1851. 

*)  On  osmotic  force,  ebenda  1854. 


380  ••  Heinrich  Boruttau. 

fallenden  Periode  überleitenden  epochemachenden  P'akta  zu  besprechen, 
haben  wir  endlich  noch  eines  hochangesehenen  und  doch  vielbe- 
kämpften deutschen  Physiologen  zu  gedenken,  welcher  um  die  ver- 
gleichende Anatomie,  Histologie  und  Nervenphysiologie 
sich  besondere  Verdienste  erworben  hat,  nämlich  Kudolf 
Wagners. 

Rudolf  Wagner,  geb.  am  30.  Juli  1805  in  Bayreuth,  studierte  in  Er- 
langen und  Würzburg,  wo  er  1826  promovierte,  arbeitete  1827  bei  Cuvier, 
bereiste  dann  zu  zoologischen  und  geognostischen  Zwecken  das  Mittelmeer, 
habilitierte  sich  1829  in  Erlangen  mit  einer  Abhandlung  über  die  Methodik 
der  anatomischen ,  physiologischen  und  pathologischen  Forschung ,  wurde 
1832  ausserord.,  1833  ord.  Professor  der  Zoologie  und  1840  an  Blumenbachs 
Stelle  ordentlicher  Professor  der  Physiologie,  vergl.  Anatomie  und  Zoologie 
in  Göttingen,  wo  er  am   13.  Mai  1864  starb. 

Physiolog.  wichtige  Werke,  ausser  den  noch  genatier  zu  citierenden:  ^.Icones 
physiologicae,  Erlihiterungstafeln  zur  Physiol.  und  JEnttvicklungsgeschichte",  Leipzig 
1839 ;  neu  hearh.  von  A.  Ecker,  1851 — 56.  „Lehrbuch  der  Physiologie" ,  Leipz.  1839, 
später  hearh.  von  Funke,  siehe  später.  „Zur  vergleichenden  Physiologie  des  Blutes", 
Leipz.  1833,  2.  Ausg.  mit  Nachträgen  ebenda  1838. 

Stets  an  Wagners  Namen  erinnern  wird  ferner  seine  Heraus- 
gabe des  „Handwörterbuchs  der  Physiologie",  Braunschweig 
1842 — 53,  eines  sechsbändigen  Werkes,  in  welchem  in  alphabetischer 
Artikelfolge  von  ihm  und  zahlreichen  Mitarbeitern  die  wichtigsten 
Gegenstände  unserer  Wissenschaft  bearbeitet  wurden,  eineindieser 
Form  bis  dahin  einzigartige  Unternehmung.  Hier  nicht 
näher  gewürdigt  werden  können  seine  embryologischen  Ver- 
dienste, von  denen  nur  erwähnt  sei,  dass  er  1835  den  Keimfleck 
in  dem  zuvor  von  Purkinje  entdeckten  Keimbläschen  des  Eies  ent- 
deckt hat;  hieran  schliessen  sich  vorzügliche  mikroskopische  Be- 
obachtungen über  die  Genese  der  Spermatozoen,  gegen  deren 
„tierische"  Natur  sich  Wagner  ebenso  wie  um  dieselbe  Zeit  Tre- 
viranus*)  energisch  wendete,-)  indem  er  zugleich  die  Bezeichnung 
Samenfäden  (statt  -tierchen)  vorschlug;  ein  Standpunkt,  welcher 
später  durch  Köllikers  Arbeiten^)  dauernd  gerechtfertigt  wurde. 
Ferner  gab  er  vorzügliche,  viele  bis  dahin  bestehende  Irrtümer  be- 
richtigende Beschreibungen  und  Messungen  der  Form- 
elemente des  Blutes  und  der  Lymphe,  auch  der  muskulären  und 
nervösen  Elemente,  sowie  des  Pigmentepithels  der  Aderhaut  und 
anderer  Bildungen  im  Auge.  Von  der  von  Meissner  unter  seiner 
Leitung  gemachten  Entdeckung  der  Tastkörperchen  wird  noch 
später  die  Rede  sein.  In  seinen  späteren  Lebensjahren  widmete 
er  sich  u.  a.  der  Physiologie  des  Centralnervensystems 
mit  Rücksicht  auf  die  Psychologie,  und  seine  hierher- 
gehörigen in  Göttingen  erschienenen  Schriften  ..Neurologische  Untei-- 
suchungen"  1853/54;  „Forschungen  über  Nervenphysiologie  mit  Rück- 
sicht auf  Psychologie"  1854;  „Wissen  und  Glauben"  desgl.;  „Der 
Kampf  um  die  Seele  vom  Standpunkt  der  Wissenschaft"  1857,  waren 
es,  deren    dualistisch-spiritualistischer  Standpunkt    ihn    in    heftige 


')  Tiedemamis  Zeitschr.  f.  Physiologie.  Bd.  5,  S.  136;  1835. 

^)  Müllers  Archiv,  Jahrg.  1836,  S.  226. 

^)  „Ueber  die  Bildung  der  Samenfäden  in  Bläschen",  Würzburg  1846. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       381 

Polemiken  verwickelte,  insbesondere  mit  dem  bekannten  Zoologen 
Carl  Vogt  (1817 — 1897),  welcher  seinem  materialistisch  -  darwi- 
nistischen  Eifer  in  der  gegen  Wagner  gerichteten  Streitschrift 
„Köhlerglaube  und  Wissenschaft''  1855  freien  Lauf  liess,  —  einer  der 
vielen  Ausdrücke  der  Wendung  zu  einer  neuen  Aera,  welche 
für  die  Biologie  mit  der  Mitte  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts eintrat.  Diese  Wendung  ist  bedingt  durch  drei 
faktische  Errungenschaften,  welche  epochemachend  ge- 
nannt werden  müssen,  nämlich  die  Ausdehnung  derZellen- 
lehreaufdentierischen  Organismus  durch  Schwann  (1839), 
die  Würdigung  des  Prinzips  der  Erhaltung  der  Materie 
in  Gestalt  von  systematischer  Bearbeitung  des  tierischen 
und  pflanzlichen  Stoffwechsels  durch  Liebig  (1840)  und 
die  Formulierung  des  Gesetzes  von  der  Erhaltung  der 
Kraft  durch  Jul.  Robert  Mayer  (1845).  Hierzu  kommt  ferner 
noch  ais  spekulative  Leistung  die  Erweiterung  und  eigen- 
artige Begründung  der  seit  alters  her  öfter  (Empedokles. 
L a m a r c k)  aufgetauchten  ..Descendenztheorie"  durch  C h.  Dar- 
win [1809 — 1882]  im  Jahre  1859  ^)  und  schon  vorher.  Epochemachend 
sind  diese  Leistungen  sicherlich  alle  vier  für  das  Gesamtgebiet  der 
Biologie,  wie  die  allgemein-physiologischen  Grundlagen  im  besonderen : 
ist  doch  die  Lehre  von  der  Zelle  als  genetischer,  formativer  und 
nutritiver-)  Organisationseinheit,  sowie  die  Lehre  vom  Stoffwechsel 
und  Energiewechsel  in  ihrer  gegenseitigen  unlösbaren  Verknüpfung 
als  Grundlage  aller  biologischen  oder  Lebenserscheinungen  zur 
unumstösslichen  Wahrheit  geworden,  gleich  den  Axiomen  der  Mathe- 
matik; und  wenn  Darwins  Bemühungen  um  die  Abstammung  der 
Arten  und  ihre  Erklärung  durch  Hilfshypothesen  auch  teilweise 
als  unrichtig  sich  herausstellen,  bestenfalls  unbeweisbare  Theorien 
bleiben  werden,  so  wird  doch  ein  derartig  grossartiger  Erklärungs- 
versuch der  Biogenese  stets  ein  historisch  bedeutendes  Ereignis 
bleiben. 

Bio-  und  bibliographische  Nachträge. 

1.  Ueber  Purkinjes  Werke  siehe  besonders:  Th.  Eiselt,  Purkinjes  Arbeiteti, 
eine  litterarisch-historische  Skizze;  Prager  Viertcljahrsschrift,  1859,  III. 

2.  Ein  Nekrolog  auf  Joh.  Müller,  ebendaselbst.  1858. 

3.  Eine  besonders  liebevolle  Würdigung  von  Joh.  Müllers  Wirken  in  f'erwoi'ns 
allg.  Physiologie,  Uebersieht  über  die  historische  Entivicklunq  unserer  Wissenschaft 
(in.  Aufl.,  S.  20  ff.). 

4.  ralentin:  Nekrologe  von  Forster  ti.  P.  Grützner  in  Brest,  ärztl.  Ztschr.. 
1883,  S.  118. 

5.  In  dem  im  Erscheinen  begnff'enen  „Dictionnaire  de  physiologie"  von  Ch. 
Michet  sind  Lebensdaten,  besonders  vollständig  aber  die  Werke  auch  der  alten, 
speziell  allerdings  französischen  Physiologen  axifgeführt. 

V. 

Die  klassische  Periode  der  modernen  Physiologie. 

Wir  können  im  Anschluss  an  die  soeben  angeführten  epoche- 
machenden  Leistungen    zurückkehren   zu   den   drei    Haupt rich- 

^)  „On  the  origin  of  species  by  means  of  natural  selection"  etc.,   Lond.  1859. 
-)  aber  nicht  immer  „funktioneller"  1 1 


382  Heinrich  Boruttau. 

tungen,  welche  die  Schule  des  grossen  Meisters  Johannes 
Müller  gefördert  hat  und  dürfen  wohl  den  Begründer  der  tieri- 
schen Zellenlehre,  Schwann,  an  die  Spitze  der  h  istologi- 
schen  Richtung  stellen,  wenngleich,  wie  wir  schon  erfahren  haben, 
derselbe  um  die  physikalische  und  chemische  Physiologie  gleichfalls 
grosse  Verdienste  erworben  hat. 

Theodor  Schwann,  geb.  am  7.  Dezember  1810  in  Neuss,  studierte  in 
Bonn,  Würzburg  und  Berlin,  assistierte  Job.  Müller  schon  in  Bonn,  promo- 
vierte in  Berlin  1834  mit  der  unter  Müllers  Leitung  gefertigten  Dissertation 
„De  necessitate  aeris  atmosphaerici  ad  evolutionem  pulli  in  ovo  incubato'*, 
wurde  Müllers  Assistent,  bereits  1839  aber  als  Professor  der  Anatomie  au 
die  Universität  Löwen  in  Belgien  berufen,  1848  für  Physiologie  und  ver- 
gleichende Anatomie  nach  Lüttich,  trat  1880  zurück  und  starb  am  11.  Januar 
1882   an  einem  Schlaganfall  in  Cöln. 

Seine  Arbeiteyi  sind  meist  in  Zeitschriften,  Frorieps  Notizen,  Müllers  Archiv, 
tlen  helg.  Äkademieberichten  u.  s.  iv.  erschienen. 

Wir  haben  bereits  gesehen,  dass  die  histologischen  Ele- 
mente vieler  Gewebe  und  Organe  schon  vorher  von 
vielen  mikroskopierenden  Forschern  beobachtet  und  be- 
schrieben worden  waren,  so  die  Zellen  des  Glaskörpers,  die  Pigment- 
zellen der  Aderhaut,  die  Fettzellen;  die  Kerne  im  Knorpel  Ijeschrieb 
Johannes  Müller  selbst,  Purkinje  die  Zellen  der  Magendrüsen, 
sowie  das  Keimbläschen,  Rud.  Wagner  hierin  den  Keimfleck, 
Valentin  die  Kerne  in  der  Epidermis ;  Joh.  Müllers  Lieblings- 
schüler, der  grosse  Anatom  Jacob  Henle  [1809 — 1885,  seit 
1852  ord.  Professor  der  Anatomie  in  Göttingen]  hatte  in  seiner 
berühmten  Berliner  Habilitationsschrift  ..Symbolae  ad 
anatomiam  villorum  intestinalium,  imprimis  eorum  epi- 
thelii  et  vasorum  lacteorum"  1837  und  weiterhin  die  ver- 
schiedenen Gestalten  der  Epithelien  (Platten-,  Cylinder- 
epithelien  u.  s.  w.  und  ihre  Verbreitung  im  Körper  be- 
schrieben; endlich  hatte  schon  1835  Joh.  Müller  auf  die  Ana- 
logie der  Gebilde  der  Chorda  dorsalis  mit  den  Pflanzen- 
zellen aufmerksam  gemacht,  ja  Raspail  und  Dutrochet 
hatten  geradezu  den  Namen  „Zellen"  auch  für  tierische 
Gebilde  gebraucht;  —  aber  es  war  erst  von  M.  J.  Schieiden 
(1804 — 1881,  ursprünglich  Mediziner,  dann  Botaniker  in  Jena  und  an 
anderen  Orten,  erfolgreicher  Streiter  gegen  dieSchelling-Hegel sehe 
Naturphilosophie)  im  Jahre  1838  in  der  Schrift  „Beiträge  zur 
Phytogenesis"  in  Müllers  Archiv  der  Satz  ausgesprochen  worden, 
dass  die  Pflanzenzelle  (in  welcher  1831  Brown,  Botaniker,  1772 
— 1858,  den  Kern  beschrieben  hatte)  der  Ausgangspunkt  der 
Entwicklung  aller,  auch  später  nicht  zelliger  Teile 
des  Pflanzenkörpers  sei.  Dem  analog  sprach  auch  1839 
Schwann  in  seinen  berühmten  „Mikroskopischen  Unter- 
suchungen über  die  Uebereinstimmung  in  der  Struktur 
und  dem  Wachstum  der  Tiere  und  Pflanzen"  (Berlin  1839) 
sich  dafür  aus,  „dass  es  ein  gemeinsames  Entwicklungs- 
prinzip für  die  verschiedensten  Elementarteile  (auch) 
des  (tierischen)  Organismus  giebt  und  dass  die  Zellen- 
bildung dieses  Entwicklungsprinzip  ist".  Dieser  Satz 
wurde  in   der  Folge   durch  eine  unabsehbare  Reihe  grossartiger  Ar- 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Auwendung  auf  die  Medizin  etc.       383 

beiten  zahlreicher  Forscher  erhärtet  und  erweitert,  insbesondere  mit 
Anwendung  auf  die  spezielle  Embryologie  und  die  Pa- 
thologie; hierüber  kann  an  dieser  Stelle  nur  soviel  erwähnt  werden, 
dass  der  von  Prevost  und  Dumas  am  Froschei  1824  entdeckte  und 
von  C.  Ernst  v.  Baer  [1792  — 1876J,  dem  grossen  Entdecker  des 
wirklichen  Säugetiereies  [De  ovi  mammalium  et  hominis  genesi  etc., 
Leipz.  1827J  weiter  studierte  Furchungsprozess  schon  1842/43 
durch  Th.  L.  AV.  Bischoff')  (s.  später)  und  C.  B.  Reichert-) 
(s.  oben)  in  direkten  Zusammenhang  mit  der  Bildung  der  Embryonal- 
zellen gebracht  wurde;  während  um  dieselbe  Zeit  Carl  Vogt  aus 
den  Furchungskugeln  erst  eine  strukturlose  Substanz  und  aus  dieser 
erst  die  Embryonalzellen  entstehen  liess,-^)  bewies  Albert  Köllik er 
1844  mit  Gewissheit  den  direkten  U ebergang  der  Furchungs- 
kugeln in  Gewebezellen,^)  aber  erst  die  Uebertragung  der 
Zellenlehre  auf  die  Pathologie  durch  den  grossen  Begründer  der 
,,CeUularpathologie"  Eudolf  Tirchow  sicherte  die  Erkenntnis 
des  Prinzips  ..omnis  cellula  e  cellula",^)  in  welchem  ja 
gleichzeitig  die  endgültige  Verdammung  des  Glaubens 
an  die  Urzeugung  steckt,  dessen  thatsächliche  Widerlegung  uns 
noch  später  beschäftigen  wird. 

Kölliker  sowohl  wie  Virchow*sind  Schüler  Johannes 
Müllers,  als  solche  von  dessen  allgemein  biologisch  umfassenden 
Geiste  durchdrungen,  und  insbesondere  der  erstere  hat  auch  die  nor- 
male Physiologie  durch  wichtige  Spezialarbeiten  gefördert,  wie  wir 
z.  T.  noch  sehen  werden. 

Rudolf  Albert  Kölliker,  geb.  in  Zürich  am  6.  Juli  1817,  wui-de  da- 
selbst 1841  Dr.  phil.,  1842  in  Heidelberg  Dr.  med.,  nachdem  er  in  Zürich, 
Bonn  und  Berlin  studiert  hatte,  dann  Assistent  bei  Henle  damals  in  Zürich, 
habilitierte  sich  daselbst  1843  als  Privatdozent,  wurde  1845  Prof.  der  Physio- 
logie und  vergleich.  Anatomie,  ging  1847  in  gleicher  Stellung  nach  Würz- 
burg, wo  er  1866  die  Physiologie  abgab  und  seitdem  Anatomie,  Histologie 
und  Embryologie  lehrte,    1898  die  Anatomie  abgab  und  1901  ganz  zurücktrat. 

Seine  Haupttcerke  betreffen  sämtlich  Anatomie,  Histoloyie  und  Embryologie; 
„Erimierungen  aus  meinem  Leben",  Leipz.  1899. 

Virchow  hat  das  Wesen  der  allgemeinen  Pathologie 
als  „pathologische  Physiologie",  entsprechend  der  pathologi- 
schen Anatomie,  besonders  betont,  die  Zelle  als  elementare 
Grundlage  der  Lebenserscheinungen  hingestellt,  in 
deren  Veränderung  in  nutritiver,  funktioneller  oder 
formativer  Hinsicht  das  Wesentliche  aller  Krankheit 
besteht,  gegenüber  allen  früheren  Spekulationen  von  einer  mehr  oder 
weniger  personifizierten  Krankheit  und  gegenüber  der  Humoralpatho- 
logie  der  Alten  resp.  Krasenlehre  der  Wiener  Schule.  Seine  biolo- 
gische Universalität  bethätigte  Virchow  in  seinen  anthropologischen 
Studien,  während  er  normal-physiologische  Leistungen  eigentlich  nur 
insofern  aufzuweisen  hat,  als  von  pathologischen  Prozessen,  welche  er 

')  Entwicklungsgesch.   der  Säuget,   u.   d.  Menschen,   Leipz.  1842;   desgl.   des 
Kanincheueies,  Braunschweig  1843:  desgl.  d.  Hundeeies,  ebenda  1843. 
^)  Beitr.  zur  Kenntnis  der  Entwicklungsgesch.  1843. 
'j  Entwicklungsgesch.  der  Geburtshelferkröte  1842. 
*)  „Entwicklungsgesch.  der  Cephalopoden",  Zürich  1844. 
^)  „Cellulari)athologie",  1.  Aufl.,  S.  25. 


384  Heinrich  Borut tau. 

untersucht  hat,  auf  ph3'siologische,  z.  B.  von  der  fettigen  Degene- 
ration auf  die  Fettbildung  überhaupt  geschlossen  werden  kann. 

Rudolf  Virchow,  geb.  am  13.  Oktober  1821  zu  Schievelbein  in  Pomraern, 
studierte  am  Friedrich-Wilhelms-Institut  in  Berlin,  promovierte  1844,  ward 
Assistent  Frorieps  und  1846  an  dessen  Stelle  Prosektor  der  Charite,  habili- 
tierte sich  1847,  wurde  wegen  seiner  polit.  Rolle  1849  entlassen,  aber  als 
Ordinarius  der  pathologischen  Anatomie  nach  "Würzburg  berufen ,  kehrte 
1856  als  ebensolcher  (und  für  allg.  Pathol.  u.  Therapie)  nach  Berlin  zu- 
rück, welche  Stellung  er  behielt  bis  zu  seinem  am  5.  September  1902  er- 
folgten Tode. 

Seinei'  y,Celhilarpathologie''^  erste  Auflage  erschien  Berl.  1858 ;  in  dem  von  ihm 
von  1847  ab  (anfangs  zusammen  mit  Reinhardt)  herausgegebenen  „Archiv  für 
patholog.  Anatomie  und  Physiologie  und  für  klinische  Medizin'^ 
finden  sich  übrigens  auch  eine  ganze  Reihe  von  JBeiträgen  der  verschie- 
densten Autoren  zur  normalen  Physiologie. 

Erst  in  viel  späterer,  weiter  unten  zu  behandelnder  Zeit  gewann 
die  Zellenlehre  wesentlichen  Einfluss  auf  die  Histologie 
und  Physiologie  des  Nervensystems,  welche  indes  durch 
Schüler  und  Zeitgenossen  Johannes  Müllers  und  durch  von  ihm 
ausgegangene  histologische  Anregungen  bedeutend  gefördert  wurde. 
Es  sei  nur  erinnert  an  die  S c h w a n n s c h e  Scheide  der  Nerven- 
fasern, an  die  Purkinjeschen  Zellen  der  Kleinhirnrinde, 
sowie  an  all  das  viele,  was  die  Neurologie  Remak  verdankt. 

Robert  Remak,  geb.  in  Posen  am  26.  Juli  1815,  studierte  in  Berlin, 
promovierte  1838  mit  der  unter  Johannes  Müllers  Leitung  angefertigten 
Dissertation  „Observationes  anatomicae  et  microscopicae  de  systematis  nervosi 
structura",  wurde  1843  Assistent  des  berühmten  Klinikers  Schönlein, 
habilitierte  sich  1847,  wurde  1859  Extraordinarius,  starb  am  29.  August 
1865  in  Kissingen. 

Er  inMizierte  zahlreiche  anatomische,  physiologische,  pathologische  und  klinische 
Arbeiten  meist  in  Zeitschriften,  Müllers  Archiv  u.s.w.,  Hess  selbständig  erscheinen: 
„üeber  ein  selbst.  Darmnervensystem^  {Berlin  1847)  und  die  nntengevannten  Werhe 
über  Elektrotherapie. 

Remak,  übrigens  auch  der  Entdecker  der  drei  Keim- 
blätter und  ihre'r  Bedeutung  für  die  Entwicklungsge- 
schichte (1843)  sah  zuerst  das  „Achsen band"  (wie  schon  er- 
wähnt, nachher  von  Purkinje  als  „Achsencylinder"  beschrieben)  der 
markhaltigen  und  beschrieb  zuerst  die  marklosen,  noch 
jetzt  n  a  ch  ih  m  genannten  „Remakschen"  Nerven  fasern;  er 
gab  schon  in  seiner  Dissertation  wichtige  Aufschlüsse  über  den 
Faserverlauf  in  Gehirn  und  Rückenmark, ')  worum  auch 
Valentin  (s.  früher)  in  seinem  Werke  „über  den  Verlauf  und  die 
letzten  Enden  der  Nerven",  Bonn  1836,  sich  bemüht  hatte.  Es  gehört 
in  den  die  Geschichte  der  Histologie  behandelnden  Teil  dieses  Buches, 
was  auf  eben  diesem  Gebiete  von  dem,  z.  T.  schon  der  vorigen 
Periode  angehörigen  grossen  Utrecht  er  Anatomen,  Physio- 
logen und  Psychiater  J.  L.  C.  Sehr oe der  van  der  Kolk 
(1797—1862),  und  von  Joh.  Müllers  Schüler  Adolf  Hannover 
(Kopenhagen,  1814 — 1894)  geleistet  worden  ist.    Ueber  diesen  gleichen 


')  Müllers  Archiv,  1841.  S.  406. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      385 

Gegenstand  arbeiteten  ferner  A.  W.  Volkmann  ('s.  früher),)^  Bene- 
dikt Stilling  (1810 — 1879,  Chirurg  in  Cassel),  dessen  Namen  in  den 
Stillingschen  Kernen  erhalten  bleibt,  in  seinen  bedeutenden 
..Untersuchungen  über  die  Textur  des  Eückenmarks",  zusammen  mit 
Wallach,  Leipz.  1842;  desgl.  „über  die  Medulla  oblongata",  Er- 
langen 1843;  desgl.  „über  den  Bau  des  Hirnknotens",  Jena  1846,  — 
von  der  französischen  Akademie  gekrönte  Arbeit  — ;  ,.Xeue  Unter- 
suchung über  den  Bau  des  Rückenmarks",  mit  grossartigem  Atlas, 
Cassel  1857 — 1859;  „Untersuchungen  über  den  Bau  des  menschlichen 
Kleinhirns",  3  Bde.,  Cassel  1864 — 1878;  endlich  auch  Kölliker, 
welcher  noch  1850  ununterbrochenen  Durchgang  der  sen- 
siblen und  motorischen  Fasern  durch  das  Eüc kenmark 
auf  dem  Wege  von  und  nach  dem  CTehirn  für  das  Wahrschein- 
licherere  hielt,  obschon  Leuckart  und  Rud.  Wagner  bereits 
in  demselben  Jahre  den  Zusammenhang  der  Achsencylinder  mit  multi- 
polaren Ganglienzellen  in  der  Substantia  ferruginea  des  menschlichen 
Gehirns  erkannten  und  Remak  ein  gleiches  für  das  Rückenmark 
postulierte  ;'■')  dasEnt  springendes  Achsency  linder  fortsatzes 
aus  der  multipolaren  Ganglienzelle  und  seine  Unter- 
scheidung von  den  übrigen  Fortsätzen  wurde  erst  im 
folgenden  Jahre  durch  Wagner.  Meissner  und  Billroth ^)  an 
den  grossen  elektrischen  Zellen  von  Torpedo  sicherge- 
stellt, während  der  Nachweis  des  Zusammenhangs  der 
motorischen  Spinalnervenfasern  mit  den  grossen  multi- 
polaren Vorderhornganglienzellen  das  Verdienst  des 
leider  zu  früh  verstorbenen  Deiters  (Bonn  1834 — 1863)  ist; 
siehe  dessen  nach  seinem  Tode  durch  Max  Schnitze,  den  grossen 
Bonner  Histologen  (1825 — 1874)  herausgegebene  „Untersuchungen 
über  Gehirn  und  Rückenmark  des  Menschen  und  der 
Tiere"  (Braunschweig  1865).  Durch  die  Arbeiten  Max  Schnitzes 
selbst,  Köllikers  und  anderer  moderner  Histologen  wurde  die 
Kenntnis  des  Faserverlaufs  im  Centralnervensystem  weiterhin  gefördert, 
so  dass  bald  die  Vorstellung  von  die  höheren  und  tieferen  Teile  des 
Rückenmarks  verbindenden  Faserzügen  u.  s.  w.  aufdämmerte:  die  von 
dem  älteren  Ger  lach  (Joseph,  1820—1896)  1855  eingeführte 
histologische  Färbetechnik  brachte  zunächst  die  Vor- 
stellung eines  kontinuierlichen  Zusammenhangs  aller 
letzten  nervösen  Ausläufer  im  Centralnervensysteme; 
^^ie  sich  die  Anschauungen  seitdem  verändert  haben,  und  durch  welche 
in  den  letzten  Jahrzehnten  des  Jahrhunderts  eingeführte  Methoden 
werden  wir  weiter  unten  sehen.  Hier  bleibt  noch  der  anatomischen 
und  physiologischen  Untersuchungen  zu  gedenken,  durch  welche  der 
berühmte  Dorpater  Physiologe  und  Schüler  J oh.  Müllers  Heinr. 
Friedr.  Bidder  [geb.  1810  in  London,  1834  in  Dorpat  promoviert, 
gleich  darauf  Extraordinarius,  ging  auf  ein  Jahr  nach  Deutschland 
zu  seiner  Weiterausbildung,  vertrat  von  1835  ab  die  Anatomie,  später 
meist  ausschliesslich  die  Physiologie  und  Pathologie,  trat  1869  zurück, 
starb  1894]  zusammen  mit  Volkmann  die  Kenntnisse  des 
sympathischen   Nervensystems    erweiterte:    „Die   Selbst- 


»)  Ebenda  1838,  S.  274. 

*)  Köllikers  mikroskop.  Anatomie,  1850,  2.  Bd.,  S.  425  ff. 
»)  Nachr.  d.  Gott.  Societät,  1851,  20.  Oktober. 
Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  25 


386  •  Heinrich  Boruttau, 

ständigkeit  des  sympath.  Nervensystems,  durch  anatomische  Unter- 
suchunj^  nachgewiesen";  Leipzig  1842.  Auch  die  Herznerven- 
lehre  wurde  durch  das  nach  ihm  benannte  Biddersche  Ganglion 
des  Froschherzens  berührt,  ebenso  wie  von  Kemak  durch  den  nach 
ihm  benannten  Ganglienzellenhaufen .  während  von  Stannius 
[Hermann  Friedrich,  geb.  1808  in  Hamburg,  1831  in  Breslau 
promoviert,  1833  in  Berlin  Privatdozent,  seit  1837  Professor  der 
Zoologie,  vergleichenden  Anatomie  und  Physiologie  in  Rostock,  trat  1865 
zurück,  starb  1883],  von  dessen  sonstigen  Verdiensten  gelegentlich 
noch  die  Rede  sein  wird,  der  bekannte  Versuch  am  Frosch- 
herzen angestellt  wurde,  in  welchem  man  auf  Absclmürung  der 
Atrien  von  dem  Hohlvenensinus  diesen  allein  weiterschlagen,  das 
Herz  aber  stillstehen,  auf  eine  zweite  Abschnürung  des  Ventrikels 
diesen  wieder  schlagen  sieht. 

Bidder  ist  ferner  einer  der  Pioniere  in  dem  um- 
fassenden Gebiete  der  chemischen  Physiologie,  dessen 
erster  planmässiger  Anbau  das  unsterbliche  Verdienst 
des  Meisters  der  deutschen  Chemie,  des  grossen 
Liebig  ist, 

Justus  (seit  1845  Frhr.  v.)  Liebig  wurde  geboren  am  8.  Mai  1803  in 
Darmstadt,  studierte  in  Bonn,  Erlangen  und  Paris,  wurde  1824  ausser- 
ordentlicher, 1826  ordentlicher  Professor  der  Chemie  in  Giessen,  wo  er  das 
erste  grössere  chemische  Laboratorium  gründete,  1852  nach  München  be- 
rufen, wo  er  bis  zu  seinem  am   18.  April  1873  erfolgten  Tode  wirkte. 

Physiologisch  bedeutsame  Werke :  „Die  organische  Chemie  in  ihrer  Anwendung 
auf  Agrikultur  und  Physiologie^^  erste  Aufl.  Braunschc.  1840 ;  „Die  Tierchemie 
oder  die  organische  Chemie  in  ihrer  Anwendung  auf  Physiologie  und  Pathologie'', 
erste  Aufl.  Braunschweig  1842;  „Chemische  Briefe-',  zuerst  als  Beilage  der  Augsb. 
allg.  Ztg.  1844  erschienen.    „  lieber  Ursprung  und  Quelle  der  Muskelkraft'',  Leipzig  1870. 

Es  ist  Liebigs  Verdienst,  der  Chemie  den  gebühren- 
den Platz  in  der  Theorie,  wie  in  der  praktischen  Behandlung  der 
Ernährung  des  Menschen  und  der  übrigen  Tiere,  wie  auch  der 
Pflanzen  zugewiesen  zu  haben  durch  die  Betonung  der 
planmässigen  Untersuchung  des  gesamten  Stoff- 
wechsels, wie  auch  durch  das  Bestreben,  mittels  genauer 
Erforschung  der  einzelnen  Zers.etzungsprodukte  wie 
auch  der  Bestandteile  des  Organismus  zu  einem  immer 
genaueren  Einblick  in  die  in  demselben  sich  abspielen- 
den Zersetzungsvorgänge  („intermediärer  Stoifwechsel)  zu 
gelangen.  Natürlich  gab  es  hier  schon  Vorläufer;  Ernährungs- 
versuche an  Tieren  wie  an  Patienten  in  den  Spitälern  hatten  be- 
reits Magen  die  und  seine  französischen  Zeitgenossen  zu  der  Er- 
kenntnis,  geführt,  dass  die  stickstofffreien  Nahrungs- 
mittel allein  nicht  genügen,  um  das  Leben  zu  fristen, 
und  dass  unter  den  stickstoffhaltigen  der  Leim  nicht  im  stände  ist, 
das  Eiweiss  zu  ersetzen,  dass  auch  für  den  Ersatz  derausge- 
schiedenenMineralstoffe  gesorgt  werden  muss  („S  a  1  z  h  u  n  g  e  r''- 
versuche  an  Tieren),  und  manches  andere.  Der  berühmte  englische 
Physiker  und  Chemiker  John  Dalton  (1766—1844)  hatte  schon 
1832/33  am  Menschen  es  versucht  und  der  französiche  Chemiker 
Boussingault  (1802—1887)  unternahm  es  seit  1839  an  allerlei 
Tieren  (Pferd,  Rind,  Schwein,  Taube),  die  Summe  der  St  off  ein- 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       387 

nahmen  und  der  Stoff  ausgaben  zu  bestimmen,  worüber  er 
auch  in  dem  mit  Dumas  herausgegebenen  berühmten  Werke  „Essai 
de  statistique  chimique  des  etres  organises"  (1.  Aufl.  Paris  1841)  be- 
richtet hat;  indessen  war  es  erst  Liebig,  welcher  mit  Nachdruck 
auf  die  Klarstellung  desjenigen  drang,  worauf  es  bei  den  Stoffwechsel- 
versuchen wesentlich  ankommt,  und  dieses  in  der  Ausscheidung 
des  Stickstoffs  suchte,  von  welcher  er  erkannte,  dass  sie  wesent- 
lich im  Harn  und  zwar  beim  Fleischfresser  allergrösstenteüs  in  Ge- 
stalt von  Harnstoff  erfolgt  (Liebigs  Methode  der  Harnstoff- 
titrierung  mit  Quecksilberlösung !) ;  die  Ha  r n  s  ä  u r  e ,  das  vorwiegende 
Ausscheidungsprodukt  der  niederen  Tierklassen,  erscheint  ihm  als 
das  Produkt  unvollkommenerer  Oxydation,  als  der 
Harnstoff;^)  erunterscheid  et  die  organischen  Nahm  ngs- 
mittel  in  solche,  welche  einzig  und  allein  dem  Ersätze  der  zer- 
setzten stickstoöhaltigen  Körpermaterie  dienen  können,  nämlich  die 
Eiweisskörper ,  welche  er  als  „plastische",  —  und  in  diejenigen, 
welche  durch  den  bei  der  Atmung  aufgenommenen  Sauerstoff  oxydiert 
werden  und  dabei  Wärme  bilden,  nämlich  die  Kohlehydrate  und  Fette, 
welche  er  als  „respiratorische"  Nährstoffe  unterscheidet.  ^) 
Einzig  und  allein  das  Eiweiss  erscheint  ihm  alsQuelle 
der  Muskelkraft,  indembeiden  „tierischen  Bewegungs- 
erscheinungen" die  Organe  unter  der  Wirkung  der 
Lebenskraft,  an  welcher  L i e b i g  entsprechend  den  Ansichten  der 
zeitgenössischen  Schule  festhielt,  sich  nach  Massgabe  der 
Leistung  zersetzen.  Rätselhaft  blieb  aber  die  That- 
sache,  dass  der  Organismus  mehr  Eiweiss  zu  zersetzen 
vermag,  als  es  dem  dieser  Annahme  entsprechenden 
jeweiligen  Bedürfnis  entsprechen  würde;  der  berühmte, 
um  die  chemische  Physiologie  durch  seine  „Untersuchungen  über  die 
Galle  in  physiologischer  und  pathologischer  Beziehung"  (Göttingen  1845) 
schon  hochverdiente  Kliniker  Fr.  Theodor  Frerichs  (1819—1885) 
behauptete  darum  bereits  1848  in  seiner  Abhandlung  „über  das 
Mass  des  Stoffwechsels,  sowie  über  die  Verwendung  der  stickstoff- 
haltigen und  stickstofffreien  Nahrungsstoffe", -^j  dass  auch  das 
Eiweiss  „respiratorischer"  Nährstoff  sein  könne,  und 
Bidder  und  C.  Schmidt  [geb.  1822  in  Mitau,  1844  in  Giessen 
Dr.  phil.,  1845  in  Göttingen  Dr.  med.,  1846  in  Dorpat  habilitiert, 
ISöOExtraord.,  1852  Ordinarius  für  medizinische  Chemie,  1891  emeritiert, 
gestorben  1894]  machten  auf  die  nämliche  Konstatierung  hin  die  An- 
nahme, entsprechend  einer  schon  1844  geäusserten  Ansicht  C.  G.  L  e  h  - 
manns,  dass  das  „überschüssige",  nicht  zu  Organsubstanz  assimilierte 
Eiweiss  im  Blute  verbrannt  werde:  sog.  Luxuskonsumption.-*) 
Erst  1860  gelangten  Bise  hoff,  welcher  diesen  Gegenstand  schon 
1853  zu  bearbeiten  begonnen  hatte  („Der  Harnstoff  als  Mass  des 
Stofi\\'echsels",  Giessen  1853)  und  sein  bedeutender  Schüler  Carl 
Voit  zu  der  Erkenntnis,  dass  der  Stickstoffumsatz  in 
erster  Linie  abhängig  von  dem  Bestände  an  „Organ- 
eiweiss"   ist,   dass   überschüssig  gereichtes  Eiweiss  in  immer  ge- 


^)  Die  Organ.  Chemie  u.  s.  w.,  S.  139. 

*)  a.  a.  0.,  S.  97. 

»)  Müllers  Archiv,  1848,  S.  469. 

*)  „Die  Verdauungssäfte  und  der  Stoffwechsel",  S.  348  ff. 


25* 


388  Heinrich  Boruttau. 

ringerem  Masse  der  „Luxiiskonsumption"  anheimfällt,  vielmehr  „ange- 
setzt" wird,  bis  der  Bestand  der  gereichten  Menge  entspricht  und 
„Stickstoffgleichgewicht"  eintritt,  und  umgekehrt  bei  zu  geringer 
Eiweissdarreichung,  Organeiweiss  „eingeschmolzen",  in  „zirkulierendes 
Eiweiss"  verwandelt  und  zersetzt  wird,  bis  der  Bestand  ebenfalls  der 
dargereichten  Menge  entspricht  und  Stickstoffgleichgewicht  eintritt: 
„Die  Gesetze  der  Ernährung  des  Fleischfressers,  durch 
neue  Versuche  festgestellt,"  Leipzig  1860. 

Theodor  Ludwig  Wilhelm  BischoflF,  geb.  am  28.  Oktober  1807  in 
Hannover,  wurde  1829  in  Bonn  Dr.  phil.,  1832  in  Heidelberg  Dr.  med., 
habilitierte  sich  1834  in  Bonn,  1835  in  Heidelberg,  wurde  dort  1836  Extra- 
ordinarius, 1843  Ordinarius  für  Anatomie  und  Physiologie,  1844  dasselbe 
in  Giessen,  1854  in  München,  trat  1878  in  den  Ruhestand  und  starb  An- 
fang 1882. 

Seine  Hauptbedeutung  liegt  in  der  Entwicklungsgeschichte  {Schriften  auf 
S.  383  ericähnt);  auch  bearbeitete,  wie  schon  Tiedemann  (s.  o.),  er  die  Vergleichung 
des  Affen-  und  Menschengehirns,  wobei  er  von  Carl  Vogt  heftig  angegriffen  wurde. 

Die  Schwierigkeit  eines  besseren  Verständnisses  der 
Stoffwechselvorgänge  lag  grösstenteils  daran,  dass 
man  die  „Verbrennungsvorgänge"  von  der  „Eiweiss- 
zersetzung"  der  arbeitenden  Organe  trennte  und  wenn 
auch  nicht  mehr  mit  Lavoisier  in  die  Lunge,  so  doch  noch  ganz 
allgemein  mit  Lagrange  in  das  Blut  verlegte  (Liebig, 
Frerichs  u.  s.  w.).  Hier  war  es  die  Extraktion  und  nähere 
Analyse  derBlutgase  durch  Schröder  v.  der  Kolk,  Bischoff 
1837,  Heinrich  Gustav  Magnus  [1802—1870,  Professor  der 
Physik  und  Technologie  in  Berlin]  1838,  vor  allen  Lothar  Meyer 
[geb.  1830],  welcher  in  seinen  Abhandlungen  „Die  Gase  des  Blutes," 
Göttingen  1857  und  „De  sanguine  oxydo  carbonico  infecto",  Breslau 
1858  unsere  jetzigen  Anschauungen  begründete,  später 
endlich  noch  durch  Ludwig  und  durch  Pflüger  (siehe  später),  — 
welche  zur  Erkenntnis  führte,  dass  das  Blut  nur  Trans- 
portmittel des  Sauerstoffs  von  der  Lunge  nach  den 
Geweben  und  der  Kohlensäure  von  den  Geweben  nach 
der  Lunge  ist.  Zwar  hatte  schon  1804  Karl  Friedr.  Becker 
in  einer  von  der  Göttinger  Fakultät  gekrönten  Preisschrift  erklärt, 
dass  bei  jeder  Art  chemischen  Vorgangs  in  den  Geweben  Wärme 
frei  werde,  doch  erst  die  von  Becquerel  und  Breschet  zunächst 
auf  grund  noch  fehlerhafter  Versuche  behaupiete,^)  dann  von  Helm- 
holtz  1848  exakt  bewiesene  Erwärmung  des  thätigen  Mus- 
kels und  die  Untersuchungen  der  Ludwigschen  Schule  in 
Deutschland,  sowie  Claude  Bernards  in  Frankreich  hierüber, 
sowie  über  die  Wärmebildung  in  den  Drüsen  —  über  alle 
diese  Dinge  später  Genaueres  —  im  Verein  mit  obiger  Erkennt- 
nis der  respiratorischen  Funktion  des  Blutes  führten 
endgültig  dazu,  den  Sitz  der  „organischen  Verbrennung" 
in  die  Gewebe  selbst  zu  verlegen,  womit  das  eigentlich 
von  vornherein  selbstverständliche  Postulat  verknüpft 
war,  als  vollständigen  „Stoffwechselversuch"  die  quan- 
titative   Analyse    der    festen    und    flüssigen    Ingesta 


^)  Ann.  des  sc.  naturelles,  1839. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       389 

einerseits  und  Exkrete  andererseits  mit  der  Bestim- 
mung der  gasförmigen  Einnahmen  und  Ausgaben  zu 
verbinden.  Derartige  Versuche  haben  in  grösserem  Massstabe 
zuerst  Bidder  und  Schmidt  unternommen  und  in  ihrem 
klassischen  Buche  „Die  Verdauungssäfte  und  der  Stoff- 
wechsel", Leipzig  1852,  veröffentlicht,  nachdem  „Respirations- 
versuche" seit  Lavoisiers  grundlegenden  Arbeiten  inzwischen 
oft  genug  angestellt  worden  waren,  und  zwar  unter  Verwen- 
dung aller  drei  möglichen  Methoden,  nämlich  des  einfachen  Ab- 
sperrverfahrens durch  Berthollet,  Legallois  u.  a.,  des  von 
Lavoisier  und  L a p  1  a c e  erfundenen  Ventilationsverfahrens 
mit  Analyse  der  gesamten  abströmenden  Luft,  welche  man  durch 
Absorptionsgefässe  leitet,  durch  D u  1  o n g  und  Despretz,  Boussin- 
gault,  vor  allen  aber  Scharling  1843,^)  und  endlich  drittens  der 
Entfernung  der  produzierten  Kohlensäure  aus  dem  Ab- 
sperr räum  und  des  Ersatzes  derselben  durch  neuen 
Sauerstoff,  welches  Prinzip  schon  von  Lavoisier  und  Seguin 
benutzt  worden  war  und  seine  höchste  Ausbildung  in  den  berühmten 
Versuchen  von  Eegnault  (dem  grossen  französischen  Physiker  und 
Chemiker,  1810—1878)  und  Reiset  erhielt,  welche  1849  unter  dem 
Titel  „Recherches  chimiques  sur  la  respiration  des  animaux  des  di- 
verses classes"  (in  den  Annales  de  chimie,  vol.  (3)  26  und  auch  selb- 
ständig) publiziert  wurden.  Natürlich  beschränkten  die  tech- 
nischen Schwierigkeiten  jener  Zeit  die  Grösse  der  Ver- 
suchstiere, und  zur  Untersuchung  des  menschlichen  Gas- 
wechsels verzichtete  man  auf  die  Berücksichtigung  des 
hier  ja  relativ  unbedeutenden  Hautgaswechsels  und  sammelte 
und  analysierte  die  durch  geeignete  Gesichtsmasken  o.  ä.  auf- 
gefangene und  vermittelst  entsprechend  angeordneter  Ventile  von  der 
Einatmungsluft  getrennte  Ausatmungsluft  der  Lungen,  so 
Andral  und  Gavarret  in  ihren  „Recherches  sur  l'acide  carbonique 
exhale",  Paris  1843,  Carl  Vierordt  (siehe  später)  in  seiner  berühmten 
„Physiologie  des  Atmens",  Heidelberg  1845  („Anthrakometer"),  später 
Speck  und  die  Zun tz sehe  Schule,  von  deren  Verdiensten  noch 
die  Rede  sein  wird.  Durch  alle  diese  Versuche  war  ein  grosser  Teil 
der  Grundgesetze  des  Gaswechsels  bereits  richtig  fest- 
gestellt, so  die  Abhängigkeit  seiner  Ges amtintensität 
beim  Warmblüter  von  der  Körper  ober  fläche  und  nicht 
vom  Körpergewicht,  entsprechend  der  Wärmeabgabe,  indem  also 
kleine  Tiere  einen  relativ  intensiveren  Gaswechsel  haben  als  grössere; 
ferner  die  auch  auf  die  Oberflächeneinheit  berechnete  grössere 
Gaswechselintensität  des  Kindes,  dessen  Gewebe  im  Wachs- 
tum begriffen  sind;  auch  der  Unterschied  der  Kohlensäure- 
produktion zwischen  beiden  Geschlechtern  war  insbesondere 
von  Andral  und  Gavarret  festgestellt  worden.  Von  wechselnden 
physiologischen  Bedingungen  war  die  vermehrende  Wirkung  der  Kälte 
auf  die  Kohlensäureausscheidung  der  Warmblüter,  wenn  auch  in- 
folge technischer  Mängel  noch  nicht  sicher  genug,  konstatiert  worden 
'Regnault  und  Reiset);  endlich  hatten  bereits  Lavoisier, 
>I)äter  Scharling  und  Vierordt  die  vermehrte  Kohlen- 
säureproduktion  bei  Muskelanstrengung  konstatiert.    Doch 

*)  Annalen  der  Chemie,  Bd.  44;  S.  214. 


390  ..  Heinrich  Boruttau, 

nun  fehlte  noch  die  Beantwortung  der  Frage,  welche  Stoffe 
dieser  vermehrten  Oxydation  unterliegen,  welcher  Nähr- 
stoff, wie  man  zu  sagen  pflegt,  die  Quelle  der  Muskelkraft 
ist,  eine  Beantwortung,  die  eben  nur  möglich  schien  durch  gleich- 
zeitige Bestimmung  aller,  der  festen,  flüssigen  und 
gasförmigen  Einnahmen  und  Ausgaben.  Ihre  Unternehmung 
ist  das   gemeinschaftliche  Verdienst   von  Pettenkofer   und   Voit. 

Max    (von)  Pettenkofer.    geb.    zu  Lichtersheim    bei  Neuburg  a,  D.    am 

3.  Dez.   1818,    studierte  in  München,  Würzburg   und  Giessen,    promovierte 

1843,  wurde  Assistent  an  der  Münze,  1847  Extraordinarius  für   „diätetische 

Chemie",    1865    der    erste  Ordinarius  für  Hygiene,    auf   deren  Gebiet   sein 

Hauptlebenswerk  liegt.     Er  starb  am  10.  Februar  1901. 

Hier  sei  nur  erinnert  an  seine  „Pettenlwfcrsche  Reaktion"  auf  Gallensäuren 
und  seine  Unters^ichungcn  über  die  Bestimmung  der  Kohlensäure  in  Luft  und 
Wasser,  Annalen  der  Chemie  1844  u.  ff.  Jahre. 

Karl  (von)  Voit,  geb.  am  31.  Oktober  1831  in  Amberg,  studierte  in 
München,  Würzburg  und  Göttingen,  promovierte  1854  mit  der  Dissertation 
„Beiträge  zum  Kreislauf  des  Stickstoffs  im  tierischen  Organismus",  wurde 
1856  Biscboffs  Assistent,  1857  Privatdozent,  1860  Extraordinarius,  1863 
Ordinarius  für  Physiologie,  als  welcher  er  noch  jetzt  thätig  ist.  . 

Ausser  den  schon  erwähnten,  mit  Bischoff  zusammen  1860  publizierten  „Gesetzen 
der  Ernährung  des  Fleischfressers"  inihlizicrte  er  noch  im  nämlichen  Jahre  seine 
„Untersuchungen  über  den  Einfluss  des  Kochsalzes,  des  Kaffees  und  der  Muskel- 
bewegung auf  den  Stoffwechsel;  über  alles  Weitere  siehe  den  Text. 

Im  Jahre  1861  konstruierten  diese  beiden  Forscher  kraft  der 
Munificenz  des  Königs  Maximilian  von  Bayern  einen  grossen  Re- 
spirationsapparat, in  dessen  Raum  ein  Mensch  oder  ein  grösseres 
Tier  sich  bequem  aufhalten  und  ernährt  werden  konnte,  nach  dem 
Grundprinzipe  des  Ventilationsverfahrens  (s.  o.) ;  da  indessen  hier  nicht 
der  gesamte  durch  eine  Dampfpumpe  abgesogene  Luftstrom  durch 
Absorptionsgefässe  gehen  konnte,  so  wurden  durch  Zweigleitungen 
vermittelst  kleiner  Pumpen  Analysenproben  durch  Schwefelsäure 
(zwecks  Wasserdampf bestimmung)  und  durch  Barytwasser,  welches 
nach  Pettenkofers  kurz  zuvor  gemachter  Erfindung  eine  so  genaue 
Kohlensäuretitrierung  gestattet,  geschickt  und  Haupt-  wie  Zweigluft- 
ströme durch  Gasuhren  gemessen.  Die  vielfache  Vergrösserung  des 
etwaigen  Analysenfehlers  und  der  Umstand,  dass  der  Sauerstoff  nur 
indirekt  bestimmt  wurde,  machte  grosse  Genauigkeit  im  Arbeiten  nötig. 
So  fanden  Pettenkofer  und  Voit,  dass  der  Gaswechsel  des 
Menschen  und  der  Tiere  bei  der  Muskelarbeit  gegen- 
über der  Ruhe  (und  zwar  etwa  proportional  ihrer  Dauer  und 
Grösse)  gesteigert  ist,  dass  dagegen  der  Stickstoffumsatz, 
welchen  C.  G.  Lehmann,  Parkes  u.  a.  bei  der  Arbeit  etwas  ver- 
grössert  gefunden  hatten,  sich  durchaus  gleich  bleibe,  Ergeb- 
nisse, welche  sie  1866  in  der  soeben  gegründeten  und  von  Petten- 
kofer, Voit,  Radlkofer  und  Buhl  gemeinschaftlich  heraus- 
gegebenen „Zeitschrift  für  Biologie"  [von  1865  ab  18  Bände,  darauf 
„neue  Folge"  von  Kühne  und  Voit]  publizierten,^)  in  welcher  weiter- 
hin noch  eine  gewaltige  Reihe  von  Arbeiten  besonders  Voits  und 
seiner  Mitarbeiter  und  Schüler  Platz  gefunden  haben,  welche  wesent- 


1)  Bd.  2,  S.  459;  1866. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  An-wendung:  auf  die  Medizin  etc.       391 

lieh  die  Physiologie  des  Stoffwechsels  und  der  Emähning-  betreffen, 
so  die  Ablagerung  des  Nahrungsfettes,  die  Fettbildung 
aus  Kohlenhydrat  bei  der  Mästung  der  Pflanzenfresser,  end- 
lich die  Fett  bil  düng  aus  Ei  weiss,  welche  Pettenkofer  und 
Voit  daraus  erschlossen,  dass  in  ihren  Versuchen  bei  vermehrtem 
Stickstoffumsatz  Kohlenstoff  und  Wasserstoff  als  im  Körper  zurück- 
gehalten sich  berechneten ;  dieselbe  erschien  in  Uebereinstimmung  mit 
der  Ansicht  Virchows  über  den  ,.fettigen  Zerfall"  oder  die  „fettige 
Metamorphose"  der  Zellen  in  pathologischen  Prozessen^) 
und  wurden  noch  durch  Untersuchungen  über  den  Stoffumsatz  und  die 
Fettbildung  bei  der  Phosphorvergiftung -)  von  Bauer  (geb.  1845, 
jetzt  Professor  der  klin.  Medizin  in  München)  und  anderen  gestützt. 
Die  theoretischen  Folgerungen  der  Ergebnisse  seiner 
Stoff  Wechsel  versuche,  welche  übrigens  von  Lieb  ig  bis  zu 
dessen  Tode  bekämpft  wurden,  bemühte  sich  Yoit  in  ausge- 
dehntestem Masse  für  die  Ernährungslehre  und  ihre 
wir  tschaft  liehe  Bedeutung  praktisch  nutzbar  zu  machen; 
es  sei  hier  nur  an  das  von  ihm  aufgestellte  Kostmass  für  den  er- 
wachsenen Mann  bei  mittlerer  Muskelarbeit  —  118  g  Ei  weiss,  56  g 
Fett,  500  g  Kohlenhydrate  — ,  an  seine  selbständig  erschienenen 
Schriften:  „Ueber  die  Theorien  der  Ernährung  im  tierischen  Orga- 
nismus" 1868,  —  ,.Untersuchung  der  Kost  in  einigen  öffentlichen  An- 
stalten" 1877,  sowie  an  seine  klassische  Darstellung  der  Stoffwechsel- 
und  Ernährungsphysiologie  im  sechsten  Bande  von  Hermanns  Hand- 
buch der  Physiologie  (s.  später)  erinnert.  Stoff  Wechsel  versuche 
mit  Verwendung  eines  Respirationsapparates  nach  dem 
Systeme  von  Pettenkofer  und  Voit  an  grösseren  Tieren, 
mit  Eücksicht  auf  die  praktischen  Bedürfnisse  der  Landwirtschaft 
wurden  um  diese  Zeit  noch  von  Henneberg  [in  Göttingen,  1825  bis 
1890]  ausgeführt  und  ergaben  z.  T.  mit  Bezug  auf  die  Fettmast  auch 
analoge  Ergebnisse.^)  Inzwischen  war  auch  die  noch  zu  besprechende 
Grundlage  der  modernen  Biophysik  gelegt  worden,  die  Entdeckung 
des  Gesetzes  von  der  Erhaltung  der  Kraft  und  die  ersten 
Bestimmungen  des  mechanischen  Wärmeäquivalentes  waren  erfolgt 
und  als  Grundlage  der  nächst  der  Stoäbilanz  nunmehr  zu  schaffen- 
den Energiebilanz  des  lebendigen  Organismus  begann  man  mit 
kalorimetrischen  Untersuchungen,  von  denen  bald  die  Rede 
sein  wird.  Durch  Untersuchungen  von  Favre  und  Silber  mann, 
sowie  des  englischen  Chemikers  Frankland  wurden  Werte  der 
Verbrennungs wärme  (wie  wir  sie  jetzt  als  Bruttowärme  be- 
zeichnen) der  wichtigsten  Nahrungsmittel  erhalten,  mit 
deren  Zugrundelegung  Adolf  Fick,  dessen  Verdienste  um 
die  Biophysik  wir  bald  ausführlicher  würdigen  werden,  und  der 
berühmte  Leipziger  Chemiker  Wislicenus  ihre  Schlüsse 
zogen  aus  den  Ergebnissen  ihres  berühmten,  im  Jahre 
1865  zusammen  angestellten  Versuchs:*)  sie  bestiegen  vom 
Ufer  des  Brienzer  Sees  aus  das  Faulhorn  und  vermochten  durch  Mul- 
tiplikation des  Körpergewichts  mit  der  erreichten  Höhe  annähernd  die 


')  Virchows  Archiv,  Bd.  1,  S.  94;  1847,  u.  a.  a.  0. 

«)  Ztschr.  f.  Biologie,  Bd.  7,  1871. 

•)  Berichte   der  Landwirtschaftlichen  Versuchsstationen,   Bd.  10,  S.  457;  1868. 

*)  Vierteljahrsschrift  der  Züricher  natiirforsch.  Gesellsch.,  Bd.  10,  S.  317. 


392  Heinrich  Boruttau. 

geleistete  Steigarbeit  zu  bestimmen;  während  der  Besteigung  wie  in 
der  Vor-  und  Nachperiode  sammelten  sie  die  Exkremente  und  be- 
stimmten deren  Stickstotfgehalt :  so  fanden  sie  ebenfalls  keine 
wesentliche  Steigerung  der  Eiweisszersetzung  infolge 
der  Muskelanstrengung,  ausserdem  aber  die  wichtige  That- 
sache,  dass  die  Verbrennungswärme  des  gesamten  zer- 
setzten Eiweisses  nicht  entfernt  ausreichte,  um  die  als 
Muskelarbeit  ausgegebene  Energie  zu  bestreiten.  Des- 
halb, sowie  ausgehend  von  der  erfahrunggemässen  Bevorzugung  von 
Speck  und  Zucker  vor  Fleischnahrung  seitens  der  einheimischen  Berg- 
steiger, gingen  diese  Forscher  so  weit,  gerade  umgekehrt  wie  L  i  e  b  i  g 
die  Stickstoff  freien  Nährstoffe,  also  Kohlenhydrate  und 
Fette,  als  die  vorwiegende  oder  einzige  Quelle  der 
Muskelkraft  anzusprechen. 

Hand  in  Hand  mit  diesen  erfolgreichen  Bearbeitungen  des  Ge- 
samtstoffwechsels, welche  in  Pettenkofers  und  V o i t s  Arbeiten  zu 
vollständigen  gutstimmenden  Stoffbilanzen  führten,^)  gingen  Unter- 
suchungen über  den  intermediären  Stoffwechsel  und  Be- 
reicherungen der  physiologischen  Chemie  durch  genauere  Er- 
forschung und  Neuentdeckung  wichtiger  Bestandteile 
der  Organe,  Körperflüssigkeiten,  Se-  und  Exkrete.  Hier  sind  vor 
allem  die  zum  Teil  schon  gewürdigten  Verdienste  Wohl  er  s,  ferner 
diejenigen  von  Meissner,  endlich  die  analytischen  und  synthetischen 
Bemühungen  von  Strecker  zu  betonen. 

Georg  Meissner,  geb.  am  19.  November  1829  in  Hannover,  studierte 
in  Göttingen,  Berlin  und  München,  promovierte  1853  in  Göttingen,  wurde 
in  demselben  Jahr  als  Ordinarius  der  Anatomie  und  Physiologie  nach  Basel, 
1857  desgl.  für  Physiologie  und  Zoologie  nach  Freiburg  berufen  und  kehrte 
1860  als  Nachfolger  Rudolf  Wagners  in  Bezug  auf  die  Physiologie  nach 
Göttingen  zurück,  in  welcher  Stellung  er  bis  zu  seinem  1901  erfolgten 
Rücktritt  wirkte. 

Die  Mehrzahl  seiner  physiolog.  Veröffentlichungen  sind  in  Henle  und  Pfeufers 
„Zeitschrift  für  rationelle  Medizin''^  erschienen;  seihständig  ausser  seiften  berühmten 
„Beiträgen  zur  An.  u.  Physiol.  der  JSatit"  und  denjenigen  „zur  Physiol.  des  Seh- 
organs", von  denen  später  noch  die  Rede  sein  wird,  die  „  Untersuchungen  über  den 
Sauerstoff^ ,  Hannover  1863,  und  diejenigen  „über  das  Entstehen  der  Hippursäure" 
{mit  Shepard),  ebenda  1866. 

Er  gab,  als  selbständige  Beilage  zur  Zeitschr.  für  rat.  Medizin  von  1856 — 
1871  mit  Henle  zusammen  den  Jahresbericht  über  die  Fortschritte  der  Ä7iatomie, 
Entwicklungsgeschichte  und  Physiologie  heraus,  dessen  physiologischen  Anteil  er 
allein  bearbeitete. 

Nahe  lag  zunächst  die  Erforschung  der  unmittelbaren  Herkunft 
der  Hauptbestandteile  des  Harns;  Meissner  zeigte,  dass  Harnstoff, 
gegen  dessen  Bildung  in  der  Niere  schon  früher  Prevost  und 
Dumas,  Segalas  und  Vauquelin  sich  ausgesprochen  hatten,  im 
Blute  und  in  der  Leber  stets  vorhanden  ist,-)  also  jedenfalls  nicht 
von  der  Niere  gebildet  wird;  dagegen  gelang  es  trotz  der 
grössten  Sorgfalt  und  der  empfindlichsten  Methoden  (Lieb ig)  nicht, 
Harnstoff  in  den  Muskeln  zu  finden;  dagegen  fesselte  das  von 
Chevreul  1835  zuerst  aus  Bouillontafeln  dargestellte,  von  Lieb  ig 

»)  Ztschr.  f.  Biologie,  Bd.  2,  S.  466. 

^)  Berichte  über  Versuche,  die  Urämie  betreffend,  Ztschr.  f.  rat.  Med.,  Bd.  26, 
S.  225. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  ~etc.       393 

in  seinen  berühmten  Untersuchungen  über  das  Fleisch^)  als  Haupt- 
bestandteil des  von  ihm  erfundenen  Fleischextraktes  näher  analysierte, 
1868  von  Volhard  synthetisch  dargestellte  Kreatin  allgemein  die 
Aufmerksamkeit;  man  hielt  es  eine  Zeitlang  für  Arbeitsmaterial  des 
Muskels,  bis  Meissner-j  und  Voit=^)  1868  gleichzeitig  fanden,  dass 
eingenommenes  Kreatin  alsbald  als  Kreatinin  im  Harn  erscheint. 
Andere  Arbeiten  von  Liebig,  Meissner,  Schlossberger  (1819 
— 1860,  zuletzt  Professor  der  Chemie  in  Tül3ingen,  schrieb  eine  Tier- 
chemie 1855—57)  und  Strecker  (Adolf,  1822—1871,  Professor  der 
Chemie  in  Christiania,  Tübingen  und  Würzburg)  betrafen  weitere 
Fleischbestandteile,  so  die  „Fleischbasen",  von  welchen  das 
Xanthin  1838  von  Wohl  er  und  Liebig  aus  Harnsteinen,  das  Hypo- 
xanthin  von  Scher  er  1850  aus  Milz  und  Herzmuskeln,  das  Guanin 
1846  von  Unger  aus  Guano  dargestellt  wurde,  und  deren  chemischer 
Zusammenhang  („Xanthinbasen",  auch  die  Hierhergeliörigkeit  des 
Kaffeins  und  Theobromins)  von  Strecker  näher  erforscht  wurde;  der- 
selbe und  Lieb  ig  bearbeiteten  die  Chemie  der  Milchsäuren  und 
das  Vorkommen  der  Inosinsäure,  Meissner  fand  den  Muskel- 
zucker, Scherer  [Johann  Josef,  1814—1869.  Vorgänger  Streckers 
in  Würzburg]  den  Inosit,  Reaktionen  auf  denselben  sowie  auf  die 
Xanthinkörper.  W^as  endlich  die  Harnsäure  betrifft,  so  studierten 
V.  Baeyer  und  Strecker  die  Produkte  ihrer  oxydativen  Spaltung, 
Zalesky-*)  und  Meissner-^)  ihre  Herkunft  speziell  im  Stoff- 
wechsel der  Vögel;  in  Widerlegung  Zaleskys  stellte  Meissner 
fest,  dass  sie  hier,  wie  der  Harnstoff  der  Säugetiere  im  Blute  prä- 
formiert ist  und  nicht  erst  in  der  Niere  entsteht;  als  eine  Haupt- 
bildungsstätte aller  beiden  erschien  ihm  die  Leber.  Da- 
gegen fand  er  in  einer  mit  C.  U.  Shepard  angestellten  Untersuchung 
„über  das  Entstehen  der  Hippursäure  im  tierischen  Organismus" 
(Hannover  1866),  dass  die  Synthese  der  Hippursäure  wesent- 
lich erst  in  der  Niere  erfolgt.  Es  ist  hier  ferner  der  Ort,  der 
Verdienste  Frerichs  (s.  oben)  um  die  Physiologie  der  Leber  und 
Niere  zu  gedenken,*')  und  über  die  weitere  Bearbeitung  der  Ver- 
kdauungsprodukte  der  Eiweisskörper  zu  berichten,  welche 
[Meissner  mit  bedeutendem  Erfolge  unternahm."^)  Nach  Abfiltrierung 
Ides  Neutralisationspräzipitats  von  dem  peptischen  Verdauungsgemisch, 
welchem  er  das  vom  Pankreassaft  angreifbare  Parapepton,  das 
_  [etapepton  und  das  unlösliche  Dyspepton  unterscliied,  vermochte  er 
im  Filtrat  drei  Körper  zu  unterscheiden,  die  er  als  a-,  ß-,  y-Pepton 
■)ezeichnete,  je  nachdem  sie  noch  durch  Salpetersäure,  durch  Ferro- 
[■cyankalium  und  Essigsäure,  oder  durch  keins  von  beiden  Reagentien 
fällbar  waren.  Weitere  Versuche  über  das  Pepton  wurden  angestellt 
von  Maly,  Adamkiewicz  u^a.,  welche  grösstenteils  wieder  ver- 
lassene Ansichten  über  seine  Natur  äusserten,  endlich  von  Kühne, 

^)  Annalen  der  Ch.,  Bd.  70,  S.  343. 

2)  a.  a.  0.,  Bd.  24,  S.  100,  Bd.  26.  S.  225. 

=»)  Ztschr.  f.  Biologie,  Bd.  4,  S.  111. 

*)  Untersuchungen  über  den  urämischen  Prozess  und  die  Funktion  der  Nieren, 
Tübingen  1865. 

"^j  Beiträge  zur  Kenntnis  des  Stoffwechsels  u.  s.  w.,  Ztschr.  f.  rat.  Med.,  Bd.  31, 
S.  144;  1868. 

*)  Die  Brightsche  Nierenkrankheit  u.  s.  w.,  Braunschw.  1851 :  Klin.  der  Leber- 
krankheiten, ebenda  1858. 

')  Ztschr.  f.  rationelle  Medizin,  Bd.  7—14;  1858—63. 


394  Heinrich  Boruttau. 

welcher  1883^)  zuerst  den  Namen  Albumosen  für  Zwischenstufen 
zwischen  dem  Ursprungseiweiss  und  dem  nur  noch  schwierig  fällbaren 
Endprodukt,  dem  „genuinen  Pepton"  einführte,  Stoffe  (a-  und 
/J-Pepton  Meissners),  welclie  andere  wohl  als  Propeptone  be- 
zeichneten, welche  Kühne  und  Chittenden  in  ihren  fast  sämtlich 
in  der  Zeitschrift  für  Biologie  erschienenen  Arbeiten  in  Proto-  und 
Deuteroalbumosen  (jetzt  „primäre  und  sekundäre  Proteosen")  unter- 
schieden, von  denen  sie  das  Antialbumid,  die  Hetero-  und  die  Dys- 
albumose  abtrennten,  nachdem  Kühne-)  von  vornherein  für  alle  Zer- 
setzungsstufen die  Unterscheidung  in  Hemikörper,  welche  vom 
Pankreassaft  leicht  weiter  „zersetzt"  werden,  und  in  Antikörper, 
welche  dem  Trypsin  widerstehen  sollen,  stipuliert  hatte,  eine  Unter- 
scheidung, welche  wie  gar  vieles  Neuere  auf  diesem  Gebiete  sich 
immer  weniger  hat  aufrecht  halten  können;  näheres  später. 

Schon  in  jener  früheren  Zeit  gab  Kühne,  dessen  Lebensgang, 
myologische  und  sinnesphysiologische  Arbeiten  weiter  unten  behandelt 
werden,  ein  „Lehrbuch  der  physiologischen  Chemie  [Leipzig  1866— 
68]  heraus. 

Gross  waren  endlich  die  Fortschritte  in  derselben  auf  dem  Gebiete 
der  Chemie  des  Blutes;  sie  sind  untrennbar  verknüpft  mit  dem 
des  Meisters  der  modernen  physiologischen  Chemie,  Hoppe-Seyler. 

E.  Felix  J.  Hoppe[-Seyler],  geb.  zu. Freyburg  a.  d.  ünstrut  am  26.  De- 
zember 1825,  studierte  in  Halle,  Leipzig,  Berlin,  Prag  u.  "Wien,  promovierte 
1850  in  Berlin  mit  der  Dissertation  „De  cartilaginum  structura  et  chon- 
drino",  Avurde  1854  Prosektor  und  Privatdozent  in  Greifswald,  ging  1856 
nach  Berlin  zurück,  wo  er  die  chemischen  Arbeiten  in  Yii-chows  Institut 
leitete  und  1860  Extraordinarius  wurde,  wurde  1864  als  Ordinarius  für 
angewandte  Chemie  nach  Tübingen  und  1872  als  Ordinarius  für  physio- 
logische Chemie  —  erster  und  einziger  selbständiger  Lehrstuhl  im  deutschen 
Reich  für  dieselbe !  —  nach  Strassburg  berufen,  wo  er  bis  zu  seinem,  am 
10.  August  1895  erfolgten  Tode  wirkte. 

Selbständig  erschienene  Schriften:  „Handbuch  der  physiologisch-  und  pathologisch- 
chemischen  Analyse'^,  Berlin,  erste  Aufl.  1858,  letzte  6.  1893 ;  „Physiologische  Chemie", 
4  Abbildungen,  Berlin  1877 — 81.  „Medizinisch-chemische  Untersuchungen'^,  4  Hefte, 
Tübingen,  1866 — 71.    Einzelarbeiten  und  die  Ztschr.  f.  physiol.  Ch.  siehe  im  Text. 

Von  grundlegender  Wichtigkeit  sind  Hoppe-Seyler  s 
Untersuchungen  über  die  Blutfarbstoffe;^)  er  stellt  zu- 
erst die  Oxyhämoglobinkrystalle  rein  dar  und  bewies  ihre  Identität 
mit  den  natürlichen  arteriellen  Blutfarbstoffen;  er  untersuchte  das 
spektrale  Verhalten  der  Blutfarbstoffe  und  ihrer  Zer- 
setzungsprodukte, welche  er  rein  darstellte  und  benannte  [„Hämatin" 
und  „Hämochromogen"],  studierte  die  Eisenabspaltung  aus  den- 
selben [„Hämatoporphyrin"]  und  den  Zusammenhang  mit  den 
Gallenfarbstoffen.  Auch  die  Lehre  von  den  Blutgasen  er- 
fuhr durch  seine  und  Sertolis  Arbeiten  wichtige  Bereicherungen, 
durch  welche  der  Chemismus  der  respiratorischen  Funktion  des  Hämo- 
globins, der  Alkalien  und  Eiweisskörper  des  Blutes  aufgeklärt  wurde. 
Er   wies   die  Gegenwart   von  Lecithin,  Plösz  unter  seiner  Leitung 


•1)  Kühne  und  Chittenden,  Zeitschr.  f.  Biologie,  Bd.  19,  N.  F.  1,  S.  159. 
2)  Verh.  des  nat.-med.  Vereins  in  Heidelberg,  N.  F.  Bd.  1,  S.  236. 
')  Virchows  Archiv,    Bd.  23,   S.  446:    1862;    Bd.  29,  S.  233,  597;    1864;    Medi- 
zinisch-chem.  Untersuchungen,  S.  169  ff. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      395 

diejenige  von  Xuklein  (s.  u.)  in  den  Blutkörperchen  nach,  wie  er 
überhaupt,  und  das  ist  sein  zweites  Hauptverdienst,  die  allgemeine 
physiologische  Chemie,  die  Chemie  der  Zelle  und  der  Gewebe 
begründet  hat.  dank  der  Anregung  und  Förderung  Virchows. 
Hier  bereicherte  er  die  physikalische  Chemie  durch  klassische  Unter- 
suchungen über  Diffusion  und  Osmose,^)  sowie  über  die  Gärungs- 
vorgänge und  die  Mechanik  der  tierischen  Oxydation: 
so  kam  er  dazu,  den  Chemismus  des  lebenden  Protoplasmas  mit  der 
Thätigkeit  der  Fermente  zu  \'ergleichen,-)  bei  welchen  (z.  B.  Butter- 
säuregärung) Eeduktionsvorgänge  und  Auftreten  von  nascierendem 
Wasserstoff  erfolgen ;  letzterer  sollte,  wie  Hoppe-Seyler  an 
einem  mit  Wasserstoff  beladenen  Palladiumblech  zeigte,  den  Luft- 
sauerstoff aktivieren  und  so  dasjenige  fertigbringen,  zu  dessen  Er- 
klärung man  vergebens  nach  dem  von  Schönbein  imJ.  1839  ent- 
deckten Ozon  im  Blut  u.  s.  w.  gesucht  hatte.  Diese  „Ferraent- 
theorie"  ist  in  klassischer  Weise  dargestellt  im  ersten  Bande  seiner 
gi'ossartigen  ..physiologischen  Chemie",  welcher  eine  Darstellung  der 
allgemeinen  Physiologie  und  physiologischen  Chemie  bildet,  deren 
Form  zum  wenigsten  unerreicht,  und  deren  Inhalt  für  alle  Zeiten 
wertvoll  bleibt.  Und  aus  den  3  speziellen  Teilen  desselben  Werkes 
ist  ersichtlich,  dass  fast  kein  Gebiet  der  physiologischen  Chemie  von 
Hoppe-Seyler  unbearbeitet  gelassen  wurde;  vor  allem  aber 
zog  er  füi'  diese  Fülle  der  Aufgaben  eine  reiche  Zahl  von 
Schülern  heran,  deren  Leistungen  noch  später  berücksichtigt  werden 
sollen;  er  gab  in  seinem  „Handbuch  der  ph3^siologisch-  und 
pathologisch- chemischen  Analyse"  eine  unentbehrliche 
Methodik  für  jede  Art  medizinisch  -  chemischer  Arbeit  und  be- 
gründete endlich  im  Jahre  1877  die  „Zeitschrift -für  physio- 
logische Chemie",  von  der  bis  jetzt  im  ganzen  35  Bände  er- 
schienen sind,  indem  sie  seit  seinem  Tode  von  Kossei  fortgesetzt 
wird.  Hoppe-Seyler  verdankt  die  physiologische 
Chemie  ihre  heutige  Stellung  als  selbständige  Wissen- 
schaft, die  vielleicht  von  ihm  und  besonders  neueren  Vertretern 
dieses  Gebietes  etwas  mehr  betont  worden  ist,  als  der  Einheit  unseres 
Faches  dienlich  wäre.^)  Von  ihm  zeitgenössischen  Arbeiten,  ins- 
besondere solchen,  welche  auch  von  Hoppe-Seyler  gepflegte 
Themata  behandeln,  sei  erinnert  an  Vierordts  ,,Anwendung 
des  Spektralapparats"  u.  s.  w.,  Tübingen  1871  u.  73,  sowie 
„Quantitative  Spektralanalyse  in  ihi-er  Anwendung  auf  Physiologie, 
Chemie  und  Technologie",  ebenda  1876;  die  von  ihm  eingefülu-te 
„Spektrophotometrie"  wurde  dann  weiter  ausgebüdet  dui-ch 
Hoppe-Seyler s  Nachfolger  als  Chemieprofessor  in  Tübingen, 
C.  G.  Hüfner  (geb.  13.  Mai  1840),  welcher  auch  die  Sauerstoff- 
kapazität des  Blutes,  die  Harnstoffbestimmung  u.  s.  w. 
bearbeitet  hat.  Alexander  Schmidt  [geb.  1831,  in  Dorpat  1858 
promoviert  und  1862  habilitiert,  1869  Ord.  d.  Physiol.  als  Nachfolger 
ßidders,  starb  am  22.  April  1894J  bearbeitiete  unter  Hoppe- 
Seylers    Leitung    die    Gerinnung    des    Blutes.     1862    und 

*)  Med.-chem.  Untersuchungen,  S.  1  ff. 

*)  Ueber  die  Prozesse  der  Gärungen  und  ihre  Beziehungen  zum  Leben  der 
Organismen.    Pflügers  Archiv,  Bd.  12,  S.  1. 

*)  Vgl.  Pflügers  Abwehrrede  „Wasen  und  Aufgaben  der  Physiologie", 
Pflügers  Archiv,  Bd.  18,  S.  427;  1878. 


396  -  Heinrich  Bornttau. 

1866—67.^)  Die  Gallenfarbstoffe  erfuhren  eine  gi-ündliche  Er- 
forschung durch  S  t  ä  d  e  1  e  r  und  M  a  1  y  [Richard,  1839— 91 ,  Chemie- 
professor in  Graz],  welcher  letzere  1872  den  „Jahresbericht  für  Tier- 
chemie" begründete,  an  welchem  sich  später  Nencki  (s.  weiter  unten) 
und  Andreasch  beteiligten,  welcher  letztere  ihn  jetzt  herausgiebt. 
Endlich  muss  gegenüber  der  Sauerstoffaktivierungstheorie  Hoppe- 
Seylers  die  Bedeutung  erwähnt  werden,  welche  der  Berliner 
Chemiker  Moriz  Traube  [gest.  1894,  Bruder  des  grossen  Klinikers 
Ludwig  T raube]  der  von  Schönbein  entdeckten  und  von  B u n s e n 
näher  gewürdigten  Katalyse-)  sowohl  für  die  Fermentwirkung  als 
für  die  Lebenserscheinungen  beimass,  ein  Standpunkt,  welcher,  wie 
wir  sehen  werden,  in  neuester  Zeit  wichtige  Stützen  gefunden  hat. 

Die  Grundfeste  der  modernen  Physik,  und  damit  der 
Biophysik  oder  physikalischen  Physiologie  bildet  das 
Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie,  und  doppelt 
ehrenvoll  ist  es  für  die  deutsche  physiologische  For- 
schung, dass  zwei  deutsche  Aerzte  und  Physiologen 
seine  Begründer  sind«:  Julius  Robert  Mayer  und  Her- 
mann Helmholtz. 

Julius  Robert  (von)  Mayer,  geb.  am  25,  November  1814  in  Heilbronn, 
studierte  in  Tübingen  und  München,,  woselbst  er  1838  promovierte,  ging 
1838  auf  Reisen  in  die  Tropen,  kehrte  1841  zurück,  wurde  später  als 
Amtsarzt  in  seiner  Vaterstadt  angestellt,  aber  da  Verkennung  seiner 
Leistungen  und  die  48er  Ereignisse  ihn  sehr  alterierten,  1852 — 54  als 
geisteskrank  in  Göppingen  interniert,  später  gewürdigt,  prämiiert  und  ge- 
adelt.    Er  starb  am  20.  März   1878. 

Schriften  s.  unten. 

Die  Beobachtung  der  heller  roten  Farbe  des  arteriellen  Blutes 
in  den  Tropen,  welche  wir  jetzt  als  Zeichen  der  verminderten  Wärme- 
produktion in  heisser  Umgebung  ohne  weiteres  verstehen,  brachte 
Mayer  auf  den  Gedanken,  die  tierische  Wärmeökonomie  überhaupt 
und  in  der  Folge  auch  die  Kraftökonomie  in  der  unbelebten  Natur 
zu  untersuchen;  die  Ergebnisse  dieser  Studien  veröffentlichte  er  in 
den  „Bemerkungen  über  die  Kräfte  der  unbelebten  Natur" 
in  den  Annalen  der  Chemie  1842,  sowie  in  dem  Buche  „Die  orga- 
nische Bewegung  in  ihrem  Zusammenhang  mit  dem 
Stoffwechsel",  Heilbronn  1845,  worin  das  Prinzip  der  ün- 
zerstörbarkeit  der  Energie  und  der  Aequivalenz  ge- 
wisser Mengen  der  verschiedenen  Energieformen  deut- 
lich, wenn  auch  noch  nicht  in  der  späteren  Exaktheit  ausgesprochen 
ist;  Seine  1848  erschienenen  „Beiträge  zur  Dynamik  des  Himmels" 
enthielten  die  kosmische  Verallgemeinerung  dieses  Prinzips.  Nach- 
dem inzwischen  1847  Helmholtz'  Schrift  „Ueber  die  Erhaltung  der 
Kraft"  erschienen  war  und  seit  1843  der  Engländer  Joule  die  ersten 
experimentellen  Bestimmungen  des  mechanischen  Wärmeäquivalents 
ausgeführt  hatte,  erschien  Mayers  Prioritätsreklamation 
„Bemerkungen  über  das  mechanische  Aequivalent  der 
Wärm  e",  (Heilbronn  1851),  an  welche  sich  später  verschiedene  Vor- 
träge und  die  „Gesammelten  Schriften  über  die  Mechanik 
der  Wärme",  Stuttgart  1867,  anschlössen.    Die  vonMayer  aus- 

^)  „Hämatolog.  Studien",  1865;  „Lehre  v.  den  fermentat.  Gerinnungsersch.",  1876. 
2)  Gesamm.  Abh.,  Berlin  1899. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       397 

gesprochene  Notwendigkeit  des  Energiekreislaufs  als 
Begleiter  des  Stoffkreislaufs  brachte  erst  das  wirkliche 
Verständnis  der  tierischen  Energieausgaben  — 
tierische  Wärme,  Bewegung  u.  s.  w.  —  als  Ausdruck 
des  überwiegend  in  „exothermischen  Reaktionen"  ver- 
laufenden tierischen  Stoffwechsels,  —  welches  schliesslich, 
wie  wir  später  sehen  werden,  bis  zur  Aufstellung  von  für  die  schwierige 
Technik  bewunderungswürdig  genauen  „Energiebilanzen"  neben 
den  Stoifbilanzen  geführt  hat,  nachdem  die  experimentelle  und  physi- 
kalische Physiologie  es  bis  zu  genügenden  dynamometrischen 
und  kalorimetrischen  Methoden  gebracht  hatte:  hierfür 
die  ersten  bahnbrechenden  Schritte  unternommen  zu 
haben  ist  eins  der  unsterblichen  Verdienste  von 
Helmholtz. 

Hermann  L.  F.  (von)  Helmholtz  wurde  geboren  in  Potsdam  am  31.  August 
1821,  studierte  als  Eleve  des  Berliner  medizin.-chirurg.  Friedrich- Wilhelms- 
institnts,  promovierte  1842  mit  der  Dissertation  „De  fabrica  systematis  ner- 
vosi  evertebratorum",  war  von  1843  ab  zunächst  Militärarzt  in  Potsdam, 
1848  anatom.  Assistent  in  Berlin  unter  Joh.  Müller,  wurde  1849  als 
Prof.  der  Physiologie  und  allg.  Pathologie  nach  Königsberg  berufen,  1855 
als  Ordinarius  der  Anatomie  und  Physiologie  nach  Bonn  versetzt,  ging 
1858  nach  Heidelberg  als  Physiologe,  1871  nach  Berlin  als  Ordinarius  der 
Physik,  trat  1888  krankheitshalber  zurück  und  wurde  Präsident  der  physikal.- 
technischen  Eeichsanstalt  in  Charlottenbnrg,  welche  Stellung  er  behielt  bis 
zu  seinem  Tode  am  8.  September  1894. 

Ueber  seine  physiolog.  bedeutenden  Schiften  siehe  den  Text. 

Indem  er  damit  begann,  nach  den  chemischen  Verände- 
rungen des  Muskels  bei  seiner  Thätigkeit  zu  suchen, 
fand  Helmholtz  1845,^)  dass  in  der  That  dabei  sein  Wasserextrakt 
an  Menge  ab-,  sein  Alkoholextrakt  zunimmt.  Den  nächsten  Schritt 
bildete  1848 -)  der  exakte  Nachweis  der  Erwärmung  ver- 
mittelst der  th  e  r moel ektris eben  Methode  beim  thätigen 
ausgeschnittenen  Froschmuskel,  bei  welchem  die  in  der 
vermehrten  Durchströmung  mit  dem  höher  temperierten  Blut  liegende 
Fehlerquelle  ausgeschaltet  war,  welche  die  früheren  gleichlautenden 
Ergebnisse  von  Becquerel  und  Bresche t  am  Warmblütermuskel 
unsicher  gelassen  hatte.  Den  dritten  Schritt  bildete  die  A n  we n  d u n g 
der  1847  von  Ludwig  in  die  Physiologie  eingeführten 
graphischen  Methode  (s.  später)  zur  Aufzeichnung  des 
zeitlichenVerlaufs  der  Muskelzuckun  g,  ,,M3'ographie,  Myo- 
graphion",  im  Jahre  1850,  ^)  durch  welche  das  Latenzstadium  (welches 
als  längerer  Zwischenraum  zwischen  Beginn  der  Reizung  und  der 
Kontraktion  bei  den  glatten  Muskeln  längst  bekannt  war),  das 
Stadium  der  „steigenden"  und  dasjenige  der  „sinkenden"  Energie  am 
quergestreiften  Muskel  kenntlich  gemacht  wurde;  dieses  neue  Rüst- 
zeug, sowie  das  von  ihm  erfundene  Ueberlastungsverfahren  in  Ver- 
bindung mit  der  Pouilletschen  zeitmessenden  Methode  benutzte 
Helmholtz  alsbald  zur  Messung  der  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit   im    motorischen   Froschnerven   —   als 


1)  Müllers  Archiv,  1845,  S.  72. 
«)  Ebenda,  1848.  S.  144. 
»)  Ebenda,  1850,'  S.  276. 


398  •  Heinrich  Boruttau. 

,,Differenz  der  Latenzzeiten,  dividiert  durch  die  Diflerenz  der  Wege", 
d.  h.  der  Entfernung  zwischen  einer  dem  Muskel  näheren  und  einer 
von  ihm  entfernteren  Reizstelle  — ;  dieselbe  ergab  sich,  nachdem 
noch  Joh.  Müller  sie  für  un messbar  gross  hielt,  als  von  einer 
unerwartet  niedrigen  Grössenordnung,  kaum  30  Metern 
in  der  Sekunde;  Hei mholtz  entdeckte  auch  alsbald  ihre  Herab- 
setzung durch  Temperaturerniedrigung  und  verbesserte 
weiterhin  das  solchen  exakten  Untersuchungen  dienende  Myographien.  ^) 
Er  fand  ferner  die  Superposition  der  Muskelzuckungen, ^) 
bewies  die  diskontinuierliche  Natur  des  bereits  von  Weber 
untersuchten  und  durch  frequente  Induktionsströme  künstlich  erzeugten 
Muskeltetanus  und  beschäftigte  sich  mit  dem  Verhalten  des  von 
W 0 1 1  a s 1 0 n  1800 entdeckten  „M u s k e  1 1 o n s"  oder  „-geräusche s".^) 
Er  konstruierte  zur  Erzeugung  von  besser  nivellierten  Wechselströmen 
vermittelst  des  von  du  Bois-Reymond  angegebenen  „Schlitten- 
induktoriums"  die  nach  ihm  benannte  Modifikation  des  Neef- 
Wagnerschenünterbrechersu.  a.  Die  Bearbeitung  des  Muskel- 
tons hängt  bereits  zusammen  mit  seinen  akustischen  Arbeiten, 
welche  ebenso  wie  die  optischen  für  die  Physiologie  der 
Sinne  epochemachend  geworden  sind,  ihn  selbst  aber  immer 
mehr  von  der  Physiologie  ab-  und  der  reinen  Physik  zugewendet  haben. 
Einer  der  ersten  Erfolge  seiner  optischen  Arbeiten  wurde  gleichzeitig  zum 
umwälzenden  Ereignis  für  das  praktisch-medizinische  Fach  der  Augen- 
heilkunde, nämlich  die  Entdeckung  des  Augenspiegels.  Die 
Erkenntnis,  dass  die  Pupille  des  beobachteten  Auges  deshalb  schwarz 
erscheint,  w^eil  der  Beobachter  selbst  den  Eintritt  des  Lichtes  in  das 
Augeninnere  absperrt,  existierte  bereits  seitCumming  und  Brück  es 
Beobachtung  des  sogenannten  „Augenleuchtens"  (1847);  die  Bemühungen, 
den  Augenhintergrund  in  genügender  Weise  künstlich  zu  erleuchten, 
waren  indes  fehlgeschlagen,  bis  1851  Helmholtz  die  Aufgabe  in  ein- 
fachster Weise  löste*)  durch  Anwendung  einer  Schicht  mehrerer, 
das  Licht  einer  Lampe  in  das  beobachtete  Auge  hinein  total  reflektierender 
Glasplatten,  welche,  schräg  vor  das  Auge  des  Beobachters  gehalten, 
diesem  den  Durchblick  ermöglichten;  man  ersetzte  sie  später  durch 
einen  in  der  Mitte  durchbohrten  schwach  gekrümmten  Hohlspiegel. 
Eine  ausführliche  und  vollendete  Darstellung  der  Lehre  vom  Gesichts- 
sinn gab  Helmholtz  in  seinem  klassischen  „Handbuch  der 
physiologischen  Optik".  Leipzig  1861,  in  welchem  auch  Ge- 
schichte und  Litteratur  eingehend  berücksichtigt  sind,  so  dass  an  der 
Hand  desselben  die  Entwicklung  der  Hauptabschnitte  der  physio- 
logischen Optik,  soweit  sie  noch  nicht  behandelt  wurde,  hier  nachgeholt 
werden  kann.  Für  die  Dioptrik  des  Auges  Avurden  die  mathe- 
matischen Arbeiten  von  Eni  er  und  Gauss,  sowie  die  Experimente 
Volkmanns  (1836)  von  höchster  Bedeutung,  auch  muss  der  Messungen 
und  Berechnungen  Listings  in  Göttingen ^)  gedacht  werden.  Um  die 
Messung  der  brechenden  Kraft  der  Augenmedien  machten  sich 
verdient  Th.  Young   (1801),   Brewster  (1819),   später   Quesnel 


1)  Ebenda,  1852,  S.  199. 

2)  Monatsber.  d.  Berl.  Akad.,  1854,  S.  328. 
8)  Ebenda,  1864,  S.  307,  u.  a.  a.  0. 

*)  Beschreibung  eines  Augenspiegels  u.  s.  w.,  Berlin  1851. 
^)  Beitr.  z.  Dioptrik  des  Auges,  Gott.  1845;  Artikel  „Auge"  in  Wagners  Hand- 
wörterbuch. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       399 

und  AVilh.  Krause;  die  Messung  der  Krümmungsradien  der 
Trennungsflächen  erhielt  die  grösste  Genauigkeit  durch  die  An- 
wendung der  Purk inj  eschen  Spiegelbilder  in  Helmholtz'  Ophthal- 
mometer;^) die  Accomodation  des  Auges,  welche  wie  früher 
von  de  1  a  H  i r  e  und  H a  1 1  e r ,  so  noch  von  M a g e n d i e ,  R i t te r  u.  a. 
gänzlich  bestritten  worden  war,  war  durch  Hu  eck  (1826),  Yolk- 
mann,  Mayer  und  Gramer  sichergestellt,  doch  bis  auf  Helmholtz 
auf  verschiedene,  von  einander  sehr  abweichende  Weisen  erklärt 
worden  —  Krümmungsänderung  der  Hornhaut,  Home,  R  a  m  s  d  e  n  u.  a. ; 
Verschiebung  der  Linse,  Brewster,Joh.  Müller;  Formveränderung 
der  Linse,  Th.  Young.  Purkinje,  Hueck;  Form  Veränderung  des 
Augapfels,  Meckel.  Arnold,  Heule,  Listing  — ;  Helmholtz-) 
gab  die  heute  allgemein  angenommene  Erklärung,  nach  welcher  die 
Linse  dicker,  insbesondere  ihre  Vorderfläche  stärker  gekrümmt  wird, 
und  zwar  infolge  der  Entspannung  der  Zonula  Zinnii  bei  der  Kon- 
traktion des  Ciliarmuskels  und  kraft  ihrer  eigenen,  im  Ruhezustand 
dauernd  in  Anspruch  genommenen  Elastizität.  Untersuchungen  des 
normalen  regelmässigen  Astigmatismus  des  Auges  stammen  von 
Th.  Youn  g,  von  dem  später  zu  würdigenden  holländischen  Physiologen 
Donders,^)  von  Knapp  und  von  Helmholtz.  Die  Bewegungen 
der  Iris  und  ihre  Innervation  („Centrum  ciliospinale"  u.  s.  w.)  erfuhren 
eine  vortreifliche  Bearbeitung  durch  den  früher  schon  bei  der  Be- 
sprechung des  Herzvagus  gewürdigten  Forscher  Budge.^)  Was  die 
in  Helmholtz  Buch  den  zweiten  Hauptabschnitt  bildende  Lehre 
von  den  Gesichtsempfindungen  betrifft,  so  war  die  Grösse  des 
bekanntlich  von  dem  französischen  Physiker  Mariotte  (1620 — 1681) 
entdeckten  blinden  Flecks  und  die  Genauigkeit  des  Sehens  schon  früh 
zu  messen  versucht  worden.  Die  Entdeckung  der  Stäbchen  und 
Zapfen  der  Netzhaut,  ihre  Messungen  u.  s.  w.  brachten  hier  neue 
Aufklärung;  die  Purkinje  sehe  Aderfigur  und  die  Struktur  des 
blinden  Flecks  liess  schon  1851  Helmholtz  den  Satz  von  der 
Unempfindlichkeit  der  Optikusfaserschicht  für  den 
Lichtreiz  aussprechen;  Hermann  Müller  (.,Müllersche  Stütz- 
fasern*") erbrachte  endlich  1855-^)  den  experimentellen  Beweis  dafür, 
dass  die  Stäbchen  und  Zapfen  die  eigentlichen  lichtperzipierenden  Ele- 
mente sind.  Die  physiologische  Farbenlehre  (^Lehre  von  den 
farbigen  Lichtempfindungen)  wurde,  nachdem  die  physikalische  Farben- 
lehre (Lehre  von  den  verschiedenfarbigen  Lichtarten)  durch  Newton, 
Huyghens  Und  Euler  trotz  Goethes  u.  a.  Einwendungen  ein  für 
allemal  festgelegt  war,  insbesondere  durch  Thomas  Young*) 
(1773  —  1829,  berühmter  englischer  Arzt  und  Physiker)  begründet, 
dessen  Annahme  dreier  verschiedener  farbenempfinden- 
der Elemente  in  der  Netzhaut  (1807)  dann  1852  von  Helm- 
holtz') und  1855  von  Maxwell  wiederaufgenommen  und  bearbeitet 
wurde.    Von  grosser  Bedeutung  waren  hier  die  Beobachtungen  über 


')  Graefes  Archiv  f.  Ophthalmologie,  Bd.  U,  2,  S.  52. 
«)  Ebenda,  S.  1-71. 
*)  Astigmatismus,  Berlin  1862. 
*)  Ueber  die  Bewegungen  der  Iris,  1855. 

*)  Verh.  d.  physikal.-medizin.  Gesellsch.  in  Würzburg,  Bd.  4  und  5. 
*)  Lectures  on  natural  philosophy,  London  1807. 

')  Müllers  Arch.,  1852,  S.  461;  Ann.  der  Physik,  Bd.  87.  S.  45.   Bd.  94.  S.  1. 
1853;  u.  vieles  andere. 


400  '  Heinrich  Boruttau. 

Farbenblindheit,  insbesondere  von  John  Dalton,  welcher  selbst 
rot[grün]blind  war  („Daltonismus"'),  und  später  von  dem  schwe- 
dischen Forscher  Fritjof  Holmgren  (s.  weiter  unten).  Von  den 
Arbeiten  Purkinjes  über  subjektive  und  Joh.  Müllers  über 
phantastische  Gesichtserscheinungen  ist  schon  die  Rede  gewesen; 
Nachbilder  undKontrastersche in ungen,  insbesondere  farbige 
(Goethe)  waren  schon  länger  bekannt;  die  Irradiation  erklärte 
seiner  Zeit  Descartes  aus  nervöser  Miterregung,  später  V o  1  k m a n n 
aus  mangelhafter  Accomodation ;  die  stroboskopischen  Erschei- 
nungen wurden  von  1829  an  besonders  durch  den  verdienten 
belgischen  Physiker  Plateau  (1801—1883)  untersucht  —  1832  er- 
fand Stampfer  in  Wien  die  stroboskopische  Scheibe  — ;  doch  erst 
durch  A.  Fick  1863,^)  später  durch  Exner  u.  a.  wurde  der  Ein- 
fluss  der  Ermüdung  auf  den  zeitlichen  Verlauf  der 
Netzhauterregung  genauer  untersucht.  Die  Augen- 
bewegungen behandelte  bereits  Joh.  Müller  1826  in  seiner  er- 
wähnten „vergleich.  Physiologie  des  Gesichtssinns";  er  wie  Volk- 
mann, Hueck  u.  a.  blieben  in  IiTtümern  betreffend  den  Drehpunkt 
des  Auges  und  das  Vorkommen  von  Achsendrehung.  Listing  stellte, 
ohne  es  selbst  zu  publizieren,  1850  ein  Raddrehungsgesetz  auf,  welches 
von  Meissner-)  geprüft  und  im  wesentlichen  richtig  befunden, 
später  von  Helmholtz  nachuntersucht  wurde,  während  Fick  und 
AVundt  in  anderer  Weise  denselben  Gegenstand  bearbeiteten.  Das 
erste  Augendrehungs  modeil  („Ophthalmotrop")  konstruierte 
Ruete  1857;  die  von  Aquilonius  1613  begründete  Lehre  vom 
Horopter  wurde  besonders  von  Joh.  Müller,  Meissner,  Helm- 
holtz und  Volkmann  gefördert.  1833  konstruierte  der  englische 
Physiker  Wheatstone  (1802 — 1875)  das  Spiegelstereoskop, 
1843  ßre WS t er  (1781— 1868)  das  Prismenstereoskop,  1850  sah 
Dove  den  „stereoskopischen  Glanz".  Die  allgemeinen  Fragen  der 
Wahrnehmungen  des  Gesichtssinns,  zahlreiche  Details  betr.  Aufrecht- 
sehen, Einfachsehen  mit  beiden  Augen,  optische  Täuschungen  u.  s.  w. 
sind  von  Helmholtz  eingehend  bearbeitet  worden,  durchwegs  im  Sinne 
der  „empiristischen"  Theorie;  der  gegenteilige  „nativistische  Stand- 
punkt" Herings  wie  auch  die  Verdienste  dieses  Forschers  und  anderer 
neuerer  um  die  Sinnesphysiologie  werden  weiter  unten  gewürdigt. 

Nachdem  die  physikalische  Schalllehre  duixh  die  bahnbrechenden 
Arbeiten  Chladnis,  durch  die  Web  er  sehe  Wellenlehre  (vergL 
oben)  u.  a.  mächtig  gefördert  worden  war,  erfolgte  für  die  physio- 
logische Akustik  der  grundlegende  Schritt  durch  die  Entdeckung 
und  Beschreibung  des  nervösen  Aufuahmeapparates  in  der  Schnecke 
durch  den  Wiener  Anatomen  Corti  im  Jahre  1846,  —  des  „Cor ti- 
schen Organs",  auf  dessen  Bau  Helmholtz  seine  be- 
rühmte Resonatorentheorie  der  Klanganalyse  durch 
das  Ohr  begründete.  Helmholtz  machte  sich  ferner  auf  diesem 
Gebiete  durch  Untersuchungen  über  das  Trommelfell  und  die  Me- 
chanik der  Gehörknöchelchen^)  verdient,  sowie  durch  Versuche  über 
die  Analyse  und  Synthese  der  Vokalklänge  der  menschlichen  Stimme, 
welche   ihn   erst  zu  der  „Theorie  vom  relativen  Moment"   führten, 


1)  Müllers  Arch.,  1863,  S.  764. 

^)  ,.Beitr.  zur  Physiologie  des  Sehorgans",  Leipz.  1854. 

8)  Pflügers  Archiv,  Bd.  1,  1868. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      401 

wonach  die  Vokale  gewissermassen  transponierbare  Accorde  wären, 
während  er  sich  später  für  das  ..absolute  Moment",  d.  h.  die  feste 
Lage  gewisser  Partialtöne  der  Vokalklänge  entschied.  Eine  zu- 
sammenfassende Darstellung  des  ganzen  Gebietes  gab 
Helmhol tz  bereits  1862  in  seiner  „Lehre  von  den  Ton- 
empfindungen als  physiologische  Grundlage  für  die 
Theorie  der  Musik",  welche  letztere  in  der  That  physikalisch, 
physiologisch,  historisch  und  ästhetisch  darin  in  musterhafter  Weise  be- 
rücksichtigt ist ;  das  Buch  erschien  später  noch  in  zahlreichen  Auflagen. 

Ein  beweisender  Vei-such  dafür,  dass  der  Geruchssinn  nur 
durch  Gase  und  Dämpfe  erregt  wird,  rührt  von  E.  H.  Weber^)  her 
1834;  messende  Versuche  über  die  Schärfe  des  Geruchssinns 
von  Valentin  und  von  dem  französischen  Parfümeur  Passy;  die 
Natur  der  Geschmacksknospen  als  Sinnesaufnahmeapparat  stellte 
Schwalbe -j  1867  fest ;  weitere  Versuche  über  die  E m p f i n d u n g s - 
qualitäten  dieses  Sinnes  stellten  u.  a.  der  italienische  Physiologe 
L  US  Sana  [1820 — 1898,  Schüler  des  älteren  Panizza,  Professor  in 
Parma  und  Padua]  und  der  Oesterreicher  v.  Vintschgau  [1832 — 
1902.  Professor  in  Padua,  Prag  und  Innsbruck]  an. 

Was  endlich  die  Hautsinnesgebiete  u.  s.  w.  betrifft,  so  sei 
erinnert  an  die  Entdeckung  der  Vater-Pacini  sehen  Körperchen 
1?41,  sowie  an  die  berühmte  von  Meissner  zusammen  mit 
Rud.  Wagner  1852  gemachte  Entdeckung  der  eigent- 
lichen Tastkörperchen.^)  Bereits  vor  der  letzteren  hatte 
Ernst  Heinrich  W^eber  in  seinen  Annotationes  anatomicae  et 
physiologicae  1834  seine  klassischen  Versuche  über  den  Tast- 
sinn und  die  Empfindungkreise,  den  Temperatursinn 
u.  s.w.  veröffentlicht  und  den  Satz  von  der  Vergröberung  der 
Differenz  empfindlichkeit  mit  dem  Anwachsen  des 
Reizes  ausgesprochen:  —  das  sogenannte  „Webersche  Gesetz", 
aus  welchem  später  Gustav  Fechner  [1801 — 1887,  Prof.  in  Leip- 
zig] folgern  zu  können  glaubte,  dass  die  Empfindungen  selbst  wie  die 
Logarithmen  der  Reize  wachsen,  eine  von  den  späteren  Psycho- 
phj-sikern  (s.  weiter  unten)  viel  umstrittene  Frage. 

Die  gewaltigen  Fortschritte  der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  auf  dem  Gebiete  der  (physikalischen)  Elek- 
trizitätslehre haben  in  gleicher  Weise,  wie  schon  früher  er- 
wähnt, die  Anwendung  der  Elektrizität  zu  Reizzwecken 
gefördert,  und  weiterhin  eine  eingehende  Erforschung  der 
tierisch-elektrischen  Erscheinungen  ermöglicht. 

Für  die  Existenz  einer  tierischen  Elektrizität  im 
Sinne  Galvanis,  gegen  V o  1 1 a s  lange  absolut  negierenden  Stand- 
punkt hatte  sich,  wie  schon  früher  angedeutet,  der  unsterbliche 
Alexander  vonHumboldt  (1769 — 1859)  ausgesprochen,  und  ihre 
wahrscheinliche  Bedeutung  für  die  Funktion  der  Nerven  und  Mus- 
keln betont  in  seiner  berühmten  Schrift  „Ueber  die  gereizte 
Muskel-  und  Nervenfaser"  u.  s.  w.,  Berlin  1797—1799.  Um 
jene  Zeit  wirkte  auch  Johann  AVilhelm  Ritter  [geb.  am  16. 
Dezember  1776  zu  Samitz  bei  Hainau  in  Schlesien,  Pharmazeut  und 


^1  Annotationes,  1.  Band. 

Arch.  f.  uiikroskop.  Anat.,  3.  Bd.,  S.  404. 
^j  Beiträge  zur  Anatomie  und  Physiologie  der  Haut,  Leipzig  1853. 
Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  26 


402  Heinrich  Boruttau. 

Mediziner,  lebte  in  Jena,  Gotha  und  Weimar  als  Privatgelehrter, 
seit  1804  als  Akademiemitglied  in  München,  starb  daselbst  am  23. 
Januar  1810],  dessen  wichtigste  Arbeiten  in  den  Schriften  niedergelegt 
sind:  „Beweis,  dass  ein  beständiger  Galvanismus  den  Lebensprozess 
im  Tierreich  begleitet",  Weimar  1798;  —  „Beiträge  zur  Kenntnis 
des  Galvanismus",  Jena  1800;  „Neue  Beiträge  desgl.",  Tübingen 
1808;  —  „Ueber  den  Einfluss  des  Galvanismus  auf  die  Erregbarkeit 
tierischer  Teile",  in  den  Denkschriften  der  Münchener  Akademie 
1809.  Ritter  verfocht  nicht  nur  die  Existenz  und  Be- 
deutung einereigenen  tierischenElektrizität,  sondern 
unterzog  auch  die  Wirkungsweise  des  „galvanischen" 
Stroms  der  Hydrokette  (Voltaschen  Säule)  auf  die  er- 
regbaren tierischen  Gebilde  einer  sorgfältigen  Unter- 
suchung; er  erkannte,  dass  die  Oeffnung  und  Schliessung 
Zuckungen  macht,  dass  während  der  Dauer  der  Durch- 
strömung Veränderungen  der  Erregbarkeit  im  Nerven 
auftreten  und  entdeckte  den  nach  Oeffnung  des  länger 
im  Nerven  geschlossen  gewesenen  Stroms  auftretenden 
Muskeltetanus  —  „Ritter scher  Tetanus";  endlich  war  er 
mit  Erfolg  bemüht,  die  gesetzmässige  Abhängigkeit  des  Eintretens 
der  Zuckungen  von  der  Richtung  und  Stärke  des  dem  Nerven  zu- 
geleiteten Stromes  zu  erkunden  —  „Zuckungsgesetz",  —  wobei  er 
freilich  in  Statuierung  eines  prinzipiell  gegensätzlichen 
Verhaltens  der  Beuge-  und  Streckmuskeln  zu  weit  ging; 
er  studierte  endlich  auch  die  Wirkung  des  Stromes  auf  die 
Sinnesapparate:  Lichtwahrnehmungen  des  elektrisch  durch- 
strömten Auges,  „elektrischer  Geschmack  und  Geruch",  allgemeine 
Elektrosensibilität  u.  s.  w.  Weiter  durchforscht  wurde  dieses  Gebiet  von 
dem  hochverdienten  Pfaff  [Christoph  Heinrich,  1773 — 1858, 
Professor  in  Kiel,  schrieb  eine  allg.  Physiologie],  von  Bellingeri, 
Marianini,  doch  konnte  es  erst  die  Entdeckung  des  Elektromagne- 
tismus sein,  welche  einerseits,  wie  schon  oben  S.  374  erwähnt,  die  Reiz- 
technik durch  Einführung  der  Induktionsströme  vervollkommnete, 
andererseits  in  der  Wirkung  des  Stromes  auf  die  Magnetnadel 
ein  einwandfreies  und  empfindliches  Prüfungsmittel  auf 
das  Vorhandensein  elektrischer  Kräfte  darbot.  Der  Mann, 
welcher  dem  von  Schweigger  1822  erfundenen  „Multiplikator"  durch 
Anwendung  des  Ampere  sehen  astatischen  Nadelpaares  zu  bedeutend 
vergrösserter Empfindlichkeit  verhalf  (1825),  nämlich  Nobili  [Leo- 
polde, 1784—1835,  aus  Reggio,  Artilleriekapitän,  später  Professor 
der  Physik  in  Florenz],  entdeckte  1827  ^)  eine  in  konstanter  Richtung 
und  dauernd  im  lebenden  Froschkörper  vorhandene  elektromotorische 
Kraft;  dieser  „Frosch ström"  wurde  zum  Ausgangspunkte 
aller  weiteren  Untersuchungen  über  das  elektrische 
Verhalten  tierischer  Teile.  Dieses  Arbeitsgebiet  betrat  zuerst 
der  Italiener  Matteucci  [Carlo,  geb.  am  20.  Juni  1811  in  Forli, 
studierte  in  Bologna  —  promoviert  1829  —  und  Paris,  weiterhin 
Professor  der  Physik  in  Bologna,  Ravenna  und  Pisa,  später  italie- 
nischer Senator,  General-Telegraphendirektor  und  Unterrichtsminister, 
gestorben  im  Juni  1868J.     Er  entdeckte  bereits  im  Jahre  1841  die 


*)  Ann.  de  cbimie  et  de  phys.,  T.  38,  p.  225;  1828. 


Greschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       403 

..sekundäre  Zuckung",^)  welche  er  aber  später  nicht  mehr  als 
das  gelten  lassen  wollte,  wofür  er  sie  anfangs  selbst  ansah  und  was 
sie  wirklich  ist,  nämlich  als  Ausdruck  einer  elektrischen 
Veränderung  des  thätigen  Muskels  [wofür  sie  auch  Bec- 
querel  ansah,  unter  Vergleichung  mit  dem  Schlag  der  Zitterfische]. 
Er  entdeckte  ferner  den  elektromotorischen  Gegensatz 
..zwischen  der  Muskeloberfläche  und  dem  Muskelinnern", 
wie  er  es  ansah,  und  konstruierte  aus  Froschmuskeln  tierisch- elek- 
trische Säulen;  alle  diese  Dinge  behandelte  er  ausführlich  in  seinem 
Traite  des  phenomenes  electrophysiologiques ,  zuerst  Paris  1844  er- 
schienen, später  als  Cours  d'electrophysiologie  erweitert;  im  selben 
Jahre  bearbeitete  er  auch  mit  Longe t  die  Frage  des  Zuckungs- 
gesetzes. Endlich  veröffentlichte  er  1847  seine  Lecons  sur  les  pheno- 
menes physiques  des  corps  vivauts.  in  welchen  insbesondere  wich- 
tige Untersuchungen  über  die  Diffusions  Vorgänge  ent- 
halten sind.  Zu  einem  grossen  Gebiete  exakten  Wissens  wurde 
immerhin  die  „Elektrophysiologie"  erst  durch  die  un- 
vergleichlich sorgfältige  Forschung  eines  der  bedeu- 
tendsten Schüler  Johannes  Müllers,  nämlich  du  Bois- 
Reymond. 

Emil  du  Bois-Reymond  ist  als  Sohn  eines  Xeuchäteler  Uhrmachers  am 
7.  November  1818  in  Berlin  geboren,  studierte  daselbst  und  in  Bonn,  wurde 
Assistent  Johannes  Müllers,  promovierte  1842  mit  der  Dissertation  »Quae 
apud  veteres  de  piscibus  electricis  exstant  argumenta",  wurde  1858  als 
Nachfolger  Job.  MüUers  ordentlicher  Professor  der  Physiologie  in  Berlin, 
1867  ständiger  Sekretär  der  preuss.  Akademie,  wirkte  bis  zu  seinem  am 
26.  Dezember  1896  erfolgten  Tode. 

Von  seinen  Schriften  ist  unten  im  Text  die  Rede. 

1841  von  Johannes  Müller  auf  den  Froschstrom  und  Mat- 
teuccis  Essai  darüber  hingewiesen,  publizierte  du  Bois-Rey- 
mond  bereits  1842  eine  Arbeit  über  dieses  Thema  und  machte  weiter- 
hin die  Erforschung  der  tierisch  -  elektrischen  Er- 
scheinungen zu  seiner  Lebensaufgabe.  Er  schuf  eine 
exakte  Methodik  für  die  Beobachtung  der  Erscheinungen  selbst 
wie  für  die  Anwendung  der  Elektrizität  zum  Reizen  u.  s.  w.:  Bau 
empfindlichster  Multiplikatoren;  unpolarisierbare 
und  gleichartige  Elektroden  [Regnaulds  amalg.  Zink- 
Zinksulfatkombination];  Rheochord;  runder  Kompensator; 
Schlitteninduktorium  u.  s,  w.;  er  gab  dem  allgemeinen 
Erregungsgesetz  die  bestimmte  Form,  wonach  die  Reizstärke 
der  Steilheit  der  Dichteschwankung  entspricht ;  er  präzisierte  die 
Erscheinungsweise  aller  grundlegenden  tierisch-elek- 
trischen Erscheinungen:  Längsquerschnitt-,  von  ihm  sog. 
Ruhestrom;  „negative  Schwankung"  desselben  als  elektrischer 
Ausdruck  der  Thätigkeit,  beides  beim  Muskel  wie  beim  Nerven,  an 
letzterem  endlich  die  extrapolaren  elektrotonischen  Ströme 
bei  konstanter  Durchströmung;  er  wies  die  Wege  zur  denkbar  sorg- 
faltigsten Ausschliessung  aller  Fehlerquellen  auf  diesem 
so  schwierigen  Gebiet  (unipolare  Abgleichungen  u.  s,  w.)  und  suchte 
aUe   Erscheinungen    durch  seine,    der  Faraday  sehen   Theorie   des 

*)  Mitteilung  an  die  Pariser  Acad.  des  sciences  vom  28.  Febr.  1842. 

26* 


404  Heinrich  Boruttau. 

Magnetismus  nachgebildete  M  o  1  e  k  u  1  a  r  t  li  e  o  r  i  e  zu  erklären.  Diese 
Leistungen  sind  niedergelegt  in  seinen  berühmten  „Unter- 
suchungen über  tierische  Elektrizität",  deren  erster  Band 
Berlin  1848  erschien,  1849  die  erste  Hälfte,  1860  die  zweite  Hälfte 
des  zweiten  Bandes,  in  welchem  letzteren  wichtige  Aufschlüsse  über 
die  elektrischen  Fische  enthalten  sind  (Richtung  des  Schlages, 
Immunität  der  Tiere  gegen  den  eigenen  Schlag  u.  s.  w.);  letzteres 
Spezialgebiet  wurde  weiter  bearbeitet  von  du  Bois-Reymonds 
Schüler  Carl  Sachs,  dessen  „Untersuchungen  am  Zitteraal  nach 
dessen  frühem  Tode  der  Meister  selbst  herausgab  [Leipzig  1881], 
besonders  in  anatomischer  Hinsicht  durch  Gustav  Fritsch  [geb. 
1838,  jetzt  noch  Abteilungsvorsteher  am  Berliner  Institut]  und  später 
wieder  durch  duBois-Reymond  selbst.  Zahlreiche  in  Zeitschriften 
und  Archiven  niedergelegte  Einzelarbeiten  du  Bois'  gab  er  später 
selbst  zusammen  heraus  als  „Gesammelte  Abhandlungen  zur 
Muskel-  und  Nervenphysik",  Berlin  1875/77.  Andere  Gebiete 
der  Physiologie  hat  du  Bois-Rej^mond  kaum  bearbeitet,  indessen 
wirkte  er  hier  durch  Fortführung  von  Müllers  Archiv  für  Anatomie 
und  Physiologie  nach  dessen  Tode  gemeinschaftlich  mit  Reichert 
von  1859 — 1877,  in  welchem  Jahre  eine  Trennung  erfolgte,  nach 
welcher  H  i  s  und  Braune  die  anatomische  Abteilung  und  d  u  B  o  i  s  - 
Reymond  die  physiologische  weiter  redigierten. 

Bedeutendes  dagegen  hat  duBois-Reymond  geleistet  für  die 
allgemeine  wissenschaftliche  Bildung  und  philo- 
sophische Denkreife  des  deutschen  Volkes  durch  seine, 
meist  in  der  Akademie  der  Wissenschaften  gehaltenen  Reden  von 
stilistischer  Vollendung,  die  freilich  oft  des  Schwulstes  nicht  ent- 
behren; sie  erschienen  gesammelt  in  zwei  Bänden  1886—87;  hier  sei 
nur  erinnert  an:  Leibniz'sche  Gedanken  in  der  neuen  Naturwissen- 
schaft" 1871;  „Darwin  versus  Galiani"  1876;  „Der  physiologische 
Unterricht  sonst  und  jetzt",  1878,  zur  Eröffnung  des  von  du  Bois- 
Reymond  eingerichteten  Berliner  Muster-Instituts  mit  seinen  einzelnen 
Abteilungen;  „Ueber  die  Grenzen  des  Naturerkennens,"  1882,  enthält 
das  berühmte  „Ignorabimus";  „Ueber  Neovitalismus",  1894.  Seine 
Stellung  ist  diejenige  des  Materialismus,  von  dessen  Entstehung 
und  Beziehungen  zu  unserer  „klassischen  Periode  der  Naturwissen- 
schaften" bald  die  Rede  sein  soll.  Die  durch  du  Bois-Reymond 
geschaffene  exakte  elektrophysiologische  Methodik  gestattete  auch 
eine  genauere  Untersuchung  der  Dauerwirkungen  des  kon- 
stanten Stomes,  als  sie  Ritter  und  seinerzeit  möglich  gewesen 
war:  die  erregbarkeitsändernden  Wirkungen  des  Stromes  auf  die 
Nerven,  der  sog.  „Elektrotonus"  erfuhr  eine  genaue  Untersuchung 
durch  Eckhard  (siehe  weiter  unten)  und  Pflüger  (siehe  weiter 
unten),  w^elcher  letztere  in  seiner  „Physiologie  des  Elektro- 
tonus", Berlin  1856,  die  gesteigerte  Erregbarkeit  im  Bereiche  der 
Kathode,  die  verminderte  im  Bereiche  der  Anode,  die  Aufhebung  der 
Leitungsfähigkeit  bei  starker  Durchströmung  u.  s.  w.  in  den  feinsten 
Einzelheiten  exakt  darstellte,  ferner  das  von  Ritter  geahnte  „po- 
lare Erregungsgesetz"  aussprach  und  in  dem  Sinne  deutete, 
dass  „Erregung  eintrete  durch  Entstehen  des  Katelektrotonus  und 
Verschwinden  des  Anelektrotonus",  endlich  mit  den  Thatsachen  des 
Elektrotonus  und  den  Erregungsgesetzen  das  von  ihm  richtig  auf- 
gestellte  [„Pflüg  er  sehe"]  Zuckungsgesetz   für  den  Frosch- 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       405 

nerven  in  Einklang  brachte.  Endlich  gestattete  die  verbesserte 
Methodik  auch  eine  wissenschaftliche  Ausbildung  der  Elektrö- 
diagnostik  und  Elektrotherapie,  zu  welcher  insbesondere 
der  schon  früher  von  uns  gewürdigte  Eobert  Remak  Bedeuten- 
des beitrug :  „Ueber  methodische  Elektrisierung  gelähmter  Muskeln", 
Berlin  1855;  „Galvanotherapie  der  Nerven-  und  Muskel- 
krankheiten", ebenda  1858.  Ferner  verdient  um  dieses  sonst 
hier  nicht  weiter  hergehörige  Gebiet  machte  sich  der  Franzose 
G.  B.  Duchenne  [aus  Boiüogne.  geb.  1806J,  welcher  übrigens  seine 
lokalisierte  [„polare",  „unipolare"]  Faradisierung  [De  Telec- 
trisation  localisee  etc.,  Paris  1855]  für  die  Erforschung  der 
Funktionen  der  einzelnen  Gesichts-  und  Skelettmuskeln 
dienstbar  machte:  „Mecanisme  de  la  ph^^sionomie  humaine", 
Paris  1862 ;  ..Physiologie  des  mouvements",  ebenda  1867,  deutsch  von 
C.  Wernicke  1881. 

Haben  wir  bis  jetzt  die  Förderung  der  Physiologie  nach  den 
drei  Einzelrichtungen  der  mikroskopischen,  chemischen  und  physi- 
kalischen Forschung  durch  die  Schüler  Johannes  Müllers  kennen 
gelernt,  von  denen  insbesondere  Helmhol tz  und  du  Bois-Rey- 
mond  etwas  einseitig  die  Sinnes-,  allgemeine  Muskel-  und  Nerven- 
physiologie bevorzugten,  so  haben  wir  jetzt  noch  einiger  Männer 
zu  gedenken,  welche  wie  Joh.  Müller  selbst  in  weiter- 
gehendem Masse  den  Satz  des  grossen  Meisters  be- 
stätigten, dass  jede  Methode  recht  ist,  welche  zum 
Ziele  führt,  und  die  bemüht  w aren,  in  gleicher  Weise 
alle  Zweige  der  Physiologie  experimentell  zu  fördern. 
Hier  steht  in  erster  Linie,  Joh.  Müller  ebenbürtig  und  als  Haupt 
einer  über  die  ganze  Welt  verbreiteten  modernen 
Physiologenschule,  Karl  Ludwig. 

Karl  Friedrich  "Wilhelm  Ludwig  wurde  am  29.  Dezember  1816  zu 
Witzenhausen  a.  d.  Werra  in  Hessen  geboren,  studierte  in  Marburg  und 
Erlangen,  promovierte  1839  in  Marburg,  wurde  dort  1841  zweiter  Prosektor, 
habilitiei-te  sich  1842  für  Physiologie,  wurde  1846  Extraordinarius  für 
vergleich.  Anatomie ;  1849  wurde  er  als  Ordinarius  für  Anatomie  und 
Physiologie  nach  Zürich,  1855  als  ebensolcher  für  Physiologie  und  Zoologie 
nach  Wien  ans  Josephinum  berufen;  1865  ging  er  als  ord.  Prof.  der  Physio- 
logie nach  Leipzig,  in  welcher  Stellung  er  bis  zu  seinem  am  24.  April  1895 
erfolgten  Tode  wirkte. 

Werke  siehe  den  Text. 

Es  giebt  kaum  ein  Spezialgebiet  der  Physiologie,  welches  Ludwig 
nicht  bearbeitet  hätte,  unter  Heranziehung  aller  Methoden,  welche 
positive  Ergebnisse  versprachen  im  Sinne  dessen,  was  er  als  End- 
zweck der  Experimentalphysiologie  betrachtete,  —  nämlich 
Zurückführung  der  normalen,  wie  auch  pathologischen 
Funktionen  des  Organismus  aufGesetze  derPhysik  und 
Chemie,  so  dass  sie,  wenn  möglich,  mathematisch  bestimmbar  seien : 
wenngleich  er  selbst  selten  exakter  Formeln  sich  in  seinen  Arbeiten 
bediente,  so  sprach  er  doch  gelegentlich  einmal  direkt  als  Beispiel 
einer  Idealleistung  der  naturwissenschaftlichen  ^ledizin  aus  „die 
mathematische  Definition  eines  Geschwürs".  Auf  diese  Weise  wurde 
er  zu  einem  der  erfolgreichsten  Kämpfer  gegen  die 
„Lebenskraft",  wenngleich  er  diesen  Namen  in  seinen  Schriften 


406  '  Heinrich  Boruttau. 

kaum  je  nennt.  Durch  lange  Thätigkeit  als  Prosektor  geschulter 
Anatom,  ward  Ludwig  der  Meister  der  „Vivisektion",  die  er 
aufs  äusserste  verfeinerte  und  niemals  nutzlos  und  übertrieben  hand- 
habte.^) Nach  Leipzig  berufen,  Hess  er  die  erste  grössere  und 
für  alle  Arbeitsrichtungen  der  Physiologie  reich  aus- 
gerüstete „physiologische  Anstalt"  in  Europa  bauen,  welche 
1869  eröffnet,  wie  seinerzeit  das  erste  physiologische  Institut  über- 
haupt (Purkinje  in  Breslau)  epochemachend  und  das  Vor- 
bild aller  modernen  grösseren  physiologischen  Institute 
(so  des  schon  erwähnten  von  du  Bois-Reymond  eingerichteten 
Berliner  Instituts)  geworden  ist.  Zu  dieser  Zeit  hatte  Ludwig 
seine  bedeutendsten  von  ihm  selbst  veröffentlichten  Arbeiten  bereits 
gemacht,  auch  sein  berühmtes  „Lehrbuch  der  Physiologie  des 
Menschen"  —  2  Bde.,  Leipzig  1852/1856;  2.  Aufl.  1858/1861  — 
längst  publiziert  und  ist  von  da  an  unter  seinem  eigenen  Namen 
kaum  mehr  viel  erschienen:  doch  zeigte  er  hier  um  so  mächtiger 
seine  gewaltige  Fähigkeit  und  sein  eifriges  Bestreben, 
Schüler  auszubilden,  welche  seinen  Namen  in  alle  Welt  tragen 
sollten,  unter  seiner  Leitung  als  grosser  „Unternehmer"  [Henke] 
Untersuchungen  anstellten,  welche  eigentlich  auf  seine  Rechnung 
kamen,  die  er  oft  genug,  besonders  für  Ausländer,  selbst  ganz  aus- 
gearbeitet und  nur  unter  des  jeweiligen  Schülers  Namen  veröffent- 
licht hat:  diese  Arbeiten  sind  teils  in  Zeitschriften  und  Archiven 
veröffentlicht,  teils  auch  als  „Arbeiten  aus  der  Leipziger 
physiologischen  Anstalt"  gesammelt  selbständig  und  in  den 
Berichten  der  Leipziger  Akademie  erschienen.  Ueber  200  Mit- 
arbeiter und  Schüler  hat  Ludwig  auf  diese  Weise  beschäftigt, 
Angehörige  aller  Nationen,  welche  die  Herrschaft  der  deutschen 
Experimental Physiologie  in  alle  Länder,  ausgenommen  Frankreich, 
trugen  und  von  denen  viele  in  Deutschland,  mehr  noch  im 
Ausland,  physiologische  Lehrstühle  erhielten  und  In- 
stitute leiteten  bezw.  noch  leiten. 

Vor  allem  anderen  untrennbar  verknüpft  bleibt  L  u  d  w  i  g  s  Name 
mit  der  modernen  Physiologie  des  Kreislaufs  und  der  Aus- 
scheidungen. 1847  führte  er  die  in  der  Physik  und  Astro- 
nomie längst  heimische  graphische  Methode  in  die 
Physiologie  ein,  indem  er  auf  die  Quecksilberkuppe  im  offenen 
Schenkel  von  Poiseulles  Blutdruckmanometer  (s.  früher)  einen 
Schwimmer  aufsetzte,  dessen  aus  dem  Manometerrohr  herausragendes 
Ende  eine  Schreibfeder  trägt,  welche  auf  einem  mit  Papier  über- 
zogenen Registriercylinder  die  „Blutdruckkurve"  aufschreibt. -j  Dieser 
so  einfache  Apparat,  das  „Kymographion"  („Wellenzeichner") 
wurde  das  unentbehrlichste  Rüstzeug  nicht  nur  für  die 
Physiologie,  sondern  auch  die  experimentelle  Patho- 
logie und  Pharmakologie,  wie  zahlreiche  Untersuchungen  des 
grossen  Klinikers  Ludwig  Traube  [1818—1876]  —  Traube- 
Heringsche  Wellen  und  vieles  andere,  siehe  seine  „Gesammelten 
Beiträge",  Bd.  1,  Berlin  1871  —  sowie  des  Pharmakologen  Schmiede- 


^)  Siehe  seinen  gegen  die  damals  beginnende  „Bekämpfung  der  Vivisektion" 
gerichteten  Vortrag  „über  die  Thätigkeit  in  wissenschaftl.  Instituten".  Leipz.  1879, 
in  welchem  er  auch  die  rohen  Hirnversuche  der  Alten  mit  dem  Bestrehen  vergleicht, 
eine  Taschenuhr  durch  Pistolenschüsse  zu  zergliedern. 

«)  Müllers  Arch.,  1847,  S.  261. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      407 

"berg  [geb.  1838,  jetzt  Prof.  in  Strassburg]  zeigen,  von  hundert  anderen 
nicht  zu  reden.  Ludwigs  Arbeit  mit  J.  Stefan  ,,Ueber  den  Druck, 
den  das  fliessende  Wasser  senkrecht  zu  einer  Stromrichtung  ausübt"  ^) 
förderte  weiterhin  die  Hämodynamik,  die  durch  die  Messung 
der  Stromstärke,  resp.  Geschwindigkeit  vermittelst 
Notierung  der  zur  Füllung  eines  Umweges  von  genau 
bekannter  Kapazität  nötigen  Zeit  ergänzt  wurde:  „Hämo- 
dromometer"  von  A.  W.  Voikmann  [dessen  „Hämodynamik", 
S.  185 ff..  1850],  ,.Stromuhr''  von  Ludwig  und  Dogiel-j;  die 
Messung  der  ..K  r  e  i  s  1  a  u  f  s  z  e  i  t"  war  bereits  durch  EduardHering 
[Tierarzt  in  Stuttgart,  1799 — 1881]  1829-')  unternommen  worden,  so 
dass  Bestimmungen  des  ..Schlag Volumens''  und  der  Herzarbeit 
vorlagen,  welche  eben  Yolkmann  in  seiner  vortrefflichen 
..H  a  e  m  0  d  y  n  a  m  i  k"  niederlegte.  Eingehender  Bearbeitung  unterzog 
Ludwig  die  Funktionen  des  Herzens,  indem  er  den  Spitzen- 
stoss  von  der  Formänderung  herleitete,*)  mit  Dogiel  die 
Beteiligung  des  Muskeltons  am  ersten  Herzton  fest- 
stellte,^) mit  Coats  das  ausgeschnittene  Froschherz  in  einem 
künstlichen  Kreislauf  arbeiten  Hess,*)  —  eine  Methode, 
die  Funktionen  „überlebender"  Organe  zu  untersuchen, 
welche  in  seinen  und  seiner  Schüler  Händen  [v.  Frey.  s.  unten, 
Schmiedeberg  und  Bunge,  v.  Schröder]  für  die  Physiologie 
und  Pharmakologie  gleich  bedeutungsvoll  geworden  ist.  Voia  grund- 
legender Wichtigkeit  für  die  ganze  Kreislaufslehre  und  Physiologie 
überhaupt  waren  Ludwigs  und  seiner  Schüler  Arbeiten  ilber  die 
centrale  Gefässinnervation,  von  welcher  weiter  unten  im  An- 
schluss  an  Claude  Bernards  Entdeckung  der  Gefässnerven  die 
Eede  sein  soll. 

Was  die  Sekretionsphysiologie  betrifft,  so  gab  er  schon  in 
seiner  Marburger  Habilitationsschrift  1842  „Beiträge  zur  Lehre  vom 
Mechanismus  der  Harnabsonderung",  seine  berühmte  physikalische 
Theorie  der  Nieren funktion,  welche  Entstehung  eines  stark- 
verdünnten Harns  durch  Filtrations-  und  Diffusionsvorgänge  in  den 
Glomerulis  (unter  Mitwirkung  des  Blutdrucks)  annimmt,  der  dann  in 
den  Harnkanälchen  durch  Resorption  von  Wasser  seitens  der  Niere 
konzentrierter  werden  soll.  Die  physikalischen  Grundlagen  dieser 
Theorie  bearbeitete  er  näher  in  der  Arbeit  über  Endosmose. "Ö 
Wahrhaft  epochemachend  wurden  Ludwigs  1851  publizierte*) 
..Neue  Versuche  über  die  Beihülfe  der  Nerven  zur 
Speichelabsonderung",  in  welchen  er  zeigte,  dass  die  Reizung 
besonderer  zur  Drüse  führender  Nervenfasern  (bei  dem  Versuchsobjekt, 
der  Submaxillardrüse ,  Chordafasem)  unabhängig  vom  Blutdruck 
Speichelsekretion  hervorruft,  so  dass  der  Druck  des  durch  eine  in 
den  Ausführungsgang  eingebundene  Kanüle  in  eine  Steigi-öhre  ge- 
leiteten Speichels  den  Aortendruck  übersteigen  kann:  Entdeckung 
der  „Sekretionsnerven". 

*)  Sitzungsber.  der  "Wiener  Akad.,  1858. 

2)  Ber.  der  Leipz.  Ak.,  1867,  S.  199. 

»)  Treviranus'  Ztschr.  f.  Phjsiol.,  Bd.  3,  S.  85:  1829;  Bd.  5,  S.  58,  1833. 

*)  Zeitschr.  f.  ration.  Medizin,  Bd.  7,  S.  191;  1848. 

»)  Ber.  der  Leipz.  Akademie,  1868,  S.  69. 

«)  Ebenda,  1869,  S.  362. 

")  Ztschr.  f.  rat.  Med.,  Bd.  8;  1849. 

*)  Ztschr.  f.  ration.  Med.,  N.  F.,  Bd.  1,  S.  259. 


408  .  Heinrich  Boruttau. 

Viele  Untersuchungen  Ludwigs  und  seiner  Schüler  kamen  auch 
der  allgemeinen  Muskel-  und  Nervenphysiologie  zu  gute, 
insbesondere  in  Bezug  auf  den  Stoffumsatz  der  Muskeln  und 
anderer  Organe,  speziell  den  Gaswechsel,  dessen  Untersuchung 
Ludwig  durch  eine  eigene  Konstruktion  der  Blutgaspumpe  ^) 
förderte:  er  konstatierte  mit  Czelkow  und  mit  Alexander 
Schmidt^)  die  Steigerung  des  Gaswechsels  bei  der  Thätigkeit  sowie 
noch  ein  spezielles  weiter  unten  zu  würdigendes  Verhalten  des  „re- 
spiratorischen Quotienten",  —  ebenso  wie  später  unter  seiner  Leitung 
Meade-Smith  die  Wärmeproduktion  des  thätigen  Warm- 
blütermuskels unter  Vermeidung  der  früheren  Fehlerquellen  ein- 
wandfrei nachwies '^).  Die  Verdauungs-,  Resorptionslehre  und 
die  Kenntnis  der  Lymphbewegung  erfuhr  durch  Ludwig  und 
seine  Schüler  Schweigger-Seidl,  Dybkowsky  und  viele  andere 
Ende  der  60er  Jahre  wertvolle  Bereicherung;  ebenso  förderte  er 
chemische  Arbeiten,  wie  sie  über  den  Inosit,  die  Harnsäure  u.  s.  w. 
schon  in  Wien  unter  seiner  Leitung  der  spätere  bedeutende  Pathologe 
und Pharmakologe  Gl o ett  a  (1828 — 1890,  Professor  in  Zürich)  ausführte. 

Eifrig  gepflegte  Freundschaftsbeziehungen  verbanden 
besonders  in  späteren  Lebensjahren  Ludwig,  du  Bois-Reymond, 
Helmholtz  und  endlich  den  hier  noch  zu  würdigenden- Brücke, 
welcher,  wenn  auch  nicht  nach  Zahl,  so  doch  an  Vielseitigkeit 
seiner  Arbeiten,  Ludwig  ähnelt. 

Ernst  Wilhelm  (Ritter  von)  Brücke  ist  geb.  in  Berlin  am  6.  Juni  1819 
als  Sohn  eines  Malers,  studierte  in  Berlin  und  Heidelberg,  promovierte  1842, 
habilitierte  sich  1844  für  Physiologie,  als  Assistent  Johannes  Müllers,  -svurde 
1848  Prof.  ext.  der  Physiologie  in  Königsberg,  1849  ord.  Professor  der 
Physiologie  und  „höheren  Anatomie"  an  der  AViener  Universität,  in  welcher 
Stellung  er  bis  zu  seiner  Altersemeritierung  1890  wirkte ;  er  starb  am 
7.  Januar  1892. 

Grössere  Werke:  „Grundzüge  der  Physiologie  und  Systematik  der  Sprach- 
laute", Wien  1856,  2.  Auf..  1876;  „Neue  Methoden  der  phonetischen  Transskription"., 
Wien  1863 ;  „Physiologie  der  Farben  für  die  Zwecke  der  Kunstgewerbe  bearbeitet", 
Leipzig  1866;  „Vorlesungen  über  Physiologie",  2  Bde.,  Wien  1873174;  3.  Aufl.  1881; 
„Schönheit  und  Fehler  der  menschlichen  Gestalt",  Berl.  1891. 

Brück  es  Verdienste  betreffen  vor  allem  die  Sinnesphysio- 
logie: In  seiner  „anatomischen  Beschreibung  des  menschlichen  Aug- 
apfels" haben  wir  eine  gen aue  Würdigung  des  Ciliar muskels  als 
Accommodationsmuskel  und  vieles  andere;  vom  „Augen - 
leuchten",  als  Grundlage  der  Erfindung  des  Augenspiegels  war 
schon  die  Rede;  viele  Untersuchungen  Brück  es  betreffen  die 
Farbenlehre,  andere  die  Dioptrik  des  Auges;  die  Stimm- 
physiologie und  Phonetik  hat  Brücke  gewissermassen  als 
Rivale  L.  Merkels  (1812 — 1876,  „Anthropophonik")  bereichert  und 
so  Helmholtz'  akustische  Arbeiten  ergänzt.  Mikroskopische  Ar- 
beiten Brück  es  betreffen  die  Blutkörperchen,*)  die  Struktur  der 


I 
^)  Ber.  der  Leipz.  Akad.,  1867,  S.  30.  - 

^)  Sltzgsber.  der  Wien.  Ak.,  Bd.  45,  S.  171  xmd  Arbb.  aus  der  Leipz.  physioL 
Anst.,  Bd.  3,  S.  1,  1868. 

')  du  Bois-Eeymonds  Archiv,  1881,  S.  105. 
Sitzgsber.  der  Wiener  Akad.,  Bd.  56,  S.  79. 


Geschichte  der  Physiologie  iu  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       409 

Muskelfaser^)  (1857),  dieGallencapillaren;  auch  die  elektrische 
Eeizung  der  Muskeln  und  Nerven  wurde  von  ihm  bearbeitet. 

Epochemachend  sind  Brückes  Leistungen  für  die  Physiologie 
der  Verdauung,  Resorption  und  Assimilation;  es  sei  nur 
erinnert  an  den  bekannten  „Dreigläserversuch"  über  die  peptische 
Verdauung,  an  seine  Arbeiten  über  die  Fettverdauung  und  -Re- 
sorption-) (Bedeutung  der  Fett  Spaltung  und  -Emul- 
gierung,  der  Beweglichkeit  der  Darmzotten  und  der 
Peristaltik)  und  die  Assimilation :  speziell  wegen  des  Glykogens 
siehe  weiter  unten.  Auch  zur  Blutger  in  nun  gs  lehre  und  andern 
physiologisch-chemischen  Fragen  hat  Brücke  reichlich  beigetragen 
(normaler  Harnzuckergehalt  u.  a.).  Diese  Vielseitigkeit  war  nun 
endlich  gepaart  mit  einer  grossen  Formvollendung  in  der  Dar- 
stellung und  einem  hohen  ästhetischen  Geiste,  welcher  ihn, 
den  Sohn  des  Malers,  insbesondere  seine  sinnesphysiologischen  Ar- 
beiten für  die  Förderung  der  Künste  nutzbar  machen  hiess  und 
wertvolle  Beiträge  zur  ästhetischen  Volksbildung  lieferte,  wie  die 
oben  gegebene  üeb ersieht  seiner  grösseren  Werke  erkennen  lässt. 

Wesentlich  der  „klassischen  Periode"  angehörig  sind  die 
Leistungen  noch  einiger  anderer  L^ntersucher :  Hierher  gehören  vor 
allem  die  um  Ludwigs  Laboratorium  sich  gruppierenden  Arbeiten 
über  die  Herznerven,  an  welchen  auch  der  früh  verstorbene 
Bezold  [Albert  von  Bezold,  geb.  1836  in  Ansbach,  studierte 
in  Würzburg  und  Berlin,  woselbst  er  in  du  Bois-Reymonds 
Laboratorium  durch  seine  Arbeiten  derartige  Aufmerksamkeit  erregte, 
dass  er  noch  vor  der  Promotion  1859  Extraordinarius  in  Jena,  1865 
Ordinarius  in  Würzburg  wurde,  woselbst  er  leider  bereits  1868  starb] 
teilnahm :  „Untersuchungen  über  die  Innervation  des  Herzens" ;  doch 
wurde  die  sympathische  Xatur  und  der  anatomische  Verlauf  des 
„Accelerans  cordis"  erst  durch  Ludwigs  Schüler  Cyon  (siehe 
später)  ^)  u  n  d  S  c  h  m  i  e  d  e  b  e  r  g  (s.  oben)  ^)  sicher  festgestellt.  Andere 
wichtige  Sympathicusfunktionen,  insbesondere  sekre- 
torischer Natur  —  Speichel-,  Milch-  und  Harnsekretion  —  sowie 
die  Geschlechtsfunktionen  betreffend  (Nervus  erigens), 
fand  Eckard,  der  erste  Assistent  des  grossen  Ludwig  in  Mar- 
burg, und  sammelte  diese  und  andere  Arbeiten  in  nicht  weniger  als 
12  Bänden  „Beiträge  zur  Anatomie  und  Physiologie". 

Konrad  Eckhard,  geb.  1.  März  1822  in  Hessen,  studierte  in  Mar- 
burg und  Berlin,  war  Assistent  und  Prosektor  in  Marburg  und  Giessen, 
woselbst  er  (unter  Bischoff)  sich  1850  habilitierte ;  wurde  dann  dort  Extra- 
ordinarius und  später  Ordinarius  für  Anatomie  und  Physiologie,  wovon  er 
die  Anatomie  1891  an  Bonnett  abgab,  die  Physiologie  aber  noch  jetzt 
vertritt. 

Bedeutendere  Werke  ausser  obigen  „Beiträgen'^ :  Viele  Abhandlungen  in  Müllers 
Archiv,  so  über  die  Vagustoirkung,  thermische  und  chemische  Reizung  der  motorischen 
Nerven,  Beflexbeicegungen  beim  Frosch;  „Experimentalphysiologie  des  Nerven- 
systems^, Giessen  1867 ;  Bearbeitung  des  Centralnervensystems  in  Hermanns  Hand- 
buch (8.  später),  2.  Band,  2.  Hälfte,  Berl.  1880.     Vieles  kleinere. 


^)  Denkschr.  der  Wiener  Akad.,  Bd.  15,  1857. 

*)  Berichte  der  Wiener  Akad.,  Bd.  61,  63  n.  s.  w.  an  vielen  Orten. 

")  Reichert  u.  du  Bois'  Archiv,  1867,  S.  389. 

*)  Ber.  der  Leipz.  Akademie,  1870,  S.  135,  1871,  S.  148. 


410  -  Heinrich  Boruttau. 

Bereits  vielfacli  erwähnt  und  gewürdigt  haben  wir,  z.  B.  bei 
Besprechung  der  Gas  wechsellehre  die  Verdienste  Vierordts. 

Karl  (von)  Vierordt  ist  am  1.  Juli  1818  zu  Lahr  geboren,  studierte 
in  Heidelberg,  Göttingen  und  Berlin  (auch  ein  Schüler  Job.  Müllers),  be- 
stand 1840  das  Staatsexamen  und  promovierte  1841  in  Heidelberg,  prakti- 
zierte dort  bis  1849,  wo  ihm  seine  physiol.  und  patholog.  Arbeiten  einen 
Ruf  als  Extraordinarius  der  experimentellen  Medizin  (allg.  Pathol.  u.  Therapie, 
Materia  medica)  und  Geschichte  der  Medizin  nach  Tübingen  eintrugen. 
Nach  Arnolds  Abgang  1853  erhielt  er  die  Physiologie  und  wurde  1855 
ord.  Professor  und  Direktor  des  von  ihm  neugegründeten  physiologischen 
Instituts.     Er  starb  am  22.  November  1883. 

Grössere  physiolog.  Werke,  soweit  nicht  bereits  erwählt:  „Grundriss  der 
Physiologie",  zuerst  1860,  5.  Aujfl..  Tübingen  1877 ;  ^^Physiologie  des  Kindesalters"^ 
in  Gerhardts  grossem  Handbuch  der  Kinderkrankh.,  1877.  Posthum:  „Die  Schall- 
und  Tonstärke  und  das  Sclmlllcitungsvermögen  der  Körper",  Tübingen  1885. 

Ausser  seinen  schon  gewürdigten  Arbeiten  über  die  Chemie 
der  Atmung  hat  Vierordt  vortreffliche  Arbeiten  über  Blut- 
körperchenzählung und  -Volummessung  in  dem  von  1850  bis 
1856  von  ihm  fortgeiührte  Grie  sing  er  sehen  „Archiv  für  physio- 
logische Heilkunde"  veröffentlicht  und  die  von  Vo  1  k  m  a  n  n  undLud  w  i  g 
begründete  deutsche  Hämodynamik  durch  den  ersten,  wenn  auch 
noch  unvollkommenen  Pulszeichner,  „Sphygmographen" 
[demonstriert  auf  der  Tübinger  Naturforscherversammlung  1853  und 
näher  behandelt  in.  seiner  ,. Lehre  vom  Arterienpuls"  u.  s.  w.,  Braun- 
schweig 1855],  sowie  durch  seine  „Erscheinungen  undGesetze 
der  Stromgeschwindigkeiten  des  Blutes  nach  Ver- 
suchen", Frankfurt  1858  [Einführung  des  Strompendels  zur  Ge- 
schwindigkeitsmessung, „Hämotachometer"]  bereichert.  Von  seiner 
„Spektrophotometrie"  war  schon  die  Rede. 

Als  seine  Zeitgenossen  seien  hier  gleich  erwähnt  Otto  Funke 
[geb.  in  Chemnitz  1828,  1851  in  Leipzig  mit  einer  Dissertation  „de 
sanguine  lienis"  promoviert,  1853  Extraordinarius  in  Leipzig,  1860  als 
Ordinarius  der  Physiologie  nach  Freiburg  berufen,  starb  daselbst 
1879  am  Krebs],  welcher  u.  a.  eine  vortreffliche  Untersuchung  über 
die  Muskelermüdung  lieferte,^)  einen  klassischen  „Atlas 
der  physiologischen  Chemie",  Leipz.  1853,  2.  Aufl.  1858, 
herausgab  und  Rudolf  Wagners  Lehrbuch  der  Physiologie  neu 
bearbeitete  (Leipz.  1858,  4.  Aufl.  1863).  —  sowie  Wilhelm  von 
Witt  ich  [geb.  1821  in  Königsberg,  promovierte  1845  in  Halle, 
1850  unter  Helmholtz  in  Königsberg  habilitiert,  1854  Extraordinarius 
und  nach  Helmholtz  Abberufung  Ordinarius  der  Physiologie  daselbst, 
starb  1882],  welcher  die  Physiologie  der  Verdauung,  Resorption 
und  Assimilation  mit  zahlreichen  Arbeiten  über  Enzyme,  speziell 
Pepsin,-)  über  Glykogen,  über  Lymph herzen  und  Haut- 
resorption u.  s.  w,  bereichert,  auch  den  entsprechenden  Abschnitt 
in  Hermanns  Handbuch  bearbeitet  hat,  aber  auch  zur  Nierensekretions- 
innervation  ^)  und  zur  Muskelphysik  bemerkenswerte  Beiträge  ge- 
liefert hat. 


1)  Pflügers  Archiv,  Bd.  8,  S.  213,  1874. 

2)  Pflügers  Arch.  Bd.  2,  S.  193,  1869:  Bd.  3,  S.  339,  1870. 
=')  Königsb.  med.  Jahrbücher,  Bd.  3,  S.  52,  1860. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       411 

SchonzurmodernstenPeriodeuuser  er  Wissenschaft 
—  deren  Begründer,  wenngleich  ein  grosser  Teil  ihres 
Wirkens  noch  in  die  jetzt  inEede  stehende  ..klassische 
Zeit"  hineinfällt,  erst  später  gewürdigt  werden 
sollen  — ,  leitet  über  das  Wirken  des  genialen,  beson- 
ders um  die  physikalische  Phj^siologie  hochverdienten 
Fick. 

Adolf  Fick,  geboren  am  5.  September  1829  zu  Kassel,  studierte  in 
Marburg  und  Berlin,  promovierte  1851  in  Marburg  mit  der  Dissertation 
-Tractatus  de  errore  optico",  ging  1852  mit  Ludwig  als  Prosektor  nach 
Zürich,  wurde  1861  dort  Ordinarius  für  Physiologie,  1868  das  gleiche  in 
Würzburg,  trat  1899  zurück  und  starb  am  21.  August  1901. 

Grössere  Werke:  „Die  Medizinische  Physik^,  Braunsclmeig  1856,  3.  Aufl.  1885; 
^Compendium  der  Physiologie  mit  Einschliiss  der  Entwicklungsgeschichte',  Wien 
1860,  3.  Auflage  1882:  „Beiträge  zur  Physiologie  der  irrifabehi  Substanzen^,  Braun- 
schw.  1863;  „Lehrbuch  der  Anatomie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane",  Lahr  1864; 
^Arbeiten  aus  dem  physiol.  Listitut  der  Züricher  Hoclischule-" .  1.  Heft,  ^Sl.en  1869, 
und  desgl.  aus  der  Würzburger  Rochschule,  4  Hefte,  Würzb.  1872—78;  „Mechanische 
Arbeit  und  Wärmeentwicklung  bei  der  Muskelthätigkeit"^ ,  in  der  „hiternat.  iciss. 
Bibliotliek",  Leipz.  1882. 

Fick  begann  von  vornherein  seine  Forscherlaufbahn  mit  phy- 
sikalisch-physiologischen Untersuchungen,  speziell  zur  Bewegungs- 
lehre, indem  er  die  statischen  Momente  der  Ober schenkel- 
muskeln  untersuchte,')  das  Sattelgelenk  einer  Betrachtung 
unterzogt)  u,  a.,  eine  Eichtung,  der  er  auch  später  treu  blieb;  er 
bearbeitete  die  Lokomotionslehre  in  Hermanns  Handbuch  (1879). 
Doch  ebensosehi-  wie  die  spezielle  hat  er  die  allgemeineMuskel- 
und  auch  Nervenphysiologie  gefördert:  Es  sei"  nui-  au  das 
Ficksche  MyographioD,  an  die  schon  erwähnte  berühmte  F a u  1 - 
hornbesteigungmitWislicenuszur  Erforschung  der  .. Quelle  der 
Muskelkraft"  erinnert;  ganz  besonders  aber  fesselte  ihn  die  Wärme- 
bildung im  Muskel,  welche  er  zuerst  1863  in  einer  Arbeit  mit 
Billroth  über  die  Temperaturen  bei  Tetanus  förderte;  weiterhin 
stellte  er  ebenso  wie  vor  ihm  Helmholtz  und  Heidenhain 
( s.  später)  zahlreiche  ..  myoth  er  mische  Untersuchungen"  an, 
welche  er  1889  auch  gesammelt  herausgegeben  hat,  zu  deren  wichtigsten 
Ergebnissen  die  Bestätigung  des  mechanischen  Wärme- 
äquivalents am  Muskel  gehört,  indem  er  vermittelst  des  von 
ihm  erfundenen  ,.  A  r  b  e  i  t  s  a  m  m  1  e  r  s  "  den  Muskel  das  eine  Mal 
nutzbare  Arbeit  leisten  Hess,  das  andere  Mal  nur  Wärme  produzieren, 
und  das  Mehr  an  Wärmeproduktion  im  letzteren  Falle  sehr  an- 
nähernd dem  Wärmeäquivalent  der  im  ersten  Falle  geleisteten  Arbeit 
gleichkam.  Durch  den  Verkehr  mit  Clausius  und  die  eifrige  Be- 
schäftigung mit  der  Wärmemechanik  kam  er  zu  der  Ueberzeugung, 
dass  der  Muskel  mit  seinem  grossen  ..Nutzeffekt"  (nach 
Helmholtz  ^|^ — Vs,  nach  Fick  und  seinen  Schülern  Blix  und 
Danilewsky  bis  zu  ^'c,)  keine  thermodynamische  Maschine 
sei,  wie  2.  B.  unsere  Dampfmaschinen,  sondern  vielmehr  in  ihm  die 
chemische  Energie  direkt  in  mechanische  Arbeit  umgewandelt  werde. 
Zahlreiche  Arbeiten  über   „elektrische  Nervenreizung",  über 


»)  Ztschr.  f.  ration.  Medizin,  Bd.  9,  1849. 
*)  Ebenda,  N.  F.,  Bd.  4,  1854. 


412  •  ffeinrich  Boruttan. 

„übermaxiraale  Zuckungen"  und  „Lücke"  (Tiegel  in  Strassburg), 
über  Reflexbewegungen  und  direkte  Rückenmarks- 
reizung zeigen  ihn  als  Meister  des  Experiments  wie  der  Kritik; 
die  Hämodynamik  bereicherte  er  durch  die  Einführung  der  elas- 
tischen Manometer  (1864  resp.  1877),  die  Ableitung  der 
Geschwindigkeitskurve  des  Arterienpulses,  eine  eigen- 
artige Berechnung  des  Schlagvolumens  des  Herzens  u.  a.  m. 
Der  Sinnesphysiologie  galt  schon  seine  Inauguraldissertation,  welcher 
viele  weitere  Beiträge  zur  physiologischen  Optik  und  die 
Bearbeitung  der  Dioptrik  des  Auges  im  Hermanns  Handbuch  (1879) 
folgten.  Auch  einige  phj'siologisch-chemische  Beiträge  liefert  Fick 
und  richtete  in  seinem  neuen  Würzburger  Institute  (1888)  reichliche 
chemische  Arbeitsgelegenheit  ein;  doch  blieb  sein  Hauptgebiet  stets 
das  physikalische,  das  er  auch  schon  früh  durch  rein  physikalische 
[Diffusionsgesetz,  1855 — 56]  und  philosophische  [„Ursache  und 
Wirkung",  1882  u.  a.]  Leistungen  bereicherte,  und  es  krystallisierte 
gewissermassen  sein  Lebenswerk  in  der  schon  im  Jahre  1856  zum 
erstenmal  erschienenen,  stets  einzig  in  ihrer  Art  gebliebenen 
„Medizinischen  Physik". 

Aehnlich  wie  Fick  um  die  physiologische  Optik  und  auch  über- 
haupt um  die  Experimentalphysiologie,  mit  vorwiegend  physikalischer 
Arbeitsrichtung,  hochverdient  ist  ein  ausländischer  Zeitgenosse  der 
klassischen  Periode  unserer  deutschen  Physiologie,  nämlich  der  Hol- 
länger Donders. 

Frans  Cornelis  Donders,  geb.  am  27.  Mai  1818  in  Tilburg,  studierte 
in  Utrecht  als  Zögling  der  militärärztlichen  Reichsschule,  an  welcher  er 
auch  nach  seiner  zu  Leiden  1842  erfolgten  Promotion  Lektor  der  Anatomie 
und  Physiologie  war,  dann  1848  Extraordinarius  an  der  Utrechter  Universität, 
1852  Ordinarius  für  Ophthalmologie,  1862  für  Physiologie,  als  welcher  er 
1866  ein  neues  physiologisches  Laboratorium  einrichtete;  er  trat  1888  zu- 
rück und  starb  am  24.  März  1889. 

Schon  1844  hielt  Donders  einen  Vortrag  über  Stoffwechsel 
und  W^ärmebildung  im  Tierkörper,  in  welchem  er  das  Prinzip 
der  Erhaltung  der  Kraft,  sowie  die  Rolle  der  Haut  für  die  Wärme- 
regulierung vorausgeahnt  resp.  angedeutet  hat;  von  1846  ab  gab  er 
mit  van  Deen  (s.  früher)  und  Moleschott  (s.  unten)  die  „hol- 
ländischen Beiträge  zur  Physiologie  und  Anatomie" 
heraus,  in  denen,  sowie  in  v.  Gräfes  Archiv  f.  Ophthalmologie  zahl- 
reiche wichtige  Beiträge  zur  physiologischen  Optik  er- 
schienen sind:  es  sei  nur  erinnert  an  seine  Mitarbeit  an  der  Ent- 
wickelung  der  Accomodationslehre  und  Refraktionsbe- 
stimmungsmethodik,  an  der  Pathogenie  des  Schielens,  an  das 
„Donderssche  Gesetz"  der  Abhängigkeit  des  Raddrehungs- 
winkels.^)  Auch  die  Physiologie  der  Stimme  und  Sprache  hat  er 
mit  Arbeiten  über  die  Vokalklänge  ■)  u.  s.  w.  bereichert.  Klassisch  J 
sind  ferner  seine  Arbeiten  über  die  „Reaktionszeit",^)  an  welche 
z.  B.  viele  Messungen  der  Leitungsgeschwindigkeit  im 
sensibeln  Nerven  des  Menschen  anknüpften.    Schliesslich 


»)  HoU.  Beitr..  Bd.  1,  1848. 
«)  Ebenda,  1862. 

*)  Dissertation  von  deJaager,  Utrecht  1865;  Die  Schnelligkeit  psychischer 
Prozesse,  Reichert  u.  du  Bois'  Archiv,  1868. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       413 

sei   auch   der  Donderssche   Versuch  zur   Bestimmung  des 
,,neg:ativen  Drucks''   in   der  Pleuraspaltes)  nicht  vergessen. 
Was  Donders  für  Holland,  ist  für  Dänemark  Panum  ge- 
wesen, 

Peter  Ludwig  Panum  ist  geboren  am  19.  Dezember  1820  auf  Born- 
holm, studierte  in  Kopenhagen,  war  Militär-  und  Choleraarzt,  promovierte 
1851  in  Kiel  mit  einer  berühmten  Dissertation  über  Fibrin  und  Blut- 
gerinnung, machte  eine  Studienreise  und  war  zeitweise  in  Paris  Assistent 
von  Claude  Bernard;  wurde  1853  Extraordinarius,  1858  Ordinarius  in  Kiel 
(damals  dänisch!),  1863  desgleichen  in  Kopenhagen;  an  beiden  Orten 
richtete  er  physiologische  Laboratorien  ein.  Er  erwarb  sich  viele  Verdienste 
um  die  medizinische  Bildung  in  Dänemark,  begründete  mit  Axel  Key  in 
Stockholm    das  Nordisk   medic.  Arkiv  u.  s.  w.     Er  starb  am  2.  Mai  1885. 

Wichtige  Untersuchungen  Panum s  betreffen  die  „Physiologie 
und  Pathologie  der  Embolie,  Transfusion  und  Blut- 
menge", in  Virchows  Archiv.  Bd.  27  bis  29,  1857;  ferner  die  Er- 
nährung (Salzhunger  u.  a.),  die  Atmung  u.  s.w.  Auch  arbeitete 
er  ein  dänisches  Handbuch  der  Physiologie  des  Menschen  aus  (Kopen- 
hagen 1865—72). 

Zeitlich  zusammenfallend  mit  dem  Wirken  unserer  grossen  deutschen 
Physiologen  aus  Joh.  Müllers  Schule  hat  auch  Frankreich 
eine  „klassische  Periode"  der  Physiologie  erlebt, 
welche,  man  kann  geradezu  sagen  an  den  Namen  eines 
einzelnen  grossen,  vielseitigen  Forschers  anknüpft, 
nämlich  Claude  Bernard. 

Claude  Bernard  ist  am  12.  Juli  1813  in  St.-Julien  bei  Vülefranche  bei 
Lyon  geboren,  war  erst  Apotheker,  studierte  später  Medizin,"  promovierte 
1843;  seit  1841  Assistent  von  Magendie ,  wurde  er  nach  dessen  Tod 
sein  Nachfolger  am  College  de  France,  Professor  an  der  Sorbonne  und  Mit- 
glied der  Academia  des  sciences,  1868  desgl.  der  Academie  fran^aise  und 
Professor  am  Museum.  Er  erkrankte  infolge  der  feuchten  Kellerluft  seines 
mangelhaften  Laboratoriums  und  starb  am  10.  Februar  1878  an  chronischer 
Nephritis. 

Werke  in  Buchform:  1.  Cours  du  College  de  France:  „Legons  de  physiologie 
experirnentale  appliquee  ä  la  medecine",  2  Bde.,  1854 — 55;  —  „Legons  sur  les  effets 
des  suhstances  toxiques  et  medicamenteuses^,  1857;  —  „Legons  stir  la  physiologie  et 
la  Pathologie  du  Systeme  nerveux^^,  2  Bde.,  1858 ;  —  „Legons  sur  les  proprietes  physio- 
logiques  et  les  alterations  pathologiques  des  Liquides  de  V organisme^' ,  2  Bde.  1859; 
—  „Lego)is  de  pathologie  experimentale" ,  1871;  —  „Legons  sicr  les  anesthesiques  et 
Vasphyxie,  1874;  —  „Legons  sur  la  chaleur  animale",  1876;  —  „Legons  stir  le  dia- 
bete et  la  glycogenese  animale",  1877. 

2.  Cours  de  la  faculte  des  sciences:  „Legons  sur  les  proprietes  des  tissus 
vivants",  1866. 

3.  Cours  du  Museum :  „Legons  de  physiologie  operatoire'\  1874:  —  „Legons  sur 
les  phenomenes  de  la  vie  communs  aux  animaux  et  aux  vegetaux",  1878—79,  2  Bde. 

4.  „Introdiiction  ä  la  medecine  experirnentale'^  1865 ;  „Rapport  sur  la,  physio- 
logie generale^'  für  die  Pariser  Weltausstellung  1867 ;  —  „La  science  experimentale"\ 

Vortragssammlung  1878. 

Ausserdem  äusserst  zahlreiche  Einzelarheiten  in  den  Comptes  rendus  de 
Vacademie  de  sciences,  den  Comptes  rendus  de  la  Societe  de  biologie,  den  Archives 
gSnerales  de  medecine  u.  v.  a. 


*)  Ztschr.  f.  ration.  Med.,  N.  F.,  Bd.  3,  S.  287. 


414  Heinrich  Boruttau. 

Claude  Bernard  ist  für  Frankreich  der  Begründer 
der  modernen  Physiologie  nicht  allein,  sondern  auch 
experimentellen  Pathologie,  Pharmakologie  und  Toxi- 
kologie. Er  hat  geholfen,  gegenüber  allen  naturphilosophischen 
Spekulationen  der  experimentellen  Richtung  in  den  organischen  Natur- 
wissenschaften, wie  auch  in  der  praktischen  Medizin  zu  dauerndem 
Siege  zu  verhelfen,  ohne,  wie  Magen  die  die  „Voraussetzungslosigkeit" 
durch  Nichtachtung  historischer  Forschung  und  Verzicht  auf  jede 
Hypothese  auf  die  Spitze  zu  treiben  und  durch  solche  extreme  Eichtung 
Irrtümer  zu  befestigen;  er  hat  durch  richtige  Begrenzung 
des  Verhältnisses  der  Hypothese  zu  den  experimentell 
begründeten  Thats  achen  die  Induktion  („Determinismus") 
als  Grundlage  der  biologischen  Forschung  betont,  wie 
kaum  irgend  ein  anderer.  Mit  nicht  frühreifer  Genialität  ausgestattet 
und  durch  Magen  dies  Lehre  in  einer  Experiraentierkunst  gefördert, 
welche  es  verstand  mit  den  damaligen  unzulänglichen  Mitteln,  und 
in  noch  elenderen,  unzulänglichen  Räumen  Grosses  zu  schaffen,  hat 
er  nicht  nur  selbst  die  Physiologie  um  zwei  grosse  Ge- 
biete bereichert,  sondern  auch  ein  klassisches  Lehrbuch 
der  Methodik  [Le^ons  de  Physiologie  operatoire]  geschaffen,  das 
erste  und  noch  bis  jetzt  einzige  in  seiner  Art. 

Nachdem  Claude  Bernard  schon  Ende  der  vierziger  Jahre 
in  zahlreichen  kleineren  Arbeiten  die  Chemie  derGalle  und  des 
Harns  bereichert,  sowie  wertvolle  Beobachtungen  über  Diabetes, 
Zuckerassimilation,  Pankreasatrophie  gemacht  hatte,  ver- 
öffentlichte er  im  Beginn  des  Jahres  1850  eine  Arbeit^)  über  die 
eiweissverdauende  Rolle  des  Pankreassaftes  [welche,  wie 
wir  sehen,  von  Tiedemann  und  Gmelin,  Eberle  u.  a.  nicht  er- 
kannt worden  war],  die  ihm  den  für  die  Jahre  1847/48  nicht  erteilt 
gewesenen  Akademiepreis  nachträglich  eintrug.  Ende  desselben  Jahres 
folgte  dann  die  berühmte  Arbeit  „Sur  une  nouvelle  fonction 
du  foie  etc.",-)  in  welcher  aus  der  Entdeckung  der 
Zuckerbildung  in  der  herausgeschnittenen  überleben- 
den Leber  auf  eine  beständige  „glykogene  Funktion" 
der  Leber  geschlossen  wurde,  eine  Theorie,  welche  1855^)  in 
dem  Befunde  eines  Zuckergehaltes  in  den  Lebervenen,  der  grösser 
ist  als  derjenige  in  der  Pfortader,  ihre  Hauptstütze  fand;  ferner  ent- 
deckte Bernard  hiermit  im  Zusammenhang  als  zuckerbildende  Sub- 
stanz der  Leber  die  tierische  Stärke  oder  das  „Glykogen"^), 
welches  er  1859  auch  in  den  Muskeln  und  embryonalen 
Geweben  wiederfand  und  dessen  Verbrauch  bei  der  Muskel- 
thätigkeit  er  beim  Pferd  zuerst  konstatiert  hat;  nachdem 
auch  in  Deutschland  das  Glykogen  von  Hensen  beschrieben  und 
Brücke  seine  Bestimmungsmethode  des  Glykogens  vermittelst 
Eiweisställung  durch  Jodquecksilberjodkalium  und  Salzsäure  publiziert 
hatte,  wurde  die  zuletzt  erwähnte  Thatsache  auch  durch  diesen  Forscher 
im  Verein  mit  Weiss  ^)  bestätigt,  und  auch  die  Anwendung  der  späteren 
angeblich  exakteren  Methoden  z.B.  von  Külz  hat  immer  wieder 


^)  Comptes  Eend.,  Bd.  30,  S.  210,  228. 

2)  Ebenda,  Bd.  31,  S.  571  und  34,  S.  416;  Arch.  gen.  de  med.,  Bd.  24,  S.  363. 

")  Comptes  rendus,  Bd.  40;  Jonrn.  de  pharm.,  Bd.  28. 

Gazette  medicale,  28.  März  1857. 

Sitzgsber.  der  Wiener  Akademie,  Bd.  64,  1871. 


i] 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      415 

den  Glykog-enverbrauch  bei  der  Muskelanstreno:ung  be- 
stätigt und  damit  das  Wesen  der  s.  Z.  von  Helmholtz  ge- 
fundenen Abnahme  des  Wasserextraktes  des  Muskels 
näher  definiert.  Cl.  Bernard  wendete  die  von  ihm  geschaffene 
Vorstellung  der  ..animalen  Glykogenie"  ferner  an  auf  die  D  e  u  t  u  n  g  des 
Zustandekommens  des  Diabetes  durch  einen  erhöhten  Blut- 
zuckergehalt infolge  verstärkter  Leberthätigkeit,  die  hinwiederum  auf 
nervösen  Störungen  beruhen  kann,  wie  ihm  die  Entdeckung  der 
..Piqüre  diabetique",  des  sogenannten  Zuckerstichs  —  Glykosurie 
beim  Tier  auf  Einstich  in  den  Calaraus  scriptorius  —  es  zu  beweisen  schien. 
Thatsächliche  Einzelheiten  und  auch  die  ganze  Theorie  der  Leb er- 
glykogenie  sind  seitdem  oft  bestritten  worden,')  und  es  stellt 
die  letztere  jetzt  eine  in  Deutschland  weit  weniger  als  in 
Frankreich  verbreitete  Lehre  dar;  indessen  bleibt  Claude 
Bernard  das  Verdienst,  die  Bedeutung  der  Leber  als 
Assimilationsorgan  speziell  der  Kohlenhydrate  zuerst 
erkannt  und  mit  der  Assimilationsprodukte  ins  Blut  setzenden 
Funktion  der  Leber ,  die  so  wichtige  moderne  Lehre  von  der 
.,inner*en  Sekretion  der  Drüsen"  und  der  metakeras- 
tischen  Bedeutung  der  Organe  überhaupt  begründet 
zu  haben,  —  und  das  zu  einer  Zeit,  wo  man  ganz  allgemein  noch 
die  Oxydationsprozesse  und  meisten  Stoffwechsel  Vorgänge  in  das  Blut 
selbst  zu  verlegen  geneigt  war! 

Das  zweite,  vielleicht  noch  grössere  Verdienst 
Claude  Bernards  bildet  die  Entdeckung  der  Gefässnerven, 
die  mit  der  Konstat  ierung  der  Blutfülle  und  Temperatur- 
erhöhung der  betr.  Kopfhälfte  nach  Durchs  chneidung  des 
Halssympathikus  und  des  Erblassens  aufReizung  seines 
peripherischen  Stumpfes  ihren  Anfang  nahm-)  (1851/52). 
Bernard  hat  selbst  die  Bedeutung  der  Gefässnerven  für  die 
Sekretion,  speziell  der  Speicheldrüsen^),  die  Verbreitung  der  Vaso- 
motoren *),  die  Unabhängigkeit  der  sympathischen  Pupillenerweiterung 
von  den  Gefässen  ^)  und  vieles  andere  hierher  gehörige  bearbeitet ; 
die  systematische  Durchbildung  der  Physiologie  des 
vasomotorischen  Systems,  speziell  seiner  Centren  und 
deren  reflektorischer  Erregung  ist  indessen  das  Verdienst 
Ludwigs  und  seiner  Schule:  Es  sei  nur  erinnert  an  die  von 
ihm  mit  dem  früh  verstorbenen  L.  Thiry  (vorher  Meissners 
Assistent)  1864  veröffentlichte  Arbeit ")  „Ueber  denEinfluss  des 
Halsmarkes  auf  den  Blutstrom",  an  Dittmars  (jetzt  Irren- 
anstaltsdirektor in  Saargemünd)  genauer  bestimmte  „Lage  des 
sog.  Gefässzentrums"  ')  1873,  an  Mossos  Plethysmographie 
der  Niere  1874,  die  Versuche  über  den  Splanchnicus  von  Asp  und 
anderen;  endlich  an  Cyons  [der  auch  Claude  Bernards  Schüler 
war]   mit  Ludwig   gemacht«  Entdeckung  des  N.   depressor, 


^)  Durch  PaTy  in  England,  Meissner  und  Büttner  hei  uns  u.  s.  w. 
»)  Comptes  rend.  de  le  soc.  de  hiol,   1851,  p.  163;    ebenda,   1852,  S.  155,  168; 
Comptes  Rendus  de  l'ac.  des  sc,  Bd.  34,  S.  472;  Arch.  gen.  de  med.,  Bd.  28,  S.  1852. 
')  Comptes  rendus  de  la  soc.  de  biol.,  1859,  p.  49. 
*)  Brown-Sequards  Journal  de  la  physiologie,  vol.  5,  p.  383,  1862, 
^)  Comptes  Rendus  de  l'ac  des  sc,  Bd.  55,  1862. 
*)  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akad.,  math.-physik.  Kl.,  1864. 
')  Ber.  der  Leipz.  Akad.,  1873. 


416  Heinrich  Bornttan. 

welcher  auf  Erregung  vom  sensibeln  Herzen  her  durch  reflektorische 
Gefässerweiterung  den  Blutdruck  herabsetzt  und  das  Herz  entlastet.^) 

Claude  Bernard  hat  auch  die  allgemeine  Muskel-  und 
Nervenphysiologie  durch  zahlreiche  Studien  bereichert,  so  über 
die  elektrische  Reizung  und  über  das  Curare,  dessen  spezifische 
Wirkungsweise  auf  die  unteren  Nervenendungen  er  ebenso  wie 
Kölliker  und  Müller-)  durch  den  berühmten  Unterbindungsversuch 
bewies,  =')  ferner  sich  um  die  Lehre  von  der  tierischen  Wärme 
im  höchsten  Masse  verdient  gemacht,  indem  er  die  Rolle  der  gefass- 
erweiternden  und  gefässverengenden  Nerven  der  Haut  bei  demjenigen 
was  wir  jetzt  die  physikalische  Wärmeregulierung  nennen,  richtig 
erkannte,  den  Tod  durch  Ueberhitzung  beim  Warmblüter  näher 
untersuchte  u.  s.  w. 

Nicht  genug  betont  werden  kann  endlich  Bernards  Ver- 
dienst um  das  Gesamtgebiet  der  Biologie  durch  eine  im 
besten  Sinne  des  Wortes  philosophische,  d.  h.  induktive 
Betrachtung  und  ausgiebige  Anwendung  der  verglei- 
chendenMethode  (vergleichende  Betrachtung  der  Glykogene,  der 
Harnzusammensetzung,  der  osmotischen  Vorgänge  bei  verschiedenen 
Tierarten;  Narkose  der  Pflanzen  u.  s.  w.),  und  seine  berühmten 
Legons  sur  les  phenomenes  de  la  vie  communs  aux  ani- 
maux  et  aux  vegetaux  stellen,  fast  dreissig  Jahre  nach 
Rudolf  Hermann  Lotzes  [1817—1881]  philosophischer  „Allge- 
meinen Physiologie  des  körperlichen  Lebens"  (Leipzig  1851)  er- 
schienen, das  erste  Lehrbuch  der  allgemeinen  Physiologie 
im  modernen  vergleichenden  und  elementaranalysieren- 
den Sinne  vor,  in  welchem  die  elementaren  Lebens- 
erscheinungen meisterhaft  präzisiert  und  auf  die  Er- 
scheinungen des  Aufbaus  [„Plastik,  organische  Synthese"]  und 
Abbaus  [funktionelle Zerstörungs Vorgänge"]  zurückgeführt  sind. 

Als  jüngere  Zeitgenossen  Claude  Bernards,  deren  ältere 
Arbeiten  durchaus  der  klassischen  Periode  angehören  und  grund- 
legend geworden  sind,  speziell  für  die  Kreislaufs- 
physiologie, wären  zu  nennen  Chauveau  und  Marey. 

J.-B.  Auguste  Chauveau,  geboren  am  25.  November  1827  in  Villeneuve- 
le  Guyard  (Dep.  Yonne),  studierte  in  Alfort  (Tierarzneischule),  Paris  und 
Lyon,  ging  dann  ins  Ausland,  war  Direktor  der  Tierarzneischule  in  Lyon 
und  ist  jetzt  Professor  der  vergleichenden  Anatomie  am  Museum  und 
Generalinspektor  der  französischen  Tierarzneischulen.  Er  schrieb  eine  ver- 
gleichende Anatomie  der  Haussäugetiere,  früher  viele  interessante  patho- 
logische, meist  Virus  und  Contagium  betreffende  Arbeiten;  Erwähnung 
seiner  wichtigsten  physiologischen  Leistungen  im  Text. 

Etienne  Jules  Marey,  geboren  am  5.  März  1830  in  Beaume  (Dep. 
C6te  d'or),  studierte  und  promovierte  1859  in  Paris  mit  der  These 
„Recherches  sur  la  circulation  du  sang  etc.",  las  über  den  Kreislauf  und 
errichtete  1864  ein  Privatlaboratorium,  wurde  aber  1867  als  Nachfolger  von 
riourens  Professor  am  College  de  France,  1878  Mitglied  der  Akademie  der 
Wissenschaften  und  wirkt  noch  in  diesen  Stellungen. 


1)  Ber.  der  Leipz.  Akad.,  1866,  S.  307. 
«)  Virchows  Arch.,  Bd.  10,  S.  3,  1856, 
»J  Comptes  Rend.,  Bd.  31,  S.  533,  1850. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       417 

Hauptsächliche  Werke  in  Buchform:  „Physiologie  medicale  de  la  circulation 
du  sang  etc.^',  1863;  —  „Dm  Mouvement  dans  Ics  fonctions  de  la  vie",  1868;  — 
,,ZyO  methode  graphique  et  ses  applications  en  physiologie',  1878,  mit  Supplement 
über  die  Fhotographie  1884:  —  „La  machine  animale,  Locomotion  terrestre  et 
aerienne",  1874;  —  .,Le  vol  des  oiseaux^',  1891;  —  „Le  mouvement^'  (gemeinver- 
ständliche Zusammenfassung  aller  früheren  Leistungen),  1894. 

An  Mareys  Namen  knüpft  sich  das  Verdienst  einer 
ganz  ausserordentlichen  Verfeinerung- und  vielseitigen 
Anwendung  der  physiologischen  Graphik,  besonders 
für  die  Physiologie  des  Kreislaufs:  sie  begann  1860  mit  der 
Konstruktion  eines  dem  Vierordtschen  (s.  oben)  bei  weitem  über- 
legenen Sphygmographen/)  bei  welchem  die  Arterie  ein  (wie 
bei  Vi  er  or  dt)  direkt  zeichendes,  sehr  leichtes  und  schleuderungs- 
freies  Hebelwerk  bewegt,  worauf  bald  die  Einführung  der  graphischen 
Registrierung  vermittelst  Luft  Übertragung  folgte,  indem  z.  ß. 
der  auf  die  ^ Aufnahmekapsel"  (tambour  explorateur)  wirkende  Herz- 
stoss  auf  diese  Weise  den  Schreibhebel  der  früher  schon  von 
üpham  ersonnenen,  jetzt  gewöhnlich  als  Mareysche  Kapsel  (tam- 
bour enregistreur)  bezeichneten  Vorrichtung  in  Bewegung  setzt: 
Transmissions-Kardiograph,  „Kardiographie",  Kardiogramm.-) 
Bevor  noch  dui'ch  F  i  c  k  und  G  a  d  die  später  auch  von  M  a  r  e  y  an- 
gewendeten Metallmanometer  (s.  oben)  aufkamen,  erzielten  Chauveau 
und  Marey  genaue  Aufzeichnungen  des  zeitlichen  Druck- 
verlaufes im  Inneren  der  Gefässe  und  der  einzelnen 
Herzabteilungen,  indem  sie  beim  Pferde  ihre  „Sondes  cardio- 
graphiques"  durch  die  Carotis,  resp.  Vena  subcla\ia  bis  in  das  Herz- 
innere einführten,  —  hohle,  an  ihrem  zui-  Einführung  bestimmten 
unteren  Ende  mit  dem  elastischen  Apparat  (gummiüberzogener  Draht- 
korb) versehene  Röhren,  deren  Inneres  mit  den  Schreibk-apseln  ver- 
bunden wurde;^)  in  den  so  erhaltenen  Kurven  ist  alles 
Detail  der  Herzmechanik  enthalten,  —  so  dass  bis  auf 
den  heutigen  Tag  nichts  prinzipiell  Neues  hat  hinzu- 
kommen können  — ,  und  auch  grösstenteils  von  ihnen 
richtig  beschrieben:  die  Anspannungszeit,  das  „systo- 
lische Plateau"^  der  Moment  des  Vorhofklappenschlusses 
und  die  Entstehung  der  „Rückstosselevation"  der  Puls- 
kurve, richtige  Deutung  des  Herzstosses  u.  s.  w.  Gleich- 
zeitig mit  dem  Sphygmogi-aphen  Mareys  erfand  Chauveau  auch 
einen  die  Geschwindigkeitskurve  direkt  aufzeichnenden  ,.Hämo- 
dromographen",  dessen  Leistungen  er  zusammen  mit  L  ort  et, 
Bertholus  und  Leroyenne  publizierte.  Chauveau  hat  auch 
]\lessungen  der  NervenleitungsgeschTsindigkeit  angestellt,  Marey 
zweckmässige  Myographenkonstruktionen  angegeben  und  Wich- 
tiges zui-  Lehre  vom  Muskeltetanus  u.  a.  m.  beigetragen.  Von  den 
neueren  epochemachenden  Leistungen  Mareys  auf  dem 
Gebiete  der  photographischen  Registrierung  und  den 
Beiträgen  Chauveaus  zur  Energetik  des  Organismus  wird  noch  in 
dem  letzten  Abschnitt  dieser  Darstellung  die  Rede  sein  müssen. 


^)  Recherches  sur  le  pouls  etc.,  von  Marey  in  den  Comptes  rendus  1860. 

')  Chauveau  und  Marey,  „Appareils  et  experiences  cardiographiques", 
Memoires  de  Tacademie  de  medecine,  1863,  Bd.  25,  S.  268  und  schon  Etudes  physio- 
logiques  sur  le  caractere  graphique  des  hattements  du  coeur  etc.,  1860. 

»)  a.  a.  0. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.     Bd.  II.  27 


418  Heinrich  Boruttau. 

Wir  können  die  französischen  Leistungen  in  der  klassischen 
Periode  nicht  verlassen,  ohne  schliesslich  noch  des  FrankQ-Ameri- 
kaners  Brown  -  S6quard  zu  gedenken  [Charles  Edouard, 
als  Sohn  des  Edward  Brown  und  einer  Französin  Namens  Se- 
quard  1818  in  Philadelphia  geboren,  studierte  und  promovierte  1840 
in  Paris,  arbeitete  physiologisch  und  praktizierte  als  Nervenarzt,  ging 
1863  nach  Amerika  zurück  um  Vorlesungen  zu  halten,  war  dann 
Spitalarzt  in  London  bis  1868,  wo  er  nach  Paris  zurückgekehrt 
agrege  und  1878  Claude  Bernards  Nachfolger  am  College  de 
France  wurde;  er  starb  am  2.  April  1894J,  —  eines  vielbekämpften 
Mannes,  dessen  Verdienste  insbesondere  auf  dem  Gebiet  der  Nerven- 
physiologie  indessen  nicht  zu  leugnen  sind:  Er  hat  zuerst  auf 
die  Erhöhung  der  Reflexerregbarkeit  unterhalb  einer 
Quertrennung  des  Rückenmarks  hingewiesen,  sich  sehr  um 
den  Verlauf  der  Leitungsbahnen  in  demselben  bemüht  und  die  Be- 
teiligung der  grauen  Substanz  an  der  Leitung  der 
sensibeln  Impulse  festgestellt,  ferner  die  spinale  Atem- 
innervation  behauptet  und  vieles  andere.  Von  seinen  vegetativ-physio- 
logischen Untersuchungen  —  Blut,  Atmung,  tierische  Wärme  —  seien 
nur  diejenigen  über  Giftigkeit  der  Exspirationsluft  erwähnt;  von 
seinen  Hodenextraktinjektionen  als  Ausgangspunkt  der 
Lehre  von  der  „innern  Sekretion"  und  der  modernen 
„Organotherapie"  wird  noch  unten  die  Rede  sein.  Ausser  seinen 
Buchwerken:  „Course  of  lectures  on  the  phj^siology  and  pathology  of 
the  central  nervous  System",  London  1858,  2.  Aufl.  Philadelphia  1860, 
und  „Legons  sur  les  nerfs  vasomoteurs,  l'epilepsie  etc.,  Paris  1872  er- 
warb er  sich  ein  hohes  litterarisches  Verdienst  durch  die  Herausgabe 
des  Journal  de  la  Physiologie  de  l'homme  et  des  animaux, 
6  Bände,  1858 — 1863,  als  Fortsetzung  von  Magendies  Journal  de 
Physiologie,  —  sowie  nach  seiner  Rückkehr  aus  dem  Auslande  durch 
die  1868  erfolgte  Neubegründung  der  „Archives  de  Physio- 
logie normale  et  pathologique";  bis  zum  1898  erfolgten  Ein- 
gehen nach  Brown-Sequards  Tode  im  ganzen  30  Bände  er- 
schienen. 

Die  Titel  dieser  Zeitschrift,  wie  auch  die  Arbeiten  der  soeben 
gewürdigten  Forscher  lassen  erkennen,  dass  die  „klassische  Periode" 
in  Frankreich  nicht  wie  in  Deutschland  zur  absoluten 
Selbständigmachung  der  Physiologie,  und  noch  weniger 
zur  Abspaltung  besonderer  Spezialarbeitsrichtungen 
geführt  hat;  vielmehr  sind  die  Physiologen  daneben  oft  ver- 
gleichende Anatomen,  meist  auch  experimentelle  Pathologen,  häufig 
Pharmakologen  u.  s.  w.  In  noch  geringerem  Masse  entwickelte  solche 
Selbständigkeit  die  Physiologie  in  England:  so  war  die  ana- 
tomische und  physiologische  Forschung,  allerdings  in  vorzüglichster 
Weise  vereinigt  in  den  Händen  Sir  William  BoAvmans,  und  zwar 
auch  nur  in  seinen  jüngeren  Jahren  und  zusammen  mit  chirurgischer 
Thätigkeit:  später  widmete  er  sich  fast  ausschliesslich  der  Augen- 
heilkunde [er  ist  geboren  1816  in  Nantwich,  studierte  in  Birmingham 
und  London,  wurde  hier  Prosektor,  dann  Professor  der  Anatomie  und 
Physiologie  am  King's  College,  ging  aber  von  1855  ab  ganz  zur  Praxis 
über,  starb  1892].  An  seine  wichtigen  Arbeiten  über  die  Struktur 
der  quergestreiften  Muskelfasern  erinnert  die  Bezeichnung  der  Bow- 
m  an  sehen    Scheiben    (disc's);    ferner   untersuchte    er  genauer    die 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anweudimg  auf  die  Medizin  etc.      419 

Struktur  und  Funktion  des  Nervengewebes,  insbesondere  der 
Malpighischen  Glomeruli  und  stellte  eine  eigenartige,  später 
von  Heiden liain  wieder  aufgenommene  und  experimentell  gestützte 
Theorie  der  Harnsekretion  auf;^)  grossartig  ist  endlich  die 
von  ihm  zusammen  mit  R.  BentleyTodd  (1809 — 1860)  herausgegebene 
„Physiological  anatomy  and  physiology  of  man"  (1845 — 1856, 
5  Bände).  Der  grosse  Carpen t er  [William  Benjamin,  geboren 
1813,  studierte  in  Bristol,  London  und  Edinburgh,  wurde  1844 
FuUerian  professor  of  physiology  an  der  Royal  Institution,  1845 
F.  R.  S.,  war  aber  auch  Professor  der  gerichtlichen  Medizin  am  Uni- 
versity  College ;  er  trat  schon  1856  von  seiner  Lehrthätigkeit  zurück, 
wurde  Registrar  der  London  University,  starb  1885  infolge  eines 
Unfalls  (Verbrennung)]  war,  wie  Johannes  Müller,  ein  univer- 
seller Forscher  auf  allen  biologischen  Gebieten,  welcher 
vor  allem  die  Bedeutung  der  vergleichenden  Anatomie  und  Physio- 
logie erkannte  und  betonte,  insbesondere  in  seiner  vorbildlichen  all- 
gemeinen Physiologie:  „The  Principles  of  General  and  Comparative 
Physiology",  zuerst  in  London  1839  erschienen,  welcher  später  (zu- 
erst 1846)  ein  „Manual  of  Physiology"  folgte.  Obwohl  er  danach  noch 
Schriften  über  die  „Lebenskraft",^)  über  die  Anwendung  des  Gesetzes 
der  Erhaltung  der  Kraft,  über  physiologische  Psychologie,  insbesondere 
zur  Volksaufklärung  gegenüber  Kurpfuscherei  und  Mesmerismus,  auch 
gegen  den  Alkoholismus  verfasst  hat,  widmete  er  seine  spätere 
Thätigkeit  doch,  ebenso  wie  Johannes  Müller,  fast  ausschliesslich 
der  Zoologie,  veranstaltete  seine  berühmten  Tiefseeexpeditionen 
und  machte  auch  Untersuchungen  zur  Pflanzenhistologie.  Salter 
(Henry  Hyde,  1821 — 1871,  anatom.  Prosektor  am  King's  College  in 
London)  und  Gilchrist  [William,  in  Edinburgh,  machte  Studien- 
reisen, war  Arzt  in  Torquay,  starb  1867],  welche  beide  frühzeitig  an 
der  Lungenschwindsucht  starben,  haben  unserer  Wissenschaft  mehr 
durch  Referate,  Essays  und  Encyklopädie-Artikel  als  durch  viele 
Originalarbeiten  gedient.  Rolleston  [George,  geb.  1829,  promo- 
vierte in  Oxford,  1859  F.  R.  C.  P.,  war  Arzt  in  Smyrna  im  Krimkrieg, 
wurde  1860  erster  Linacre  Professor  für  Anatomie  und  Physiologie 
in  Oxford,  starb  1881]  vereinigte  auch  noch  die  beiden  biologischen 
Disziplinen  in  seiner  Hand,  bearbeitete  die  vergleichende  Ana- 
tomie besonders  in  einem  Buch  über  die  Unterschiede  zwischen 
Menschen-  und  Affengehirn  (1862)  und  schrieb  1870  das  vortreffliche 
Werk:  „The  forms  of  animal  life."  Auch  Alfred  Henry  Garrod 
(1846 — 1879),  der  früh  verstorbene  Sohn  des  durch  seine  Unter- 
suchungen über  die  Gicht  berühmten,  noch  lebenden  Klinikers,  1874 
Fullerian  Professor  als  Carpenters  Nachfolger,  machte  neben  physio- 
logischen Untersuchungen  über  Sphygmographie  und  Nervenphysik 
(meist  im  Journal  of  Anatomy  and  Physiology,  welches  seit  1867  von 
Humphr  y,  Turner,  Mc.  Kendrick  u.  a.  herausgegeben  erscheint) 
zahlreiche  zoologische  und  vergleichend-anatomische  Arbeiten ;  Fran- 
cis Maitland  Balfour  endlich  [1851—1882,  Fellow  des  Trinity 
t!ollege  in  Cambridge,  zuletzt  Professor  für  vergleichende  Anatomie 
daselbst]    war    bei   manchen   die    spezielle   Physiologie   betreffenden 


^)  „On  the  strnctnre  and  use  of  the  Malphigian  bodies  of  the  Kidney  with  ob- 
■ervations  on  the  circulation  through  that  gland",  Philos.  Transact.  1842. 
»)  Philosophical  Transact.  1850. 

27* 


420  Heinrich  Boruttau. 

Leistungen  vorwiegend  Embryologe.  Als  Physiologe  und  Pathologe 
verdankte  besonders  viel  dem  Auslande  der  ältere  Waller 
[Augustus  Volnay,  geboren  21.  Dezember  1816  in  Elverton  Farm 
bei  Faversham  in  Kent,  studierte  in  Paris,  promovierte  daselbst  1840, 
praktizierte  in  der  Heimat,  wurde  F.  E.  S.  1851,  ging  dann  nach 
Bonn  und  arbeitete  mit  Budge  (s.  früher),  erhielt  1852  und  1856 
den  Prix  Monthyon  der  französischen  Akademie,  ging  1856  nach  Paris 
zu  Flourens,  wurde  1858  Physiologie-Professor  in  Birmingham,  ging 
aber  bald  herzkrank  zur  Erholung  erst  nach  Brügge,  dann  in  die 
Schweiz,  starb  am  18.  September  1870  in  Genf].  Aeltere  selbständige 
Forschungen  Wallers  betreffen  die  „Diapedese"  der  roten 
Blutkörperchen  [Philosophical  Magazine  1846];  ferner  beteiligte 
er  sich  an  Budges  Untersuchungen  über  das  Centrum  cilio- 
spinale  (siehe  früher)  und  machte  in  dessen  Laboratorium  die  Ent- 
deckung der  Abhängigkeit  der  Ernährung  der  Nerven- 
fasern von  dem  Zusammenhang  mit  der  Ganglienzelle 
als  „trophischem  Centrum";  sog.  „Waller sehe  Degeneration". 
Noch  andere  bedeutende  Arbeiten  betreffen  wieder  pathologische  Dinge, 
Direkt  dem  Auslande  entlehnt  hat  seine  bedeutenderen  Physiologen 
in  der  in  Eede  stehenden  Periode  Italien,  früher  das  klassische 
Land  der  grossen  Biologen.  Zwar  wirkten  um  diese  Zeit  noch  der 
ältere  Panizza  [Bartolommeo,  1785 — 1876,  Prof.  der  Anat.  u. 
Physiol.  in  Pavia],  der  schon  erwähnte  Filippo  Lussana  [1820 
bis  1898,  Professor  in  Padua  und  Parma],  verdient  durch  seine  Unter- 
suchungen über  das  Kleinhirn,  den  Schwindel,  durch  ein  Lehr- 
buch der  Physiologie,  der  Chemiker  und  Toxikologe  Francesco 
Selmi  [1817 — 1881,  Professor  in  Bologna],  Entdecker  der  „Pto- 
maine"  und  gar  mancher  andere  bescheidene  und  darum  vielleicht 
nicht  genügend  gewürdigte  italienische  Forscher;  doch  die  inter- 
nationale Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  lenken  verstanden  besser  die 
eingewanderten  Physiologen  Schiff  und  Moleschott. 

Moritz  Schiff,  geb.  1823  in  Frankfurt  a.  M.,  studierte  in  Heidelberg, 
Berlin  und  Göttingen,  wo  er  1844  promovierte,  ging  dann  nach  Paris  zu 
Magendie  und  Longet,  machte  ornithologische  Studien  am  Museum,  wurde 
nach  Frankfurt  zurückgekehrt,  am  Senckenberg.  Museum  angestellt,  machte 
das  Jahr  1848  als  Arzt  des  ßevolutionsheeres  mit,  wurde  aus  Göttingen, 
wo  er  sich  habilitieren  wollte,  ausgewiesen,  dafür  in  Bern  1854  als  Professor 
der  vergleichenden  Anatomie  angestellt,  1863  als  Professor  der  Physiologie 
ans  Istituto  di  studi  superiori  nach  Florenz  berufen,  ging  1876  in  gleicher 
Eigenschaft  an  die  Universität  Genf,  wo  er  bis  zu  seinem  am  6.  Oktober « 
1896  erfolgten  Tode  wirkte. 

Werke  in  Buchform:  De  vi  motoria  baseos  encepJmli,  Diss.,  Bockenheim  1845; 
—  Untersuchungen  zur  Physiologie  des  Nervensystems,  Bd.  I,  Frkft.  1855;  —  Lehr- 
buch der  Physiologie  des  Menschen,  1 .  Bd.,  Muskel-  und  Nervenphysiologie,  Lahr 
1859;  —  LeQons  sur  la  physiologie  de  la  digestion,  1868,  2  Bde.;  daneben  viele 
andere  Spezialschriften  und  kleinere  Aufsätze  in  Archiven  xmd  Zeitschriften,  1894 — 96 
von  ihm  und  (nach  seinem  Tode  der  4.  Band)  von  A.  Herzen  neu  herausgegeben 
als  „Schiffs  gesammelte  Beiträge  zur  Physiologie",  Lausanne.  * 

Schiff  hat  sich  entschieden  grosse  Verdienste  um  alle  Zweige" 
der  Physiologie  erworben,  indem  er  als  Experimentator,  speziell  Vivi- 
sektor,  dessen  unermüdlicher  Fleiss  geradezu  beispiellos  ist,  jede  nur ; 
irgend   aufkommende    und   zeitgemässe   Frage   einer   sofortigen   Be- 
arbeitung unterzog  und  in  der  That  viele  neue  Thatsachen  als  erster 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       421 

ans  Licht  gezogen  hat,  wenn  auch  oft  in  unvollkommener  Form  und 
vielfach  unverstandener  Weise:  der  Enthusiasmus  übertraf  nur  zu 
oft  sein  kritisches  Vermögen  und  liess  ihn  wohl  auch  öfter  in  Wahr- 
heit nicht  vorhandene  Dinge  sehen ;  dazu  kam  eine  entschiedene 
Neigung  auf  allen  Gebieten,  für  viele  Einzelbeobachtungeu  sich  selbst 
die  Priorität  zuzuschreiben,  —  wie  oft  Unberechtigtermassen,  ist  schwer 
zu  entscheiden.  Aber  es  muss  wiederholt  werden:  alle  diese  Eigen- 
tümlichkeiten hindern  nicht,  Schiff  in  die  erste  Eeihe  der  Forscher 
zu  stellen  und  seine  vielen  wirklich  bedeutenden  Entdeckungen  voll- 
auf zu  würdigen. 

Auf  dem  Gebiete  der  Yerdauungsphysiologie  zog  er  die  Auf- 
merksamkeit auf  sich  durch  seine  ..Ladungstheorie"  der  Magen- 
verdauung, ^)  welche  ganz  neuerdings  in  Pawlows  Unterscheidung  der 
pepsinogenen  Xahrungsstoffe  wieder  aufgelebt  ist;  von  einer  von  ihm 
behaupteten  ähnlichen  Wirkung  der  Milz  auf  die  Trypsinbildung 
wird  noch  später  die  Rede  sein,  desgleichen  von  seiner  Entdeckung 
der  schädlichen  Fol gend er  Schilddrüsenexstirpation  und 
deren  Besserung  durch  Schilddrüsenfütterung  u.  s.  w.  Sein  Haupt- 
arbeitsgebiet aber  bildet  die  Physiologie  des  Nerven- 
systems, und  zwar  die  allgemeine  —  Degeneration,  Elektrophysio- 
logie  —  wie  die  spezielle:  er,-)  wie  auch  Gianuzzi  und  Mole- 
s  c  h  0 1 1  ^)  beobachteten  öfter  auf  peripherische  Vagusreizung  Be- 
schleunigung statt  Verlangsamung  der  Herzthätigkeit,  weshalb  er  den 
Vagus  (wie  manche  Aelteren)  für  den  motorischen  Nerv  des 
Herzens  und  die  Hemmung  nur  für  eine  Ermüdungswirkung  er- 
klärte, —  eine  Anschauung,  welche  er  nach  langjährigem  Streite 
schliesslich  selbst  aufgeben  musste;  ebenso  unrichtigerweise  er- 
klärte er  die  Lungenentzündung  nach  beiderseitiger 
Vagusdurch schneidung,  die  Magendie  und  Longet  auf 
Ausfall  einer  „trophischen  Wirkung"  bezogen  hatten,  durch  Ausfall 
vasomotorischer  Fasern,  die  gar  nicht  im  Vagus  verlaufen,  —  gegen- 
über L.  Traubes  Deutung  als  Schluckpneumonie.  welche  durch  die 
späteren  Untersuchungen  von  0.  Frey  u.  a.  im  wesentlichen  als 
richtig  sich  herausstellte.^)  Glücklicher  war  er  mit  seinen  Unter- 
suchungen über  dieZungenbewegungen,  die  Peristaltik  U.S.W. 
Mit  seiner  auf  Grund  erfolgloser  Reizversuche  an  den  Rückenmarks- 
strängen aufgestellten  Unterscheidung  einer  „ä s t h e s o  d i s c h e n*' 
und  -kinesodischen"  Substanz  war  er  weniger  glücklich  als 
mit  manchen  scharfsinnig  gedeuteten  Durchschneidungsver- 
suchen  am  Rückenmark;  wertvoll  bleiben  jedenfalls  seine  For- 
schungen über  die  Funktionen  derHirnbasis  und  des  Klein- 
hirns, mit  welchen  er  seit  seiner  Erstlingsschrift  sich  viel  beschäf- 
tigte —  s.  sein  Buch:  Sul  Sistema  nervoso  encefalico,  Florenz  1865; 
2.  Aufl.  1873. 

Weit  weniger  universeller  Experimentator  war  der  nach  Italien 
berufene  Holländer  Moleschott  [Jakob,  geb.  den  9.  August  1822  in 
Herzogenbusch,  studierte  in  Heidelberg,  promovierte  dort  1845  mit 


*)  LeQons  sur  la  physiolo^e  de  la  digestion,  p.  188. 

')  Arch.  f.  phvsiolog.  Heük.,  Bd.  8,  S.  209,  442;   Moleschotts  Untersuchungen, 
Bd.  6,  S.  201;  10:S.  98.  ^ 

»)  Ebenda,  Bd.  7,  S.  401;  8,  S.  52,  572,  601. 
*)  Vgl.  des  Verfassers  Arbeit  in  Pflügers  Arch.,  Bd.  61,  S.  39,  1895. 


422  ,  Heinrich  Boruttau. 

der  Dissertation  „De  Malpighianis  pulmonum  reticulis",  arbeitete  bei 
Mulder,  habilitierte  sich  1847  in  Heidelberg,  kam  1856  als  Physio- 
logieprofessor nach  Zürich,  1861  nach  Turin,  1879  nach  Eom,  wo  er 
bis  zu  seinem  am  20.  Mai  1893  erfolgten  Tode  wirkte,  als  Italiener 
nationalisiert,  1876  Senator.  Er  gab  die  „Untersuchungen  zur 
Naturlehredes  Menschen"  heraus;  13  Bde.,  Giessen  1857 — 85]. 
Moleschott  hat  mancherlei  physiologisch-chemische  xA.rbeiten  ge- 
macht durch  kritische  Schriften  („Kritische  Betrachtung  von  Liebigs 
Theorie  der  Ernährung  der  Pflanzen",  Haarleml845;  „Physiologie  der 
Nahrungsmittel",  Darmstadt  1850;  „Physiologie  des  Stoffwechsels  in 
Pflanzen  und  Tieren",  Erlangen  1851)  die  Stoffwechsellehre  ge- 
fördert, vor  allem  aber  diese  Dinge  durch  gemeinverständliche  Schriften 
popularisiert,  so  durch  seine  „Lehre  der  Nahrungsmittel", 
Erlangen  1850;  mehrere  Auflagen,  in  viele  Sprachen  übersetzt,  und 
seinen  „Kreislauf  des  Lebens",  1.  Aufl.  Mainz  1852,  welches  be- 
sonders in  seinen  neueren  Auflagen  (5.  1885)  zum  Kanon  des 
naturwissenschaftlichen  Materialismus  geworden  ist,  — 
neben  Ludwig  Büchners  (1824—1899,  Arzt  und  Schriftsteller 
in  Darmstadt)  bekannter  Schrift  „Kraft  und  Stoff,  Frank- 
furt a.  M.  1855,  17.  Aufl.  1892.  Beide  Bücher  bilden  zu  sehr  über- 
schwengliche Aeusserungen  einer  an  sich  berechtigten 
Eichtung,  in  welcher  wir  das  Triumphgefühl  der  sieg- 
reichen Bestrebungen  erblicken  können,  die  Lebens- 
erscheinungen auf  physikalische  und  chemische,  in 
letzter  Linie  mechanische  Gesetze  zurückzuführen. 
Dasselbe  Gefühl  war  es  auch,  welches  die  von  dem  grossen  Charles 
Darwin  (1809 — 1882)  ins  Feld  geführten,  so  verlockenden 
Stützhypothesen  der  Descendenztheorie  mit  gar  zu 
weit  getriebenem  Enthusiasmus  hinnahm  und  gewisser- 
massen  im  Rausche ^)  gar  die  natürlichen,  der  menschlichen 
Erkenntnis  gesetzten  Grenzen  ganz  vergass.  Die  be- 
ginnende Ernüchterung  beginnt  sich  bereits  zu  zeigen  in 
Heinrich  Czolbes  (1819 — 1873)  „Grenzen  und  Ursprung  der 
menschlichen  Erkenntnis"  (1865),  erst  recht  aber  in  dem 
schon  erwähnten  „Ignorabimus"  du  Bois-Reymonds  (1882), 
welches  überleitet  zu  der  philosophischen  Reaktion,  die  die 
nun  zu  besprechende  neueste  Periode  der  modernen  Biologie 
kennzeichnet.  — 

Bio-  und  bibliographische  Nachträge: 

1.  V.  Helniholtz,  Gedenkrede  auf  ihn  von  v.  Bezold,  Berlin  1895,  desgleichen 
von  du  Bois-Reymond,  ebenda  1897. 

2.  E.  Brücke,  desgleicJien,  ebenda  1892. 

3.  Wegen  der  biographischen  Daten  siehe  übrigens  den  alljährlichen  medizinisch- 
naturwissenschaftlichen  Nekrolog  in  Virchoivs  Archiv,  die  Uebersicht  ,,Die  Toten 
des  Jahres"  in  den  Registern  der  „Deutschen  medizinischen  Wochenschrift",  im 
übrigen  die  Nekrologe  in  dieser  Zeitschrift,  ferner  in  der  „Münchener  medizinischen 
Wochenschrift",  hier  meistens  mit  Bilderbeilagen  („Gallerie  berühmter  Naturforscher 
und  Aerzte"),  in  der  Wiener  Min.  W.  und  zahlreichen  anderen  medizinischoi  Zeit- 
schriften, auch  Archiven  und  Akademieschriften,  insdesondere : 

4.  In  dem  itn  Erscheinen  begriffenen  ,.Dictionnaire  de  physiologie"  von  Ch. 
Hiehet  sind  Lebensdaten,  besonders  vollständig  aber  die  Werke  der  meisten  be- 
deutenden, speziell  allerdings  der  französischen  Physiologen  aufgeführt. 


^)  Vgl.  allerdings  Pagel  in  seiner  „Einführung",  S.  349! 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       423 

5.  Mudolf  Heidenhain,  ^)  Zum  Andenken  an  ihn,  von  P.  Griitzner,  Pflügers 

Arch.,  Bd.  72,  S.  221,  1898. 

6.  Adolf  Fick,   Zum  Andenken   an  ihn,   von  Fr.  Schenck,   ebenda,   Bd.  90 
S.  313,  1902. 


VI. 

Die  Weiterentwicklung  der  Physiologie  bis  zum  Ende  des 
19.  Jahrhunderts. 

Die  „klassische  Periode"  der  Physiologie  schuf  ein 
wohlgefüg-tes  Lehrgebäude,  dessen  Ecksteine,  experimentell  erwiesene 
Grundthatsachen ,  ein  ewiges  Besitztum  menschlicher  Erkenntnis 
bleiben  dürften;  sie  schuf  Methoden,  deren  fortgesetzte  Anwendung 
und  immer  feinere  Ausbildung  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  jüngst 
abgelaufenen  Jahrhunderts,  dank  dem  Fleisse  einer  immer  grösser 
werdenden  Zahl  jüngerer  Forscher  eine  kaum  mehr  übersehbare 
Zahl  neuer  Detailergebnisse  dem  vorhandenen  Grundstock  hin- 
zufügte. An  dieser  Arbeit  beteiligten  sich  Angehörige  aller  Nationen, 
indem  schliesslich  in  fast  allen  Kulturländern  die  Physiologie  als 
selbständige  Wissenschaft  und  Grundlage  des  medizinischen  Studiums 
anerkannt,  besondere  Lehrstühle,  die  vielfach  mit  Schülern  Carl 
Ludwigs  und  anderer  bedeutender  deutscher  Physiologen  besetzt 
■wurden,  und  eigene,  wohl  nach  deutschem  Muster  eingerichtete 
Institute  erhielt ;  am  wenigsten  ausgesprochen  ist,  wie  schon  oben  für 
die  klassische  Periode  erörtert,  diese  „funktionelle  Selbständigkeit" 
unserer  Disziplin  auch  heute  noch  in  Frankreich,  wo  viele  Physio- 
logen nebenbei  Praxis  treiben,  fast  alle  sich  auch  mit  Pharmakologie, 
experimenteller  Pathologie,  Bakteriologie,  Lnmunitätslehre  u.  s.  w.  be- 
schäftigen, viele  Laboratorien  dementsprechend  mehreren  Fächern 
gleichzeitig  dienen,  ja  sogar  zur  Zeit  nicht  eine  einzige,  rein  physio- 
logische Zeitschrift  mehr  existiert:  vielmehr  trat  an  die  Stelle  der, 
auch  schon  die  Pathologie  stark  berücksichtigenden  „Archives  de 
Physiologie  normale  et  pathologique"  Brown -Sequar ds  (s.  oben) 
1899  das  von  Bouchard  und  Chauveau  herausgegebene  Journal 
de  Physiologie  et  de  pathologie  generale,  neben  welchem  das  1864 
von  dem  Histologen  Ch.  P.  Eobin  (1821—1885)  gegründete,  jetzt 
von  Mathias  Duval  u.  a.  herausgegebene  Journal  de  l'anatomie 
et  de  la  Physiologie  ebenfalls  gemischten  Inhalt  bietet.  Soweit  solche 
Vereinigung  biologischer,  resp.  medizinischer  Wissenszweige  in  dem 
genialen  und  energischen  Wirken  eines  einzigen  Forschers  nach  dem 
leuchtenden  Beispiel  Hallers,  Joh.  Müllers,  Ludwigs  und 
Cl.  Bernards  heutzutage  bei  der  fortschreitenden,  die  Arbeits- 
teilung gebieterisch  fordernde  Spezialisierung  der  einzelnen  Arbeits-, 
richtungen  und  Erscheinungsgebiete  überhaupt  noch  möglich  ist,  kann 
kein  Zweifel  herrschen,  dass  sie  das  letzteZiel  physiologischer 
Forschung,  die  Erklärung  des  Lebens,  am  meisten  fördern 
wird;  auch  ist  es  gerade  solche  Gesamtbeherrschung  und  zusammen- 
fassende Benutzung  der  Methoden,  welche  auch  in  der  letzten  Periode 
die  allgemein  physiologischen  Kenntnisse  am  meisten  gefördert  hat: 
indessen   droht  dem    Unterfangen    einer  solchen   immer  schwieriger 

*)  Sein  Lebensgang  s.  S.  109. 


424  .  Heinrich  Boruttau. 

werdenden  Universalität  die  grosse  Gefahr  des  Verfallens  in  eine  be- 
denkliche Oberflächlichkeit,  wie  sie  sich  in  der  nachklassischen 
französischen  Physiologie  zum  Teil  in  kopfschüttelnerregender  Weise 
geäussert  hat;  und  endlich  werden  wir  sehen,  wie  gerade  die  besten 
und  fruchtbarsten  allgemeinphysiologischen  Anschauungen  aus  ganz 
speziellen  Arbeitsrichtungen,  aus  der  Untersuchung  ganz  einseitig 
differenzierter  Funktionen  einzelner  Organe  hervorgegangen  und  erst 
nebenbei  durch  vergleichende  und  verallgemeinernde  Methodik  ge- 
stützt worden  sind. 

Ein  klassisches  Beispiel  dieser  Art  bietet  die  Weiterentwicklung 
der  von  Helmholtz  und  du  Bois-Reymond  auf  exakt-physika- 
lische Grundlage  gestellten  allgemeinen  Muskel-  und  Nerven- 
physiologie. Noch  in  die  klassische  Periode  fallen  die  Anfänge 
der  Entmcivlung  der  wichtigen  Lehre  von  der  wellenförmigen 
Fortpflanzung  der  Erregung;  ihre  Aeusserung  an  der  querge- 
streiften Muskelfaser  als  „Kontraktionswelle"  und  die  Messung  ihrer 
Geschwindigkeit  geht  zurück  auf  die  Untersuchungen  von  Chr.  Th. 
Aeby  [1835—1885,  Prof.  der  Anatomie  in  Bern]  in  den  Jahren 
1860/62,  von  Bezold  1861  und  von  Marey  1867,  die  in  neuerer 
Zeit  durch  die  mikroskopischen  Beobachtungen  von  R  o  1 1  e  1 1  (s.  weiter 
unten)  an  Insektenmuskeln  und  anderen  ergänzt  worden  sind.  Zu- 
gleich mit  einer  eigenen  Methode  der  Geschwindigkeitsmessung  der 
Kontraktionswelle  erfolgte  ein  wichtiger  weiterer  Schritt  durch 
Bernstein  [Julius,  geb.  8.  Dezember  1839,  Schüler  du  Bois- 
Reymonds,  promovierte  1862  in  Berlin,  war  Assistent  von  Helm- 
holtz in  Heidelberg  und  ist  seit  1872  ordentlicher  Professor  der 
Physiologie  in  Halle  a.  S.],  welcher  einen  von  seinem  Lehrer 
du  Bois-Reymond  angeregten  Plan  zur  Untersuchung  des  zeit- 
lichen Verlaufs  der  „negativen  Schwankung"  technisch  ausführte  und 
mit  Hilfe  des  so  entstandenen  „Differentialrheotoms"^)  und 
des  inzwischen  von  Meissner  und  Meyer  st  ein  in  die  Elektro- 
physiologie  eingeführten,  auch  von  du  Bois-Reymond  benutzten 
Spiegelgalvanometers  erkannte,  dass  in  der  Muskel-  wie 
inder  Nervenfasereine  elektromotorische  Veränderung 
(„Negativität"  im  Sinne  des  Zinkpols  im  galvanischen  Elemente)  von 
der  Reizstelle  aus  sich  wellenförmig  fortpflanzt,  und 
zwar  beim  Muskel  mit  gleicher  Geschwindigkeit  wie  die  Kontraktions- 
welle, dieser  vorauseilend,  beim  Nerven  mit  gleicher  Geschwindigkeit 
wie  die  durch  Helmholtz  myographisch  u.  s.  w,  gefundene  Leitungs- 
geschwindigkeit, als  einziger  äusserer  Ausdruck  der  Nerventhätigkeit. 
Diese  Entdeckungen,  sowie  eine  Theorie  der  sog.  Anfangszuckung  und 
der  „Empfindungskreise"  gab  Bernstein  zusammen  heraus  unter 
dem  Titel  „Untersuchungen  über  den  Erregungs Vorgang  im  Nerven- 
und  Muskelsystem",  Heidelberg  1871.  Bedeutend  gefördert  wurden 
die  thatsächlichen  Kenntnisse  von  der  „Erregungs welle"  durch 
die  Arbeiten  über  die  „Aktionsströme"  von  L.  Hermann,^)  dessen 
Gesamtverdienste  bald  gewürdigt  werden  sollen,  sowie  neuestens  durch 
die  Anwendung  des  von  Helmholtz'  Schüler  Lippmann  (jetzt  in 
Paris)  1872  erfundenen  Capillarelektrometers ,  dessen  Bewegungen 
photographisch  zu  registrieren  zuerst  Marey  unternahm,  eine  Technik, 


1)  Pflügers  Archiv,  Bd.  1,  S.  173,  1868. 

2)  Ehenda,  Bd.  16,  18,  24. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      425 

um  welche  sich  J.  Burdon  Sanderson  [geb.  21.  Dez.  1828  in 
Newcastle,  jetzt  Professor  der  Physiologie  in  Oxford]  und  seine  Mit- 
arbeiter Page,FrancisGotch  [Professor  in  Oxford]  und  G.  B  u  r  c  h 
besonders  verdient  gemacht  haben.  ^)  Diese  genaue  Erforschung  des 
elektrischen  Ausdrucks  der  „Erregungswelle",  sowie  die  schon  1863 
von  Matteucci  zur  Erklärung  der  elektrotonischen  Ströme  angezogenen, 
später  von  L.  Hermann  und  anderen  weiter  ausgebildeten  Ver- 
suche an  sog.  Kernleitermodellen  mit  polarisierbarer  Grenzfläche 
haben  neuestens  die  Möglichkeit  näher  gerückt,  die  Erscheinungen 
der  Erregungsleitung  auf  Grund  der  konzentrisch  fibrillären 
Struktur  und  der  physikalisch-chemischen  Eigenschaften  der  erregungs- 
leitenden Gebilde  zu  erklären;-)  hier  ist  auch  Bernsteins  Ver- 
dienst zu  erwähnen,  dass  er  zuerst  die  relative  Unermüdbarkeit 
der  Nervenfasern  nachwies,^)  welche  ausser  anderen  insbesondere 
durch  P.  Bowditch  [Professor  der  Physiologie  an  der  Harvard 
medical  School  in  Boston,  schon  älterer  hochverdienter  amerikanischer 
Physiologe]  bestätigt  und  in  ihrer  Bedeutung  gewürdigt  worden  ist.*) 
Wenn  nun  die  L  e  i  t  u  n  g  der  Erregung  die  ganz  besonders  diiferenzierte 
Funktion  der  Nerven,  Muskelfasern  und  üljerhaupt  fibrillären  Gebilde 
ist,  so  war  die  Reizbarkeit  als  eine  nicht  mehr  im  Ha  11  er  sehen 
Sinne  von  der  Sensibilität  zu  trennende  elementare  Lebenseigenschaft 
jeglichen  Protoplasmas  seit  den  Zeiten  des  fanatischen  Brown  (siehe 
früher)  immer  mehr  anerkannt  worden ;  doch  immer  noch  bot  der  für 
Haller  allein  reizbare  Muskel  mit  der  Trias  seiner  sinnfälligen 
Reizerfolge :  Kontraktion,  elektrische  Veränderung  und 
ErwärmungdasnächstliegendeMaterialzurErgründung 
des  Wesens  der  elementaren  Lebenserscheinungen,  der 
Fundamen  talgesetze  des  cellulären  Stoff-  und  Kraft - 
wechseis.  Hier  die  ersten,  weiteres  Verständnis  anbahnenden 
Schritte  gethan  zu  haben,  ist  das  bedeutende  Verdienst  L.  Her- 
manns. 

Ludimar  Hermann,  geb.  am  21.  Oktober  1838  in  Berlin,  studierte  da- 
selbst und  promovierte  1859,  habilitierte  sich  1865  ebenda  für  Physiologie, 
wurde  1868  als  Ordinarius  nach  Zürich,  1884  desgleichen  als  Nachfolger 
Wittichs  nach  Königsberg  berufen. 

Er  verfasste  1863  einen  Grundriss  der  Physiologie,  icelcher  später  zum  „Lehr- 
buch" timgeivandelt,  zuletzt  1899  in  12.  Auflage  erschienen,  ferner  1874  ein  „Lehr- 
buch der  experimentellen  Toxikologie",  beide  in  Berlin  erschienen,  endlich  ein 
„Praktikum",  Leipzig  1898.  Er  gab  von  1862  ab  mit  Kühne,  v.  Reckling- 
hausen u.  a.  das  „Centralblatt  für  medizinische  Wissenschaften"  heraus,  welches 
1868  an  Rosenthal  und  Senator  überging,  jetzt  von  letzterem  mit  J.  Munk 
und  M.  Bernhardt  geleitet  tcird.  Das  bedeutendste  litterarische  Unternehmen 
Hermanns  ist  aber  sein  noch  zu  würdigendes  grosses  „Handbuch  der  Physiologie'^ 
in  6  Bänden  {Leipzig  1879—1882),  von  icelchem  er  selbst  die  allgemeine  Muskel- 
und  Nervenphysiologie  bearbeitet  Jiat,  ivährend  an  der  Ausarbeitung  der  übrigen  Teile 
zahlreiche,  z.  T.  schon  erwähnte  Forsclier  mitgewirkt  haben. 

Im  Jahre  1867  gab  Hermann  (als  erstes  Heft  seiner  „Unter- 
suchungen zur  Physiologie  der  Muskeln  und  Nerven",  Berlin  1867/68) 
„Untersuchungen  über  den  Stoffwechsel  der  Muskeln, 

^)  Siehe  das  „Journal  of  Physiology",  Bd.  11  und  von  Band  18  ab. 
')  Vgl.  des  Verfassers  Sammelreferat  im  1.  Bande  der  Ztschr.  f.  allg.  Physio- 
logie, 1901. 

»)  Pflügers  Arch.,  Bd.  15,  S.  289,  1877. 
*)  du  Bois'  Arch.,  1890,  S.  505. 


426  .  Heinrich  Boruttau. 

ausgehend  vom  Gaswechsel  derselben"  heraus,  in  welchem, 
ähnlich  wie  ihn  schon  seinerzeit  Spallanzani  konstatiert  hatte, 
der  Gaswechsel  überlebender  Froschmuskeln  untersucht,  mit  Bezug 
auf  sein  Verhalten  im  Ruhezustande  und  im  Tetanus  verglichen  und 
unter  anderem  gefunden  wurde,  dass  ein  Muskel,  welcher  keinen 
auspumpbaren  Sauerstoff  mehr  enthält,  im  Vacuum 
oder  in  einer  Wasserstoffatmosphäre  noch  sich  kontra- 
hieren kann  und  dabei  Kohlensäure  produziert:  hieraus 
schloss  Hermann,  dass  der  dem  Freiwerden  der  Kontrak- 
tionsenergie zu  Grunde  liegende  chemische  Prozess 
keine  einfache  Oxydation  sein  könne,  sondern  ein 
Spaltungsprozess  sein  müsse,  bei  welcher  bereits  vorher  ge- 
bundener Sauerstoff  in  Gestalt  von  Kohlensäure  entweiche:  die  Auf-, 
nähme  des  Sauerstoffs  in  das  Molekül  ist  ein  „assimilato- 
rischer" Vorgang,  welcher  zur  Bildung  einer  leicht,  unter  Frei- 
werden von  Energie  wie  ein  Sprengstoff  zerfallenden  „inogenen 
Substanz"  führt,  deren  Spaltung  oder  „Dissimilation"  der 
Muskelkontraktion  zu  Grunde  liegt.  Wie  Hermann  und 
später  Hering  diese  Anschauung  von  den  zwei  Phasen  des  Stofi- 
und  Kraftwechsels,  auf  die  organisch-elektrischen  Erscheinungen,  die 
Sinnesphj^siologie  u.  s.  w.  spezieller  angewendet  haben,  wird  weiter 
unten  erörtert  werden;  hier  sei  nur  erwähnt,  dass  Hermann  fast 
alle  Gebiete  der  Physiologie  durch  ausgezeichnete,  vielfach  gemein- 
schaftlich mit  Schülern,  wie  dem  zu  früh  verstorbenen  Balthasar 
Luchsin ger  [1849 — 1886,  Professor  in  BernJ  ausgeführte  Experi- 
mental arbeiten  bereichert  hat,  deren  viele  noch  werden  erwähnt  werden. 
Zu  ähnlichen  Schlüssen  wie  Hermann  führten  analoge 
Versuche,  in  denen  indessen  ein  ganzer  Frosch  bei  niedriger  Tempe- 
ratur in  einer  reinen  Wasserstoffatmosphäre  lebte  und  Kohlensäure 
produzierte,  einen  Forscher,  welcher  gleichfalls  auf  dem  Gebiete  der 
Elektrophysiologie  —  durch  die  schon  erwähnten  grundlegenden  Unter- 
suchungen über  den  Elektrotonus  und  das  Zuckungsgesetz  —  sich  seine 
wissenschaftlichen  Sporen  verdient  hatte,  nämlich  E d u a r d  Pflüger. 

Eduard  Friedrich  Wilhelm  Pflüger,  geb.  am  7.  Juni  1829  in  Hanau, 
promovierte  1855  in  Berlin,  habilitierte  sich  ebenda  1858,  und  wurde  1859 
als  ordentlicher  Professor  der  Physiologie  nach  Bonn  berufen,  wo  er  1878 
ein  neues  physiologisches  Institut  errichtete  und  noch  jetzt  wirkt. 

Von  selbständig  erschienenen  Schriften  sind  ausser  der  schon  erwähnten  Physio- 
logie des  Elektrotonus  noch  anzuführen:  „lieber  die  Eierstöcke  der  Säugetiere  tmd 
des  Menschen",  Leipz.  1863,  —  hier  die  „Pflüg  er  sehen  Schläuche"  — ;  „Unter- 
suchungen aus  dem  physiolog.  Labor,  in  Bonn,  Berlin  1865,  u.  a.  m. 

Nachdem  Pflüger  bereits  durch  seine  schon  früher  angedeuteten, 
unten  nochmals  zu  erwähnenden  Arbeiten  über  die  Gase  des  Blutes 
sowie  über  Ort  und  Gesetze  der  Oxydationsprozesse  im 
Körper  in  grundlegender  Weise  vorgearbeitet  hatte,  Hess  er  1875 
im  10.  Bande  des  von  ihm  1868  gegründeten,  bis  heute  auf  über 
90  Bände  angewachsenen  „Archivs  für  die  gesamte  Physio- 
logie des  Menschen  und  der  Tiere"  seine  berühmte  Abhand- 
lung „über  die  physiologische  Verbrennung  in  den 
lebendigenOrganismen"  (daselbst  S.  251)  erscheinen,  in  welcher 
aus  dem  schon  erwähnten  Versuchsergebnisse,  sowie  zahlreichen 
anderen   sinnreichen  Experimenten   und   Betrachtungen   der  Schluss 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      427 

gezogen  wird,  dass  die  Reizbarkeit  auf  der  „intramole- 
kularen" Bindung  des  Sauerstoffes  in  einem  höchst 
labilen  Molekül  beruht,  aus  welcher  er  beim  Zerfall  desselben 
in  die  viel  stabilere  Bindung  an  Kohlenstoff  und  Wasserstoff  über- 
geht und  als  Kohlensäure  und  Wasser  austritt;  durch  erneute  intra- 
molekulare Bindung  neuen  Sauerstoffs  ist  die  Reizbarkeit  wieder- 
herstellbar resp.  das  „lebendige  Eiweissmolekül"  regenerier- 
bar, welches  nach  Pflügers  Annahme  sich  von  dem  „toten  Ei- 
weiss"  dadurch  unterscheiden  sollte,  dass  der  Kohlenstoff  mit  dem 
Stickstoff  zum  Cyanradikal  locker  verbunden,  und  nicht  in  Amidform 
vorhanden  sei,  ferner  aber  durch  den  intramolekularen  Sauerstoff:  „Der 
Lebensprozess  ist  die  intramolekulare  Wärme  höchst 
zersetzbarer  und  durch  Dissociation,  wesentlich  unter 
Bildung  von  Kohlensäure,  Wasser  und  amidartigen 
Körpern,  sich  zersetzender,  in  der  Zellsubstanz  ge- 
bildeter Eiweissmoleküle,  welche  sich  fortwährend  re- 
generieren und  auch  durch  Polymerisation  wachsen". 
Die  assimilatorische  Aufspeicherung  des  Sauerstoffs  erhellte  auch  aus 
den  vergleichenden  Gasanalysen  des  zuströmenden  Arterienbluts  und 
abströmenden  Yenenbluts,  welche  Ludwig  und  Czelkow  (s.  früher) 
an  dem  —  das  einemal  ruhenden,  das  anderemal  arbeitenden  — 
Muskel  des  lebenden  Tieres  ausgeführt  hatten,  mit  dem  Ergebnisse, 
dass  während  der  Ruhe  weit  mehr  Sauerstoff  aufgenommen  wird,  als 
der  gleichzeitig  abgegebenen  Kohlensäuremenge   entspricht,   der  re- 

CO. 
spiratorische  Quotient  des  Muskels  -^-  also  sehr  klein  ist,  und  dass 

während  der  Arbeit  umgekehrt  mehr  Kohlensäure  abgegeben  wird, 
als  dem  gleichzeitig  aufgenommenen  Sauerstoff  entspricht,  der  re- 
spiratorische Quotient  des  Muskels  also  grösser  als  1  wird.  Diese 
Thatsache  wurde  weiterhin  bestätigt  durch  die  analogen  Versuche 
von  Ludwig  und  Schmidt  (s.  früher),  sowie  unter  Ludwigs 
Leitung  von  M.  v.  Frey  [geb.  1852,  jetzt  ord.  Professor  der  Physio- 
logie in  Würzburg  als  Nachfolger  F  i  c  k  s]  1885  ^)  an  ausgeschnittenen 
und  künstlich  durchbluteten  Muskeln,  sowie  diejenigen  von  Chauveau 
und  Kaufmann  1886/87,  =^)  welche  letztere  (am  Masseter  des  lebenden 
Pferdes)  auch  den  Zuckergehalt  des  Blutes  bestimmten  und  eine 
Zuckeraufspeicherung  während  der  Ruhe  behaupteten.^)  Dass  auch 
verbrennliche  Reservestoöe  „intramolekular"  assimiliert  werden  können, 
darauf  wiesen  die  chemischen  Untersuchungen  zahlreicher  Forscher 
(s.  später)  über  die  zusammengesetzten  Eiweisskörper,  die  von  Hoppe- 
Seyler  so  genannten  „Proteide"  hin.  Die  auf  diese  Weise  ge- 
schaffenen Anschauungen  über  Chemismus  des  lebenden 
„Protoplasmas"*)  wurden  auf  Grund  interessanter  Arbeiten  über 
die  Affinität  gewisser  Farbstoffe  zu  verschiedenen  Organen  in  ver- 
schiedenem Zustande  derselben  besonders  scharf  ausgesprochen  von 
Paul  Ehrlich  [geb.  1854,  1889  Privatdozent  f.  innere  Medizin,  1890 
Mitarbeiter  Kochs,  1891  Extraordinarius,  ist  seit  1896  Direktor  des 
Seruminstituts,  früher  in  Steglitz,  jetzt  in  Frankfurt  a.  M.]  in  seiner 

»)  du  Bois'  Archiv,  1885,  S.  519. 
*)  Comptes  Eendus,  T.  103  u.  104. 

*)  Ihre  Ano^aben   sind    neuerdings  von  Seegen   als  wenig  genau  hingestellt 
worden. 

*)  Ursprünglich  rein  morphologische  Bezeichnung!  (Mohl  1844.) 


428  Heinrich  Boruttau. 

Schrift  „Das  Sauerstoffbedürfnis  des  Organismus",  Berlin 
1885:  Das  lebendige  Eiweissmolekül  —  neuestens  von  Verworn 
(s.  später)  als  „Biogen"  bezeichnet^)  —  besteht  aus  einem  stick- 
stoifhaltigen  „Leistungskern"  mit  verbrennlichen  Seitenketten  und 
locker  gebundenem  „intramolekularen"  Sauerstoff,  welcher  durch  die 
„Atmung"  aufgenommen  wurde.  Der  Zerfall  desselben  (Dissimilation) 
erfolgt  ähnlich  wie  derjenige  eines  Nitro-Sprengstoffmoleküls  (Nitro- 
glycerin, Pikrinsäure)  in  der  Weise,  dass  der  Sauerstoff  die  lockere 
Bindung  an  den  stickstoffhaltigen  Leistungskern  aufgiebt  und  in  eine 
festere  tritt,  indem  er  die  „verbrennlichen  Seitenketten"  oxydiert.  Die 
Oxydationsprodukte,  vornehmlich  Kohlensäure  und  Wasser,  werden 
ausgestossen,  und  der  Leistungskern  kann  durch  Aufnahme  neuer  ver- 
brennlicher  Seitenketten  aus  der  Nahrung  und  neuen  Sauerstoffs 
(Assimilation)  regeneriert  werden. 

Wenn  sich  so  die  modernen  Anschauungen  über  den  Lebens- 
chemismus im  allgemeinen  von  Untersuchungen  über  den  Gaswechsel 
des  Muskels  herleiten,  so  wurden  die  letzteren  auch  fruchtbar  für  die 
Weiterentwickelung  der  Muskelphysik  selbst,  zunächst 
der  Elektrophysiologie:  in  Fortsetzung  seiner  Untersuchungen 
zur  Physiologie  der  Muskeln  und  Nerven  wies  Ludimar  Hermann 
1867  die  Stromlosigkeit  unverletzter  Muskeln  nach  und  ersetzte  die 
als  immer  weniger  haltbar  sich  erweisende  „ Molekular theorie"  du 
Bois  -  Reymonds  durch  seine  „Alterationtheorie"  (1868),, 
welche  die  „negativ"  elektromotorische  Wirksamkeit  des  Querschnitts 
wie  auch  den  (von  ihm  und  Schiff  so  genannten)  „Aktions ström" 
auf  die  verstärkte  Dissimilation  absterbender,  resp. 
thätiger  Muskel-  und  Nervenstellen  gegenüber  den  leben- 
den resp.  ruhenden  zurückführt.  Diese  Vorstellung  ist  dann  von 
Hering  (s.  später),  einer  von  Hermann  selbst  wieder  fallen  ge- 
lassenen Erklärung  des  Elektrotonus  entsprechend,  um  eine  „positiv" 
elektromotorische  Wirksamkeit  der  gesteigerten  Assimilation  erweitert 
worden,  und  es  ist  in  der  Folge  die  „Alterationstheorie"  von  der 
Mehrzahl  der  Elektrophysiologen  angenommen  worden,  so  von  Wilh. 
Biedermann  [geb.  1854,  jetzt  ord.  Professor  der  Physiologie  in  Jena], 
welcher  z.  T.  zusammen  mit  Hering  das  in  Rede  stehende  Gebiet  durch 
viele  wertvolle  Arbeiten,  speziell  über  Haut-  und  Sekretions- 
ströme bereichert  und  unsere  Kenntnisse  auf  demselben  in  seiner  vor- 
treiflichen  „Elektrophysiologie",  Jena  1895,  zusammengefasst 
hat.  Von  modernen  ausländischen  Forschern  auf  diesem  Gebiete  sei 
hier  A.  D.  Wallers,  des  Sohnes  des  älteren  Augustus  Waller 
(s.  oben)  gedacht,  welcher  durch  die  Erkenntnis  der  Gesetze  des 
Elektrotonus  am  Lebenden  („virtuelle  Elektroden")  zusammen 
mit  de  Watteville-)  der  Elektrodiagnostik  eine  solidere  Grund- 
lage gegeben,  sowie  weiterhin  durch  Untersuchungen  über  die  Aktions- 
ströme des  Herzens,  sowie  der  Wirkung  der  Kohlensäure  und  Narkotika 
auf  den  Nerven  wichtige  Fortschritte  angebahnt  hat,  —  ferner  der 
Russen  Wedensky  (in  Petersburg)  und  Werigo  (ebenda).  Speziell 
der  Untersuchung  der  sekundären  Zuckung  und  den  Gesetzen 
des  Muskelaktionsstroms  sind  wichtige  Arbeiten  Kühnes 
gewidmet. 

')  In  dessen  ., allgemeiner  Physiologie"  (s.  später);  siehe  auch:  „Die  Biogen- 
hypothese", Jena  1903. 

^)  „On  the  influence"  etc.,  Philosoph.  Transact.,  London  1882. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       429 

Willy  Kühne,  geboren  am  28.  März  1837  in  Hamburg,  studierte  in 
G-öttingen,  Jena,  Berlin,  Paris  und  "Wien,  in  der  Physiologie  Schüler  von 
Gl.  Bernard,  Ludwig,  Brücke  und  du  Bois-Reymond,  promovierte  als 
Dr.  phil.  1856,  wurde  1862  Dr.  med.  h.  c,  1868  ord.  Professor  der  Physio- 
logie in  Amsterdam,  1871  desgleichen  in  Heidelberg,  woselbst  er  bis  zu 
seinem  am  11.  Juni  1900  erfolgten  Tode  wirkte. 

Schriften  ausser  der  schon  erirähnten  physiolog.  Chemie:  „Myologische  Unter- 
suchungen", Leipz.  1860;  „Untersuchungen  über  das  Protoplasma  und  die  Contrac- 
tilität'\  ebenda  1864;  vor  allem  die  „Untersuchungen  aus  dem  physiolog.  Institut  zu 
Heidelberg",  in  4  Bänden  erschienen  1877—1882,  endlich  die  Bearbeitung  der  Physio- 
logie der  Netzhaut  in  Hermanns  Handbuch;  ausserdem  zahlreiche  Ablmndlungen  in 
Archiven  und  der  von  ihm  mit  herausgegebenen  Zeitschrift  für  Biologie  {s.  oben). 

Schon  vorher  hatte  Kühne  in  seiner  Schrift  „über  die  peri- 
pherischen Endorgane  der  motorischen  Nerven"  (Leipzig 
1862)  deren  Struktur  näher  untersucht  und  die  „elektrische  Ent- 
ladungshypothese" für  ihre  Wirkungsweise  aufgestellt,  welche 
neuestens,  trotz  gewisser,  z.  T.  in  der  1882  von  Bernstein  ent- 
deckten spezifischen  Erregungsdauer  derselben  liegenden  Bedenken, 
wieder  an  Wahrscheinlichkeit  gewonnen  hat  durch  die  schon  ange- 
deuteten neuen  Ergebnisse  über  die  Rhythmik  der  Entladungs- 
schläge der  Zitterfische  [Untersuchungen  von  Marey,  Schön- 
lein, Gotch  mit  Rheotom,  Telephon  und  CapillarelektrometerJ. 

Die  Kenntnis  der  mechanischen  Eigenschaften  des 
Muskels  wurde  besonders  gefördert  durch  die  Bemühungen  Ficks 
(s.  früher)  und  seiner  Schule:  Gad  [Johannes,  geb.  am  30.  Juni 
1842  in  Posen,  erst  Offizier,  studierte  dann  Medizin,  assistierte  du 
Bois-Reymond,  dann  Fick,  wurde  1885  Leiter  der  experimentell- 
physiologischen Abteilung  des  Berliner  Instituts,  1895  ordentlicher 
Professor  der  Physiologie  an  der  deutschen  Universität  in  Prag], 
welcher  mit  Hey  maus  (J.  F.,  jetzt  Professor  der  Pharmakologie  in 
Gent)  zusammen  eine  vcn  der  französischen  Akagemie  preisgeki'önte 
Arbeit  über  die  Einwirkung  der  Temperatur  auf  den  Contraktions- 
ablauf  publizierte,')  Fritz  Schenck  [geb.  1862,  Assistent  erst 
Pflügers  dann  Ficks,  seit  1901  ordentlicher  Professor  in  Marburg) 
u.  a.,  sowie  durch  Schüler  Ludw^igs,  wie  M.  v.  Frey  (siehe  oben), 
und  Joh.  V.  Kries  [geb.  1853.  Schüler  von  Helmholtz  und 
Ludwig,  1880  in  Leipzig  habilitiert,  seit  1884  Ordinarius  in  Frei- 
burg i.  B.],  welche  den  Einfluss  der  Belastung,  Unterstützung  u.  s.  w., 
sowie  der  Reizstärke  und  Reizfrequenz  auf  die  Muskelzusammenziehung 
mit  immer  mehr  verfeinerten  Methoden  untersuchten.  Gleichfalls 
Ludwigs  Schüler  auf  diesem  Gebiet  ist  Robert  Tiger stedt 
[geb.  1853  in  Helsingfors,  daselbst  1881  promoviert,  arbeitete  1881 
und  1883/84  in  Leipzig,  1884  stellvertretender  und  1886  ordentlicher 
Professor  der  Physiologie  am  Carolin,  medico-chiurg.  Institut  in  Stock- 
holm, 1900  desgleichen  an  der  Universität  Helsingfors],  welcher  bereits 
in  seiner  Heimat  mit  einer  vortrefi'lichen  Arbeit  über  mechanische 
Nerven reizung  (Helsingfors  1880)  promovierte  und  namentlich  das 
Latenzstadium  der  Muskelzuckung  bearbeitete ;  ^)  von  seinen  be- 
deutenden Verdiensten  auf  anderen  Gebieten  wird  später  noch  die 
Rede  sein.     Noch   ein  anderer  nordischer  Forscher,  Magnus  Blix 


^)  du  Bois'  Arch.,  1890,  Suppl.,  S.  59. 
«)  du  Bois'  Archiv,  1885,  Suppl.,  S.  111. 


430  Heinrich  Boruttau. 

(jetzt  Professor  in  Lund)  erwarb  sich  bedeutende  Verdienste  ins- 
besondere um  die  Lehre  von  der  Muskelelastizität  und,  wie 
schon  erwähnt,  von  der  Wärraebildung  des  thätigen  Muskels:  hier 
wäre  nachzutragen,  dass  die  letztere  nach  H  e  1  m  h  o  1 1  z'  grundlegender 
Arbeit  und  vor  dem  Eintreten  F  i  c  k  s  in  dieses  Gebiet  einer  vorzüg- 
lichen, viele  Hauptthatsachen  enthüllenden  Bearbeitung  noch  in  der 
klassischen  Periode  unterworfen  wurde ')  seitens  des  grossen  Physio- 
logen Heidenhain,  dessen  Pionierarbeit  zur  modernen  Entwicklung 
eines  anderen  Gebietes  bald  gewürdigt  werden  wird. 

Von  des  Engländers  Bowman,  sowie  Brücke s  Verdiensten 
um  die  mikroskopische  Untersuchung  des  quergestreif- 
ten Muskels  ist  oben  schon  die  Rede  gewesen;  einen  wichtigen 
Fortschritt  insbesondere  für  das  theoretische  Verständnis  der  Muskel- 
aktion bedeutete  der  in  Engelmanns  bedeutenden  Untersuchungen 
über  diesen  Gegenstand-)  erbrachte  Nachweis,  dass  die  doppel- 
brechende Substanz  bei  der  Kontraktion  an  Volumen  zunimmt  auf 
Kosten  der  einfachbrechenden,  was  er  als  Quellung  deutete,  und  wo- 
rauf er  eine  „Quellungstheorie"  der  Muskelkraft  gründete,^)  in 
welcher  gegenüber  Fick  (s.  oben)  der  mögliche  Charakter  des  Muskels 
als  thermodynamische  Maschine  aufrecht  erhalten  wird. 

Theodor  Wilhelm  Engelmann,  geb.  am  14.  November  1843  in  Leipzig, 
studierte  ausser  dortselbst  noch  in  Jena,  Heidelberg  und  Göttingen,  promo- 
vierte 1867  in  Leipzig  mit  einer  Dissertation  „über  die  Hornhaut  des  Auges", 
ging  dann  als  Assistent  von  Donders  nach  Utrecht,  wurde  nach  dessen  Tode 
sein  Nachfolger  (seit  1871  Professor)  und  1897  Nachfolger  du  Bois-Rey- 
monds  in  Berlin. 

Selbständige  Schriften  ausser  den  im  Texte  genannten:  „Zur  Naturgeschichte 
der  Infusiotistiere''' ,  Leipzig  1862;  „Tafeln  und  Tabellen  zur  Darstellung  der  Er- 
gebnisse spektroskopischer  und  spektrophotometrischer  Beobachtungen"' ,  Leipz.  1897. 
Beteiligung  mit  Donders  und  später  selbständige  Herausgabe  der  „Onderzoekingen 
gedaan  in  hei  physiologisch  laboratorium  der  Utrechtsche  Iloegeschool" ,  Utrecht  seit 
1872,  viele  Bände. 

Indem  Engelmanns  Beiträge  zur  Herz-  und  Sinnesphysiologie 
noch  später  erwähnt  werden  sollen,  sei  hier  nur  seiner  elektro- 
physiologischen  Arbeiten  (Begrenzung  der  „Demarkation"  am 
Ran  vier  sehen  Schnürring,  Hautströme,  rhythmisches  Polyrheotom 
u.  s.  w.),  besonders  aber  sein  Verdienst  um  die  Protoplasma-  und 
Flimmerbewegung  erwähnt,  welche  letztere  er  auch  für  Her- 
manns Handbuch  bearbeitet  hat. 

Nur  angedeutet  werden  können  hier  Einzelforschungen  am  Muskel 
z.  B.  über  die  Ermüdung  zuerst  von  R  a  n  k  e,  dann  von  Hugo  Krön - 
ecker  [geb.  1839,  Schüler  von  Traube,  Kühne  und  Ludwig, 
1872  in  Leipzig  habilitiert,  1877  Vorsteher  der  speziell-physiologischen 
Abteilung  des  Berliner  Instituts,  seit  1885  Ordinarius  f  Physiologie 
in  Bern]  in  seiner  Berliner  Dissertation  1863  und  einer  grösseren 
Schrift  1871,*)  später,  wie  schon  erwähnt,  von  Funke,  neuestens  von 
Rollett   bearbeitet,   in  deren  Theorie  dann   die  Milchsäurebüdung 


^)  Mechanische  Arbeit,   "Wärmeentwicklung  und   Stoffumsatz   bei  der  Muskel- 
thätigkeit,  Leipzig  1864. 

■')  Pflügers  Arch.,  Bd.  7,  S.  174;  Bd.  ll,  S.  432;  Bd.  18,  S.  1. 
^)  Ueber  den  Ursprung  der  Muskelkraft,  Leipz.  1892. 
*)  Ber.  der  Leipz.  Akad.,  1871,  S.  718. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      431 

(Preyer  u.  a.)  eine  ebenso  vorüberg-ehende  Rolle  gespielt  hat,  wie 
die  Gerinnung  (durch  Vergleich  mit  der  Starre,  Hermann)  in  der  Kon- 
traktionstheorie ;  ebenso  ephemer  waren  in  der  Nervenphysik  manche 
Arbeiten  von  Fleischl  [Ernst  Fl.  v.  Marxow,  geb.  1846,  Assistent 
Brück  es,  1880  Extraordinarius,  gestorben  1891;  heuristisch  wert- 
voll sein  ..Rh  eonom*']  und  von  Grünhagen  [Alfred,  geb.  1842,  von 
1872 — 1894  Extraordinarius  für  medizinische  Physik  in  Königsberg], 
wogegen  als  wertvolle  Beiträge  zu  diesem  Gebiete  die  Arbeiten 
Paul  Grützners ^)  (s,  später)  zu  erwähnen  sind,  welche  neuestens, 
ebenso  wie  viele  Aeusserungen  Herings,  sich  übrigens  gegen  die 
hergebrachte  Lehre  von  der  Identität  des  Thätigkeits- 
vorganges  in  allen  Arten  von  Nervenfasern  richten. 

Die  spezielleBewegungslehre  erfuhr,  wie  schon  angedeutet, 
nächst  den  klassischen  Arbeiten  der  Gebrüder  Weber,  sowie  von 
Adolf  Fick  und  Herman  von  Meyer  [geb.  1815,  von  1856 — 1889 
ordentlicher  Professor  der  Anatomie  in  Zürich,  starb  1892]  —  „Statik 
und  Mechanik  des  menschlichen  Knochengerüstes*'  und  andere  wich- 
tige Arbeiten  —  besondere  Förderung  durch  die  Ausbildung  der 
serienweisen  Momentphotographie;  diese  von  dem  Ameri- 
kaner Muybridge  begründete,  in  Deutschland  besonders  durch 
Ottomar  Anschütz  aus  Lissa  gepflegte  Technik  wurde  von  Marey 
(s.  früher)  und  seinem  Mitarbeiter  Demeny  derart  ausgebildet,  dass 
die  Stellung  der  wichtigsten  Punkte  des  Körpers  in  vielen  rasch  auf- 
einanderfolgenden Phasen  auf  ein  und  dieselbe  Platte  gebracht  und 
so  die  Bahnkurve  jedes  Punktes  im  Raum  ermittelt  und  aus  ihr 
mittelbar  der  Arbeitsaufwand  der  Muskeln  erschlossen  werden  kann: 
in  allerexaktester  Weise  ist  neuestens  diese  Art  Untersuchung  der 
Dynamik  der  menschlichen  Lokomotion  unternommen  worden  -)  durch 
den  verstorbenen  Leipziger  Anatomen  Ludwig  Braune  [1831 — 1892] 
gemeinschaftlich  mit  Otto  Fischer  [geb.  1861,  ursprünglich  Mathe- 
mathiklehrer,  jetzt  Extraordinarius  für  medizinische  Physik  in  Leipzig], 
welcher  diese  Untersuchungen  zur  Zeit  allein  fortsetzt. 

Während,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Erforschung  der  Muskel- 
chemie die  allgemeinen  Anschauungen  über  den  Chemismus  der  or- 
ganisierten Materie  sehr  gefördert  hat,  ist  der  Gesamtstoffwechsel 
gerade  in  Hinsicht  auf  die  Frage  nach  der  Quelle  der  Muskel- 
kraft wieder  zum  Tummelplatz  der  Kontroversen  geworden, 
indem  Pflüger  in  einer  Reihe  seit  1892  erschienener  Arbeiten^) 
Fehler  in  den  schon  erwähnten  Untersuchungen  von  Pettenkofer 
und  Yoit  nachzuweisen  sich  bemüht  hat  und  deren  Lehre  von  der 
eiweisssparenden  Wirkung  der  Fette  und  Kohlenhydrate  angegriffen, 
vielmehr  wieder  das  Eiweiss  als  die  einzige  „Quelle  der  Muskelkraft" 
hingestellt  hat,  nachdem  sein  Schüler  Argutinsky  eine  bedeutende 
Vermehrung  des  Stickstoffumsatzes  bei  der  Arbeit,  er  selbst  eine  be- 
deutende Steigerung  der  Arbeitsfähigkeit  bei  reichlicher  Eiweissfntte- 
rung  an  Hunden  konstatiert  hatte.  Ferner  leugnet  Pflüger,  wohl 
mit  Recht,  die  Fettbildung  aus  Eiweiss.  Wenn  nun  auch  so  die  Frage 
aufgeworfen  ist,  welcher  Nährstoff  bei  gesteigertem  Umsatz  vom  Orga- 
nismus bevorzugt  wird,  —  so  kann  doch  die  Thatsache,  dass  es  der 


^)  Meist  in  Pflügers  Archiv  für  die  gesamte  Physiologie. 
*)  Abhandlungen  der  Leipz.  Akademie,  vom  20.  Bande  ab. 
*)  Sein  Archiv  von  Bd.  50  ab. 


432  Heinrich  Boruttau. 

Kohlenstoff  und  Wasserstoff  aller  drei  Hauptklassen  von  Nährstoffen 
ist,  dessen  Verbrennung  die  tierische  Energieäusserung  bedingt,  um 
so  weniger  geleugnet  werden,  seitdem  MaxRubner  [geb.  am  2.  Juni 
1854  in  München,  Schüler  Ludwigs  und  "Voits,  1883  in  München 
für  Physiologie  habilitiert,  1885  Extraordinarius  und  1887  Ordinarius 
für  Hygiene  in  Marburg,  1891  desgleichen  als  Nachfolger  R.  Kochs 
in  Berlin]  in  seinen  vorzüglichen  Arbeiten  „lieber  die  Verbrennungs- 
werte der  organischen  Nahrungsstoffe 'V)  „Untersuchungen  kalori- 
metrischen Inhalts",  „Ueber  isodyname  Mengen  Ei  weiss  und  Fett", 
„Biologische  Gesetze",  „Die  Quelle  der  tierischen  Wärme",  und  anderen, 
meist  in  der  Zeitschrift  für  Biologie,  neuerdings  auch  im  Archiv  für 
Hygiene  erfolgten  Veröffentlichungen  den  Nachweis  geliefert  hat, 
dass  Eiweiss,  Fett  und  Kohlenhydrat  sich  nach  Mass- 
gabe ihrer  Verbrennungswerte,  —  in  „isodynamen" 
Mengen  —  gegenseitig  ersetzen  können:  nach  der  allge- 
meinen Anschauung,  wofern  nur  das  „Erhaltungsei weiss" 
gereicht  wird,  dessen  Menge  sich  freilich  als  in  praxi  oft  genug 
weit  niedriger  als  die  Voitschen  118  Gramm  inzwischen  erwiesen 
hat.  Es  gelang  Rubner,  durch  Verbesserung  der  kalorimetrischen 
Methodik",  der  „Stoffbilanz"  entsprechend,  eine  den  technischen 
Schwierigkeiten  entsprechend  genau  stimmende  „Energiebilanz" 
beim  Tier  zu  erhalten,  ein  Gebiet,  welches  auch  J.  Rosenthal  (s. 
später)  in  seinen  neuesten  Arbeiten  mit  Erfolg  betreten  hat,-)  während 
die  kalorimetrischen  Arbeiten  der  Franzosen  (Riebet,  d'A  r  s  o  n  v  a  1 , 
Laulanie,  Lefevre)  von  dem  Vorwurf  der  gar  zu  geringen  Ge- 
nauigkeit nicht  freizusprechen  sind.  Was  die  Wärmeregulierung 
betrifft,  so  wurden  die  schon  bekannten  Beobachtungen  über  die 
Steigerung  des  Gaswechsels  in  der  Kälte  und  Herab- 
setzung desselben  in  der  Wärme  durch  die  vortreff- 
lichen Versuche  von  Pflüger '^j  mit  Röhr  ig,  Colasanti, 
Finkler  und  Zuntz,  sowie  seitens  zahlreicher  anderer  üntersucher 
bestätigt;  die  von  dieser  „chemischen  Regulierung"  zu  unterscheidende 
„physikalische  Regulierung"  durch  die  reflektorische  Verän- 
derung der  Blutfülle  der  Haut,  welche,  wie  wir  sehen,  bereits  Claude 
Bernard,  der  Entdecker  der  Gefässnerven,  erkannte,  aber  nicht  ge- 
nügend von  jener  anderen  trennte,  wurde  von  zahlreichen  anderen 
Forschern  näher  untersucht,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  ihre  Ab- 
hängigkeit von  den  einzelnen  Abschnitten  desCentral- 
nervensystems;  hierhergehörige  speziell  auch  die  Pathologie  der 
Wärmeregulierung  (Fieber)  betreffende  Verdienste  erwarben  sich  die 
Kliniker  Lieber meister  [Karl,  1838 — 1902,  zuletzt  Professor  in  Tü- 
bingen; „Handbuch  der  Pathologie  und  Therapie  des  Fiebers",  Leipz. 
1875J  und  Senator  [Hermann,  geb.  1834,  Schüler  Job.  Müllers, 
seit  1875  Extraordinarius  in  Berlin ;  „Untersuchungen  über  den  fieber- 
haften Prozess",  Berlin  1873] ;  ferner  Schreiber,  Riebet  [Charles, 
geb.  am  26.  August  1850  in  Paris,  seit  1887  Professor  der  Physio- 
logie an  der  dortigen  medizinischen  Fakultät:  „La  chaleur  animale", 
Paris  1889;  wegen  sonstiger  Werke  siehe  später],  endlich  in  Zuntz' 
Berliner  Laboratorium  (s.  u.)  Aronsohn  und  Sachs.*)    Die  Mög- 

1)  Ztschr.  f.  Biol.,  Bd.  19,  S.  313. 

*)  Du  Bois'  Archiv,  1889,  S.  1 ;  Monatsberichte  der  Berl.  Akademie,  1892,  S.  363. 

»)  Pflügers  Arch.,  Bd.  4,  S.  57,  1871;  Bd.  12,  S.  282,  1877  u.  a.  m. 

*)  Sog.  Wärmestich,  Pflügers  Arch.,  Bd.  37,  S.  232,  1885. 


Geschichte  der  Phj'siologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      433 

lichkeit  ,.künstlicher  Kaltblütigmachung"  von  Warmblütern, 
welche  seit  Bernards  Versuchen  mit  Eückenmarkdurchschneidung 
und  tiefer  Narkose  viel  diskutiert  wurde,  erweckte  auch  neues  In- 
teresse für  die  Herabsetzung  des  Stotf-  und  Kraftwechsels  der 
Winter  schlafenden  Tiere,  deren  Funktionen  besonders  von  Va- 
lentin, Marey  u.  a.  studiert  worden  waren,  Dinge,  welche  neuer- 
lich der  französische  Zoologe  EaphaelDubois  (Professor  in  Lyon ) 
in  einer  Monographie  über  das  Murmeltier  (Paris  1895)  einer  vSammel- 
bearbeitung  unterworfen  hat. 

Nicht  nur  wichtige  theoretische  Aufklärungen  über  den  tierischen 
Stolf-  und  Kraftwechsel,  sondern  auch  bedeutungsvolle  Anwen- 
dungen auf  das  praktische  Leben  haben  die  Bestrebungen 
erreicht,  die  Stoifwechsel-,  speziell  Gaswechseluntersuchung  mit  der 
Kalorimetrie  oder  aber  mit  der  Messung  der  geleisteten  mechanischen 
Arbeit  zu  kombinieren,  während  die  Verbindung  dieser  beiden  letzt- 
genannten Messungsarten,  welche  nach  Hirns  verunglückten  Be- 
strebungen (Paris  1858  u.  1873),  z.  B.  mit  Stoffwechseluntersuchungen 
kombiniert,  neuestens  Chauveau  wieder  aufgenommen  hat,  nicht 
mehr  zu  ergeben  scheint,  als  was  wir  aus  den  schon  gewürdigten  myo- 
thermischen  Untersuchungen  von  Heidenhain,  Fick  und  seiner 
Schule  schon  wissen.  Das  „Respirationskalorimeter"  zur  Voll- 
kommenheit zu  bringen,  ist  neuestens  Rosenthal  (s.  unten)  emsig 
bemüht,  während  die  Verbindung  der  Respirations-  und  der 
A  r  b  e  i  t  s  m  e  s  s  u  n  g  glänzende  Resultate  ergeben  hat  in  den  Händen 
von  Zuntz  und  seinen  Schülern. 

Nathan  Zuntz  ist  geboren  am  6.  Oktober  1847  in  Bonn,  promovierte 
dort  1868  mit  der  Dissertation  ^.Beiträge  zur  Physiologie  des  Blutes",  war 
dann  Assistent  Pflügers,  Privatdozent,  Extraordinarius  und  Prosektor  da- 
selbst, ist  seit  1881  Prof.  der  Physiologie  und  Direktor  des  tierphysiolog. 
Instituts  der  landwirtschaftlichen  Hochschule   in  Berlin. 

Zuntz  hat  das  Kapitel  „Blutgase  und  respiratorischer  Gaswechsel"  in  Hermanns 
Handbuch  (s.  oben)  bearbeitet;  wegen  sonstiger  wichtiger  Schriften  s.  den  Text. 

Indem  Zuntz  in  dem  ihm  unterstellten  tierphysiologischen 
Laboratorium  der  Berliner  landwirtschaftlichen  Hochschule  muster- 
hafte Einrichtungen  für  Respirations  versuche  und  Arbeitsmessungen 
(Tretbahnen  u.  s.  w.)  an  Tieren,  speziell  an  dem  wirtschaftlich  und 
militärisch  so  wichtigen  Pferde  schuf,  gelangte  er  in  langjährigen 
Arbeiten  zusammen  mit  C.  Lehmann  und  0.  H a g e m a n n  zu  wich- 
tigen Ergebnissen  betreffend  den  Stoffumsatz,  welcher  einer  bestimmten 
Arbeitsleistung  dieses  Tieres  unter  den  verschiedensten  Bedingungen 
entspricht,  Ergebnisse,  welche  als  „Untersuchungen  über  den  Stoff- 
wechsel des  Pferdes  bei  der  Ruhe  und  Arbeit"  in  den  landwirtschait- 
lichen  Jahrbüchern  von  1889 — 1898,  z.  T.  auch  monographisch  er- 
schienen sind.  Ihnen  entsprachen  analoge  Untersuchungen  am  Hunde 
und  an  anderen  Tieren,  insbesondere  aber  auch  am  Menschen, 
welche  weiterhin  von  Zuntz'  Schüler  G.  Katzenstein ^)  fortgesetzt 
und  nachdem  gewisse  Konstanten  —  „kalorischer  AVert"  des  ver- 
brauchten Sauerstoffs ;  Umsatz  für  1  m  Geh-  oder  Steigarbeit  u.  s.  w.  — 
festgelegt  waren,  unter  den  verschiedensten  praktisch  wichtigen  Ver- 
suchsbedingungen wiederholt  wurden:  so  entstand  in  zahlreichen  von 

')  Pflügers  Archiv,  Bd.  49,  S.  330,  1891. 
Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  28 


434  Heinrich  Boruttau. 

Zuntz  mit  Stabsarzt  Schumburg  ausgeführten  Versuchen  die 
„Physiologie  des  Marsches",  Berlin  1901,  mit  einer  Anzahl 
wichtiger  Ergebnisse,  so  die  von  N.  Zuntz'  Sohn  Leo  Zuntz  aus- 
geführten „Versuche  über  den  Gas  Wechsel  des  Rad  fahr  er  s*', 
(Berlin  1900)  und  viele  andere:  natürlich  mussten  in  solchen  Ver- 
suchen mehr  weniger  transportableApparate  verwendet  werden, 
welche  nur  die  Analyse  der  Lungenatmungsluft  gestatten,  und  wie 
sie  nächst  den  früher  erwähnten  Forschern  fS.  63)  auch  schon  der 
geniale  Carl  Speck  [geb.  1828,  Arzt  und  Physikus  in  Dillenburg 
a  Lahn  in  Hessen-Nassau]  in  vielen  grundlegenden  Versuchen  ^)  an- 
gewendet hatte;  um  diese  Technik  machte  sich  auch  Zuntz'  Mit- 
arbeiter Geppert  [August  Julius,  geb.  1856  in  Berlin,  jetzt 
Ordinarius  für  Pharmakologie  in  Giessen]  verdient.-)  Doch  auch  die 
Respirationsapparate  zur  Bestimmung  des  Gesamtgas- 
wechsels speziell  beim  Menschen  haben  vielfache  Verbesserung 
erfahren,  indem  z.  B.  die  direkte  Bestimmung  des  verbrauchten  Sauer- 
stoffs neben  der  produzierten  Kohlensäure  nach  dem  Regnault- 
Reisetschen  Prinzip  ausgeführt  wurde  bei  dem  Apparate  von 
Hoppe-Seyler  und  Vahlen,'^)  ebenso  bei  der  im  übrigen  nach 
dem  Ventilationsprinzip  getroffenen  grossartigen  Einrichtung  von 
Sonden  und  Tigerstedt.*) 

Besondere  Aufmerksamkeit  hat  von  jeher  die  Veränderung 
des  Atmungsprozesses  und  der  sonstigen  wichtigsten 
Körperfunktionen  durch  Aenderungen  des  Luftdrucks, 
resp.  des  Partiardrucks  des  atmosphärischen  Sauer- 
stoffs erweckt,  zumal  in  Anbetracht  der  praktischen  Anwendung 
auf  das  Verhalten  bei  Bergbesteigungen  und  Ballonfahrten: 
nachdem  hier  bereits  die  Arbeiten  G.  v.  Liebigs  [Neffe  Justus 
Liebigs,  geb.  1827,  Dozent  in  München,  im  Sommer  Badearzt  in 
Reichenhall],  welcher  1866  in  Reichenhall  das  erste  „pneumatische 
Kabinett"  einrichtete,  bahnbrechend  gewirkt  hatten,  war  es  der 
Franzose  Paul  Bert  [geb.  1830  in  Auxerre  im  Departement  Yonne, 
erst  Jurist,  dann  Mediziner,  promovierte  1863  mit  der  These  „De  la 
greffe  animale"  —  „Rattenschwanzversuch"  als  angeblicher  Beweis 
des  doppelsinnigen  Leitungsvermögens  der  Nerven  — ,  war  Assistent 
Cl.  Bernards,  schrieb  als  solcher  eine  Physiologie  comparee  de  la 
respiration,  wurde  1872  Professor  an  der  Sorbonne,  ging  1886  als 
Generalresident  nach  Tonking,  wo  er  an  der  Dysenterie  starb], 
welcher  ausgedehnte  Untersuchungen  über  den  Gaswechsel  in  ver- 
dünnter und  verdichteter  Luft  anstellte,  die  Wirkung  von  Sauerstoff 
unter  hohem  Druck  untersuchte  und  deletär  für  alle  lebendige  Subsstanz 
fand  u.  a. :  diese  Arbeiten  sind  zusammengestellt  in  dem  umfangreichen 
Buche  „La  pression  barometrique",  Paris  1878.  Manches  da- 
von ist  zumal  in  Anbetracht  des  unglücklichen  Ausganges  der  be- 
kannten Luftfahrt  von  Sivel  und  Croce-Spinelli,  welche  er  mit 
ungenügenden  Sauerstoffbehältern  ausgerüstet  hatte,  neuerdings  an- 
gefeindet worden,  scheint  aber  z.  B.  in  Hinsicht  auf  die  Theorie  der 
Dekompressionswirkungen   (Caissonkrankheit)  nach  neueren  Arbeiten 

^)  Untersuchungen  über  Sauerstoffverbrauch  und  Kohlensäureausatmung  des 
Menschen,  Cassel  1871. 

-)  Die  Gasanalvse  und  ihre  physiolog.  Anwendung,  Berlin  1885. 
*)  Ztschr.  f.  physiol.  Chemie.  Bd.  19,  S.  574,  590,  1894. 
*)  Skand.  Arch.  f.  Physiol.,  Bd.  7,  S.  29,  1897. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Äuwendung  auf  die  Medizin  etc.       435 

(Mager,  Heller  und  Schrötter)  sich  dennoch  zu  bestätigen.  Speziell 
der  Gaswechsel  in  verdünnter  Luft  und  auf  dem  Hochgebirge, 
die  Ursachen  der  Bergkrankheit  u.  s.  w.  sind  von  der  Zuntz- 
schen  Schule  (Fränkel,  Zuntz  und  Ad.  Loewy  —  in  Berlin, 
geb.  1862  — )  sowie  von  Angelo  Mosso  [geb.  31.  Mai  1846  in  Turin, 
Schüler  von  Mole  seh  Ott,  Schiff  und  Ludwig,  seit  1880  Professor 
in  Turin;  schrieb  zahlreiche,  z.  T.  populäre  physiologische  "Werke  in 
anregender  Form  und  blumenreicher  Sprache;  der  ..fisiologo  poeta"] 
ausführlich  untersucht  worden,  wofür  zuletzt  ein  stehendes  La- 
boratorium auf  dem  Monte  Rosa  errichtet  worden  ist:  die  in 
Loewy s  Schrift  „Untersuchungen  über  die  Respii-ation  und  Zirku- 
lation bei  Aenderungen  des  Drucks  und  des  Sauerstoffs  der  Luft", 
I  Berlin  1895,  sowie  Mossos  Buch  „Der  Mensch  in  den  Hochalpen", 
Deutsch  Leipzig  1899,  zusammengefassten  Ergebnisse  lassen  erkennen, 
I  dass  für  die  "Wirkung  des  Hochgebirgsklimas  ausser  der  Luftver- 
I  dünnung  noch  andere  wichtige,  z.  T.  noch  nicht  genügend  erkannte 
I  Faktoren  mitwirken.  Die  Erscheinungsweise  und  Theorie  der  Respi- 
rationsstörung durch  das  Kohlenoxyd  ist  durch  höchst  interessante 
Versuche  von  Haidane ^)  und  Dreser,  sowie  durch  A.  und  U. 
Mossos  Versuche  über  das  Zustandekommen  der  Kohlenoxyd  Ver- 
giftung des  Personals  der  mit  schlechten  Kohlen  gespeisten  italienischen 
Lokomotiven  in  den  Eisenbahntunnels  -)  gefordert  worden.  Eine 
grundsätzlich  wichtige  Frage  auf  dem  in  Rede  stehenden  Gebiete  ist 
endlich  diejenige,  ob  der  Gasaustausch  zwischen  Lungenluft  und  -Blut 
lediglich  durch  Diffusion  oder  ausserdem  auch  durch  eine  sekretions- 
artige Wirkung  der  Lungenepithelien  zustande  kommt: 
nachdem  die  Bemühungen  Pflügers  [mit  Nussbaum,  Wolffberg, 
Strassburg  u.a.;  „Lungenkathetery^)  „Aerotonometer"  zur- genauen 
Bestimmung  der  Blutgasspannungen*)]  die  Frage  im  ersteren  Sinne 
entschieden  zu  haben  schienen,  hat  Bohr  [Christian,  geb.  1855, 
Schüler  von  Panum  und  Ludwig,  seit  1886  als  Nachfolger 
Panums  Professor  der  Physiologie  in  Kopenhagen]  durch  viele  sinn- 
reiche Versuche  (verbesserte  Absorptiometer  u.  s.  w.)  es  immer  wahr- 
scheinlicher gemacht,^)  dass  auch  hier  die  Epithelzellen  sich  in 
■'Mer  spezifischen  Weise  beteiligen,  ähnlich  wie  sie  für  die 
zernierende  Funktion  der  Drüsen  und  die  Resorp- 
iionsthätigkeit  des  Darmes  heutzutage  feststeht,  dank  der  an 
•Toll.  Müllers  Drüsenwerk  und  Bowmans  Theorie  der  Xieren- 
>^kretion  (s.  früher)  anschliessenden  Pionierarbeit  Heidenhains. 

Rudolf  Heidenhain  ist  am  29.  Januar  1834  in  Marienwerder  geboren, 
.dierte  in  Königsberg,  Halle  und  Berlin  als  Schüler  von  Volkmann  und 
«iu  Bois-Reymond,  promovierte  1854  mit  der  Dissertation  „De  nervis  orga- 
nisque  centralibus  cordis  cordiumque  ranae  lymphaticorum"  ,  habilitierte  sich 
1857  in  Halle  mit  der  Schrift  „Disquisitiones  criticae  et  experimentales  de 
quantitate  sanguinis  in  corpore  mammalium  exstantis",  wurde  aber  schon 
1859  als  Ordinarius    für  Physiologie   und  Histologie  nach  Breslau   berufen, 


*)  Joum.  of  physiol.,  Bd.  18,  S.  201,  1895. 
*)  -La  respirazione  nelle  gallerie",  ecc,  Mailand  1900. 
^  Pflügers  Arch.,  Bd.  5,  S.  465;  6,  S.  23;  7,  S.  296. 
*)  Ebenda,  Bd.  6,  S.  65. 

»)  Skand.  Arch.   f.   Physiol.,  Bd.  2,   S.  236,   1891,   auch  Comptes  Eendus   u. 
Atehives  de  physiol.  an  versch.  0. 

28* 


436  Heinrich  Boruttau, 

in    welcher   Stellung    er    bis    zu    seinem    am    13.    Oktober    1897    ei-folgten 
Tode  wirkte. 

Wichtige  Werke:  „Studien  des  physiologischen  Instituts  in  Breslau",  4  Bände, 
Leipzig  1861 — 68,  darunter  die  schon  erwähnte  Schrift:  „Mechan.  Leistung,  Wärme- 
entwicklung xmd  Stoffumsatz  hei  der  Muskelthätigkeit",  1864;  Bearbeitung  der 
„Physiologie  der  Absonderungsvorgänge"  in  Hermanns  Handbuch;  „Die  Vivisektion 
im  Dienste  der  Heilkunde",  Leipzig  1879,  desgleichen  auf  Veranlassung  des  Kultus- 
ministeriums 1884  {gegen  die  Vivisektionsgegner) ;  ,.Der  sog.  tierische  Magnetismus", 
Leipzig  1880.  Sehr  zahlreiche  Abhandlungen  in  Pflügers  Archiv  und  in  La  Valettes 
Archiv  f.  mikroskop.  Anatomie,  von  denen  z.  T.  im  Texte  die  Rede  ist. 

Heidenhains  Arbeiten  zur  Drüsenphysiologie  be- 
gannen mit  der  Bestätigung  der  Thatsachen,  dass  die  Speichel - 
Sekretion  von  dem  Blutstrom  unabhängig  ist,  indem  sie 
durch  Atropin  gelähmt  wird,  während  der  letztere,  be- 
sonders bei  Nervreizung,  verstärkt  ist,^)  sowie  der  Unterscheidung 
zweier  Arten  von  Speichelsekretionsnerven;  hierauf  folgten  Unter- 
suchungen über  die  Magen drüsen,  z.  T.  zusammen  mit  Ebstein 
[Wilhelm,  geb.  1836,  jetzt  Professor  der  med.  Klinik  in  Göttingen] 
und  Grützner  [Paul  (von),  geb.  1847  in  Festenberg  i.  Schi,  studierte 
in  Breslau,  Würzburg  und  Berlin,  war  langjähriger  Assistent  Heiden- 
hains,  wurde  1881  Ordinarius  der  Physiologie  in  Bern,  1884  des- 
gleichen in  Tübingen],  welche  ebenso,  wie  die  histologischen  Arbeiten 
Eolletts^)  zur  Unterscheidung  zweier  verschiedener  Zellarten  an 
den  Fundusdrüsenschläuchen  führten,  von  denen  möglicherweise  die 
eine  kleinere,  das  Pepsin,  die  andere  grössere  die  Salzsäure  sezer- 
niert.^)  Heide nhain  gelang  dann  auch  die  operative  Isolierung 
eines  Magenstücks  zum  Fistelsack,  wie  dies  Thiry  (s.  früher)  mit 
einem  Dünndarmstück  gethan  hatte  *)  —  neuerdings  von  V  e  1 1  a  ver- 
besserte Methode:  dieses  Prinzip  zum  Studium  der  Magenfunktionen 
ist  neuestens  besonders  von  dem  Russen  P  a  w  1  o  w  (I  w  a  n  ,  in  Peters- 
burg, Direktor  des  grossartig  ausgestatteten  Instituts  für  experimen- 
telle Medizin)  und  seinen  Mitarbeitern  weiter  ausgebildet  und  es  sind 
damit  wichtige  Aufklärungen  über  die  Magenfunktion  des  Vagus,  die 
sekretionsanregende  Wirkung  verschiedener  Stolfe  (s.  schon  bei  Be- 
sprechung der  Arbeiten  Schiffs)  erhalten  worden. 

Auch  die  Physiologie  der  Leber  in  Bezug  auf  das  mikro- 
skopische Aussehen  je  nach  Glykogengehalt,  sowie  auf  Gallenbildung 
(gallen treibende  und  gallenstopfende  Mittel)  hat  Heidenhain,  z.  T. 
zusammen  mit  Afanasieff "')  untersucht,  desgleichen  die  sezernierende 
Funktion  des  Pankreas  wie  auch  der  Mundspeicheldrüsen  in 
Bezug  auf  die  Veränderung  der  Epithelzellen  bei  der 
Thätigkeit  studiert,  ^)  endlich  auch  zusammen  mit  Bartsch  falsche 
Ansichten  über  die  Funktion  der  Milchdrüse  berichtigt.  Am  be- 
rühmtesten aber  ist  Heidenhains  Bearbeitung  der  Nieren- 
sekretion geworden,  indem  er  auf  Grund  sinnreicher  Versuche  mit 
Injektion  von  Indigkarmin  und  anderen  Farbstoffen  ins  Blut,  die  be- 
reits  vor  Jahren  von  Bowman  verfochtene  Vorstellung  experimen- 


>)  Pflü^ers  Archiv,  Bd.  5,  S.  309,  1875. 

*)  Med.  Centralbl.  1870  u.  Unters,  aus  d.  physiol.  Inst.  Graz,  1871. 
»)  Arch.  f.  mikroskop.  Anat.,  Bd.  6,  S.  371,  521,  1870;  Pflügers  Archiv,  Bd.  f^, 
S.  1,  1872;  Bd.  18,  S.  169,  1878;  Bd.  19,  S.  118;  20,  S.  411,  1879. 
*)  Ber.  der  Wiener  Akademie,  Bd.  50,  S.  77. 

6)  Studien  des  Bresl.  physiol.  Inst.,  Heft  2  u.  4;  Pflügers  Arch.,  Bd.  .^0,  383,  18^3 
«)  Ebenda,  Bd.  10,  S.  557,  1875. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       437 

teil  begründete,  dass  in  den  Glomerulis  nur  Wasser  und  Salze  des 
Harns  durchgepresst .  und  erst  durch  spezifische  („elektive") 
Thätigkeit  der  Epithelzellen  vorwiegend  der  gewun- 
denen Harnkanälchen  die  „spezifischen  Harnbestand- 
teile" sezerniert  werden^)  —  gegenüber  Ludwigs  rein  physi- 
kalischer Harnbildungstheorie.  In  den  letzten  Lebensjahren  bemühte 
sich  Heiden hain,  die  AYichtigkeit  des  cellulären  Ge- 
schehens auch  für  die  Resorption  im  Dünndarm -)  und  für 
die  Bildung  der  Lymphe  (Art  Sekretionsthätigkeit  der  Capillar- 
endothelien)  '^)  zu  erweisen,  womit  er  der  üebertreibung  resp.  falschen 
Anwendung  des  Bestrebens  entgegentrat,  die  Errungen  scha  ften 
der  modernen  Molekularphysik  oder  sog.  theoretischen  oder 
physikalischen  Chemie  in  weitem  Masse  auf  die  Biologie  an- 
zuwenden; waren  es  doch  Biologen,  welche  eben  auf  diesem  an  und 
für  sich  „anorganischen"  Gebiete  sich  als  Pioniere  hervorthaten : 
Pasteur  (Louis,  1822 — 1895)  als  Begründer  der  später  von  L e  B e  1 
und  van  t'  Hoff  ausgebildeten  Stereochemie,  sowie  de  Vries 
[geb.  1848,  Prof.  der  Botanik  in  Amsterdam]  und  Pfeffer  [geb.  1845, 
seit  1887  ord.  Prof.  der  Botanik  in  Leipzig]  als  Begründer  der  Lehre 
vom  osmotischen  Druck  und  der  modernen  Theorie  der 
Lösungen  [neben  Clausius  u.  a.].  welche  dann  durch  die  Ein- 
führung der  Begriffe  der  hydrolytischen  und  elektrolytischen  Dis- 
sociation  auf  den  jetzigen  Stand  gebracht  wurde,  welcher  zu  vielen 
in  der  That  wichtigen  Untersuchungen  der  organischen  Flüssigkeiten 
auf  osmotische  Spannung  [D  res  er,  Winter,  Hamburger, 
Koeppe  u.  a.],  elektrische  Leitfähigkeit  [Sjöqvist,  Koran yi  und 
Vas  u.  a.]  und  innere  Reibung  [.,yiscosität",  Fano  und  Bottazzi, 
Hürthle  u.  a.],  sowie  eben  zu  theoretischen  Anwendungen  auf  die 
Erscheinungen  der  Sekretion,  Lymphbildung  und  Resorption,  ins- 
besondere aber  auf  die  Physiologie  des  Blutes  geführt  hat:*)  und 
wenn  es  sich  hier  grossenteils  um  vielumstrittene  Dinge  handelt,  so 
kann  doch  kein  Zweifel  walten,  dass  die  grossen  praktischen  Fort- 
schritte, welche  die  modernen  Theorien  auf  dem  Gebiete  der  reinen 
Chemie  gebracht  haben, ^)  damit  auch  der  physiologischen 
Chemie  sehr  wesentlich  zu  gute  gekommen  sind. 

Von  den  vielen  neuen  Einzelarbeiten  auf  diesem,  wie  schon  er- 
örtert, gross  und  selbständig  gewordenen  Arbeitsgebiete  auch  nur  die 
wichtigsten  zu  nennen  ist  in  diesem  Rahmen  unmöglich;  wir  müssen 
uns  darauf  beschränken  die  Hauptleistungen  nur  der  her- 
vorragendsten hier  thätigen  Forscher  ganz  kurz  zu 
würdigen.  Von  älteren  Schülern  des  grossen  Hoppe-Sej^ler  seien 
genannt  zunächst  sein  Nachfolger  im  Berliner  pathologischen  Institut 
Ernst  Salkowski  (geb.  1844  in  Königsberg),  welcher  sehr  früh 
Fragen  des  Eiweissstoffwechsels,  speziell  die  Harnstoff-  und  Schwefel- 
säurebildung bearbeitete,  zuerst  die  Wirkung  und  das  Schicksal  des 
gewöhnlichen  Phenols   im  Tierkörper  untersuchte*)  und  später  die 

1)  Pflügers  Archiv,  Bd.  9,  S.  26,  1875;  Arch.  f.  mikr.  Anat.,  Bd.  10,  S.  4. 

«)  Pflügers  Arch.,  Bd.  43,  Supplement,  1888. 

»)  Ebenda,  Bd.  49,  S,  209,  1891 ;  Bd.  56,  S.  632,  1894. 

*)  Siehe  hierüber  die  Bücher  von  Hans  Koeppe  (Giessen),  „Die  physikal. 
Chemie  in  der  Medizin",  Wien  1900,  von  Hamburger  (Utrecht),  „Osmotischer  Druck 
und  loneulehre  in  den  medizin.  Wissenschaften",  Würzb.  1902,  u.  a.  m. 

■^)  Siehe  Lothar  Meyers  ., Moderne  Chemie". 

«)  Pflügers  Archiv,  Bd.  5,  1871. 


438  Heinrich  Boruttau. 

P  r  0  d  u  k  t  e  d  e  r  E  i  w  e  i  s  s  f  ä  u  1  n  i  s ,  die  Hefewirkung,  neuentdeckte, 
insbesondere  oxydierende  Fermente  studierte,  die  „P  e  n  t  o  s  u  r  i  e"  ent- 
deckte, zusammen  mit  Ernst  Ludwig  (Prof.  der  medizin.  Chemie 
in  Wien,  geb.  1842)  eine  genaue  Harnsäurebestimmungs- 
methode ausarbeitete  und  vieles  andere,  —  sowie  der  zu  früh  ver- 
storbene Eugen  Baumann  [geb.  1846  in  Cannstatt,  1877  Ab- 
teilungsvorsteher am  Berliner  physiolog.  Institut,  1883  Ordinarius  für 
physiolog.  Chemie  in  Freiburg  i.  B.,  starb  1896],  welcher  das  Schick- 
sal der  aromatischen  Verbindungen  im  Tierkörper,  ins- 
besondere die  Synthese  derAetherschwefelsäuren,  den  A b - 
bau  des  Ty rosin s  u.  a.  ausführlich  bearbeitete,  z.  T.  mit  Preusse, 
Herter  und  anderen,  ein  Gebiet,  auf  welchem  ebenfalls  der  Italiener 
Giacosa  [Pietro,  geb.  1853,  Professor  der  Pharmakologie  in  TurinJ 
und  der  Eusse  Marcel  Nencki  [1847  geb.,  Ordinarius  der  physio- 
logischen Chemie  in  Bern,  dann  Leiter  eines  bakteriolog.  Instituts  in 
Petersburg,  starb  1901],  arbeiteten,  welcher  letztere,  ebenso  wie 
Ludwig  ßrieger  [geb.  1849,  jetzt  Prof.  der  allgemeinen  Therapie  in 
Berlin]  und  der  Franzose  Armand  Gautier  [Professor  der  Chemie 
in  Paris  an  der  medizin.  Fakultät]  den  Produkten  der  Eiweiss- 
fäulnis  sein  besonderes  Interesse  zuwandte:  Indol,  Skatol,  die  von 
Selmi  (s.  früher)  zuerst  bearbeiteten  Ptomaine  und  „Toxine'',  teils 
bakteriellen  Ursprungs.  Bau  mann  gleich  zu  stellen  ist  und  gleich 
ihm  mitten  aus  vollem  Schaffen  durch  den  Tod  gerissen  wurde  Ed- 
mund D rechsei  [geb.  1843  in  Leipzig,  Schüler  Kolb es,  seit  1872 
chemischer  Assistent  Ludwigs,  1878  Extraordinarius,  1882  als  Nach- 
folger Nenckis  zum  Ordinarius  für  medizin.  Chemie  nach  Bern  be- 
rufen, starb  1897  in  Neapel],  welcher  die  Produkte  künstlicher 
Ei  Weissspaltung  genauer  untersuchte,  darin  dem  Vorgange  von 
Hlasiwetz  [geb.  1825,  Prof.  der  Chemie  in  Wien]  und  Haber- 
mann,  sowie  des  verdienten  Schützenberger  in  Paris  (1827 — 1899) 
folgend.  Die  Eigenschaften  der  nativen  Eiweisskörper 
wurden,  wie  schon  früher  von  Heynsius  [1831  —  1898,  Prof.  der 
Physiol.  in  Amsterdam  und  Leiden]  so  neuerdings  besonders  in  ihren 
Beziehungen  zu  den  Salzen  untersucht  von  dem  Schweden  Olaf 
Hammarsten  [geb.  1841  in  Norrköping,  Professor  in  Upsala],  welcher 
auch  durch  Arbeiten  über  Blutgase  und  Atmung,  Galle,  Labgerinnung 
u.  a.  sich  hochverdient  gemacht  und  ein  treffliches  Lehrbuch  der 
physiologischen  Chemie  —  4.  Aufl.  Wiesbaden  1899  —  geschrieben 
hat,  sowie  von  dem  Engländer  W.  D.  Halliburton  (in  London, 
gleichfalls  Verfasser  eines  Lehrbuchs).  W^esentliche  Verdienste  um 
die  Eiweisschemie  haben  sich  ferner  erworben  Albrecht  Kossei 
[geb.  1853  in  Rostock,  Assistent  Hoppe-Seylers  in  Strassburg, 
1883  als  Baumanns  Nachfolger  Abteilungsvorsteher  am  Berliner 
physiolog.  Institut,  1895  Ordinarius  der  Physiologie  in  Marburg  als 
Nachfolger  von  K  ü  1  z ,  s.  unten ;  1901  desgl.  in  Heidelberg  als  Nach- 
folger Kühnes],  welcher  ausser  den  Peptonen  besonders  die  Chemie 
der  Nukleine,  speziell  der  von  FriedrichMiescher-Rüsch  [1844 — 
1895,  Professor  der  Physiologie  in  Basel]  zuerst  aus  Fischsperma 
erhaltenen  Nukleinsäure,  sowie  der  Protamine  bearbeitet  hat,  und 
Franz  Hofmeister  [geb.  1850  in  Prag,  Schüler  von  Hup  per  t  und 
von  Schmiedeberg,  Pharmakologe  in  Prag,  1896  als  Nachfolger 
Hoppe-Seylers  Ordinarius  für  ehem.  Physiologie  in  Strassburg. 
giebt   jetzt    „Beiträge    zur    ehem.    Physiologie    und    Pathologie"    in 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      439 

zwanglosen  Heften  heraus]  insbesondere  durch  Untersuchungen  über 
dieAuiidosäuren,  Eegeneration  von  Pepton  zu  E i w e i s s ,  krystalli- 
sierte  Albumine  u.  a.  m.  Dem  von  weitem  her  lockenden  Ziele,  der 
Aufklärung  der  Konstitution  der  Eiweisskörper  entgegenzuarbeiten 
hat  endlich  neuestens  auch  einer  der  grössten  lebenden  Vertreter  der 
reinen  Chemie  unternommen,  nämlich  Emil  Fischer. 

Emil  Fischer  ist  geboren  am  9.  Oktober  1852  zu  Euskirchen  im  Rhein- 
land, studierte  in  Bonn  und  Strassburg,  habilitierte  sich  1878  in  München 
für  Chemie,  wurde  1879  Extraordinarius,  1882  als  Ordinarius  für  Chemie 
nach  Erlangen,  1885  desgleichen  nach  Würzburg,  1892  desgleichen  als 
Nachfolger  A.  W.  Hofmanns  nach  Berlin  berufen. 

Seine  Publikationen  findeti  sich  fast  ausschliesslich  in  den  „Berichten  der 
deutschen  chemischen  Gesellschaft'';  ausserdem  gab  er  eine  kleine  „Anleitung  zier 
Darstellung  organischer  Präparate'^,   Würzburg  1887,  mehrere  Beden  ti.  s.  lo.  heraus. 

Eine  nur  mit  Wöhlers  Harnstoffsynthese  zu  vergleichende 
epochemachende  Leistung  gerade  in  Rücksicht  auf  die  biologische 
Chemie  bildet  Fischers  Synthese  der  einfachen  Zucker- 
arten (1887),  welche,  basierend  auf  seinen  Arbeiten  über  die  Hydra- 
zine  und  einer  scharfsinnigen  Durchführung  der  stereochemischen 
Betrachtung,  bald  alle  Monosaccharide,  ihre  Oxydationsprodukte  u.  s.  w. 
in  ein  übersichtliches  Sj^stem  einzuordnen  und  nach  Belieben  noch 
unbekannte  hierhergehörige  Verbindungen  (Zuckerarten  mit  mehr  als 
6  Kohlenstoffatomen)  aufzubauen  gestattete.^)  Fischer  hat  sich 
weiterhin  der  Hypothese  von  v.  Baeyer,  Loew  u.  a.,  wonach  die 
Pflanze  bei  der  Assimilation  erst  Formaldehyd  und  durch 
Polymerisation  des  letzteren  Zucker  u.  s.  w.  bilden  soll,  angeschlossen 
und  die  Bedeutung  der  Stereochemie  für  die  Theorie  der 
Ferment  Wirkungen  und  des  Stoffwechsels,  der  leben- 
digen Substanz  diskutiert  in  seiner  bekannten  Rede  „Die  Chemie 
der  Kohlenhydrate  und  ihre  Bedeutung  für  die  Physiologie",  Berlin  1894, 
Es  kann  von  demjenigen,  was  z.  B.  die  landwirtschaftliche  Chemie 
für  die  Kenntnis  der  Kohlenhydrate  gethan  hat,  hier  unmöglich  aus- 
führlicher die  Rede  sein ;  -)  dagegen  sei  hier  der  Verdienste  gedacht, 
welche  sich  Eduard  Külz  [geb.  1845,  seit  1879  Ordinarius  der 
Physiologie  in  Marburg,  starb  am  13.  Jan.  1895]  um  die  Physiologie 
des  Glykogens  und  die  chemische  Untersuchung  der  Pathologie  des 
Diabetes  mellitus  erworben  hat.^) 

Ein  weiteres  Verdienst  Emil  Fischers  um  die  biologische 
Chemie  bildet  die  definitive  Feststellung  der  Konstitution  der  Harn- 
säure und  der  sog.  Xanthin-  oder  Alloxurbasen  und  Zurückführung 
ihrer  sämtlich  auf  eine  hypothetische  grundlegende  Atomgruppierung, 
das  „Purin"  („Purinkörper"). 

Die  Ausscheidungswege  der  stickstoffhaltigen,  wie  auch 
aromatischen  Eiweissspaltlinge  studierten  vermittelst  derLud- 
w  i  g  'sehen  Durchströmungsmethode  Schmiedeberg  und  G.  v,  B  u  ng  e 
[geb.  am  19.  Januar  1844  in  Dorpat,  daselbst  Schüler  C.Schmidts. 
1874  Dr,   der  Chemie,   1882  Dr,  der  Medizin  in  Leipzig,   seit  1885 

')  Berichte  det  deutschen  ehem.  Gesellschaft,  Bd.  24,  S.  526,  3625;  25,  S.  1031, 
1247;  27,  S.  3189. 

^)  Siehe:  Tollens,  Die  Kohlenhydrate,  Handbuch  in  2  Bänden,  1895/98. 

')  Beitr.  z.  Kenntnis  des  Glykogens,  Marburg  1890;  Beitr.  zur  Pathol.  xmd 
Therapie  des  Diabetes  mellitus,  2  Bde.,  Marburg  1874/75,  u.  vieles  andere. 


440  Heinrich  Boruttau. 

Professor  der  Physiologie  in  Basel  neben  RudolfMetzner,  gleichfalls 
einem  Schüler  Ludwigs  und  langjährigen  Assistenten  v.  Kries'], 
welcher  letztere  ausserdem  durch  wichtige  Untersuchungen  über  die 
anorganischen  Salze  des  Organismus,  das  Eisen  des 
Blutes  und  der  Milch  sich  ausgezeichnet,  ja  auf  fast  jedem  Ge- 
biete der  chemischen  Physiologie  Detailarbeiten  veröflfentlicht  und  ein 
„Lehrbuch  der  physiologischen  und  pathologischen  Chemie"  (zuerst 
Leipzig  1887)  geschrieben  hat,  welches  dank  seiner  Originalität  (von 
seinem  „neovitalistischen"  Standpunkte  später)  viele  Auflagen  erlebte, 
zuletzt  als  IL  Band  eines  „Lehrbuchs  der  Physiologie  des  Menschen*' 
von  demselben  Autor.  Es  sei  hier  endlich  noch  gedacht  der  Leistungen 
des  um  die  Harnchemie  und  -Pharmakologie  (Jaffe'sche  Indikan- 
reaktion,  Urethan  im  Harn  und  vieles  andere)  hochverdienten 
Max  Jaffe  [geb.  1841  in  Grünberg  in  Schlesien,  1862  in  Berlin 
promoviert,  1867  in  Königsberg  habilitiert,  daselbst  1872  Extra- 
ordinarius für  medizinische  Chemie,  seit  1873  Ordinarius  für  Pharma- 
kologie], von  M.  Siegfried  in  Leipzig  (Vorsteher  der  chemischen  Ab- 
teilung am  physiologischen  Institut),  von  H.  Thierfelder  jun.  (jetzt 
Abteilungsvorsteher  in  Berlin),  von  Roehmann  (Franz,  geb.  1856, 
Extraordinarius  in  Breslau),  Crem  er  (München),  Arthus  (Lyon)  u.a. 
Hier  seien  noch  die  Verdienste  nachgetragen,  welche  sich  v.  Frey 
durch  seine  Untersuchungen  über  die  Verteilung  des  Fettes  im  Chylus, 
Radziejewski^)  durch  solche  über  Seifenresorption,,  endlich 
Immanuel  Munk  [Bruder  Hermann  Munks,  s.  unten,  geb.  1852 
in  Posen,  1873  in  Berlin  promoviert,  1883  habilitiert,  seit  1895  als 
Nachfolger  Gads  Abteilungsvorsteher  am  physiologischen  Institut, 
seit  1899  Extraordinarius,  Verfasser  eines  vielverbreiteten  Lehrbuchs 
der  Physiologie,  5.  Aufl.  1899J,  ein  schon  durch  viele  Arbeiten  zur 
Ernährungsphysiologie  verdienter  Forscher,^)  sich  um  die  Resorption 
der  Fette  erworben  haben;  trotzdem  scheint,  den  allerneuesten  Pole- 
miken nach  zu  schliessen,  dieses  schwierige  Kapitel  immer  noch 
nichts  weniger  als  geklärt  zu  sein.  An  die  Namen  des  schon  ge- 
würdigten grossen  Alexander  Schmidt,  von  Hammarsten 
(s.  oben),  Wooldridge  (f),  Pekelharing  (f),  Arthus  und  Pages 
und  anderen  knüpfen  sich  moderne  wichtige  Arbeiten  über  die 
Gerinnung  des  Blutes  und  der  Milch,  welche  indessen  immer 
noch  nicht  zu  einer  sicheren  Kenntnis  des  Wesens  dieses 
Vorganges  geführt  haben,  vielmehr,  besonders  nach  Entdeckung  der 
merkwürdigen  gerinnungs verhindernden  Wirkung  der  in  die  Gefäss- 
bahn  gebrachten  Peptone  (S  c  h  m  i  d  t -Mülheim ,  Fano,  s.  später), 
Nukleoproteide  (Wooldridge)  und  Schlangengifte  (Martin)  ihn 
äusserst  kompliziert  erscheinen  lassen:  dasselbe  gilt  ja  auch  für  die 
neuerdings  biologisch,  wie  medizinisch  ein  so  brennendes  Interesse 
erweckenden  toxischen, antitoxischen, bakteriziden, hämo- 
lytischen, agglutinierenden  u.  s.  W.Wirkungen  des  Blut- 
serums, mit  welchen  sich  Paul  Ehrlichs  (s.  oben)  undMetsch- 
nikoffs  Arbeiten  beschäftigen;  Dinge  auf  die  hier  ebensowenig 
näher  eingegangen  werden  kann  wie  auf  die  zahlreichen  Arbeiten  zur 
Genese  (E.  Neu  mann,  P.  Flemming  u.  v.  a.)  und  Morphologie 
(P.  Ehrlich  u.  s.  w.)   der   Blutkörperchen   —    „Häma tologie". 


^)  Virchows  Arch.,  Bd.  43,  1868;  Bd.  56,  1872. 

«)  Virchows  Arch.,  Bd.  80,  95,  123;  du  Bois'  Arch.,  1883,  1890. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       441 

Doch  muss  an  dieser  Stelle  nocli  nachträglich  der  zum  Teil  schon 
älteren  Verdienste  Rolletts,  dessen  Arbeiten  über  die  Magensaft- 
drüsen schon  erwähnt  wurden,  um  die  Kenntnis  der  Blutkörper,  des 
Blutfarbstoffs  u.  s.  w.  (Hämoglobinkrystalle ,  Lackfarbigmachen  des 
Blutes  durch  elektrische  Schläge)  gedacht  werden. 

Alexander  Rollett  ist  am  14.  Juli  1834  in  Baden  bei  Wien  geboren, 
promovierte  1858,  war  Assistent  Brückes  und  wurde  1863  als  ordentl. 
Professor  nach  Graz  berufen,  in  welcher  Stellung  er  noch  thätig  ist. 

Fiiblikationen  meist  in  den  Zeitschriften  und  Archiven. 

Eollett  hat  auch  den  Abschnitt  ,.BIut"  und  „Blutbewegung*-  für 
Hermanns  Handbuch  bearbeitet;  auf  seine  Verdienste  um  die 
Sinnesphysiologie  werden  wir  noch  zurückkommen. 

Nachdem  Blut  und  Ljuiphe  als  Transportmittel  der  eingeführten 
Nährstoffe  wie  der  Umsatzprodukte  der  Gewebe  längst  erkannt  waren, 
hat  neuestens  die  Anschauung,  dass  gewisse  Organe  drüsiger 
Natur  vorwiegend  oder  ausschliesslich  die  Funktion 
besitzen,  notwendige  Stoffe  zu  erzeugen  und  in  das 
Blut  zu  bringen,  oder  schädliche  Stoffe  aus  dem  Blut 
zu  entfernen  und  so  die  Zusammensetzung  des  Blutes  zu  ändern 
(.,metakerastische''  Wirkung,  G  a  d) ,  besonderes  Interesse  erweckt  und 
zahlreiche  wichtige  Arbeiten  veranlasst.  Waren  die  blutbildende 
Funktion  der  Lymphdrüsen,  der  Milz  und  des  Knochenmarks,  die 
assimilatorische  resp.  „glykogene"  der  Leber,  der  von  Schiff  angege- 
bene Einfluss  der  Milz  auf  die  Pankreassekretion  schon  Beispiele  der 
Art,  so  war  es  die  Behauptung  Brown-Sequards,  dass  subkutane 
Injektion  von  Hodenextrakt  Hebung  der  geschlechtlichen  Potenz  und 
Steigerung  der  allgemeinen  Leistungsfähigkeit  zur  Folge  habe  (1889), 
welche,  durch  angebliche  therapeutische  Erfolge  vou  Brown-Se- 
quards Mitarbeitern  d'Arsonval  [geb.  1851,  Präparator  Gl. 
Bernards.  jetzt  Professor  für  biologische  Physik  in  Paris,  verdient 
durch  physikaKsche  Leistungen  —  Galvanometer,  hochfrequente 
Wechselströme  u.  s.  w.]  und  anderen  gestützt,  eine  kritiklose  An- 
wendung der,  oft  nur  zu  sehr  an  die  mittelalterliche  Dreckapotheke 
erinnernden  „Organotherapie"  zeitigte,  auf  Grund  einer  Erweite- 
rung des  Prinzips  der  „inneren  Sekretion",  auf  deren  Ersatz 
Brown-Sequard  eben  seine  Hoden extraktwirkung  zurückgeführt 
hatte:  indessen  gab  dies  den  Anstoss  zu  vortrefflichen  Arbeiten 
über  die  Blutgefässdrüsen,  deren  thatsächliche  Ergebnisse 
eine  äusserst  wichtige  Bereicherung  unserer  Wissenschaft  bilden. 
Bereits  im  Jahre  1884  war  Kochers  Bericht  über  die  Folgen  der 
Kropfexstirpation  beim  Menschen  —  „Kachexia  strumipriva"  —  und 
Schiffs Experimentalarbeit  über  dieSchilddrüsenexstirpation 
bei  Tieren  erschienen:  eine  sichere  Entscheidung  über  die  chemische 
Hauptfunktion  der  Schilddrüse.  —  ob  eine  „innere  Sekretion",  ob  eine 
..entgiftende"  Wirkung  ist  bis  heute  nicht  erbracht,  trotz  Baumanns 
Entdeckung  des  „Jodothyrins"'  und  der  angeblichen  Beziehungen 
dieses  Organs  zur  Herzinnervation  (C  y  o  n) ;  noch  unsicherer  steht 
die  Beantwortung  der  Frage  nach  der  Funktion  der  Hypophysis 
cerebri,  wogegen  die  Funktion  der  Nebennieren,  deren  Zu- 
sammenhang mit  dem  sympathischen  Nervensystem  und  einer  chromo- 
genen  Funktion  (Krukenberg,  ..Addison 'sehe  Krankheit") 
ohnehin  ziemlich  feststand,  eine  neue  schlagende  Beleuchtung  erfuhr 


442  Heinrich  Bor ut tau. 

durch  die  Entdeckungen  von  A b e  1  o  u s  und  Langlois[Paul,  Agreg6 
für  Physiologie  an  der  Pariser  medizin.  Fakultät],  einerseits,  dass 
Nebennierenexstirpation  bei  Kaltblütern  leichtere  Erschöpfbarkeit 
der  Muskulatur  infolge  Ansammlung  von  Ermüdungsprodukten  er- 
zeugt,') und  diejenige  von  Oliver  und  Schäfer  [E.  A.,  Professor 
am  London  University  College,  jetzt  Ordinarius  der  Physiologie  in 
Edinburgh  als  Nachfolger  von  Rutherford)  andererseits,  dass  intra- 
venöse Injektion  von  Extrakten  des  Nebennierenmarks  enorme  Vaso- 
konstriktion  peripherischen  Ursprungs,  Verstärkung  der  Herzthätig- 
keit,  sowie  jeder  Muskelaktion  erzeugt-);  letztere  Beobachtungen 
wurden  durch  N.  Cybulskis  [Ordinarius  der  Physiologie  in  Krakau, 
bekannt  durch  sein  „Photohämotachometer"]  Fund^)  ergänzt, 
dass  das  Blut  der  Nebennierenvenen  die  blutdrucksteigernde  Wirkung 
der  Nebennierenextrakte  (chemisch  definiert  durch  Moore,  v.  Fürth, 
Abel  u.  a.)  teilt;  somit  scheinen  in  der  That  die  Nebennieren  eine 
für  das  gesamte  motorische  und  vasomotorische  System  tonisch 
wirkende  innere  Sekretion  zur  Funktion  zu  haben. 

Die  Mechanik  des  Kreislaufs  wurde  insbesondere  durch 
Karl  Hürthles  [geb.  1860,  langjähriger  Assistent  von  Vi  er  or  dt. 
Henke,  Grützner  und  Heiden hain,  seit  1895  des  letzteren 
Nachfolger  als  Ordinarius  der  Physiologie  in  Breslau]  exakte  Kritik 
des  hämodynamischen  Istrumentariums  und  vorzügliche 
Verbesserung  insbesondere  der  elastischen  Manometer  bereichert, 
während  die  Untersuchung  des  Pulses  schon  vorher  durch 
Leonard  Landois  [geb.  1837  zu  Münstei-  i.  W.,  1861  in  Greifswald 
promoviert,  1863  habilitiert,  seit  1872  daselbst  Ordinarius  für  Physio- 
logie, t  1902,  weltberühmt  durch  sein,  wesentlich  kompilatorisches, 
in  alle  Sprachen  übersetztes  Lehrbuch  der  Physiologie],  später  durch 
V.  Frey  und  Krehl,*)  die  Blutdruckmessung  am  Lebenden  durch 
V.  Basch  [Samuel,  geb.  1837,  Extraordinarius  für  experimentelle 
Pathologie  in  Wien],  Mos  so  (s.  oben)  und  Gärtner  [Gustav, 
geb.  1855,  in  gleicher  Stellung  wie  v.  Basch  in  Wien]  wesentliche 
Förderung  erfahren  haben.  Die  von  Kronecker,  Mosso  u.  a.  ge- 
pflegte Plethysmographie,  welche  v.  Kries  zu  dem  inter- 
essanten, auf  Ad.  Ficks  schon  erwähnter  Ableitung  basierenden 
Verfahren  der  Flamm entachographie  benutzte,  wurde  von 
englischen  Autoren  auf  die  Untersuchung  der  Volumschwankungen 
innerer  Organe  (Niere,  Darm)  ausgedehnt,  als  sog.  Onkographie 
[C.  S.  Roy,  geb.  1854,  seit  1884  Prof.  der  Pathologie  in  Cambridge, 
starb  1897]  und  ergab  in  deren  Händen,  ebenso  wie  in  denjenigen 
von  Ch.  Fran^ois-Franck  [Professor  der  exp.  Pathologie  in  Paris] 
und  seinen  Schülern  Hallion  u.  a.  ausserordentlich  wichtige 
Aufschlüsse  über  die  Topographie  der  Ge fässin ner- 
vation,  —  ein  Gebiet,  welches  übrigens  in  der  grossartigen  syste- 
matischen Bearbeitung  der  Physiologie  des  sympathischen  Systems 
durch  L angle y  und  seine  Mitarbeiter  (s.  später)  mit  enthalten  ist; 
auch  der  Amerikaner  Ho  well  und  Hunt  Bemühungen  müssen  hier 
erwähnt  werden. 


*)  Archives  de  Physiologie,  (5).  5,  p.  720. 

2)  Journal  of  physiology,  Bd.  16,  1894,  Bd.  18,  S.  230,  1895. 

3)  Anz.  d.  Krak.  Akad.,  Febr.-März  1895. 

*)  Die  Untersuchung  des  Pulses,  Leipzig  1892. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       443 

Die  Entstehung  der  automatischen  und  rhythmischen 
Thätigkeit  des  Herzens,  sowie  die  Leitung  der  Erregung 
innerhalb  desselben  ist,  nachdem  für  die  Rolle  des  intra-  und 
extracardialen  nervösen  Mechanismus  insbesondere  Kronecker 
(s.  früher)  und  neuerdings  wieder  C  y  o  n  [Elias,  geb.  1843  in  Telsch 
im  russ.  Gouv-ernement  Kowno,  1864  in  Berlin  und  1865  in  Peters- 
burg, 1868  in  Paris  promoviert.  Schüler  und  Mitarbeiter  von  Cl.  Bernard 
und  C.Ludwig,  1872  ordentlicher  Professor  an  der  Petersb.  militär- 
medizinischen Akademie,  demissionierte  1877,  nachher  finanzpolitischer 
Agent  Russlands  in  Frankreich,  1894  aus  seiner  Heimat  ausgewiesen, 
lebt  in  Territet  am  Genfer  See]  eingetreten  sind,  neuerdings  insbe- 
sondere durch  Engelmann  (siehe  früher)  auf  die  Eigenschaften 
der  Herzmuskelfaser  selbst  (,.myogene  Theorie")  zurück- 
geführt worden,  eine  Anschauung,  deren  Anfänge  auf  den  Engländer 
Gaskell  [f,  in  Cambridge]  zurückzuführen  sind,  und  welche  auch 
sonst  für  die  vergleichende  Betrachtung  der  Herz-,  Gefäss-  und 
aUer  glatten  Muskulatur —  Fano  [Giulio,  Schüler  Ludwigs,  jetzt 
Ordinarius  der  Phj^siologie  in  Florenz]  und  Bottazzi,  sog.  ..Tonus- 
schwankungen" —  fruchtbar  geworden  ist.  Höchst  erwähnenswert  ist 
auch  das  Verfahren,  das  isolierte  Warmblüterherz  gleich  dem- 
jenigen der  Kaltblüter  durch  künstliche  Speisung  mit  Blut 
oder  anderen  Xährflüssigkeiten  am  Leben  und  in  Thätigkeit 
zuerh alten  [New eil  Martini,  TownsendPorter  —  in  Boston 
an  der  Harvard  medical  School.  Langendorff  —  Oskar,  geb.  1853. 
von  1875  an  Assistent  des  Königsberger  Instituts,  seit  1892  Ordinarius 
in  Rostock  — ,  Locke  in  London  u.  a.  m.]. 

Das  Interesse  an  der  Innervation  der  Atmung  datiert  von 
den  Zeiten  her,  wo  Flourens  (s.  früher)  das  ,. Atemcentrum"  der 
Medulla  oblongata  zu  isolieren  bestrebt  war,  sowie  Magendie, 
L 0 n g e t ,  Traube  u.  v.  a.  sich  mit  der  Veränderung  des  Atem- 
rhythmus nach  doppelseitiger  Vagotomie,  sowie  auch 
Lewinsohn,  Burkart  u.  a.  mit  der  Veränderung  desselben 
bei  elektrischer  Reizung  des  centralen  Vagusstumpfes 
befassten.  Eine,  wenigstens  scheinbare,  Epoche  machten  auf  diesem 
Gebiete  die  Untersuchungen  ..üeber  die  Ätembewegungen  und  ihre  Be- 
ziehungen zum  Nervus  vagus",  Berlin  1862.  als  deren  Ergebnis 
Isidor  Rosenthal  [geb.  1836  in  Laboschin,  Schüler  du  Bois- 
R  e  y  m  0  n  d  s ,  1859  promoviert,  1862  habilitiert.  1867  Extraordinarius 
in  Berlin,  seit  1872  Ordinarius  der  Physiologie  in  Erlangen;  seine 
Verdienste  um  die  Kalorimetrie  u.  s.  w.  "wurden  bereits  erwähnt]  die 
ausschliesslich  inspirationsanregende  Wirkung  der  künstlichen  Vagus- 
reizung behauptetete:  Ewald  Hering  (s.  unten)  und  Breuer 
stellten  bald  darauf^)  die  Theorie  von  der  Selbststeuerung 
der  Atembewegungen  durch  die  Vermittlung  der  Nn. 
Vagi  auf,  wonach  jede  Inspiration  durch  Vagusreflex  atemhemmend, 
jede  Exspiration  dagegen  atemanregend  wirkt;  nach  den  fundamentalen 
Untersuchungen  von  Gad  (s.  früher),'';  Loewy  und  anderen  scheint 
sich  indessen  die  regulierende  Wirkung  der  Vagi  auf  Exspirations- 
hemmung  durch  die  Sensibilität  der  Lungen  fiir  die  Dehnung  zu 
beschränken,  ebenso  wie  auch  die  strenge  Unterscheidung  Rosen- 


»)  Sitzgsher.  der  Wiener  Akad.,  Bd.  57,  S.  672;  Bd.  58,  S.  909,  1868. 
«)  du  Bois'  Archiv,  1880,  S.  1. 


444  Heinrich  Boruttau. 

thals  zwischen  Apnoe,  Eupnoe  und  Dyspnoe  nicht  mehr  aufrecht  zu 
erhalten  ist:  es  bleibt  nur  die  fötale  Apnoe,  deren  Unterbrechung 
nach  des  berühmten  Hermann  Schwartz  [1821 — 1890,  seit  1862 
Ordinarius  der  Geburtshilfe  in  Göttingen]  Untersuchungen  zusammen 
mit  der  gesteigerten  Erregbarkeit  das  Atemcentrum  die  Ursache  des 
ersten  Atemzugs  ist.  Die  zahlreichen  neueren  Detailarbeiten  über 
Atemcentrum  und  Regulierung  der  Atembewegung  ^)  dürften  durch  ver- 
gleichend-physiologische Bearbeitung  in  ihren  scheinbar  wider- 
sprechenden Ergebnissen  der  Aufklärung  näher  rücken. 

Die  sonstigen  Erfolge  der  Lokalisationsbestrebungen 
bilden  den  augenfälligsten  Fortschritt  der  modernen  Physio- 
logie des  Centralnervensystems.  Nachdem  die  Franzosen 
Bouillaud  und  Dax,  besonders  aber  Broca  [Paul,  1824 — 1880, 
berühmter  Anatom,  Chirurg  und  Anthropologe,  begründete  1860  die 
Societe  d'anthropologie,  auch  Hygieniker  und  Medizinalstatistiker]  die 
Läsion  der  dritten  linken  Stirnwindung  (insula  Keilii,  operculum)  als 
regelmässigen  Sektionsbefund  bei  (motorischer)  Aphasie  kennen  gelernt 
hatten-)  —  „Sprachcentrum"  — ,  überraschten  Anfang  der  sieb- 
ziger Jahre  Gustav  Fritsch  fs.  S.  404)  und  Eduard  Hitzig 
[geb.  1838  in  Berlin,  daselbst  1862  promoviert,  1875  Ordinarius  der 
Psychiatrie  in  Zürich,  seit  1879  desgl.  in  Halle]  die  wissenschaftliche 
Welt  mit  der  Entdeckung,  dass  durch  lokalisierte  Reizung 
gewisser  Stellen  des  Parietallappens  der  Grosshirn- 
rinde sich  lokalisierte  klonische  Bewegungen  be- 
stimmter Muskelgruppen  (gekreuzte  vordere,  hintere  Extremität^ 
Nacken  u.  s.  w.)  auslösen  lassen.  Viel  weiter  ging  Hermann 
Munk  [geb.  3.  Febr.  1839  in  Posen,  1859  in  Berlin  promoviert,  seit 
1876  Prof.  der  Physiologie  an  der  tierärztl.  Hochschule  daselbst,  seit 
1869  Extraordinarius,  seit  1897  ord.  Honorarius  an  der  dortigen 
Universität],  ein  bedeutender  Schüler  Joh.  Müllers  und  du  Bois- 
Reymonds,  welcher  bereits  die  Elekropliysiologie  durch  seine  be- 
kannten „Abhandlungen  zur  allgemeinen  Nervenphysiologie"  in 
Müllers  Archiv,  seine  „Untersuchungen  über  das  Wesen  der  Nerven- 
erregung", Leipzig  1868,  und  seine  „Elektrischen  und  Bewegungs- 
erscheinungen am  Blatte  der  Dionaea  muscipula"  bereichert  hatte.  In- 
dem dieser  Forscher  systematische  lokalisierte  Rinden- 
exstirpationen  bei  Tieren  vornahm  und  deren  Verhalten  be- 
obachtete, auch  klinisches  und  pathologisches  Material  geschickt  ver- 
wendete, gelangte  er  in  seinen  „Gesammelten  Mitteilungen  über 
die  Funktionen  der  Grosshirnrinde",  Berlin  1881,  2.  Aufl. 
1890,  zu  dem  Ergebnisse,  dass  entsprechend  den  „motorischen 
Rindenfeldern"  von  Fritsch  und  Hitzig  „sensorische 
Rindenfelder"  zu  konstatieren  seinen  für  den  Gesichtssinn  im  Hinter- 
hauptslappen, für  den  Gehörssinn  im  Schläfenlappen  u.  a.  m.,  nach 
deren  Exstirpation  die  Tiere  „seelenblind"  (bei  nur  einseitiger  Ex- 
stirpation  und  partieller  Sehnervenkreuzung  —  eine  lange  Zeit  aufs 
lebhafteste  diskutierte  Frage  —  „hemianopisch"),  resp.  „seelentaub" 
werden  sollten.  Diese  falscheLokalisation  des  psychischen 
Vorganges  selbst  beim  Bewusstwerden  der  Sinnesempfindungen, 


^)  Siehe  des  Verfassers  Referat  in  A  s  h  e  r  und  S  p  i  r  o  s  Ergebnissen  der  Physio- 
logie, Bd.  1,  2.  Hälfte,  1903. 

*)  Bulletin  de  la  Soc.  anatomique  de  Paris,  1861 — 63. 


Greschichte  der  Physiologie  iu  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      445 

resp.  bei  der  willkürlichen  Innervation  fand  vielfachen  Anklang,  — 
man  sprach  geradezu  von  ..psychomotorischen"  und  ..psychosensorischen" 
Einden-..Centren".  —  zumal  da  sie  mit  der  von  dem  grossen  Wiener 
Psychiater  Theodor  Meynert  [1833— 1892J  schon  seit  1865  ge- 
machten Unterscheidung  der  Fasersysteme  in  Projektions-  und 
Associationsfasern  in  bestem  Einklang  zu  stehen  schien.  Gegen 
diese  Uebertreibungen  wendete  sich  energisch  Friedrich 
Leopold  Goltz  [1834—1902,  studierte  und  war  Prosektor  in  Königs- 
berg, seit  1870  in  Halle,  seit  1872  in  Strassburg  Ordinarius  für 
Physiologie],  welcher  bereits  durch  wichtige  Arbeiten  über  die 
Eeflexfunktion  des  Froschrückenmarks  („Beiträge  zur  Lehre 
von  den  Funktionen  der  Xervencentren  des  Frosches,  Berlin  1869,  darin 
der  berühmte  ,.Klopf-  oder  Quarrversuch"')  sich  ausgezeichnet  hatte 
und  mit  Eecht  auf  die  Bedeutung  der  Hemmungserscheinungen  (s. 
unten)  ein  Hauptgewicht  legte.  In  zahlreichen  Terölfentlichungen  in 
P  f  1  ü  g  e  r  s  Archiv  (auch  gesammelt  als  ,. A  b  h  a  n  d  1  u  n  g  e  n  über  die 
Yerichtungen  des  Grosshirns",  Bonn  1881)  erklärte  sich  Goltz 
gegen  jede  Lokalisation  der  mit  psychischen  Erscheinungen  verknüpften 
Funktion  der  Grosshirnrinde,  ging  freilich  in  der  Unterschätzung  der 
letzteren  bei  der  Beurteilung  seiner  berühmten  Experimente  mit  dem 
„Hunde  ohne  Grosshirn"  ^)  seinerseits  wieder  zu  weit.  Immerhin  bleiben 
seine  Versuche,  welche  die  weitgehende  Unabhängigkeit  der 
visceralen  und  speziell  genitalen  Funktionen  vom  Ge- 
hirn nachweisen,  sowie  die  neuesten,  die  bedeutende  Selbständigkeit 
der  sympathischen  Yisceralinnervation  treffend  illustrierenden  Rücken - 
marksexstirpationen.  welche  Goltz  zusammen  mit  Jul. 
Eichard  Ewald  [geb.  1855  in  Berlin,  seit  1880  Goltz'  Assistent. 
1886  Extraordinarius,  jetzt  Ordinarius  als  Goltz'  Nachfolger]  an- 
stellte, ■-)  entschieden  epochemachend.  Ausser  Goltz'  Versuchen,  welche 
das  vielfache  ..vikariierende  Eintreten"  von  Eindehteilen  für  ein- 
ander zeigten  und  analogen  klinischen  Beobachtungen,  waren  es  auch  die 
Eeizschwellen-  und  Latenzzeitversuche  von  Hermann,  Fran^ois- 
Franck  und  Pitres  u.  a.,  welche  die  Berechtigung  der 
Eindenlokalisation  bald  darauf  beschränkten,  dass  die 
betreffenden  Eindenfelder  die  Hauptein-  und  Austritts- 
orte der  betr.  „Projektionsfasersysteme"  oder  richtiger 
centrifugaler  und  centripetaler  Leitungsbahnen  sind  und  dement- 
sprechend die  Läsionsfolgen  wesentlich  Leitungsstörungen  sind,  welche 
durch  vikariierende  „Bahnung"  anderer  Leitungen  eventuell 
ausgeglichen  werden  können.  Den  wichtigen  Begriff  der  ,.Balmung" 
in  die  Physiologie  des  Centralnervensystems  eingeführt  zu  haben,  ist 
wesentlich  das  Verdienst  S  i  g  m.  E  x  n  e  r  s  [geb.  1846  in  "Wien,  Schüler 
von  Brücke  und  Helm  hol  tz,  Brückes  Assistent  seit  1871,  Extra- 
ordinarius in  Wien  seit  1875,  seit  1891  Ordinarius  als  Nachfolger 
Brückes],  welcher  1881  eine  Arbeit  über  „Die  Lokalisation  der 
Funktionen  in  Grosshirnrinde  des  Menschen"  herausgab,  auch  dieses 
Gebiet  in  Hermanns  Handbuch  bearbeitete.  Von  ebenso  grosser 
Bedeutung  wurde  die  Ausdehnung  des  Begriffes  der  cen- 
tralen Hemmung,  welcher  für  die  Abschwächung  oder  Unter- 
drückung von  Eückenmarksreflexen  bereits  länger  bekannt  war  — 


')  Pflügers  Arch.,  Bd.  51,  S.  570,  1892. 
«)  Pflügers  Arch.,  Bd.  63,  S.  362,  1896. 


446  Heinrich  Boruttau. 

Versuche  von  Goltz  und  Setschenow  [Professor  der  Physiologie  in 
Moskau,  jetzt  emeritiert],  siehe  dessen  „Physiologische  Studien  über 
den  Hemmungsmechanismus",  Berlin  1863  -^  auf  die  Vorgänge  im 
Gehirn  durch  die  Ergebnisse  der  berühmten  A  r bei t  von 
Bubnoff  und  Heidenhain  ^)  „lieber  Erregungs-  und  Hemmungs- 
vorgänge innerhalb  der  motorischen  Hirncentren",  die  freilich  von 
Munk  ebensowenig  anerkannt  wurden,  wie  die  Polemik  zwischen 
diesem  Forscher  und  Goltz  über  die  Rindenlokalisation  zum  Nach- 
geben einer  von  beiden  streitenden  Parteien  geführt  hat/'^)  Immer- 
hin behält  aucli  in  dem  beschränkteren  anatomisch-physiologischen 
Umfange  die  Rindenlokalisation  ihre  Bedeutung,  zumal  nach 
ihrer  bedeutenden  Verfeinerung  und  detaillierten  Aus- 
arbeitung besonders  durch  englische  Forscher  —  VictorHorsley 
[berühmter  Chirurg  in  London]  zusammen  mitBeevor,  Gotch  u.a., 
David  Ferrier  [Psychiater  und  Hospitalarzt  in  London,  F.  R.  S. 
u.  s.  w.j  zusammen  mit  Turner  u.  a.,  siehe  seine  „Functions  of  the 
brain"  1876  und  seine  Gulstonian  (1878)  und  Croonian  (1890)  Lectures 
über  cerebrale  Lokalisation  — ,  auch  durch  den  Russen  Bechterew 
[geb.  1857,  Schüler  Flechsigs  und  Charcots,  seit  1893  Professor 
der  Psj^chiatrie  in  Petersburg]:  Fortschritte,  welche  zu  einer 
wichtigen  praktischen  Anwendung  in  Gestalt  der 
modernen  Hirnchirurgie  [E.  v.  Bergmann,  „Die  chirurgische 
Behandlung  bei  Hirnkrankheiten",  3;  Aufl.  Berlin  1899]  führten. 

Für  die  Förderung  der  Erkenntnis  des  Faser  Verlaufs  im 
Cent ra Ine rvensystem  wurde  grundlegend  Karl  Weigert s 
[geb.  1845,  seit  1884  pathologischer  Anatom  am  Senckenbergianum  in 
Frankfurt  a.  M.]  Markscheidenfärbung  [1882—1885],  welche 
angewendet  wurde  in  zwei,  das  einfache  Studium  der  Reiz-  und  Aus- 
fallserscheinungen höchst  erfolgreich  ergänzenden  Methoden,  nämlich 
der  Degenerationsmethode  [Gudden,  geb.  1824,  seit  1872 
Ordinarius  der  Psychiatrie  in  München,  ertrank  1886  mit  dem  geistes- 
kranken König  Ludwig  IL  zusammen],  welche  wesentlich  auf  Budge 
und  Wallers  grundlegenden  Leistungen  (s.  früher)  beruht,  aber  in- 
zwischen zu  ganz  neuen  Wahrheiten  —  „rückläufige  Degeneration" 
U.S.  w^  —  geführt  hat;  —  und  der  embryologischen  Methode, 
welche  die  Schöpfung  Paul  Flechsigs  [geb.  1847,  seit  1884  Ordi- 
narius der  Psychiatrie  in  Leipzig]  ist:  „Die  Leitungsbahnen  im  Ge- 
hirn und  Rückenmark  des  Menschen  auf  Grund  entwicklungsgeschicht- 
licher Untersuchungen  dargestellt",  Leipzig  1876,  —  welche  übrigens 
auch  mit  der  Degenerationsmethode  kombiniert  weitere 
wichtige  Ergebnisse  geliefert  hat.  Für  die  Untersuchungen  der  Be- 
ziehungen der  Elemente  des  gesamten  Nervensystems  zu  einander 
wurde  hinwiederum  die  Färbungs-  oder  richtiger  Metallimpräg- 
nationsmethode  epochemachend,  welche  der  Italiener  Camillo 
Golgi  [geb.  1844,  seit  1876  ord.  Professor  der  Histologie,  seit  1881 
der  allg.  Pathologie  in  Pavia]  in  seinen  preisgekrönten  „Studii  sulla 
fina  anatomia  degli  organi  centrali",  1883,  einführte.  ^)  Die  durch  sie 
herbeigeführten  Fortschritte  in  der  Kenntnis   des  Faserverlaufs  im 


1)  Pflügers  Arch.,  Bd.  26,  S.  137. 

^)  S.  M  u  n  k  s  spätere  Arbeiten  in  du  Bois-Engelmanns  Archiv  und  den  Sitzgsher. 
der  Berl.  Akademie,  seit  1892. 

*)  Landois  schreibt  sich  die  Priorität  dieser  Methode  zu. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  anf  die  Medizin  etc.       447 

Rückenmark  und  Gehirn,  zu  welchen  besonders  die  „Collateralen- 
bildung"  der  sensibeln  Spinalfasern  [S.  Ramon  y  Cajal,  geb. 
1852,  Prof.  der  Anatomie  in  Madrid]  gehört,  sind  zusammenfassend 
dargestellt  worden  in  einer  Vortragsserie  von  W.  Wald  eye  r^)  sowie 
ausführlich  in  Kolli kers  neuester  Auflage  seiner  Gewebelehre:  sie 
basieren  auf  der  Anschauung,  wonach  das  ganze  Central ner ven- 
system  aufgebaut  ist  aus  morphologisch,  genetisch  und 
funktionell  einheitlichen  Elementargebilden,  den  Neu- 
ronen (Neurodendren),  deren  jedes  aus  der  Ganglienzelle  mit  ihren 
Fortsätzen  bestellt,  deren  einer,  der  von  früher  her  so  genannte 
Achsencylinderfortsatz  oder  „Neurif,  sich  in  ein  „Endbäumchen"'  auf- 
teilt, welches,  soweit  ihm  nicht  eine  besondere  morphologische  oder 
funktionelle  Differenzierung  an  der  Pheripherie  (z.  B.  motorische  „End- 
geweihe") zukommt,  in  den  Centralorganen  zu  den  „Dendriten"  [fr. 
sogen.  Protoplasmafortsätze]  eines  anderen  Neurons  in  funktionelle 
Beziehungen  tritt,  deren  Grundlage  aber  nicht  die  Kontinuität, 
im  Sinne  etwa  des  Ger  lach  sehen  Fasersystems,  sondern  die  blosse 
Kontiguität  sein  sollte.  In  den  letzten  Jahren  des  scheidenden 
Jahrhunderts  indessen  haben  Forschungenjünger  er  Kräfte  [des 
Ungarn  St.  Apäthy  in  Klausenburg,  Alb  recht  Bethes  in  Strass- 
burg]  in  Bestätigung  und  Erweiterung  früherer  Beobachtungen  über 
die  fibrilläre  Struktur  des  Achsencylinders  [M.  Schnitze, 
V.  Kupffer]  die  Existenz  eines  kontinuierlichen  Fibrillen- 
systems  im  ganzen  Nervensystem  wahrscheinlich  ge- 
macht, ausserdem  manche  Thatsachen  beigebracht,  welche  die  Be- 
deutung der  Neuronen  als,  wenn  auch  nicht  genetische  und  nutritive, 
so  doch  als  morphologische  und  funktionelle  Einheiten  sehr  in  Frage 
stellen.  Es  handelt  sich  aber  bei  allem,  was  das  Wesen  der 
Funktionen  der  Centralorgane  betrifft,  offenbar  noch  um 
erste  Anfänge:  hierher  gehören  die  Untersuchungen  Mossos 
über  deren  Stoffwechsel  [Die  Temperatur  des  Gehirns,  deutsch 
Leipzig  1894],  die  Beobachtungen  von  Beck  und  anderen  über 
elektromotorische  Erscheinungen  an  denselben ,  die  Erfah- 
rungen über  den  Rhythmus  der  centralen  Innervation  [Oscil- 
lationsfrequenz  des  willkürlichen  und  Strychnintetanus  u.  a.  m.],  end- 
lich die  histologischen  Untersuchungen  an  ermüdeten  und 
narkotisierten  Ganglienzellen  [Altersveränderungen,  Mann  und  Hodge, 
Varikositäten  der  Fortsätze,  angebliche  „Plastizität",  d.  h.  Kontrak- 
tilität  der  Neuronen,  van  der  Stricht,  Demoor- Brüssel;  Ver- 
änderungen der  N  i  s  s  1  sehen  Granulationen  u.  a.  m.] ;  indessen  scheinen 
die  mit  dem  neuen  Jahrhundert  begonnenen  Weiterarbeiten  auf  diesem 
Gebiete,  auf  w^elche  hier  nicht  mehr  einzugehen  ist,  zu  grossen  Hoff- 
nungen zu  berechtigen. 

Bedeutende  Erweiterung  erfuhren  unsere  Kenntnisse  vom 
sympathischen  Nervensystem,  sowohl  durch  histologische 
[neuere  Arbeiten  v.  Köllikers -)],  als  auch  durch  experimentell- 
physiologische Arbeiten;  in  letzterer  Beziehung  besonders 
haben  jüngere  englische  Forscher,  vorab  J.  N.  Langley  in 
Cambridge  und  seine  Mitarbeiter,  Dickinson,  Anderson  und  be- 
sonders C.  S,  Sherrington  in  Liverpool,  —  letzterer  auch  durch 


')  Deutsche  medizin.  Wochenschrift,  1891,  Nr.  44  ff. 

*)  Med.-physikal.  Ges.,  Würzhurg  1894;  Neueste  Aufl.  seiner  Gewebelehre. 


448  Heinrich  Boruttau. 

vielfältige  andere  Arbeiten  zur  Nervenpliysiologie  (z.  T.  zusammen 
mit  dem  jüngeren  Hering  in  Prag)  verdient  — ,  geradezu  Be- 
wunderungswürdiges geleistet. 

Nicht  minder  rastlos  als  in  der  Physiologie  der  Centralorgane  ist 
in  den  letzten  Jahrzehnten  des  neunzehnten  Jahrhunderts  in  der 
Sinnesphysiologie  gearbeitet  worden :  die  Hautsinneslehre  erfuhr 
eine  wichtige  Neuerung  durch  die  Entdeckung  der  getrennten  „Sinnes- 
punkte": Druck,  Wärme-,  Kälte-  und  Schmerzpunkte  seitens  Blix  und 
Goldscheide r  [Alfred,  geb.  1858,  Zögling  der  Berliner  Kaiser- 
Wilhelms  Akademie  und  Militärarzt  daselbst,  seit  1894  dirig.  Arzt  am 
Krankenhaus  Moabit,  seit  1898  Extraord.  an  der  Universität]  und 
weitere  Bearbeitung  derselben  durch  v.  Frey  u.  a.  Wenn  ferner  schon 
1860  Brondgeest  in  seiner  Utrechter  Dissertation  die  reflek- 
torische Natur  des  Muskeltonus  erkannt,  Isidor  Cohnstein 

,.^,..,1863  die  Beteiligung  der  Hautsensibilität  daran  nachgewiesen,  so  war 
i*^if"it>6s  das  Verdienst  des  Russen  T seh iriew  (sonst  durch  minderwertige 

'.  elektrophysiologische  Arbeiten  weniger  vorteilhaft  bekannt),  besonders 
aber  Gold  seh  eiders,  die  Hauptrolle  der  Sensibilität  der  Muskeln 
selbst  —  sog.  „Muskel sinn"  — ,  der  Sehnen  und  Gelenke  bei  der 
Regulierung  des  Muskeltonus  je  nach  Lagerung  und  Spannung  der 
Körperteile  klar  gemacht  zu  haben.  Die  Versuche  Cyons  und  anderer 
Forscher  über  die  Wirkungen  der  Durchschneidung  der  hinteren  Rücken- 
markswurzeln einerseits  und  die  Erkenntnis,  dass  bei  allen  patho- 
logischen „Ataxie"-Erscheinungen  Sensibilitäts-  resp.  sensible  Leitungs- 
störungen zu  Grunde  liegen,  speziell  die  Sklerose  der  Rückenmarks- 
hinterstränge bei  der  Tabes  dorsalis  (Leyden  u.  a.),  andererseits, 
viele  Erfahrungen  von  Schiff  und  anderen  Nervenphysiologen  u.  s.  w. 
Hessen  die  Bedeutung  der  Sensibilität  und  ihrer  Lokali- 
sierung für  die  Koordination  der  willkürlichen  Be- 
wegungen immer  deutlicher  hervortreten;  dass  für  sie,  resp.  den  mit 
ihr  korrespondierenden  psychologischen  Begriff  der  „Orientierung"  die 
optische  Lokalisation  gleichfalls  von  Wichtigkeit  ist,  leuchtet  ohne 
weiteres  ein;  indessen  lenkten  die  schon  früher  erwähnten  alten  Be- 
obachtungen Flourens'  über  das  Verhalten  von  Tauben  nach  LabjTinth- 
exstirpation  und  gewisse  neuere  über  das  Fehlen  von  Drehschwindel  bei 
Taubstummen  u.  s.  w,  das  Interesse  auf  einen  wahrscheinlichen  Zu- 
sammenhang des  Ohrlabyrinths  mit  der  Koordination:  als 
erster  erklärte  Goltz  1870^)  die  Bogengänge  als  besonderes  „stati- 
sches" Sinnesorgan  zur  Wahrnehmung  der  Körperstellung,  entsprechend 
ihrer  Orientierung  nach  drei  zu  einander  senkrecht  stehenden  Ebenen ; 
Cyon  (1878)  wollte  sie  direkt  zur  Grundlage  unserer  Raumvorstellung 
machen,  während  Mach  (s.  später)  und  Breuer  (in  Wien)  1873/75 
ihnen  die  Wahrnehmung  der  Bewegungs  r  i  c  h  t  u  n  g  des  Körpers  zu- 
schreiben; neuerdings  in  Fluss  kam  die  Frage  durch  die  verfeinerten 
Labyrinthexstirpationen  Rieh.  Ewalds,  welcher  in  seinem  1892  er- 
schienenen Buche  „Ueber  das  Endorgan  des  Nervus  octavus"  geradezu 
das  ganze  Labyrinth  für  die  Regulierung  der  Muskelspannung  in  An- 
spruch nahm  („Tonuslabyrinth")  und  die  Hörfunktion  dem  Nerven- 
stamm selbst  zuweisen  wollte.  Heftige  Polemiken  zwischen  den  oben 
erwähnten  und  den  weiterhin  noch  in  die  Diskussion  eingetretenen 
Autoren  (Bernstein,  Strehl,  Kreidl   u.  s.  w.)  haben  natürlich 

»)  Pflügers  Arch.,  Bd.  3,  S.  172. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      449 

nicht  Nachgeben  eines  derselben  bewii'kt,  indessen  die  Situation  so- 
weit geklärt,  dass  der  Vestibularapparat  (im  Gegensatz  zur  Schnecke) 
wohl  als  bewegungsrichtungempfindendes  Organ  gelten  kann,  welches 
die  anderen  Sinnesorgane  bei  dem  einen  Tier  mehr,  bei  dem  anderen,  so 
beim  Menschen  weniger  unterstützt  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Orien- 
tierung und  Koordination  der  Bewegungen.  Immer  deutlicher  trat 
auch  die  Bedeutung  des  Kleinhirns  als  Centralorgan 
dieser  koordinatorischen  Funktionen  hervor;  den  schon  er- 
wähnten älteren  Beobachtungen  von  Longet,  Lussana  [Filippo, 
1820—1898,  s.  früher]  und  Morgan ti  u.  s.  w.  treten  insbesondere 
die  neueren  Arbeiten  von  Schiff,  Luciani  [Luigi,  geb.  1842  in 
Ascoli-Piceno,  ord.  Professor  der  Physiologie  1880  in  Siena,  1882  in 
Florenz,  seit  1894  in  Rom;  Schüler  L u d w i g s ,  bekannt  besonders 
durch  die  Luciani  sehe  „Treppe"  des  Froschherzens  —  1873,  und 
seine  Untersuchungen  über  das  Hungern],  Ferrier  u.  a.:  neuestes 
vortreffliches  Werk  von  dem  Franzosen  Thomas  ,.Le  cervelet", 
Paris  1897. 

Die  Geschmacksphysiologie  ist  durch  einige  Versuche  zur 
Erklärung  des  ..elektrischen  Geschmacks"  (s.  früher),  sowie  zur  Be- 
stimmung der  den  Geschmacksqualitäten  zu  Grunde  liegenden  chemi- 
schen Konstitutionen  nur  wenig,  die  Geruchsphysiologie  durch 
die  vortrefflichen  Arbeiten  (Olfaktometrie  u.  s.  w.),  welche  Zwaarde- 
maker  [P.,  in  Utrecht,  jetzt  Ordinarius  für  Physiologie  als  Nach- 
folger Engelmanns]  in  seiner  ,.Physiologie  des  Geruchs",  Leipzig 
1895.  wiedergegeben  hat,  recht  bedeutend  gefördert  worden. 

In  der  physiologischen  Akustik  bleibt  die  Erklärung 
der  Klang analyse  durch  das  menschliche  Ohr  nach  wie  vor  die 
Hauptfrage;  eine  geistreiche  Hypothese,  die  „Schallbildtheorie-, 
welche  den  Schwierigkeiten,  die  bei  der  Erklärung  der  Kombinations- 
töne der  Helmholtzschen  Resonatorentheorie  erwachsen,  nicht  unter- 
worfen sein  soll,  hat  Richard  Ewald  aufgestellt^)  und  es  haben 
auch  die  experimentellen  Psychologen  (s.  unten),  insbesondere  Schüler 
Stumpfs  sich  mit  Hörtheorien  u.  s.  w.  versucht,  auf  welche 
näher  einzugehen  hier  keine  Veranlassung  vorliegt. 

Die  grösste  neuere  Leistung  in  der  Physiologie  derStimme 
und  Sprache  stellen  Hermanns  „phonophotographische 
Untersuchungen"-)  dar,  welche  das  Ueberwiegen  des  absoluten 
Moments  im  Vokalklang  (..Formanten" theorie)  bestätigten  und 
von  Hermann  neuestens  auch  auf  die  Konsonanten  ausgedehnt 
worden  sind :  doch  schwebt  auch  auf  diesem  Gebiete  noch  eine  Kontro- 
verse, in  welcher  der  um  die  physiologische  Akustik  bereits  in  früheren 
Jahren  sehr  verdiente  Hensen,  sowie  L.  Pipping  Hermanns 
Gegner  sind. 

Viktor  Hensen,  geb.  in  Schleswig  am  10.  Februar  1835,  1851  promo- 
viert, ist  seit  1868  Ordinarius  der  Physiologie  in  Kiel. 

Er  bearbeitete  die  Physiologie  des  Gehörs  und  die  Physiologie  der  Zeugung  in 
Hermanns  Handbuch,  hat  sich  an  der  Entdeckung  des  Glykogens  beteiligt,  grosse 
Verdienste  um  die  Histologie  der  Sinnesorgane  und  um  die  Embryologie  erworben, 
besonders  aber  durch  die  Direktion  der  Planktonexpedition  der  Humboldtstiftung  u.  a. 
die  Tiefseeforschung  mächtig  gefördert. 


')  Eine  neue  Hörtheorie,  Pflügers  Arch.,  Bd.  76,  S.  147,  1899. 
»)  Pflügers  Archiv,  Bd.  45—49,  53,  56,  58,  1889—1894. 
Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  29 


450  Heinrich  Bbrtittaü.  ■ 

Auf  dem  Gebiete  der  Physiologie  des  Gesichtssinnes  ist 
die  Zahl  der  Forscher  und  der  Ergebnisse  in  der  in  Rede  stehenden 
neuesten  Periode  so  gross,  dass  eine  selbst  knappe  historische  Dar- 
stellung kaum  in  einem  starken  Bande  Platz  finden  könnte ;  vieles  ist 
in  der  epochemachenden  2.  Auflage  von  Helmholtz'  physio- 
logischer Optik  (Leipz.  und  Hamburg  1896)  gewürdigt;  hier  kann 
kaum  einiges  vom  wichtigsten  angedeutet  werden.  Auf  dem  Gebiete  der 
Dioptrik  des  Auges  haben  neuerdings  mehrere  Forscher,  so  Tscher- 
ning  und  Schön,  die  Helmholtzsche  Accomodationslehre  zu  be- 
kämpfen versucht,  ohne  dass  indessen  die  von  ihnen  an  deren  Stelle 
gesetzten  Theorien  die  Vergleichsprobe  ausgehalten  hätten.  Aeusserst 
wertvolle,  wegen  ihres  Umfanges,  ihrer  Vollständigkeit  und  Sorgfalt 
gleich  bemerkensw^erte  Arbeiten  zur  vergleichenden  Physio- 
logie der  Accomodation  bei  allen  Tieren  mit  einfachen  diop- 
trischen  Augen  hat  Th.  Beer  (Privatdozent  in  Wien)  geliefert.^) 
Die  Methodik  der  Refraktion s-  und  Sehschärfebestimmung  ist  meist 
durch  Augenärzte  bearbeitet  und  verbessert  worden. 

Für  die  Erkenntnis  der  materiellen  Vorgänge  bei  der 
Netzhauterregung  sind  hier  zu  erwähnen  die  Entdeckung  des 
sogenannten  Sehpurpurs-)  durch  du  Bois-Reymonds  begabten, 
frühverstorbenen  Schüler  Chr.  Boll  (1849 — 1879,  zuletzt  Professor 
in  Rom),  die  weiteren  Untersuchungen  über  das  Ausbleichen  dieses 
von  ihm  als  Rhodopsin  bezeichneten  Stoffes  und  sonstige  Netzhaut- 
pigmente durch  Kühne, ^)  die  Untersuchungen  von  Boll,  von 
Engelmann  und  van  Genderen-Stoort,  sowie  von  Heger 
(Professor  am  Solvay-Institut  in  Brüssel)  und  Pergens  über  Be- 
wegungserscheinungen an  den  Netz-  und  Aderhaut- 
elementen bei  der  Belichtung,  endlich  die  Netzhaut-Aktionsströme 
oder  sogenannten  photoelektrischen  Schwankungen  bei  Be- 
lichtung, welche  von  Ho  Imgren  (s.  unten)  entdeckt,  von  Kühne 
und  Steiner*)  [J.,  Verfasser  eines  bekannten  Grundrisses  der  Phy- 
siologie, jetzt  Kliniker  in  Köln]  sowie  neuerdings  durch  Sigmund 
Fuchs  in  Wien  bearbeitet  worden  sind.  Leider  haben  alle  diese 
merkwürdigen  Beobachtungen  kaum  etwas  zur  Aufklärung  des  Wesens 
der  Erregungsvorgänge  in  der  Netzhaut,  am  wenigsten  aber  ihrer 
verschiedenen  spezifischen  Energien  je  nach  der  Art  des  Reizes,  d.  h. 
nach  der  verschiedenen  Wellenlänge  des  Lichts,  beigetragen.  Hier, 
also  rücksichtlich  der  Theorie  der  Farben empfindungen  er- 
wuchs der  Young-Helmholtzschen  Theorie  bereits  in  der  klassi- 
schen Periode  eine  Rivalin  in  der  von  Ewald  Hering  aufgestellten 
Kontrasttheorie. 

Ewald  Hering,  geb.  1834  in  Alt-Gersdorf  in  Sachsen,  habilitierte  sich 
1862  in  Leipzig  für  Physiologie,  wurde  1865  als  Nachfolger  Ludwigs  ans 
Josephinum  nach  Wien  berufen,  1870  als  Purkinjes  Nachfolger  und  Ordi- 
narius für  Physiologie  nach  Prag,  1895  wieder  als  Nachfolger  des  inzwischen 
verstorbenen  Ludwig  nach  Leipzig. 

Selbständig  erschienen  seine  Beiträge  zur  Physiologie  {5  Hefte),  Leipz.  1861 — 6i; 
seine  „Lehre  vom  binokularen  Sehen",   ebenda  1868;   —   „lieber  das  Gedächtnis  als 


1)  Pflügers  Arch.,  Bd.  53,  58,  67,  69,  73,  1892—99. 

2)  Monatsber.  der  Berl.  Akad.,  1876  u.  77. 
In  den  Untersuchungen  aus  dem  Heidelb.  physiolog.  Institut. 
Ebenda. 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       451 

eine  allgemeine  Funktion  der  organisierten  Materie^,  Wien  1876,  neuere  Reden  und 
Gelegenheitsschriften  u.  s.  ic.  Hering  bearbeitete  den  „Temperatursinn'^ ,  sowie 
..Raumsinn  und  Atigenbeivegungen"  für  Hermanns  Handbuch. 

Hering  nimmt  nur  zwei  Arten  von  farbenempfindenden  Netz- 
hautelementen an,  deren  jede  durch  eine  bestimmte  Lichtart,  —  rot 
resp.  blau  —  dissimilatorisch  und  durch  die  andere  —  grün  resp. 
gelb  assimilatorisch  erregt  werden  soll:  daher  die  Kontrasterschei- 
nuDgen  zwischen  den  sogenannten  ..Komplementärfarben".  Ausser- 
dem giebt  es  noch  nur  intensitäts-,  nicht  qualitätsunterscheidende 
Elemente,  deren  dissimilatorische  Erregung  die  Helligkeits-,  deren 
assimilatorische  die  Dunkelheitsempfindung  bestimmt:  rot-grün-, 
blau -gelb-,  seh  warz-weissemp  find  ende  Elemente.  Die 
Notwendigkeit  der  selbständigen  Existenz  der  letztgenannten  Kategorie 
ging  hervor  aus  den  Untersuchungen  über  die  Erregbarkeit 
der  Netzhautperipherie  (in  Verbindung  mit  solchen  über  die 
Grösse  des  Gesichtsfeldes  =  Perimetrie  im  weiteren  Sinne;  Perimeter 
von  Aubert  und  Förster  u.  a.)  und  die  sogenannte  Dunkel- 
adaptation, ein  Gebiet,  auf  welchem  schon  früher  sich  insbesondere 
Hermann  Aubert  [geb.  1826  in  Frankfurt  a.  0.,  seit  1865  bis  zu 
seinem  1892  erfolgten  Tode  ordentlicher  Professor  der  Physiologie  in 
Eostock;  schrieb  eine  ..Physiologie  der  Netzhaut",  und  ..Grundzüge 
der  physiologischen  Optik",  bearbeitete  ferner  die  ..Innervation  der 
Kreislaufsorgane''  für  Hermanns  Handbuch]  verdient  gemacht  hatte, 
und  welches  jetzt  besonders  von  J.  v.  Kries  und  seinen  Schülern, 
so  Wilibald  Nagel  [jetzt  Abteilungsvorsteher  in  Berlin,  auch  ver- 
gleichender Physiologe]  kultiviert  wird.  Einen  Prüfstein  für  die 
Richtigkeit  einer  der  beiden  Theorien  scheint  das  Gebiet  der 
Farbenblindheit  —  partielle  und  totale,  —  natürliche  und  (durch 
Ermüdung  erzeugte,  Burch  u.  a.)  künstliche  —  zu  sein,  welches  s.  Zt. 
durch  Fritjof  Holmgren  [1831 — 1897,  Schüler  von  Brücke, 
Ludwig,  du  ßois-Reymond  und  Helmholtz,  seit  1864  Pro- 
fessor in  Upsala,  Begründer  des  „Skandinavischen  Archivs  für  Phy- 
siologie", —  bis  jetzt  13  Bände  in  deutscher  Sprache  erschienen] 
genauer  untersucht  und  besonders,  zur  Verhütung  von  Eisenbahn- 
und  Schiffsunfällen  durch  Untersuchung  der  Beamten,  welche  mit 
optischen  Signalen  zu  thun  haben,  praktisch  gewürdigt  worden  ist, 
neuerlich  theoretisch  besonders  durch  v.  Kries,  Arthur  König 
[f  in  Berlin  als  Vorsteher  der  physikalischen  Abteilung  des  physio- 
logischen Instituts]  mit  Abelsdorf f  u.  a.,  Hering,  H e s s  (Ophthal- 
molog,  jetzt  in  Würzburg)  gepflegt  wurde;  eine  sichere  Entscheidung 
erscheint  allerdings  auch  heute  noch  nicht  erbracht.  Auch  das  Ge- 
biet der  Augenbewegungen  und  des  Horopters  sind  durch  die 
Heringsche  Schule,  die  Pathologie  des  Schielens  durch  Ophthal- 
mologen (Bielschowsky  u.  a.)  bedeutend  gefördert  worden. 

Besonders  wichtig  ist  auch  Herings  Standpunkt  im  subjektiven 
Teil  der  Lehre  vom  Gesichtssinn,  indem  er  gegenüber  Helmholtz 
und  der  empiristischen  Schule  das  nativistische  Prinzip 
verfolgte,  womit  er  auch  die  jetzt  herrschende  Richtung  der  soge- 
nannten physiologischen  Psychologie  mit  angeben  half. 

Seit  den  Tagen  Lotzes,  welcher,  obwohl  noch  durchaus  Meta- 
physiken stets  die  experimentell-kritische  Richtung  vor  der  Spekulation 
bevorzugt  hatte,  und  Fechners.  welcher  mit  seinem  Bestreben,  über- 
all zu  messen  und  zn  rechnen,  den  Begriff  der  „Psychophysik"' 

29« 


452  Heinrich  Boruttau. 

(sein  „psycliophysisches  Gesetz")  schuf,  hatte  sich  die  physiologische 
resp.  „experimentelle"  Psychologie  allmählich  Ansehen  und  Selb- 
ständigkeit verschafft,  einerseits  dank  dem  Umstände,  dass  wie  schon 
ihre  ebenerwähnten  Begründer,  so  weiterhin  ihre  Hauptstützen, 
wie  vor  allem  Wundt  [Wilhelm,  geb.  1832  in  Neckarau,  1857  für 
Physiologie  in  Heidelberg  habilitiert,  1864  Extraordinarius  daselbst, 
1874  als  Ordinarius  der  Philosophie  nach  Zürich,  1875  desgleichen 
nach  Leipzig  berufen,  wo  er  noch  jetzt  wirkt;  er  verfasste  ein  Lehr- 
buch der  Phj^siolügie,  1878  in  4.  Aufl.  erschienen,  „Grundzüge  der 
physiologischen  Psychologie",  zuerst  Leipz.  1874  erschienen,  oft  auf- 
gelegt, einige  physiologische  und  viele  philosophische  kleinere  Schriften] 
und  Hering  voll  ausgebildete  Mediziner  undPhysiologen 
waren,  entsprechend  Joh.  Müllers  Postulat:  Nemo  psychologus, 
niti  physiologus.  Es  wurden  besondere  experimentell-psycho- 
logische Laboratorien  (so  in  Leipzig,  Berlin,  Göttingen)  ein- 
gerichtet, aus  welchen,  der  Natur  der  Sache  entsprechend,  meist  ent- 
weder Arbeiten  zur  Physiologie  des  Centralnerven- 
systems  —  zeitmessende  Versuche,  Veränderung  der  Reaktionszeit 
durch  „psychische"  Faktoren;  Ermüdungsversuche,  speziell  mit 
dem  von  Mosso  erfundenen,  Muskel-  und  Nervenermüdung  konfun- 
dierenden sogenannten  „Ergographen"  (s.  „Die  Ermüdung",  deutsch 
Leipzig  1892),  —  oder  aber  solche  zur  Sinnesphysiologie  hervor- 
gingen: Publikationsstelle  solcher  Arbeiten  wurde  die  seit  1891  von 
Arthur  König  in  Berlin  und  Herrn.  Ebbinghaus  herausgegebene 
„Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane",  in 
welcher  besonders  v.  Kries  in  Freiburg,  sowie  Georg  Elias 
Müller  in  Göttingen  (Nichtarzt,  doch  Leipziger  Dr.  med.  hon.  c, 
schrieb  auch  den  1.  Band  einer  „Theorie  der  Muskelkontraktion"  — 
pyroelektrisch)  und  deren  Schüler  viele  vortreffliche  Beiträge  ver- 
öffentlicht haben.  Mehr  von  den  Fachphysiologen,  sowie  den  Neuro- 
pathologen  und  Psychiatern  bevorzugt  wurde  das  neuerstandene  Ge- 
biet des  „Hypnotismus"  und  der  „Suggestion",  dessen  Thatsachen- 
kreis  insbesondere  Heidenhain  und  Grützner  aus  den  Dar- 
bietungen wandernder  Nachfolger  M  e  s  m  e  r  s  (s.  früher)  —  „Magnetiseur" 
Hansen  u.  a.  —  herauszuschälen  verstanden  hatten.  Besonders 
eifrig  bemühte  sich  um  die  Physiologie  des  Hypnotismus  von  deutschen 
Forschern  unseres  Faches  WilhelmPreyer  [geb.  1841  in  Manchester, 
1862  Dr.  phil.,  1866  Dr.  med.,  1865  in  Bonn  habilitiert,  1869  Ordinarius 
für  Physiologie  in  Jena,  1888  zurückgetreten,  in  Berlin  wieder  als 
Privatdozent  habilitiert,  wegen  Kränklichkeit  wieder  zurückgetreten, 
1897  in  Wiesbaden  verstorben;  er  begann  seine  wissenschaftlichen 
Arbeiten  mit  vortrefflichen  Studien  über  den  Blutfarbstoff'  und  die 
Blausäure,  suchte  später  ein  „myophysisches  Gesetz"  entsprechend 
dem  „psychophysischen"  zu  erweisen,  den  Schlaf  auf  Milchsäureproduktion 
zurückzuführen,  „Der  Schlaf",  Stuttgart  1877  u.  a.  m. ;  verdient  machte 
er  sich  durch  populär-psycho-  und  biologische  Schriften,  worunter 
am  bekanntesten:  „Die  Seele  des  Kindes",  4.  Aufl.  1895; 
„Elemente  der  allgemeinen  Physiologie",  Leipzig  1883; 
„Naturforschung  und  Schule",  Stuttgart  1887  u.  a.];  doch  Hess  sich 
dieser  geniale  und  temperamentvolle,  aber  unkritische  Beobachter  zu 
Missgriffen  verleiten,  welche  ihn  insbesondere  als  Sachverständigen 
in  einigen  Prozessen  arg  blosstellten  und  in  Gefahr  brachten,  in  seinen 
Leistungen  mit  den  teils  psychopathischen,  teils  schwindelhaften  Be- 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.      453 

strebuD gen  des  modernen  ,.Spiritismus"  und  „Occultismus"  (du  Prel  f, 
in  München)  verwechselt  zu  werden.  Diese  und  ähnliche  Dinge,  so- 
wie insbesondere  die  Neigung  populärer  Schriftsteller  auf 
bio-  und  psychologischem  Gebiet  (L.  Büchner,  Ernst 
Krause,  pseud.  Carus  Sterne),  die  Identifizierung  der 
psychischen  Erscheinungen  mit  dem  materiellen  Ge- 
schehen im  Centralnervensystem  offen  zu  verkünden, 
lenkte  die  Aufmerksamkeit  der  Fachphilosophen  auf  die  auch  bei  ernst 
zu  nehmenden  Physiologen  und  Experimentalpsychologen  bestehende 
Neigung  zur  Vernachlässigung  der  erkenntnistheore- 
tischen Grundlagen,  wie  sie  längst  durch  Kant,  Herbart  und 
Schopenhauer  geschaffen  worden  waren,  und  welche  die  eben  an- 
gedeutete letzte  Konsequenz  aus  dem  naturwissenschaftlichen  Ma- 
terialismus vernünftigerweise  verbieten,  nämlich  die  Möglichkeit, 
psychische  Erscheinungen  physiologisch  wirklich  er- 
klären zu  wollen:  ein  Bestreben,  welches  zuletzt  verfolgt  worden 
ist  in  einem,  in  Bezug  auf  das  Thatsächliche  —  bei  Beiseitelassung 
der  erkenntnistheoretischen  Fragen  —  äusserst  verdienstvollen  Werke 
Sigm.  Exners  (..Entwurf  zu  einer  physiologischen  Erklärung  der 
psychischen  Erscheinungen",  1.  Bd.  Wien,  1894).  Während  der  erwähnte 
Fehler  inzwischen  von  Wundt  und  insbesondere  Ziehen  [Theodor, 
geb.  1862  in  Frankfurt,  1887  in  Jena  habilitiert,  1892  Extraordinarius 
ebda,  1902  Ordinarius  für  Psychiatrie  in  Leyden]  in  seiner  vortreff- 
lichen ..Physiologischen  Psychologie"  (Jena  1891,  seitdem  oft 
aufgelegt)  und  ..PsychophysiologischenErkenntnistheorie" 
(ebenda  1898)  durchaus  vermieden  worden  ist,  hat  die  Avenarius- 
sche  Philosophenschule  auf  den  Subjektivismus  als  Grundlage  aller 
wissenschaftlichen  Forschung,  d.  h.  das  Ausgehen  von  der  eige- 
nen Empfindung  als  einziger  Erfahrung,  als  einzig 
Realem,  beinahe  mehr  Ge\\icht  gelegt,  als  für  ein  gedeihliches 
Weiterarbeiten  in  den  anorganischen  wie  organischen  Naturwissen- 
schaften absolut  nötig  wäre:  die  Folgen  davon  lassen  sich  wohl  darin 
spüren,  dass  in  E.  Machs,  des  berühmten  Wiener  Physikers  ,. Ana- 
lyse der  Empfindungen"  (4.  Aufl.  Stuttg.  1902)  so^vie  in  der 
..Naturphilosophie"  W.  Ostwalds,  des  berühmten  Leipziger 
Physikochemikers,  welcher  das  ja  an  sich  richtige  Postulat  stellte, 
die  Materie  als  solche  zu  negieren  und  nur  durch  ihre  energetischen 
Eigenschaften  zu  definieren  (und  diese  natürlich  empiristisch  durch 
unsere  Empfindungen)  doch  just  mehr  Negation  die  Hauptrolle 
spielt,  als  für  ein  gedeihliches  und  nicht  „resigniertes"  experimentelles 
Weiterarbeiten  zuträglich  wäre.  Speziell  die  bereits  von  Bunge  in 
der  berühmten  Einleitung  zu  seiner  „Physiologischen  Chemie"  (s.  oben) 
geforderte  x\pplikation  der  Erkenntnistheorie  auf  die 
physiologische  Forschung  hat  nach  dieses  Forschers  naraen- 
gebendem  Vorgange  (..Mechanismus  und  Vitalismus*')  zu  einem 
neuen  Schlagworte,  dem  ..Neovitalismus"  (Rindfleisch 
auf  der  Lübecker  Naturforscherversammlung  1895)  geführt,  dessen 
Inhalt,  wie  schon  erwähnt,  selbst  du  Bois-Reymond  noch  kurz 
vor  seinem  Tode  in  einer  Rede  bekämpfen  zu  müssen  geglaubt  hat: 
und  wenn  auch  heutzutage  kaum  ein  ernster  Forscher  mehr  die 
Identität  der  in  der  organischen  und  anorganischen  Welt  wirksamen 
Naturkräfte  leugnet,  so  muss  doch  entschieden  der  erkenntnis- 
kritische und  resignative  Zug.   welcher  durch   die  bio- 


454  Heinrich  Boruttau. 

logische  Forschung  an  der  letzten  Jahrhundertwende 
geht,  diese  Eeaktion  auf  die  Uebertreibungen  des  Materialismus, 
wenn  auch  Ost  walds  „Naturphilosophie"  tausendmal  grundverschieden 
ist  von  jener  älteren,  doch  in  etwas  an  die  100  Jahre  früher  herr- 
schende Stimmung  erinnern,  und  es  bleibt  nur  zu  wünschen,  dass  der 
unentwegte  Fleiss  der  experimentellen  Forschung  in  gleicher  Weise 
wie  damals,  im  neuen  Jahrhundert  zu  gleich  grossartiger  Bereicherung 
unserer  thatsächlichen  Kenntnisse  führen  möge. 

In  dieser  Beziehung  ist  die  Bevorzugung  allgemein  physiologischer 
Fragen  durch  die  jüngeren  Kräfte  charakteristisch,  in  welcher  Be- 
ziehung für  Deutschland  die  Führerrolle  übernommen  worden  ist  durch 
Verworn  [Max,  geb.  1863  in  Berlin,  seit  1895  Extraordinarius  in 
Jena,  seit  1901  Ordinarius  in  Göttingen  als  Nachfolger  Meissners; 
machte  Forschungsreisen  an  der  Küste  des  Roten  Meeres ;  führte  sich 
mit  Arbeiten  „Ueber  die  Bewegung  der  lebendigen  Substanz",  Jena 
1892;  „Psychophysiologische  Protistenstudien",  ebenda  1891;  über  die 
Bedeutung  des  Zellkerns,  die  polare  Erregung  der  lebendigen  Sub- 
stanz u.  a.  m.  ein] ;  in  seiner  zuerst  1895  in  Jena  erschienenen  „A 1 1  - 
gemeinen  Physiologie"  —  einem  rasch  bekannt  gewordenen 
Buche,  hat  dieser  Forscher  die  Forderung  aufgestellt,  dass  die  all- 
gemeine Phj'siologie  notwendig  eine  „Cellularphysiologie"  sein 
müsse  und  als  solche,  nachdem  Virchows  Cellularpathologie  schon 
40  Jahre  existiere,  mehr  in  Angriff  genommen  w^erden  müsse,  als  die 
nach  ihm  in  ihren  wesentlichen  Zügen  abgeschlossene  Organphj^siologie ; 
eine  Ansicht,  welcher  freilich  besonders  gerade  bei  den  Fachphysio- 
logen lebhaft  widersprochen  ist,  insofern  die  Voraussetzung,  dass  die 
einzelnen  Lebensfunktionen  sich  nach  Verworn s  Vorgang  an  ein- 
zelligen Organismen  besser  untersuchen  lassen  als  an  dafür  speziell 
differenzierten  Geweben  und  Einzelorganen  höherer  Organismen,  zum 
mindesten  zweifelhaft  sei.  Die  elementaren  Lebenserschei- 
nungen sucht  Verworn  auf  den  Stoffwechsel  des  Pflüger- 
Ehrlichschen  regenerierbaren  „lebendigen  Eiweissmoleküls" 
—  von  ihm,  wie  schon  erwähnt,  „Biogen"  genannt  —  zurückzuführen, 
unter  ausgiebiger  Verwendung  und  Weiterbildung  der  von  Ewald 
Hering  von  jeher  seinen  sinnesphj^siologischen  und  elektrophj'sio- 
logischen  Theorien  unterlegten  und  1888  ^)  ausführlicher  diskutierten 
Begriffe:  der  „Assimilation",  „Dissimilation",  „auf-  und 
absteigenden"  „allonomen"  Modifikationen,  der  „assimilatorischen  und 
dissimilatorischen  Erregung  und  do.  Lähmung",-)  des  „Biotonus" 
(Verhältnis  zwischen  Assimilations-  und  Dissimilationsintensität)  u.  s.  w. 
Endlich  vertritt  V  e  r  w  o  r  n  die  Anwendung  der  modernen  erkenntnis- 
theoretischen Prinzipien  der  Zurückführung  alles  scheinbar  Objektiven 
auf  das  Subjektive  als  selbstverständliche  Grundlage  aller 
wissenschaftlichen  Forschung. 

Von  sonstigen  deutschen  Vertretern  der  allgemeinen  Physiologie 
seien  v.  Uexküll  [Schüler  Kühnes,  jetzt  Abteilungsvorsteher  an 
der  zoolog.  Station  in  Neapel],  welcher  zusammen  mit  Beer  in  Wien 
und  Bethe  in  Strassburg  die  vergleichende  Richtung  vertritt, 
und  Loeb  [Jacques,  früher  Assistent  Ficks  in  Würzburg,  jetzt 
Professor    in    Chicago],    welcher    vor    allem    die    physikalische 

*)  „Lotos",  Prager  naturwiss.  Zeitschrift,  1888. 

*)  Siehe  auch  Verworns  Vortrag  über  „Erregung  und  Lähmung"  auf  der 
Frankf.  Naturforschervers.  1895. 


I 


Geschichte  der  Physiologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  etc.       455 

Chemie  auf  allgemein-pliysiologische  Probleme  anzuwenden  bestrebt 
ist,  genannt ;  es  verstellt  sich  von  selbst,  dass  diese  Richtung  sich  mit 
den  Bestrebungen  anderer,  besonders  neuerer  biologischer  Disziplinen, 
wie  der  Zoologie  und  Embryologie,  speziell  ..Zell-  und  Entwicklungs- 
mechanik" vereinigen  muss,  von  denen  hier  nicht  die  Rede  sein  kann, 
da  keine  Geschichtsdarstellung  der  gesamten  Biologie  beabsichtigt  ist. 
Auch  die  Darstellung  der  schliesslich  siegreichen  Bestrebungen  zur 
Widerlegung  der  Möglichkeit  einer  Urzeugung  (P asten r.  Meissner 
und  Rosenbach),  welche  zur  Entwicklung  der  modernen  Bak- 
teriologie und  Infektionslehre,  sowie  deren  praktischen  An- 
wendungen geführt  haben,  muss  der  Bearbeitung  jenes  Abschnitts 
überlassen  bleiben,  da  hier  nur  die  Geschichte  der  Physiologie 
als  medizinischer  Grundwissenschaft  dargestellt  werden 
sollte.  Dafür,  dass  sie  das  bleibe,  war  von  jeher  ihre  Behandlung 
als  Unterrichtsgegenstand  der  Medizinstudierenden 
von  gi^osser  Bedeutung,  und  es  kann  darum  die  dui^ch  die  neue  ärzt- 
liche Prüfungsordnung  für  das  Deutsche  Reich  eingeführte  Obli- 
gatorischmachung  praktischer  physiologischer  Kurse 
nur  dankbar  begrüsst  werden. 

Bei  dieser  Gelegenheit  seien ^)  die  Jahreszahlen  zusammen- 
gestellt, welche  der  Trennung  der  Anatomie  und  Physiologie  und  der 
Einrichtung  selbständiger  physiologischer  Institute 
an  den  Universitäten  des  Deutschen  Reiches  entsprechen: 


Breslau 

1811 

München      1863 

Marburg 

1848  (als  Extraord. 

schon  1837) 

Leipzig        1865 

Königsberg 

1849 

Rostock        1865 

Tübingen 

1853 

Würzburg    1865 

Kiel 

1855 

Freibm-g      1867 

Heidelberg 

1857 

HaUe      •■    1870 

Berlin 

1858 

Erlangen     1872 

Bonn 

1859 

Greifswald  1872 

Jena 

1860 

Strassburg  1872 

Göttingen 

1861 

Giessen       1891 

Wenn  nun  gelegentlich  in  Deutschland  mehr  als  andei-swo  über 
die  Lockerung  der  Beziehungen  der  Physiologie  zur 
praktischen  Medizin  geklagt  wird,  so  mag  dies  ja  zum  Teil 
daran  liegen,  dass  von  der  immer  mehr  ins  Detail  gehenden  Massen- 
arbeit in  unserer  Wissenschaft  naturgemäss  nur  weniges  mehr  direkt 
den  praktischen  Disziplinen  zu  gute  kommen  kann,  zum  Teil  aber  auch 
an  dem  leider  völligen  Mangel  an  experimentell-patho- 
logischen Instituten  und  Lehrstühlen,  welcher  in 
Deutschland  herrscht,  im  Gegensatz  zu  fast  allen  anderen 
Ländern:  experimentelle  Pathologie  wird  bei  uns  teils  in  physio- 
logischen, teils  in  pharmakologischen  und  hygienischen  Instituten,  selten 
in  den  sog.  pathologischen,  meist  rein  pathologisch-anatomischen  und 
histologischen  Instituten  getrieben;  und  dafür  dass  notw^endigerweise 
wie  die  pathologische  Anatomie  und  Histologie  die  Brücke  von  der 
normalen  Anatomie  und  Histologie,  so  eine  „pathologische 
Physiologie"  die  Brücke  von  der  normalen  Physiologie 
zu  den  klinischen  Fächern  bilden  muss,  soll,  wenn  ein  Zeug- 

*)  Nach  Hermann,  „Physiologie"  in  dem  offiziellen  Berichte  über  die  deutschen 
Universitäten  für  die  Weltausstellung  in  Chicago  1893. 


466  Heinrich  Boruttaiu 

nis  hier  überhaupt  noch  nötig,  so  dasjenige  des  um  die  normale,  wie 
pathologische  Physiologie  gleich  verdienten,  leider  zu  früh  verstorbenen 
Knoll  [Philipp,  geb.  1841  in  Karlsbad,  Assistent  Eckhards, 
1870  in  Prag  habilitiert,  seit  1879  Ordinarius  für  exp.  PathoL,  1898 
desgl.  in  Wien,  starb  im  Januar  1900]  in  Gestalt  seiner  Wiener  An- 
trittsrede angeführt  werden. 

Für  regelmässigeBerichterstattung  über  die  heutzutage 
schier  unübersehbar  gewordene  physiologische  Litteratur  ist  neben 
dem  im  Anschluss  an  den  Henle-Meissnerschen  und  Hofmann- 
Schwalb  eschen  Jahresbericht  durch  Hermann  fortgeführten 
„Jahresbericht  über  die  Fortschritte  der  Physiologie*' 
Sorge  getragen  durch  das  von  Gad  1887  begründete,  jetzt  von 
J.  Munk  und  S.  Fuchs  redigierte  „Centralblatt  für  Physio- 
logie", —  neben  anderen  nicht  ausschliesslich  der  physiologischen 
Berichterstattung  dienenden  Stellen. 

Von  Hilfsmitteln  für  die  experimentell-physio- 
logische Technik  ist  weiter  oben  Gl.  Bernards  Buch  „Legons 
de  phj'siologie  operatoire"  genannt  worden,  neben  welchem  Livons 
„Manuel  de  vivisections"  (Paris  1882)  für  Frankreich  massgebend 
geworden  ist.  Wesentlich  das  Instrumentarium  der  deutschen 
Institute,  insbesondere  des  C.  Ludwigschen  in  Leipzig,  berück- 
sichtigte Cyons  mit  einem  vortrefflichen  Atlas  ausgestatte  „Metho- 
dik der  physiologischen  Experimente  und  Vivisektionen", 
Giessen  und  Petersburg  1876,  während  des  zu  früh  verstorbenen 
Eichard  Gscheidlen  [in  Breslau  1842—1889]  „Physiologische 
Methodik"  leider  unvollendet  geblieben  ist.  In  neuerer  Zeit  sind  in 
Deutschland  wie  auch  im  Auslande  zahlreiche  für  die  praktische 
Ausbildung  der  Studenten  bestimmte  Leitfäden  der 
physiologischen  Technik,  besonders  aber  Anleitungen 
zum  physiologisch-chemischen  Arbeiten  erschienen,  welche 
hier  ebensowenig  einzeln  angeführt  werden  können,  wie  etwa  sämt- 
liche Lehrbücher, Leitfäden  und  Repetitorien  der  Physio- 
logie. Was  grössere  Handbücher  betrifft,  so  ist  auf  L.  Her- 
manns epochemachendes  Handbuch  (in  6  Bänden,  Leipzig  1879 — 
1882)  in  Deutschland  bis  zur  Stunde  noch  kein  gleichartiges  Unter- 
nehmen gefolgt;  dem  öfter  erwähnten  älteren  Wagner  sehen  Hand- 
wörterbuch in  Bezug  auf  die  alphabetische  Artikelfolge  analog,  doch 
viel  grossartiger  angelegt  ist  das  bis  jetzt  noch  nicht  vollendete 
„Dictionnaire  de  physiologie",  welches  Ch.  Eichet  in  Paris 
1897  herauszugeben  begonnen  hat;  kürzer,  doch  den  Charakter  eines 
ausführlichen  Handbuchs  tragend,  ist  das  mehrbändige  auch  noch 
nicht  ganz  abgeschlossene  Werk  von  Doyon  und  Morat  in  Lyon. 
Innerhalb  der  hier  betrachteten  Zeit  bereits  fertig  erschienen  ist 
das  von  E.  A.  Schäfer  (s.  früher)  herausgegebene,  von  zahlreichen 
tüchtigen  englischen  Physiologen  bearbeitete  „Textbook  of  Phy- 
siology"  (London  1898 — 1900),  in  dessen  zwei  starken  Bänden  eine 
Fülle  Inhalts  in  übersichtlicher  Form  und  gediegener  Darstellung 
enthalten  ist;  wer  denselben  mit  demjenigen  älterer  Werke,  etwa  der 
ja  viel  umfangreicheren  Elementa  Hallers  vergleicht,  wird  ohne 
Mühe  die  gewaltigen  Fortschritte  erkennen,  welche  gerade  in  dem 
vergangenen  Jahrhundert  unsere  Wissenschaft  gemacht  hat,  —  und 
zwar  besser  erkennen,  als  mir  in  dieser  kurzen  Darstellung  zu  zeigen 
gelungen  ist. 


Medizinische  Chemie. 

Von 

Georg:  Kom  (Berlin). 


I 


Litteratur. 

S.  Kopp,  Geschichte  der  Chemie,  Braunschweig  1843.  —  Derselbe^  Beiträge 
zur  Geschichte  der  Chemie,  Brattnschiceig  1875,  und:  Die  Enticicklung  der  Chemie 
in  der  neueren  Zeit,  München  1873.  —  E.  v.  Mex/er^  Geschichte  der  Chemie, 
2.  Aufl.,  Leipzig  1895.  —  A.  Lndenburg,  Vorträge  über  die  Entxcicldungsgeschichte 
der  Chemie  in  den  letzten  hundert  Jahren,  2.  Aufl..  Braunschxceig,  1887,  und:  Die 
Entwicklung  der  Chemie  in  den  letzten  20  Jahren,  Stuttgart  1900.  -^  »T.  JET.  van't 
Hojf,  Ueber  die  EnticicMung  der  exakten  Xatunci.f.senschafteyi  im  19.  Jahrhundert, 
Hamburg  und  Leipzig  1900.  —  O.  Wallach,  Die  Chemie  in:  Lexis,  Die  deutschen 
Universitäten,  Berl.  1893.  Bd.  IL  —  S.  Günther,  Geschieht«  der  anorganischen 
Wissenschaften  im  19.  Jahrhundert,  Berl.  1901.  —  Berichte  der  Deutschen  Chemischen 
Gesellschaft,  Berlin  1869  ff.  —  Ed.  Hoppe-SeyJer,  Die  EntwicMung  der  physio- 
logischen Chemie,  Strassburg  1883  tind:  Physiologische  Chemie.  Berl.  1877—81.  — 
Bunge,  Lehrbuch  der  physiologischen  u.  pathologischen  Chemie,  4.  Aufl.,  Leipzig  1898. 

Bis  zum  Be^n  der  Neuzeit  kann  man  von  einer  wissenschaft- 
lichen Chemie  nicht  reden.  Die  dürftigen  chemischen  Einzelkenntnisse 
standen  im  Dienste  des  Aberglaubens,  der  Älchymie.  Länger  als 
ein  Jahrtausend,  vom  vierten  bis  ins  sechzehnte  Jahrhundert  der 
christlichen  Zeitrechnung,  war  die  einzige  Aufgabe  des  Chemikers 
und  AlchjTnisten,  den  Stein  der  Weisen  zu  finden,  der  es  ermög- 
lichte, unedle  Metalle  in  Gold  und  Silber  zu  verwandeln  und  zugleich 
als  Allheilmittel  galt  das  die  Menschen  zu  verjüngen  und  das  Leben 
zu  verlangen!  im  stände  wäre.  Bei  dem  blinden  Autoritätsglauben 
des  Mittelalters  vererbte  sich  dieser  Wahn  von  Geschlecht  zu  Geschlecht. 
Man  hielt  alle  Metalle  für  Körper,  die  aus  zwei  Bestandteilen,  Schwefel 
und  Quecksilber,  zusammengesetzt  seien  und  dachte  sich  die  Beschaff'en- 
heit  der  Metalle  abhängig  von  den  Mengenverhältnissen  und  der 
Eeinheit  dieser  Bestandteile. 

Gold  sollte  viel  Quecksilber  und  wenig  Schwefel  enthalten,  Süber 
umgekehrt  viel  Schwefel  und  wenig  Quecksilber.  Der  Stein  der 
Weisen  hatte  die  Aufgabe,  das  Verhältnis  zwischen  Schwefel  und 
Quecksilber  günstig   zu   gestalten,   die  beiden  zu  reinigen  und  ent- 


458  Georg  Korn. 

sprechend  festzuhalten.  In  dieser  „Goldmacherei"  ging  alles  chemische 
Forschen  auf. 

Die  ersten  Andeutungen  einer  chemischen  Analyse  finden  wir  in 
den  Schriften  von  Basilius  Valentinus,  der  als  Mönch  um  1413 
in  Erfurt  lebte  und  u.  a.  die  Gewinnung  der  Antimonpräparate  be- 
schrieb. Aber  erst  die  gewaltige  Erschütterung  aller  Autoritäten  und 
das  Bauen  lediglich  auf  gesicherte  Erfahrungen  anderer  und  eigene 
Forschung,  wie  sie  auf  allen  Gebieten  des  geistigen  Lebens  den  Be- 
ginn der  Neuzeit  bezeichnen,  drängten  auch  die  Alchymie  in  den 
Hintergrund.  Der  revolutionäre  Feuerkopf  Paracelsus  (f  1541) 
war  es,  der  die  Chemie  aus  den  Händen  der  Alchymisten  befreite  und 
sie  zu  Heilzwecken  nutzbar  machte;  er  gab  dadurch  den  Anstoss  zum 
wissenschaftlichen  Betrieb  der  Chemie  und  zur  Begründung  der 
medizinischen  Chemie. 

Ihm  galt  lebendige  Erfahrung  alles,  Autoritäten  nichts.  Wie  er 
die  bekannten  chemischen  Präparate  auf  ihre  Heilwirkung  untersuchte, 
vielfach  neue  mineralische  Heilmittel  einführte,  selbst  gefährliche 
Gifte  unter  Umständen  als  Heilmittel  erkannte  und  die  wirksame 
„Quintessenz"  den  Arzneipflanzen  entnahm,  so  verglich  er  auch  die 
Vorgänge  im  menschlichen  Körper  mit  chemischen  Erscheinungen  und 
nahm  Aenderungen  in  der  chemischen  Beschaffenheit  der  Organe  als 
Ursachen  von  Krankheiten  an. .  Er  bestritt  die  Säftetheorie  der  Alten 
und  ihre  Lehre,  dass  das  Herz  der  Sitz  der  Wärme  sei;  viel- 
mehr trage  jeder  Körperteil  seine  Wärmequelle  in  sich.  Beson- 
deren Wert  legte  er  auf  seine  Lehre  vom  Tartarus.  Darunter  ver- 
steht er  die  Niederschläge  von  Bestandteilen  des  menschlichen 
Körpers,  die  er  in  gesundem  Zustande  gelöst  enthält.  Der  Tartarus 
erzeugt  nach  Paracelsus  je  nach  dem  Ort  der  Ablagerung  Steinleiden 
oder  Podagra.  Durch  Paracelsus  wurde  auch  die  Chemie  zum  medi- 
zinischen Unterrichtsgegenstand  und  seinem  Einfluss  war  es  zu  danken, 
dass  an  den  Universitäten  besondere  Lehrstühle  für  Chemie  errichtet 
wurden.  So  wurde  die  Chemie  für  lange  Zeit  eine  unselbständige 
Magd  der  Medizin,  die  erst  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts  sich  zur 
selbständigen  Wissenschaft  erheben  und  eigene  Wege  wandeln  konnte. 

Zunächst  wurde  durch  den  von  Paracelsus  herbeigeführten  Bund 
der  Chemie  mit  der  Medizin  die  Arzneimittellehre  vielfach  bereichert. 
Aber  auch  die  Chemie  selbst  erfuhr  durch  die  Aerzte  bedeutende  Be- 
reicherung. So  erfand  der  Arzt  Andreas  Libavius aus  Halle  (zu- 
letzt Direktor  des  Gymnasiums  in  Koburg)  die  Bereitung  der  Schwefel- 
säure aus  Schwefel  und  Salpeter  und  wies  ihre  Identität  mit  derjenigen 
nach,  die  sich  aus  Vitriol  und  Alaun  bildet.  Die  Färbung  der  Glas- 
flüsse durch  Zusatz  von  Gold  war  ihm  ebenso  bekannt  wie  die  Her- 
stellung des  Doppelt-Chlorzinns  durch  Destillation  des  Quecksilber- 
sublimats mit  Zinn. 

Angeregt  durch  die  Lehren  des  Paracelsus  war  auch  Johann 
Baptist  van  Helmont,  das  Haupt  der  latrochemiker  oder 
Chemiatriker  (1578—1644),  ein  belgischer  Edelmann,  einer  der 
hervorragendsten  Chemiker  seines  Zeitalters.  Er  verwarf  zuerst  die 
vier  Elemente  des  Aristoteles,  erfand  das  Wasserglas,  entdeckte  die 
Kohlensäure  und  führte  den  Namen  und  Begriif  der  Gase  für  Luft- 
arten, die  nicht  mit  der  atmosphärischen  Luft  übereinstimmen,  in  die 
Chemie  ein.  Er  stellte  die  später  so  wichtig  gewordenen  Sätze  auf, 
dass  kein  Stoflf  aus  einer  Flüssigkeit  abgeschieden  werden  könne,  der 


Medizinische  Chemie.  459 

niclit  schon  vorher  darin  war  (ein  Todesurteil  für  die  Goldmacherkunst 
der  Alchymisten !)  und  ferner,  dass  ein  Stoff  in  zahlreiche  verschieden- 
artig^e  Verbindungen  übergeführt  werden  könne,  aus  denen  er  sich 
wieder  in  der  vorherigen  Form  ausscheiden  lasse.  Im  Geiste  der 
exakten  Eichtung  des  16.  Jahrhunderts  sind  seine  experimentellen 
Forschungen,  um  den  Anteil  des  Bodens,  des  Wassers  und  der  Luft 
an  der  Ernährung  der  Pflanzen  zu  studieren. 

Sein  medizinisches  System  ist  durch  religiöse  Schwärmerei  stark 
beeinflusst,  Lebensgeister  (Archei)  beherrschen  die  Lebensvorgänge 
und  vermittelst  der  „Fermente"  die  Veränderungen  der  festen  und 
flüssigen  Gebilde.  Das  belebende  Prinzip  des  Blutes  ist  der  „Latex 
sanguinis" ;  die  Körperwärme  ist  das  Produkt,  nicht  die  Ursache  des 
Lebens.  Pflanzentinkturen  und  mineralische  Heilmittel ,  auch  die 
Heilquellen,  in  denen  er  vielfach  Kohlensäure  und  Alkalien  nachwies, 
sind  für  die  Behandlung  am  wichtigsten,  doch  glaubt  er  auch  an  ein 
Allheilmittel. 

Ein  frischer  Aufschwung  belebte  im  16.  und  17.  Jahrhundert  die 
Natur\\-issenschaften ;  stolz  auf  ihre  Errungenschaften  wollten  die 
Aerzte  vielfach  Physik  oder  Chemie  zur  Grundlage  medizinischer 
Theorien  und  ärztlichen  Handelns  machen,  indem  die  einen,  die 
„latrophysiker"  ^vorzugsweise  die  Physik,  die  „latrochemiker" 
die  Chemie  als  die  Grundlage  der  Physiologie  und  der  Heilkunde  be- 
trachteten. Als  erste  Versuche  exakter  Bearbeitung  der  Medizin,  die 
wenig  von  der  Spekulation,  alles  von  der  Erforschung  der  Thatsachen, 
von  Beobachtung  und  Experiment  erwartet,  waren  diese  Anläufe 
geTsiss  rühmlich,  aber  die  Physik  und  Chemie  jener  Zeit  war  noch  viel 
zu  wenig  entwickelt  und  zu  arm  an  feststehenden  Thatsachen,  um 
einen  sicheren  Unterbau  für  die  Medizin  zu  gewähren.  Die  Jatro- 
chemiker  sahen  in  allem  organischen  Geschehen  Gärungs-  und  Zer- 
setzungsvorgänge und  wollten  die  meisten  Aeusserungen  des  gesunden 
und  kranken  Körpers  durch  chemische  Vorgänge  erklären,  vor  allem 
die  den  Gesundheitszustand  der  einzelnen  Organe  bedingenden  und 
auf  diese  wirkenden  Bestandteile  ermitteln.  Hatte  man  anfangs  dafür 
die  drei  Stoffe  Salz,  Schwefel  und  Quecksilber  angesehen,  so  stellt 
sich  sehr  bald  durch  gesteigerte  Beobachtung  das  Falsche  dieser  An- 
sicht heraus,  und  es  traten  an  die  Stelle  dieser  Fundamentalstoffe 
nunmehr  Säuren  und  Laugensalze. 

Die  Gegensätze  zwischen  latrophysikern  und  latrochemikern 
traten  z.  B.  sehr  stark  in  ihren  Ansichten  über  Verdauung,  Blut- 
bereitung und  Ernährung  hervor.  Während  die  latrophysiker  alle 
Vorgänge  auf  mechanische  Wirkungen  zurückführten,  betrachteten  die 
latrochemiker  die  Verdauung  als  eine  Form  der  „Fermentation", 
d.  h.  als  einen  durch  den  Speichel,  dessen  Fermentwirkung  bereits 
Vieussens  kannte,  den  pankreatischen  Saft  und  besonders  die  Galle 
bewirkten  molekularen  Vorgang.  Auch  die  Bildung  des  Chylus  und 
des  Blutes,  sowie  die  Ernährung  sind  für  sie  chemische,  von  dem  be- 
lebenden Einflüsse  der  Spiritus  vitales  unterstützte  Vorgänge. 

Sehr  einflussreich  wurde  von  latrochemikern  Franz  de  le  Boe 
Sylvius  (t  1672  zu  Leyden),  der  zugleich  die  Fortschritte  der 
Anatomie  und  Physiologie  für  die  Heilkunde  nutzbar  zu  machen  suchte. 
Nach  ihm  beruht  die  Verdauung  auf  einer  „Fermentation"  (blanda 
resolutio),  einer  unmerklichen  chemischen  Umsetzung  der  Nahrungs- 
mittel durch  den  Mundspeichel,  den  Magensaft,  den  Succus  pancreaticus, 


460  Georg  Korn. 

die  Galle,  besonders  aber  durch  ein  von  der  Milz  bereitetes  feines 
„Ferment".  Das  Atmen  hat  die  Bestimmung,  die  durch  die  einge- 
pflanzte Wärme  des  Herzens  und  die  Beimischung  der  Galle  bewirkte 
„Eflfervescenz"  des  Blutes  zu  massigen.  Dies  geschieht  vermöge  eines 
in  der  atmosphärischen  Luft  enthaltenen  einfachen  und  reinen  Salzes, 
das  besonders  reichlich  im  Salpeter  vorhanden  ist.  Die  wichtigsten 
Erkrankungen  bewirken  die  Anomalien  der  Fermente,  also  des  Mund- 
und  Bauchspeichels,  der  Lymphe,  namentlich  die  saure  und  laugen- 
hafte Schärfe  der  Galle.  Die  Lehre  vom  Fieber  wird  ganz  besonders 
durch  die  chemischen  Erklärungen  beherrscht;  es  wird  erklärt  als 
Folge  einer  „Eifervescenz"  des  Herzblutes  durch  Beimischung  krank- 
haft veränderter,  namentlich  eine  abnorme  Säure  enthaltender  Grund- 
flüssigkeiten. Die  Fieber  zerfallen  hiernach  in  „biliosae",  „pancre- 
aticae",  „lymphaticae",  salivales". 

Sylvius'  Lehren  fanden  in  Deutschland  und  in  den  Niederlanden 
reiche  Verbreitung.  Einer  seiner  Anhänger,  der  holländische  Leibarzt 
des  grossen  Kurfürsten,  Coroelis  Bontekoe  (eigentlich  Dekker,  f  1685) 
zog  als  Heilmittel  auch  die  jüngst  eingeführten  Genussmittel,  das 
„königliche  Kraut",  den  Tabak  und  den  Thee  heran,  um  Magen  und 
Pankreas  zu  reinigen  und  das  Blut  vor  Stockung  zn  bewahren,  ausser 
dem  reichlichen  Genuss  von  kaltem  und  noch  mehr  von  warmem 
Wasser;  vom  Thee  empfahl  er  nicht  weniger  als  täglich  50  Tassen 
und  mehr.  Von  den  englischen  Jatrochemikern  ist  namentlich  Francis 
Willis  zu  nennen,  der  auf  den  süssen  Geschmack  des  diabetischen 
Harns  zuerst  (1663)  aufmerksam  machte.  Aber  auch  gewichtige 
Gegner  fehlten  den  Jatrochemikern  nicht;  der  Philologe  Bohn  in 
Leipzig  Avies  die  Unhaltbarkeit  ihrer  Gruudlehre  von  den  sauren 
Fermenten  des  Magens,  des  Pankreas  und  der  Galle  nach,  Brunn  er 
exstirpierte  den  Pankreas  bei  Hunden  ohne  schwere  Folgen.  Am  ver- 
hängnisvollsten aber  wurde  ihrer  Lehre  die  Wirksamkeit  des  grossen 
Praktikers  Thomas  Sydenham  (f  1689),  der  alle  verfrühten 
Theorien  und  pseudowissenschaftliche  Systeme  verschmähend,  auf  den 
festen  Boden  der  Beobachtung  und  der  gesicherten  Thatsachen  zurück- 
ging. Die  Chemie  galt  ihm  wenig  mehr  als  ein  Zweig  der  Apotheker- 
kunst. 

Ein  Zeitgenosse  Sydenhams  war  Robert  Boyle  (1627— 1691)^ 
dessen  Wirksamkeit  den  Beginn  einer  selbständigen  chemischen  Wissen- 
schaft, der  neueren  Chemie,  einleitete.  Er  betrachtete  das  Experiment 
als  Ausgangspunkt  aller  exakten  Forschung  und  wurde  der  Begründer 
der  Verwandtschaftslehre.  Er  war  der  erste  Chemiker,  der  den  Unter- 
schied zwischen  einfachen  Körpern  und  Verbindungen  aussprach.  Da- 
durch wurde  es  möglich,  die  Zusammensetzung  von  Körpern  durch 
Synthese  und  Analyse  zu  ermitteln,  allerdings  zunächst  nur  bei  un- 
organischen Stoffen. 

Schon  vor  Boyle  hatte  der  Arzt  Glaub  er  (f  1668),  der  u.  a.  das 
schwefelsaure  Natron  („Glaubersalz")  genauer  erforschte,  eine  gewisse 
Vorahnung  der  Lehre  vor  der  chemischen  Verwandtschaft,  aber  eigent- 
lich begründet  wurde  sie  durch  Boyles  Corpusculartheorie,  wo  er  die 
Auflösung  chemischer  Verbindungen  in  ihre  Bestandteile  und  deren 
Vereinigung  mit  denjenigen  anderer  chemischer  Verbindungen  durch 
die  Anziehung  und  Abstossung,  die  sie  aufeinander  ausüben,  zu  er- 
klären sucht.  Seit  Boyle  begann  man  die  Chemie  um  ihrer  selbst 
willen   zu   studieren,  nicht   lediglich   als  Hilfsmittel  der  Alchymisten 


Medizinische  Chemie.  461 

oder  um  neue  Arzneien  darzustellen,  wie  die  von  ihm  bekämpften 
Jatrochemiker.  Abgesehen  von  einer  ßeihe  wichtiger  Entdeckungen, 
hatte  er  für  die  analytische  und  technische  Chemie  grundlegende  Be- 
deutung. In  seinem  Sinne  wirkten  Kunkel,  der  Entdecker  des 
Phosphors,  und  Becher  (f  1682),  der  Begründer  der  phlogistischen 
Theorie,  die  später  von  Stahl  weiter  ausgebildet  wurde  und  über  ein 
volles  Jahrhundert  in  Geltung  blieb. 

In  dieser  Periode  waren  es  zunächst  nur  die  qualitativen  Er- 
scheinungen, die  Art  der  Stoffe  und  ihrer  Verbindung,  welche  man 
sich  bemühte  zu  erklären  und  in  Zusammenhang  zu  bringen,  während 
erst  später  die  quantitativen  Verhältnisse  und  ihre  Erforschung  in  den 
Vordergrund  traten.  Bei  jener  Erklärung  der  chemischen  Vorgänge 
nahm  man  zu  willkürlichen,  hypothetischen  Stoffen  seine  Zuflucht,  welche 
durch  ihr  Hinzutreten  oder  Entweichen  gewisse  Prozesse  bewirken 
sollten,  ohne  dass  man  sich  jedoch  bemühte,  die  Natur  solcher  Stoffe 
zu  ermitteln.  So  entstand  die  Lehre  vom  Phlogiston,  deren  An- 
hänger man  Phlogistiker  nannte.  Das  Phlogiston  war  erfunden  worden, 
um  die  Verbrennung  erklären  zu  können ;  viele  Jahrzehnte  lang  glaubten 
die  Chemiker  an  das  Vorhandensein  dieses  Stoffes,  mit  dessen  speziellen 
Eigenschaften  sich  bekannt  zu  machen  jedoch  keinem  von  ihnen  in  den 
Sinn  kam,  namentlich  nachdem  Georg  Ernst  Stahl  (1660 — 1734) 
die  Lehre  von  dem  Phlogiston  mit  vielem  Scharfsinn  so  zurecht  gelegt 
hatte,  dass  alle  noch  unerklärten  Erscheinungen  durch  diese  Theorie 
sich  scheinbar  ungezwungen  erklären  Hessen.  Man  glaubte,  dass  bei 
einer  Verbrennung  oder  beim  Oxydieren  (Rosten)  grössere  oder  ge- 
ringere Mengen  Phlogiston  entweichen  mussten.  Wollte  man  aus  Eisen- 
rost Eisen  darstellen,  so  musste  ihm  wieder  Phlogiston  zugeführt 
werden,  was  durch  Erhitzen  mit  einem  daran  reichen  Körper,  z.  B. 
mit  Kohle,  die  dabei  verbrannte  und  so  ihr  Phlogiston.  an  das  Eisen 
übertrug,  erreicht  werden  konnte.  Nach  Analogie  des  Phlogiston  legte 
man  den  Säuren  einen  sauern  Stoff,  die  sogenannte  Ursäure,  und  den 
kaustischen  Alkalien  einen  kaustischen  Stoff  zu  Grunde.  Immerhin 
führte  das  phlogistische  System  trotz  seines  Grundirrtums  eine  grosse 
Zahl  der  wichtigsten  Vorgänge  auf  eine  Grundursache  zurück. 

Die  Medizin  wurde  indessen  durch  die  Chemie  während  der  phlo- 
gistischen Periode  wenig  beeinflusst.  Stahl  selbst  versagte  in  seinem 
System  der  Chemie,  um  die  er  sich  sonst  grosse  Verdienste  erwarb, 
jede  Anwendung  auf  die  Erklärung  der  Lebensvorgänge,  die  er  auf 
die  Wirkung  einer  etwas  unklaren  „Seele"  zurückführte.  Immerhin 
blieb  die  chemische  Forschung  meist  in  den  Händen  von  Aerzten  und 
Apothekern.  So  wurde  durch  Friedrich  Hoffmann  (11742),  den 
wissenschaftlichen  Gegner  Stahls,  die  chemische  Untersuchung  der 
Mineralquellen  gefördert  und  z.  B.  im  Seidlitzer  Mineralwasser  das 
Bittersalz  aufgefunden,  der  Stralsunder  Apotheker  Scheele  (f  1786) 
entdeckte  gleichzeitig  mit  Priestley  den  Sauerstoff,  ferner  den  Stick- 
stoff, die  Wolframsäure,  viele  organische  Säuren,  wie  die  Weinsäure. 
Aepfelsäure.  Citronensäure,  Oxalsäure,  Harnsäure,  und  das  Glycerin. 
Er  war  wohl  der  letzte  bedeutende  Verfechter  der  phlogistischen  Theorie. 

Nach  und  nach  jedoch  wurden  Beobachtungen  in  grösserer  Menge 
gemacht,  bei  denen  das  Phlogiston  zur  Erklärung  nicht  mehr  ausreichen 
wollte;  aus  dem  roten  Quecksilberoxyd  konnte  man  z.  B.  metallisches 
Quecksilber  herstellen,  ohne  dass  damit  ein  Phlogiston  abgebender 
Körper  in  Beruhigung  gebracht  wui'de.    Diese  und  ähnliche  Thatsachen 


462  Georg  Korn. 

erschütterten  das  Vertrauen  auf  die  herrschende  Ansicht  sehr.  Ganz 
besonders  haben  die  drei  englischen  Chemiker  Black  (er  beschrieb 
zuerst  die  Eigenschaften  der  Kohlensäure  und  fand  die  Theorie  der 
latenten  Wärme;  11799),  Oavendish  (der  freilich  das  Wasserstoff- 
gas für  das  gesuchte  Phlogiston  hielt)  und  Priestley  (1733—1804) 
zum  Sturz  der  phlogistischen  Theorie  beigetragen.  Sie  haben  sich 
namentlich  um  ein  bis  dahin  noch  sehr  mangelhaft  bebautes  Gebiet, 
die  Abscheidung  und  Beschreibung  der  Eigenschaften  der  Gasarten, 
grosse  Verdienste  erworben.  Im  Jahre  1774  fand  Priestley  den  Sauer- 
stoff, indem  er  rotes  Quecksilber  zum  Erhitzen  brachte  und  regte  damit 
den  Sturz  der  phlogistischen  Lehre  an,  den  Lavoisier  zum  Abschluss 
brachte. 

Erst  dieser  Forscher  (1743—1794)  erkannte  die  volle  Bedeutung  der 
neuen  Entdeckung.  Er  hatte  schon  1772  experimentell  erwiesen,  dass 
bei  der  Verkalkung  (Oxydation)  der  Metalle  und  bei  der  Verbrennung 
von  Phosphor  und  Schwefel  eine  Gewichtszunahme  erfolgt  die  auf  der 
Absorption  von  Luft  beruht  und  der  phlogistischen  Theorie  wider- 
spricht. Nach  Priestleys  Entdeckung  konnte  er  durch  zahlreiche  Ver- 
suche nachweisen,  dass  sich  nur  ein  Fünftel  der  atmosphärischen  Luft 
an  der  Verbrennung  beteiligt,  und  dass  die  Luft  aus  einem  Teile  Sauer- 
stoff und  vier  Teilen  eines  Glases  besteht,  welches  weder  zur  Ver- 
brennung, noch  zur  Atmung  geeignet  ist.  So  entwickelte  Lavoisier 
seine  noch  heute  gültige  Verbrennungstheorie  und  führte  zugleich  den 
allgemeinen  Gebrauch  der  Wage  in  der  Chemie,  die  quantitative 
Analyse  ein.  Es  beginnt  mit  ihm  eine  neue,  glänzende  Epoche  der 
Chemie. 

Da  Lavoisier  in  allen  Säuren,  die  er  untersuchte,  Sauerstoff  fand, 
erklärte  er  diesen  für  den  diesen  Körpern  gemeinsamen  Bestandteil, 
setzte  ihn  also  an  die  Stelle  der  früheren  „Ursäure" ;  zugleich  betonte 
er  die  Bedeutung,  welche  der  Sauerstoff  für  die  Oxydation  oder,  wie 
man  den  Vorgang  bisher  bezeichnet  hatte,  „Verkalkung"  der  Metalle 
hat.  Ferner  setzte  er  die  Rolle  des  Sauerstoffs  bei  der  Atmung  und 
Blutbereitung  auseinander  und  gab  damit  den  Anstoss  zur  völligen 
Umgestaltung  der  physiologischen  Anschauungen  über  diese  Vorgänge. 

Auch  auf  die  Pathologie  und  Therapie  übte  die  Entdeckung  des 
Sauerstoffs  und  die  damit  erweiterte  Kenntnis  von  den  fundamentalsten 
Vorgängen  des  tierischen  Lebens  einen  grossen  Einfluss  aus.  Hatte 
doch  auch  Scheele  gleichzeitig  die  Zusammensetzung  der  atmosphärischen 
Luft  aus  „Feuerluft"  und  „verdorbener  Luft"  (Stickgas)  und  die  Ent- 
stehung von  „fixer  Luft"  (Kohlensäure)  durch  das  Atmen  nachge- 
wiesen. Priestley  selbst,  ein  genialer  Laie,  rühmte  den  Sauerstoff  nach 
Versuchen  an  sich  selbst  als  eine  Panacee  zur  Verlängerung  des 
Lebens  und  zur  Heilung  von  Krankheiten.  Was  lag  für  die  damaligen 
Aerzte,  die  in  der  Aufstellung  von  Systemen  die  eigentliche  Wissen- 
schaft sahen,  näher,  als  schleunigst  den  Sauerstoff  für  ein  neues  System 
nutzbar  zu  machen.  Sie  sahen  in  ihm  die  Lebensluft,  auf  der  die  Ge- 
sundheit beruhe  und  glaubten,  dass  bestimmte  Krankheiten  in  dem 
Ueberschuss  oder  Mangel  von  Sauerstoff  ihren  Grund  hätten.  So  ver- 
wandte Thomas  Beddoes  in  Bristol  in  Verbindung  mit  James 
Watt,  den  Erfinder  der  Dampfmaschine,  den  Sauerstoff  zu  Heilzwecken, 
ferner  der  berühmte  Chemiker  Fourcroyin  Paris,  der  die  medizinische 
Chemie  eifrig  pflegte,  in  Gemeinschaft  mit  seinem  Schüler  Rollo,  der 
alle  Arzneien  in  oxydierende  und  desoxydierende  einteilte,  Baumes, 


Medizinische  Chemie.  463 

der  alle  Krankheiten  auf  Missverhältnisse  des  Sauerstoffs,  Wasserstoffs, 
Stickstoffs,  des  Phosphors  und  des  „Wärmestoffs"  zurückführte,  G.  Chr. 
Reich  in  Berlin,  welcher  das  Fieber  der  Vermehrung  des  „positiven'' 
(Stickstoff)  und  Verminderung  des  „negativen"  Lebenselements  (Sauer- 
stoff) zuschreibt,  und  andere  mehr.  Diese  neue  iatrochemische  Schule 
ging  freilich  noch  früher  wie  die  alte  an  ihrer  Einseitigkeit  zu  Grunde. 

Naturgemäss  fand  Lavoisiers  Lehre  zunächst  in  Frankreich  eifrige 
Anhänger,  wie  Guyton  de  Morveau,  Fourcroy,  Berthollet.  In  Deutsch- 
land war  Martin  Heinrich  Klaproth  in  Berlin  (f  1817)  der  Erste, 
welcher  für  Lavoisiers  neue  Theorie  eintrat. 

Die  weitere  Entwicklung  der  chemischen  Theorien  und  der  Chemie 
im  allgemeinen  kann  hier  nur  andeutungsweise  berührt  werden.  Im 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts  fand  J.  L.  Proust  das  Gesetz,  dass  die 
chemischen  Verbindungen  stets  eine  bestimmte  Constanz  ihrer  Zusammen- 
setzung zeigen.  Im  Jahre  1805  fand  Gay-Lussac  in  Gemeinschaft 
mit  Alexander  von  Humboldt,  dass  sich  das  Wasser  aus  1  Volumen 
Sauerstoff  und  2  Volumen  Wasserstoff  zusammensetzt.  Durch  spätere 
Untersuchungen  erwies  er,  dass  die  Bestandteile  von  Verbindungen, 
sobald  sie  in  gasartigem  Zustande  sind,  auch  in  einem  bestimmten 
Raum  Verhältnis  zu  einander  stehen  und  begründete  damit  die  Volumen- 
theorie. John  Dal  ton  (1766  — 1844)  erklärte  die  Konstanz  der 
chemischen  Verbindungen  durch  die  atomistische  Theorie,  indem  er  an- 
nahm, dass  sich  die  Atome  verschiedener  Elemente  in  einem  bestimmten, 
von  ihrem  Gewicht  abhängigen  Verhältnis  vereinigen;  dabei  fand  er 
das  Gesetz  der  multiplen  Proportionen.  Durch  Wenzel  und  Richter 
wurde  die  Lehre  von  den  Gewichtsverhältnissen,  in  welchen  die  Körper 
sich  vereinigen,  die  Stöchiometrie,  ausgebaut.  Aus  den  Schluss- 
folgerungen, zu  denen  die  von  Richter  mit  unsäglicher  Mühe  und  Aus- 
dauer bestimmten  stöchiometrischen  Tabellen  Veranlassung  gaben,  ent- 
standen wichtige  Gesichtspunkte  für  die  Bestimmung  der  Elemente,  die 
Gruppierung  der  Atome  der  zusammengesetzten  Stoffe  und  die  Art  ihrer 
Konstitution.  Humphrey  Davy  (f  1829)  und  Faraday  (f  1867) 
(begründeten  und  förderten  die  Elektrochemie,  Jakob  Berzelius 
i779 — 1848)  begründete  die  Verwandtschaftslehre  und  bereicherte  alle 
Richtungen  der  Chemie;  aus  seiner  Schule  gingen  eine  grosse  Zahl 
hervorragende  Chemiker  hervor,  wie  die  beiden  Rose,  Chr.  Gmelin, 
Mitscherlich,  Wöhler,  Magnus  u.  a.  Die  organische  Chemie 
trat  dann  namentlich  durch  Liebig  (1803 — 1873)  in  den  Vordergrund. 
Die  technischen  Apparate  der  analytischen  Chemie  und  die  gesamte 
chemische  Technik  erreichte  einen  ungeahnten  Grad  der  Vollkommen- 
heit. Die  Chemie  erwuchs  zu  einem  der  mächtigsten  Faktoren  des 
wirtschaftlichen  Lebens;  grosse  Weltindustrien  entstanden  auf  Grund 
der  wissenschaftlichen  Forschung,  Technik  und  Landwirtschaft,  viele 
Gewerbe  und  Handwerke  gestaltete  sie  um.  Auch  die  Heilkunde, 
lange  Zeit  nur  durch  die  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  Zusammen- 
hang mit  der  Chemie,  fand  in  ihr  nun  ein  wichtiges  Förderungsmittel 
der  Physiologie  und  Pathologie,  der  gericlichen  Medizin  und  neuer- 
dings auch  der  Bakteriologie.  Noch  bis  weit  ins  19.  Jahrhundert 
hinein  gingen  die  chemischen  Forscher  in  Deutschland  meist  aus  den 
Aerzten  hervor,  wie  Gmelin,  Tiederaann,  Wöhler  u.  s.  w^,  oder  aus  den 
Apothekern,  wie  Liebig. 

Die  ersten  bedeutenden  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  physio- 
logischen Chemie   schlössen  sich  an  Lavoisiers  Forschungen   an. 


464  Georg  Korn. 

Proust  entdeckte  den  Harnstoff,  Fourcroy  und  Vauquelin  stellten 
eine  ganze  Reihe  wichtiger  Untersuchungen  an,  von  deren  Popularität 
ein  bekanntes  Scherzwort  über  die  chemische  Zusammensetzung  der 
Thräne  zeugt,  Prevost  machte  namentlich  das  Blut  zum  Gegenstande 
seiner  Arbeiten.  Fourcroy  betonte  dabei  gegenüber  den  neuen 
Chemiatrikern,  wie  Baumes  u.  s.  w.,  in  einem  Briefe  an  A.  v.  Hum- 
boldt, dass  die  neuesten  chemischen  Entdeckungen  für  die  Erklärung 
der  Vorgänge  im  tierischen  Organismus  vielversprechend  seien,  dass 
es  aber  vorläufig  gewagt  sei,  aus  ihnen  Schlüsse  auf  die  Natur  der 
Krankheiten  zu  ziehen,  dass  es  verkehrt  sei,  aus  ihnen  allgemeine 
Theorien  zu  entwickeln  und  die  Lücken  im  Wissen  mit  Witz  und 
Phantasie  auszufüllen.  In  Deutschland  war  die  erste  grundlegende 
Arbeit  der  neuen  physiologischen  Chemie  das  Werk  von  T lede- 
rn an  n  und  Gmelin,  „Ueber  die  Verdauung"  (1826—27).  Noch 
Spallanzani,  der  nach  dem  Vorgange  von  Reaumur  und  Hunter 
experimentelle  Untersuchungen  über  die  Verdauung  angestellt  hatte, 
musste  (1783)  den  Aerzten  zurufen:  „Ils  ont  plus  cherche  ä  diviner  la 
maniere  dont  la  digestion  s'opöre  qu'ä  chercher  ä  la  decouvrir."  Jetzt 
stellten  die  beiden  deutschen  Forscher  an  Säugetieren,  Vögeln,  Fischen 
und  Amphibien  umfangreiche  Untersuchungen  an,  wie  sie  mit  den 
Hilfsmitteln  der  Chemie,  Physik  und  Mikroskopie  sich  nur  irgend  er- 
möglichen Hessen.  Ein  meisterhaftes  Bild  der  Verdauungsvorgänge, 
das  für  alle  Nachfolger  grundlegend  blieb,  war  das  Resultat  ihrer 
Forschungen.  Die  chemischen  und  mikroskopischen  Eigenschaften  der 
einzelnen  Verdauungssäfte,  des  Speichels,  des  Magen-  und  Pankreas- 
saftes  und  der  Galle,  dann  die  experimentell  nachgewiesenen  Ver- 
änderungen der  Nahrungsstoffe  unter  der  Einwirkung  dieser  Säfte 
von  ihrer  Aufnahme  in  den  Körper  bis  zur  Chylusbildung  und  Aus- 
scheidung der  unverdauten  Stoffe  fanden  hier  eine  klassische  Schilde- 
rung, die  im  wesentlichen  zwei  Jahrzehnte  lang  bis  zu  Frerichs' 
Arbeiten  über  die  Verdauung  1846  unübertroffen  und  unüberholt  blieb. 

Die  chemische  Zusammensetzung  des  Blutes  wurde  zu  gleicher 
Zeit  eifrig  erforscht.  Lecanu  führte  den  Nachweis  von  dem  Hämatin- 
und  Globulingehalt  der  farbigen  Blutkörperchen,  welche  jedoch  diesen 
Namen  (früher  „Blutkügelchen"  genannt)  erst  durch  Johannes 
Müller  erhielten,  der  ihr  Verhalten  zu  reinem  und  salzigem  Wasser 
untersuchte.  Den  beständigen  Gehalt  des  Blutes  an  Eisen  hatte 
Berzelius,  nachdem  Vauquelin  und  Brandt  ihn  in  Zweifel  ge- 
zogen hatten,  in  der  Blutasche  sicher  nachgewiesen;  Eisenhart 
konnte  (1825)  zeigen,  dass  das  Eisen  ausschliesslich  an  den  Blutfarb- 
stoff gebunden  ist.  Spät  dagegen  erst  wurden  die  Fragen  der  Ge- 
winnung des  Blutes,  der  Febrine  und  des  Eiweissgehaltes  des  Blutes 
gelöst;  Mulders  Arbeiten  über  die  Proteinkörper,  die  Forschungen 
Bruckes  und  Virchows  gaben  die  Grundlage  für  die  berühmte  Arbeit 
von  Alexander  Schmidt  (1862),  welche  volle  Klarheit  schaffte.  Die 
Blutgase,  die  schon  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  John  Mayow  be- 
obachtet hatte,  wurden  (1836)  durch  van  Enschut,  später  von 
G.  Magnus  und  Th.  Bischoff  (1837)  untersucht;  erst  Lothar 
Meyers  Arbeit  „Die  Gase  des  Blutes"  (1857)  und  eine  Reihe  weiterer 
Forschungen  gaben  hier  die  gewünschten  Aufschlüsse. 

Die  chemischen  Vorgänge  bei  der  Atmung  (den  „Chemismus  der 
Respiration")  prüften  am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  bereits  Pf  äff, 
Creve  und  F.  Nasse  experimentell,  aber  sie  blieben  ziemlich  ver- 


Medizinische  Chemie.  465 

einzelt  und  stark  befehdet.  Magnus  untersuchte  dann  genauer  (1835) 
die  Kohlensäurebildung  im  Organismus  und  die  Kohlensäureausscheidung, 
auch  Johannes  Müller  und  Th.  Bischoff  (1838)  wandten  diesem 
Gebiet  ihre  Aufmerksamkeit  zu,  das  dann  in  der  zweiten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  völlig  neu  gestaltet  wurde. 

Lavoisiers  Theorie  von  der  Wärmeentwicklung  im  tierischen 
Körper  fand  in  Deutschland  zuerst  durch  K.  F.  Becker  (1804)  Ver- 
tretung. Seine  Göttinger  Preisschrift  „Von  den  Wirkungen  der  äusseren 
Wärme  und  Kälte  auf  den  lebenden  menschlichen  Körper"  will  dar- 
thun,  dass  aus  allen  chemischen  Veränderungen  im  tierischen  Körper, 
wobei  die  Stoife  neue  Form  und  Qualität  annehmen,  Wärme  frei  wird; 
im  Organismus  müssten  Vorrichtungen  zur  Eegelung  der  Wärme  be- 
stehen, da  sie  bei  normalem  Verhalten  stets  auf  einer  bestimmten 
Höhe  erhalten  wird.  Becquerel  und  Bre sehet  wiesen  später 
nach,  dass  bei  der  Muskelbewegung  durch  Oxydation  der  Gewebe 
Wärme  frei  wird.  Die  Frage  der  Wärmebilanz  wurde  in  den  vierziger 
Jahren  dann  durch  Liebig,  Nasse  und  Heimholtz  einer  erneuten 
und  wissenschaftlich  vertieften  Untersuchung  unterzogen. 

Die  Rolle  des  Pankreas  bei  der  Verdauung  der  Fette  und  des 
Amylum  stellte  J.  N.  Eberle  (f  1834)  in  Würzburg  fest.  Auch  sonst 
wurde  die  physiologische  Chemie  des  Verdauungsapparates  ausser 
durch  Tiedemann  und  Gmelin  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts namentlich  durch  Purkinje  und  Johannes  Müller  und 
ihre  Schüler  gefördert  und  trug  viel  zum  Ausbau  der  Physiologie  des 
Stoffwechsels  bei.  An  Müllers  und  Bischoffs  Untersuchungen  über  die 
Magendrüsen  reihte  sich  Wassmanns  Nachweis  (1839),  dass  von  den 
beiden  im  Magen  vorkommenden  drüsigen  Organen  zwei  verschieden 
wirkende  Flüssigkeiten  abgeschieden  werden,  der  Magenschleim  und 
das  verdauende  Sekret,  Purkinje  und  seine  Schüler  Valentin  und 
Pappenheim  erläuterten  den  feineren  Bau  der  Magenschleimhaut 
(1837)  und  die  Thätigkeit  des  Magensaftes,  Wassmann  stellte  durch 
Digestion  der  Magenschleimhaut  das  Pepsin  her.  Die  fäulniswidrige 
Wirkung  der  Galle  wiesen  Tiedemann  und  Gmelin  nach,  während  die 
Rolle  der  Verdauungssäfte  im  tierischen  Organismus  erst  durch  B  i  d  d  e  r 
und  Schmidt  („Verdauungssäfte  und  Stoffwechsel"  1852)  klar- 
gestellt wurde. 

Epochemachend  wirkten  Wohl  er s  Veröffentlichungen  (1828)  über 
die  künstliche  Bildung  des  Harnstoffes;  es  war  der  erste  gelungene 
Versuch,  organische  Körper  auf  synthetischem  Wege  künstlich  darzu- 
stellen. Wöhlers  Untersuchungen  betreffen  die  chemische  Zusammen- 
setzung des  Harns,  die  Bildung  von  Harnstoff  und  Harnsäure  und  den 
Uebergang  von  Materien  in  den  Harn. 

Auch  die  Frage  der  Gärung  beschäftige  in  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts  die  Forscher  lebhaft  und  gewann  schliesslich  für 
Physiologie  und  Pathologie  ausschlaggebende  Bedeutung.  Thomas 
Willis  fasste  zuerst  die  Fermentation  als  einen  chemisch-mechanischen 
Akt  auf  und  erklärte,  dass  Gärung  dann  erfolgt,  wenn  das  in  einer 
inneren  (chemischen)  Bewegung  befindliche  Ferment  auf  einen  gährungs- 
fähigen  Körper  in  der  Weise  einwirkt,  dass  es  ihm  diese  seine  Be- 
wegung mitteilt.  Die  hervorragenden  Aerzte  und  Chemiker  des 
18.  Jahrhunderts  äusserten  sich  ähnlich.  Nach  Lavoisiers  Auftreten 
schloss  sich  Mitsc herlich  Willis'  Theorie  an,  ebenso  Berzelius, 
der  die  Wirkung,   welche  das  Ferment  auf  den  gärungsfähigen  Stoff' 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  30 


466  Georg  Korn. 

ausübt,  eine  „kataly tische"  nennt,  ferner  Lieb  ig,  der  (1839)  annahm, 
dass  das  Ferment  durch  Bewegung  oder  Erschütterung  wirkt,  indem 
es  eine  Mischung,  deren  Bestandteile  nur  scliwach  miteinander  ge- 
bunden sind,  die  in  ihm  stattfindende  Zersetzung  mitteilt.  Die  Be- 
zeichnung der  Infektionskrankheiten  als  „zymotische"  beruht  auf  dieser 
Anschauung ;  namentlich  englische  Aerzte  nahmen  an,  dass  die  Krank- 
heitserreger organische,  in  Zersetzung  begriffene  Stoffe  seien,  die  in 
den  menschlichen  Körper  eingedrungen  als  Fermente  auf  das  Blut 
wirken. 

Gleichzeitig  und  unabhängig  von  einander  fanden  nun  1837 
Th.  Schwann  und  Cagniard- Latour  die  organisierte  Natur  der 
Hefe.  Schwann  schloss  daraus,  dass  die  Hefezellen  der  gärungs- 
fähigen Substanz  die  für  Fortpflanzung  und  Wachstum  ihr  nötigen 
Stoffe  entziehen  und  die  aus  dem  Nährboden  übrig  bleibenden  Sub- 
stanzen das  Material  für  das  Gärungsprodukt  abgeben.  Schwann 
und  seine  Nachfolger  stellten  die  Wirkung  der  organisierten  Gärungs- 
organe auf  die  Flüssigkeit  als  eine  physiologische  oder  parasitäre  hin. 
Liebig  u.  a.  dagegen  als  eine  chemische,  auf  Kontakt  beruhende  (kata- 
ly tische).  Diese  Streitfrage  wurde  dann  durch  Pasteurs  Forschungen 
(1857)  entschieden.  Danach  sind  zwei  Formen  von  Gärungserregern 
zu  unterscheiden,  geformte  (organisierte),  deren  Wirkung  eine  physio- 
logische ist  und  ungeformte  tierische  oder  pflanzliche  Stoffe  (Enzyme), 
welche  eine  chemische  Wirkung  äussern.  Welche  ^veittragende  Folgen 
die  Erkenntnis  von  den  Gährungsvorgängen  für  die  Pathologie,  Bak- 
teriologie und  Hj^giene  gehabt  hat,  braucht  hier  nicht  näher  aus- 
geführt werden.  E.  B  u  c  h  n  e  r  hat  übrigens  neuerdings  den  Hefezellen 
einen  chemischen  Stoff  entnommen,  der  wirkliche  Gärung  hervorruft. 

Bereits  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  erschienen  Lehr- 
bücher der  physiologischen  Chemie,  zuerst  von  F.  Hünefeld  (Physio- 
logische Chemie"  1826  und  „Chemismus  im  tierischen  Organismus" 
1840).  Berzelius  widmete  ihr  den  9.  Band  seines  Lehrbuchs  der 
Chemie  in  der  3.  Auflage  von  1840;  dann  kam  Justus  Liebig  („Die 
Chemie  in  ihrer  Anw^endung  auf  Agrikultur  und  Physiologie"  1840 
und  „Die  Tierchemie  oder  organische  Chemie  in  ihrer  Anwendung  auf 
Physiologie  und  Pathologie"  1842),  K.  G.  Lehmann  („Lehrbuch  der 
physiologischen  Chemie"  1842),  Marchand  („Lehrbuch  der  physio- 
logischen Chemie"  1844),  J.  J.  Scher  er  („Chemische  Untersuchungen 
u.  s.  w."  1843),  denen  sich  dann  die  neueren  Werke  von  Gorup- 
Besanez,  W.  Kühne  und  Hoppe-Seyler  anschliessen,  in  neuester 
Zeit  die  Lehrbücher  von  Hamraarsten,  Salkowski,  Neumeister, 
Ludwig  und  anderer  Autoren.  Als  Zeitschrift  erschienen  zuerst  1843 
„Beiträge  zur  physiologischen  und  pathologischen  Chemie"  von  F.  Simon 
und  als  Fortsetzung  1844 — 45  und  1852—53  das  „Archiv  für  physio- 
logische und  pathologische  Chemie",  von  J.  F.  Heller  herausgegeben 
und  dann  eingegangen. 

Von  grösster  Tragweite  für  die  Entwicklung  der  medizinischen 
Chemie  und  das  Eindringen  chemischen  Denkens,  sowie  die  Verwertung 
chemischer  Fortschritte  in  der  Medizin  wurde  die  Wirksamkeit  von 
Justus  von  Liebig  (1803 — 1873).  Es  war  sein  eifriges  Streben, 
durch  die  chemische  Umgestaltung  der  Physiologie  auf  die  praktische 
Heilkunst  zu  wirken.  Als  direkten  Zweck  seiner  eben  genannten 
Werke  will  er  eine  nützliche  AuAvendung  der  dort  entwickelten  Re- 
sultate.   Die  Aerzte   mahnt   er,   sich    chemisch   zu   unterrichten,  um 


Medizinische  Chemie.  467 

klarere  Vorstellungen  über  YerdauuDgs-  und  Sekretionsvorgänge  zu 
erhalten:  ..wie  ganz  anders  würde  dann  die  Behandlung  der  Krank- 
heiten sein".  Er  hält  es  (1852)  für  erwiesen.  ..dass  es  durch  die 
Chemie  möglich  ist,  zu  sicheren  Heilmethoden  zu  gelangen".  Die 
Arzneimitteilehre  dankt  ihm  wesentliche  Bereicherung  und  neue 
Methoden.  Vorahnungen  der  neuesten  chemischen  Therapie  finden 
sich  in  seinen  Schriften  vielfach,  so  der  Ausspruch,  dass  die  Arznei- 
mittel nicht  anders  auf  die  Zellen  wirken,  als  die  Nahrungsmittel.  Die 
moderne  Ernährungstherapie  ruht  auf  Liebigs  Schultern,  der  die 
Physiologie  der  Ernährung  zum  grossen  Teil  erst  schuf,  die  dann  in 
[München  durch  V  o  i  t  und  dessen  Schule  reich  ausgebaut  wurde.  Ueberholt 
ist  neuerdings  manches  von  Liebigs  Theorie,  so  seine  Einteilung  der 
Nahrungsmittel,  seine  Ueberschätzung  des  Eiweisses,  seine  Unter- 
schätzung der  stick  stoßfreien  Nahrungsmittel  u.  s.  w.,  aber  Petten- 
k  0  f  e  r  sagte  mit  Eecht :  ..Es  ist  zum  Staunen,  wieviel  sich  bestätigt 
hat."  Liebig  selbst  hat  auch  praktische  Vorschläge  in  der  Ernährungs- 
therapie gemacht :  In  Fällen  von  grossem  Blutreichtum,  bei  denen  der 
Aderlass  üblich  war.  rät  er,  die  Stoffe  in  der  Nahrung  auszuschliessen, 
welche  die  Fähigkeit  besitzen,  zu  Blut  zu  werden:  man  gebe  aus- 
schliesslich oder  vorzugsweise  stickstofffreie  Nahrung,  welche  den 
Atmungsprozess  unterhält,  sowie  Obst  und  Teile  von  Vegetabilien, 
welche  die  zu  den  Sekreten  nötigen  Alkalien  enthalten. 

Liebig  gab  auch  den  Anstoss  zur  Heretellung  anregender  oder 
leicht  verdaulicher  Nährmittel  für  Kranke.  Sein  Fleischextrakt  hat 
sich  als  Geuussmittel  von  wohlthätiger  Wirkung  auf  Nervensystem 
und  gesamten  Stoffwechsel  eingebürgert,  sein  „extractum  carnis  frigide 
paratum",  eine  Art  Fleischsaft  aus  Fleisch  durch  schwache  Salzsäure- 
einwirkung bereitet,  wurde  zum  Vorbilde  zahlloser  Nährpräparate,  die 
zur  Ernährung  Kranker  und  Schwacher  dienen,  ebenso  seine  Kinder- 
malzsuppe  in  der  Säuglingsernährung.  Seiner  Anregung  verdanken 
die  physiologischen  und  klinischen  Stoffwechselversuche,  die  von  den 
Münchener  medizinischen  Arbeitsstätten  ausgingen,  und  ihre  Ergeb- 
nisse für  die  Krankenemährung  ihr  Dasein. 

Auch  auf  die  Therapie  der  einzelnen  Krankheiten  hat  Liebig  einen 
fördernden  Einfluss  gehabt ;  durch  seine  Untersuchungen  über  Gärung 
und  Fäulnis,  die  bei  vielen  Magenkrankheiten  bedeutungsvoll  hervor- 
treten und  durch  geeignete  Diät  zu  bekämpfen  sind,  und  durch  die 
Verbesserung  der  chemischen  Diagnostik  hat  er  die  Behandlung  der 
Magenleiden,  durch  die  Einsicht  in  die  endosmotische  Wirksamkeit  der 
salinischen  Laxantien,  die  auch  für  die  Entfernung  pathologischer 
Flüssigkeitsansammlungen  von  Wichtigkeit  ist,  die  Therapie  der  Darm- 
leiden gefordert.  Die  Aufklärungen,  die  er  über  die  Bedingungen  der 
Reaktion  des  Harns  gab,  sind  zur  Grundlage  der  prophylaktischen  Be- 
handlung der  sauren  und  alkalischen  Nierensteine  geworden.  Liebigs 
Lehi'en  über  die  Fettbildung  gaben  die  wissenschaftliche  Begründung 
der  heute  üblichen  Entfettungskuren;  auch  die  Thatsache,  dass  im 
heissen  Bade  Köq^erfett  zersetzt  w^ird,  hat  er  theoretisch  begründet. 
Er  zeigte  ferner,  dass  Harnsäure  leicht  zu  Harnstoff  oxj'diert  werden 
kann  und  hat  damit  die  Behandlung  der  Gicht  in  sichere  Bahnen  ge- 
leitet, die  davon  ausgeht,  dass  die  Hanisäure  eine  Vorstufe  der  Ox}'- 
dation  ist,  deren  Endprodukt  der  Harnstoff  darstellt,  und  demgemäss 
die  Oxydation  im  Körper  zu  vermehren  sucht,  um  die  Hamsäure- 
stauung  zu  verhindern.     Selbst  die  Therapie  des  Diabetes  hat  Liebig 

30* 


468  Georg  Korn. 

beeinflusst,  ohne  sich  mit  diesem  Leiden  direkt  zu  beschäftigten ,  da  die 
entscheidende  Auswahl  der  erlaubten  Nahrungsmittel  auf  der  Grund- 
lage der  von  ihm  geschaffenen  Ernährungsphysiologie  beruht. 

Auch  die  grossen  Fortschritte  der  öffentlichen  Hygiene,  die  an 
Pettenkofers  Münchener  Thätigkeit sich  anknüpfen,  sind  von  Liebig- 
schen  Gedanken  beeinflusst.  Liebig  erkannte  die  aufsaugende  Fähig- 
keit der  Erdscholle  für  alle  wasserlöslichen  Stoffe  und  sagte  die  Ver- 
wendung der  Erde  zur  Klärung  und  Reinigung  von  Abwässern  voraus, 
die  in  der  neueren  Gesundheitspolitik  der  Grossstädte  eine  grosse 
Rolle  spielt  und  wesentlich  zur  Verminderung  der  Epidemien  bei- 
trägt. ^) 

Von  Liebigs  Schülern  waren  C.  Schmidt,  Mulder,  Scherer, 
Stricker  u.  a.,  denen  Frerichs,  Gorup-Besanez,  Heitz, 
Schlossberger,  Städeler  sich  anschlössen,  auf  dem  Gebiet  der 
physiologischen  Chemie  erfolgreich  thätig;  ihre  Arbeiten  und  ihre 
Methodik  folgten  den  Spuren  des  Meisters. 

Nach  Liebigs  Tode  gewann  die  physiologische  Chemie  jedoch  in 
Felix  Hoppe-Seyler  (seit  1872  in  Strassburg,  f  1895)  ihren  hervor- 
ragendsten Vertreter;  auf  allen  Gebieten  dieser  Wissenschaft  hat  er 
grundlegend  und  bahnbrechend  gearbeitet  und  die  Kenntnisse  von  der 
Zusammensetzung  der  Gewebe  und  den  chemischen  Vorgängen  im  Tier- 
körper gewaltig  vermehrt.  Als  er  seine  wissenschaftliche  Thätigkeit 
begann  (R.  Virchow  erschloss  dem  Europamüden  1856  durch  seine 
Berufung  ins  Berliner  pathologische  Institut  die  Möglichkeit,  seinen 
wissenschaftlichen  Neigungen  zu  folgen),  krankte  die  physiologisch- 
chemische Forschung  an  der  ünzuverlässigkeit  der  Methoden  für  ana- 
lytische Untersuchungen.  Freilich  hatten  Liebig  und  seine  Schüler 
hier  wertvolle  Vorarbeiten  geliefert,  aber  bald  wurde  das  Interesse 
der  Chemiker  von  der  physiologischen  Chemie  durch  die  interessanten 
Probleme  der  aufblühenden  organischen  Chemie  für  lange  Jahre  ab- 
gezogen. 

Der  Methodik  seiner  Wissenschaft  wandte  sich  Hoppe-Seyler  von 
Anfang  an  eifrig  zu ;  die  Untersucliungsmethoden  der  Milch,  des  Blutes, 
der  Galle,  der  serösen  Flüssigkeiten,  des  Harns,  der  Differenzierung 
der  Eiweisskörper  sind  durch  ihn  teils  nur  begründet,  teils  wesentlich 
vervollkommnet  worden.  Er  bürgerte  die  physikalischen  üntersuchungs- 
methoden  der  Circumpolarisation ,  der  Spektralanalyse,  der  durch 
Bunsen  vervollkommneten  Gasanalyse,  der  später  von  Vierordt  und 
Hüfner  weiter  ausgebildeten  Calorimetrie  in  der  physiologischen 
Chemie  ein.  Sein  Handbuch  der  physiologisch-  und  pathologisch- 
chemischen Analyse,  das  im  Jahre  1858  zum  ersten  Male  erschien  und 
vielfache  Auflagen  erlebte,  trug  wesentlich  dazu  bei,  die  medizinische 
Chemie  in  den  Kreisen  der  Studenten  und  der  Aerzte  populär  zu 
machen ;  nicht  minder  bedeutungsvoll  war  sein  grosses  Werk  „Physio- 
logische Chemie"  (1877 — 1881).  Der  ,.Begründer  der  neueren  phj^sio- 
logischen  Chemie",  wie  ihn  Rudolf  Virchow  nach  seinem  Hingang 
ehrend  nannte,  hatte  noch  die  Genugthuung,  1883  in  das  erste  ledig- 
lich den  Zwecken  medizinisch-chemischer  Forschung  bestimmte  Institut 
an  einer  deutscheu  Hochschule,  in  das  ganz  nach  seinen  Plänen  ge- 


>)  G.  Klemperer,  Justus  v.  Liebig  u.  die  Medizin,  Berl.  1899.  —  Ferner  die 
älteren  Nekrologe  u.  s.  w.  von  Pettenkofer,  Th.  Bischoff,  Neumeister. 
A.  W.  Hof  mann. 


Medizinische  Chemie.  469 

baute  Gebäude  in  der  Spital wallstrasse  in  Strassburg  einzuziehen  und 
als  gefeierter  Lehrer  zu  den  alten  eine  ßeihe  neuer  Schülergenerationen 
mit  der  Methode  seiner  Forschung  auszurüsten.  Als  Sammelpunkt  für 
die  Ergebnisse  seiner  Wissenschaft  hatte  er  1877  mit  einer  Anzahl 
Fachgenossen  die  „Zeitschrift  für  physiologische  Chemie"  begründet 
und  bis  zu  seinem  Tode  geleitet. 

Seine  Arbeiten  galten  in  erster  Reihe  dem  Blutfarbstoff  und  dem 
Blut;  seine  ersten  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  knüpfen  1857  an  die 
Giftwirkung  des  Kohlenoxyds  an,  die  gleichzeitig  und  unabhängig  von 
ihm  Claude  Bernard  untersuchte.  Er  prüfte  das  rein  dargestellte 
Hämoglobin  auf  seine  Zusammensetzung  und  seine  spektroskopischen 
Eigenschaften  im  sauerstoffhaltigen,  wie  im  sauerstcffreien  Zustande, 
erkannte  die  Verbindung  des  Hämoglobins  mit  Kohlenoxyd,  entdeckte 
ihre  Derivate  teils,  teils  stellte  er  sie  genauer  fest  im  Methämoglobin. 
Siüfmethämoglobin,  Hämochromogen.  Hämatin  und  begründete  damit 
die  als  Proteide  benannte  Gruppe  der  Eiweisskörper :  er  würdigte  zu- 
erst die  Bedeutung  des  Hämoglobins  als  Sauerstoffträger  und  für  die 
inaere  oder  Gewebsatmung  und  seine  Beziehungen  zu  den  sonstigen 
tierischen  Farbstoffen,  besonders  dem  GallenfarbstoÖ'.  Wesentlich  ihm 
und  Pflüger  sind  die  Beweise  dafür  zu  danken,  dass  die  Oxydations- 
prozesse in  die  Gewebe  und  nicht  in  das  Blut  zu  verlegen  sind.  Kurz, 
die  weit  überwiegende  Mehrzahl  der  den  Blutfarbstoff"  betreffenden 
Funde  und  die  Methode  zur  quantitativen  Analyse  des  Gesamtblutes 
und  der  Blut  körperchen  stammt  von  Hoppe,  der  u.  a.  auch  Methoden 
zur  Trennung  der  Blutkörperchen  vom  Serum  und  zur  gesonderten 
Analyse  der  ersteren  angab  und  den  Nachweis  von  Xuclein  in  den 
weissen  Blutkörperchen  und  in  den  Eiterzellen,  von  Lecithin  in  den 
roten  Blutkörperchen  lieferte. 

Ferner  stammen  aus  seiner  Berliner  Zeit  die  Untersuchungen  über 
Milch  und  die  quantitative  Milchanalyse,  aus  der  Strassburger  wichtige 
Veröffentlichungen  über  Gärungsprozesse,  über  Cellulosegärung,  die 
Theorie  der  Oxydationsvorgänge,  das  Chlorophyll,  die  Huminsubstanzen, 
die  Aenderung  der  Lebensvorgänge  bei  Sauerstoffmangel,  über  einen 
von  ihm  hergestellten,  gegen  den  bekannten  P et tenko ferschen 
sehr  verbesserten  Respirationsapparat  für  Menschen  u.  a.  m.  Er  hat 
zuerst  gezeigt,  dass  gewisse  Stoffe  in  allen  entwicklungsfähigen  Zellen 
sich  finden  und  damit  auf  die  Einheitlichkeit  bestimmter  chemischer 
Vorgänge  in  der  ganzen  organisierten  Welt  hingewiesen;  von  ihm  rührt 
die  erste  und  mit  unwesentlichen  Abänderungen  noch  heute  gültige 
Einteilung  der  Eiweisskörper  her.  —  Die  heutigen  Vertreter  der 
physiologischen  Chemie  innerhalb  wie  ausserhalb  Deutschlands  sind 
zum  grossen  Teile  in  Hoppe-Seylers  Laboratorien  herangebildet  worden. ') 
Sie  verbreiteten  in  immer  steigendem  blasse  unter  den  Aerzten  die 
Ueberzeugung  von  der  grossen  Bedeutung  der  Chemie  für  die  erfolg- 
reiche Weiterführung  der  medizinischen  Forschung  und  der  Notwendig- 
keit gründlicher  chemischer  Kenntnisse  für  das  Verständnis  der 
Lebensvorgänge. 

Auch  die  Arbeitsstätten,  die  für  physiologische  und  pathologische 


')  Nekrologe  für  Hoppe-Sevler  von  E.  Baunianu  u.  A.  Kossei  in  den  „Berichten 
der  Dentsch.  Chem.  Ges."  28.  4  (1895),  von  Thierfelder.  „Berl.  Klin.  Woch."  1895, 
S.  928.  von  Mtmk,  „Deutsch.  Med.  Woch."  1895,  S.  563,  von  R.  Virchow,  ..Archiv" 
Bd.  142,  S.  386. 


470  Georg  Kor u. 

Chemie  ausschliesslich  bestimmt  waren,  haben  sich  seit  dem  Vorbild 
des  Strassburger  Baues  im  In-  und  Auslande  allmählich  gemehrt  und 
der  Forschung  neues  Rüstzeug  zur  Verfügung  gestellt. 

Neben  diesen  grossen  Forschern  waren  eine  Reihe  anderer  her- 
vorragender Kräfte  für  den  Ausbau  der  medizinischen  Chemie  thätig, 
so  Claude  Bernard  (1813—1878),  dessen  erste  Untersuchungen  die 
Rolle  der  verschiedenen  Absonderungen  im  Magen-  und  Darmkanal 
betrafen  und  sie  als  chemische  Vorgänge  nachwiesen.  Es  folgten  dann 
andere  Arbeiten  über  den  Speichel,  den  Darmsaft  und  über  die  Ein- 
wirkung der  Nerven  auf  die  Verdauung,  den  Atmungsprozess  und  den 
Blutumlauf  Er  bewies,  dass  der  Bauchspeichel  die  Verdauung  der 
Fette  bewirkt,  entdeckte  die  zuckerbereitende  Thätigkeit  der  Leber 
(das  Glycogen)  und  die  künstliche  Hervorrufung  von  Diabetes  bei 
Verletzung  des  vierten  Ventrikels,  endlich  die  sekretorischen  Funktionen 
der  Chorda  tj-mpani.  Carl  Ludwig  (1816-1895),  der  Entdecker  der 
sekretorischen  Nerven  und  Begründer  des  Selbstregistrierungsverfahrens 
in  der  Physiologie  und  Medizin,  lörderte  die  Chemie  der  Blutgase,  der 
Verdauung  und  des  Speichels  wesentlich.  Das  Ferment  des  letzteren, 
das  Ptj^alin  hatte  bereits  Leuchs  1831  entdeckt  und  seine  Fähig- 
keit nachgewiesen.  Stärke  und  Zucker  zu  verwandeln. 

Die  Chemie  der  Knochen  fand  in  Bibra,  Mulder,  Fremyund 
Heintz  ihre  Bearbeiter,  welche  die  wirkliche  Zusammensetzung  der 
Bestandteile  feststellten,  während  Schmiedeberg  die  in  den  Knorpel- 
geweben enthaltenen  Körper  näher  erforschte.  Sehr  zahlreich  waren 
die  Arbeiten  über  die  Eiweissstoife,  die  freilich  ihr  letztes  Ziel,  die 
Erkenntnis  der  wahren  Konstitution  dieser  Körper,  noch  nicht  erreicht 
haben.  Brücke,  W.  Kühne,  A.  Schmidt,  Nencki  und  eine 
Reihe  anderer  namhafter  Forscher  untersuchten  die  Frage,  wie  sich 
die  Eiweissstoffe  im  Tierkörper  verhalten,  welche  Wandlungen  sie 
durchmachen.  Der  sichere  Nachweis  von  Zucker,  Eiweissstotfen  u.  s.  w. 
im  menschlichen  Körper,  insbesondere  im  Harn,  wurde  durch  sichere 
und  einfache  Methoden  erleichtert  und  bürgerte  sich  als  ein  unent- 
behrliches Hilfsmittel  der  Aerzte  für  die  Diagnostik  am  Kranken- 
bett ein. 

Die  Untersuchung  des  Magensaftes  hatte  durch  Beaumonts  be- 
kannten Kanadier,  dem  eine  Magenfistel  angelegt  war,  und  die  be- 
reits oben  genannten  Arbeiten  vielfache  Aufklärung  ergeben.  D.  Schmidt, 
Frerichs,  Lehmann,  v.  Wittich  u.  a.  stellten  die  eigentümliche  Natur 
des  Pepsins  fest,  dessen  wichtige  Rolle  bei  der  Verdauung  von  Eiweiss- 
stoffen,  welche  dadurch  in  Peptone  übergehen,  wesentlich  durch  Hof- 
meister, Neu  meiste  r,  Kühne  und  Chitt  enden  erforscht  und 
aufgeklärt  wurde.  Die  Chemie  der  Galle,  die  durch  Streckers 
Arbeiten  über  die  Gallensäuren  und  deren  Spaltungsprodukte  begründet 
wurde,  fand  durch  Städeler,  Frerichs,  Gorup-Besanez, 
Maly  u.  a.  weiteren  Ausbau. 

Auch  die  Milch  wurde  neuerdings  eifrig  chemisch  durchforscht, 
namentlich  der  Vorgang  der  Gerinnung,  die  Veränderungen  der  Milch 
im  Organismus,  die  Natur  der  in  ihr  enthaltenen  verschiedenen  Eiweiss- 
stoflFe  u.  s.  w.  durch  Lehmann,  Soxhlet,  Hammarsten  u.  a. 
untersucht.  Das  Fleisch,  das  durch  Liebig  und  seine  Schüler  auf 
seine  chemische  Zusammensetzung  vielfach  geprüft  war,  wurde  dann 
von  Helmholtz,  Ranke,  Brücke  nach  einer  besonderen  Richtung 
erforscht:  der  Einfluss  der  Muskelarbeit  auf  die  chemischen  Vorgänge, 


Medizinische  Chemie.  471 

welche  sich  in  den  Muskeln  abspielen,  trat  in  den  Vordergrund.  Der 
Gesamtstoffwechsel  und  die  Ernährung,  wie  sie  gleichfalls  Liebig  zum 
Gegenstand  chemischer  Untersuchung  gemacht  hatte,  während  die  nam- 
haften Physiologen  seinerzeit  wie  Tiedemann  und  Burdach  sich 
gegen  die  neue  chemische  Richtung  abwehrend  verhielten,  insbesondere 
die  Eigenschaften  und  Wirkungen  einzelner  Nahrungsstoffe  im  Tier- 
körper wurden  durch  Voit  und  Pettenkofer  und  ihre  Schüler,  wie 
Ranke,  Forster,  Rubner,  F.  Hof  mann.  Renk  in  ausgiebiger 
Weise  chemisch  untersucht.  Die  Annahme  der  Münchener  Forscher, 
dass  Fett  aus  Eiweissstoffen  gebildet  werde,  wurde  von  Pflüger  be- 
stritten: er  stellte  den  Satz  auf,  dass  nicht  die  Kohlenhydrate  und 
Fette,  sondern  Eiweiss  die  Quelle  der  Muskelkraft  sei. 

Ganz  neue  Ausblicke  eröffnete  der  medizinischen  Chemie  am  Ende 
des  19.  Jahrhunderts  (1894)  Baumanns  Nachweis  von  Jod  im  mensch- 
lichen Körper  (Jodothyrin  in  der  Schilddrüse).  Armand  Gautiers 
späterer  Fund  von  Arsenik  als  normalem  Bestandteil  des  menschlichen 
Körpers  kann  zur  Zeit  noch  nicht  als  wissenschaftlich  sicher  erwiesen 
betrachtet  werden. 

Die  F  ä  u  1  n  i  s  erscheinungen  gewannen  für  die  Physiologie  und 
Medizin  ein  erhöhtes  Interesse  durch  die  Beobachtung,  dass  sie  mit 
eigenartigen  Organismen  im  nächsten  Zusammenhange  stehen.  Die 
chemische  Erforschung  der  Fäulnisprodukte,  wie  sie  von  P  a  s  t  e  u  r  an- 
gebahnt, von  Nencki,  Hoppe  -  Seyler,  Otto,  Husemann, 
Kobert,  B rieger,  Gautier  u.  a.  weiter  geführt  wurde,  ergab 
wichtige  Resultate.  Die  stickstoffhaltigen  Verbindungen,  welche  der 
Zersetzung  tierischer  Eiweissstoffe  durch  Fäulnis  ihre  Entstehung  ver- 
danken, wurden  genauer  untersucht  und  verschiedene  Amidosäuren, 
das  Jodol  u.  s.  w.,  namentlich  aber  die  Ptoraaine.  Ihren- Namen  ver- 
danken die  letzteren  dem  italienischen  Toxikologen  S  e  1  m  i ,  der  zuerst 
die  wichtige  Rolle  dieser  Fäulnisbasen  für  die  gerichtliche  Medizin  und 
Chemie  erkannte.  Diese  starken  Gifte,  wegen  ihrer  Aehnlichkeit  mit 
den  Pflanzenalkaloiden  auch  als  Leichenalkaloide  bezeichnet,  sind 
von  grosser  praktischer  Bedeutung,  da  infolge  der  ähnlichen  Re- 
aktionen leicht  Verwechslungen  der  Ptomaine  mit  wahren  Alkaloiden 
vorkommen  können.  Um  die  chemische  Charakterisierung  verschiedener 
Ptomaine  machte  sich  namentlich  Brieger  verdient;  die  Konstitution 
einiger  wurde  neuerdings  festgestellt,  so  gelang  die  Synthese  des  Cada- 
verins  und  des  Putrescins. 

Wie  die  chemische  Erforschung  der  Fäulniserscheinungen  der 
Pathologie  zu  gute  kommt,  so  ist  in  noch  höherem  Masse  die  Bak- 
teriologie der  Chemie  zu  Dank  verpflichtet;  bereits  gehört  der 
Chemismus  der  Bakterien  und  ihrer  Produkte,  der  Toxine  und  Anti- 
toxine zu  den  Aufgaben  eines  besonderen  Wissenszweiges,  der  Mikro- 
chemie. Da  es  sich  hier  jedoch  um  das  Gebiet  der  Bakteriologie 
handelt,  so  kann  auf  Methodik,  Ergebnisse  und  Aufgaben  dieses 
jüngsten  Zweiges  der  chemischen  Forschung  an  dieser  Stelle  nicht 
eingegangen  werden.  Auch  die  moderne  Hygiene  hat  die  Ergebnisse 
der  modernen  chemischen  Forschung  und  Technik  in  ihren  Dienst  ge- 
stellt und  beruht  wesentlich  auf  ihnen;  ihre  wertvollsten  Hilfsmittel 
entnimmt  sie  der  Chemie,  die  auch  die  Ausbildung  der  wichtigen 
Analyse  der  Nahrungs-  und  Genussmittel  durch  ihre  immer  mehr  ver- 
vollkommnete Methodik  ermöglicht  und  fördert.  Bezeichnend  für  die 
umfassende  und  weittragende  Bedeutung  der  modernen  Chemie  ist  die 


472  Georg  Korn. 

Thatsache,  dass  die  Begründer  der  modernen  Bakteriologie  und  der 
experimentellen  Hygiene,  Pasteur  und  Pettenkofer,  beide  ur- 
sprünglich von  chemischen  Arbeiten  ausgegangen  sind.  Die  bedeutungs- 
vollen Forschungen  über  die  Schutzstoffe  des  Blutes  u.  s.  w.,  wie  sie 
namentlich  durch  P.  Ehrlich,  B  u  c  h  n  e  r  u.  a.  betrieben  wurden,  ge- 
hören bereits  der  unmittelbaren  Gegenwart  an  und  entziehen  sich  des- 
halb noch  der  geschichtlichen  Würdigung.  Auch  die  vielfachen  Ver- 
besserungen der  pathologisch-chemischen  Technik,  der  Färbemethoden 
und  der  chemischen  Diagnostik,  wie  sie  die  jüngste  Vergangenheit 
brachte,  können  aus  demselben  Grunde  hier  nicht  näher  erörtert  werden. 

Der  jüngsten  Vergangenheit  und  der  Gegenwart  gehören  auch 
die  verheissungsvollen  Anfänge  der  physikalischen  Chemie  in 
ihrer  Anwendung  auf  die  Medizin  an,  welcher  durch  die  Ionen  lehre 
neue  Aufgaben  erwachsen.  Ihre  Eolle  in  der  Heilkunde  leitet  sie  von 
der  Thatsache  her,  dass  der  menschliche  Körper  aus  halbfesten  Ele- 
menten, den  Zellen  und  umgebender  Flüssigkeit,  dem  Blut  und  der 
Lymphe,  besteht.  Beide  stehen  in  einem  Wecliselaustausch  gelöster 
organischer  und  anorganischer  Bestandteile.  Dieser  Wechselaustausch 
wird  teils  durch  rein  physikalische  Kräfte,  teils  durch  die  den  Zellen 
innewohnenden  vitalen  Eigenschaften  geregelt.  Diese  Kraftäusserungen 
sind  ein  Massstab  der  physiologischen  Zellfunktionen.  Für  diese  Aus- 
tauschvorgänge im  Körper  sind  am  wichtigsten  die  Gesetze  der  Os- 
mose und  Diffusion.  Diese  Gesetze  aber  sind  erst  recht  verständ- 
lich geworden  durch  zwei  Errungenschaften  der  modernen  physikali- 
schen Chemie,  die  Theorie  der  Lösungen  von  van't  Hoff  und 
die  Theorie  der  elektrischen  Dissociation  von  S  van  he 
Arrhenius. 

Aus  diesen  Theorien  ergiebt  sich  der  durch  die  Thatsachen  be- 
stätigte Satz,  dass  gewisse  Eigenschaften  einer  Lösung,  wozu  der  bei 
den  Austauschvorgängen  im  Körper  überall  wirksam  osmotische 
Druck  gehört,  nicht  von  der  Art,  sondern  von  der  Konzentration  der 
gelösten  Moleküle  allein  abhängen,  und  dass  die  Bestandteile,  in  welche 
die  Elektrolyse  in  Lösung  zerfallen,  die  Ionen,  den  Molekülen  in 
dieser  Hinsicht  gleichartig  sind.  Die  Anwendung  dieser  Theorie  hat 
bereits  wichtige  Aufschlüsse  über  die  Austauschvorgänge  im  mensch- 
lichen Körper  gegeben,  wenn  auch  bisher  nur  von  einer  allgemeinen 
Orientierung  die  Rede  sein  kann.  Für  die  Zukunft  erwartet  man  von 
dieser  lonentheorie,  die  z.  B.  auf  der  Hamburger  Naturforscherver- 
sammlung 1901  im  Vordergrunde  des  wissenschaftlichen  Interesses 
stand,  eine  starke  Förderung  der  physiologischen  Chemie  und  der 
klinischen  Medizin.  ^) 

^)  Paul,  Die  Bedeutung  der  lonentheorie  für  die  physiologische  Chemie, 
Tübingen  1901.  —  W.  His  jun.,  Die  Bedeutung  der  lonentheorie  für  die  klinische 
Medizin,  1901. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen. 

Von 
H.  Chiari  (Prag). 


I 


Einleitung. 

Insofern  man  unter  pathologischer  Anatomie  des  Menschen  die 
Wissenschaft  von  dem  anatomischen  Baue  des  kranken  mensch- 
lichen Körpers  versteht,  jene  Wissenschaft  also,  welche  es  sich  zur 
Aufgabe  stellt,  nicht  bloss  das  anatomische  Substrat  jeder  wie  immer 
gearteten  Funktionsstörung  zu  erkennen,  sondern  auch  die  Ursachen 
und  die  Entwicklung  sowie  den  Ablauf  der  pathologischen  Verände- 
rungen zu  erforschen  und  die  Wesenheit  der  überhaupt  vorkommenden 
Formen  pathologischer  Prozesse  festzustellen,  ist  die  pathologische 
Anatomie  eine  sehr  junge  Wissenschaft  zu  nennen,  die  erst  aus  dem 
19.  Jahrhunderte  datiert.  Erst  in  dieser  Zeit  begann  man,  die  ein- 
zelnen anatomischen  Befunde  pathologischer  Veränderungen  mit  einander 
in  Verbindung  zu  setzen,  aus  ihnen  auf  induktivem  Wege  allgemeinere 
Schlussfolgerungen  zu  ziehen  und  so  die  Gesetze  abzuleiten,  nach 
welchen  sich  pathologische  Veränderungen  überhaupt  ausbilden,  während 
man  früher  sich  damit  begnügte,  pathologisch-anatomische  Befunde 
einfach  zu  registrieren  und  namentlich  besondere  Kuriosa  festzustellen. 
Dabei  fehlte  auch  naturgemäss  zumeist  noch  die  Möglichkeit,  die  ein- 
zelnen pathologisch-anatomischen  Veränderungen  bis  in  ihr  Detail 
richtig  zu  erkennen,  da  die  normale  Anatomie,  die  normale  Histologie 
und  die  Embryologie  noch  viel  zu  wenig  entwickelt  waren,  und  hinderte 
weiter  die  Befangenheit  in  oft  ganz  mei'kwürdigen,  heutzutage  schwer 
fassbaren,  einseitigen  Theorien  und  Systemen  an  der  objektiven  Be- 
obachtung und  Beurteilung.  Erst  mit  dem  Aufschwünge  der  ge- 
samten Naturwissenschaften  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  begann 
auch  für  die  pathologische  Anatomie  eine  Zeit  der  unaufhaltsamen 
Entwicklung,  durch  welche  sie  zu  einer  eigentlichen  Wissenschaft 
wurde  und  zwar  zu  jener  Wissenschaft,  welche  die  Hauptgrundlage 
der  Pathologie  überhaupt  bildet.  Durch  sie  wurde  die  spekulative 
Richtung  der  früheren  Medizin  am  wirksamsten  bekämpft  und  an  die 
Stelle  der  Dogmen  dieser  oder  jener  Schule  die  nüchterne  Xatur- 
beobachtung  gesetzt,  welche  gerade  in  der  Medizin  gegenwärtig  ihre 
schönsten  Triumphe  feiert. 


474  ,  H.  Chiar 

Dem  entsprechend  ist  in  den  ältesten  und  älteren  Zeiten  der 
Medizin  bezüglich  der  pathologischen  Anatomie  sehr  wenig  zu  finden 
und  die  wissenschaftlich  ausgebildete  pathologische  Anatomie  sozusagen 
eine  Errungenschaft  der  Gegenwart. 

Wie  sie  im  wesentlichen  aus  der  klinischen  Medizin  hervor- 
gegangen ist,  so  hat  sie  auch,  nachdem  sie  eine  selbständige  Wissen- 
schaft geworden  war,  doch  nie  die  Fühlung  mit  der  Klinik  verloren. 
Vielfach  sind  die  Anregungen,  die  sie  fort  und  fort  von  der  klinischen 
Medizin  empfängt  und  vielseitig  ist  der  Nutzen,  welchen  sie  der 
klinischen  Medizin  gewährt,  so  dass  sie  ganz  mit  Recht  auch  jetzt 
nicht  bloss  von  den  pathologischen  Anatomen  von  Fach  sondern 
wenigstens  in  speziellen  Richtungen  auch  von  den  Klinikern  be- 
trieben wird. 

Die  Geschichte  ihrer  Entwicklung  fällt  naturgemäss  vielfach  zu- 
zusammen  mit  der  Geschichte  der  Medizin  überhaupt  und  der  normalen 
Anatomie  und  Physiologie  so  wie  der  praktischen  Medizin  im  be- 
sonderen und  kann  nur  in  Hinblick  auf  diese  verstanden  werden. 


Litteratur  der  Geschichte  der  pathologischen  Anatomie. 

Wenn  auch  in  den  Werken  über  die  GeschicJde  der  Medizin  überhaupt  begreif- 
licherweise vielfach  Bemerkungen  über  die  Entwicklung  der  pathologischen  Anatomie 
enthalten  sind,  wie  namentlich  bei 

Kurt  Polykarp  Joachim  Sprengel,  Versuch  einer  pragmatischen  Ge- 
schichte der  Arzneikunde,  Halle  1792—1799;  1800—1802;  1821-1828;  franz. 
Paris  1815 — 1820;  Fortsetzung  für  das  erste  Lustrum  des  19.  Jahrhunderts  durch 
Elble  und  v.  Feuchter  sieben,  Wien  1837 — 1840, 

Carl  Reinhold  August  Wunderlich,  Geschichte  der  Medicin,  Stuttgart  1859, 

Heini'ich  Haeser,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Medicin  und  der  epide- 
mischen  Krankheiten,  3.  Bearbeitung,  .Jena,  I.  Bd.  1875,  LI.  Bd.  1881, 

Theodor  Puachtnann,  Die  Medicin  in  Wien  tcährend  der  letzten  100  Jahre, 
Wien  1884, 

Theodor  PHSChtnann,  Geschichte  des  niedicinischen  Unterrichtes  von  den 
ältesten  Zeiten  bis  zur  Gegenwart,  Leipzig  1889  und 

Julius  Pagel,  Einfülirnng  in  die  Geschichte  der  Medicin,  Berlin  1898 
und  iceiter  die  mediziniscli-hiographischen  Lexika  icie  das  biographische  Lexikon  der 
hervorragenden  Aerzte  aller  Zeiten  und  Völker  von  A.  Wernich,  E.  Gurlt  und 
A.  Hirsch,  Wien  und  Leipzig  1884 — 1888  und  das  biograjyhische  Lexikon  hervor- 
ragender Aerzte  des  19.  Jahrhimderts  von  Julius  Paget,  Berlin  und  Wien  1901. 
reichliche  Notizen  über  die  Thätigkeit  zahlreicher  Aerzte  nuf  xmthologisch-anatomischem 
Gebiete  bringen,  so  ist  doch  die  spezielle  Litteratur  der  Geschichte  der  pathologischen 
Anatomie  eine  ziemlich  kleine. 

Ln  den  Einleitungen  zu  den  Lehr-  und  Handhüchern  der  pathologischen  Ana- 
tomie finden  sich  des  öfteren  historische  Skizzen,  so  besonders  bei  Criovanni 
Battista  Morgagni,  De  sedibus  et  causis  morborum  per  anatomen  indagatis, 
Tomus  LL.,   Venedig  1761, 

bei  Herrmann  Lebend,  Traite  d'anatomie  pathologique  generale  et  speciale, 
Paris  1857—1861, 

bei  August  Förster,  Handbuch  der  allgemeinen  pathologischen  Anatomie, 
2.  Auf,.,  Leipzig  1865, 

und  bei  E.  Lanceraux,   Traite  d'anatomie  pathologique,   Paris  1875 — 1877. 

Selbständige  Publikationen  auf  diesem  Gebiete  wurdeyi  geliefert  von 

August  Friedrich  Hecker,  Einleitung  zum  Magazin  für  die  pathologische 
Anatomie  und  Physiologie,  I.  Heft,  Altona  1796, 

Pierre  Francois  Olive  Bayer,  Sommaire  d'une  histoire  abregee  de  Vana- 
tomie  pathologique,  These  de  Paris  1815, 

Carl  Friedrich  v.  Heusinger,  Apergu  historique  sur  Vanatomie  patho- 
logique suivi  d'un  essai  d'une  nouvelle  Classification  des  tissus  accidentels,  Journal 
complementaire  du  dictionnaire  des  sciences  medicales,  T.  XX,  Paris  1824, 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  475 

Jean  Eugene  Dezehneris,  Mtmoire  sm-  la  question  suivante:  Dontier  nn 
aper^H  rapide  des  decouvertes  faites  en  anatomie  pathologique  durant  les  freute 
dernieres  annees,    Arch.  gen.  de  medecine  T.  XX,    XXL  XXII,  Paris  1829 — 1830, 

JBenigno  Juan  Isidoro  liisiieno  d'Aniador,  De  rinfluence  que  l'ana- 
tomie  pathologique  a  exercee  sur  les  progres  de  la  medecine  depuis  Morgagni  jusqu'ä 
nos  jours,  Mem.  de  VAcademie  Royale  de  medecine,  T.    VI,  Paris  1837, 

Antoine  Constant  Saiicerotte,  De  rinfluence  de  lanatomie  pathologique 
sur  les  progres  de  la  medecine,  ibidem,  T.   VI  1837, 

Jean  Baptiste  dniveilhier,  Histoire  de  Vanatomie  pathologique,  Annales 
de  Vanatomie  et  physiologie  pathologiques  (par  Pigne),  T.  I,  1846, 

Joseph  Franrois  Jacques  Augiistin  Uelioux  (1e  Savignac,  Origine, 
esprit  et  avenir  de  Vanatomie  pathologique,  Gaz.  med.  de  Paris  1858, 

Carl  Otto  Weher,  Die  Bedeutung  der  pathologischen  Anatomie  für  die 
medicinischen  Wissenschaften  und  Praxis,  Deutsche  Klinik  1860,  und  Die  Anfänge 
der  pathologischen  Anatomie,  Die  Grenzboten  1862,  21.  Jahrgang, 

Leon  Marcq,  Coup  d'oeil  sur  Vhistoire  de  Vanatomie  pathologique,  Joum.  de 
med.,  de  chir.  et  de  pharmac.  de  ßruxelles  1862,  34.   Vol., 

Engen  Boeckel,  Anatomie  pathologique.  Historique,  Nouveau  dictionnaire 
de  medecine  et  de  Chirurgie  pratiques,  Paris  1865,  T.  IL 

Jean  Baptiste  Barths  Article:  Anatomie  pathologique,  Dictionnaire  encyclop. 
des  Sciences  medicales  1876  T.  IV, 

Budolf  Virchow  in  Lexis,  Die  deutschen  Universitäten,  Berlin  1893,  und 
Hundert  Jahre  allgemeiner  Pathologie  in  der  Festschrift  zur  100 j.  Stiftungsfeier 
des  medicinisch-chirurgischen  Friedrich-Wilhelm-Institutes,  Berlin  1895 

und  Hanns  Chiari,  Die  pathologische  Anatomie  im  19.  Jahrhundert  und 
ihr  Einfluss  auf  die  äussere  iledicin,  Vortrag  gehalten  bei  der  72.  Versammlung 
deutscher  Naturforscher  und  Aerzte  zu  Aachen  1900. 

Hugo  Bibbert,  Die  Lehren  vom  Wesen  der  Kratikheiten  in  ihrer  geschicht- 
lichen Entwicklung,  Bonn  1899. 

Etwas  reichlicher  sind  jene  Schriften,  welche  sich  mit  der  Wichtigkeit  der 
pathologischen  Anatomie  befassen.  Auf  diese  Schriften  wird  im  Laufe  der  folgenden 
Auseinandersetzungen  gegebenen  Ortes  hingewiesen  icerden. 


Einteilung  der  Geschichte  der  pathologischen  Anatomie. 

Am  zweckmässigsten  dürfte  es  sein,  bei  der  Einteilung  des  Stoffes  der  Ge- 
schichte der  pathologischen  Anatomie  so  vorzugehen,  tcie  dies  Förster  in  dem 
bereits  erwähnten,  von  der  Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  ha)idelnden  Ab- 
schnitte seines  Handbuches  der  allgemeinen  path.  Anatomie  gethan  hat,  i.  e.  die 
Entwicklung  der  pathologischen  Anatomie  nach  den  grossen  Perioden  der  mensch- 
lichen Kultur  überhaupt  zu  untersuchen,  zuerst  ihren  Spuren  bei  den  alten  orien- 
talischen Kidturvölkern,  dann  bei  den  Griechen  und  Römern  und  im  Mittelalter 
imchzugehen,  hierauf  ihre  Anfänge  in  den  ersten  Jahrhunderten  da'  Neuzeit  zu  ver- 
folgen und  zuletzt  ihre  Entfaltung  im  19.  Jahrhunderte  zu  studieren. 

Ich  werde  also  der  Eiyiteilung  Försters  folgen  und  auch  sonst  vielfach  an 
seine  Darstellungen  mich  anlehnen. 


Die  pathologische  Anatomie  bei  den  alten  orientalischen 
Kulturvölkern. 

Bei  den  Chinesen,  Indern,  Persern,  Babyloniern,  Assyriern, 
Phöniciern,  Israeliten  und  Aegyptern  finden  sich  keine  sicheren 
Anzeichen  für  das  Bestehen  pathologisch- anatomischer  Kenntnisse 
innerer  Organe,  wenn  auch  die  indischen,  persischen  und  ägyptischen 
Wundärzte  gewisse  von  aussen  wahrzunehmende  pathologische  Ver- 
änderungen recht  wohl  kannten.  Es  erklärt  sich  das  aus  den  religiösen 
Anschauungen  dieser  Völker,  nach  welchen  die  Leiche  im  allgemeinen 
als  unverletzlich  galt. 


476  H.  Chiari. 

Ja  selbst  bei  den  Aegyptern,  bei  denen  doch  der  allgemeine 
Brauch  des  Einbalsamierens  bestand  und  zu  diesem  Zwecke  die  Leichen 
von  eigens  hierzu  bestellten  Individuen,  den  Paraschisten,  nach  be- 
stimmten Vorschriften  geöifnet  wurden,  kam  es  nicht  zur  Konstatierung 
normal-anatomischer  oder  pathologisch-anatomischer  Sektionsbefunde. 
Es  wurde  das  Einbalsamieren  lediglich  als  Geschäft  betrieben  und  nie 
eine  Leichenöffnung  zum  Zwecke  des  Studiums  vorgenommen,  ja  es 
war  Sitte,  dass  der  Paraschistes,  nachdem  er  die  Leiche  durch  einen 
Einschnitt  auf  der  linken  Seite  des  Unterleibes,  durch  welchen  die 
Eingeweide  entfernt  wurden,  geöffnet  hatte,  die  Flucht  ergriff,  weil  er 
von  den  Verwandten  und  Freunden  des  Verstorbenen  mit  Steinen  be- 
worfen wurde  (Puschmann  1889  p.  19,  Haeser  L  Bd.  p.  55).  Aus 
dem  in  neuester  Zeit  bekannt  gewordenen  Papyrus  Ebers  will  Scheut- 
h  a  u  e  r  erkennen,  dass  die  Aegypter  den  Dochmius  duodenalis  und  die 
durch  ihn  bedingten  Darm  Veränderungen  kannten,  indem  sie  diesen 
Parasiten,  den  sie  „heltu"  nannten,  bei  der  jetzt  sogenannten  Chlorosis 
aegyptiaca  gelegentlich  der  bei  gewissen  Balsamierungsarten  vorge- 
nommenen Eeinigung  des  aus  der  Leiche  entfernten  Darmes  häufig 
fanden.  Es  würde  das  allerdings  sozusagen  einen  vereinzelten  gelegent- 
lichen pathologisch-anatomischen  Sektionsbefund  darstellen. 

Gustav  Scheuthauer,  Beiträge  zur  Erklärung  de»'Papyrus  Ebers,  Virch. 
Arch.  85.  Bd.  1881. 

Nur  bezügjich  der  talmüdischen  Aerzte  steht  es  nach  Israels 
und  Wunderbar  fest,  dass  sie  ab  und  zu  Sektionen  machten  und 
dass  auf  Verlangen  des  Rabbinen  und  jüdischen  Gerichtshofes  zuweilen 
gerichtsärztliche  Leichenöffnungen  stattfanden.  Doch  ist  nichts  Näheres 
darüber  bekannt. 

In  einer  sehr  interessanten  Schrift  über  die  normale  und  patho- 
logische Anatomie  des  Talmud  behauptet  neuestens  Katzenelson, 
dass  den  jüdischen  Aerzten  das  Sezieren  von  Leichen  durchaus  nicht 
verboten  war  und  dass  sie  namentlich  menschliche  Embryonen  und 
Föten  des  öfteren  anatomisch  untersuchten.  Er  erwähnt  auch,  dass 
die  Schüler  des  Rabbi  Ismail  (Ende  des  1.  und  Anfang  des  2.  Jahr- 
hunderts p.  Chr.)  sich  einst  die  Leiche  einer  zum  Tode  verurteilten 
Prostituierten  ausbaten,  um  an  derselben  die  überlieferten  Angaben 
über  die  Anzahl  der  Knochen  in  Bezug  auf  ihre  Richtigkeit  zu  prüfen. 
Die,  wie  Katzenelson  meint,  nicht  so  geringen  pathologisch-ana- 
tomischen Kenntnisse  der  Juden  stammten  trotzdem  nur  von  der  Unter- 
suchung von  Tierleichen,  die  behufs  Beurteilung  der  Reinheit  oder 
Unreinheit  vorgenommen  wurden. 

Abraham  Hartog  Israels,  Tentamen  historico-medicum  exhihens  collectanea 
gynaecologica  ex  Talmude  Babylonico.    Diss.  inaug.  Groningen  1845. 

Wuntlerbar,  Biblisch- Talmudische  Medicin.  Riga  und  Leipzig  1850. 

L,  Katenelson,  Die  normale  und  pathologische  Anatomie  des  Talmud. 
Aus  dem  russischen  Original  (Diss.  inaug.  St.  Petersburg)  ins  Deutsche  übersetzt 
von  Hirschberg.  Roberts  historische  Studien  aus  dem  pharmakologischen  Institute 
in  Dorpat,  V,  1896  Halle. 


Die  pathologische  Anatomie  bei  den  Griechen  und  Römern. 

Auffallend  gering  waren  auch  die  pathologisch-anatomischen  Kennt- 
nisse der  Griechen  und  Römer,  welche  doch  sonst  auf  so  vielen  Ge- 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  477 

bieten  der  menschlichen  Kultur  Grossartiges  leisteten  und  auch  zahl- 
reiche hervorragende  Aerzte  unter  sich  zählten.  Es  war  eben  auch 
bei  ihnen  die  Unverletzlichkeit  der  menschlichen  Leiche  durch  die 
Religion  normiert  und  somit  eine  pathologisch-anatomische  Forschung 
am  Menschen  geradezu  unmöglich. 

So  kommt  es.  dass  wir  in  den  Schiüften  der  HippokratLsehen 
Sammlung  zwar  die  Beurteilung  der  Symptome  am  Krankenbette,  die 
Beschreibung  der  von  aussen  wahrnehmbaren  pathologischen  Ver- 
änderungen —  so  einzelner  Missbildungen.  Entzündungen.  Ulcerationen, 
Neoplasmen,  Knochenerkrankungen.  Hauterkrankungen.  Erkrankungen 
der  Mund-,  Rachen-  und  Nasenhöhle,  des  Rectums  und  der  äusseren 
Genitalien-,  die  Schilderung  des  Krankheitsverlaufes,  die  Schaffung 
von  heute  noch  verwendeten  Krankheitsbezeichnungen  —  Scirrhus, 
Carciuom.  Polypen,  Empyema  —  und  die  oft  mit  grossem  Scharfsinne 
durchgeführte^  Therapie  zumal  die  chirurgische  Therapie  bewundern 
müssen,  doch  aber  überall  der  Mangel  nur  durch  das  Secieren  zu  ge- 
winnender anatomischer  Erkenntnisse  der  materiellen  Verhältnisse  bei 
den  Erkrankungen  der  inneren  Organe  des  Menschen  hervortritt.  Es 
fehlte  eben  die  eigene  Anschauung,  an  ihre  Stelle  trat  vielfach  üppige 
Spekulation  und  einseitige  Deduktion. 

Sehr  interessant  ist  in  dieser  Hinsicht  die  Habilitationsschrift  von 
August  Hirsch  als  ordentlicher  Professor  der  Medizin  in  Berlin: 
De  collectionis  Hippocraticae  auctorum  anatomia.  qualis  fuerit  et  quan- 
tum  ad  pathologiam  eorum  valuerit,  Berlin  1864,  worin  alle  auf  nor- 
male und  pathologische  Anatomie  bezüglichen  Stellen  zusammengetragen 
erscheinen. 

Das  gleiche  gilt  von  Aristoteles,  der  noch  mehr  als  Hippo- 
krates  tierische  Leichen  anatomierte  und  hierbei  auch  auf  patho- 
logisch-anatomische Befunde  so  auf  Cysticerken  beim  Schweine,  Rotz 
beim  Esel  und  Pferde.  Lungen-  und  Lebererkrankungen  bei  verschiedenen 
Tieren  stiess.  Er  zog  diese  Erfahrungen  auch  des  öfteren  zur  Er- 
klärung der  Erkrankungen  des  Menschen  heran,  dass  er  aber  je  mensch- 
liche Leichen  zergliedert  hätte,  ist  durch  nichts  erwiesen. 

Eine  Ausnahmsstellung  bezüglich  der  menschlichen  Anatomie  und 
menschlichen  pathologischen  Anatomie  nahm  bei  den  Griechen  nur  die 
Alexaudriuisehe  Schule  ein.  deren  Blüte  in  das  4.  und  3.  Jahrhundert 
a.  Chr.  fiel.  In  dieser  Schule  wurde  der  Grund  zur  uomialen  Anatomie 
des  Menschen  gelegt,  indem  hier  menschliche  Leichen  zergliedert  und 
angeblich  selbst  Vinsektionen  an  Verbrechern  aasgeführt  wurden. 
Gleichzeitig  wurden  aber  auch  schon  einzelne  pathologisch-anatomische 
Befunde  erhoben. 

Zwei  Namen  sind  es,  die  aus  der  grossen  Zahl  von  Aerzten  respek- 
tive Lehrern  dieser  Schule  für  immer  hervorragen :  Herophilus  (um 
300  a.  Chr.)  und  Erasistratusi  gest  280  a.  Chr. ).  Beide  diese  Männer 
machten  zahlreiche  Entdeckungen  auf  dem  Gebiete  der  normalen 
menschlichen  Anatomie  und  bemühten  sich  auch,  die  anatomischen 
Grundlagen  der  Erkrankungen  des  Menschen  zu  erkennen.  Leider 
sind  die  Schriften  derselben  fast  sämtlich  verloren  gegangen  und  sind 
wir  nur  auf  Ueberlieferungen  aus  denselben  bei  späteren  Schriftstellern 
angewiesen.  Aber  auch  daraus  geht  hervor,  dass  sie  über  pathologisch - 
anatomische  Erfahrungen  verfügten,  so  wenn  Herophilus  erwähnt, 
dass  bei  den  Luxationen  des  Oberschenkels  das  Ligamentum  teres 
femoris   zerrissen    gefunden    werde   (Hall er,  Bibliotheca    anatomica, 


478  H-  Chiari. 

Tomus  I.,  Zürich  1774,  p.  60)  oder  wenn  Erasistratus  bemerkt, 
dass  er  bei  Wassersüchtigen  die  Leber  von  steinartiger  Härte  traf. 

Leider  dauerte  aber  diese  anatomische  Riclitung  der  medizinischen 
Schule  in  Alexandrien  nicht  lange.  Schon  unter  den  Nachfolgern  von 
Herophilus  und  Erasistratus  trat  die  Anatomie  immer  mehr 
zurück  und  wurde  endlich  vollkommen  beiseite  gelassen. 

Bei  den  Römern  kam  es  überhaupt  erst  zur  Entstehung  einer 
eigentlichen  Medizin  nach  der  Einverleibung  Griechenlands  in  das 
römische  Reich,  indem  jetzt  die  griechische  Medizin  nach  Rom  importiert 
wurde.  Die  ersten  hervorragenden  Aerzte  der  Römer  waren  Griechen, 
so  Asklepiades  von  Bithynien  (im  L  Jahrhunderte  a.Chr.  Arzt 
in  Rom)  und  auch  spätere  berühmte  römische  Aerzte  wie  Themison 
von  Laodicea  (im  1.  Jahrhunderte  p.  Chr.  Arzt  in  Rom),  Aretaeus 
von  Cappadocien  (in  der  2.  Hälfte  des  1.  Jahrhunderts  p.  Chr. 
Arzt  in  Alexandrien  und  wahrscheinlich  auch  in  Syrien  und  Italien), 
Soranus  von  Ephesus  (zur  Zeit  Trajans  und  Hadrians  Arzt  in 
Rom)  und  Claudius  Galenus  von  Pergamos  (zur  Zeit  Marc 
Aureis  und  des  Kaisers  Commodus  Arzt  in  Rom)  waren  griechischer 
Abstammung.  Erst  gegen  das  Ende  der  vorchristlichen  Zeitrechnung 
begannen  Römer  selbst  als  Aerzte  hervorzutreten,  so  vor  allem  Aulus 
Cornelius  Celsus  (25 — 30  a.  Chr.  —  45—50  p.  Chr.),  welcher,  ob- 
wohl nur  Dilettant  und  Arzt  aus  Liebhaberei,  denn  doch  in  vorzüglicher 
klarer  und  kritischer  Weise  viele  von  aussen  wahrnehmbare  patho- 
logische Veränderungen  —  Nasenpolypen,  Caries  der  Nasenknochen, 
Vergrösserung  der  Tonsillen,  Carcinom  des  Mundes,  Inguinalhernien  — 
beschrieb  und  in  seinen  kompilatorischen  Schriften  den  damaligen 
Stand  der  Medizin  sehr  gut  darzulegen  wusste,  so  dass  dieselben  für 
die  Geschichte  der  Medizin  überhaupt  von  der  grössten  Wichtig- 
keit sind. 

Anatomisch  forschte  in  ausgedehnterem  Masse  sicher  nur  Galenus. 

Er  anatomierte  sehr  viele  Tiere,  zumal  Affen,  und  förderte  dadurch 
bei  gleichzeitiger  Benützung  des  Experimentes  reiche  Erkenntnisse 
auf  dem  Gebiete  der  normalen  Anatomie  und  Physiologie  zu  Tage,  in 
pathologischer  Hinsicht  war  er  aber  von  meist  ganz  einseitigen  An- 
schauungen präokkupiert,  so  dass  er  auf  diesem  Gebiete  nichts  Wesent- 
liches leistete.  Dass  er  überhaupt  menschliche  Leichen  sezierte,  ist 
durch  nichts  erwiesen,  ebensowenig  wie  das  von  Aretaeus  behauptet 
werden  kann,  der  sich  in  seinen  pathologisch-anatomischen  Angaben 
wahrscheinlich  nur  auf  Schriften  der  Alexandrinischen  Schule  stützte, 
wenn  auch  manche  wie  Weber,  Lanceraux  und  Barth  meinen, 
dass  er  selbst  viel  pathologisch-anatomisch  gearbeitet  habe. 

Menschliche  und  zwar  weibliche  Leichen  dürfte  ab  und  zu  Soranus 
untersucht  haben,  wie  das  aus  seinem  berühmten  Werke  über  Gynä- 
kologie erschlossen  werden  kann. 

Asklepiades  von  Bithynien,  Asklepiadis  Bithyni  fragmenta,  Weimar  1794, 
von  Gumpert. 

Themison  von  Laodicea.  Seine  Lehren  in  den  Werken  des  Soranus  be- 
ziehungsweise in  Bearbeitungen  derselben  durch  Caelius  Aurelianus  (im  5.  Jahr- 
hunderte p.  Chr.  Arzt  in  Rom). 

Aretaeus  von  Cappadocien,  ITepl  ahtcSr  xal  orjfisimv  oieojv  xal  XQOvioyv 
TTa&oJv,  4  Bücher j  IIsqI  i^e^aTisias  o^ecov  xal  yoovUov  nnd'viv,  4  Bücher;  Erste 
lateinische  Uebersetzung  von  Crassus,  Venedig  1552;  deutsch  von  Dewez,  Wien 
1790  und  1802  und  von  Mann,  Halle  1858;  ausserdem  noch  viele  andere  Axis- 
gaben. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  479 

Soranus  von  Ephesus,  ITs^l  ywaiysicov  ^aO^aiv,  das  griechische  Original 
von  Dietz  1838  gefunden  und  veröffentlicht:  deutsch  von  Lüneburg  und  Hub  er, 
München  1894. 

Claudius  Galenits  von  Perganios.  Gesammelte  Schriften  von  C.  G. 
Kühn  1821—1833,  20  Bände. 

Aldus  Cornelius  Celsus.  8  Bücher  über  Medizin  in  klassischem  Latein. 
Aeltester  Druck  Florenz  1778;  deutsch  von  Khüffner,  Mainz  1531  und  von 
Scheller,  Bramischiceig  1846. 


Die  pathologische  Anatomie  im  Mittelalter. 

Im  Mittelalter  verfiel  die  anatomische  Forschung  immer  mehr,  da 
die  christliche  Beli^ion  zunächst  einer  Entwicklung  selbständiger 
wissenschaftlicher  Thätigkeit  nicht  förderlich  war  und  alles  in  Dogmen 
starr  festgesetzt  war. 

Im  wesentlichen  hielt  man  sich  in  der  Anatomie  an  die  Traditionen 
der  heidnisch-klassischen  Kulturperiode.  Selbst  im  byzautinischen 
Kaiserreiche,  das  doch  in  anderen  Zweigen  des  menschlichen 
Wissens  wenigstens  temporär  grosse  Fortschritte  zu  verzeichnen  hatte, 
beschäftigten  sich  die  medizinischen  Schriftsteller  eigentlich  nur  mit 
der  Wiedergabe  der  Werke  früherer  Autoren,  w'as  allerdings  für  die 
Kenntnis  dieser  Werke  von  grosser  Bedeutung  war,  da  die  Originale 
vielfach  in  Verlust  geraten  sind.  In  dieser  Hinsicht  haben  sich  be- 
sondere Verdienste  erworben  Oribasius  (326 — 403  kaiserlicher  Leib- 
arzt in  Byzanzj,  Aetius  (Mitte  des  6.  Jahrhunderts  Arzt  in  Byzanz), 
Alexander  von  Tralles  (525  —  605  zuletzt  Arzt  in  Rom),  Theo- 
philus  Protospatharius  (7.  Jahrhundert,  Leibarzt  des  Kaisers 
Heraklius)  und  Paulus  von  Aegina  (7.  Jahrhundert,  Ai'zt  in 
Alexandrien,  später  in  Griechenland). 

Oribasius,  Ewaycoyni  Imoiy.ai.    Sammlung  der  Schriften:  Oeuvres  d'Oribase, 
texte  grec,  en  gründe  partie  inedits  etc.,  Daremberg  et  Bussemaker,  Paris  1851 — 1876. 
Aetius,  Btß'f.iu  iaroiy.a  e.y.y.aid'sxa. 

Alexander  von  Tralles.  Ausgabe  seiner  Schriften  von  Ptischmann,  Wien 
1878—1879,  2  Bde. 

Theaphilus  Protospatharius,  Ueol  iTs  tov  dvd-^c6:iov  y.araoy.evr^s.  Neueste 
Ausgabe  von  Greenhill,  Oxford  1842. 

Paulus  von  Aegina,  'Enno/urjg  Imoiyris  ßißlia  iy.Ta.  Erster  Druck  griechisch, 
Venedig  1528;  englisch  von  Adams,  Londan  1834. 

Auch  die  Araber,  die  namentlich  in  Spanien  die  Wissenschaften 
eifrigst  pflegten  und  zahlreiche  höhere  Lehranstalten  gründeten,  an 
denen  auch  Medizin  tradiert  wurde,  hielten  sich  strenge  an  die  Lehren 
der  altgriechischen  Medizin  und  machten  wenigstens  auf  dem  Gebiete 
der  Anatomie  keinerlei  selbständige  Forschungen,  wozu  besonders  der 
Umstand  beitrug,  dass  der  Koran  nicht  blos  die  Leiche  für  unverletz- 
lich erklärte,  sondern  auch  sogar  anatomische  Abbildungen  strengstens 
untersagte. 

Unter  den  christlicilen  Tölkern  des  Abendlandes  kam  es  im 
Mittelalter  erst  durch  die  Entstehung  der  Universitäten  zu  einer 
wissenschaftlichen  Behandlung  der  Medizin.  Allerdings  beschränkte 
sich  dieselbe  auch  hier  zumeist  nur  auf  die  Wiedergabe  der  Werke 
der  griechischen  medizinischen  Klassiker  und  wurde  auf  dem  Gebiete 
der  Anatomie  und  pathologischen  Anatomie  nur  sehr  Dürftiges  geleistet. 
Immerhin  wurde  aber  doch  an  einzelnen  Universitäten,  so  z.  B.  an  der 
ältesten  Universität,  der  in  Salerno,  schon  frühzeitig  Anatomie  prak- 


480  H.  Chiari. 

tisch  betrieben  und  existiert  eine  wahrscheinlich  aus  dem  11.  Jahr- 
hunderte stammende  von  Copho  dem  Aelteren  in  Salerno  verfasste 
Schrift  „Anatomia  porci"  (gedruckt  Hagenau  1532).  in  welcher  auch 
von  „Stoffablagerungen"  im  Herzbeutel  und  im  Pleurasäcke  die  Rede  ist. 

In  den  letzten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  versank  dann  aber 
die  Medizin  vollkommen  in  der  Scholastik  und  erst  im  13.  Jahrhunderte 
begann  eine  Wiedergeburt  der  eigentlichen  Naturforschung,  angeregt 
durch  Roger  Baco  in  England  und  Arnald  von  Villanova  in 
Spanien,  welche  die  Rückkehr  zur  direkten  Naturbeobachtung  empfahlen. 

Den  italienischen  Universitäten  gebührt  hierbei  der  Ruhm  der  end- 
lichen Wiederbelebung  der  Anatomie  und  wurden  nach  A.  Corradi 
(Dello  studio  e  dell'  insegnamento  dell'  anatomia  in  Italia  nel  medio  evo 
ed  in  parte  del  Cinquecento,  Mailand  1873}  in  Italien  schon  im  13.  und 
ebenso  im  14.  Jahrhunderte  pathologisch-anatomische  Sektionen  zum 
Zwecke  der  Belehrung  über  die  Natur  der  Krankheiten  zumal  bei 
Epidemien  unternommen.  Im  Jahre  1302  wurde  auf  Befehl  des 
Richters  in  Bologna  sogar  eine  gerichtsärztliche  Sektion  ausgeführt, 
da  der  Verdacht  vorlag,  dass  das  betreffende  Individuum  vergiftet 
worden  sei.  Aus  dem  gleichen  Grunde  soll  Guilelmo  Salicetti 
(13.  Jahrhundert)  den  Leichnam  des  Neffen  des  Marchese  Pallavicini 
seziert  haben.  Weiter  berichtet  Corradi.  dass  der  Minoritenmönch 
Salimberti  erzählte,  dass  während  einer  Seuche  in  Italien  1286  ein 
Arzt  viele  Leichen  öffnete,  um  die  Ursache  der  Seuche  zu  ergründen 
(Buschmann  1889  p.  205). 

Italienischen  Ursprunges  ist  auch  das  erste  Werk  über  Anatomie, 
welches  seit  der  Zeit  der  Alexandrinischen  Schule  auf  der  anatomischen 
Untersuchung  menschlicher  Leichen  basierte,  nämlich  die  „Anathomia" 
von  Mondino  de  Liucci  (Mundinus)  (1275 — 1327,  aus  Bologna, 
Professor  daselbst)  handschriftlich  verfasst  1310,  zum  erstenmal  ge- 
druckt 1478  in  Venedig,  in  der  jüngsten  Ausgabe  gedruckt  1580  eben- 
daselbst, worin  auf  Grund  der  1315  in  Bologna  ausgeführten  Sektion 
zweier  weiblicher  Leichen  eine  kurze  anatomische  Beschreibung  der 
einzelnen  Körperteile  und  eine  Darstellung  ihrer  Funktionen  enthalten 
ist  und  auch  pathologische  Veränderungen  berührt  werden.  Ganz  im 
Geiste  Mondinos  arbeitete  sein  Schüler  und  Nachfolger  Bertuccio 
(gest.  1347),  indem  er  bei  seinen  anatomischen  Untersuchungen  auch 
die  pathologischen  Zwecke  im  Auge  behielt. 

JBertucciOf  Collectorium  artis  medicae  tarn  practicae  quam  speculativae.  Ge- 
druckt Lyon  1509,  1518;  Köln  1537. 

Dem  Beispiele  der  italienischen  Universitäten  in  Salerno,  Bologna 
und  Padua  folgten  dann  auch  hinsichtlich  der  Anatomie  andere  Uni- 
versitäten wie  die  in  Montpellier,  Paris,  Prag  und  Wien.  In  patho- 
logisch-anatomischer Richtung  wurde  dabei  aber  gewiss  nur  in  ganz 
untergeordnetem  Grade  geforscht  und  gelehrt. 

Von  den  Chirurgen  undAerzten  dieser  Zeit  interessierten 
sich  nur  einzelne  auch  für  die  pathologische  Anatomie  der  Krankheiten 
und  führten  auch  gelegentlich  pathologisch-anatomische  Sektionen  aus. 
so  Guy  de  Chauliac  (Guido  de  Coliaco)  (um  1300  geb.  Arzt  in 
Lyon,  dann  päpstlicher  Leibarzt  in  Avignon),  der  die  Hernien  nach  ihren 
Bruchpforten  unterschied  und  von  den  Hernien  die  Varicocele,  Hydro- 
cele  und  Sarcocele  trennte,  Bartolomeo  Montag  nana  (gest.  um 
1460,  Professor  der  Medizin  in  Padua),  der  sich  rühmte,  14  menschliche 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  481 

Leichen  seziert  zu  haben  und  Fälle  von  Herzaffektionen  und  Harn- 
röhrenstrikturen  beschrieb,  Antonio  Guainerio  (gest.  1440,  Pro- 
fessor der  Medizin  in  Pa^ia  und  Chieri),  der  zahlreiche  Monographien 
über  die  Krankheiten  verschiedener  Organe  lieferte  und  Befunde  von 
Darmsteinen  und  Magenveränderungen  mitteilte,  Michele  Savona- 
rola  (gest.  um  1462,  Professor  der  Medizin  in  Padua  und  Ferrara), 
der  so  wie  Giovanni  Arcolani  (gest.  zwischen  1460  und  1480, 
Professor  der  Medizin  in  Bologna)  vereinzelte  kurze  Berichte  über 
pathologische  Leichenbefunde  schrieb. 

€riiy  de  Chauliac,  CoUectorium  artis  chirurgicalis  medicinae.  Sandschrift- 
lieh  verfasst  1363;  1.  Druck  Venedig  1490;  Lyon  1585. 

Baiiolonieo  Jlontagnana,  Selectiorum  operiim  iyi  quibiis  consilia,  variique 
tractatus  alii.  tum  proprii  tum  ascititii  cantinentur  Über  unus  et  alter,  Venedig  1497; 
Xürnberg  1652. 

Antonio  CritaineHo,  Opus praeclariim  ad praximnonmediocriter necessarittm, 
Favia  1518;  Lyon  1525. 

Michele  Savonarola,  Practica  de  aegritudinibus  a  capite  tisque  ad  pedes, 
Coline  1479;  Venedig  1560. 

Giovanni  Arcolani,  Practica  medica,  Venedig  1483;  Basel  1540. 

Von  Spanien  berichtet  Ant.  Hern.  Morejon  (1773—1836,  Pro- 
fessor der  medizinischen  Klinik  in  Madrid)  in  seiner  Bibliogräfica  de  la 
medicina  espauola  (Madrid  1842 — 1852),  dass  in  dem  mit  dem  Kloster  za 
Guadeloupe  (1322)  verbundenen  Hospitale,  in  welchem  auch  klinischer 
Unterricht  erteilt  wurde,  eine  pathologisch-anatomische  Schule  begründet 
wurde,  indem  man  fleissig  Sektionen  machte  und  diese  zur  Erforschung 
der  krankhaften  Veränderungen  und  zur  Demonstration  derselben  be- 
nützte. Genaueres  ist  jedoch  darüber  bis  jetzt  nicht  bekannt  ge- 
worden. 


Die  pathologische  Anatomie  im   16.  Jahrhunderte. 

Im  16.  Jahrhunderte  erhielt  die  pathologisch-anatomische  Forschung 
einen  sehr  wesentlichen  Impuls  durch  die  in  diesem  Jahrhunderte  zu- 
mal durch  Andreas  Vesal  erfolgte  eigentliche  Begründung  der  nor- 
malen Anatomie  des  Menschen.  Die  meisten  der  damaligen  Ana- 
tomen brachten  nämlich  in  ihren  Werken  auch  einzelne  patho- 
logisch-anatomische Befunde. 

Alessandro  Benedetti  (um  1460 — 1525  Professor  der  Ana- 
tomie in  Padua,  Gründer  des  anatomischen  Theaters  daselbst)  berichtete 
über  Gallensteine  und  Apoplexien. 

Singulis  corporum  morbis  a  capite  ad  calcem  generatim  membratimque 
remedia,  causas  eonimque  signa  XXXI  libris  complexa,  praeterea  historiae 
corporis  humani  libros  V,  de  pestilentia  librum  I  et  collectionum  medi- 
cinalium  libellum,  Basel  1508;  Venedig  1533,  1535;  Basel  1539,  1549, 
1572. 

Giacomo  Berengario  de  Carpi  (1470 — 1530  Professor  der 
Chirurgie  in  Bologna)  rühmte  sich,  mehr  als  100  Leichen  seziert  zu 
haben  und  beschrieb  auch  einzelne  pathologische  Veränderungen. 

Commentaria  cum  amplissimis  additionihus  super  anathomiam  Mondini  una 
cum  textu  ejus  in  pristinum  et  verum  nitorem  redacto,  Bologna  1521,  1552;  engl. 
London  1664. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd   II.  31 


482  H.  Chiari. 

Andreas  Vesal  (1514—1565,  lehrte  Anatomie  in  Löwen,  Padua, 
Bologna,  Pisa,  Basel  und  Madrid)  machte  oft  pathologische  Sektionen 
und  wollte  diese  für  sich  veröffentlichen.  Es  geschah  das  aber  nicht  ^) 
und  so  sind  von  ihm  leider  nur  die  da  und  dort  in  seiner  grossen 
Anatomie  eingestreuten  pathologisch-anatomischen  Notizen  bekannt. 
So  besprach  er  bei  der  Schilderung  der  normalen  Anatomie  der  Milz 
auch  die  wichtigsten  pathologisch-anatomischen  Veränderungen  dieses 
Organes. 

De  hutnani  corporis  fahrica  libri  VII,  1.  Ausgabe  Basel  1543. 

Giovanni  Filippo  Ingrassia  (1510—1580  Professor  der  Me- 
dizin und  Anatomie  in  Neapel)  beschrieb  pathologische  Veränderungen 
von  Knochen,  so  besonders  die  Schiefheit  des  Schädels  infolge  von 
Naht-Syuostose. 

Commentaria  in  Galeni  librum  de  ossibus,  Palermo  1603. 

Realdo  Colombo  (gest.  1559,  Professor  der  Anatomie  in  Padua, 
Pisa  und  Rom)  erwähnte  einzelne  Befunde  morbider  Veränderungen 
innerer  Organe  und  auch  Missbildungen;  einmal  fand  er  Defekt  des 
Pericards. 

De  re  anatomica  libri  XV,  Venedig  1559;  deutsch  Frankfurt  1609. 

Bartolomeo  Eustacchi  (gest.  1574,  Professor  der  Anatomie 
in  Rom)  erzählte  in  der  Vorrede  zu  seinen  von  Lancisi  1714  heraus- 
gegebenen Tabulae  anatomicae,  dass  er  der  Erste  war,  welcher  in  Rom 
pathologische  Sektionen  gemacht  habe  und  dass  er  dabei  ein  ziemlich 
reiches  Material  sammeln  konnte.  Darüber  hat  aber  Eustacchi  nie 
publiziert. 

Volcher  Coiter  (1534 — 1600  lehrte  eine  Zeitlang  Anatomie  in 
Bologna,  später  Arzt  in  Nürnberg)  sammelte  ein  bedeutendes  patho- 
logisch-anatomisches Material,  so  über  Ankylosen  und  über  Exsudationen 
im  Gehirne  und  Rückenmarke. 

Externarum  et  internarum  principalium  humani  corporis  partium  tabulae 
atque  anatomicae  exercitationes  abservationesque  variae  novis  ac  artificiosissimis 
figuris  illustratae,  Nürnberg  1572;  1573;  Löwen  1653. 

Giulio  Cesare  Aranzi  (1530 — 1589  Professor  der  Medizin  und 
Anatomie  in  Bologna)  brachte  in  seinen  Werken  ziemlich  reichliche 
pathologisch- anatomische  Notizen,  so  namentlich  über  Geschwülste. 

De  tumoribus  praeter  naturam  secundum  locos  affectos  über,  Bologna  1579; 
Venedig  1587. 

Ubservationes  anatomicae,  Basel  1579;  Venedig  1587. 

Felix  Platter  (1536—1614  Professor  der  Anatomie  in  Basel) 
sezierte  in  50  Jahren  mehr  als  300  Leichen  und  machte  auch  zahl- 
reiche zum  Teile  recht  wertvolle  pathologisch-anatomische  Beobachtungen 
(Steinbildung  unter  der  Zunge,  Riesenwuchs). 

De  partium  corporis  humani  structura  et  usu  libri  III,  Basel  1583,  1603. 
Observationum  in  hominis  ajfeetibus  plerisque  libri  III,  Basel  1614,  1641. 


1)  Nach  Schenck  v.  Grafenberg  dürfte  das  betreffende  Werk  in  Spanien 
vielleicht  noch  vorhanden  sein  (Vorrede  zu  den  Obaervationes). 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  483 

Caspar  Bauhin  (1560 — 1624.  Professor  der  Anatomie  in  Basel) 
beschrieb  in  seinem  Theatrum  anatomicum  vielfach  die  pathologischen 
Veränderungen. 

Theatrum  anatomicum  infinitis  locis  atictum  ad  morbos  accammodatum,  Basel 
1592;  Frankfurt  1621. 

Weiter  teilten  aber  auch  viele  Praktiker  pathologisch- 
anatomische Beobachtungen  mit,  so 

Antonio  Benivieni  (gest.  1502,  Arzt  in  Florenz),  welcher  zahl- 
reiche pathologisch-anatomische  Befunde  über  Missbildungen  und  Herz- 
krankheiten beschrieb  und  auch  zuerst  Steine  in  der  Gallenblase  fand. 
Wenn  auch  seine  Schilderungen  ziemlich  kurz  und  flüchtig  sind,  so  ist 
doch  darin  ein  relativ  grosses  pathologisch-anatomisches  Material  ge- 
sammelt. Benivieni  führte  als  erster  eigentliche  pathologische  Sektionen 
aus  und  wird  daher  z.  B.  von  Heck  er  der  Vater  der  pathologischen 
Anatomie  genannt. 

De  abolitis  nonmdlis  et  mirandis  morbarum  et  sanationum  catisis,  Florenz 
1502,  1504,  1506;  Basel  1528;  Leyden  1585. 

Francisco  Valles  (gest.  1592,  Professor  der  Medizin  in  Alcala, 
später  Leibarzt  Philipp  IL),  einer  der  frühesten  Bearbeiter  der  patho- 
logischen Anatomie. 

Galeni  de  locis  affectis  lihri   VI  cum  scholiis  Fr.   Vallesii,  Lyon  1551. 

Jacques  Houillier  (Hollerius)  (1498 — 1562,  Professor  der 
Medizin  in  Paris). 

De  morbis  internis  libri  duo  autoris  scholiis  et  observationibus  illustrati, 
Paris  1555:  1611.    Zahlreiche  pathologisch-anatomische  Befunde  innerer  Organe. 

AmatusLusitanus  (1511  geb.,  Arzt  in  Portugal, .  zuletzt  in 
Salonichi,  eine  Zeitlang  auch  Professor  der  Medizin  in  Ferrara),  ein 
Kliniker,  der  sich  auch  viel  mit  pathologischer  Anatomie  beschäftigte. 

Curationum  medicinalium  centuriae  TU,  Florenz  1-551 :  Basel  1556 :  Venedig  1557. 

Joost  van  Lom  (Jodocus  Lommius)  (1500 - 1563,  Arzt  in 
Tournay  und  Brüssel  und  Leibarzt  Philipp  H.). 

Observationum  medicinalium  libri  III  quibus  notae  morborum  omnium  et 
praesagia  judicio  proponuntur,  Antwerpen  1560. 

Johann  Kentmann  (1518 — 1574,  Arzt  in  Torgau)  beschrieb  die 
im  Menschen  überhaupt  vorkommenden  Steinbildungen  (Gallen-, 
Speichel-,  Darmsteine). 

Calculorum  qui  in  corpore  ac  membris  hominum  innascuntur  genera  duodecim 
eorumqxw  descriptio  ac  figtira,  Zürich  1565. 

Johann  Weyer  (Wierus)  (1515  —  1588,  Arzt  des  Herzogs 
Wilhelm  IV.  von  Jülich- Cleve-Berg),  der  in  seinen  Observationes  wert- 
volle pathologisch-anatomische  Befunde  der  Gesclilechtsteile  beschrieb. 

Opera  omnia,  Amsterdam  1661. 

Louis  Duret  (1527—1586,  Professor  der  Medizin  in  Paris,  Leib- 
arzt Karl  IX.  und  Heinrich  HL). 

Adversaria  s.  scholia  in  Hollerii  libros  de  morbis  internis,  Paris  1571. 

FrauQois  Valeriola  (geb.  um  1504 — 1580,  Professor  der 
Medizin  in  Turin). 

Observationum  medicinalium  libri  VI,  Lyon  1573. 

Enarratiomtm  medicinalitim  libri  VI,  responsionum  Über  I,  Lyon  1554. 

31* 


484  H.  Chiari. 

CornelisGemma  (1534—1579,  Professor  der  Medizin  in  Löwen) 
der  eine  genaue  Beschreibung  der  Pest  gab. 

De  natitrae  divinis  characterismis,  Antwerpen  1575. 

Ambroise  Pare  (1517—1590,  Chirurg  in  Paris,  erster  Chirurg 
Karl  IX.  und  Heinrich  III.). 

Les  Oeuvres  de  Monsieur  Ambroise  Pare  avec  les  figures  et  portraits  tant  de 
l'anatomie  qtie  des  instrnments  de  Chirurgie  et  de  plusieurs  monstres,  Paris  1575; 
neueste  Ausgabe  von  Malgaigne  1840 — 1841. 

Rembert  Dodoens  (Dodonaeus)  (1517—1585,  Leibarzt 
Maximilian  II.  und  Rudolph  II.)  machte  zahlreiche  gute  Beobachtungen 
am  Sektionstische  und  beschrieb  Fälle  von  Pneumonie,  Magen- 
geschwüren, Bauchmuskelentzündungen,  Aneurysmen  der  Coronararterien 
des  Magens,  steinigen  Konkretionen  der  Lungen,  Vereiterung  der 
Ureteren  und  Nieren  und  Ergotismus. 

Observationum  medicinalium  exempla  rara,  Cöln  1581. 
Praxis  medica,  Amsterdam  1616. 

Schenck  von  Grafenberg  (1530 — 1598,  Stadtarzt  in  Frei- 
burg i.  Br.),  welcher  eine  ziemlich  vollständige  Zusammenstellung  der 
wichtigsten  seit  Hippokrates  veröffentlichten  Beobachtungen  über  die 
Krankheiten  der  einzelnen  Organe  mit  besonderer  Berücksichtigung 
der  pathologischen  Anatomie  publizierte  und  dabei  vielfach  auch  teils 
eigene,  teils  von  seinen  Freunden  gewonnene  pathologisch-anatomische 
Befunde  beschrieb. 

Observationum  medicarum  rararum  novarum  admirabilium  et  monstrosarum 
libri  VII.  Lib.  I.  Basel  1584,  libri  II.—  VII.  Freiburg  1594—1597;  letzte  Ausgabe 
Frankfurt  1665. 

Pierre  Salio  Diverso  (in  der  2.  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts 
Arzt  in  Faenza)  machte  pathologisch-anatomische  Beobachtungen  von 
Encephalitis  und  Mediastinitis. 

De  febri  pestilenti  tractatiis  et  curationes  quorundarum  particularium  mor- 
borum,  Bologna  1584. 

Marcello  Donato  (in  der  2.  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  Arzt 
in  Mantua)  sammelte  eine  Anzahl  guter  pathologisch-anatomischer  Be- 
obachtungen und  pries  in  begeisterten  Worten  den  Wert  der  patho- 
logischen Sektionen. 

De  medicina  historia  mirabili  libri  VI,  Mantua  1586;  Frankfurt  1613  ed. 
Greg.  Horst  c.  add.  libr.  VII. 

Wilhelm  Fabry  (Fabricius)  van  Hilden  (Hildanus) 
(1560—1634,  zuletzt  Stadt-  und  Kantonalarzt  in  Bern),  der  sehr  wert- 
volle pathologisch- anatomische  Befunde  mitteilte  und  auch  eine  Schrift 
über  den  Nutzen  der  Anatomie  veröffentlichte. 

Observationum  et  curationum  chirurgicarum  centuriae  VI,  I.  Bassel  1606: 
IL  Genf  1611;  III.  Basel  1614;  IV.  Basel  1619;  V.  Frankfurt  1627;  VI.  Lyon  1641. 

Kurze  Beschreibung  der  Fürtrefflichkeit  Nutz-  und  Nothwendigkeit  der  Ana- 
tomie, Bern  1624. 

Pieter  van  Foreest  (Pietrus  Forestus)  (1522—1597,  Arzt 
in  Delft)  ein  ausgezeichneter  Arzt,  der  namentlich  die  pathologisch- 
anatomischen Verhältnisse  der  gewöhnlichen  Krankheiten  berück- 
sichtigte.   Seine  Beobachtungen  betrugen  mehr  als  1000. 

Observationum  et  curationum  medicinalium  libri  XXXII,  Leyden  1587 — 1610; 
Frankfurt  1602—1634;  Frankfurt  1660. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  485 

Observationum  et  curationum  chirurgicarum  libri  XI,  Leyden  1610. 
Opera  omnia,  Frankfurt  1623;  1660—1661. 

MartinWeinrich  (Arzt  in  Breslau)  schrieb  über  Missbildimgen. 

De  ortu  monstrorum  commentatio,  1595. 

Reinert  Solenander  (1525—1596,  Leibarzt  des  Herzogs 
Wilhelm  zu  Cleve). 

Consiliorum  medicinalium  sectioties  V,  Frankfurt  1596. 

Ippolito  Boschi  (1540 — 1609  Arzt  in  Ferrara). 

De  facuUate  anatomica  per  breves  lectiones  cum  quibusdam  Observation ibtis, 
Ferrara  1600. 

Alle  diese  pathologisch-anatomischen  Befunde  waren  aber  nur  ge- 
legentliche und  entbehrten,  abgesehen  von  den  naturgemässen  anatomi- 
schen und  physiologischen  Mängelu.  der  systematischen  Tendenz.  Sieht 
man  z.  B.  in  dieser  Richtung  das  Werk  von  Schenck  von  Grafen- 
berg, welches  als  das  umfänglichste  und  beste  dieser  Zeit  bezeichnet 
werden  muss,  durch,  so  erkennt  man  auch  hier,  wie  der  sehr  gelehrte 
und  sicherlich  gewissenhafte  Verfasser  über  die  Anfänge  einer  wissen- 
schaftlichen Klassifikation  der  Krankheiten  noch  kaum  hinausgekommen 
ist.  In  den  7  Bücheni,  in  denen  die  Krankheiten  des  Kopfes,  der 
Thoraxorgane,  der  Unterleibsorgane,  der  Genitalien  und  der  äusseren 
Teile,  die  Fieber  und  Infektionskrankheiten  und  die  Gifte  behandelt 
werden,  sind  die  sehr  zahlreichen  Beobachtungen  teils  nach  der  Ursache 
der  Erkrankung,  teils  nach  den  wesentlichsten  Symptomen,  mitunter 
aber  auch  regellos  angeführt.  Dann  war  auch  dieser  Autor  vielfach 
noch  von  den  abergläubischen  Vorstellungen  seiner  Zeit  beherrscht. 

Immerhin  trat  doch  in  der  Sammlung  von  Thatsachenmaterial  das 
Bestreben  hervor,  sich  von  den  alten  Ueberlieferungen  und  der 
Scholastik  frei  zu  machen  und  selbst  zu  beobachten  und  selbst  zu 
untersuchen. 


I 


Die  pathologische  Anatomie  im  17.  Jahrhunderte. 


Im  17.  Jahrhunderte  wirkte  in  ähnlicher  Weise  fördernd  auf  die 
athologische  Anatomie  wie  im  16.  Jahrhunderte  die  Begi'ündung  der 
Anatomie  so  jetzt  die  Begründung  der  Physiologie  diu'ch  William 
Harvey  (1578—1657,  Arzt  in  London),  dessen  berühmte,  die  Ent- 
deckung des  Blutkreislaufes  enthaltende  Schrift :  Exercitatio  anatomica 
de  motu  cordis  et  sanguinis  in  animalibus  in  Frankfurt  a  M.  1628  er- 
schien (neueste  Ausgabe  Edinburgh  1824)  und  dessen  nicht  minder 
bedeutungsvolles  Werk:  Exercitationes  de  generatione  animalium 
(London  1651,  zuletzt  Amsterdam  1674)  durch  den  Nachweis  des 
Satzes:  Omne  vivum  ex  ovo  die  Grundlage  der  Embryologie  wurde. 

Weiter  war  von  der  grössten  Bedeutung  die  Verwendung  des 
Mikroskopes  für  anatomische  Zwecke  durch  Marcello  Malpighi 
(1628 — 1694.  Professor  der  Medizin  in  Bologna,  zuletzt  päpstlicher 
Leibarzt  in  Rom)  und  Anton  van  Leeuwenhoeck  (1632 — 1723, 
Privatgelehrter  in  Delft).  Ersterer  beobachtete  1661  zum  erstenmal 
den  kapillaren  Blutkreislauf  an  der  Lunge  und  Harnblase  des  Frosches 
und  entdeckte  1665  die  roten  Blutkörperchen,  letzterer  entdeckte  1675 
die  Infusorien  und  die  von  ihm  als  Tiere  angesehenen  Bakterien.  Beide 
beschrieben  ausserdem  zahlreiche  histologische  Detailbefunde. 


486  H.  Chiari. 

Marcello  Malpighi,  Opera,  Land.  1686;  Leyden  1687. 
Opera  posthuma,  London  1697 ;  Amsterdam  1698. 

Anton  van  Leeuwenhoeckf  Opera  omnia  8.  Arcana  naturae  ope  exactissi- 
morum  microscopiorum  detecta,  Leyden  1722. 

Es  wurden  immer  mehr  pathologisch-anatomische  Be- 
obachtungen gesammelt  und  zwar  sowohl  von  den  Anatomen 
als  von  den  Praktikern  einschliesslich  der  Chirurgen. 

Man  wies  auch  schon  von  verschiedenen  Seiten  auf  den  Wert 
pathologisch-anatomischer  Untersuchungen  hin  und  forderte  geradezu 
die  Vornahme  pathologischer  Sektionen,  so  Francis  Bacon  de 
Verulam  (1561—1626,  englischer  Staatsmann  und  Philosoph)  in 
seinem  Werke:  De  dignitate  et  augmentis  scientiarum  1623,  Jean 
van  Helmont  (1577 — 1644,  Arzt  in  Vilvorde  bei  Brüssel)  in  seinem 
Ortus  medicinae,  i.  e.  initia  phj^sicae  inaudita.  Progressus  medicinae 
novus,  in  morborum  ultionem  ad  vitam  longam,  Amsterdam  1648  und 
und  namentlich  Thomas  Bartholinus  (1616 — 1680,  Professor  der 
Anatomie  in  Kopenhagen)  in  der  Schrift  De  anatome  practica  ex  cada- 
veribus  morbosis  adornanda  consilium,  Kopenhagen  1674. 

Von  den  Anatomen  lieferten  in  ihren  Werken  pathologisch- 
anatomische Beiträge 

Pieter  Pauw  (Pavius)  (1564 — 1617,  Professor  der  Anatomie 
in  Lej^den). 

Observationes  anatoniicae  selectiones,  Kopenhagen  1617. 

Jean  Riolan  filius  (1580 — 1657,  Professor  der  Anatomie  in 
Paris). 

Anthropographia  seu  Anatomia,  Paris  1626. 
Encheiridium  anatomicum  et  pathologicum,  Paris  1648. 

Adriaan  van  den  Spieghel  (Spigelius)  1578 — 1625  Pro- 
fessor der  Anatomie  und  Chirurgie  in  Padua). 

De  semitertiana  lihri  IV,  Frankfurt  1624. 

Opera  quae  extant  omnia  (ex  rec.  van  den  Linden),  Amsterdam  1645. 

Nlcolaas  Tulp  (1593—1674,  Lektor  der  Anatomie  in  Amster- 
dam). 

Observationum  medicarum  libri  IV,  Amsterdam  1641. 

Epistola  de  calculis  in  Beverwyck'' s  Exercitationes  in  Hippocratis  aphoris- 
mos  de  calculo  aufgenommen. 

Johann  von  Beverwyck  (1594 — 1647,  Lehrer  der  Anatomie 
in  Dordrecht). 

De  calculo  renum  et  vesicae,  Leyden  1638. 

Schat  der  ongezondheit  ofte  geneeskonst  van  de  ziehten,  Dordrecht  1641. 

Domenico  Panaroli  (gest.  1657,  Professor  der  Botanik  und 
Anatomie  in  Eom). 

latrologismorum  seu  medicinalium  observationum  pentecostae  quinque  utilibus 
praeceptis  refertae,  Rom  1652;  Hanau  1654. 

Thomas  Bartholinus  (bereits  erwähnt). 

Historiarum  anatomicarum  rariorum  cent.  I.  et  IL,  Kopenhagen  1654;  HI.  et 
IV.  ibidem  1657;  V.  et  VI  ibidem  1661. 

Cista  medica  Hafniensis,  Kopenhagen  1662. 

Epistolurum  medicinalium  cent.  IV,  Kopenhagen  1663 — 1667. 

CasparBartholinusjun.  (1655—1738,  Professor  der  Anatomie 
in  Kopenhagen). 

Observationes  anatomicae  et  epistolae  medicinales,  Kopenhagen  1664. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  487 

JohannVesling  (1598 — 1649,  Professor  der  Anatomie,  Chirurgie 
und  Botanik  in  Padua). 

Ohservationes    anatomicae ,    Kopenhagen    1664:     Idem    et    episfolae    7nedica, 
Haag  1740. 

Antonio  Moline tti   (gest.  1673,  Professor  der  Anatomie  und 
Chirurgie  in  Padua). 

Dissertationes  anatomico-pathologicae,  qtiibus  humani  corporis  partes  accura- 
fissime  describuntur,   Venedig  1675. 

Isbrand    van    Diemerbroeck    (1609 — 1674,    Professor   der 
Anatomie  und  Medizin  in  Utrecht). 

Ohservationes  et  ciirationes  medicinales,  Utrecht  1685  (JEdidit  filius). 

Marcello  Malpighi  L  c, 

FredrikEuysch  (1638 — 1731,  Professor  der  Anatomie,  Chirurgie 
und  Botanik  in  Amsterdam). 

Ohservationum  anatomico-chirurgicarum  centuria,  Amsterdam  1691: 1721;  1737. 
Thesaurus  anatomicus,  Amsterdam  1701—1715. 

Adversariorum  anatomicorum  medicorum  et  chirurgieorum   decades  III  1717 
bis  1723. 

Philippe  Verheyen  (1648 — 1710,  Professor  der  Anatomie  und 
Chirurgie  in  Löwen). 

Compendia  theoriae  practicae  in  IV  partes  distributa.  Löwen  1688. 
De  febribus,  Löwen  1692. 

Anatomia  corporis  humani,  Löwen  1693;  Leipzig  1699;  Brüssel  1710;  1726; 
Leipzig  1731;  Amsterdam  1731. 

Guichard  Joseph  Du  Verney  (1648 — 1730,   Professor  der 
Anatomie  in  Paris). 

Traite  de  l'organe  de  l'ouie,  contenant  la  structure,   les  usages  et  les  maladies 
de  toutes  les  parties  de  Toreille,  Paris  1683;  1718;  Leyden  1731. 
Traite  des  maladies  des  os,  Paris  1751. 

Unter  den  Praktikern   sind  in  dieser  Hinsicht  besonders  zu 
nennen 

JanvanHeurne  (1543 — 1601,  Professor  der  Medizin  in  Leyden). 

De  morbis  pectoris,  ed.  fil.  Otto  Heumius,  Lyon  1602. 

Giulio  Cesare  Claudini  (gest.  1618.  Professor  der  Medizin 
in  Bologna). 

Responsiones  et  consultationes  medicinales,  Venedig  1606;  1607;  1646;  1690; 
Frankfurt  1608;  Turin  1628. 

Laelius  Fönte  (Ende  des  16.  und  Anfang  des  17.  Jahrhunderts 
Arzt  in  Rom  und  Venedig). 

Consultationes  medicinales,  Venedig  1608. 

Jean  Chifflet  (gest.  1610,  Arzt  in  Besangon). 

Singulares  ex  curationibus  et  cadaverum  sectionibus  observationes,  ed.  fil.  Jean 
Chifflet,  Paris  1612. 

Henri  Smet  (1537 — 1614,  Professor  der  praktischen  Medizin  in 
Heidelberg). 

Miscellaneorum  medicorum  libri  XU,  Frankfurt  1611. 

Epifanio  Ferdinandi  (1569—1638). 

Cenium   historiae   seu   observationes   et   casus   medici,   omnes  fere   medicinae 
partes  cunctosque  corporis  humani  morbos  continentes,  Venedig  1621. 


488  H-  Chiari. 

Valerio  Balduzio. 

Tumorum  curandorum  methodus,  Venedig  1612. 

Pierre  de  la  Poterie  (Poterius)  (Ende  des  16.,  Anfang  des 
17.  Jahrhunderts  Arzt  in  Paris  und  dann  in  Bologna). 

Observationum  et  curationum  insignium  centuriae  HL  Venedig  1615;  Gent 
1622;  1625;  Bologna  1622. 

Guiliölme  Loyseau. 

Obset-vations  medicales  et  chirurgicales,  Bordeaux  1617. 

Charles  Lepois  (Carolus  Piso)  (1563—1633,  Professor  der 
Medizin  in  Pont  ä  Mousson). 

Selectiortim  observationum  et  consiliorum  de  praeteritis  hactenus  morbis  praeter 
naturam  ah  aqua  seu  serosa  colluvie  ortis  Über  1,  Pont  ä  Mousson  1618;  1714; 
Amsterdam  1768. 

Antoine  Saporta  (gest.  1573,  Professor  in  Montpellier). 

De  tumoribus  praeter  naturam  libri  V,  Lyon  1624. 

Philipp  Hoechstetter  (Ende  des  16.  und  Anfang  des  17.  Jahr- 
hunderts, Arzt  in  Augsburg). 

Rariorum  observationum  medicinalium  decades  VL,  Wien  1624 — 1627;  Neue 
Ausgabe  von  Johann  PhHipp  Hochstetter  durch  4  weitere  Decaden  vermehrt,  Frank- 
furt und  Leipzig  1674. 

Gregor  Horst  (1578—1636,  Professor  der  Medizin  in  Witten- 
berg und  Giessen,  später  Arzt  in  Ulm,  genannt  der  „Deutsche 
Aeskulap"). 

Observationum  medicarum  singularium  libri  IV,  Ulm  1625;  Nürenberg  1652. 
Observationum  medicarum  singularium  libri  IV  posteriores,  Ulm  1628;  Frank- 
furt 166L 

Daniel  Senne rt  (1572-— 1637,  Professor  der  Medizin  in  Witten- 
berg). 

Medicinae  practicae  libri  VI,  Wittenberg  1628 — 1635. 

Marco  Aurelio  Severino  (1580 — 1656,  Professor  der  Medizin 
in  Neapel). 

De  recondita  abscessuum  natura  libri  VIII,  Neapel  1632;  Frankfurt  1643; 
1688;  Fadua  1651;  1668;  Leyden  1724;  1729. 

Francesco  Fabricio  Bartoletti  (1576—1630,  Professor  in 
Bologna  und  Mantua). 

Methodus  in  dyspnoeam  s.  de  respirationibus  libri  IV  cum  synopsibus, 
Bologna  1633. 

Giovanni  Battista  C ort esi  (1554— 1636,  Professor  der  Ana- 
tomie und  Chirurgie  in  Bologna  und  Messina). 

In  universam  chirurgiam  institutio,  Messina  1633. 

Nicolaas  Fonteyn  (Fontanus)  (erste  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts, Arzt  in  Amsterdam). 

Responsionum  et  curationum  medicinalium  über  I,  Amsterdam  1637. 

Philipp  Salmuth  (zweite  Hälfte  des  16.  und  erste  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts,  Arzt  in  Dessau  und  Zerbst). 

Observationum  medicarum  centuriae  III,  Braunschweig  1648. 

Johann  Peter  Lotichius  (1598— 1669,  Professor  der  Medizin 
in  Einteln,  Marburg  und  Herborn). 

Consiliorum  et  observationum  medicinalium  libri  VI,  Ulm  1644;  1658. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  489 

Abraham  Zacuto  (Zacutus  Lusitanus)  (1575 — 1642,  Arzt 
in  Lissabon  und  Amsterdam). 

Praxis  medica  admiranda,  in  qua  exempla  nova  mirabilia  circa  morborum 
caiisas  et  curationes  continentur,  Amsterdam  1634;  1636;  1639;  Lyon  1643. 

Epistola  de  calculo  qui  gignitur  in  cavitatibus  renum  non  in  substantia, 
Leyden  1638. 

Arnold  Boot  (1606—1653,  Arzt  in  London). 

Observationes  medicae  de  affectihus  omissis,  London  1649:  Sehnst.  1664. 

Pierre  ßorel  (1620—1689,  Arzt  in  Paris). 

Historiarum  et  observationum  medico-physic.  centuriae  IV,  Cartres  1652; 
Frankfurt  1670. 

Francis  Glisson  (1597—1677,  Arzt  in  London). 

Anatomia  hepatis,  London  1654. 
De  rachitide,  London  1656. 

Cristopher  Bennet  (1617 — 1655,  Arzt  in  London). 

Tabidoriim  theatrum  s.  phthiseos,  atrophiae  et  hecticae  xenodochium,  London 
1654  utid  öfter. 

Johann  Daniel  Horst  (1616—1685,  Arzt  in  Frankfurt  a/M.). 

Decas  obsen'ationum  et  epistolarum  anatomicarum,  Frankfurt  1656. 

Johann  Rhode  (1587 — 1659,  Arzt  in  Padua). 

Observationum  medicinalium  centuriae  III,  Padua  1657 ;  Frankf.  1679. 
Mantissa  anatomica  ad  Th.  Bartholinum,  Kopenhagen  1661. 

Johann  Jacob  Wepfer  (1620 — 1695,  Arzt  in  Schaflfhausen). 

Observationes  anatomicae  ex  cadaveribus  eorum,  quos  sustulit  apoplexia  cum 
exercitatione  de  loco  ejus  adfecto,  Schaffhausen  1658:  1675;  Amsterdam  1681; 
1710;  1724. 

Observationes  medico-pi'acticae  de  affectibus  capitis  internis  et  externis,  Schaff- 
hausen 1727:  Zürich  1745. 

Historia  anatomica  de  pueUa  sine  cerebro  nata,  Schaffhausen  1665. 

Jacob  de  Bondt  (Jacobus  Bontius)  (1598 — 1631,  Arzt  in 
Batavia). 

Observationes  selectae  ex  dissectione  cadaverum  ac  autopsia  descriptae,  Amster- 
dam 1658. 

Paul  Barbette  (gest.  1666,  Arzt  in  Amsterdam). 

Anatomia  practica,  Amsterdam  1659. 

ConradVictorSchneider  (1614 — 1680.  Professor  der  Medizin 
in  Wittenberg). 

De  catarrhis  lihri  Y,  Wittemherg  1660;  1662. 

Walter  Charlton  (1619—1707,  Arzt  in  London). 

Exercitationes  pathologicae ;  in  quibus  morborum  pene  omnium  natura,  generatio 
et  causae  ex  novis  anatojnicorum  inventis  sedulo  inquiruniur,  London  1660. 

Baldassar  Timaeus  von  Gyldenklee  (gest.  1667,  preussi- 
scher  Leibarzt). 

Casus  medicinales  et  observationes  practicae  36  annorum,  Leipzig  1662. 

Pietro  de  Marchetti  (1593 — 1673,  Professor  der  Chirurgie 
in  Padua). 

Observationum  medico-chirurgicarum  rariorum  sylloge,  Padua  1664;  Amster- 
dam 1665;  1675;  London  1729. 

Heinrich  von  Moinichen  (um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts, 
Arzt  in  Kopenhagen). 


490  H.  Chiari. 

Ohsei-vationes  medico-chirurgicae,   Kopenhagen  1665;   1678;  Frankfurt  1679; 
Dresdeyi  1091. 

Thomas  Willis  (1622—1675,  Arzt  in  London). 

Pathologia  cerehri  et  nervosi  generis,  in  qua  agitur   de  mortis  convuhivis  et 
de  scorbuto,  Oxford  1667;  Amsterdam  1608;  1070;  Leyden  1071;  London  1078. 

Job  Janszoon  van  Meek'ren  (gest.  1666,  Arzt  (Chirurg)  in 
Amsterdam). 

Heel-en  geneeskonstige  aanmerkingen,   Amsterdam  1008;  Haag  1673;  deutsch 
Nürnberg  1675;  latein.  Amsterdam  1682;  Rotterdam  1730. 

Eichard  Lower  (1631 — 1691,  Arzt  in  London). 

Tractatus  de  corde  item  de  motu  et  calore  sanguinis  et  chyli  in  eum  transitu, 
London  1669  und  öfter. 

JohannRudolfSalzmann  (1573 — 1656,  Professor  der  Medizin 
in  Strassburg). 

Varia  observata  anatomica,  ed.  Th.  Wynands,  Amsterdam  1669. 

Eaimondo  Giovanni  Forti  (1603 — 1678,  Professor  der  Me- 
dizin in  Venedig). 

Consultationum    et  responsionum   medicinalium   centuriae   IV,   Padua  1669; 
1678;  Genf  1677. 

Nicolas  Chesneau  (geb.  1601,  Arzt  in  Marseille). 

Observationum  medicinalium  libri  V,  Paris  1671. 

Thomas  Burnet  (Arzt  in  London). 

Thesaurus  medicinae  practicae  ex  praestantissimorum  medicorum  obse7'vationi- 
bus  collectus,  London  1672  und  öfter. 

Friedrich  Loss  (in  der  2.  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  Arzt 
in  Dorchester). 

Observationum  medicinalium  libri  IV,  London  1672. 

Consiliorum   sive  de   morborum  curationibus  Über  posthumus,   London  1684; 
Leipzig  1685. 

Johann    Nicolaus    Binninger    (geb.    1628,    Professor    der 
Medizin  in  Mumpelgard). 

Observationum  et  curationum  medicinalium  centuriae  V,  Mumpelgard  1673. 

Justus  Schrader  (geb.  1646,  Arzt  in  Amsterdam). 

Quatuor  decades  observationum  anatomico-medicinarum,  Amsterdam  1674. 

Wolfgang  Hoefer  (1614 — 1681,  Arzt  in  Straubing,  Linz,  Raab 
und  Wien). 

Herculis   medici  sive  locorum  communium  medicorum  tomus  I,    Wien  1657; 
1664;  Nürnberg  1666;  1675. 

Gerhard  Blaes  (Blasius)  (gest.  1682,  Professor  der  Medizin 
in  Amsterdam). 

Observata  anatomico-practica  in  homine  et  brutis  variis.    Acc.  Extraordinaria 
in  homine  reperta,  Leyden  1672. 

Observationes  medicae  rariores,  Amsterdam  1677. 

Reinier  de  Graaf  (1641—1673,  Arzt  in  Delft). 

Opera  omnia,  Leyden  1674;  London  1678;   Amsterdam  1701;  1705;  deutsch 
Leipzig  1752. 

Johann  Conrad  Peyer  (1653 — 1712,  Arzt  in  Schaffhausen). 

Methodus  historiarum  anatomico-medicarum,  Paris  1678. 
Parerga  anatomica  et  medica,  Genf  1681. 


Greschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  491 

Franz  de  le  Boe  Sylvius  (1614 — 1672.  Professor  der  Medizin 
in  Leyden). 

Casus  meäici  ed.  Joach.  Merclinus,   Utrecht  1679. 
Opera  omnia,  Amsterdam  1679;  zuletzt  Venedig  1736. 

Eberhard  Gockel  (1636—1703,  Stadtarzt  in  Ulm). 

Consiliorum  et  observationum  medieinalium  decades  VI,  Wien  1682. 
Gallicinium  medico-practicum  s.   observationum  et  curatiomim  novarum  cen- 
turiae  II,  Ulm  1700;  1702;  1722. 

Francesco  Redi  (1626—1694,  Professor  der  Medizin  in  Pisa). 

Osservazioni  intorno  agli  animali  viventi,  che  si  trovano  negli  animali  viventi, 
Florenz  1684. 

Osservazioni  intonno  alle  vipere,  Florenz  1664;  Paris  1666;  Florenz  1686. 

Raymond  de  Vieussens  (1641 — 1716,  Arzt  in  Montpellier 
und  Paris). 

Novum  vasorum  corporis  humani  systema,  Amsterdam  1705. 
Nouvelles  decouvertes  sur  le  coeur,   Toulouse  1706. 

Traite  nouveau  de  la  strukture  et  des  causes  du  mouvemetit  du  coeur, 
Toulouse  1715. 

Histoire  des  maladies  internes,  Toulouse  1774 — 1775,  4  '^ol. 

Samuel  Collins  (1618—1710,  Arzt  in  London). 

A  System  of  anatomy  treating  of  the  body  of  man,  beasts,  birds,  fishes,  insects 
and  plants  with  its  diseases,  cases  and  eures,  London  1685,  2  Vol. 

Johann  Jacob  Härder  (1656 — 1711,  Professor  der  Medizin 
in  Basel). 

Apiariuyn  observatianibus  medicis  centum  ac  physicis  experimentis  refertum, 
Basel  1687. 

Paeonis  (Härder)  et  Pythagorae  (Peyer)  exercitationes  anatomicae  et  medicae 
familiäres  bis  quinquaginta,  Basel  1687. 

Cornelis  Stalpart  van  der  Wiel  (1620—1687,  Arzt  in 
Haag). 

Observationes  rariores  medicae,  anatomicae  et  chirurgicae,  2  Vol.,  Leyden 
holländ.  1682  und  1686;  latein.  1687;  1727. 

Johannes  von  Muralt  (1645 — 1733,  Arzt  in  Zürich). 

Anatomisches  Collegium,  in  welchem  alle  Theile  des  Leibes  zusammt  den  Krank- 
heiten, welchen  sie  unterworfen,  beschrieben  werden,  Nürnberg  1687. 

Curationes  medicae  observationihus  et  experimentis  anatomicis  mixtae,  Amster- 
dam 1688. 

Eichard  Morton  (1635 — 1698,  Arzt  in  London). 

Phthisiologia  seu  exercitationes  de  phthisi  libri  III,  London  1689;  Frank- 
furt und  Leipzig  1691;  Genf  1696;  Ulm  1714;  engl.  London  1694:  1720:  deutsch 
Helmstädt  1780. 

Veit  Ri edlin  (1628—1668,  Ai-zt  in  Ulm). 

Observationum  medicarum  centuriae  tres,  Wien  1691. 

Veit  Riedlin  filius  (1656—1724,  Arzt  in  Augsburg). 

Observationum  medicarum  centuria  L,   Wien  1682 ;  IL,   Ulm  1721. 
Patavinarum  observationum  medicarum  centuriae  III,   Wien  1691. 

Johannes  Nicolaas  Pechlin  (1644 — 1706,  Professor  der 
Medizin  in  Kiel). 

Observationum  physico-medicarum  libri  tres,  Hamburg  1691. 

Martin  Lister  (1638 — 1711,  Arzt  zu  York  und  London,  Leib- 
arzt der  Königin  Anna;. 


492  '  H.  Chiari. 

Exercitationes  medicinales  sex  de  morbis  quibusdam  chronicis,  London  1694; 
Frankfurt  1696;  Genf  1696. 

William  Cowper  (1666—1709,  Arzt  in  London). 

Anatomy  of  human  body  with  figures  drawn  öfter  the  life,  Oxford  1697; 
Leyden  1787)  lat.  Leyden  1739. 

Rosinus  Linsenbahrt  (Lentilius)  (1657 — 1733,  Leibarzt 
des  Markgrafen  von  Baden-Durlach). 

Miscellanea  medico-practica,  Ulm  1698. 

Ehren  fr  iedHagendorn  (1640—1692,  Arzt  in  Görlitz). 

Observationum  et  historiarum  medico-practicarum  rariorum  centuriae  tres, 
Rudolstadt  1698;  Görlitz  1698. 

Guiseppe  Lanzoni  (1665 — 1730,  Professor  der  Medizin  in 
Ferrara). 

Animadversmies  variae  ad  medicinam,  anatomiam  et  ckirurgiam  maxime 
facientes,  Ferrara  1688. 

Giovanni  Battista  Fantoni  (1652 — 1692,  Professor  der 
Medizin  in  Turin  und  Leibarzt  des  Herzogs  Victor  Amadeus  IL  von 
Savoyen).  • 

Observationes  anatomico-medicae  selectiones,  Turin  1699;  Venedig  1713. 

Aus  diesem  Jahrhunderte  besitzen  wir  auch  bereits  eine  ziemliche 
Zahl  von  Spicilegien,  die  überwiegend  oder  fast  ausschliesslich 
der  pathologischen  Anatomie  gewidmet  sind. 

Als  solche  sind  zu  nennen: 

die  Sylloge  curationum  et  observationum  medicinaliuni  centurias  VI  com- 
plectens  cum  notis  ejusdem  et  episagmatiim  centuria  I,  Ulm  1668  von  Georg 
Hieronymus  Welsch  (1624  —  1677,  Arzt  in  Augsburg),  der  nebst  anderem  auch 
eine  Abhandlung  über  den  Medinaivurm  schrieb.  Exercitatio  de  vena  medinensi, 
Augsburg  1674, 

das  Spicilegiuni  anatomicum,  continens  observationum  anatomicarum  rariorum 
cenfuriam  unam  nee  non  osteogenesin  foetuum,  in  qua  quid  cuique  ossiculo  singulis 
accedat  mensibus,  quidque  decedat  et  in  eo  per  varia  immutetur  tempora,  accura- 
tissime  oculis  subjicitur,  Amsterdam  1670;  1673  von  Theodorus  Kerckring 
(1640 — 1693,  Arzt  in  Amsterdam), 

das  Sepulchretum  anatomicum  sive  anatomia  piractica,  ex  cadaveribits  niorbo 
denatis  proponens  historias  et  observationes  omnium  pene  humani  corporis  affectuum, 
ipsorumque  causas  reconditas  revelans,  quo  nomine  tam  pathologiae  genuinae  quam 
nosocomiae  orthodoxae  fundatrix  imo  medicinae  veteris  ac  novae  jjromptuarium  dici 
meretur,  2  Bände,  Genf  1679;  1700  (ed.  Hanget);  Leyden  1709  (ed.  Hanget)  von 
TJieopJiüe  Bonet  (1620 — 1689  Leibarzt  des  Herzogs  von  Longueville  und  Fürsten 
von  Neufchätel), 

die  Anatomia  practica  rationalis  seu  variorum  cadaverum  morbis  denatorum 
anatomica  inspectio,  Amsterdam  1688  von  Steven  Blankaart  (1650—1702  Arzt 
in  Amsterdam)  und 

die  Bibliotheca  medico-practica  sive  rerum  medicarum  thesaurus  cumulatissimus, 
quo  omnes  prorsus  humani  corporis  niorbosae  a/fectiones  tum  artem  medicam  in 
genere  tum  chirurgiam  in  specie  spectantes  ordine  alphabetico  explicantur  et  per 
curationes,  consilia,  observationes  ac  cadaverum  inspectiones  anatomicas  tam  hinc 
inde  proprias,  quam  a  variis  iisque  praestantissimis  authoribus,  veteribus  et  recen- 
tioribus  petitas  abunde  imo  et  curiose  tractantur,  4  Vol.,  Genf  1695 — 1697  von 
Jean  Jacques  Manget  (1652 — 1742  Arzt  in  Genf). 

Es  wurde  auch  schon  von  Giovanni  Guglielmo  Riva  (1627 — 
1677,  Arzt  in  Rom  und  päpstlicher  Leibarzt)  in  Rom  eine  Gesellschaft 
für  pathologische  Anatomie  gegründet  und  im  Ospedale  della  con- 
solazione  ein  pathologisch-anatomisches  Museum  aufgestellt. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  493 


Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  pathologischen  Anatomie 
im  17.  Jahrhunderte. 

Dieselben  beschränkten  sich  auch  in  diesem  Jahrhunderte  ganz 
und  gar  auf  die  Sammlung  von  pathologisch-anatomischen  Beobach- 
tungen, von  denen  manche  recht  bedeutungsvoll  waren,  viele  aber 
irrig  oder  höchst  abenteuerlich  genannt  werden  müssen. 

Zu  den  ersteren  gehören  die  pathologisch  -  anatomischen  Be- 
merkungen über  In  t  er  mit  tens- Veränderungen  von  van  den 
Spieghel.  über  Rachitis  von  Boot  und  Glisson,  über  Krank- 
heiten des  Herzbeutels  (Verwachsungen.  Hydrops  und  Pericarditis) 
von  de  Vieussens.  über  Lunge nphthise  (Ableitung  derselben 
von  dem  Zerfalle  von  Tiiberkelherden  in  der  Lunge)  von  de  le  Boe- 
Sylvius,  die  erste  Angabe  über  den  Croup  von  Bennet,  der  erste 
Nachweis  der  Vernarbung  apoplektischer  Hirnherde  von 
Wepfer,  die  erste  Beschreibung  des  Kretinismus  von  Hoefer, 
die  Zurückführung  der  Scabies  auf  Parasiten  von  Redi  und  die 
ungemein  wichtige  Feststellung  der  Thatsache,  dass  der  Schleim  bei 
Katarrhen  der  Nase  nicht  vom  Gehirn  stamme,  wie  man  bis  dahin 
geglaubt  hatte,  sondern  von  der  Nasenschleimhaut  secerniert  wird, 
durch  Schneider. 

Irrig  war  die  Lehre  von  der  Serosa  colluvies  von  Lepois, 
der  in  der  bei  Sektionen  häufig  gefundenen  serösen  Flüssigkeits- 
ansammlung in  den  Körperhöhlen  die  Ursache  vieler  Krankheiten  ent- 
deckt zu  haben  glaubte  und  höchst  abenteuerlich  die  astrologische 
Verwertung  von  Sektionsbefunden  durch  Chifflet. 

Die  Spicilegien  bedeuteten  jedenfalls  einen  Fortschritt,  indem 
damit  die  systematische  Zusammenstellung  einer  grösseren  Zahl  von 
pathologisch  -  anatomischen  Sektionsbefunden  allgemeiner  eingeführt 
wurde.  Von  geringer  Bedeutung  ist  das  von  Welsch,  der  600  Be- 
obachtungen von  Marcellus  Cumanus,  Jeremias  Martins,  Achilles  Gasser, 
Joannes  üdalricus  Rumler  und  Hieronymus  Reusner  sammelte  und 
über  100  eigene  Krankheitsfälle  berichtete,  wichtiger  sind  die  von 
Ke rekring  und  Blankaar t,  sehr  bedeutungsvoll  müssen  die  von 
Bon  et  und  Manget  genannt  werden. 

Kerckring  sammelte  an  100  eigene  anatomische  Beobachtungen 
teils  normal-anatomischer,  teils  pathologisch-anatomischer  Natur.  In 
den  ersteren  werden  die  Valvulae  conniventes  des  Dünndarmes  und 
die  Valvulae  venarum  sowie  die  Osteogenese,  in  den  letzteren  der 
Verschluss  des  Pylorus  durch  eine  Münze,  ein  Fall  von  Cranio-Rhachi- 
schisis,  ein  angeborener  Herzfehler  und  die  ganz  richtig  als  Leichen- 
erscheinung aufgefassten  „Herzpolypen"  beschrieben. 

Blankaart  publizierte  200  durchwegs  aus  seiner  eigenen  Be- 
obachtung stammende  Sektionsbefunde  mit  den  zugehörigen  Kranken- 
geschichten und  Epikrisen.  Manches,  wie  z.  B.  zahlreiche  Verletzungen, 
Tuberkulose  der  Lungen,  Carcinoma  uteri  und  Dermoidcysten  des 
Ovariums  sind  dabei  ganz  anschaulich  geschildert,  stellenweise  findet 
sich  aber  auch  Unrichtiges  und  Abenteuerliches. 

Das  Sepulchretum  von  Bonet  brachte  eine  vollständige  Samm- 
lung des  vom  16.  Jahrhunderte  an  publizierten  pathologisch-ana- 
tomischen Materiales  und  werden  darin  470  Autoren  erwähnt.  Die 
Anordnung  der  Beobachtungen  erfolgte  nach  den  Symptomenkomplexen 


494  H.  Chiari. 

und  nicht  nach  den  anatomischen  Veränderungen.  Im  ersten  Buche 
werden  die  Krankheiten  des  Kopfes,  im  zweiten  die  des  Thorax,  im 
dritten  die  des  Unterleibes  und  im  vierten  verschiedene  sonstige 
Krankheiten  wie  die  Fieber,  Geschwülste,  Verletzungen,  Arthritis, 
Lues  etc.  abgehandelt.  Ihre  Gesamtzahl  beträgt  2934,  von  denen 
jedoch  nur  sehr  wenige  von  Bon  et  selbst  stammen.  Häufig  wurden 
normale  Befunde  als  etwas  Pathologisches  angesehen  und  umgekehrt 
und  wurde  auch  vielfach  falschen  Theorien  gehuldigt.  Nichtsdesto- 
weniger ist  das  Sepulchretum  sehr  wertvoll,  weil  es,  wie  schon  H  a  1 1  e  r 
bemerkte,  für  sich  eine  Art  Bibliothek  auf  pathologisch-anatomischem 
Gebiete  darstellt. 

Bonet  publizierte  dann  noch  ähnliche  Sammlungen  unter  dem 
Titel:  Medicina  septentrionalis  collatitia,  2  Bände,  Genf  1684 — 1686 
und  Polyalthes  sive  Thesaurus  medico-practicus,  Genf  1690;  1691. 

Das  Werk  von  Hanget  bringt  auf  4397  Grossfolioseiten  in 
alphabetischer  Reihenfolge  eine  Abhandlung  über  sämtliche  Krank- 
heiten und  zwar  in  der  Art,  dass  für  dieselben  ausser  klinischen  und 
therapeutischen  Erörterungen  auch  Observationes  angeführt  werden, 
welche  vielfach  pathologisch-anatomische  Befunde  enthalten.  Die  Fälle 
stammen  teils  aus  der  Litteratur,  teils  von  Manget  selbst.  Allge- 
meinere Gesichtspunkte  werden  auch  hier  vollkommen  vermisst. 


Die  pathologische  Anatomie  im  18.  Jahrhunderte. 

Im  18.  Jahrhunderte  begann  die  pathologische  Anatomie  ein 
grosses  und  wichtiges  Fach  der  Medizin  zu  werden  und  eine  ihr  aus- 
schliesslich zukommende  Litteratur  zu  besitzen.  Es  erwachte  immer- 
mehr das  Bestreben,  durch  fleissige  pathologisch-anatomische  Unter- 
suchungen das  wesentliche  Substrat  der  während  des  Lebens  be- 
obachteten Krankheitsvorgänge  zu  erkennen.  Wenn  auch  zwischen 
den  einzelnen  pathologisch-anatomischen  Befunden  vielfach  noch  keine 
rechte  Verbindung  bestand,  so  wurde  doch  ihre  Erforschung  zu  einer 
wichtigen  Grundlage  der  praktischen  ärztlichen  Thätigkeit. 

Eine  ganze  Reihe  von  Autoren  beschäftigte  sich  mit  der  Frage 
der  Bedeutung  der  pathologischen  Anatomie  für  die  praktische  Medizin 
häufig  unter  Hinweis  auf  die  bei  dieser  Art  der  Forschung  zu  be- 
achtenden Kautelen,  so: 

Friedrich  Hoff  mann  (1660 — 1742,  Professor  der  Medizin  in 
Halle). 

De  a^mtomes  in  praxi  medica  usu,  Halle  1707. 

Christian  Bernard  Albinus  (1696—1752,  Professor  der 
Medizin  in  Utrecht). 

De  anatome  errores  detegente  in  medicina  oratio,  Utrecht  1723. 

Abraham  Vater  (1684—1751,  Professor  der  Anatomie  in 
Wittenberg). 

De  anatomes  utilitate  in  eruendis  causis  occultis  morborum  vel  mortis  subi- 
taneae  1723. 

Gerhard  Andreas  Müller  (1718 — 1762,  Professor  in  Giessen). 

De  utilitate  anatomiae  practicae,  Giessen  1753. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  495 

Carlo  Gianella  (geb.  zu  Anfang  des  18.  Jahrhunderts,  Pro- 
fessor der  Medizin  in  Padua). 

Non  semper  ex  cadaverum  sectione  colligi  potest,  rectene  aut  perperam  sit 
curatio  morhorum  instituta,  Padua  1755. 

Paul  S'Graeuwen. 

Oratio  de  anatomiae  pKithologicae  utüitate  et  necessitate,  Groningen  1771. 

Eduard  Saudi  fort  (1742 — 1814,  Professor  der  Anatomie  und 
Chirurgie  in  Leyden). 

Oratio  de  circumspecto  cadaverum  examine,  optimo  practicae  medicinae  ad- 
miniculo,  Leyden  1772. 

Christoph  Salomon  Schinz(1764 — 1847,  Arzt  und  Professor 
der  Physik  in  Zürich.) 

De  cauto  sectionum  cadaverum  usu  ad  dijudicandas  morhorum  causas, 
Göttingen  1786. 

Daniel  Gottlieb  Silbermann. 

De  promovendis  anatomiae  pathologicae  administrationibus,  Malle  1790. 

Es  entstand  eine  spezifisch  pathologisch-anatomische 
Litte ratur,  an  welcher  sich  hauptsächlich  die  Italiener,  Franzosen 
und  Niederländer  beteiligten. 

Unter  den  Italienern  war  es  namentlich  Giovanni  Battista 
Morgagni  (1682 — 1771,  Professor  der  Anatomie  in  Padua),  der  durch 
sein  berühmtes  Werk:  De  sedibus  et  causis  morborum  per  anatomen 
indagatis  libri  Y,  Venedig  1761  und  öfter;  bequemste  Ausgabe  Leipzig 
ed.  Justus  Eadius  1827 — 1829,  6  Vol.  der  eigentliche  Begründer  der 
pathologischen  Anatomie  des  Menschen  wurde.  Morgagni  stellte 
es  sich  darin  zur  Aufgabe,  durch  sorgfältige  Vergleichung  der  während 
des  Lebens  beobachteten  Krankheitserscheinungen  mit  den  anatomischen 
Befunden  ein  möglichst  vollständiges  Bild  der  krankhaften  Vorgänge 
zu  gewinnen.  Die  Anordnung  der  Beobachtungen  geschah  nach  den 
Symptomen.  Jedes  der  5  Bücher  zerfällt  in  eine  Reihe  von  Briefen 
und  jeder  Brief  wieder  in  einzelne  Artikel.  In  dem  1.  Buche  (1. — 14. 
Brief)  werden  die  Krankheiten  des  Kopfes,  in  dem  2.  Buche  (15. — 27. 
Brief)  die  Krankheiten  des  Thorax,  in  dem  3.  Buche  (28. — 48.  Brief) 
die  Krankheiten  des  Bauches  und  in  dem  4.  Buche  (49.-59.  Brief) 
allgemeine  und  chirurgische  Krankheiten,  Fieber,  Geschwülste,  chirur- 
gische Zufälle,  Syphilis  nud  Vergiftungen  abgehandelt.  Das  5.  Buch 
(60. — 70.  Brief)  enthält  Zusätze  zu  den  früheren  Büchern.  Stets  werden 
die  Symptomenkomplexe  an  die  Spitze  gestellt,  diesen  folgen  Kranken- 
geschichten mit  Sektionsberichten  und  den  Sctiluss  bildet  eine  kritische 
Besprechung  mit  Berücksichtigung  der  Litteratur.  Eine  zusammen- 
hängende Darstellung  der  einzelnen  pathologisch-anatomischen  Ver- 
änderungen wird  aber  nicht  gegeben. 

Das  Werk  Morgagnis  ist  daher  kein  Handbuch  der  pathologischen 
Anatomie  im  modernen  Sinne,  sondern  wie  Ha  es  er  (IL  Bd.  p.  625) 
ganz  richtig  sagt,  ein  „Repertorium  von  pathologisch-anatomischen  Er- 
läuterungen der  medizinischen  Symptomatologie".  Die  Beobachtungen 
rühren  teils  von  Valsalva  und  anderen  mit  Morgagni  befreundeten 
Aerzten,  zum  grössten  Teil  aber  von  Morgagni  selbst  her.  Wenn 
auch  gewiss  die  Arbeit  Morgagnis  ungemein  verdienstvoll  war  und 
durch  ihn  der  anatomische  Sitz  der  Krankheiten  zur  Anerkennung  ge- 
bracht wurde,  so  gelangte  er  doch  bezüglich  der  Ursachen  und  des 


496  H.  Chiari 

Wesens  der  Krankheiten  zu  relativ  geringen  Erkenntnissen.  Vielfach 
verwechselte  er  auch  noch  Leichenerscheinungen  mit  pathologischen 
Veränderungen  und  verfügte  auch  nicht  über  eine  systematische 
Sektionstechnik. 

Litteratur  über  Morgagni: 

Falk,  Die  pathologische  Anatomie  und  Physiologie  des  Johann  Baptist 
Morgagni,  Berlin  1887. 

Rudolf  Virchow,  Rede  auf  dem  internationalen  medicinischen  Congresse  in 

Rom  1884. 

Unter  den  Franzosen  beschäftigten  sich  besonders  mit  patho- 
logischer Anatomie  Pierre  ßarrere,  Joseph  Lieutaud  und 
Felix  Vicq  d'Azyr. 

Pierre  Barrere  (gest.  1755,  Arzt  in  Cayenne,  dann  Professor 
der  Medizin  in  Perpignan). 

Derselbe  teilte  in  seiner  Schrift: 

Observntions  anatomiques,  tirees  des  ouvertures  d'un  grand  nombre  des  cadavres, 
propres  ä  decouvrir  les  causes  de  maladies  et  leurs  remedes,  Perpignan  1751;  1771, 

eine  grosse  Zahl  von  pathologisch-anatomischen  Befunden  in  von  ihm 
klinisch  beobachteten  Fällen  mit,  die  aber  vielfach  sehr  unvollkommen 
geschildert  und  unrichtig  gedeutet  wurden.  Auch  verwechselte  er 
häufig  postmortale  Veränderungen  mit  pathologischen  Zuständen. 
Ziemlich  gut  sind  seine  Beschreibungen  von  Lungenemphysem,  granu- 
lärer Lungentuberkulose  und  grüner  Eiterung. 

Joseph  Lieutaud  (1703—1780,  Leibarzt  Ludwig  XV,  und 
Ludwig  XVI.)  veröffentlichte  auf  Grund  der  Untersuchung  von  1200 
im  Krankenhause  zu  Versailles  ausgeführten  Sektionen  und  zahlreicher 
Litteraturangaben  seine 

Historia  anatomico-medica,  sistens  numerosissima  cadaverum  humanorum  extis- 
picia  quibus  in  apriciim  venit  genuina  morborum  sedes,  horumque  reserantur  caussae 
vel  patent  effectus,  Paris  1767  (ed.  Portal);  Gotha  und  Langensalza  1787 — 1803 
(ed.  Schlegel), 

in  welcher  die  pathologisch-anatomischen  Veränderungen  des  mensch- 
lichen Körpers  zum  erstenmal  nicht  nach  den  Symptomenkomplexen 
sondern  nach  den  Organen  geordnet  erscheinen.  Dieses  Werk  reicht 
aber  bei  weitem  nicht  heran  an  das  von  Morgagni,  da  die 
Schilderungen  vielfach  als  höchst  ungenau  bezeichnet  werden  müssen. 

Felix  Vicq  d'Azyr  (1748 — 1794,  Leibarzt  der  Königin  Marie 
Antoinette)  schrieb  in  der  von  ihm  herausgegebenen  medizinischen 
Encyclopedie  methodique  1789  eine  ziemlich  umfassende  Anatomie 
pathologique. 

Unter  den  Niederländern  nimmt  die  erste  Stelle  ein  Eduard 
Sandifort  (1742 — 1814,  Professor  der  Anatomie  und  Chirurgie  in 
Leyden). 

Seine  Werke: 

Observationes  anatomico-pathologicae,  Leyden  1777 — 1784,  IV  Libri, 
Exercitationes  anatomico-academicae,  II  Libri,  Leyden  1783—1785  und 
Museum  anatomicum  Academiae  Lugduno-Batavae  descriptum,  Leyden  1793 — 
1835^  IV  Volum.  (IIL  et  IV.  Vol.  ed.  Gerard  Sandifort) 

enthalten  eine  grosse  Zahl  sorgfältiger  pathologisch-anatomischer  Be- 
obachtungen mit  zum  Teile  recht  guten  Abbildungen  und  gehören  zu 
den  bedeutendsten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  pathologischen 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  497 

Anatomie  im  18.  Jahrhunderte.  Cruveilhier  nennt  Eduard 
Sandifort  den  Vater  der  pathologischen  Ikonographie. 

Gute  pathologisch-anatomische  Beobachtungen  machten  auch 
Peter    Camper    (1722 — 1789,    Professor    der    Anatomie    und 
Chirurgie  in  Franeker,  Amsterdam  und  Groningen). 

Demonstrationum  anutomico-pathologicarum  libri  11,  Amsterdam  1760 — 1762, 

namentlich  wichtig  für  die  Lehre  von  den  Hernien  (Erste  Beobachtung 
der  Hernia  ischiadicaj  und  die  beiden  van  Doeveren,  Vater  und 
Sohn. 

Walther  van  Doeveren  (1730 — 1783,  Professor  der  Medizin, 
Anatomie,  Chirurgie  und  Geburtshilfe  in  Groningen  und  Leyden). 

Specimen  ohservationum  academicarum  ad  monstrorum  historiam,  anatomen. 
pathologiam  et  artem  ohstetriciae praedpue  spectantiimi,  Gh-oningen  und  Leyden  1765. 

Antonie  Jacob  van  Doeveren  (1763 — 1805,  Arzt  in 
Groningen). 

Observationes  pathologico-anatomicae,  Leyden  1789. 

Bei  den  Engländern  enthielten  die  einschlägigen  Schriften  von 
Samuel  Glossy 

Observations  on  some  of  the  diseases  of  human  body,  cliiefly  taken  from  the 
dissections  of  morbid  bodies,  London  1763 

und  Richard  Browne  Cheston  (Arzt  in  Glocester) 

Pathological  observations  and  inquiries  in  surgery  from  the  dissection  of 
■morbid  bodies,  Glocester  1766 

nur  vereinzelte  zum  Teile  gut  geschilderte  und  richtig  aufgefasste 
pathologisch-anatomische  Befunde  und  trat  erst  zum  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts ein  allerdings  sehr  hervorragender  Forscher  auf  dem  Gebiete 
der  pathologischen  Anatomie  hervor,  nämlich  M  a  t  h  e  w  B  a  i  1 1  i  e ,  ein 
Schüler  John  Hunters  (1761 — 1823,  Ai"zt  in  London  und  Leibarzt 
des  Königs). 

Auf  gründliche  Kenntnisse  in  der  normalen  Anatomie  gestützt, 
verlegte  er  sich  mit  grösstem  Erfolge  auf  die  pathologische  Anatomie 
und  sammelte  ein  reichhaltiges  pathologisch  -  anatomisches  Museum, 
welches  er  kurz  vor  seinem  Tode  samt  400  Pfund  zur  Erhaltung 
desselben  dem  College  of  Physicians  in  London  vermachte.  Viele 
Jahre  hindurch  hielt  er  auch  sehr  frequentierte  anatomische  Vor- 
lesungen, in  w^elchen  er  die  pathologische  Anatomie  besonders  berück- 
sichtigte. 

Seine  Werke  sind: 

The  morbid  anatomy  of  some  of  the  most  important  parts  of  the  human  body, 
London  1793;  1807;  1812;  1815;  1818;  deutsch  von  Sömmering,  Berlin  1794;  1815: 1818 

und  A  series  of  engravings,  accompanied  icith  explanations,  ichich  are  intended 
to  illustrate  the  morbid  anatomy  of  some  of  the  most  important  parts  of  the  human 
body,  London  1799—1802,  10  Fase;  1812,  10  Fase. 

In  Deutschland  wurde  die  pathologische  Anatomie  weit  weniger 
getrieben.  Immerhin  erschienen  in  Deutschland  in  diesem  Jahrhunderte 
ausser  den  der  pathologischen  Anatomie  gewidmeten,  auf  der  Sektion 
von  50  im  •  Armenhause  zu  Wien  verstorbenen  Individuen  basierenden 

Observationes  medicae  incisionibus  cadaverum  anatomicis  illustratae,  Frei- 
burg 1762 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  32 


498  H.  Chiari. 

von  Joseph  Lambert  Baader  (Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  Pro- 
fessor der  Materia  medica,  Botanik  und  Chemie  in  Freiburg  i/Br.) 
und  den 

Obsercationes  anatomo-pathologicae,  Königsberg  1787 

von  Johann  Daniel  Metzger  (geb.  1739,  Professor  der  Medizin 
in  Königsberg)  das  erste  Kompendium  der  pathologischen  Anatomie 
von  Johann  Moritz  Hofmann  (1653 — 1727,  Professor  der  Ana- 
tomie, Chemie  und  Botanik  in  Altdorf) 

Disquisitio  corporis  humani  anatomico-pathologica  rationibus  et  observationibua 
veterum  et  recentiorum  singulari  studio  collectis  confirmata,  Altdorf  1713, 

dann  1785  das  erste  Lehrbuch  der  pathologischen  Anatomie,  in  welchem 
in  gedrängter  Kürze  die  pathologisch-anatomischen  Veränderungen  der 
einzelnen  Organe  auf  Grund  von  Litteraturan gaben  der  Reihe  nach 
beschrieben  werden,  von  Christian  Friedrich  Ludwig  (1751 — 
1823,  Professor  der  Medizin  in  Leipzig) 

Primae  lineae  anatomiae  pathologicae,  Leipzig  1785 

und  1796  ein  Handbuch  der  pathologischen  Anatomie  in  deutscher 
Sprache  von  Georg  Christoph  Conradi(1767 — 1798,  Stadtarzt  in 
Nordheim) 

Handbuch  der  pathologischen  Anatomie,  Hannover  1796. 

Diese  Werke  sind  aber  im  wesentlichen  nur  Kompilationen  und 
wurde  durch  sie  keine  neue  Richtung  gegeben. 

1791  —  1792  publizierte  dann  noch  Johann  Leonhard  Fischer 
(1760  —  1833,  Professor  der  Anatomie  und  Chirurgie  in  Kiel)  eine  An- 
weisung zur  praktischen  Zergliederungskunst,  2  Teile.  Leipzig,  in 
welcher  auch  die  Bedürfnisse  der  pathologischen  Anatomie  berück- 
sichtigt werden  und  die  Anfertigung  pathologisch-anatomischer  Prä- 
parate berührt  wird. 

Ungemein  zahlreich  sind  dann  in  diesem  Jahrhunderte  die  patho- 
logisch -  a  n  a  t  o  m  i  s  c  h  e  n  B  e  fu  n  d  e ,  welche  sich  in  denAVerken 
der  Anatomen  und  der  Praktiker  vorfinden. 

Die  Anatomen,  die  sich  ja  zumeist  auch  in  der  praktischen 
Medizin  bethätigten,  teilten  einerseits  gelegentlich  auch  pathologisch- 
anatomische Beobachtungen  mit,  andererseits  arbeiteten  sie  speziell 
auf  einzelnen  Gebieten  in  pathologisch-anatomischer  Richtung. 

Zu  den  ersteren  gehörten: 

Govert  Bidloo  (1649 — 1713,  zuerst  Lektor  der  Anatomie  und 
Chirurgie,  dann  Professor  der  Medizin  und  Chirurgie  in  Leyden). 

Exercitationum  anatomico-chirurgicariim  decades  III,  Leyden  1/04 — 1708. 

Antonio  Maria  Valsalva  (1666 — 1723,  Professor  der  Ana- 
tomie in  Bologna). 

De  aure  hunmno  tractatus,  in  quo  integra  ejusdem  fabrica  multis  novis  in- 
ventis  et  iconismis  ilhistrata  describitur,  Bolog^m  170.5;  Utrecht  1707. 

Johann  Salzmann  (1672 — 1738,  Professor  der  Anatomie, 
Chirurgie  und  Pathologie  in  Strassburg). 

Specimen  anatomiae  curiosae  et  utilis,  Strassburg  1709. 
De  ossificationibus  p^-aeternaturalibus,  ibidem  1720. 
Observationum  decas,  ibidem  1725. 

Johannes  Palfyn  (1650—1730,  Professor  der  Anatomie  und 
Chirurgie  in  Gent). 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  499 

Heelkonstige  ontleeding  van's  menschen  lichaam,  Leyden  1710 ;  franz.  Paris  1726 ; 
deutsch  Leipzig  1717 ;  Frankfurt  und  Leipzig  1760. 

Adam  Brendel  (gest.  1719,  Professor  der  Anatomie  und  Medizin 
in  Wittenberg). 

Observationum  anatomicarum  decades  III,  Wittenberg  1715 — 1718. 

Giovanni  Battista  Bianchi  (1681 — 1761.  Professor  der 
Anatomie,  Chemie  und  Medizin  in  Turin). 

Historia  hepatica  seu  de  hepatis  structura  usibiis  et  niorbis,  opus  anatomicum, 
physiologicum  et  pathologicum,  Turin  1710:  1716;  Genf  1725. 

De  naturali  in  humano  corpore  vitiosa  morbosaque  generatione  historia, 
Turin  176L 

Lorenz  Heister  (1683 — 1758,  Professor  der  Anatomie  und 
Botanik  in  Altdorf,  dann  Professor  der  Chirurgie  und  Botanik  in 
Helmstädt). 

Chirurgie,  Xürnberg  1718  und  öfters;  auch  vielfach  übersetzt. 
Medicinisch-chirurgische  tmd  anatomische  Wahrnehmungen,  Rostock  1759;  1770. 

Giovanni  Domenico  Santorini  (1681 — 1737,  Professor  der 
Anatomie  in  Venedig). 

Observationes  anatomicae,   Venedig  1724. 

Heinrich  Bass  (1690 — 1754,  Professor  der  Anatomie  und 
Chirurgie  in  Halle). 

Observationes  anatomico-chirtirgico-medicae,  Halle  1731. 

Antonio  Yallisnieri  (1661 — 1730,  Professor  der  Anatomie 
in  Padua). 

Opere  fisico  mediche,  ed.  filius,  Venedig  1733. 

Giovanni  Fantoni  (1675 — 1758,  Professor  der  Anatomie  und 
[edizin  in  Turin). 

Opuscula  medica  et  physiologica,  Genua  1738. 

Philipp  Conrad  Fabricius  (1714 — 1774,  Professor  der  Ana- 
)niie,  Physiologie  und  Pharmacie  in  Helmstädt). 

Idea  anatomiae  practicae    exhibens   modum    cadavera   humana   rite   secanda, 
Wetzlar  1741;  Halle  1774;  deutsch  Kopenhagen  1776. 

Sylloge  observationum  anatomicarum,  Helmstädt  1759. 

Theodor  Gerhard  Timmermann  (1727 — 1792,  Professor  der 
latomie  in  Rinteln). 

De  notandis  circa  naturae  in  humana  machina  lusv^,  Duisburg  1750. 

Philipp  Adolf  Böhmer  (1717 — 1789,  Professor  der  Anatomie 
Berlinj. 
Observationum  anatomicarum  rariorum  fascictilus  1.  et  IL,  Halle  1752 — 1756. 

Pietro  Tabarrani  (1702—1780,   Professor   der  Anatomie   in 
iena). 

Observationes  anatomicae,  Lucca  1753. 

Albrecht  von  Haller  (1708 — 1777,  Professor  der  Anatomie, 
Botanik  und  Chirurgie  in  Göttingen). 

Opuscula  pathologica,   Venedig,  Lausanne,  Neapel  1755;  Lausanne  1768. 

Johann  Jacob  Huber  (1707 — 1778,  Professor  der  Anatomie 
und  Chirurgie  in  Cassel). 


Observationes  anatomicae^  Cassel  1760. 
Aninuidversiones  anatomicae,  Cassel  1763. 


32* 


600  .  H.  Chiari. 

Carl  Caspar  von  Siebold  (1736—1807,  Professor  der  Ana- 
tomie, Chirurgie  und  Geburtshilfe  in  Würzburg). 

Collectio  observationnm  medico-chirurgicarum,  Bamberg  1769. 

Christoph  Theophil  Büttner  (1708—1776,  Professor  der 
Anatomie  in  Königsberg). 

In  vielen  Jahren  gesammelte  anatomische  Wahrnehmungen,  Königsberg  1769. 

Christian  Gottlieb  Ludwig  (1709—1773,  Professor  der 
Anatomie,  Chirurgie  und  praktischen  Medizin  in  Leipzig). 

Adversaria  medico-practica,  Leipzig  1769 — 1772,  3  Vol. 

Johann  Gottlieb  Walter  (1734—1818,  Professor  der  Ana- 
tomie in  Berlin). 

Observationes  anatomicae,  Berlin  1775;  deutsch  Berlin  1782. 

Paul  Christian  Friedrich  Werner  (1751 — 1785,  Prosektor 
der  Anatomie  in  Leipzig). 

Observata  quaedam  in  morbis  et  sectionibus  cadaverum  humanorum.  Leipzig  1776. 
Verminum  intestinaliiim  brevis  expositio,  Leipzig  1782 — 1788  ed.  Fischer. 

GeorgProchaska  (1749 — 1820,  Professor  der  Anatomie,  Augen- 
heilkunde und  Physiologie  in  Prag  und  Wien). 

Adnotationes  academicae  continentes  abservationes  et  descriptiones  anatomicas, 
Prag  1780—1784,  3  Fase. 

Opera  minoria  anatomici,  physiologici  et  pathologici  argumenti,  .  Wien  1800, 
2  Vol.  (im  2.  Bande  eine  2.  Ausgabe  der  Adnotationes), 

Johann  Christian  Andreas  Mayer  (1747 — 1801,  Professor 
der  Anatomie  und  Botanik  in  Berlin). 

Beschreibung  des  ganzen  menschlichen  Körpers,  Berlin  und  Leipzig  1783 — 1794, 
8  Theile. 

Heinrich  August  Wrisberg  (1739 — 1808,  Professor  der 
Anatomie  und  Geburtshilfe  in  Göttingen). 

De  systemate  vasorum  absorbente  morboso  vicissim  et  sanante.  Comment.  soc. 
reg.,  Göttingen  1789. 

Giacomo  Rezia  (1745 — 1825,  Professor  der  Anatomie  und 
Chirurgie,  später  der  Physiologie  und  allgemeinen  Pathologie  in  Pavia). 

Specimen  observationum  anatomicarum  et  pathologicarum,  Pavia  1784. 

William  Hunter  (1718 — 1783,  Professor  der  Anatomie  und 
Arzt  in  London). 

William  Hunter's  medicinische  Beobachtungen  ges.  von  Kühn,  Leipzig  1784 — 
1785,  2  Bde. 

Anatomy  of  the  human  gravid  uterus,  Birmingham  1774. 

Giovanni  Battista  Monteggia  (1762 — 1815,  Professor  der 
Anatomie  und  Chirurgie  in  Mailand). 

Fasciculi  pathologici,  Mailand  1780;  Turin  1793. 

Jacopo  Penada  (1748 — 1828,  Prosektor  der  Anatomie  inPadua). 

Saggi  d'osservazioni  e  memorie  patologiche-anatomiche,  Padua,  3  Vol.,  1793 — 
1804. 

John  Bell  (1762—1820,  Professor  der  Anatomie,  Chirurgie  und 
Geburtshilfe  in  Edinburgh). 

Discourses  on  the  nature  and  eure  of  wounds,  Edinburgh  1795;  1800;  1807 : 
1812;  deutsch  Leipzig  1798;  franz.  Paris  1825. 

The  principles  of  surgery,  London  1801;  1806;  1808;  1826—1828. 


1 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  501 

Christoph  Elias  Heinrich  Knackstaedt  (1749—1799, 
Professor  der  Anatomie  und  Chirurgie  in  St.  Petersburg). 

Descriptio  praeparatorum  maximam  partem  osteologicorum  rarissimorum, 
Braunschiveig  1785. 

Anatomische  und  chirurgische  Beobachtungen,  Gotha  1797. 

Charles  Bell  (1774 — 1842,  Professor  der  Anatomie,  Physiologie 
und  Chirurgie  in  London  und  Edinburgh). 

A  System  of  dissectings  explaining  the  anatomy  of  the  human  bodg,  the  manner 
of  dis2)laying  the  parts  and  their  varieties  in  diseases,  2  Vol.,  Edinburgh  und 
London  1798;  1800:  1809;  1816;  Baltimore  1814;  deutsch  Leipzig  1800;  letzte  Aus- 
gabe 1817;  franz.  London  1809;  1812. 

Surgical  observations,  London  1816 — 1818,  2  Vol. 

Ueber  Krankheiten  des  Gehirns,  des  Herzens  und  der 
Ge fasse  arbeitete  anatomisch  Giovanni  Maria  Lancisi  (1654 — 
1720,  Professor  der  Anatomie  in  Rom). 

De  subitaneis  mortibus  libri  II,  Rom  1707;  Lucca  1707;  Livorno  1707; 
Venedig  1708:  Leipzig  1709;  Genf  1718;  deutsch  Leipzig  1790. 

De  mortu  cordis  et  aneurysmatibus,  Born  1728;  1735 ;  Neapel  1738;  Leyden 
1740;  Rom  1745, 

Über  Erweiterung  des  Gefässsysteras  Johann  Friedrich 
Meckel  I  (1714 — 1774,  Professor  der  Anatomie,  Botanik  und  Geburts- 
hilfe in  Berlin) 

Physiologische  und  anatomische  Abhandlungen  von  ungewöhnlicher  Erweiterung 
des  Herzens  iind  der  Spannadern  des  Gesichtes,  Berlin  1775, 

Über  Krankheiten  des  Oesophagus  Jan  Bleuland  (1756 — 
1838,  Professor  der  Anatomie  und  verschiedener  anderer  Fächer  in 
Harderwyk  und  Utrecht) 

Observationes    anafomico-medicae    de    sana    et    morbosa    oesophagi   structura, 

Leyden  1785, 

Über  die  typhöse  Darmaffektion  Johann  Georg  Roederer 
(1726 — 1763,  Professor  der  Anatomie,  Chirurgie  und  Geburtshilfe  in 
Göttingen) 

De  morbo  miicoso  über  singtdaris,  Göttingen  1762  (ed.  Roederer  et  Wagler); 
1783  (ed.   Wrisberg), 

Über  Krankheiten  des  Bauchfells  und  Hirnblutungen  der 
schon  erwähnte  Johann  Gottlieb  Walter 

Von  den  Krankheiten  des  Bauchfells  und  dem  Schlagflusse,  Berlin  1785, 

Über  Krankheiten  des  Gehirns  Francesco  Gennari 

De  peculiari  stru^tura  cerebri  nonnullisque  ejus  morbis,  Parma  1782, 

Über  Hernien  Alexis  Littre  (1658 — 1726,  Dozent  für  Anatomie 
in  Paris) 

Observation  sur  une  nouvelle  espece  de  hernie.     Meni.  de  VAcademie  de  chir.  1700 

und  Just  US  Gottfried  Günz  (1714 — 1751,  Professor  der  Physio- 
logie, Anatomie  und  Chirurgie  in  Leipzig) 

Observationum  anatomico-chirurgicarum  de  herniis  libellus,  Leipzig  1744, 

über  Krankheiten  der  Knochen  und  über  Hernien  Andreas 
Bonn  (1738 — 1818,  Professor  der  Anatomie  und  Chirurgie  in  Amster- 
dam) 

Descriptio  thesauri  ossium  morbosorum  Hoviani.  Adnexa  est  dissertatio  de 
callo,  Amsterdam  1783, 

Tabulae  ossium  morbosorum praecique  thesauri  Hoviani,  Amsterdam  1785 — 1788, 


Ö02  H.  Chiari. 

Tahulae  anatomico-ckirurgicae  doctrinam  hemiarum  illustrantes,  Leyden  1828 
(ed.  Sandifort), 

Über  dieselben  Themata  und  über  Aneurysmen  Antonio  Scarpa 
(1752 — 1832,  Professor  der  Anatomie  und  Chirurgie  in  Modena  und 
Pavia) 

De  penitiori  ossium  structura  commentarius,  Leipzig  1799;  deutsch  Leipzig 
1800;  neue  Ausgabe  unter  dem  Titel:  De  anatome  et  pathologia  ossium  commentarii, 
JPavia  1827 ;  engl.  London  18.30, 

Süll  ernie  memorie  anatomico-chirurgiche,  Mailand  1809;  deutsch  Halle  1813, 
Memorie  sull  ernie  del  perineo,  Pavia  1821;  deutsch   Weimar  1822, 
SulV  aneurisma,  reflessioni  cd  osservazioni  anatomico-chirurgiche,  Pavia  1804; 
deutsch  Zürich  1808, 

Über  verschiedene  pathologische  Themata  Samuel  Thomas 
von  Sömmering  (1755—1830,  Professor  der  Anatomie  und  Chirurgie 
in  Cassel,  Professor  der  Anatomie  und  Physiologie  in  Mainz,  praktischer 
Arzt  in  München  und  Frankfurt). 

lieber  die  Wirkung  der  Schnürbrüste,  Leipzig  1788;  1793, 

Abbildung  und  Beschreibung  einiger  Missgeburten,  Mainz  1791, 

Bemerkungen  über  Bruch  und  Verrenkung  des  Rückgrathes,  Berlin  1793, 

De  morbis  vasorum  absorbentium,  Mainz  1795  und 

lieber   die  schnell    und   langsam   tödtlichen  Krankheiten   der  Harnblase   und 

Harnröhre   bei   Männern   im   hohen   Alter,   Frankfurt  1809;   1822;   franz.  1824: 

holl.  1823. 

Auch  die  Praktiker,  welche  nicht  gleichzeitig  Anatomie 
tradierten,  schenkten  jetzt  noch  mehr  als  früher  den  pathologisch- 
anatomischen Untersuchungen  ihre  Aufmerksamkeit.  In  den  Werken 
vieler  derselben  finden  sich  eingestreute,  zum  Teile  sehr  wertvolle 
pathologisch-anatomische  Befunde  und  erfuhren  auch  die  einzelnen 
Kapitel  der  allgemeinen  und  speziellen  pathologischen  Anatomie  von 
ihrer  Seite  eine  wesentliche  Förderung. 

Kasuistische  pathologisch-anatomische  Befunde  mitunter  in  reich- 
licher Zahl  brachten  in  ihren  Werken: 

Barthelemy  Saviard  (1656—1702,  Chirurg  am  Hotel  Dieu 
in  Paris) 

Nouveau  r ecueil  d'observations  chirurgicales,  Paris  1702;  1782, 

Henry  Ridley  (Anfang  des  18.  Jahrhunderts,  Arzt  in  London) 

Observationes  quaedam  medico-practicae  et  physiologicae,  inter  quos  aliquanto 
fusius  agitur  de  asthmate  et  hydrophobia,  London  1703;  Leyden  1738, 

Johann  Christian  Wolf  (1673— 1723,  Chirurg  in  Oldenburg) 

Observationum  chirurgico-medicarum  libri  IV  cum  scholiis  et  variis  inter- 
spersis  historiis  medicis,  Quedlinburg  1704  (aut.  Ivo  Wolf  [patre]  ed.  Johann 
Christian  Wolf), 

Hermann  Boerhaave  (1668 — 1738,  Professor  der  Medizin  in 

Leyden) 

Aphorismi  de  cognoscendis  et  curandis  morbis  in  u^um  doctrinae  medicae, 
Leyden  1709;  und  noch  10  Ausgaben,  eine  englische  und  2  französische  Ueber- 
setzungen, 

Patrick  Blair  (Ende  des  17.  und  1.  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts, Arzt  in  Dondee  in  Schottland) 

Miscellaneous  observations  in  the  practice  of  physic,  anatomy  and  surgery, 
London  1718, 

Friedrich  Hoff  mann  (1660—1742,  Professor  der  Medizin  in 
Halle) 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  503 

Medicina  rationalis  sysiematica,  Halle  1718 — 1740,  9  Volum.:  franz.  Paris 
1739—1743, 

Medicina  consxdtatoria,  Halle  1721 — 1739,  12  Volum., 

Martin  Schurig  (gest.  1733,  Arzt  in  Dresden) 

Spermatologia,  Frankfurt  1720. 
Sialologia,  Dresden  1723, 
Chylologia,  ibidem  1725, 
Grynaecologia,  ibidem  1730, 

Christian  Gottfried  Stenzel 

Anthropologia  ad pathologiam  applicata,  praejudiciis  liberata,   Wittenberg  1728, 

Henri-FranQois  LeDran  (1685 — 1770,  Chirurg  in  Paris) 

■  Observations  de  Chirurgie  avec  des  reflexions,  Paris  1731;  engl.  1739;  deutsch 

Xürnberg  1740, 

Traite  des  Operations  de  Chirurgie,  Paris  1742;  Brüssel  1745;  engl.  1749, 
Consultations  sur  la  plupart  des  maladies  qui  sont  du  ressort  de  la  Chirurgie 
1763;  deutsch  Leipzig  1773, 

Gerard  van  Swieten  (1700—1772,  Leibarzt  der  Kaiserin 
Maria-Theresia,  Neubegründer  der  Wiener  medizinischen  Schule) 

Commentaria  in  H.  Boerhaavii  aphorismos  de  cognoscendis  et  curandis  mwlm, 
Leyden  1741—1742;  1766—1776;  Würzbiirg  1787—1791;  Tübingen  1791;  franz. 
Paris  1747 :  1753 ;  engl.  London  1754:  hoUänd.  Leyden  1760 — 1776;  Amsterdam 
1776—1791, 

Cornelis  Trioen  (1686—1746,  Arzt  in  Leyden) 

Observationes  medico-chirurgicae,  Leyden  1741, 

Giovanni  Targioni-Tozetti  (1712—1784,  Professor  der 
Botanik  und  Arzt  in  Florenz) 

Raccolta  di  osservazioni  mediche,  Florenz  1751, 
Raccolta  die  opuscoli  medico-practici,  Florenz  1773, 
Raccolti  di  opuscoli  fisico-medid,  Florenz  1780, 

Johann  Ludwig  Leberecht  Loeseke  (1724—1757.  Pro- 
fessor der  Medizin  in  Berlin) 

Observationes  anatomico-chirurgico-medicae  novae  et  rariores,  Berlin  1754: 
deutsch  Berlin  und  Stralsund  1767, 

Anton  de  Haen  (1704 — 1776,  Professor  der  Medizin  in  Wien) 

Ratio  medendi  in  nosocomio  practico,  Wien  1758 — 1779:  18  Vohim.;  deutsch 
Leipzig  1779-1785, 

Anton  Freiherr  von  Stoerck  (1731 — 1803,  Professor  der 
Medizin  in  Wien) 

Annus  medicus  I.  et  IL.  quo  sistuntur  observationes  circa  morbos  acutos  et 
chronicos.   Wien  1760 — 1762;  deutsch  1774, 

John  Huxham  (1694—1768,  Arzt  in  Plyraouth) 

Opera  physico-medica.  Gesam mtausgabe  der  Publicatione7i  Huxham's,  Leipzig 
1764;  1773  (ed.  Reichel);  Leipzig  1829  (ed.  Haenel), 

Heinrich  Joseph  Collin  (1731—1784,  Professor  der  Medizin 
in  Wien) 

Observationes  medicae  s.  Stoerck  Annus  medicus  IIL,  Wien  1764, 
Observationum  circa  morbos  acutos  et  chronicos  factarum  pars  IL — VI.,   Wien 
1772—1781. 

Giuseppe  Benvenuti  (geb.  1728,  Chirurg  in  Lucca) 

Observationes  medicae,  quae  anatomia  superstructae  sunt,  Lucca  1764, 


504  H.  Chiari. 

Lebereclit  Friedrich  Benjamin  Lentin  (1736 — 1804, 
praktischer  Arzt,  zuletzt  in  Hannover) 

Observationum  medicarum  Fase.  I.  et  IL,  Leipzig  1764 — 1770, 

Sir  John  Pringle  (1707—1782,  Militärarzt  und  Arzt  am  Hofe 
in  London) 

Observations  on  the  diseases  of  an  army  in  camp  and  in  garnison,  London 
1752  und  öfter ;  franz.  Paris  1755 ;  1771;  deutsch  Altenburg  1772, 

FranQois  Boissier  de  Sauvages  de  Lacroix  (1706 — 1767, 
Professor  der  Botanik  und  Medizin  in  Montpellier) 

Nosologia  methodica  sistens  morborum  classes  juxta  Sydenhami  mentem  et 
botaniconim  ordinem,  Leyden  1760;  Genf  1763;  Amsterdam  1768 ;  Leipzig  1790 — 
1797;  franz.  Paris  1771, 

Christian  Ehrenfried  Eschenbach  (1712 — 1788,  Professor 
der  Chirurgie  in  Rostock) 

Observata  quuedam  anatomico-chirurgico-medica  rariora,  Rostock  1753;  Contin. 
1769, 

Ernst  Anton  Nicolai  (1722—1802,  Professor  der  Medizin  und 
Chii'urgie  in  Halle  und  Jena) 

Pathologie  oder  Wissenschaft  von  den  Krankheiten,  6  Bde.,  Halle  1769 — 1779; 
Fortsetzung  3  Bde.,  Halle  1781^1784, 

Francesco  Biumi  (Arzt  in  Mailand) 

Observationes  anatomicae,  scholiis  illustratae,  Mailand  1765, 

Jakob  Friedrich  Isenflamm  (1726 — 1793,  Professor  der 
Medizin  in  Erlangen) 

De  difficili  in  observationum  anatomicarum  epicrisi  commentationes  VIII, 
Erlangen  1771—1792, 

Johann  Christian  Anton  Theden  (1714— 1797,  preussischer 
Militärchirurg) 

Neue  Bemerkungen  und  Erfahrungen  zur  Bereicherung  der  Wundarzneikunde 
und  Arzneigelehrsamkeit,  Berlin  und  Stettin  1771 — 1795,  2  Theile, 

Richard  de  Hautesierk  (französischer  Militärzt) 

Recueil  d' observations  de  medecine  des  hopitaux  militaires,  Paris  1766 — 1772, 
2  Vol., 

Maximilian  Stoll  (1742—1787,  Professor  der  Medizin  in  Wien) 

Ratio  medendi  in   nosocomio  practica  Vindobonensi,    Wien  1779 — 1790,    VII  ^ 
Partes;  deutsch  Breslau  1787—1795,  5  Bde.,  i 

Francis  Home  (Professor  der  Materia  medica  in  Edinburgh) 

Clinical  experiments,  histories  and  dissections,  Edinburgh  1780;  London  1782; 
deutsch  Leipzig  1781, 

Christian  Friedrich  Daniel  (1714—1771,  Arzt  in  Halle) 

Systema  aegritudinum,  Leipzig  1781, 

Christian  Gottlieb  Seile  (1748—1800,  Hofarzt  in  Berlin) 

Neue  Beiträge  zur  Natur-  und  Arzneitvissenschaft,  Berlin  1782 — 1786,  3  Bde.; 
franz.  (von  Coray)  Paris  1796, 

Joseph  von  Plencziz  (1751—1785,  Professor  der  praktischen 
Medizin  in  Prag) 

Observationum  medicarum  decas  I,  Wien  1778, 
Acta  et  observata  medica,  Prag  1780, 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  505 

Christian  Gottlieb  Eschenbacli  (1753 — 1831.  Professor  der 
Chemie  in  Leipzig) 

Vennischte  medichiische  und  chirurgische  Bemerkungen  nebst  Nachrichten  von 
merhcürdigen  Leichenöffnungen,  Leipzig  1784 — 1786,  3  Bde., 

Giovanni  Battista  Borsieri  de  Kanifeld  (1725 — 1785, 
Professor  der  Medizin  in  Pavia) 

Institutiones  medicinae  practicae,  quae  auditorihus  suis  praelegebat  Borserius 
de  Kanifeld.  Mailand  1781—1788,  4  Vol:  und  öfter;  deutsch  Marburg  1783—1789; 
Leipzig  1787:  1798;  Berlin  1823;  Italien.  Padua  1820;  Florenz  1837;  engl.  Edin- 
burgh' 1800— 1801, 

Johann  Peter  Frank  (1745 — 1821.  Professor  der  Medizin  in 
Göttingen.  Pavia,  Wien.  Wilna  nnd  St.  Petersburg) 

De  curandis  hominum  morhis  epitome,  praelectionibus  academicis  dicata, 
Mannheim.  Stuttgart.  Wien  1792 — 1821,  6  Vol.;  deutsch  neueste  Ausgabe  Berlin 
1835,  4  Bde.;  auch  sonst  vielfache  Uebersetzungen, 

Nicolas  Chambon  de  Montaux  (geb.  1748.  Arzt  in  Paris) 

Observationes  clinicae.  curationes  morborum  periculosiorum  et  rariorum,  auf 
phanomena  ipsorum,  in  cadaveribus  indagata  referentes.  Paris  1789;  deutsch  Leip- 
zig 1791, 

Johann  Christian  Reil  (1759 — 1813,  Professor  der  Medizin 
in  Halle  und  Berlin) 

Memorabilia  clinica  medico-practica,  III  Fase,  Halle  1790 — 1793, 

Johann  Ernst  Greding  (1718 — 1775,  Arzt  in  Zeitz  und 
Waldheim) 

Sämmtliche  tnedicinische  Schriften,  Greiz  1790 — 1791  (ed.  Carl  Wilhelm  Greding), 

Jean  Emanuel  Gilibert  (1741 — 1814,  Professor  der  Botanik 
und  Naturwissenschaften  in  Grodno,  Wilna  und  Lyon) 

Adversaria  medico-pratica  jyrima,  seu  annotationes  clinicae,  Lyon  1791;  deutsch 
Leipzig  1792, 

Le  medecin  naturaliste,  ou  observaiions  de  medecine  et  d'histoire  naturelle, 
Lyon  1800;  deutsch  Xürnberg  1807, 

Johann  Ernst  Wichmann  (1740 — 1802,  Arzt  in  Hannover) 

Ideen  zur  Diagnostik,  Hannover  1794—1802,  3  Bde.;  4.  Bd.  1821, 

Samuel  von  Benkö  (1743 — 1825,  Arzt  in  Miskolcz) 

Ephemerides  nieteorologico-medicinae,   Wien  1794, 

Philippe  Pinel  (1755 — 1826,  Professor  der  Medizin  in  Paris) 

Nosographie  philosophique,  ou  la  niethode  de  Vanalyse  appliqiiee  ä  la  medecine, 
Pans  1789;  6.  Ed.  1818;  deutsch  letzte  Ausgabe  Kassel  1829—1830, 

Pierre  Joseph  Desault  (1744 — 1795,  Professor  der  Chirurgie 
in  Paris) 

Oeuvres  chinirgicales  (ed.  Bichat),  Paris  1798—1803:  1813:  1830;  deutsch 
Göttingen  1799—1800:  engl.  Philadelphia  1814, 

Frangois  Chopart  (1743 — 1795,  Professor  der  Chirurgie  und 
Physiologie  in  Paris) 

Tratte  des  maladies  chinirgicales  et  des  Operations,  qui  hur  conviennent  (mit 
Desault),  2  Vol.,  Paris  1780;  deutsch  Leipzig  1783;  Wien  1784, 

Traite  des  maladies  des  voies  urinaires,  2  Vol.,  Paris  1791;  1821. 

Für  die  Lehre  von  den  Missbil  düngen  ist  wichtig  die  Publi- 
kation von  Johann  Carl  Insfeldt  De  lusibus  naturae.  Leyden  1772, 

für  die  Lehre  von  der  Regeneration  sind  bedeutungsvoll  die 
Versuche  über  die  Regeneration  an  lebenden  Tieren,    Göttingen  1787, 


506  H.  Chiari. 

2  Bde.  von  Justus  Annemanu  (1763—1806,  Professor  der  Medizin 
in  Göttingen), 

für  die  Lehre  von  der  Entzündung  und  Ulceration  das 
System  of  surgery,  Edinburgh  1783—1787 ;  7.  ed.  1801 ;  deutsch  Leip- 
zig 1791—1798;  1804—1810;  franz.  1796  von  Benjamin  Bell 
(1749-  1806,  Professor  der  Chirurgie  in  Edinburgh)  und  das  Werk:  On 
the  nature  of  the  blood.  inflammation  and  gunshot  wounds,  London  1794; 
deutsch  Leipzig  1797— 1800  von  John  Hunt  er  (1728— 1793,  Chirurg 
in  London), 

für  die  Kenntnis  der  Diphtherie  die  Works,  London  1781 — 1783; 
1784;  deutsch  Altenburg  1785  von  John  Fothergill  (1712—1780, 
Arzt  in  London), 

für  die  pathologische  Anatomie  der  Tuberkulose  die  Unter- 
suchungen von  William  Stark  (1742 — 1771,  Arzt  in  London),  ab- 
gedruckt in  Thomas  Reid,  An  essay  on  the  nature  and  care  of  the 
phthisis  pulmonalis,  2.  Ed.,  London  1785, 

für  die  Lehre  von  den  Geschwülsten  der  Traite  des  tumeurs 
et  des  ulceres,  Paris  1759,  von  Jean  Astruc  (1684 — 1766,  Professor 
der  Medizin  in  Montpellier  und  Paris),  das  Novum  systema  tumorum, 
quo  hi  morbi  in  sua  genera  et  species  rediguntur,  Wien  1767 ;  deutsch 
Dresden  1769;  1776  von  Joseph  Jakob  von  Plenck  (1738—1807, 
Professor  der  Anatomie,  Chirurgie  und  Geburtshilfe  in  Tyrnau  und 
Ofen  und  der  Chemie  und  Botanik  in  Wien),  die  Schrift  lieber.  Natur 
und  Heilung  der  verschiedenen  Arten  von  Geschwülsten;  deutsch  Leip- 
zig 1786  von  David  van  Gescher  (1736—1810,  Lehrer  der 
Chirurgie  in  Amsterdam),  das  Werk  über  die  Geschwülste,  deutsch 
Leipzig  1788  von  Giovanni  Ambrogio  Bertrandi  (1723 — 1765, 
Professor  der  Chirurgie  in  Turin)  und  die  Surgical  observations  on 
tumours,  London  1804;  1811  von  John  Abernethey  (1764 — 1831, 
Chirurg  in  London), 

für  die  Lehre  von  den  Eingeweidewürmern  die  Abhandlung 
von  der  Erzeugung  der  Eingeweidewürmer  und  den  Mitteln  wider  die- 
selben, Berlin  1782,  von  Marcus  Elieser  Bloch  (1723—1799,  Arzt 
in  Berlin)  und  die  Arbeiten  von  Johann  August  Ephraim  Goeze 
(1731—1793,  Geistlicher  in  Quedlinburg)  Versuch  einer  Naturgeschichte 
der  Eingeweidewürmer,  Blankenburg  1782;  nebst  Nachtrag  heraus- 
gegeben von  Zeder  1800, 

für  die  pathologische  Anatomie  der  Knochen  der  Traite  des 
maladies  des  os,  dans  lequel  on  a  represente  les  appareils  et  les  machines 
qui  conviennent  ä  leur  guerison,  Paris  1723;  1736;  1759;  deutsch 
Berlin  1725;  1743  von  Jean  Louis  Petit  (1674-1760,  Chirurg  in 
Paris),  die  Osteographia  or  anatomy  of  the  bones,  London  1733,  von 
William  Cheselden  (1688—1752,  Chirurg  in  London),  die  Arbeiten 
von  Michele  Troja  (1747 — 1827,  Professor  der  Chirurgie  in  Neapel) 
De  novorum  ossium  in  integris  aut  maxime  ob  morbos  deperditionibus 
regeneratione  experimenta,  Paris  1775;  deutsch  1780,  und  Neue  Be- 
obachtungen und  Versuche  über  die  Knochen,  deutsch  Erlangen  1828, 
die  Chirurgical  works,  London  1771  und  öfters;  deutsch  Berlin  1787 — 
1788;  franz.  1777;  1792;  Italien.  1794  von  Percival  Pott  (1713— 
1788,  Chirurg  in  London),  die  Schrift:  De  necrosi  ossium,  Frankfurt 
1793;  deutsch  Leipzig  1796;  franz.  Paris  1801  von  Johann  Peter 
Weidmann  (1751 — 1819,  Professor  der  Chirurgie  und  Geburtshilfe 
in  Mainz),  die  Dissertatio  inauguralis:  De  osteogenesi  praeternaturali, 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  507 

Leyden  1797  und  die  Beiträge  über  verschiedene  Gegenstände  aus 
der  Lehre  von  der  pathologischen  Knochenbildung,  Breslau  1803  von 
Jan  van  Heekeren  (1774 — 1803,  Arzt  in  Amsterdam^ 

für  die  pathologische  Anatomie  des  Herzens  und  der 
Gefässe  die  im  Jahre  1726  verfassten  aber  erst  1748  in  den  Ab- 
handlungen der  Akademie  in  Bologna  publizierten  Animadversiones 
super  quibusdam  difficilis  respirationis  vitiis  a  laesa  cordis  et  praecor- 
diorum  structura  pendentibus  von  Ippolito  Francesco  Albe rtini 
(1662 — 1746,  Professor  der  3Iedizin  in  Bologna)  und  der  Traite  de  la 
structure  du  coeur.  de  son  action  et  de  ses  maladies,  Paris  1749;  1774; 
deutsch  1781  von  Jean  Baptiste  Senac  (1693—1770,  Leibarzt 
Ludwig  XV.  in  Paris), 

für  die  pathologische  Anatomie  des  Gehirns  ausser  den 
schon  erwähnten  ^yorks  von  JohnFothergill  das  Werk :  De  morbis 
cerebri  ex  structura  ejus  anatomica  deducendis,  1741  von  Andreas 
Elias  Büchner  (1701—1769,  Professor  der  Medizin  in  Erfurt  und 
Halle), 

fiir  die  pathologische  Anatomie  der  Hernien  der  Traite 
des  hernies  ou  descentes,  1749  von  Georg  Arnaud  de  Ronsil 
(gest.  1774,  Arzt  in  London),  die  Abhandlung  von  den  Brüchen, 
Göttingen  1777—1779;  1785;  franz.  1787  von  August  Gottlieb 
Ei  cht  er  (1742 — 1812.  Professor  der  Chirurgie  in  Göttingen),  die 
Schrift:  Nuovo  metodo  de  operar  en  la  hernia  crural,  Madrid  1793  (viel- 
fach übersetzt)  von  Don  Antonio  de  Gimbernat  (in  den  letzten 
Dezennien  des  18.  Jahrhunderts  Leibchirurg  des  Königs  von  Spanien), 

für  die  pathologische  Anatomie  desDigestionstraktus 
mehrere  Dissertationen  des  bereits  erwähnten  FriedrichHoffmann: 

De  inflammatione  ventriculi.  Halle  1706. 

De  duodeno  multonun  morhonim  sede,  Halle  1708, 

De  pancreaüs  tnorbis,  Halle  1713, 

De  morbis  oesophagi,  Halle  1722, 

De  morbis  hepatis  ex  anatome  detegendis,  Halle  1726, 

für  die  Krankheiten  des  Mastdarms  die  bereits  erwähnten 
Chirurgical  works  von  Percival  Pott. 

für  die  pathologische  Anatomie  des  Hodens  das  Treatise 
on  the  hydrocele,  on  sarcocele.  on  Cancer  and  otlier  diseases  of  the 
testis,  Edinburgh  1794;  Leipzig  1795  von  Benjamin  Bell  und  die 
bereits  erwähnten  Chirurgical  works  von  Percival  Pott, 

für  die  pathologische  Anatomie  der  Hautkrankheiten 
das  AVerk:  Description  and  treatment  of  cutaneous  diseases,  London 
1798—1807;  1815;  deutsch  Breslau  1799— 1806  von  RobertWillan 
(1757—1812,  Arzt  in  London), 

für  die  pathologische  Anatomie  der  venerischen 
Krankheiten  das  Treatise  on  gonorrhoea  virulenta  and  lues  venerea, 
Edinburgh  1793;  deutsch  Leipzig  1794  von  Benjamin  Bell  und  das 
Treatise  on  the  venereal  disease,  London  1786;  deutsch  Leipzig  1787 
von  John  Hunter. 

Erwähnenswert  ist  endlich  das  1726  in  Paris  erschienene  Systeme 
d'un  medecin  anglais  sur  les  causes  de  toutes  les  especes  de  maladies, 
avec  les  surprenantes  configurations  de  diiferentes  especes  de  petits 
insectes,  qu'on  voit  par  le  moyen  d'un  bon  microscope  dans  le  sang  et 
dans  les   urines  des   differents  malades   et  meme   de  tous  ceux,  qui 


508  •    ..  H.  Chiari. 

doivent  les  devenir,  receuilli  par  M.A.C.D.  als  ein  Versuch,  alle  Krank- 
heiten auf  mikroskopische  Parasiten  zurückzuführen. 

An  vielen  Orten  wurden  in  diesem  Jahrhunderte  in  den  ana- 
tomischen Museen  auch  reichliche  pathologisch- anatomische  Präparate 
aufgestellt,  so  in  Leyden  von  Walter  van  Doeveren  und 
Eduard  Sandifort,  beschrieben  von  Eduard  Sandifort  in  dem 
Museum  anatomicum  Academiae  Lugduno-Batavae  descriptum,  Leyden 
1793—1835,  IV  Volum.  (III.  et  IV.  Vol.  ed.  Gerard  Sandifort), 

in  London  von  Joh.  Hunter  in  seinem  dem  College  of  Surgeons 
in  London  vermachten  grossartigen  Museum  (Catalogue  of  the  Hunterian 
coUection  in  the  museum  of  the  Eoyal  College  of  Surgeons,  London 
1830 ;  deutsch  Erlangen  1835 ;  Descriptive  catalogue  of  the  pathological 
specimens  contained  in  the  Museum  of  the  Eoyal  College  of  Surgeons 
of  England,  London  1846—1849;  Catalogue  of  the  calculs,  London 
1842—1845;  Supplement  I  1863;  Supplement  II  1864;  Descriptive 
Catalogue  of  the  dermatological  specimens,  London  1870;  Descriptive 
Catalogue  of  the  teratological  series,  London  1872), 

in  London  von  William  Hunter  in  seinem  später  in  den 
Besitz  der  Universität  Glasgow  übergegangenen  anatomischen  Museum, 

in  Edinburgh  von  Charles  Bell, 

in  Pavia  von  Giacomo  Rezia, 

in  Wittenberg  von  Abraham  Vater  in  dem  von  ihm  ange- 
legten anatomischen  Museum  (Abraham  Vater  Museum  anatomicum 
proprium,  Helmstädt  1750), 

in  Berlin  von  Johann  Gottlieb  Walter  in  dem  von  ihm 
gegründeten  anatomischen  Museum,  das  von  der  Regierung  für  die 
Berliner  Universität  angekauft  wurde.  (Anatomisches  Museum  ge- 
sammelt von  Johann  Gottlieb  Walter,  beschrieben  von  Friedrich  August 
Walter  [1764—1826,  Professor  der  Anatomie  in  Berlin],  Berlin  1796), 

in  Jena  in  dem  von  Justus  Christian  Loder  (1753  —  1832, 
Professor  der  Anatomie  und  Chirurgie  in  Jena,  Halle  und  Moskau) 
gegründeten  anatomischen  Museum  (Johann  Valentin  Heinrich 
Koehler,  Beschreibung  der  physiologischen  und  pathologischen  Prä- 
parate, welche  in  der  Sammlung  des  Herrn  Hofrates  Loder  in  Jena 
enthalten  sind,  Jena  1794), 

in  Würzburg  von  Carl  Caspar  von  Siebold  und 

in  Prag  in  dem  von  Georg  Prochaska  gegründeten  ana- 
tomischen Museum. 

Ein  ausschliesslich  pathologische  Objekte  enthaltendes  Museum 
von  mehr  als  1000  Nummern  gründete  Mathew  Baillie  in  London 
und  vermachte  dasselbe  dem  College  of  Physicians  in  London. 

Ein  ebenfalls  rein  pathologisch-anatomisches  Museum  sammelte  l 
Andreas  Bonn  in  Amsterdam.  Dasselbe  wurde  dann  von  der  Uni-  ^' 
versität  Leyden  angekauft. 

Alle  medizinischen  Journale  brachten  in  diesem  Jahrhunderte 
reichliche  Aufsätze  pathologisch- anatomischen  Inhaltes,  die  pathologische 
Anatomie  im  Titel  enthielt  das  von  August  Friedrich  Hecker 
(1763—1811,  Professor  der  Medizin  in  Erfurt  und  Berlin)  1796  in 
Alton a  herausgegebene  Magazin  für  die  pathologische  Anatomie  und 
Physiologie. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  509 


Fortschritte  der  pathologischen  Anatomie  im   18.  Jahrhunderte. 

Die  pathologisch-anatomischen  Kenntnisse  waren  in  diesem  Jahr- 
hunderte bereits  sehr  viel  reichlicher  als  früher. 

Immer  mehr  pathologisch-anatomische  Veränderungen  in  den  ver- 
schiedensten Organen  wurden  genauer  bekannt  und  zahlreiche  neue 
Funde  gemacht.  Eine  besondere  Entwicklung  erfuhr  die  pathologische 
Anatomie  der  Hernien  durch  die  Untersuchungen  von  Haller.  John 
Hunt  er  und  Sandifort  über  die  Hernia  inguinalis  congenita,  von 
Littre  über  dis  Darmwandbrüche,  von  Camper  und  de  Gimber- 
nat  über  die  Hernia  ischiadica,  von  Scarpa  über  die  Hernia  peri- 
nealis  und  von  A  r  n  a  u  d  über  die  Hernia  obturatoria  sowie  durch  die 
allgemeinen  Arbeiten  auf  herniologischem  Gebiete  von  Günz.  Richter, 
Scarpa  und  Bonn,  die  zum  Teile  mit  guten  Abbildungen  versehen 
waren,  der  Knochen  im  allgemeinen  durch  Cheselden,  Troja, 
Knackstaedt,  Weidmann,  van  Heekeren  und  Scarpa,  der 
Callusbildung  durch  Troja  und  Bonn,  der  Brüche  und  Verrenkungen 
der  "Wirbelsäule  durch  Sömmering,  der  Entzündungen  der  Wirbel- 
säule durch  Pott,  der  Frakturen  und  Luxationen  und  der  Osteo- 
myelitis durch  Petit,  der  Aneurysmen  durch  Lancisi,  der  zum 
erstenmal  den  Unterschied  zwischen  dem  Aneurysma  legitimum  und 
spurium  feststellte  und  als  die  hauptsächlichsten  Ursachen  der  Aneu- 
rysmen mechanische  Einwü'kungen  und  die  Syphilis  erkannte,  durch 
William  Hunter.  der  zuerst  das  Aneurysma  varicosum  unter- 
scheiden lehrte,  weiter  durch  Meckel  I.  und  Scarpa,  des  Gehirns 
durch  Le  Dran,  Büchner,  Fothergill.Gennari  und  Greding, 
der  Hirnblutungen  durch  Hoff  mann,  der  zuei-st  dieselben  von  Zer- 
reissung  von  Blutgefässen  ableitete  und  durch  Walter,  weiter  aber 
auch  der  Helminthen  diu'ch  Werner,  Bloch  und  Goeze,  des 
Herzens  und  Herzbeutels  durch  Senac,  des  lymphatischen  Systems 
durch  Wrisberg  und  Sömmering,  des  Larynx  und  der  Trachea 
durch  Borsieri,  der  Lungen  durch  St  oll,  des  Oesophagus  durch 
Hoff  mann  und  Bleuland,  der  Leber  durch  Ho  ff  mann  und 
Bianchi,  des  Bauchfells  durch  Walter,  des  Magens,  Darms  und 
Pankreas  durch  Hoffmann,  des  Rectums  durch  Pott,  der  Harn- 
wege durch  Chopart  und  Sömmering,  der  Hoden  durch  Pott 
und  Benjamin  Bell,  der  venerischen  Krankheiten  durch  den 
letzteren  und  JohnHunter.  des  Uterus  durch  William  Hunter, 
der  Haut  durch  Will  an,  und  des  Gehörorganes  dui-ch  Valsalva. 
Geringere  Bedeutung  hatten  die  reichlichen  Mitteilungen  über  Ge- 
schwülste von  Astruc,  Plenck,  van  Gescher,  Bertrandi  und 
Abernethey.  Sehr  wichtig  waren  hingegen  die  anatomischen  Unter- 
suchungen über  die  Darmveränderungen  beim  Typhus  abdominalis 
von  Roederer  und  die  von  Fothergill  über  die  Diphtherie.  Be- 
sonderes Interesse  beanspruchen  noch  heute  die  Arbeiten  über  Ent- 
zündung und  Ulceration  von  Benjamin  Bell  und  John  Hunter. 
von  Arnemann  über  Regeneration  und  von  Stark  über  die 
Trennung  von  Tuberkeln  und  Skropheln. 

Es  wurde  auch  schon  der  Weg  des  pathologischen  Experimentes 
betreten,  so  von  Albertini,  der  Experimente  über  die  Unterbindung 
von  Blutgeiässen  anstellte,  und  von  John  Hunter,  der  die  Ver- 
einigung getrennter  Sehnen  bei  Tieren  untersuchte. 


510  .  H.  Chiari. 

Der  Kliniker  de  Haen  in  Wien  führte  zuerst  regelmässige  Sek- 
tionen in  das  klinische  Studium  ein,  indem  er  die  Leichen  der  auf 
seiner  Klinik  verstorbenen  Patienten  vor  den  Studenten  sezierte  und 
daran  dann  eine  Epikrise  anschloss,  in  der  auch  der  Wert  und  Nutzen 
der  eingeschlagenen  Therapie  besprochen  wurde. 

Die  pathologisch  -  anatomischen  Spicilegien  dieses  Jahrhunderts 
zeichneten  sich  durch  die  Fülle  eigener  Beobachtungen  aus  und  sind 
darum  die  Werke  von  Morgagni,  Lieutaud  und  Sandifort 
wertvolle  Repertorien,  unter  denen  namentlich  das  von  Morgagni 
durch  die  sehr  grosse  Zahl  der  Beobachtungen,  durch  enormen  Fleiss 
hinsichtlich  der  Litteraturangabeu  und  die  Genauigkeit  der  Unter- 
suchungen und  das  von  Sandifort  durch  die  naturgetreuen  Ab- 
bildungen hervorragt. 

Ziemlich  mangelhaft  waren  hingegen  die  in  diesem  Jahrhunderte 
entstandenen  ersten  Kompendien  der  pathologischen  Anatomie  von 
Hof  mann  und  Ludwig  sowie  das  erste  Handbuch  der  patho- 
logischen Anatomie  von  C  o  n  r  a  d  i ,  indem  dieselben  zumeist  nur  Kom- 
pilationen aus  der  Litteratur  darstellten. 

Eine  sehr  verdienstliche  Leistung  bildete  aber  die  zum  Schlüsse 
des  Jahrhunderts  erschienene  spezielle  pathologische  Anatomie  von 
Baillie,  gefolgt  von  dem  ersten  Atlas  der  pathologischen  Anatomie 
des  menschlichen  Körpers.  Dieselbe  war  fast  ausschliesslich  auf  eigene 
Beobachtungen  aufgebaut  und  mit  grosser  Gewissenhaftigkeit  ge- 
arbeitet, Sie  bezieht  sich  auf  die  Organe  der  Brust,  des  Bauches,  die 
Zeugungsteile  und  den  Kopf  und  finden  sich  darin  manche  noch  heute 
anzuerkennende  Beschreibungen  einzelner  pathologischer  Veränderungen 
z.  B.  der  Cirrhosis  hepatis,  des  Emphj^sema  pulmonum,  der  Obliteration 
von  Blutgefässen  im  Bereiche  tuberkulöser  Cavernen  der  Lungen  und 
der  Hypoplasie  der  Nebennieren  bei  Defektbildungen  des  Gehirns. 
Sehr  wertvoll  sind  auch  die  der  deutschen  üebersetzung  der  patho- 
logischen Anatomie  beigegebenen  Zusätze  von  Sömmering.  Die  Ab- 
bildungen im  Atlas  sind  mit  wenigen  Ausnahmen  vorzüglich  zu  nennen. 


Die  pathologische  Anatomie  im   19.  Jahrhunderte. 

Im  19.  Jahrhunderte  erlangte  endlich  die  pathologische  Anatomie 
ihre  volle  Entfaltung  und  wurde  zu  einer  eigentlichen  AVissenschaft. 
Es  war  jetzt  nicht  mehr  lediglich  die  Aufgabe  zu  erfüllen,  das  ana- 
tomische Substrat  der  einzelnen  Funktionsstörungen  zu  erkennen, 
sondern  es  galt  auch  die  Entwicklungsgeschichte  und  Aetiologie  der 
krankhaften  Veränderungen  zu  erforschen  und  im  allgemeinen  die  Natur 
der  überhaupt  vorkommenden  Abweichungen  vom  Normalen  festzu- 
stellen. 

Die  Zeit  vor  Rokitansky  und  Virchow. 

Ausser  der  Verallgemeinerung  der  exakten  Forschungsmethoden 
in  allen  Naturwissenschaften  und  der  allmählichen  Lossagung  von 
präjudizierenden  Systemen  trug  zur  Entwicklung  der  pathologischen 
Anatomie  schon  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  vor  allem  bei  die 
Begründung  der  allgemeinen  Anatomie  resp.  Histologie 
durch  Marie   Frangois  Xaver  Bichat  (1771—1802,   Arzt   am 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  511 

Hotel  Dieu  in  Paris,  woselbst  er  auch  Privatkurse  über  Anatomie, 
Physiologie,  Chirurgie  und  pathologische  Anatomie  hielt).  Mit  seinen 
Werken:  Traite  des  membranes  en  general  et  de  diverses  membranes 
en  particulier,  Paris  1800;  1827;  deutsch  Tübingen  1802  und  Ana- 
tomie generale  appliquee  ä  la  physiologie  et  ä  la  medecine.  Paris  1801 ; 
1813;  1819;  1821;  1831;  1900;  deutsch  Leipzig  1802—1803  (hierzu 
Additions  ä  l'anatomie  generale  de  Xaver  Bichat  von  F.  A.  Beclard, 
Paris  1821;  Leipzig  1823)  schuf  er  die  Gewebelehre.  Zum  erstenmal 
wurden  die  Morphologie,  die  physikalischen  und  physiologischen  Eigen- 
schaften aller  Gewebe  des  menschlichen  Körpers,  wenn  auch  vielfach 
mit  primitiven  Methoden,  so  doch  sehr  eingehend  dargestellt  unter 
steter  Berücksichtigung  ihres  Verhaltens  in  den  verschiedenen  Lebens- 
altern. Dadurch  wurde  ein  gewaltiger  Impuls  auf  das  Studium  der 
pathologischen  Veränderungen  ausgeübt,  welche  man  nunmehr  von  all- 
gemeineren Gesichtspunkten  aus  betrachtete.  Bichat  sah  das  selbst 
ganz  richtig  voraus,  indem  er  in  seiner  Anatomie  generale  sagt:  „II 
me  semble  que  nous  sommes  ä  une  epoque,  ou  l'anatomie  pathologique 
doit  prendre  un  nouveau  essor."  ^)  Bichat  schenkte  übrigens  in  den 
beiden  genannten  Werken  selbst  schon  den  pathologischen  Verände- 
rungen entsprechende  Aufmerksamkeit  und  erwähnte  da  und  dort  bei 
den  einzelnen  Geweben  ihre  wichtigsten  pathologischen  Zustände. 
Seine  pathologisch-anatomischen  Vorträge  wurden  von  F.  G.  Boisseau 
unter  dem  Titel:  Anatomie  pathologique,  dernier  cours  de  Xaver 
Bichat,  Paris  1825  herausgegeben.  Eine  deutsche  Uebersetziing  er- 
schien 1827  in  Leipzig  von  A.  W.  P  e  s  t  e  1.  Bichat  versuchte  darin 
einen  gedrängten  üeberblick  über  die  Erkrankungsformen  der  ein- 
zelnen Gewebssysteme  im  allgemeinen  und  weiter  auch  einzelner 
Organe  im  speziellen  zu  geben.  Leider  war  es  ihm  aber  nicht  mehr 
gegönnt,  seine  Arbeitsziele  hinsichtlich  der  pathologischen  Anatomie 
des  weiteren  zu  verfolgen,  da  er  bereits  im  31.  Lebensjahre  seiner 
angestrengten  Berufsthätigkeit  zum  Opfer  fiel. 

Nicht  minder  wichtig  war  in  den  ersten  Dezennien  des  19.  Jahr- 
hunderts der  neue  grossartige  Aufschwung  der  Phj^siologie 
durch  Männer  wie  Francois  Magen  die  und  Pierre  Flourens 
in  Frankreich,  Charles  Bell  und  Marshall  Hall  in  England, 
Johannes  Purkinje,  Asmund  Rudolph i  und  Johannes 
Müller  in  Deutschland  und  Oesterreich. 

FrauQois  Magen  die  fl783 — 1855,  Professor  der  Physiologie 
und  allgemeinen  Pathologie  in  Paris)  war  es,  welcher  dem  Experi- 
mente in  der  Phj^siologie  und  Pathologie  die  weitestgehende  An- 
wendung verschaffte. 

Marie  Jean  Pierre  Flourens  (1794—1867,  Professor  der 
vergleichenden  Anatomie  in  Paris),  berühmt  durch  seine  Arbeiten  über 
Entwicklung,  die  Funktionen  des  Nervensystems,  die  Blutzirkulation 
und  Ernährung  der  Knochen. 

Charles  Bell  (bereits  früher  erwähnt)  und  Marshall  Hall 
(1790 — 1857,  Arzt  in  Nottingham  und  London),  berühmt  durch  ihre 
Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Physiologie  des  Nervensystems,  der 
erstere  der  Entdecker  der  verschiedenen  Bedeutung  der  vorderen  und 
hinteren  Spinalwurzeln,  der  letztere  der  Entdecker  der  Reflex- 
bewegungen. 


^)  Cit.  nach  Haeser  II  p.  834. 


512  ,  H.  Chiari. 

Johannes  Evangelista  Purkinje  [1181 — 1869,  Professor 
der  Physiologie  in  Breslau  und  Prag-),  der  fast  auf  allen  Gebieten  der 
Physiologie  mit  dem  grössten  Erfolge  arbeitete,  das  Keimbläschen  im 
Vogeleie  und  die  Flimmerbewegung  (letztere  zusammen  mit  Valentin) 
entdeckte  und  bereits  die  Zellentheorie  des  Aufbaues  der  Gewebe 
aussprach. 

Carl  Asmund  Rudolphi  (1771 — 1832,  Professor  der  Medizin 
in  Greifswald,  dann  Professor  der  Anatomie  in  Berlin),  der  so  wie 
Johannes  Müller  (1801 — 1858,  Professor  der  Anatomie  und  Physio- 
logie in  Bonn  und  Berlin)  in  Form  eines  Lehrbuches  die  gesamten 
damaligen  Kenntnisse  in  der  Physiologie  zusammenfasste  und  so  der 
ärztlichen  Welt  übermittelte. 

Weiter  waren  von  der  grössten  Bedeutung  die  in  diese  Zeit 
fallende  Begründung  der  physiologischen  Chemie  durch 
Friedrich  Tiedemann  (1781 — 1861,  Professor  der  Zoologie  und 
Anatomie  in  Landshut  und  der  Physiologie  in  Heidelberg)  und  Leo- 
pold Gmelin  (1788 — 1853,  Professor  der  Medizin  und  Chemie  in 
Heidelberg), 

die  gewaltige  Entwicklung  der  von  Caspar  Friedrich 
Wolff  (1733 — 1794,  Mitglied  für  Anatomie  und  Physiologie  an  der 
Akademie  der  Wissenschaften  in. St.  Petersburg)  begründeten  Embryo- 
logie durch  Heinrich  Christian  von  Pander  (1794 — 1865, 
Akademiker  für  Zoologie  in  St.  Petersburg),  Carl  Ernst  von  Baer 
(1792 — 1876,  Professor  der  Zoologie  in  Königsberg,  dann  Akademiker 
für  Zoologie,  Anatomie  und  Physiologie  in  St.  Petersburg),  dem  Ent- 
decker des  Säugetiereies,  und  Theodor  Ludwig  Wilhelm 
Bisch  off  (1807 — 1882,  Professor  der  Anatomie  und  Physiologie  in 
Heidelberg,  Giessen  und  München)  und 

die  Verbesserung  der  physikalischen  Forschungs- 
mittel zumal  des  Mikroskops  durch  die  Einführung  der  von 
Jan  und  Herrmann  van  Deyl  zuerst  angefertigten,  von  Fraun- 
hofer wesentlich  verbesserten  achromatischen  Linsen,  durch  die  Kon- 
struktion zusammengesetzter  Objektive  von  Chevalier  und  Amici 
und  durch  die  Erfindung  der  Immersion  von  Amici. 

Dadurch  fand  das  Mikroskop  eine  viel  ausgedehntere  Verwendung 
im  Dienste  der  Naturwissenschaften  und  kam  es  zu  der  epochalen 
Entdeckung  der  Zusammensetzung  der  Pflanzen  und  Tiere  aus  Zellen 
durch  Mathias  Jacob  Schieiden  (1804 — 1881,  Professor  der 
Botanik  in  Jena  und  Dorpat)  und  Theodor  Schwann  (1810—1882, 
Professor  der  Anatomie  in  Löwen  und  der  Physiologie  und  vergleichen- 
den Anatomie  in  Lüttich)  und  zu  den  für  die  Medizin  so  bedeutungs- 
vollen Entdeckungen  Christian  Gottfried  Ehren bergs  (1795 — 
1876,  Professor  der  Geschichte  der  Medizin  in  Berlin)  über  die  Mikro- 
organismen. 

Bei  dieser  Sachlage  musste  auch  in  der  Pathologie  die  Erkennt- 
nis der  Wichtigkeit  der  direkten  anatomischen  Anschauung  immer 
mehr  Platz  greifen  und  wurde  in  dieser  Zeit  wieder  von  verschiedenen 
Seiten  ausdrücklich  auf  den  Wert  der  pathologischen  Anatomie  für 
die  medizinische  Forschung  hingewiesen,  so  von 

J.  Smith 

Dissertatio  de  utüitate  morborum  naturam  cadaveribus  dissectis  explorandif 
Edinburgh  1812, 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  513 

Carl  Guyot  in  seiner  Dissertatio  inaug-uralis : 
De  cadaverum  sectionihus  patJiologicis  et  recto   ex  Ulis  ferenda  jiidicio,    Gro- 
ningen 1818, 

LadevezeetMontfalcon 

Memoire  sur  la  question:  Determiner  Vinfiuence  de  Vanatomie  pathohgique  sur 
les  progres  de  la  medecine  en  general  et  en  particulier  mir  le  diagnostic  et  le  traite- 
ment  des  maladies  internes.  Journal  complementaire  du  dictionnaire  des  sciences 
medicales  T.  XI,  XIY,  XVI  1821—1823, 

Luigi  Torello  Pacini  (geboren  1784,  Professor  der  Anatomie 
in  Lucca) 

Intwno  la  necessitä  dello  studio  delV  anatomia  patologica,  Lucca  1827, 

Jacob  Ludwig  Conrad  Schröder  van  der  Kolk  (1797—^ 
1862,  Professor  der  Anatomie  und  Physiologie  in  Utrecht) 

De  anatomiae  pathologicae  praecipue  subtilioris  studio  utilissimo,   Utrecht  1827, 

Leonard  Stewart  (Arzt  in  London) 

Modern  medecine  influenced  hy  morbid  anatomy,  London  1830, 

Leon  Eostan  (1790 — 1866,  Professor  der  medizinischen  Klinik 
in  Paris) 

Jusqti'ä  quel  point  Vanatomie  pathologique  peut-elle  eclairer  la  therapeutiqne 
des  maladies?  Paris  1833, 

Guillaume 

De  Vinfiuence  de  Vanatomie  pathologique  sur  les  progres  de  la  medecine,  1834, 

AmedeeJoux 

De  Vinfiuence  que  Vanatomie  pathologique  a  exercee  sur  les  progres  de  la 
medecine,  Paris  1835, 

Fran^ois  Ribes  (1800—1864,  Professor  der  Hygiene  in  Mont- 
pellier) 

Quelques  reflexions  sur  Vanatomie  pathologique,  Diss.  inaug.,  Montpellier  1824, 

Magnus  Huss  (1807 — 1890.  Professor  der  Medizin  in  Stockholm) 

JJeher  das  Verhältniss  der  pathologischen  Anatomie  zur  Medicin,  Hygiea  Stock- 
holm 1839  u.  SchmidVs  Jahrb.  26.  Bd.  1839, 

Franz  Joseph  Mezler  von  Andelberg  (1787 — 1858,  öster- 
reichischer Militärarzt) 

Ueber  den  Einfluss  der  pathologischen  Anatomie  auf  die  praktische  3Iedicin, 
Prag  1841 

und  P.  Clausure 

De  Vinfiuence  de  Vanatomie  pathologique  sur  la  pathologie  chirurgicale,  An- 
gouleme  1843. 

Die  pathologische  Anatomie  begann  sich  nunmehr  in  der  ersten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  gewaltig  zu  entwickeln  und  fällt  in  diese 
Zeit  auch  die  erste  Erstehung  eigener  Lehrkanzeln  für  dieselbe. 

In  Frankreich  wurden  durch  die  Anregungen  seitens  Bichats 
in  erster  Linie  die  medizinischen  Kliniker  veranlasst,  die  pathologisch- 
anatomische Forschung  zum  Zwecke  der  physikalisch-anatomischen 
Diagnostik  intensiv  zu  betreiben,  und  entstand  so  die  berühmte  physi- 
kalisch-anatomische Schule,  als  deren  Vorläufer  P.  A.  Prost  (gest. 
1832,  Arzt  in  Paris),  MarcAntoine  Petit  (1760—1840.  Arzt  in 
Paris)  und  Etienne  Renaud  Augustin  Serres  (1787  —  1868, 
Professor  der  Anatomie  und  Spitalsarzt  in  Paris)  und  als  deren  Gründer 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  33 


514  '  H.  Chiari. 

Jean  Nicolas  Corvisart  des  Märest  (1755— 1821,  Professorder 
Medizin  in  Paris)  und  Rene  Theopliile  Hyacinthe  Laennec 
(1781—1826,  Professor  der  Medizin  in  Paris)  anzusehen  sind. 

P.  A.  Prost  > 

Medecine  eclairee  par  V Observation  ei  V Ouvertüre  des  corps,  2  Vol.,  Paris  1804; 
1809;  1817 

Marc  Antoine  Petit  et  Etienne  Renaud  Augustin 
Serres 

Traite  de  la  fievre  entero-mesenterique  ohservee,  reconnue  et  signalee  publique- 
ment  ä  Vhopital  Dieu,  Paris  1814. 

Jean  Nicolas  Corvisart  des  Märest 

Essai  sur  les  maladies  et  les  lesions  organiques  du  coeur  et  des  gros  vaisseaux, 
Paris  1806;  1811;  1818. 

Rene  Theophile  Hyacinthe  Laennec 

Note  sur  Vanatomie  pathologiqiie,  Journ,  de  Med.  Chir.  et  Pharm.,  T.  IX,  1804, 

Anatomie  pathologique,  Dict.  des  scienc.  med., 

Enceplialoide,  ibidem, 

De  V auscultation  mediate  ou  traite  du  diagnostic  des  maladies  des  poumons  et 
du  coeur  fonde  principalement  sur  ce  nouveau  moyen  d'exploration,  Paris  1819; 
1826;  1831;  1837;  deutsch  1822;  1823;  1832. 

Im  Sinne  dieser  Schule  arbeiteten  dann  noch 

Gaspard  Laurent  Bayle  (1774 — 1816,  Arzt  an  der  Charite 
in  Paris) 

Recherches  sur  la  phthisie  pulmonaire,  Paris  1810, 
Traite  des  maladies  cancereuses,  Paris  1834, 

Jean  Louis  d' Alibert  (1766— 1837,  Arzt  am  Höpital  St.  Louis 
und  Professor  der  Therapie  in  Paris) 

Description  des  maladies  de  la  peau  observees  ä  Vhopital  St.  Louis,  Paris 
1806 — 1825 ;  1833  (unter  dem  Titel:  Traite  complet  des  maladies  de  la  peau), 

Andral  (Auguste?)  Frangois  Chomel  (um  1788 — 1858, 
Professor  der  Medizin  in  Paris) 

Elements  de  pathologie  generale,  Paris  1817 ;  5.  Ed.  1863, 
Legons  de  clinique  medicale,  Paris  1834, 

Leon  Rostan  (1790—1866,  Professor  der  medizinischen  Klinik 
in  Paris) 

Recherches  sur  une  maladie  encore  peu  connue,  qui  a  regu  le  nom  de  ramol- 
lissement  du  cerveau,  Paris  1820;  1823;  deutsch  Leipzig  1824, 

Jacques  Barthelemy  Poilroux  (geb.  1799) 

Nouvelles  recherches  sur  les  maladies  chroniques  et  principalement  sur  les 
affections  organiques  et  les  maladies  hereditaires,  Paris  1823, 

Charles  Michel  Billard  (1800—1832,  Kinderarzt  in  Paris) 

De  la  membrane  muqueuse  gastro-intestinale  dans  Vetat  sain  et  dans  l'etat 
inflammatoire,  Paris.  1825, 

Traite  des  maladies  des  enfants  nouveaux  nes  et  ä  la  mamelle  avec  un  atlas 
d'anatomie  pathologique  pour  servir  ä  Vhistoire  des  maladies  des  enfants,  Paris  1828, 

Pierre  Frangois  Olive  Rayer  (1793—1867,  Arzt  und  Pro- 
fessor der  vergleichenden  Medizin  in  Paris) 

Traite  theoretique  et  pratique  des  maladies  de  la  peau,  Paris  und  London 
1826—1827,  2  Vol.  avec  atlas;  1835;  Bruxelles  1840;  deutsch  Weimar  1827;  ital. 
Mailand  1830, 

Traite  des  maladies  des  reins  et  des  alterations  de  la  secretion,  Paris  1839 — 
1841,  3  Vol.  et  atlas;  deutsch  Cassel  und  Leipzig  1839, 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  515 

Pierre  Bretonneau  (1778—1862,  Arzt  in  Tours) 

Des  inflammations  speciales  du  tissu  muqueux  et  en  particidier  de  la  diph- 
therite  ou  inflammation  pelliculaire,  connue  sous  le  nom  de  croup  d'angine  maligne, 
d'angine  gangreneuse,  Paris  1826, 

Addition  suppUmentaire  ou  traite  de  la  diphtherite,  Paris  1827, 

Augustin  Nicolas  Gendrin  (geb.  1796,  Arzt  in  Paris) 

Histoire  anatomique  des  inflammatio7is.  Paris  1826 — 1827.  2  Vol.;  1829;  deutsch 
Leipzig  1828—1829, 

Pierre  Charles  Alexandre  Louis  (1787—1872,  Arzt  in 
Paris) 

Recherches  anatomiques  pathologiques  et  therapeutiques  sur  la  phthisie,  Paris 
1825;  1843:  deutsch  Leipzig  1827;  engl.  1835;  1844;  1846, 

Becherches  anatomiques  pathologiques  et  therapeutiques  sur  la  maladie  connue 
sous  les  noms  de  fievre  typhoide,  putride,  adynamique,  ataxique,  bilieuse,  muqueuse, 
enter ite  folliculeuse,  gastroenterite,  dothienenterite,  Paris  1829;  1841;  deutsch  Würz- 
burg 1830;  Leipzig  1842;  engl.  Boston  1836, 

Delestre 

Iconographie  pathologique  ou  collection  de  faits  rares  et  interessants,  Paris  1827. 

Einen  ganz  eigenen  Standpunkt  nahmen  ein  Victor  Broussais 
und  seine  Schüler,  welche  mehr  weniger  alle  Krankheiten  auf  Irri- 
tation resp.  Entzündung  zurückführten  und  in  dieser  Theorie  befangen 
und  viel  zu  weit  gehend,  den  anatomischen  Befunden  häufig  eine  falsche 
Deutung  gaben. 

Fran^ois  Joseph  Victor  Broussais  (1772  — 1838,  Professor 
der  allgemeinen  Pathologie  in  Paris) 

Histoire  des  phlegmasies  ou  inflammations  chroniques,  fondee  sur  de  nouvelles 
observations  de  clinique  et  d'anatomie  pathologique.  Paris  1802,  2  Vol.:  1816:  1838. 

Examen  de  la  doctrine  medicale  generalement  adoptee,  Paris  1816:  deutsch 
Bern  1820, 

Examen  des  doctrines  medicales  et  des  systemes  de  nosologie,  Paris  1821; 
3.  ed.  1829—1831, 

Cours  de  pathologie  et  de  therapeutique  generales  professe  ä  la  faculte  de 
medecine  de  Paris,  Paris  1835,  5  Vol., 

Charles  Frangois  Tacheron  (geb.  um  1790,  Arzt  in  Paris 
und  Brüssel) 

Becherches  anatomo-pathologiques  sur  la  medecine  pratique  ou  recueil  d'obser- 
itions  f altes  ä  la  clinique  des  hopitaux  de  Paris,  Paris  1823,  3  Vol., 

Jean  BaptisteBouillaud  (1796—1881,  Professor  der  medi- 
zinischen Klinik  in  Paris) 

Traite  clinique  et  experimental  des  fievres  dites  intermittentes  pretendues  essen- 
tielles, Paris  1826, 

Traite  clinique  des  maladies  du  coeur,  Paris  1835;  1841;  deutsch  Leipzig 
1836—1837, 

Traite  clinique  du  rhumatisme  articulaire  et  de  la  loi  de  coincidence  des  in- 
flammations du  coeur  avec  cette  maladie,  Paris  1840. 

Von  grossem  Einflüsse  auf  die  Entwicklung  der  pathologischen 
Anatomie  in  Frankreich  war  in  dieser  Zeit  dann  noch  Gabriel 
Andral  (1797 — 1876,  Professor  der  allgemeinen  Pathologie  und 
Therapie  in  Paris),  der  ein  systematisches  Handbuch  der  pathologischen 
Anatomie  einschliesslich  der  allgemeinen  Pathologie  herausgab,  in  seiner 
Clinique  medicale  eine  reiche  Menge  pathologisch-anatomischer  Be- 
funde publizierte  und  zusammen  mit  dem  Chemiker  Gavarret  der 
Humoralpathologie  durch  anatomische  Untersuchungen  eine  feste  Stütze 
zu  geben  suchte. 

33* 


516  '  H.  Chiari. 

Clinique  medicale,  Paris  1823—1827,  5  Vol.;  letzte  Ausgabe  1848;  deutsch 
1842 — 1845 ;  ausserdem  noch  öfters  einzelne  Theile, 

Precis  d^anatomie pathologique,  Paris  1829,  3  Vol.;  deutsch  Leipzig  1829— 1830, 
avec  Gavarret,  Becherches  sur  les  modifications  de  proportion  de  quelques  prin- 
cipes  du  sang  dans  les  maladies,  Paris  1842;  deutsch  Nördlingen  1842, 

Essai  d'hematologie  pathologique,  Paris  1843. 

Auch  die  französischen  Chirurgen  dieser  Zeit  leisteten  sehr  viel 
für  die  pathologische  Anatomie,  so  namentlich 

Jacques  Delpech  (1772—1832,  Professor  der  Chirurgie  in 
Montpellier) 

Reflexions  sur  les  causes  de  Vanevrisme  spontane,  Paris  1813, 
Memoire  sur  la  complication  des  plaies  et  des  ulceres  connues  sous  le  nom  de 
pourriture  d'hopital,  Paris  1815, 

De  l'orthomorphie,  Paris  1828 — 1829,  2  Vol.  avec  Atlas, 

Alexis  Baron  Boyer  (1757 — 1833,  Professor  der  Chirurgie  in 

Paris) 

Traite  des  maladies  chirurgicales  et  des  Operations  qui  leur  conviennent,  Paris 
1814—1826,  11  Vol.;  3.  Ed.  1844—1853.  deutsch  Würzburg  1818— 1827 ;  1834—1841: 
engl.  New -York  1815—1828, 

Guillaume  Baron  Dupuytren  (1778—1835,  Professor  der 
Chirurgie  in  Paris),  der  auch  Kurse  über  pathologische  Anatomie  gab 

Propositions  sur  quelques  points  d'anatomie,  de  physiologie  et  d'anatomie  patho- 
logique, Paris  1803, 

LcQons  orales  de  clinique  chirurgicale  faites  ä  l'Hotel  Dieu  de  Paris  reo.  et 
publ.  par  une  societe  de  medecins,  Paris  1830 — 1834;  par  Brierre  de  Boismont  et 
Marx,  Paris  1839;  deutsch  Leipzig  1832 — 1835;  Quedlinburg  1840—1846;  engl. 
Neio-York  und  Boston  1833;  ital.   Venedig  1834;  dän.  Kopenhagen  1835, 

LeQons  sur  les  itranglements  des  hernies,  Paris  1832, 

Jules  Germain  Cloqu et  (1790— 1883,  Professor  der  Chirurgie 
in  Paris) 

Becherches  sur  les  causes  et  Vanatomie  des  hernies  abdominales,  Paris  1819, 
4  Vol., 

Anatomie  des  vers  intestinaux:  Ascaride  lombricoide  et  Echinorhynque  geant, 
Paris  1824, 

Auguste  Theodore  Vidal  de  Cassis  (1803 — 1856,  Chirurg 
in  Paris) 

Traite    de  pathologie   externe   et  de  medecine   operatoire,    Paris  1838 — 1841; 
5.  Ed.  1860;  deutsch  Berlin  1851 — 1859  und  öfters  (von  Bardeleben), 
Traite  sur  les  maladies  veneriennes,  Paris  1852;  3.  Ed.  1859, 

Alfred  Armand  Louis  Marie  Velpeau  (1795 — 1867,  Pro- 
fessor der  Chirurgie  in  Paris) 

Legons  orales  de  clinique  chirurgicale  publ.  par  Jeanseime  et  Pavillon,  Paris 
1840—1841,  3  Vol.;  deutsch  Leipzig  1840—1842, 

Traite  des  maladies  du  sein  et  de  la  region  mammaire,  Paris  1853;  1858 

und  Louis  Joseph  Bauchet  (1826—1865,  Hospitalchirurg  in 
Paris) 

Du  panaris  et  du  phlegmon  de  la  main,  Paris  1857;  1859, 

Anatomie  pathologique  des  kystes  de  Vovaire,  Mem.  de  VAc.  des  med.  1859, 

Hypertrophie  de  la  parotide,  ibidem  1863. 

Unter  den  französischen  Anatomen  förderten  die  pathologische 
Anatomie  namentlich 

Antoine  Baron  Portal  (1742 — 1832,  Professor  der  Anatomie 
in  Paris  und  königlicher  Leibarzt) 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  517 

Cours  d'anatomie  medicale,  Paris  1803,  5  Vol.:  spanisch  Madrid  1808, 
Memoires  sur  la  nature  et  le  traitement  de  plusieurs  maladies.    Avec  le  precis 

des  experiences   sur  les  animaux  vivants,    dhin  cours  de  physiologie  pathologique, 

Paris  1800—1824,  5  Vol., 

Gilbert  Breschet  (1784 — 1845,  Professor  der  Anatomie  in  Paris) 

Essai  sur  les  veines  du  rackis;   recherches  sur  la  formation   du  cal;   conside- 

rations  et  observations  anatomiques  et  pathologiques,  Paris  1819, 
Memoire  sur  l'ectopie  du  coeur,  Paris  1826, 
Histoire  des  phlegmasies  de  vaisseaux  ou  de  Vangite,  Paris  1829, 
Etudes   anatomiques,  physiologiques   et  pathologiques   de   l'oeuf  dans  Vespece 

humain  et  dans  quelques  unes  des  principales  familles  des  animaux  vertebres,  Paris 

und  London  1833, 

Traite  des  maladies  des  enfants,  Paris  1833,  2  Vol., 

Memoires  chirurgicaux  sur  differentes  especes  d'anetirysmes,  Paris  1834, 

Le  Systeme  lymphatique  considere  sous  les  rapports  anatomique,  physiologique 

et  pathologique,  Paris  1836, 

Etienne  Geoffroy  St.  Hilaire  (1771 — 1844,  vergleichender 
Anatom  in  Paris) 

Philosophie  anatomique.     Monstruosites  humaines,  Paris  1822, 

Isidore  Geoffroy  St.  Hilaire  (1805—1861,  Professor  der 
Zoologie  in  Paris) 

Histoire  generale  et  particuliere  des  anomalies  de  V Organisation  chez  l'homme 
et  les  animaux  des  monstruosites  ou  traite  de  teratologie.  Avec  Atlas,  Paris  1832 — 
1836,  3   Vol. 

und  Charles  Pierre  Denonvilliers  (1808 — 1872,  Professor 
der  Anatomie  in  Paris) 

Descrlption  des  os  malades  du  musee  Dupuytren,  Paris  1842,  mit  Atlas. 

So  war  denn  die  pathologische  Anatomie  in  Frankreich  allgemein 
als  ein  sehr  wichtiger  Teil  der  Medizin  anerkannt  und  führte  dies 
dazu,  dass  schon  im  Jahre  1819  in  Frankreich  die  erste  Lehrkanzel 
für  pathologische  Anatomie  errichtet  wurde  und  zwar  in  Strassburg, 
woselbst  Johann  Georg  Christian  Friedrich  Martin  Lob- 
stein im  genannten  Jahre  auf  Cuviers  Verwendung  zum  Professor 
der  pathologischen  Anatomie  ernannt  wurde.  Lobstein,  1777  in 
Giessen  geboren,  war  schon  1796  Prosektor  in  Strassburg,  promovierte 
daselbst  1803.  wurde  1804  Chef  des  travaux  anatomiques  und  1805 
Medecin-accoucheur  en  chef  und  Professor  an  der  Hebammenschule. 
1819  erhielt  er  die  Professur  für  pathologische  Anatomie  und  bald 
darauf  auch  die  für  interne  Medizin.  Alle  diese  3  Professuren  be- 
sorgte Lobstein  in  der  hervorragendsten  Weise  bis  zu  seinem  am 
7.  März  1835  erfolgten  Tode.  In  Bezug  auf  die  pathologische  Anatomie 
ist  von  Wichtigkeit  sein  von  einem  Atlas  begleiteter  Traite  d'anatomie 
pathologique,  Paris  und  Strassburg  1829-1833;  deutsch  Stuttgart 
1834 — 1835,  der  reich  an  Eigenbeobachtungen  ist,  leider  aber  unvoll- 
endet geblieben  ist.  Lobstein  teilte  den  Stoff  der  pathologischen 
Anatomie  zum  erstenmal  nach  dem  anatomischen  Charakter  der  Ver- 
änderungen in  streng  systematischer  Weise,  indem  er  6  grosse  Klassen 
unterschied : 

1.  Die  Verändemngen  der  Gestalt  und  Grösse, 

2.  die  Veränderungen  der  Lage  und  Verbindung  der  Teile, 

3.  die  Veränderungen  durch  Auflockerung  der  Gewebe  (durch 
Gasentwicklung,  durch  Ansammlung  seröser  Flüssigkeit,  durch 
Blutergiessung,  durch  Säftezuströmung,  durch  Entzündung), 

4.  die  Entwicklung  neuer  analoger  Gewebe, 


518  H.  Chiari. 

5.  die  Entwicklung  neuer  heterologer  Gewebe  und 

6.  die  Concremente  und  Parasiten. 

Früher  schon  hatte  Lobstein  einen  Comte  rendu  sur  les  travaux 
anatomiques  executes  ä  Tamphitheätre  pendant  les  annees  1821 — 1823, 
Strassburg  1824  veröffentlicht.  Lobstein  ist  auch  der  Gründer  des 
pathologisch-anatomischen  Museums  in  Strassburg,  das  er  selbst  be- 
schrieb (Compte  rendu  sur  l'etat  de  son  musee  anatomique,  Strass- 
burg 1820). 

Sein  Nachfolger  im  Lehramte  der  pathologischen  Anatomie  war 
der  Professor  der  normalen  Anatomie  Carl  Heinrich  Ehr  mann 
(1792 — 1878),  der  bis  1867  gleichzeitig  auch  die  pathologische  Ana- 
tomie tradierte.  Von  ihm  stammen  2  Serien  von  Observations  d'ana- 
tomie  pathologique,  Strassburg  1847  und  1862  und  Musealbeschreibungen : 

Mus^e  anatomique  de  la  faculte  de  medecine  de  Strasbourg,  Strassburg  1837, 

Nouveau  catalogue,  ibidem  1843, 

Notice  sur  les  accroissemetits  du  musee  1846. 

Eine  zweite  Lehrkanzel  für  pathologische  Anatomie  in  Frankreich 
wurde  dann  1836  in  Paris  errichtet  und  zwar  veranlasst  durch  ein  Ver- 
mächtniss  von  200  000  Fr.,  welches  GuillaumeBaron  Dupuytren 
für  diesen  Zweck  testamentarisch  bestimmt  hatte.  Als  erster  Professor 
der  pathologischen  Anatomie  fungierte  daselbst  Leon  Jean  Bat- 
tiste  Cruveilhier  (1791 — 1874)  aus  Limoges.  Zuerst  der  Theologie 
zugewandt,  widmete  er  sich  dann  unter  dem  Einflüsse  seines  Vaters 
der  Medizin,  wurde  1816  Doktor  in  Paris  mit  dem  Essai  sur  l'ana- 
tomie  pathologique  en  general  et  sur  les  transformations  organiques 
en  particulier,  2  Vol.,  worin  er  im  wesentlichen  nach  Dupuytren  sein 
System  der  pathologisch-anatomischen  Veränderungen  entwickelte, 
wurde  1824  Professor  der  Chirurgie  in  Montpellier,  1825  Professor 
der  deskriptiven  Anatomie  in  Paris  und  1836  Professor  der  patho- 
logischen Anatomie  ebendaselbst.  In  der  letztgenannten  Eigenschaft 
war  er  durch  mehr  als  30  Jahre  thätig. 

Seine  für  die  pathologische  Anatomie  wichtigen  Werke  sind  ausser 
dem  schon  erwähnten  Essai: 

Medecine  pratique  eclairee  par  l'anatomie  et  la  physiologie  pathologiques,  Paris 
1821  (unvollständig), 

Anatomie  pathologique  du  corps  humain  ou  descriptions  avec  figures  litho- 
graphiees  et  colorees  des  diverses  alterations  morbides,  Paris,  T.  I  1829 — 1835,  T.  II 
1835—1842, 

wie  Förster  mit  Eecht  sagt  eine  der  grossartigsten  Erscheinungen  der 
pathologisch-anatomischen  Wissenschaft.  230  getreu  nach  der  Natur 
aufgenommene  und  künstlerisch  reproduzierte  Tafeln  bringen  die 
wichtigsten  pathologisch-anatomischen  Veränderungen  der  verschiedenen 
Organe  des  menschlichen  Körpers  mit  Krankengeschichten  und  Sektions- 
befunden. Dieses  W^erk  ist  heute  noch  als  pathologisch-anatomisches 
Casuisticum  von  hohem  Werte.    Dann  der 

Tratte  d^anatomie  pathologique  generale,  Paris  1849 — 1864, 

ein  grosses  systematisches  Handbuch  der  allgemeinen  pathologischen 
Anatomie.  Der  5.  Band  dieses  letzteren  Werkes  wurde  von  Charles 
Nicolas  Houel  (1815 — 1881,  Direktor  des  Musee  Dupuj^tren  in 
Paris)  ediert,  der  auch  selbst  ein  Manuel  d'anatomie  pathologique 
generale  et  applique  contenant  la  description  et  le  catalogue  du  Musee 
Dupuytren,  Paris  1857,  2.  Ausgabe  1862  verfasste  und  später  1877 — 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  519 

1880  einen  mit  photographischen  Tafeln  versehenen  5  bändigen  Katalog 
der  Präparate  des  Museum  Dupuytren,  sowie  1881  einen  Katalog  des 
Museum  Orfila  publizierte. 

In  England  war  es  in  dieser  Zeit  zunächst  die  Schule  Baillies, 
die  die  pathologische  Anatomie  wesentlich  förderte.  Die  medizinischen 
Kliniker  und  die  praktischen  Aerzte  beschäftigten  sich  vielfach  mit 
pathologischer  Anatomie,  so 

William  Heberden  (1710 — 1801,  Arzt  in  Cambridge  und  London) 

Commentarii  de  morborum  historia  et  curatione,  London  1802 ;  deutsch  Leip- 
zig 1805;  Nürnberg  1840  (Opera  medica,  Ed.  Friedländer,  Leipzig  1831), 

Christie  Robert  Pemberton  (1765 — 1822,  Arzt  in  London) 

A  practical  treadise  of  varions  diseases  ofthe  abdominal  viscera,  London  1806: 
1814;  deutsch  Bremen  1817:  Gotha  1818;  Berlin  1836, 

Thomas  Bateman  (1778—1821,  Arzt  in  London) 

A  practical  Synopsis  of  cutaneous  diseases  according  to  the  aiTangement  of 
Dr.  Willan,  London  1813:  8.  Ed.  1836;  detitsch  Halle  1815:  Leipzig  1835  und  1841 
(hierzu  Atlas  von  Thomson,  London  1840), 

Delineations  of  cutaneous  diseases  comprised  the  classificatian  of  the  late 
Dr.   Willan,  London  1815—1817;  deutsch   Weimar  1829—1838, 

John  Richard  Farre  (1774 — 1862,  Arzt  in  Glasgow,  Aberdeen 
und  London) 

The  morbid  anatomy  of  the  liver,  London  1812 — 1815  (Tumoren), 
Pathological  resenrches  in  medecine  and  surgery,  London  1814  (Herz), 
Journal   of  morbid  anatomy    or  researches  physiol.,  pathol.    and    therapeut., 
London  1828 

(Farre  legte  auch  eine  pathologisch- anatomische  Sammlung  an, 
die  dann  in  den  Besitz  des  St.  Bartholomew's  Hospital  überging  und 
1846 — 1862  unter  dem  Titel  Catalogue  of  the  auatomical  museum  of 
St.  Bartholomew's  Hospital,  London,  3  Vol.  von  Edward  Stanley,  Sir 
James  Paget  und  William  Scovell  Savory  beschrieben  wurde), 

Joseph  Hodgson  (1788—1869,  Arzt  in  Cheapside  und  Bir- 
mingham) 

Treatise  on  the  diseases  of  the  arter ies  and  veins,  London  1815:  1822;  deutsch 
Hannover  1817;  franz.  Paris  1819;  ital.  Maikind  1823. 

Engravings  intended  to  illustrate  some  ofthe  diseases  ofthe  arteries,  London  1815, 

CalebHillierParry  (1755—1822,  Arzt  in  London) 

Elements  of  pathology  and  therapeutics.  illustrated  by  numerous  cases  and 
ffissections,  London  1815 ;  1825  (ed.  Charles  Henry  Barry  fii), 

John  Howship  (gestorben  1841,  Arzt  in  London) 

On  the  natural  and  diseased  State  of  the  bones,  London  1820;  deutsch  Leip- 
zig 1823, 

Practical  observations  in  surgery  and  morbid  anatomy,  illustrated  by  cases 
mith  dissections  and  engravings,  London  1816;  deutsch  Halberstadt  1819, 

Practical  observations  on  the  diseases  of  the  urinary  Organs.  London  1816;  1823, 

Practical  observations  on  the  Symptoms,  discrimination  and  treatment  of  some 
of  the  most  important  diseases  of  the  lower  intestines  and  the  amis,  London  1830, 

Sir  John  Forbes  (1787—1861,  Arzt  in  London) 

Original  cases  with  dissections  and  observations  illiistrating  the  use  of  the 
stethoscope  and  percussion  in  the  diagnosis  of  diseases  of  the  ehest,  London  1824, 

Robert  Hooper  (gestorben  1835,  Arzt  in  London) 

Tlie  morbid  anatomy  of  the  human  brain.  London  1826, 

The  morbid  anatomy  of  the  human  uterus  and  its  appendages,   London  1832, 


520  H.  Chiari. 

Richard  Bright  (1789—1858,  Arzt  in  London) 

Reports  of  medical  cases  selected  with  a  view  to  illustrate  the  Symptoms  and 
eure  of  diseases  by  a  reference  to  morbid  anatomy,  London  1827 — 1831,  2  Vol. 
15  PL, 

Clinieal  memoirs  on  abdominal  tumours  and  intumescenee,  London  1861. 
Ed.  Barlow, 

James  Annesley  (geboren  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts, 
Arzt  in  Madras  und  St.  George) 

Sketches  of  the  most  prevalent  diseases,  comprising  a  treatise  on  the  epidemic 
Cholera  of  the  east,  London  1825, 

Researches  into  the  causes,  nature  and  treatment  of  the  more  prevalent  diseases 
of  India  and  of  warm  climats  in  general,  London  1828,  2  Vol., 

John  Abercrombie  (1781 — 1844,  Arzt  in  Edinburgh) 

Pathological  and  practical  researches  on  the  diseases  of  the  stomach  and  intes- 
tines  and  the  liver,  Edinburgh  1820:  1880;  deutsch  Bonn  1822;  Bremen  1843, 

Pathological  and  practical  researches  on  the  diseases  of  the  brain  and  the 
spinal  cord,  Edinburgh  1827;  1829;  1834, 

Thomas  Hodgkin  (1798—1866,  Arzt  in  London,  Dozent  für 
pathologische  Anatomie  am  Guy's  Hospital  und  dann  Dozent  für  prak- 
tische Medizin  am  St.  Thomas  Hospital) 

Lectures  on  the  morbid  anatomy  oftheserous  and  mucous  membranes,  London 
1836—1837;  deutsch  Leipzig  1843, 

A  catalogue  of  the  preparations  in  the  anatomical  museum  of  Guy's  Hospital, 
London  1829;  Neue  Ausgabe  von  Samuel  Wilks,  London  1863, 

William  Stokes  (1804—1878,  Professor  der  Medizin  in  Dublin) 

Treatise  on  the  diagnosis  and  treatment  of  diseases  of  the  ehest,  Dublin  1837 ; 
deutsch  Bremen  1838, 

The  diseases  of  the  heart  and  the  aorta,  Dublin  1854;  deutsch  München  1855: 
franz.  Paris  1864, 

Golding  Bird  (1815—1854,  Arzt  in  London  und  Dozent  am 
Guy's  Hospital) 

Urinary  deposits,  their  diagnosis,  pathology  and  therapeutical  indications, 
London  und  Philadelphia  1845. 

Viele  englische  Chirurgen  dieser  Zeit  wandten  der  pathologischen 
Anatomie  besonderes  Interesse  zu  wie  namentlich 

Sir  Astley  Paston  Cooper  (1768 — 1841,  Professor  der  Ana- 
tomie und  Chirurg  am  Guy's  und  St.  Thomas  Hospital  in  London) 

TJie  anatomy  and  surgical  treatment  of  inguinal  and  congenital  hernia,  London 
1804;  1827;  deutsch  Breslau  1809;  Weimar  1833, 

Anatomy  and  surgical  treatment  of  crural  and  umbilical  hernia,  London  1807 ^ 
deutsch  Breslau  1809, 

Tfie  anatomy  and  treatment  of  abdominal  hernia,  London  1817, 

Lectures  on  the  principles  and  practice  of  surgery,  London  1824— 1827 ;  deutsch 
Weimar  1825—1828;  Kassel  1851, 

Illustrations  of  the  diseases  of  the  breast,  London  1829:  1840;  deutsch 
Weimar  1836, 

Observations  on  the  structure  and  diseases  of  testis,  London  1830 ;  deutsch 
Weimar  1832, 

The  anatomy  of  the  thymus  gland,  London  1832 ;  franz.  1832, 

John  Thomson  (1765—1846,  Professor  der  Chirurgie  in  London) 

Lectures  on  inflummation  exhibiting  a  view  of  the  general  doctrines  patho- 
logical and  practical  of  medical  surgery,  Edinburgh  1813;  1818;  1823;  deutsch 
Halle  1820;  ital.  Pavia  1823;  franz.  Paris  und  London  1827, 


Geschichte  der  patholos:ischen  Anatomie  des  Menschen.  521 

Robert  Allan  (1778—1826,  Chirurg  in  Edinburgh) 

A  System  of  pathological  and  operative  surgery.  founded  on  anatomy,  Edin- 
burgh 1819—1821,  3   Vol., 

William  Wadd  (gestorben  1829.  Chirurg  des  Königs  in  London) 

Observations  in  surgery  and  morbid  anatomy,  London  1817 — 1818, 
Illusfrations  of  morbid  anatomy.  London  1824, 
Anatomico-pathological  dratcings,  London  1826, 

Robert  William  Smith  (gestorben  1873,  Professor  der 
Chirurgie  in  Dublin) 

Treatise  on  fractures  in  the  vicinity  of  joints  and  on  certain  forms  of 
Occidental  and  congenital  dislocations,  Dublin  1845, 

A  treatise  on  the  pathology  diagnosis  and  treatment  ofneuroma,  Dublin  1849. 

Unter  den  Geburtshelfern  von  Fach  war  es  besonders  Robert 
Lee  (1793—1877,  Professor  der  Geburtshilfe  in  London),  der  patho- 
logisch-anatomische Studien  auf  geburtshilflichem  Gebiete  sehr  eifrig 
betrieb. 

The  morbid  anatomy  of  the  uterus  and  its  appendages,  London  1838, 
Pathological  observations  on  the  diseases  of  the  uterus,  London  1840 — 1849. 

Unter  den  Theoretikern  nahmen  Rücksicht  auf  die  pathologische 
Anatomie 

Alexander  Monro  (tertius)  (1773 — 1859,  Professor  der  Ana- 
tomie und  Chirurgie  in  Edinburgh),  der  auch  viel  in  pathologischer 
Anatomie  arbeitete 

The  morbid  anatomy  of  the  human  gullet,  stomach  and  intestins,  Edinburgh 
1811:  1830, 

Outlines  of  the  anatomy  of  the  human  body  in  its  sound  and  diseased  State, 
Edinburgh  1813—1825,  4   Vol. 

und  Robert  Bentley  Todd  (1809— 1860,  Professor  der  Physio- 
logie und  pathologischen  Anatomie  in  London),  Herausgeber  der 

Cyclopaedia  of  anatomy  and  physiology,  Londoti  1839 — 1859,  6  Vol., 
Treatise  on  gout  and  rheumatism,  London  1843;  deutsch  Leipzig  1844. 

Es  entstanden  auch  in  England  Lehrbücher  und  Atlanten  der 
pathologischen  Anatomie-,  so  von 

Herbert  Mayo  (gestorben  1852,  Professor  der  Chirurgie  und 
Pathologie  in  London) 

Outlines  of  human  pathology,  London  1826;  Philadelphia  1839 :  deutsch  Darm- 
stadt 1838—1839. 

David  Craigie  (1793—1866,  Arzt  in  Edinburgh  und  Lehrer 
der  Anatomie  und  klinischen  Medizin) 

Elements  of  general  and  pathological  anatomy  adapted  to  the  present  statt  of 
knowledge  in  that  science,  Edinburgh  1828;  1848, 

W.  Money 

A  vademecum  of  morbid  anatomy,  medical  and  chirurgical,  London  1830;  1831, 

James  Hope  (1801 — 1841,  Arzt  in  London) 

Principles  and  illustrations  of  morbid  anatomy  adapted  to  the  Clements  of 
M.  Andral  and  to  the  cyclopaedia  of  practical  medecine.  With  plates  from  Origi- 
nals by  the  author,  Lotidon  1834;  deutsch  Berlin  1836;   russ.  St.  Petersburg  1837, 

von  dem  auch   ein  für  die  pathologische  Anatomie   des  Cirkulations- 
apparates  wertvolles  Werk  herrührt 


522  ^  H.  Chiari. 

A  treatise  on  the  diseases  of  the  heart  and  gredt  vessels  comprising  a  neto 
view  of  the  physioloqy  of  the  heart's  action,  according  ichich  the  physical  signs  are 
explained,  London  1832—1833;  1835;  1839;  1848;  deutsch  Berlin  1833, 

John  Armstrong  (1784 — 1829,  Arzt  am  Fieberhospital  in 
London) 

Lectures  on  the  morbid  anatomy,  nature  and  treatment  of  acute  and  chronic 
diseases,  London  1834  ed.  Rix 

und  Sir  Robert  Carswell  (1793 — 1857,  Professor  der  patho- 
logischen Anatomie  am  University  College  in  London) 

Pathological  anatomy;  Illustrations  of  the  elementary  form»  of  diseases 
London  1833—1838,  48  PI. 

Endlich  seien  hier  noch  2  amerikanische  Forscher  erwähnt 
William  Edmonds  Horner  (1793—1853,  Professor  der  Ana- 
tomie in  Philadelphia) 

A  treatise  of  pathological  anatomy,  Philadelphia  1829, 

On  the  anatomical  characters  of  asiatic  cholera  ivith  remarks  on  the  structure 
of  the  mucous  coat  of  the  alimentary  canal,  Philadelphia  1835 

und  Samuel  D.  Gross  (1805—1884,  Professor  der  pathologischen 
Anatomie  in  Cincinnati,  woselbst  er  den  ersten  Kurs  über  pathologische 
Anatomie  in  den  Vereinigten  Staaten  hielt,  dann  Professor  der  Chirurgie 
in  Louisville  und  Philadelphia) 

Elements  of  pathological  anatomy,  2  Vol.,  Philadelphia  1839;  1845, 

The  anatomy  physiology  and  diseases  of  the  bones  and  joints,  Philadelphia  1830. 

In  Deutschland  und  Oesterreich  stand  die  Medizin  in  den 
ersten  Decennien  des  19.  Jahrhunderts  noch  sehr  stark  unter  der 
Herrschaft  einseitiger  Theorien  und  wurde  dadurch  der  Fortschritt  in 
der  pathologischen  Anatomie  einigermassen  gehemmt.  Immerhin  ent- 
standen hier  in  dieser  Zeit  doch  eine  ganze  Reihe  von  zum  Teile  wert- 
vollen einschlägigen  Lehr-  und  Handbüchern  und  Atlanten,  welche 
jedoch  im  allgemeinen  keine  wesentlichen  neuen  Gesichtspunkte 
brachten. 

Die  betreffenden  Autoren  waren: 

Alois  Rudolf  Vetter  (1765—1806,  zuerst  pathologischer  Pro- 
sektor in  Wien,  dann  Professor  der  Anatomie  und  Physiologie  in 
Krakau) 

Aphorismen  aus  der  pathologischen  Anatomie,  Wien  1803.  Ein  kurzes  Lehr- 
buch der  allgemeinen  und  speziellen  pathologischen  Anatomie  auf  zahlreiche  Leichen- 
öffnungen basiert  mit  einer  allerdings  nicht  glücklichen  allgemeinen  tabellarischen 
Systematik  aller  pathologischer  Veränderungen. 

(Der  von  Vetter  angekündigte  2.  Band,  der  die  Ki-ankheiten 
der  Zeugungs-  und  Sinneswerkzeuge  und  der  gemeinschaftlichen  Teile 
des  Körpers  behandeln  sollte,  ist  nicht  erschienen.) 

Friedrich  Gotthilf  Voigtel  (1790—1813,  Arzt  in  Eisleben) 

Handbuch  der  pathologischen  Anatomie.  Mit  Zusätzen  von  P.  F.  Meckel, 
3  Bde.,  Halle  1804  —1805.  Sehr  fleissiges  Kompenditim  der  pathologisch-anatomischen 
Kasuistik  der  verschiedensten  Autoren. 

Johann  Friedrich  Meckel  (der  Enkel)  (1781-1833,  Pro- 
fessor der  Anatomie  und  Physiologie  in  Halle) 

Handbuch  der  pathologischen  Anatomie,  2  Bde.,  Leizip  1812—1818.  Grosses 
Handbuch  der  allgemeinen  pathologischen  Anatomie,  icelches  hauptsächlich  die  an- 
geborenen und  erworbenen  Fehler  der  Form,  aber  auch  die  sonstigen  Anomalien  wie 
Entzündungen,  Neoplasmen,  Parasiten  und  Konkretionen  behandelt,  sehr  viel  Litteratur 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  523 

bringt  und  auch  eigene  Beobachtungen  enthält.  Demselben  reiht  sich  icürdig  an  der 
leider  unvollendet  gebliebene  Atlas :  Tabulae  anatomico-pathologicae,  4  Fase.  Leipzig 
1817—1826. 

Adolph  Wilhelm  Otto  (1786—1845,  Professor  der  Anatomie 
in  Breslau) 

Handbuch  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen  und  der  Thiere,  Breslau 
1814.  Kurze  Aufzählung  der  pathologischen  Veränderungen  beim  Menschen  und  den 
Tieren  mit  Citaten. 

Lehrbuch  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen  und  der  Thiere,  Berlin 
1830:  engl.  London  1831.  Dasselbe  tcar  gedacht  als  zweite  Auflage  des  Handbuches. 
Es  ersshien  aber  nur  der  erste  Band.  Otto  giebt  zuerst  eine  allgemeine  Auseinander- 
setzung der  überhaupt  vorkommenden  Formen  von  regelwidrigem  Verhalten  und  be- 
spricht dann  die  pathologische  Anatomie  verschiedener  Gewebssysteme. 

Die  pathologisch  -  anatomischen  Veränderungen  teilt  Otto  nach 
den  physikalischen  Verhältnissen  in  10  Klassen  ein: 

1.  Fehler  in  Ansehung  der  Zahl,  2.  der  Grösse,  3.  der  Gestalt, 
4.  der  Lage,  5.  der  Verbindung,  6.  der  Farbe,  7.  der  Konsistenz,  8.  der 
Kontinuität,  9.  der  Textur  und  10.  des  Inhaltes. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  war  dann  sein  grosses  teratologisches 
Werk: 

Monstrum  sexcentorum  descriptio  anatomica,   Würzbttrg  1841. 

Georg  Wilhelm  Christoph  Consbruch  (geboren  1764,  Arzt 
in  Herford  und  Bielefeld) 

Taschenbuch  der  pathologischen  Anatomie  für  Aerzte  und  Wundärzte,  Leipzig 
1820.    Eine  kurze  spezielle  pathologische  Anatomie  kompilatorischen  Charakters. 

Johann  Friedrich  Herrmann  Albers  (1805—1867,  Pro- 
fessor der  Medizin  in  Bonn) 

Atlas  der  pathologischen  Anatomie  für  praktische  Aerzte,  4  Bde.,  Bonn  1832 — 
1867^  enthält  ausser  Kopien  auch  viele  eigene  Abbildungen. 

Allgemeine  Pathologie,  2  Bde.,  1842 — 1844. 

Johann  Wilhelm  Arnold  (1801—1873,  Professor  der  Ana- 
tomie in  Zürich,  dann  praktischer  Arzt  in  Heidelberg) 

Lehrbuch  der  pathologischen  Physiologie  des  Menschen,  Zürich  1837 — 1839. 

Julius  Vogel  (1814 — 1880,  Professor  der  Medizin  in  Halle) 

Icones  histologiae  pathologicae,  Leipzig  1843:  der  erste  Atlas  der  pathologischen 
Histologie, 

Pathologische  Anatomie  des  menschlichen  Körpers.  Allgemeiner  Theil,  Leipzig 
1845,  besonders  icichtig  für  die  pathologische  Histologie. 

Viel  bedeutender  als  der  Atlas  und  das  Lehrbuch  waren  aber  die 
Untersuchungen  Vogels  über  Eiterung,  Blutmischung  und  Harn- 
analyse : 

Physiologisch -pathologische  Untersuchungen  über  Eiter  und  Eiterung,  Er- 
langen 1838, 

Die  Störungen  der  Blutmischung  in  Virchoics  Hdb.  d.  spec.  Path.  u.  Ther., 
Erlangen  1854, 

mit  Neubauer ,  Anleitung  der  qualitativen  und  quantitativen  Analyse  des 
Harns,   Wiesbaden  1854.  10.  Auflage  1898,  bearbeitet  von  Huppert, 

Franz  Ludwig  Fick  (1813 — 1858,  Professor  der  Anatomie  in 
Göttingen) 

Abriss  der  pathologischen  Anatomie,  Cassel  1839.    Ein  ganz  kurzes  Kompendium. 

Carl  Ewald  Hasse  (geboren  1810,  Professor  extraordiuarius 
der  pathologischen  Anatomie  in  Leipzig,  dann  Professor  der  medi- 
zinischen Klinik  in  Zürich,  Heidelberg  und  Göttingen) 


524  H.  Chiari. 

Specielk  pathologische  Anatomie.  I.  Bd.  Anatomische  Beschreibung  der  Krank- 
heiten der  Circulations-  und  Respirationsorgane,  Leipzig  1841.  Dieses  gross  ange- 
legte Werk  wurde  nicht  fortgesetzt. 

Eine  ganz  exceptionelle  Stellung  nimmt  aber  ein  das 

Handbuch  der  rationellen  Pathologie,  2  Bde.,  Braunschweig  1846 — 1853 

von  Friedrich  Gustav  Jacob  Henle  (1809 — 1885,  Professorder 
Anatomie  in  Zürich,  Heidelberg  und  Göttingen),  indem  Henle  hier 
mit  grossartigem  Scharfsinne  seine  zum  grossen  Teile  ganz  neuen 
Theorien  entwickelte  und  wie  schon  früher  in  seinen  „pathologischen 
Untersuchungen"  (Berlin  1840)  geradezu  divinatorisch  für  die  parasitäre 
Natur  der  miasmatisch-contagiösen  Krankheiten  eintrat. 

Eine  kurze  Sektionstechnik  für  pathologische  Sektionen  publizierte 
Joseph  Anton  Oechy  (gest.  1810,  Prosektor  am  anatomischen 
Theater  in  Prag) 

Antveisung  zur  zweckmässigen  zierlichen  Leicheneröffnung  und  Untersuchung, 
Prag  1802. 

Es  erfolgten  auch  Mitteilungen  pathologisch-anatomischer  Befunde 
von  Seite  der  Praktiker,  Internisten  wie  Chirurgen  und  auch  von 
Seite  einzelner  Anatomen  und  zwar  teils  selbständig,  teils  in  ihren 
sonstigen  Werken: 

Jakob  Conrad  Flachisland  (1758—1825,  Arzt  in  Karlsruhe) 

Observationes  pathologico-anatomicae,  Rastatt  1800, 

Johann  Moriz  David  Herold  (1790—1862) 

Dissertatio  exhibens  observata  quaedam  ad  corporis  humani  partium  structuram 
et  conditionem  abnormem,  Marburg  1812, 

Johann  Friedrich  Blumenbach  (1752—1840,  Professorder 
Medizin  in  Göttingen) 

De  anomalis  et  vitiosis  quibusdam  7iisus  formationis  aberrationibus  commen- 
tatio,  Göttingen  1813, 

Wilhelm  Gottlieb  Kelch  (1776— 1813,  Professor  der  Medizin 
in  Königsberg) 

Beiträge  zur  pathologischen  Anatomie,  Berlin  1813, 

Anton  Ferdinand  Fowe 

Dissertatio  sistens  animaäversiones  in  anatomiam  pathologicam,  Berlin  1815, 

Friedrich  Tiedemann  (1781 — 1861,  Professor  der  Zoologie 
und  Anatomie  in  Landshut,  später  auch  der  Physiologie  in  Heidelberg) 

Anatomie  der  kopflosen  Missgeburten,  Landshut  1813, 

Von  der  Verengerung  urd  Verschliessung  der  Pulsadern  in  Krankheiten,  Heidel- 
berg 1843, 

Gottfried  Fleischmann  (1777— 1850,  Professor  der  Anatomie 
in  Erlangen) 

Leichenöffmmgen,  Erlangen  1815, 

Carl  Friedrich  Burdach  (1776—1847,  Professor  der  Ana- 
tomie und  Physiologie  in  Dorpat  und  Königsberg) 

Berichte  von  der  königlichen  anatomischen  Anstalt  zu  Königsberg,  Leipzig 
1818—1823, 

Carl  Friedrich  Heusinger  v.  Waldegg  (1792—1883,  Pro- 
fessor der  Anatomie  und  Physiologie  in  Würzburg,  dann  Professor  der 
medizinischen  Klinik  in  Marburg) 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  525 

Befrachtungen  und  Erfahrungen  über  die  Entzündung  und  Vergrösserung  der 
Milz,  Eisenach  1820; 

Nachträge  hierzu,  Eisenach  1823, 

Physiologisch-pathologische  Untersuchungen,  Eisenach  1823, 
Milzbrandkranliheiten  der  Thiere  und  des  Menschen,  Erlnngen  1830. 

Christian  Friedrich  Nasse  (1778 — 1851,  Professor  der 
Medizin  in  Halle  und  Bonn) 

Leichenöffnungen  zur  Diagnostik  und  pathologischen  Anatomie,  Bonn  1821, 
I.  Reihe, 

Heinrieh  Friedrich  Isenflamm  (1771 — 1828,  Professorder 
Anatomie  und  Physiologie  in  Dorpat) 

Anatomische  Untersuchungen,  Erlangen  1822, 

Maximilian  Joseph  v.  Chelius  (1794 — 1876,  Professor  der 
Chirurgie  in  Heidelberg) 

Handbuch  der  Chirurgie,  Heidelberg  1822—1823,  2  Bde.:  8.  Auflage  1858;  in 
11  Sprachen  übersetzt. 

Zur  Lehre  von  den  schicammigen  Ausicüchsen  der  harten  Hirnhaut  und  der 
Schädelknochen,  Heidelberg  1831, 

Conrad  Johann  Martin  Langenbeck  (1776 — 1851,  Pro- 
fessor der  Anatomie  und  Chirurgie  in  Göttingen) 

Nosologie  und  Therapie  der  chirurgischen  Krankheiten,  Göttingen  1822 — 1850, 
Abhandlung  von  den  Leistenbrüchen  und  Schenkelbrüchen,   enthaltend  die  ana- 
tomische Beschreibung  und  die  Behandlung  derselben,  Göttingen  1821,  mit  11  Tafeln, 

Heinrich  Helmerich  Spitta  (1799—1860,  Professor  der 
Medizin  in  Rostock) 

Die  Leichenöffnung  in  Bezug  auf  Pathologie  und  Diagnostik,  Stendal  1826, 

Carl  Heller  (Arzt  in  Stuttgart) 

Beiträge  zur  pathologischen  Anatomie,  Stuttgart  1835, 

Johann  Lucas  Schoenlein  (1793 — 1864,  zuerst  Privatdozent 
für  pathologische  Anatomie  in  Würzburg,  dann  Professor  der  medi- 
zinischen Klinik  in  Würzburg,  Zürich  und  Berlin,  der  Begründer  der 
„naturhistorischen"  Schule  in  Deutschland) 

Ueber  Krystalle  im  Darmcanal  bei  Typhus  abdominalis,  J.  Müllers  Arch.  f. 
Anat.  1836, 

Zur  Pathogenie  der  Impetigines,  ibidem  1839, 

Klinische   Vorträge  in  der  Charite,  Berlin  1842,  ed.  Güterbock, 

Bernhard  Mohr 

Beiträge  zur  pathologischen  Anatomie,  1.  Tli.  Stuttgart  1838;  IL  TJi.  Kitzingen 

Friedrich  Peter  Ludwig  Cerutti  (1789—1858,  Professor 
der  Medizin  in  Leipzig) 

Collectanea  quaedam  de  phthisi  pulmonum  tuberculosa,  Leipzig  1839, 

David  Gruby  (geboren  1814,  Arzt  in  Wien,  später  in  Paris) 

Observationes  microscopicae  ad  morphologiam  pafhologicam  spectantes,  Wien  1840, 

Carl  Herrich  (1808—1854,  Arzt  in  Regensburg)  und 
Carl  Popp  (1812—1875,  Arzt  in  Regensburg) 

Ueher  bösartige  Fremdbildtmgen   des  menschlichen  Körpers,   Regensburg  1841, 
Ueber  den  plötzlichen  Tod  aus  inneren   Ursachen,   Regensburg  1848;  2.  Aufl. 

von  Popp  mit  neuen  Beobachtungen,  Regensburg  1854, 

Popp,    Untersuchungen   über   die  Beschaffenheit  des  menschliche7i  Blutes  in 

verschiedenen  Krankheiten,  Leipzig  1843, 


526  ^  H.  Chiari. 

Carl  von  Basedow  (1799 — 1854,  Arzt  in  Merseburg) 

Exophthalmus  durch  Hypertrophie  des  Zellgetvebes  in  der  Äugenhöhle,  Casper's 
Wach.  1840. 

Weiter  wurden  einzelne  pathologiscli-anatomisclie  Veränderungen 
speziell  bearbeitet,  so 

die  Thrombose  der  Blutgefässe  von  Benedict  Stilling 
(1810—1879,  Arzt  in  Cassel) 

Die  Bildung  und  Metamorphose  des  Blutpfropfes  oder  Thrombus  in  verletzten 
Blutgefässen,  Eisenach  1834, 

die  Missbildungen  von  Friedrich  August  v.  Ammon 
(1799 — 1861,  Professor  an  der  chirurgisch-medizinischen  Akademie  in 
Dresden) 

Die  angeborenen  Krankheiten  des  Menschen  in  Abbildungen  dargestellt,  Berlin  1842 

und  Hans  Carl  Leopold  Barkow  (1798- 1873,  Professor  der 
Anatomie  in  Breslau) 

De  monstris  duplicibus  verticibus  inter  se  junctis,  Berlin  1821,  D.  i., 
Monstra  animalium  duplicia  per  anatomen  indagata,  Leipzig  1828, 
Beiträge  zur  pathologischen  Entwicklungsgeschichte,  Breslau  1854 — 1871, 
lieber  Pseudacormus,  Breslau  1854, 

die  Geschwülste  von  Franz  Julius  Ferdinand  Meyen 

(t  1840) 

Untersuchungen  über  die  Natur  parasitischer  Geschwülste,  Berlin  1828 

und  Johannes  Müller  (1801—1858,  Professor  der  Anatomie 
und  Physiologie  in  Bonn  und  Berlin) 

TJeher  den  feineren  Bau  der  krankhaften  Geschivülste,  Berlin  1838  (durch 
dieses  Werk  wurde  die  pathologische  Histologie  zur  eigentlichen  Geltung  gebracht), 

die  Hernien  von  Franz  Caspar  Hesselbach  (1759-1816, 
Prosektor  und  Chirurg  in  Würzburg) 

Anatomisch-chirurgische  Abhandlung  über  den  Ursprung  der  Leistenbrüche, 
Würzburg  1806, 

Neueste  pathologisch-anatomische  Untersuchung  über  den  Ursprung  und  das 
Fortschreiten  der  Leistenbrüche,  Würzburg  1814 

und  Adam  Caspar  Hesselbach  (1788—1856,  Prosektor  in 
Würzburg,  dann  Professor  der  Chirurgie  in  Bamberg) 

Die  Lehre  von  den  Eingeweidebrüchen,   Würzburg  1829 — 1830, 
Die  Erkenntniss  und  Behandlung   der  Eingeweidebrüche,   durch  naturgetreue 
Abbildungen  erläutert,  Nürnberg  1840 — 1841, 

die  Hautkrankheiten  von  Conrad  Heinrich  Fuchs 
(1803—1855,  Professor  der  Medizin  in  Würzburg  und  Göttingen) 

Die  krankhaften  Veränderungen  der  Haut  und  ihrer  Anhänge  in  nosologischer 
und  therapeutischer  Beziehung,  Göttingen  1840 — 1841 

und  die  Helminthologie  durch  Carl  Asmund  Rudolphi 
(1771—1832,  Professor  der  Medizin  in  Greifswald  und  Berlin) 

Entozoorum  siv  vermium  intestinalium  historia  naturalis,  Amsterdam  1808 — 
1810, 

Entozoorum  Synopsis,  Berlin  1819, 

Johann  Georg  Bremser  (gestorben  1827,  Konservator  am 
naturgeschichtlichen  Museum  in  Wien) 

Ueber  lebende  Würmer  im  lebenden  Menschen,   Wien  1819, 

Icones  helminthum  syst.  Rudolphii  entozool.   cum  illustr.,  3  Vol.,    Wien  1823 


I 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  527 

und  Carl  Moritz  Diesing-  ("1800 — 1867,  1.  Gustos- Adjunkt  am 
naturgeschichtlichen  Museum  in  Wien) 

Systema  helminthum,   Wien  1850 — 1851,  2  Bde. 

An  mehreren  Universitäten  entstanden  besondere  Lehrkanzeln  für 
pathologische  Anatomie.  So  wurde  in  Wien  im  Jahre  1821  der  patho- 
logische Prosektor  des  k.  k.  allgemeinen  Krankenhauses  Biermayer. 
seit  1811  in  der  genannten  Eigenschaft  thätig  als  Nachfolger  Vetters, 
der  von  1796 — 1803  der  erste  pathologische  Prosektor  in  Wien  ge- 
wesen war  und  in  dem  unter  dem  Einflüsse  von  Peter  Frank  ge- 
gründeten pathologisch-anatomischen  Museum  400  pathologisch-ana- 
tomische Präparate  gesammelt  hatte,  zum  ausserordentlichen  Professor 
der  pathologischen  Anatomie  ernannt  mit  der  Verpflichtung,  unent- 
geltliche Vorlesungen  über  pathologische  Anatomie  zu  halten.  Sein 
Nachfolger  war  Johannes  Wagner  (1800 — 1832),  der  trotz  seines 
frühzeitigen  Todes  eine  Eeihe  wertvoller  Arbeiten  lieferte: 

Dissertatio  inauguralis  sistens  mutationes  intestinorum  villosae  in  phthisi 
tuberculosa  et  febri  nervosa,   Wien  1824. 

4  Fälle  von  Hydrophobie  durch  Obductionsberichte  bekgt,  Oest.  med.  Jahrb.  1827, 
Einige  Formen  von  Darmgeschwüren  pathologisch-anatomisch  betrachtet,  ibidem. 
Einige  Bemerkungen  über  die  Choleraepidemie  in  Wien  aus  dem  pathologisch- 
anatomischen Gesichtspunkte,  ibidem  1832, 

lieber  innere  Brüche,  Med.  Jahrb.  d.  k.  k.  öst.  Staates  1833. 

Nach  ihm  wurde  dann  zum  pathologischen  Prosektor  und  ausser- 
ordentlichen Professor  für  pathologische  Anatomie  CarlEokitansky 
ernannt  und  1844  ein  Ordinariat  für  pathologische  Anatomie,  das  erste 
in  Oesterreich,  geschaifen. 

In  Berlin  entstand  zunächst  nur  eine  pathologische  Prosektur  in 
der  Charite  im  Jahre  1831.  Der  erste  Prosektor  war  Philipp 
Phöbus  (1804—1880,  1831—1832  pathologischer  Prosektor  in  Berlin, 
dann  Professor  der  Pharmakologie  in  Giessen).  An  pathologisch-ana- 
tomischen Arbeiten  veröffentlichte  er: 

De  concrementis  venarum  osseis  et  calculosis,  Berlin  1832, 

lieber  den  Leichenbefund  bei  der  asiatischen  Cholera,  Berlin  1838. 

Ihm  folgte  1833  Robert  Froriep  (1804-1861,  Professor  der 
chirurgischen  Anatomie),  der  bis  zum  Jahre  1846  als  Prosektor  und 
Konservator  des  pathologischen  Museums  fungierte  und  sich  durch 
seine  Illustrationswerke  grosse  Verdienste  erwarb. 

Chirurgische  Kupfertafeln,   Weimar  1820 — 1848, 
Klinische  Kupfertafeln,   Weimar  1820 — 1837. 

1846— 1849  war  Rudolf  Virchow,  1849—1852  Benno  Ernst 
Friedrich  Reinhardt  (1820—1852),  1852—1856  Heinrich 
Meckel  ab  Hemsbach  (1821 — 1856)  pathologischer  Prosektor. 
Diese  Prosektoren  hielten,  wie  namentlich  Virchow,  Kurse  über 
pathologische  Anatomie  und  publizierten  zahlreiche  pathologisch-ana- 
tomische Arbeiten,  unter  denen  besonders  hervorzuheben  sind 

die  pathologisch-anatomischen  Untersvichungen  von  Reinhardt,  Berlin  1852, 
Ed.  Leiibuscher,  welche  eigentlich  ein  kurzgefasstes  Lehrbuch  der  allgemeinen  patho- 
logiscJien  Anatomie  darstellen  und 

die  Mikrogeologie  (lieber  die  Concremente  im  thierischen  Körper)  von  Meckel, 
Berlin  1856,  ed.  Billroth,  mit  von  Meckel  selbst  gezeichneten  schönen  Abbildungen. 

Die  Professur  für  pathologische  Anatomie  war  aber  wie  die  für 
Physiologie   mit  der  Lehrkanzel   für  normale  Anatomie   vereint   und 


528  H.  Chiari. 

erst  im  Jahre  1856  wurde  über  Antrag  von  Johannes  Müller  eine 
selbständige  Lehrkanzel  für  pathologische  Anatomie  in  Berlin  errichtet 
und  für  dieselbe  Rudolf  Virchow  aus  Würzburg  berufen. 

Das  erste  Ordinariat  in  Deutschland  für  pathologische  Anatomie 
wurde  1849  für  Rudolf  Virchow  in  Würzburg  creiert. 

Beschreibungen  pathologisch-anatomischer  Musealpräparate  lieferten 

Friedrich  Benjamin  Oslander  (1759—1822,  Professor  der 
Medizin  und  Entbindungskunst  in  Göttingen) 

Epigrammata  in  complures  musei  anatomici  res,  Göttingen  1807 ;  2.  Aus- 
gabe 1814, 

Friedrich  Peter  Ludwig  Cerutti 

Beschreibung  der  pathologischen  Präparate  des  anatomischen  Museums  zu 
Leipzig,  Leipzig  1819, 

Pathologisch-anatomisches  Museum,  Leipzig  1821 — 1824, 

Biermayer 

Museum  anatomico-pathologicum  nosocomii  tmiversalis  Vindobonensis,  Wien  1816 

Adam  Caspar  Hesselbach 

Beschreibung  der  pathologischen  Präparate,  welche  in  der  k.  anatomischen 
Sammlung  zu  Würzburg  aufbewahrt  werden,  Giessen  1824, 

Adolph  Wilhelm  Otto 

Verzeichniss  der  anatomischen  Präparatensammlung  des  k.  Anatomie-Institutes 
in  Breslau,  Breslau  1826, 

Carl  Friedrich  Heusinger  v.  Waldegg 

Bericht  von  der  kgl.  anatomischen  Anstalt  zu  Würzburg,  Würzburg  1826, 

August  Franz  Joseph  Carl  Mayer  (1787—1865,  Professor 
der  Anatomie  in  Bern  und  Bonn) 

Systematischer  Katalog  der  Präparate  des  anatomischen  Museums  der  Uni- 
versität zu  Bonn,  Bonn  1830, 

Carl  Wilhelm  Wutzer  (1789—1863,  Direktor  der  Chirurgen- 
schule in  Münster,  dann  Professor  der  Chirurgie  in  Halle  und  Bonn) 

und  Caspar  Theobald  Tourtual  (1802 — 1865,  Lehrer  der 
Anatomie  und  Chirurgie  in  Münster) 

Bericht  über  die  anatomische  Anstalt  in  Münster 
I.  Bericht  (Wutzer),  Münster  1831, 
IL  Bericht  (Tourtual),  Münster  1833, 

und  AntonRömer  (geb.  Ende  des  18.  Jahrhunderts,  Professor 
der  Anatomie   an   der  medizinisch-chirurgischen  Josephsakademie  in 

Wien) 

Specielles  Verzeichniss  der  Präparate  der  medidnisch- chirurgischen  Josephs- 
Akademie,  Wien  1837. 

In  Belgien  und  Holland  wurde  in  den  ersten  Decennien  des 
19.  Jahrhunderts  relativ  wenig  für  pathologische  Anatomie  geleistet. 

Zusammenstellungen  pathologisch-anatomischer  Befunde  veröffent- 
lichte 

Jacob  Ludwig  Conrad  Schröder  van  der  Kolk  (1797 — 
1862,  Professor  der  Anatomie  und  Physiologie  in  Utrecht) 

Observationes  anatomico-pathologici  et  practici  argumenti,  Amsterdam  1826. 

Diesem  Forscher  verdankt  die  Pathologie  auch  wichtige  Unter- 
suchungen in  der  pathologischen  Anatomie  des  Nervensystems 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  529 

Hei  fijnere  samenstel  en  de  iverking  van  het  ruggemerg  en  het  verlengde  merg. 
Amsterdam  1855 — 1858;  deutsch  Braunschweig  1859 

und  die  EntdeckuDg  der  elastischen  Fasern  im  Sputum  der  Phthisiker 

Over  de   aanvezigheid    van     elastiche  vezels   in    de    Sputa   van   teringlyders    als 
teeken  eener  vomica,  Utrecht  1845;  franz.  Aachen  1850;  engl.  1857. 

In  der  gleichen  Weise  war  Jacob  Cornelis  Broers  (1795 — 
1847,  Professor  der  Chirurgie  und  Geburtshilfe  in  Leyden)  thätig 

Observationes  anatomico-pathologicae,  Leyden  1839. 

Am  meisten  förderte  aber  die  pathologische  Anatomie,  zumal  die 
pathologische  Histologie,  Gottlieb  Ginge  (1812 — 1898,  Professor 
der  Physiologie  und  Pathologie  in  Brüssel) 

Anatomisch -mikroskopische     Untersuchungen    zur    allgemeinen    und    speciellen 
Pathologie,  I.  H.  Minden  und  Leipzig  1889;  IL.  R.  Jena  1841, 
Abhandlungen  zur  Physiologie  und  Pathologie,  Jena  1841, 
Atlas  der  pathologischen  Anatomie,    Jena  184^i — 1850.    (Der  Atlas   der  patho- 
logischen Histologie  auch  als  besonderer  Abdruck,  Jena  1850.) 

Für  die  Lehre  von  den  Missbildungen  waren  sehr  wichtig  die 
Arbeiten  von  Willem  Vrolik  (1801 — 1863,  Professor  der  Anatomie 
und  Physiologie  in  Groningen,  der  Anatomie  und  Chirurgie  in  Amsterdam) 

Handboek  der  ziektekundige  ontleedkunde,  Amsterdam  1840 — 1842, 
Tabulae  ad  illustrandam  embryogenesin  hominis  et  mammalium  tarn  normalem 
quam  abnormen,  Amsterdam  1849, 

Teratology  1847  in  Todd's  Cyclopaedie. 

Vrolik  vermehrte  auch  das  von  seinem  Vater  Gerardus 
Vrolik  angelegte  Musee  Vrolik,  das  später  Eigentum  der  Universität 
Amsterdam  wurde,  sehr  vielseitig. 

Catalogue  de  la  collection  d'anatomie  humaine  comparee  et  pathologique  du 
musee   Vrolik,  Amsterdam  1865,  von  Justus  Lodewyk  Dusseau. 

Beschreibungen  pathologisch -anatomischer  Präparate  aus  dem 
anatomischen  Museum  in  Utrecht  lieferte  der  schon  erwähnte  Jan 
B 1  e  u  1  a  n  d 

Descriptio  musei  anatomici  academiae  Rheno-Trajectensis,  Utrecht  1826, 
Lcones  anatomico-pathologicae  partium  corpcn'is  humani,   quae  in  descriptione 
musei  inveniuntur.   Utrecht  1827. 

Auch  in  Italien  war  das  Interesse  für  die  pathologische  Ana- 
tomie zunächst  ein  geringes. 

Pathologisch-anatomische  Sektionsbefunde  publizierten 

Floriano  Caldani  (Arzt  in  Bologna) 

Osservazioifii  anatomico-patologiche,  Modemi  1806, 

Stefano  Delle-Chiaje  (geb.  1794,  Professor  der  Anatomie  in 
Neapel) 

Dissertazioni  anatomico-patologiche,  Neapel  1840, 

Folchi 

Exercitatio  pathologica  seti  multwum  morborum  historia  per  anatomen  illu- 
ftrata,  Rom  1841—1843. 

Für  die  pathologische  Anatomie  der  chirurgischen  Krankheiten 
waren  von  Wichtigkeit  die  Arbeiten  von 

Michele  Vincenzo  Malacarne  (1744 — 1816,  Professor  der 
Anatomie  in  Acqui,  der  Chirurgie  und  Geburtshilfe  in  Pavia  und  der 
Chirurgie  in  Padua) 

Ricordi  della  anatomia  chirurgica  raccolti,  Padua  1801 — 1802,  3  Vol. 
Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  34 


530  ,  H.  Chiari. 

und  Giovanni  Battista  Palletta  (1747—1832,  Chirurg  in 
Mailand) 

Exercitationes  pathologicae,  Mailand  1820 — 1826,  2   Vol. 

Pathologisch  -  anatomische  Präparate  aus  dem  Museum  in  Padua 
beschrieb 

Francesco  Luigi  Fanzago  (1770—1832,  Professor  der  Patho- 
logie und  Hygiene  in  Padua) 

Memorie  sopra  alcuni  pezzi  morbosi  conservati  nel  gabinetto  patologico  deW 
Universitä  di  Padova,  Padua  1820. 

Von  den  Slawen  ist  in  dieser  Zeit  zu  erwähnen  Paul  Nara- 
nowitsch  (1801—1874,  Dozent  für  pathologische  Anatomie,  dann 
Professor  der  pathologisch-chirurgischen  Anatomie  in  St.  PetÄ-sburg), 
der  bereits  seit  1839  Vorlesungen  über  pathologische  Anatomie  hielt 
und  eine  Eeihe  pathologisch-anatomischer  Abhandlungen  publizierte, 
deren  erste  1836  als  Dissertatio  inauguralis  erschien: 

Tractatus  de  herniis,  St.  Petersburg  1836. 

Pathologisch-anatomische  Präparate  aus  der  anatomischen  Samm- 
lung in  Moskau  beschrieb  der  von  Deutschland  dahin  berufene  Pro- 
fessor der  Anatomie  Justus  Christian  v.  Loder 

Index  praeparatorum,  quae  in  museo  Universitatis  Mosquensis  servantur, 
Moskau  1823. 

Fortschritte    der    pathologischen    Anatomie    in    dieser 
ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 

Sehr  wichtig  war  in  dieser  Zeit  das  Erscheinen  zahlreicher  L  e  h  r  - 
und  Handbücher  und  Atlanten  der  pathologischen  Ana- 
tomie, welche  nicht  bloss  die  spezielle,  sondern  auch  die  allgemeine 
pathologische  Anatomie  behandelten,  also  sich  bemühten,  in  diese 
Wissenschaft  eine  systematische  Ordnung  zu  bringen.  Manche  dieser 
Werke  wie  z.  B.  die  von  Lobstein,  Cruveilhier,  Hope,  Cars- 
well,  Meckel,  Otto  (die  erste  vergleichende  pathologische  Ana- 
tomie), Albers,  Vogel,  Hasse,  Ginge  und  vor  allem  das  unver- 
gängliche Werk  von  Heule  haben  noch  heute  Bedeutung  und  ist  ihr 
Studium  dem  Fachmanne  dringend  zu  empfehlen. 

Nicht  minder  bedeutend  waren  aber  auch  die  Leistungen  der 
pathologischen  Anatomie  in  einzelnen  Richtungen.  Man  lernte 
jetzt  immer  mehr  die  Leichenveränderungen  verstehen  und  wich 
dadurch  vielfachen  Irrtümern  früherer  Zeit  aus.  Billard  zeigte 
speziell,  dass  die  bei  den  Sektionen  häufig  gefundene  Rötung  der 
Mucosa  des  Magens  und  Darms  oft  nichts  anderes  sei  als  eine  post- 
mortale Erscheinung. 

Die  Missbildungen  des  Menschen  wurden  sehr  zahlreich  unter- 
sucht und  auch  Versuche  ihrer  Klassifizierung  gemacht  (Etienne 
und  Isidore  Geoffroy  St.  Hilaire,  Tiedemann,  Ammon, 
Vrolik  und  Barkow). 

Man  bemühte  sich,  das  Wesen  der  Entzündungen  im  allge- 
meinen zu  erkennen  (Gendrin,  Thomson,  Vogel,  Heule). 

Es  wurde  der  Begriif  des  Tuberkels  pathologisch-anatomisch 
festgestellt  (Laennec)  und  der  Nachweis  der  Identität  des  Tuberkels 
in  den  verschiedensten  Organen  erbracht  (Bayle). 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  531 

Die  Neoplasmen  wurden  in  ausgedehntem  Masse  studiert  und 
klassifiziert  (Laennec,  Bayle.  Johannes  Müller), 

Auf  dem  Gebiete  der  Herz-  und  Gefässerkrankungen 
wurden  Dank  der  physikalisch-anatomischen  Schule  in  Frankreich 
allenthalben  reiche  pathologisch  -  anatomische  Erfahrungen  erzielt 
(Corvisart,  Farre,  Hodgson,  Stokes.  Hope).  es  wurde  der 
Zusammenhang  zwischen  Herzkrankheiten  und  Eheumatismus  erkannt 
(Bouillaud),  es  wurden  die  Aneurysmen  sehr  eingehend  studiert 
(Delpech,  Breschet),  die  Gefässthrombose  bearbeitet  (Still in g) 
und  von  Basedow  der  Begriff  der  nach  ihm  benannten  Krankheit 
aufgestellt. 

Eine  sehr  wesentliche  Förderung  erfuhr  die  pathologische  Ana- 
tomie der  Lungenkrankheiten,  besonders  der  Phthise  (Laennec, 
Bayle,  Louis,  Stokes,  Schröder  van  der  Kolk)  und  der 
Pneumonie  (Chomel)  und  der  Gehirnkrankheiten  (Hooper, 
Abercrombie,  Schröder  van  der  Kolk)  und  wurde  die  Ence- 
phalomalacie  als  eigene  Erkrankung  erkannt  (Eos tan). 

Zugleich  waren  die  pathologisch- anatomischen  Erkenntnisse  hin- 
sichtlich der  Erkrankungen  des  Magens  und  Darmes  (Vetter, 
Abercrombie,  Monro  III),  des  Typhus  abdominalis  (Petit 
und  Serres.  Chomel,  Bretonneau,  Louis,  Broussais),  der 
Hernien  (Dupuytren,  Cloquet,  Cooper,  Langenbeck, 
Hesselbach  Vater  und  Sohn,  Wagner),  der  Lebergeschwülste 
(Farre)  und  Milzkrankheiten  (Heusinger). 

Bezüglich  der  Nierenkrankheiten  wurde  die  Häufigkeit  und 
Bedeutung  der  Entzündung  der  Nieren  erkannt  (Bright,  Eayer), 
die  Harnsteine  wurden  von  Bird  studiert. 

Eingehende  anatomische  Untersuchungen  erfuhren  die  Krank- 
heiten der  Hoden  (Cooper),  der  Ovarien  (Bauchet),  der 
Mammae  (Velpeau,  Cooper)  und  des  Uterus  (Hooper,  Lee), 

der  Lymphdrüsen  (Breschet)  und  der  Thymus  (Cooper), 

der  Knochen  (Dupuytren,  Howship,  Chelius)  und  der 
Gelenke  (Smith)  sowie  der  Gicht  (Todd). 

Grosse  Fortschritte  machte  auch  die  pathologische  Anatomie  der 
Hautkrankheiten  (Alibert,  Eayer,  Bateman,  Fuchs)  und 
der  Kinderkrankheiten  (Billard)  und  beschrieb  Bretonneau 
^ehr  eingehend  die  Angina  diphtheritica. 

Die  tropischen  Krankheiten  studierte  Annesly. 

Die  menschlichen  Helminthen  wurden  eingehend  bearbeitet 
(Eudolphi,  Bremser,  Diesing)  und  fällt  in  diese  Zeit  auch  die 
Entdeckung  der  Trichina  spiralis  (Hilton  und  Owen),  der  Haar- 
sackmilbe des  Menschen  (Simon  und  He  nie),  sowie  mehrerer  Phyto- 
parasiten  des  Menschen,  des  Favuspilzes  (Schönlein),  des  Tricho- 
phyton tonsurans  (Gruby)  und  des  Soorpilzes  (Vogel). 


Rokitansky  und  Virchow. 

Eine  neue  und  wohl  die  glanzvollste  Epoche  der  pathologischen 
Anatomie  wurde  dann  durch  das  Auftreten  von  Carl  Eokitansky 
und  Eudolf  Virchow  bedingt,  welche  beiden  Männer  sich  in  der 
glücklichsten  Weise  ergänzten,  so  dass  Eokitansky  sozusagen  den 

34* 


532  H.  Chiari. 

Unterbau  schuf,  auf  welchem  hierauf  Virchow  sein  grossartiges  Ge- 
bäude aufführte. 

Carl  Freiherr  von  Rokitansky  wurde  1804  in  Königgrätz 
in  Böhmen  geboren  am  19.  Februar,  studierte  das  Gymnasium  in  König- 
grätz und  Leitmeritz,  die  Medizin  in  Prag  und  Wien,  wurde  1828 
Doktor  in  Wien,  1828  Assistent  des  Professor  Wagner  daselbst,  1832 
nach  dem  Tode  Wagners  Supplent  der  Custodie  des  pathologisch- 
anatomischen Museums,  des  pathologischen  und  gerichtlichen  Prosek- 
torates  und  der  ausserordentlichen  Professur  für  pathologische  Ana- 
tomie an  der  Universität  Wien,  1834  wirklicher  Vertreter  dieser 
Stellen  und  1844  ordentlicher  Professor  der  pathologischen  Anatomie 
und  zugleich  gerichtlicher  Anatom  für  sämtliche  von  gerichtswegen  in 
Wien  vorzunehmende  Leichenöffnungen.  1875  trat  Rokitansky 
reich  an  Ehren  vom  Lehramte  zurück  und  starb  am  23.  Juli  1878. 

Die  erste  Anregung  zur  pathologischen  Anatomie  empfing  Roki- 
tansky als  Student  der  Medizin  durch  das  Stadium  der  Werke  von 
Johann  Friedrich  Meckel,  Martin  Lobstein  und  Gabriel 
A  n  d  r  a  1.  Es  brachte  ihn  das  auch  in  nähere  Berührung  mit  Professor 
Wagner,  durch  dessen  Vermittlung  Rokitansky  schon  1827  unter 
dem  Titel  „C.  R.  ad  museum  pathologico-anatomicum  Vindobonense 
practicans  non  stipendiatus"  unbesoldeter  Praktikant  am  Wiener  patho- 
logisch-anatomischen Museum  und  1828  besoldeter  Assistent  bei  der 
pathologischen  Prosektur  wurde.  Von  da  an  hatte  Rokitansky  nun 
Gelegenheit,  an  dem  selten  grossen  Leichenmateriale  dieses  Kranken- 
hauses mit  seiner  hervorragenden  Begabung,  seinem  ungeheuren  Fleisse 
und  seiner  seltenen  Geschicklichkeit  und  Gründlichkeit  in  der  ana- 
tomischen Untersuchung  bald  die  reichsten  Erfahrungen  zu  sammeln, 
so  dass  es  ganz  begreiflich  ist,  dass  er  nach  dem  Tode  Wagners, 
obwohl  erst  28  Jahre  alt,  dessen  Nachfolger  wurde.  Das  erste  von 
Rokitanskys  Hand  geschriebene  Sektionsprotokoll  stammt  vom 
23.  Oktober  1827,  im  März  1866  feierte  Rokitansky  seine  30000. 
Sektion. 

Rokitanskys  Ziel  ging  dahin,  die  Entwicklungsgeschichte  der 
pathologischen  Veränderungen  und  den  Ablauf  derselben  zu  studieren 
und  so  eine  wirklich  wissenschaftliche  Grundlage  der  klinischen  Me- 
dizin und  die  Basis  einer  pathologischen  Physiologie  zu  schafien.  Dies 
gelang  ihm  auch  in  ungeahnter  Weise.  Im  Vereine  mit  Skoda 
arbeitete  er  in  der  Richtung  der  französischen  physikalisch-anatomischen 
Schule  und  gründete  so  die  „neue  Wiener  Schule",  welche  die 
französische  Schule  durch  die  noch  viel  innigere  Verbindung  zwischen 
physikalischer  Diagnostik  und  pathologischer  Anatomie  weit  überholte 
und  die  pathologische  Anatomie  mit  einem  Schlage  zu  einer  modernen . 
Wissenschaft  machte.  Von  allen  Seiten  strömten  die  Aerzte  nach 
Wien,  um  unter  Rokitansky  und  Skoda  die  neue  Lehre  kennen 
zu  lernen  und  gegenüber  der  Scholastik  und  Dogmatik  die  Pathologie 
vom  Standpunkte  der  Naturforschung  betreiben  zu  lernen. 

Rokitansky  schuf  eigentlich  die  wissenschaftliche  pathologische 
Anatomie  ganz  neu.  .  Seine  ausgezeichneten  und  heute  noch  vielfach 
unübertroffenen  Darstellungen  der  makroskopischen  anatomischen  Ver- 
änderungen des  kranken  Körpers,  gewonnen  durch  eine  ungeheure 
Zahl  nach  einer  exakten  Methode  vorgenommener  pathologischer  Sek- 
tionen, führte  zur  Aufstellung  anatomischer  Krankheitstypen  gegen- 
über  den   früher   beliebten   symptomatischen  Krankheitsbildern. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  533 

Vielfach  vertiefte  Rokitansky  diese  seine  makroskopischen  Unter- 
suchungen durofe  mikroskopische  Forschungen,  wenn  er  auch  relativ 
spät,  nämlich  erst  1839,  überhaupt  zu  mikroskopieren  begann.  Diese 
Feststellung  der  Krankheitstypen  vom  anatomischen  Standpunkte  aus 
sozusagen  die  Schaffung  einer  „anatomischen  Pathologie" 
(Wunderlich)  bleibt  sein  unsterbliches  Verdienst  und  rief  seine 
Thätigkeit  insofern  eine  förmliche  Revolution  in  der  Medizin  hervor. 
Daher  ist  es  nicht  unpassend,  wenn  Rokitansky  mit  einem 
Kopernikus  oder  einem  Linne  verglichen  wird.  Sein  Genie  hatte 
eben  darin  ganz  richtig  das  eigentlich  Wesentliche  und  Notwendige 
erkannt  und.  was  auch  später  in  der  pathologischen  Anatomie  noch 
geleistet  wurde,  dieses  von  Rokitansky  der  pathologischen  Anatomie 
aufgedi'ückte  Gepräge  blieb  für  immer  bestehen. 

Bei  einer  solchen  grundlegenden  Art  der  Thätigkeit  Roki- 
tanskys ist  es  ganz  natürlich,  dass  er  auch  vielfach  zu  nicht 
richtigen  Anschauungen  geraten  musste  und  hatte  Virchow  gewiss 
Recht,  wenn  er  in  seiner  berühmt  gewordenen  Kritik  des  1846  er- 
schienenen I.  Bandes  des  Handbuches  der  pathologischen  Anatomie 
i.e.  der  allgemeinen  pathologischen  Anatomie  Rokitanskys  die  all- 
gemeinen Thesen  als  viel  zu  wenig  begründet  bezeichnete.  Roki- 
tansky hatte  auf  einem  fast  ganz  unbebauten  Felde  zu  arbeiten  be- 
gonnen und  zunächst  so  vieles  im  einzelnen  festzustellen  und  so  viel 
mit  irrigen  allgemeinen  Vorstellungen  bei  sich  selbst  zu  kämpfen,  dass 
er  naturgemäss  in  vielen  generellen  Fragen  nicht  das  Richtige  treffen 
konnte.  Er  war  der  „erste  wahre  deskriptive  pathologische 
Anatom",  wie  Virchow  treffend  sagte.  Darin  lag  seine  Grösse 
und  darum  ist  seine  spezielle  pathologische  Anatomie  um  so  unendlich 
viel  mehr  wert  als  seine  allgemeine  pathologische  Anatomie. 

Die  mit  der  Zeit  unaufhaltsam  fortschreitende  pathologisch-ana- 
tomische Forschung  hat  klar  bewiesen,  dass  Rokitanskys  Krasen- 
lehre,  seine  Anwendung  der  Schwann  sehen  Blastemlehre  auf  die 
pathologische  Anatomie,  seine  Lehre  von  den  Ausschliessungen  etc. 
unhaltbar  waren.  Das  thut  aber  der  grossen  Bedeutung  Roki- 
tanskys sicherlich  keinen  Abbruch.  Rokitansky  selbst  aner- 
kannte bereitwilligst  die  bessere  Erkenntnis  anderer  und  war  das 
gewiss  einer  seiner  glänzendsten  Charaktereigenschaften.  Vergleicht 
man  in  dieser  Richtung  die  3.  Auflage  seines  Handbuches  mit  der 
1.  Auflage,  so  sieht  man  leicht  den  gewaltigen  Unterschied. 

Das  Resultat  der  Thätigkeit  Rokitanskys  kann  nicht  besser 
zusammengefasst  werden  als  durch  seine  eigenen  Worte  in  seiner  Ab- 
-chiedsrede  im  Jahre  1875  anlässlich  seines  Rücktrittes  vom  Lehramte 
Wien.  med.  Jahrb.  1875): 

-Ich  habe  einem  Bedürfnisse  meiner  Zeit  gemäss  die  pathologische 
Anatomie  vor  allem  im  Geiste  einer  die  klinische  Medizin  befruchtenden 
Forschung  betrieben  und  ihr  auf  deutschem  Boden  jene  Bedeutung  errungen, 
dass  ich  dieselbe  meinen  Zuhörern  als  das  eigentliche  Fundament  einer 
uathologischen  Physiologie  und  als  die  elementare  Doktrin  für  Naturforschung 
auf  dem  Gebiete  der  Medizin  bezeichnen  konnte.  Wie  sie  das  klinische 
Wissen  fester  begründet,  erweitert  und  ergänzt  hat,  so  hat  sie,  nachdem  sie 
sich  zur  pathologischen  Histologie  vertieft,  eine  pathologische  Chemie  ange- 
bahnt, eine  Experimentalpathologie  ins  Leben  gerufen,  um  sich  selbst  durch 
die  Forschung    im    lebenden  Tiere    zu    ergänzen.     Sie    hat    in    dem  innigen 


534  '  H.  Chiari. 

Yerkehre  mit  allen  medizinischen  Doktrinen  nicht  nur  Licht  am  Kranken- 
bette gemacht  und  vielfaches  Heil  gebracht,  sondern  auch '-die  "Wissenschaft 
vom  Leben  überhaupt  und  damit  das  E,eich  der  Naturwissenschaften  er- 
weitert. Sie  klärt  durch  ihre  Nachweise  ebensowohl  täglich  Krankheit  und 
Tod  ihren  Umrissen  nach  auf,  als  sie  zur  histologischen  Forschung  vertieft, 
dieselben  in  bestimmten  Zuständen  der  Elemente  der  erkrankten  organisierten 
Materie  begründet  und  hier,  vor  weitere  Fragen  gestellt,  auf  das  abstruse 
Oebiet  der  Krankheitsvorgänge  und  ihrer  Bedingungen  hinleitet.  Sie  hat 
dadurch  auch  den  Laien  gezeigt,  welche  Erfolge  die  materielle  Forschung 
erzielt,  und  es  ist  unzweifelhaft  ihr  zum  grossen  Teile  zu  danken,  dass  das 
Zutrauen  zur  materiellen  Forschung,  zum  Studium  der  Natur,  zu  den  Natur- 
wissenschaften in  den  weitesten  Kreisen  gestärkt  und  gesteigert  worden  ist; 
dass  das  auf  diesem  Wege  geschaffene  Wissen  Aufnahme  und  Geltung  er- 
langt hat ;  dass  Denken  und  Urteil  auf  würdige  Objekte  gewiesen,  in  natur- 
gemässe  Bahnen  geleitet  worden  sind." 

Die  wissenschaftlichen  Publikationen  Rokitanskys  sind  geradezu 
klassisch  zu  nennen.    Schon  seine  ersten  Arbeiten 

Leistungen  der  pathologisch-anatomischen  Lehranstalt  an  der  Wiener  Univer- 
sität während  der  Schuljahre  183112 — WSSjö,  Med.  Jahrb.  d.  öst.  Staates  XVII^XIX., 
XXII—XXIIL  Bd., 

lieber  innere  Darmeinschnürungen,  ibidem  XIX.  Bd.  und 

lieber  Darmeinschnürung,  ibidem  XXIII.  Bd. 

zeigten  von  seiner  gewaltigen  Kraft,  seiner  klaren  Auffassung  und  ge- 
diegenen Gründlichkeit. 

1842  erschienen  der  2.  und  3.  Band  seines  Handbuches  der  patho- 
logischen Anatomie  i.  e.  die  spezielle  pathologische  Anatomie  (Wien) 
und  1846  der  1.  Band,  die  allgemeine  pathologische  Anatomie;  3.  Auf- 
lage unter  dem  Titel: 

Lehrbuch  der  pathologischen  Anatomie  1.  Bd.  1845;  2.  Bd.  1856;  3.  Bd.  1861, 
Wien. 

Es  ist  dieses  Werk  das  Fundamental  werk  Rokitanskys,  das  in 
seinem  2.  u.  3.  Bande  für  immer  vom  grössten  Werte  bleiben  wird. 

In  der  Einteilung  der  pathologischen  Anatomie  folgte  Roki- 
tansky dem  Vorgange  Ottos,  indem  er  die  gleichen  10  physikalischen 
Gruppen  der  pathologischen  Veränderungen  unterschied.  Diese  Ein- 
teilung musste  für  die  damalige  Zeit  in  der  That  zweckmässig  ge- 
nannt werden,  da  es  sich  darum  handelte,  überhaupt  erst  die  bei  den 
Sektionen  in  Erscheinung  tretenden  Abweichungen  von  der  Norm  im 
allgemeinen  festzuhalten  und  in  objektiver  Weise  zu  gruppieren. 

Die  speziellen  Arbeiten  Rokitanskys  erschienen  zum  grössten 
Teile  in  den  med.  Jahrb.  d.  öst.  Staates 

lieber  die  Knochenneubildung  auf  der  inneren  Schädelfläche  Schwangerer, 
XXIV.  Bd., 

lieber  spontane  Zerreissungen  der  Aorta,  XXV.  Bd., 

lieber  die  divertikelähnliche  Erweiterung  des  Luftröhrencanales,  XXV.  Bd., 

lieber  die  sogenannten  Verdoppelungen  des  Uterus,  XXVI.  Bd., 

Ueber  Combination  und  wechselseitige  Ausschliessung  verschiedener  Krankheits- 
prozesse nach  Beobachlxmgen  an  der  Leiche,  XXVI.  u.  XXVIII.  Bd., 

Ueber  das  perforirende  Magengeschwür,  XX  VII.  Bd , 

Ueber  Stricturen  des  Darmcanals  und  andere  der  Obstipation  und  dem  Ileus 
zu  Grunde  liegende  Krankheitszustände,  XXVIII.  Bd.. 

Zur  Kenntniss  der  Rückgratsverkrümmungen  und  der  mit  denselben  zusammen- 
treffenden Abweichungen  des  Brustkorbs  und  Beckens,  XXV III.  Bd., 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  535 

Beitrag  zur  Charakteristik  dyskrasischer  Entzündung  und  Vereite)-ung  am 
macerirten  Knochen,  XXVIII.  Bd., 

Der  dysenterische  Process  auf  dem  Dickdarme  nnd  der  ihm  gleiche  am  Uterus, 
vom  anatomischen  Gesichtspunkte  beleuchtet,  XXIX.  Bd., 

Skizze  der  Grössen-  und  Formabweichungen  der  Leber,  XXIX.  Bd., 

Drei  merkwürdige  Fälle  von  Erkrankung  des  Pharynx  und  Oesophagus, 
XXX.  Bd., 

Bemerkungen  und  Zusätze  betreffend  die  faserstoffigen  Gerinnungen  in  den 
Herzhöhlen,  die  Verknöcherung  der  Klappen  und  die  fettige  Entartung  des  Herz- 
fleisches, XXXIIL  Bd.. 

teils  in  der  Zeitschrift  der  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien 

Beiträge  zur  Kenntniss  der  Verknöcherungsprocesse,  1848, 

Pathologisch-anatomische  Beobachtungen,  1848, 

Ueber  die  dendritischen   Vegetationen  auf  Synovialhänten,  1851, 

teils  in  den  Denkschriften  und  Sitzungsberichten  der  mathematisch- 
naturwissenschaftlichen  Klasse  der  Akademie  der  Wissenschaften  in 
Wien 

Zur  Anatomie  des  Kropfes,  Denkschr.  1849, 

Ueber  die  Cyste,  Denkschr.  1849, 

Ueber  einige  der  wichtigsten  Krankheiten  der  Arterien,  Denkschr.  1851, 

Ueber  die  Entu-icklung  der  Krebsgtrüste  mit  Hinblick  auf  das  Wesen  und  die 
Entivicklung  anderrr  Maschemverke,  Sitz.-Ber.  1852, 

Ueber  den  Zottenkrebs,  Sitz.-Ber.  1852, 

Ueber  den  Gallertkrebs  mit  Hinblick  auf  die  gutartigen  Gallertgeschwülste, 
Sitz.-Ber.  1852, 

Ueber  die  pathologische  Neubildung  von  Brustdrüsentextur  und  ihre  Beziehung 
zum  Cystosarkom.  Sitz.-Ber.  1852, 

Ueber  das  Ausu-achsen  der  Bindegewebssubstanzen  und  die  Beziehung  desselben 
zur  Entzündung.  Sitz.-Ber.  1854, 

Ueber  Bindegeicebstcucherung  im  Nervensystem,  Sitz.-Ber.  1857. 

Selbständig  erschien  noch  im  Jahre  1875  das  hervorragende  Werk 

Die  Defecte  der  Scheidewände  des  Herzens,   Wien. 

Weiter  publizierte  Rokitansky  noch  eine  grosse  Zahl  von 
kleineren  Artikeln  in  medizinischen  Wochenschriften  zumeist  in  der 
Allgemeinen  Wiener  medizinischen  Zeitung. 

Ausser  seinen  hervorragenden  Leistungen  auf  fachlichem  Gebiete 
entfaltete  Rokitansky  aber  auch  eine  sehr  fruchtbringende  Thätig- 
keit  als  Referent  für  medizinische  Studienangelegenheiten  bei  der 
obersten  ünterrichtsverwaltung  in  Wien  und  als  Philosoph. 

In  diesen  Richtungen  sind  von  grossem  Interesse  eine  Reihe  seiner 
bei  verschiedenen  Gelegenheiten  gehaltenen  Reden: 

Zur  Orientirung  über  Medicin.  Feierlicher  Vortrag  in  der  Akademie  der 
Wissenschaften,    Wien  1858, 

Die  Conformität  der  Universitäten  mit  Rücksicht  auf  gegenwärtige  öster- 
reichische Zustände,    Wien  1868, 

Zeitfragen  betreffend  die  Universität  mit  besonderer  Beziehung  auf  die  Medicin, 
Wien  181)8, 

Der  selbständige  Werth  des  Wissens.  Feierlicher  Vortrag  in  der  Akademie 
der  Wissenschaften,    Wien  1867, 

Die  Solidarität  alles  Thierlebens.  Feierlicher  Vortrag  in  der  Akademie  der 
Wissenschaften,   Wien  1869. 

Als  Lehrer  war  Rokitansky  ungemein  gewissenhaft,  als  Pro- 
sektor unübertrefflich.  Seine  Arbeitsstätte  waren  anfangs  ganz  elende 
Räume  im  allgemeinen  Krankenhause  in  Wien  und  erst  nach  langen 
Jahren  erreichte  Rokitansky  den  Bau  eines  eigenen  pathologisch- 
anatomischen Institutes.    Dabei   zeigte  sich   der  weite  Gesichtskreis 


536  '  H.  Chiari. 

Rokitanskys,  indem  er  sofort  auch  für  die  pathologische  Chemie 
und  experimentelle  Pathologie  vorsorgte. 

Litteratur  über  Rokitansky: 

Carl  August  Wunderlich,  Wien  und  Paris;  Ein  Beitrag  zur  Geschichte 
?*.  Beurtheilung  der  gegemvärtigen  Heilkunde  in  Deutschland  und  Frankreich,  Stutt- 
gart 1841, 

Rudolf  Virchoiv,  Kritik  des  1.  Bandes  des  Rokitansky' sehen  Handbuches 
der  pathologischen  Anatomie,  Med.  Zeitung  d.  Vereines  f.  Heilkunde  in  Preussen 
1846  Nr.  48  und  50, 

Die  neue  Auflage  von  Rokitansky's  allgemeiner  pathologischer  Anatomie,  Wien, 
med.  WocJi.  1855  Ar.  26, 

Richard  Hesclü,  Carl  Rokitansky  und  die  Grundlagen  der  wissenschaftlichen 
Medicin,  Wien.  med.  Wach.  1874  Nr.  7, 

Anonymus  mit  dem  Motto  Vitam  impendere  vero,  Rokitansky,   Wien  1874, 

Richard  HescJil,  Rokitansky  und  seine  Bedeutung  für  die  medicinische 
Wissenschaft,  Die  Gegenwart  1878  Nr.  44  und  46, 

Theodor  Meynert,  Rokitansky.  Vortrag  gehalten  in  der  Sitzung  des  Ver- 
eines für  Psychiatrie  in  Wien  am  27.  November  1878, 

Richard  Heschl,  Aus  dem  Leben  Rokitansky^s.  Skizzen  mitgetheilt  bei  der 
Enthüllung  der  Gedenktafel  an  seinem  Geburtshause  zu  Königgrätz  am  3.  August  1879, 

Gustav  Scheuthauer,  Rokitansky,  Gurlt-Hirsch  Biogr.  Lexikon  der  hervor- 
ragenden Aerzte  1888, 

Anton  Weicliselhaunif  Rede  auf  Rokitansky,  gehalten  bei  Enthüllung  des 
Denkmales  Rokitansky^s  im  Arkadenhofe  der  Wiener  Universität  am  5.  Juni  1898, 
Neue  Freie  Presse  Wien  6.  Juni  1898. 

Rudolf  Virchow  wurde  am  13.  Oktober  X821  in  Schivelbein 
in  Pommern  geboren,  studierte  das  Gymnasium  in  Cöslin,  die  Medizin 
am  Friedrich -Wilhelm -Institute  in  Berlin,  wurde  1843  Doktor  in 
Berlin  mit  der  Dissertation:  De  rheumate  praesertim  corneae,  1844 
Assistent  an  Robert  Frorieps  Prosektur  an  der  Charite  in  Berlin 
und  1846  Nachfolger  Frorieps.  1847  habilitierte  sich  Virchow 
als  Privatdozent  an  der  Berliner  Universität,  1849  wurde  er  als  Ordi- 
narius für  pathologische  Anatomie  nach  Würzburg  berufen,  von  wo  er 
1856  in  der  gleichen  Eigenschaft  nach  Berlin  zurückkehrte. 

Entschieden  von  der  grössten  Bedeutung  für  Virchow s  Ent- 
wicklung Avar  der  Einfluss,  welchen  zur  Zeit  seines  medizinischen 
Studiums  in  Berlin  Johannes  Müller,  der  damals  am  Friedrich- 
Wilhelm-Institute  spezielle  pathologische  und  vergleichende  Anatomie 
und  Physiologie  lehrte  und  Johann  Lucas  Schönlein,  welcher 
ebendaselbst  spezielle  Pathologie  und  Therapie  vortrug,  auf  ihn  aus- 
übten. Durch  diese  Männer  Avurde  Virchow  zur  exakten,  streng 
wissenschaftlichen  Methodik  angeleitet,  wozu  noch  kam,  dass  gerade 
damals  durch  Mathias  Jacob  Schieiden  und  Theodor  Schwann 
die  „Zellenlehre"  aufkam.  Diese  veranlasste  Virchow,  wie  er  selbst 
sagte,  dazu,  frühzeitig  cellular  denken  zu  lernen. 

Sehr  bald  nach  seiner  Promotion  hatte  dann  Virchow  ähnlich 
wie  Rokitansky  das  Glück,  in  eine  Stellung  zu  kommen,  in  welcher 
er  reichliche  Gelegenheit  fand,  seinem  Triebe  nach  exakter  Forschung 
zu  folgen,  indem  er,  23  Jahre  alt,  Assistent  bei  Robert  Froriep 
wurde  und  damit  auch  die  chemischen  und  mikroskopischen  Unter- 
suchungen im  Dienste  der  einzelnen  Krankenabteilungen  der  Charite 
übernahm.  Als  dann  Robert  Froriep  die  pathologische  Prosektur 
der  Charite  verliess,  wurde  über  dessen  Vorschlag  Virchow  sein 
Nachfolger.  Jetzt  verfügte  Virchow  selbständig  über  ein  grosses 
Material   und  verwandte   dieses   alsbald    nicht   bloss  zur  Forschung, 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  537 

sondern  auch  zui'  Lehre.  Seinen  ersten  Kursus  hielt  Yirchow  im 
Sommersemester  1846  und  legte  er  damit  eigentlich  den  ersten  Grund 
zu  der  „Berlin  er  schule",  die  bald  die  allgemeine  Aufmerksamkeit 
auf  sich  zog.  Unter  seinen  damaligen  Arbeitsgenossen  ragten  nament- 
lich hervor  Ludwig  Traube.  Benno  Reinhardt  und  Rudolf 
L  e  u  b  u  s  c  h  e  r.  Die  ersten  Veröffentlichungen  dieser  Schule  erfolgten 
in  Traubes  Beiträgen  zur  experimentellen  Pathologie  und  Physio- 
logie, von  denen  aber  nur  2  Hefte  erschienen.  1847  fassten  dann 
V  i  r  c  h  0  w  und  Reinhardt  den  kühnen  Entschluss,  ein  eigenes  Archiv 
für  pathologische  Anatomie  und  Physiologie  und  klinische  Medizin  zu 
gründen,  dessen  I.  Band  1847  erschien.  In  dem  Prospekte  desselben 
ist  das  Ziel  dieses  Journales  mit  folgenden  Worten  charakterisiert: 

„Der  Standpunkt,  den  wir  einzuhalten  gedenken,  ist  der  einfach  natur- 
wissenschaftliche. Die  praktische  Medizin  als  die  angewendete  theoretische, 
die  theoretische  als  pathologische  Physiologie  ist  das  Ideal,  dem  wir,  so  weit 
es  unsere  Kräfte  gestatten,  zustreben  werden.  Die  pathologische  Anatomie 
und  die  Klinik,  obwohl  wir  ihre  Berechtigung  und  Selbständigkeit  voll- 
kommen anerkennen,  gelten  uns  doch  vorzugsweise  als  die  Quellen  für  neue 
Fragen,  deren  Beantwortung  der  pathologischen  Physiologie  zufällt.  Da 
aber  diese  Prägen  zum  grossen  Teile  erst  durch  ein  mühsames  und  um- 
fassendes Detailstudium  der  Erscheinungen  am  Lebenden  und  der  Zustände 
an  der  Leiche  formuliert  werden  müssen,  so  setzen  wir  eine  genaue  und  be- 
wusste  Entwicklung  der  anatomischen  und  klinischen  Erfahrungen  als  die 
erste  und  wesentlichste  Forderung  der  Zeit.  Aus  einer  solchen  Empirie 
resultiere  dann  allmählich  die  wahre  Theorie  der  Medizin,  die  pathologische 
Physiologie." 

Darin  liegt  das  Programm,  welches  Virchow  auch  später  stets 
festhielt  und  innerhalb  dessen  er  so  Grossartiges  leistete.  Dieses 
Journal  gewann  allmählich  immer  mehr  an  Bedeutung  und  hat  das- 
selbe erst  vor  kurzem  das  Jubiläum  seines  150.  Bandes  gefeiert. 

Die  ruhige  wissenschaftliche  Arbeit  Virchows  in  dieser  seiner 
ersten  Berliner  Zeit  wurde  aber  schon  im  Jahre  1848  durch  die 
politischen  Ereignisse  gestört.  Als  Virchow  im  Februar  1848  im 
Auftrage  der  preussischen  Regierung  die  verheerende  Typhusepidemie 
in  Oberschlesien  studiert  hatte,  berichtete  er  in  freimütiger  Weise 
über  die  von  ihm  daselbst  gesehenen  traurigen  sozialen  und  politischen 
Verhältnisse.  In  der  mit  Leubuscher  1848  gegründeten  medi- 
zinischen Reform  deckte  er  die  Mängel  der  öffentlichen  Hygiene  und 
des  medizinischen  Unterrichtes  in  schonungsloser  Weise  auf  und  machte 
entsprechende  Vorschläge  zur  Reform.  Das  führte  dazu,  dass  er  1849 
seiner  Prosektur  enthoben  wurde,  respektive  ihm  dieselbe  nur  gegen 
Widerruf  belassen  wurde.  In  dieser  bedrängten  Lage  traf  es  sich, 
dass  Virchow  als  ordentlicher  Professor  der  pathologischen  Anatomie 
an  die  Universität  Würzburg  berufen  wurde,  wodurch  er  wieder  Ge- 
legenheit fand,  mit  seiner  ganzen  Kraft  der  Pathologie  sich  zu  widmen. 

Der  Würzburger  Aufenthalt  Virchows  wurde  auf  diese  Art 
ungemein  fruchtbringend.  Virchow  führte  zahlreiche  spezielle 
Untersuchungen  aus  und  legte  hier  auch  den  Grund  für  seine  Cellular- 
pathologie.  Im  Vereine  mit  einer  Reihe  hervorragender  Forscher  be- 
gründete er  die  Würzburger  physikalisch-medizinische  Gesellschaft, 
deren  Verhandlungen  seine  wichtigsten  Arbeiten  aus  dieser  Zeit  ent- 
hielten.    Gleichzeitig    reorganisierte    er    die   von    Cannstadt   ge- 


538  '  H.  Chiari. 

gründeten  Jahresberichte  über  die  Fortschritte  der  gesamten  Medizin 
und  rief  ein  grosses  Sammelwerk  über  spezielle  Pathologie  und 
Therapie  ins  Leben,  welches  zum  Muster  zahlreicher  ähnlicher  Werke 
der  Zukunft  wurde.  Dabei  war  er  ein  eifrigster  Lehrer,  der  „wie 
schon  früher  Rokitansky  es  verstand,  das  Geheimnis  des  patho- 
logischen Objektes  meisterhaft  zu  entzilfern"  (Klebs)  und  auf  die 
Studierenden  den  grössten  Kinfluss  ausübte.  Würzburg  wurde  gerade 
durch  V  i  r  c  h  0  w  zu  einer  der  besuchtesten  medizinischen  Schulen  und 
zahlreich  sind  die  Namen  jener  hervorragenden  Männer,  welche  in 
Würzburg  als  engere  Schüler  aus  dem  Verkehre  mit  Virchow  für 
ihr  ganzes  Leben  die  wichtigsten  Anregungen  empfingen. 

Es  ist  darum  sehr  begreiflich,  dass  der  Ruhm  Virchows  sich 
allenthalben  verbreitete  und  man  in  Deutschland  überall  die  Not- 
wendigkeit der  Errichtung  eigener  Professuren  für  pathologische  Ana- 
tomie erkannte.  In  dieser  Erkenntnis  beantragte  Johannes  Müller 
in  Berlin,  der  nebst  der  Professur  für  normale  Anatomie  und  Physio- 
logie die  für  pathologische  Anatomie  versah,  die  Kreirung  einer  selb- 
ständigen Kanzel  für  pathologische  Anatomie  und  die  Berufung 
Virchow^s  auf  diesen  Posten,  womit  er  der  Berliner  Universität  zum 
grössten  Glänze  verhalf 

Im  Sommer  1856  übersiedelte  Yirchow  nach  Berlin  und  bezog 
das  daselbst  aus  der  pathologischen  Prosektur  der  Charite  geschalfene 
pathologische  Institut,  welches  zum  Vorbilde  für  viele  andere  Institute 
wurde.  Virchow^  entfaltete  hier  eine  grossartigste  Thätigkeit  in 
seinem  Fache.  Er  erweiterte  das  pathologisch-anatomische  Kabinet 
der  Prosektur,  das  bei  seinem  Amtsantritte  in  Berlin  nur  1500  Präparate 
zählte,  zum  grössten  pathologisch- anatomischen  Museum  der  Welt, 
dessen  Nummerzahl  gegenwärtig  mehr  als  23000  beträgt  \),  er  regte 
seine  anatomischen  und  chemischen  Assistenten  zu  selbständiger  Arbeit 
an  und  bildete  sie  zu  hervorragenden  Forschern  aus,  er  organisierte 
den  Unterricht  in  der  pathologischen  Anatomie,  er  bildete  eine  jetzt 
in  Deutschland  allgemein  verbreitete  Sektionstechnik  aus  und  forscht 
noch  heute  selbst  mit  nimmerruhender  Kraft. 

Ungemein  zahlreich  sind  die  wissenschaftlichen  Arbeiten  auf 
pathologischem  Gebiete,  die  Virchow  nunmehr  publizierte.  Sie  be- 
trafen sowohl  die  verschiedensten  speziellen  Kapitel  als  wie  auch  die 
wichtigsten  allgemeinen  Fragen. 

Ueber  alles  ragt  hervor  die  Cellularpathologie,  jenes  „wunderbare 
blendende  Bild  der  ganzen  Pathologie"  (Klebs),  welche  1858  erschien. 
Virchow  vertritt  hier  das  Prinzip,  dass  die  den  menschlichen  Orga- 
nismus zusammensetzenden  Zellen  die  Einheiten  desselben  sind,  welche 
das  normale  und  pathologische  Leben  in  sich  abspielen  lassen  und 
immer  nur  aus  ihresgleichen  entstehen,  so  dass  dafür  die  allgemein 
gültige  Formel:  „Omnis  cellula  a  cellula"  aufgestellt  werden  kann. 
Virchow  führte  diese  Anschauung  an  sämtlichen  Geweben  des 
menschlichen  Körpers  durch  und  zeigte  an  den  verschiedenen  Zellen 
ihr  Verhalten  unter  normalen  Bedingungen  und  bei  den  ver- 
schiedenen Ernährungsstörungen.  Er  nahm  dabei  den  Standpunkt  des 
sogenannten  Neovitalismus  ein,  nach  welchem  die  Erscheinungen  des 
Lebens  sich  nicht  einfach  als  eine  Manifestation  der  den  Stoffen  in- 


^)  vide   die   Rede   Virchows    bei    der   Eröffnung   des   neuen    pathologischen 
Museums  in  Berlin  am  27.  Juni  1899. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  539 

härierenden  Xaturkräfte  begreifen  lassen,  sondern  noch  als  wesentlicher 
Grund  des  Lebens  eine  Kraft  unterschieden  werden  rauss.  die  er  mit 
dem  Namen  Lebenskraft  bezeichnet,  wenn  er  auch  sagt,  dass  er  nicht 
bezweifelt,  dass  dieselbe  schliesslich  als  der  Ausdruck  einer  bestimmten 
Zusammenwirkung  physikalischer  und  chemischer  Kräfte  gedacht 
werden  muss. 

Diese  Cellularpathologie.  die  Virchow  als  Vorlesungen  auf  Grund 
stenographischer  Aufzeichnungen  1858  drucken  liess,  ist  bis  heute  in 
ihrem  Wesen  unerschüttert  und  ist  noch  immer  die  Grundlage  der  ge- 
samten modernen  Pathologie,  welche  zwai'  vielfache  Erweiterungen 
erfahren  hat,  aber  doch  mit  allen  Fortschritten  in  der  Erkenntnis  in 
bestem  Einklänge  geblieben  ist.  Mit  ihr  ist  an  Stelle  des  sogenannten 
Organizismus  d.  h.  der  Lokalisation  der  Krankheiten  in  den  Organen 
die  so  fruchtbringende  Anschauung  getreten,  dass  die  Sedes  morborum 
in  den  Zellen  selbst  zu  suchen  seien. 

Wenige  Jahre  darauf  erschien  ein  zweites  grosses  Meisterwerk 
Yirchows,  nämlich  seine  Vorträge  über  die  krankhaften  Geschwülste. 
Es  ist  das  eigentlich  eine  Fortsetzung  der  Cellularpathologie  und  des- 
wegen so  wichtig,  weil  darin  zum  erstenmal  die  Lehre  von  den  Ge- 
schwülsten auf  genetischer  Basis  dargestellt  erscheint. 

Gleichzeitig  aber  trat  eine  Eigentümlichkeit  Virchows  hervor 
und  zwar  seine  so  seltene  Vielseitigkeit.  Mit  einer  Staunen  erregen- 
den Arbeitskraft  widmete  sich  Virchow  neben  seinen  Arbeiten  auf 
dem  Gebiete  der  Pathologie  auch  eingehenden  Studien  in  der  Anthro- 
pologie, Hygiene  und  Geschichte  der  Medizin  und  fand  dabei  immer 
noch  Zeit,  im  öffentlichen  Leben  als  Mitglied  des  Berliner  Stadt- 
verordnetenkollegiums, des  preussischen  Abgeordnetenhauses  und  des 
deutschen  Eeichstages  und  im  Sinne  der  Popularisierung  der  Wissen- 
schaft thätig  zu  sein. 

Sein  Ziel  in  der  Pathologie  hat  auch  er  selbst  am  besten  in  seiner 
Antrittsrede  als  Akademiker  in  Berlin  1874  dargestellt,  indem  er  da- 
bei der  Sitte  gemäss  einen  Rückblick  auf  seine  Thätigkeit  gab.  Er 
hatte  es  sich  zui'  Aufgabe  gestellt,  die  spekulative  Humoralpathologie 
zu  beseitigen  uhd  an  ihre  Stelle  die  Pathologie  auf  naturwissenschaft- 
licher Basis  zu  fundieren  und  zu  zeigen,  dass  die  Krankheiten  nichts 
anderes  sind  als  Erscheinungen  einer  Reaktion  der  den  menschlichen 
Körper  zusammensetzenden  Zellen  gegenüber  den  Krankheitsursachen. 
Dieses  Ziel  hat  Virchow  zweifellos  erreicht  und  dadurch  di«  deutsche 
Pathologie  zur  anerkannten  Führerin  für  die  moderne  wissenschaft- 
liche Pathologie  überhaupt  gemacht. 

Virchow  hat  dabei  jederzeit  an  dem  Grundsatze  festgehalten, 
dass  das  Wichtigste  sei  die  möglichst  weite  Ausbildung  der  Methodik 
sowie  die  strengste  Selbstkritik.  So  verdanken  wir  eigentlich 
Virchow  die  Verallgemeinerung  des  pathologischen  Experimentes 
und  die  Heranziehung  der  verschiedensten  Methoden  für  die  patho- 
logische Forschung  und  wirkte  Virchow  auch  auf  die  übrigen  5Catur- 
wissenschaften  durch  seine  Methodik  ungemein  fördernd  ein. 

Die  grösseren  pathologisch-anatomischen  Werke  Virchows  sind: 

Allgemeine  Störungen  der  Ernährung  und  des  Blutes.  I. — HI.  Abschnitt  von 
Virchow's  Hdb.  d.  spec.  Path.  u.  Ther.,  Erlangen  1854, 

Gesammelte  Abhandlungen  zur  tcissenschaftlichen  Medicin,  Frankfurt  a.  M. 
1856;  2.  Aufl.  Berlin  1862, 

Untersuchungen  über  die  Entwicklung  des  Schädelgrund^s,  Berliri  1857, 


540  '  H.  Chiari. 

Die  Celhdarpathologie  in  ihrer  Begründung  auf  physiologische  und  patho- 
logische Geivehelehre,  Berlin  1858;  4.  Auflage  1871;  zugleich  1.  Bd.  der  Vorlesungen 
über  Pathologie, 

Die  krankhaften  Geschivülste,  Berlin  186S — 1867 ;  zugleich  2.,  3.  und  4.  Bd. 
der  Vorlesungen  über  Pathologie, 

Sectionstechnik,  Berlin  1876;  2.  Auf,.  1883. 

Weiter  publizierte  Virchow  eine  ungemein  grosse  Zahl  von 
Aufsätzen  pathologisch-anatomischen  Inhaltes  in  den  verschiedensten 
medizinischen  Journalen  und  zwar  namentlich  in  den  Verhandl.  d. 
physik.  med.  Ges.  in  Würzburg,  in  seinem  Archiv  und  in  der  Berl. 
klin.  Wochenschrift.  Diese  Arbeiten  erstreckten  sich  auf  alle  Teile 
der  pathologischen  Anatomie  und  wurden  von  Virchow  überall  die 
wichtigsten  Resultate  zu  Tage  gefördert.  Hervorzuheben  sind  nament- 
lich seine  Arbeiten  über  Thrombose,  Embolie,  Kalkmetastase,  patho- 
logische Pigmentation,  Amyloidose,  Leukämie,  Chlorose,  Phosphor- 
vergiftung,  Syphilis,  Trichinose,  Echinococcus  multilocularis,  Pneumo- 
nomykose, Eachitis,  Cretinismus,  pathologische  Schädelformen,  Hetero- 
topie  der  grauen  Hirnsubstanz,  Encephalitis,  peptische  Ulcera  und 
Angiome. 

Nicht  minder  bedeutungsvoll  sind  die  von  Virchow  in  längeren 
Zeitabschnitten  und  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  publizierten  Ueber- 
sichten  über  den  jeweiligen  Stand  der  pathologischen  Anatomie  und 
der  Pathologie  überhaupt,  welche  Zeugnis  geben  von  seinem  umfassenden 
Blicke  und  der  Beherrschung  des  ganzen  Gebietes  der  Pathologie. 

Ausserdem  entfaltete  Virchow  eine  rege  Referententhätigkeit 
auf  diesem  Gebiete  und  trugen  seine  kritischen  Referate  vielfach  zur 
Klärung  schwebender  Fragen  bei. 

Die  anthropologischen  Arbeiten  Virchows  erschienen  teils  selb- 
ständig, teils  in  den  Abhdl.  d.  Akad.  d.  Wissensch.  in  Berlin,  teils 
in  der  Zeitschr.  f.  Ethnologie  und  Anthropologie,  vielfach  auch  in 
der  Sammlung  gemeinverständlicher  wissenschaftlicher  Vorträge,  die 
Virchow  1866  gemeinsam  mit  Franz  v.  Holtzendorf  begründete. 

Von  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Hygiene  und  öffentlichen  Ge- 
sundheitspflege sind  besonders  zu  nennen: 

Generalbericht  über  die  Arbeiten  der  städtischen  Deputation  zur  Reinigung  und 
Entwässerung  Berlins,  Berlin  1873, 

Gesammelte  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  öffentlichen  Medicin  und  der 
Seuchenlehre*  2  Bde.,  Berlin  1879, 

mit  Guttstadt 

Die  Anstalten  der  Stadt  Berlin  für  die  öffentliche  Gesundheitspflege  und  für 
den  naturwissenschaftlichen  Unterricht,  Berlin  1886. 

Gross  ist  endlich  auch  die  Zahl  der  Publikationen  Virchows 
philosophischen  und  historischen  Inhaltes,  Es  seien  darunter  hervor- 
gehoben : 

Einigkeitsbestrebungen  in  der  ivissenschaftlichen  Medicin,  Antrittsrede  in 
Würzburg  1849, 

Vier  Beden  über  Leben  und  Kranksein,  Berlin  1862, 

lieber  die  nationale  Entwicklung  und  Bedeutung  der  Naturwissenschaften, 
Berlin  1865, 

Die  Erziehung  des  Weibes  für  seilten  Beruf,  Berlin  1865, 

Die  Aufgabe  der  Naturicissenschaften  in  dem  neuen  nationalen  Leben  Deutsch- 
lands, Berlin  1871, 

Die  Freiheit  der  Wissenschaft  im  modernen  Staate,  Berlin  1877, 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  541 

Johannes  Müller.     Eine  Gedächtnisrede,  Berlin  1858, 

Goethe  als  Xattirforscher,  Berlin  1861, 

Gedächtnisrede  auf  Johann  Lucas  Schoenlein,  Berlin  1865. 

Wichtigste  Litteratur  über  Virchow: 

Paul  ßörner,  Rudolf  Virchow  bis  zur  Berufung  nach  Würzburg,  Xord  und 
Süd  XXI.  Bd.  1882, 

Giistdv  Scheiithaiier,  Budolf  Virchow,  Gurlt-Hirsch'  Biogr.  Lexikon  der 
hervorragenden  Aerzte  1888, 

Edivin  Klehs,  Gedenkblätter,  Budolf  Virchoic  zu  seinem  70.  Geburtstage 
gewidmet  von  einem  alten  Schüler,  Deutsche  med.   Woch.  1891  Xr.  42, 

W.  Becher,  Rudolf  Virchow.    Eine  biographische  Skizze,  Berlin  1891, 

Celebration  of  the  seventietk  birthday  of  Professor  Virchow  in  the  Johns 
Hopkins  Universiiy.  Johns  Hopkins  University  Circulars  Vol.  XI  Xr.  93.  Baltimore, 
Xovember  1891. 


Aligemeine  Kreierung  von  pathologisch-anatomischen   Lehrkanzeln  und 

pathologisch-anatomischen  Instituten  in  der  zweiten  Hälfte  des 

19.  Jahrhunderts. 

Dank  den  Forschungsresultaten  Rokitansky' s  und  Yirchows 
gewann  jetzt  ganz  allgemein  die  pathologische  Anatomie  die  ihr  ge- 
bührende Stellung  als  eines  der  Hauptfächer  der  Medizin  und  als  eine 
der  wichtigsten  Disziplinen  des  medizinischen  Unterrichtes.  Ueberall 
entstanden  eigene  pathologisch-anatomische  Lehrkanzeln  und  patho- 
logisch-anatomische Institute.  Ueberall  anerkannte  man  die  Notwendig- 
keit der  Anlegung  von  eigens  lür  pathologische  Anatomie  bestimmten 
Museen  und  die  Unerlässlichkeit  der  Vornahme  streng  systematischer 
Sektionen  durch  fachlich  ausgebildete  pathologische  xlnatomen. 

Zumeist  w^aren  es  begreiflicherweise  zunächst  die  unmittelbaren 
Schüler  Rokitanskys  und  V i r c h o w s .  welche  die  neugeschaffenen 
pathologisch-anatomischen  Lehrkanzeln  übernahmen  und  in  dem  Sinne 
ihrer  Meister  weiter  arbeiteten.  Viele  neukreierte  Lehrkanzeln  für 
pathologische  Anatomie  wurden  aber  auch  mit  ]VIännern  besetzt,  welche 
nicht  Assistenten  bei  Rokitansky  oder  Virchow  gewesen  waren, 
allerdings  jedoch  grösstenteils  in  den  Instituten  derselben  ihre  spezielle 
Ausbildung  genossen  oder  doch  jedenfalls  deren  Lehren  in  sich  auf- 
genommen hatten.  So  wurden  Rokitansky  und  Virchow  teils 
unmittelbar,  teils  mittelbar  die  Lehrer  für  sämtliche  moderne  patho- 
logische Anatomen. 

Eine  jede  medizinische  Schule  musste  darnach  trachten,  eine 
eigene  Lehrkanzel  dieses  nunmehr  so  wichtig  gewordenen  Faches  zu 
erhalten  und  besteht  in  der  That  heutzutage  an  jeder  medizinischen 
Fakultät  als  integrierender  Bestandteil  derselben  eine  eigene  Professur 
für  pathologische  Anatomie  und  ist  durch  die  Assistenten  bei  diesen 
Kanzeln  und  die  Privat  dezenten  dieses  Faches  für  einen  genügenden 
Nachwuchs  gesorgt.  Mit  der  Zeit  wurde  auch  das  Institut  der  patho- 
logischen Prosekturen  an  den  grösseren  Krankenhäusern  immer  mehr 
verallgemeinert  und  so  die  Zahl  der  Forschungsstätten  für  pathologische 
Anatomie  beträchlich  vergrössert. 

Nach  den  einzelnen  Ländern  geordnet  sind  als  Lehrkanzeln  für 
pathologische  Anatomie  in  der  2.  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  zu 
nennen : 


542  H.  Chiari. 

In  Deutschland  ausser  den  schon  erwähnten  im  Jahre  1849 
resp.  im  Jahre  1856  gegründeten  Lehrkanzeln  an  den  Universitäten 
Würzburg  und  Berlin  die  meist  die  allgemeine  Pathologie  in  sich  be- 
greifenden Kanzeln  an  den  Universitäten  in  Bonn,  Breslau,  Erlangen, 
Freiburg  i.  Br.,  Giessen,  Göttingen,  Greifswald,  Halle,  Heidelberg, 
Jena,  Kiel,  Königsberg,  Leipzig,  Marburg,  München,  Eostock,  Strass- 
burg^)  und  Tübingen, 

in  Oesterreich-Ungarn  ausser  der  schon  erwähnten  im  Jahre 
1821  als  Extraordinariat  und  im  Jahre  1844  als  Ordinariat  kreierten 
Lehrkanzel  an  der  Universität  in  Wien,  die  Lehrkanzel  an  der  k.  k. 
militärärztlichen  Josefsakademie  in  Wien  und  die  Kanzeln  an  den 
Universitäten  in  Graz,  Innsbruck,  Krakau,  Lemberg,  Prag  (eine  an 
der  deutschen  und  eine  an  der  böhmischen  Universität),  Budapest  und 
Klausenburg, 

in  Italien  die  Kanzeln  an  den  Universitäten  in  Bologna,  Cagliari, 
Camerino,  Catania,  Genua,  Messina,  Modena,  Neapel,  Padua,  Palermo, 
Parma,  Pavia,  Perugia,  Pisa,  Rom,  Sassari,  Siena  und  Turin  und  an 
der  Hochschule  in  Florenz, 

in  der  Schw^eiz  die  Kanzeln  an  den  Universitäten  in  Basel, 
Bern,  Genf,  Lausanne  und  Zürich, 

in  Frankreich  ausser  der  schon  erwähnten  im  Jahre  1836  in 
Paris  errichteten  Lehrkanzel  die  Kanzeln  an  den  Universitäten  in 
Bordeaux,  Lille,  Lyon,  Marseille,  Montpellier,  Nancy,  Eennes  und 
Toulouse, 

in  Spanien  die  zumeist  der  Histologie  angegliederten  Kanzeln 
an  den  Universitäten  in  Barcelona.  Granada,  Madrid,  Santjago,  Cadiz, 
Valencia,  Valladolid,  Zaragoza  und  das  1886  gegründete  anatomisch- 
pathologische Militärinstitut  in  Madrid, 

in  Portugal  die  Kanzeln  an  der  Universität  in  Coimbra  und 
an  der  medizinisch-chirurgischen  Schule  in  Lissabon, 

in  Grossbritannien  die  auch  die  pathologische  Anatomie  ein- 
schliessenden  Kanzeln  für  Pathologie  an  den  Universitäten  in  Cam- 
bridge, Manchester,  Aberdeen,  Edinburgh,  Glasgow  und  an  den  ver- 
schiedenen Colleges  und  medical  Schools, 

in  Belgien  die  Kanzeln  an  den  Universitäten  in  Brüssel,  Gent, 
Löwen  und  Lüttich, 

in  den  Niederlanden  die  Kanzeln  an  den  Universitäten  Amster- 
dam, Groningen,  Leiden  und  Utrecht, 

in  Dänemark  die  Kanzel  an  der  Universität  in  Kopenhagen, 

in  Schweden  und  Nor  wiegen  die  Kanzeln  an  den  Univer- 
sitäten in  Christiania,  Lund,  Stockholm  und  Upsala, 

in  Russland  die  Kanzeln  an  den  Universitäten  in  Charkow, 
Dorpat,  Helsingfors,  Kasan,  Kijew,  Moskau,  Warschau,  an  der  militär- 
medizinischen Akademie  in  St.  Petersburg,  an  dem  kais.  Institute  für 
experimentelle  Medizin  des  Prinzen  Oldenburg  und  am  kais.  klinischen 
Institute  der  Grossfürstin  Helena  Pavlovna  ebendaselbst, 

in  Griechenland  die  Kanzel  an  der  Universität  in  Athen, 

in  Rumänien  die  Kanzeln  an  den  Universitäten  in  Bukarest 
und  Jassy,  wobei  erstere  auch  die  experimentelle  Pathologie  und 
Bakteriologie  umfasst. 


I 


^)  Hier  war  wie  schon   erwähnt,   als  Strassburg  noch  französisch  war,    bereits 
im  Jahre  1819  eine  Lehrkanzel  für  pathologische  Anatomie  gegründet  worden. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  543 

in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  die  viel- 
fach auch  die  pathologische  Anatomie  in  sich  begreifenden  Kanzeln 
für  Pathologie  an  vielen  der  Universities  und  Colleges,  von  denen  jedoch 
nur  ein  kleiner  Teil  den  entsprechenden  Kanzeln  europäischer  Univer- 
sitäten äquipariert,  so  z.  B.  die  Kanzeln  an  der  Johns  Hopkins  Uni- 
versity  in  Baltimoi-e,  an  der  Harvard  University  in  Cambridge,  am 
Eush  Medical  College  in  Chicago,  an  der  University  of  Minnesota  in 
Minneapolis,  an  der  Columbia  University  in  New- York  und  an  der 
University  of  Pennsj'lvania  in  Philadelphia, 

in  sonstigen  Staaten  und  Kolonien  von  Amerika  die 
Kanzeln  an  den  Universitäten  in  Buenos-Ayres  und  Cordoba  in  Argen- 
tinien, an  der  Universität  in  Montevideo  in  Uruguay,  an  der  Univer- 
sität Lima  in  Peru  und  an  den  Universitäten  in  Montreal  und  Toronto 
in  Canada, 

in  Afrika  die  Kanzel  an  der  Academie  in  Algier. 

in  Asien  die  Kanzeln  für  Pathologie  an  dem  Grant  Medical 
College  in  Bombay,  an  dem  Medical  College  in  Calcutta,  in  Labore 
und  Madras,  die  Kanzeln  für  allgemeine  Pathologie  und  pathologische 
Anatomie  an  der  Universität  in  Tokyo  und  die  Kanzel  für  patho- 
logische Anatomie  an  der  Universität  in  Tomsk, 

in  Australien  die  Kanzeln  für  Pathologie  an  den  Universitäten 
in  Melbourne  und  Neuseeland. 

Viele  dieser  Lehrkanzeln  entstanden  auch  wieder  aus  pathologischen 
Prosekturen  in  grösseren  Krankenhäusern  und  bildeten  diese  letzteren 
auch  vielfach  die  Grundlage  der  pathologisch-anatomischen  Institute 
sowie  der  damit  gemeinhin  verbundenen  pathologisch  -  anatomischen 
Museen,  in  denen  der  Sammlungseifer  der  jeweiligen  Vorstände  immer 
reichere  Schätze  für  den  Unterricht  und  die  Forschung  wichtiger 
pathologisch-anatomischer  Präparate  aufspeicherte. 

Durch  diese  vielen  Arbeitsstätten  und  die  grosse  Zahl  der  an 
denselben  thätigen  Forscher  wurde  naturgemäss  das  Gebiet  der  patho- 
logisch-anatomischen Forschung  immer  mehr  erweitert  und  auch  ver- 
tieft, indem  sich  überall  neben  der  makroskopischen  pathologischen 
Anatomie  auch  die  pathologische  Histologie  entwickelte  und  so  die 
Aufdeckung  der  feineren  Details  und  der  Genese  der  pathologisch- 
anatomischen Befunde  erfreuliche  Fortschritte  machte. 


Einfluss  der  pathologischen  Anatomie  auf  die  pathologische  Chemie 
und  experimentelle  Pathologie. 

Weiter  wurde  aber  auch  durch  die  pathologische  Anatomie  die 
Entstehung  einer  pathologischen  Chemie  und  die  Ent- 
wicklung einer  experimentellen  Pathologie  sehr  wesentlich 
gefördert. 

Die  pathologische  Chemie  schloss  sich  vielfach  an  die  patho- 
logische Anatomie  an,  bezog  von  derselben  ihr  hauptsächliches  Material 
sowie  mannigfaltige  Anregung  und  hatte  ihre  Arbeitsräume  häufig  in 
den  pathologischen  Instituten.  Es  kam  dies  besonders  in  den  patho- 
logischen Instituten  in  Wien  und  Berlin  zum  Ausdrucke,  indem  in 
Wien  über  Verwendung  Rokitanskys  innerhalb  der  Räume  des 
pathologischen  Institutes  ein  pathologisch- chemisches  Institut  geschaffen 
wurde  und  in  Berlin  am  V  i  r  c  h  o  w  sehen  Institute  eine  eigene  chemische 


544  H.  Chiari. 

Assistenten  stelle   kreiert   wurde,   die   sicli   zu   einer   Pflanzstätte   für 
patholog-ische  Chemiker  gestaltete. 

Als  hauptsächlichste  Vertreter  der  pathologischen  Chemie  wären 
zu  nennen: 

in  Deutschland 

Johann  Franz  Simon  (1807—1843,  Privatdozent  für  patho- 
logische Chemie   und   pathologischer  Chemiker  der  Charite  in  Berlin), 

Justus  V.  Liebig  (1803—1873,  Professor  der  Chemie  in  Giessen 
und  München), 

Ernst  Freiherr  v.  Bibra  (1806—1878,  Privatgelehrter  in 
Nürnberg), 

Carl  Gotthelf  Lehmann  (1812 — 1863,  Professor  der  physio- 
logischen Chemie  in  Jena), 

Johann  Josef  Scherer  (1814—1869,  Professor  der  organischen 
Chemie  in  Würzburg), 

Ernst  Felix  Immanuel  Hoppe-Seyler  (1825—1895,  Pro- 
fessor der  angewandten  Chemie  in  Tübingen,  dann  der  physiologischen 
Chemie  in  Strassburg), 

Willy  Kühne  (1837 — 1900,  Professor  der  Physiologie  in  Amster- 
dam und  Heidelberg), 

Eugen  Baumann  (1846 — 1896,  Professor  der  physiologischen 
Chemie  in  Freiburg  i.  Br.), 

und  Ernst  Leopold  Salkowski  (geb.  1844,  Professor  der 
medizinischen  Chemie  in  Berlin), 

in  Oesterreich-Ungarn 

Johann  Florian  Heller  (1813 — 1871,  Professor  der  patho- 
logischen Chemie  in  Wien), 

Joseph  Udalrich  Lerch  (1816 — 1892,  Professor  der  patho- 
logischen Chemie  und  dann  der  Pharmakognosie  in  Prag) 

und  die  gegenwärtigen  Vorstände  der  Lehrkanzeln  für  medizinische 
Chemie  an  den  medizinischen  Fakultäten, 

in  Frankreich 

Alfred  Becquerel  (1814 — 1866,  Professor  agrege  in  Paris), 

Alexander  Bouchardat  (1806—1886,  Professor  der  Hygiene 
in  Paris) 

und  CharlesPhilipp  Robin  (1821 — ]  885,  Professor  der  Histo- 
logie in  Paris). 

Die  experimentelle  Pathologie  wurde  im  wesentlichen  von 
französischen  Forschern  wie  Claude  Bernard  (1813—1878,  Professor 
der  Physiologie  in  Paris),  Charles  Edouard  Brown-Sequard 
(1818 — 1895,  Professor  der  experimentellen  Medizin  in  Paris)  und 
Etienne  Jules  Marey  (geb.  1830,  Professor  der  Naturgeschichte 
in  Paris)  und  durch  die  „Berlinerschule"  i.  e.  von  Ludwig  Traube 
(1818 — 1876,  Professor  der  internen  Medizin  in  Berlin)  und  ßudolf 
Virchow  angebahnt.  Bald  erkannte  man  allgemein  die  Notwendig- 
keit des  Tierexperimentes,  um  die  ersten  Anfänge  und  den  Verlauf 
sowie  die  Bedeutung  der  bei  den  Sektionen  gefundenen  pathologischen 
Veränderungen  besser  studieren  zu  können  und  so  zu  einer  wirklich 
wissenschaftlichen  pathologischen  Physiologie  zu  gelangen,  und  fast 
alle  pathologischen  Anatomen  benützten  auch  diesen  Forschungsweg. 


I 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  545 

Ausserdem  kam  es  aber  dazu,  dass  einzelne  pathologische  Anatomen 
wie  auch  Physiologen  und  Kliniker  sich  überwiegend  mit  dem  patho- 
logischen Experimente  befassten  und  so  mit  anderen  Forschern,  welche 
lediglich  das  pathologische  Experiment  pflegten,  zu  eigentlichen  Ver- 
tretern der  experimentellen  Pathologie  wurden,  für  welchen  Zweig  der 
Medizin  an  verschiedenen  Universitäten,  so  namentlich  in  Oesterreich- 
Ungarn,  in  Italien,  in  Frankreich,  in  Spanien,  in  Portugal,  in  Belgien, 
in  den  Niederlanden  und  in  Russland  nach  und  nach  auch  eigene 
Lehrkanzeln  und  eigene  Institute  entstanden.  Es  erwies  sich  das  auch 
für  den  medizinischen  Unterricht  als  sehr  zweckmässig,  da  so  den 
Studierenden  die  Gelegenheit  geboten  wurde,  das  Werden  der  patho- 
logischen Prozesse,  deren  Verlauf  und  deren  Bedeutung  durch  die 
vorgeführten  Experimente  aus  eigener  Anschauung  kennen  zu  lernen 
und  auf  diese  Art  das  Studium  der  pathologischen  Anatomie  durch 
das  der  ,. experimentellen  Pathologie"  zu  ergänzen. 

Als  „Experimentalpathologen"  seien  angeführt,  abgesehen  von  den 
jetzt  noch  wirkenden  Vertretern  von  Lehrkanzeln  für  experimentelle 
Pathologie  an  verschiedenen  medizinischen  Fakultäten: 

in  Deutschland 

Ludwig  Traube  (bereits  erwähnt), 

Julius  Cohnheim  (1839 — 1884,  Professor  der  pathologischen 
Anatomie  und  allgemeinen  Pathologie  in  Kiel,  Breslau  und  Leipzig) 

und  Simon  Samuel  (1833—1899,  Professor  der  allgemeinen 
Pathologie  und  Therapie  in  Königsberg), 

in  0 esterreich 

Salomon  Stricker  (gest.  1898,  Professor  der  allgemeinen  und 
experimentellen  Pathologie  in  Wien) 

und  Philipp  KnoU  (1841—1900,  Professor  der  allgemeinen  und 
experimentellen  Pathologie  an  der  deutschen  Universität  in  Prag  und 
dann  in  Wien), 

in  Frankreich 

die  bereits  erwähnten,  Claude  Bernard,  Charles  Edouard 
Brown-Sequard 

und  Isidore  Straus  (1846 — 1896,  Professor  der  experimentellen 
Pathologie  in  Paris), 

in  Russland 

Victor  Paschutin  (1845 — 1901,  Professor  der  allgemeinen  und 
experimentellen  Pathologie  in  Kasan  und  St.  Petersburg). 


Pflege  der  pathologischen  Anatomie  seitens  der  Kliniker  und  sonstiger 
Forscher  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 

In  dem  Masse,  als  das  stolze  Gebäude  der  pathologischen  Ana- 
tomie sich  entfaltete,  wurde  es  immer  klarer,  dass  sie  die  hauptsäch- 
lich.ste  Basis  für  die  gesamte  pathologische  Forschung  darstelle  und 
wurde  sie  auch  daher  in  den  verschiedensten  speziellen  Richtungen 
seitens  der  Kliniker  und  anderer  medizinischer  Forscher  auf  das  eif- 
rigste betrieben. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  35 


546  H.  Chiari. 

Gross  ist  die  Zahl  der  modernen  Internisten  und  Chiriirgen  sowie 
anderer  Kliniker,  welche  durch  ihre  Arbeiten  die  pathologische  Ana- 
tomie sehr  wesentlich  förderten.  Einige  derselben  sind  geradezu  von 
der  pathologischen  Anatomie  aus  zu  ihrem  klinischen  Fache  über- 
gegangen, in  welchem  sie  dann  Hervorragendes  leisteten  wie  z.  B. 
Ernst  Leberecht  Wagner  (1829—1888,  1850—1877  Professor 
der  pathologischen  Anatomie  und  dann  Professor  der  internen  Medizin 
in  Leipzig)  und  Christian  Albert  Theodor  Billroth  (1829  — 
1894),  der  sich  1856  als  Privatdozent  für  pathologische  Anatomie  in 
Berlin  habilitierte  und  1858  einen  Euf  als  Professor  der  pathologischen 
Anatomie  nach  Greifs wald  erhielt,  den  er  aber  nicht  annahm,  da  er 
sich  inzwischen  schon  für  die  chirurgische  Laufbahn  entschieden  hatte. 
Vielfach  entwickelte  sich  auch  der  sehr  zweckmässige  Gebrauch,  dass 
nach  der  akademischen  Laufbahn  in  einem  klinischen  Fache  strebende 
Männer  in  der  Eigenschaft  von  Assistenten  an  pathologisch-anatomischen 
Instituten  eine  spezielle  pathologisch  -  anatomische  Vorschule  durch- 
machen. 

In  einzelnen  klinischen  Fächern  wie  z.  B.  in  der  Ophthalmologie 
und  Otiatrie  wurde  die  pathologisch-anatomische  Forschung  sogar  fast 
gänzlich  von  den  betreffenden  Klinikern  übernommen. 

Auch  die  gerichtlichen  Mediziner  verlegten  das  Schwergewicht 
ihrer  Forschung  auf  das  pathologisch-anatomische  Gebiet  und  brachten 
gerade  dadurch  ihr  Fach  zu  hoher  Blüte. 

Naturgemäss  verminderte  sich  hingegen  im  Laufe  der  Gegenwart 
die  Teilnahme  der  von  ihren  eigenen  Gebieten  immer  mehr  in  Anspruch 
genommenen  normalen  Anatomen  und  Physiologen  an  der  pathologisch- 
anatomischen Forschung.  Nur  die  moderne,  exakte,  durch  Experimente 
gestützte  Embryologie  trat  in  innigste  Verbindung  mit  der  patho- 
logischen Anatomie,  indem  sie  durch  künstliche  Erzeugung  von  Miss- 
bildungen die  bis  dahin  ganz  unverständliche  Genese  und  auch  viel- 
fach die  Aetiologie  der  Missbildungen  zu  verstehen  lehrte. 


Epoche  der  Bakteriologie. 

Mit  alledem  sollte  aber  die  rapide  Entwicklung  der  modernen 
pathologischen  Anatomie  nicht  Halt  machen,  sondern  in  den  letzten 
Decennien  des  19.  Jahrhunderts  erhielt  sie  abermals  einen  mächtigen 
neuen  Impuls  zur  weiteren  Ausbildung  und  zwar  durch  die  Ent- 
stehung der  Bakteriologie,  dieses  neuesten  Zweiges  der  Natur- 
wissenschaften, durch  welchen  der  pathologischen  Anatomie  erst  die 
Möglichkeit  geboten  wurde,  der  bis  dahin  meist  ganz  dunklen  Aetiologie 
vieler  pathologischer  Prozesse  näher  zu  treten.  Es  wurde  dadurch 
eine  förmliche  Umwälzung  in  der  pathologischen  Anatomie  hervor- 
gerufen, jeder  pathologische  Anatom  musste  sich  in  diese  neue  For- 
schungsrichtung hineinarbeiten,  um  nicht  zurückzubleiben.  Bei  den 
Obduktionen  musste  auf  die  Auffindung  der  betreffenden  pathogenen 
Keime  Rücksicht  genommen  und  danach  die  Sektionstechnik  modifiziert 
werden,  in  den  pathologischen  Instituten  mussten  bakteriologische 
Arbeitsräume  installiert  werden  und  das  Tierexperiment  zum  Studium 
der  Infektionskrankheiten  in  ausgiebigstem  Masse  herangezogen  werden. 

Der  Ruhm,  der  Lehrmeister  der  pathologischen  Anatomen  wie 
überhaupt  aller  Mediziner  in  diesen  Dingen  gewesen  zu  sein,  gebührt 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  547 

Robert  Koch,  jenem  Manne,  welcher  die  Methodik  schuf,  nach  der 
vorgegangen  werden  muss,  um  die  pathogenen  Keime  herauszufinden 
und  weiter  die  Bedingungen  präcisierte,  welche  erfüllt  sein  müssen, 
damit  eine  Art  von  Mikroorganismen  wirklich  als  der  Erreger  einer 
betreffenden  Erkrankung  angesehen  werden  darf. 

Es  hatten  zwar  schon  vor  Koch  verschiedene  Forscher  die 
Wichtigkeit  der  Bakteriologie  für  die  Pathologie  erkannt  und  waren 
auch  bei  einzelnen  Infektionskrankheiten  bakterielle  Erreger  ge- 
funden worden,  so  von  Pollender  1849  die  Milzbrandbacillen,  von 
Bo  Hing  er  und  Feser  1878  die  Rauschbrandbacillen,  von  Ober- 
meier 1873  die  Spirochaeten  des  Typhus  recurrens  und  von  B ol- 
lin g  er  1877  der  Akinomykosepilz,  allein  erst  durch  Koch  wurde  die 
medizinische  Bakteriologie  so  entwickelt,  dass  nunmehr  mit  ihr  un- 
zweifelhafte Resultate  auf  dem  Gebiete  der  ätiologischen  Forschung 
erzielt  werden  konnten. 

Als  die  wichtigsten  Vorläufer  Kochs  können  bezeichnet  werden 

Louis  Paste ur  (1822  -  1895,  Professor  der  Chemie  in  Strassburg, 
Lille  und  Paris),  der  die  Generatio  aequivoca  endgültig  widerlegte, 

Sir  Joseph  Lister  (geb.  1827,  Professor  der  Chirurgie  in  Glas- 
gow, Edinburgh  und  London),  der  die  Bedeutung  des  Virus  animatum 
für  die  Entstehung  der  Wundinfektionskrankheiten  darthat, 

Edwin  Klebs  (geb.  1834,  Professor  der  pathologischen  Anatomie 
in  Bern,  Würzburg,  Prag,  Zürich  und  Chicago),  der  das  grosse  Ver- 
dienst hat,  speziell  die  pathologischen  Anatomen  zur  bakteriologischen 
Forschung  angeregt  zu  haben,  und 

Ferdinand  Cohn  (geb.  1828,  Professor  der  Botanik  in  Breslau), 
der  das  erste  brauchbare  S^'stem  der  Bakterien  aufstellte. 

Robert  Koch  (geb.  1843,  derzeit  Direktor  des  Institutes  für 
Infektionskrankheiten  in  Berlin)  selbst  ist  dadurch  so  bedeutungsvoll 
geworden,  dass  er  die  Grundlagen  einer  jeden  Irrtum  ausschliessenden 
Technik  schuf  und  so  den  Weg  zeigte,  der  betreten  werden  muss,  um 
die  bakteriologische  Untersuchung  zu  einer  eigentlich  wissenschaft- 
lichen Arbeit  zu  gestalten.  Als  Meister  der  Methodik  gelang  es  ihm 
denn  auch,  eine  Reihe  der  wichtigsten  pathogenen  Bakterienarten  zu 
entdecken,  so  unter  anderen  1882  den  Bacillus  der  Tuberkulose  und 
1883  den  Kommabacillus  der  Cholera  asiatica. 

Gewiss  hat  die  pathologische  Anatomie  durch  dieses  Hinzutreten 
der  bakteriologischen  Arbeitsrichtung  sehr  viel  gewonnen  und  muss 
sie  mit  aller  Energie  danach  trachten,  weitere  Fortschritte  in  der 
Erforschung  der  pathogenen  Mikroorganismen  zu  machen,  keineswegs 
aber  kann  sie  etwa  durch  die  Bakteriologie  ersetzt  werden,  darf  doch 
nicht  vergessen  werden,  dass  die  pathogenen  Mikroorganismen  resp. 
deren  Giftstoffe  eben  nur  das  ätiologische  Moment  der  Infektions- 
erkrankungen darstellen  und  diese  Erkrankungen,  die  nur  der  Aus- 
druck der  Reaktion  des  Körpers  gegenüber  der  Infektionserregern  sind, 
nach  wie  vor  in  morphologischer,  genetischer  und  prognostischer  Hin- 
sicht anatomisch  studiert  werden  müssen.  Die  pathologische  Anatomie 
benutzt  die  Errungenschaften  der  Bakteriologie  für  das  Studium  der 
Infektionskrankheiten,  sie  darf  aber  nicht  in  ihr  aufgehen,  sondern 
muss  das  gesamte  Gebiet  der  überhaupt  vorkommenden  pathologischen 
Veränderungen  umfassen  und  alle  wie  immer  gearteten  Abweichungen 
von  der  Norm  berücksichtigen. 

35* 


548  H.  Chiari. 

Uebersicht  über  die  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  modernen  patho- 
logischen Anatomie. 

Ueberblickt  man  nun  die  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  modernen 
pathologischen  Anatomie,  so  erkennt  man,  dass  dieselben  in  der  That 
sehr  grosse  waren.  Alle  Teile  der  allgemeinen  und  speziellen  patho- 
logischen Anatomie  erfuhren  in  der  2.  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
sehr  wesentliche  Fortschritte.  Seit  Rokitansky  und  Virchow 
das  Wesen  und  die  Aufgaben  der  pathologischen  Anatomie  klargestellt 
und  die  Wege  der  pathologisch  -  anatomischen  Forschung  gewiesen 
hatten,  wurden  einerseits  mit  Erfolg  die  verschiedensten  Krankheiten 
in  den  Bereich  der  anatomischen  Untersuchungen  einbezogen  und 
namentlich  auch  die  Genese  und  Aetiologie  derselben  gebührend  be- 
rücksichtigt, andererseits  die  allgemeine  pathologische  Anatomie  immer 
weiter  entwickelt. 

Hier  einen  erschöpfenden  Ueberblick  über  diese  Fortschritte  zu 
geben,  an  welchen  ausser  den  pathologischen  Anatomen  von  Fach 
vielfach  auch  die  Kliniker  und  sonstige  Forscher  beteiligt  waren,  ist 
unmöglich. 

Im  Nachfolgenden  soll  nur  der  Versuch  gemacht  werden,  die 
wichtigsten  Leistungen  der  modernen  pathologischen  Anatomie  nach 
den  einzelnen  Teilen  der  pathologischen  Anatomie  geordnet  in  ge- 
drängter Form  zusammenzustellen,  ohne  dass  jedoch  diese  Zusammen- 
stellung namentlich  auch  nicht  hinsichtlich  der  Nennung  von  Autoren 
bei  den  einzelnen  Hinweisen  irgendwie  Anspruch  auf  Vollständigkeit 
erheben  könnte. 

In  der  allgemeinen  patliologisclien  Anatomie  bedeuteten  auf  dem 
Gebiete  der  Missbildungen  den  grössten  Fortschritt  die  zumeist 
experimentell  gewonnenen  Erkenntnisse  über  die  Entstehung  von  Miss- 
bildungen infolge  von  verschiedenartigen,  das  befruchtete  Ei  treffenden 
Schädlichkeiten  (Panura,  Dareste,  Gerlach,  Fol,  Richter, 
Roux,  0.  Schnitze),  über  die  Bedeutung  von  Anomalien  des  Am- 
nions für  das  Zustandekommen  von  Missbildungen  (Dar est e)  und  über 
die  Genese  der  Doppelmissbildungen  (Ger lach,  Born,  0.  Schnitze). 

Weiter  wurden  grundlegende  anatomische  Untersuchungen  über 
verschiedene  Arten  von  Missbildungen  ausgeführt,  so  über  die  Cranio- 
Rhachischisis  (Perls,  v.  Recklinghausen),  die  Cyclopie  (Kund- 
rat), die  Cheilo-Gnatho-Palatoschisis  (Kölliker),  die  Prosoposchisis 
(Morian),  die  Fistula  colli  congenita  (v.  Kostanecki,  v.  Mie- 
licki),  die  Acardie  (Claudius,  Perls,  Dareste),  die  Defekte  der 
Herzscheidewände,  die  mit  dem  Ductus  omphalo-meseraicus  zusammen- 
hängenden Missbiidungen  (Roth),  die  Missbildungen  der  weiblichen 
Geschlechtsorgane  (Kussmaul)  und  den  Hermaphroditismus  (Klebs). 

Ungemein  zahlreich  waren  ferner  die  kasuistischen  Publikationen 
über  Missbildungen,  so  dass  gegenwärtig  ein  ganz  gewaltiges  That- 
sachenmaterial  für  die  Bearbeitung  von  weiteren  Gesichtspunkten 
vorliegt. 

Auch  eine  ganze  Reihe  von  umfassenden  Werken  über  die  ge- 
samte Teratologie  wurden  verfasst,  unter  denen  besonders  zu  nennen 
sind  die  Werke  von  Förster,  Ahlfeld,  Taruffi  und  Marc  band. 

Bezüglich  der  Wachstumsanomalien  sind  namentlich  hervor- 
zuheben die  Untersuchungen  über  Konstitutionsanomalien  (Beneke), 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  549 

Über  den  Riesenwuchs  (Langer,  Jacobson,  Hornstein,  Trelat 
und  Monod,  Busch,  Fischer),  den  Zwergwuchs  (A.  Paltauf), 
die  Chondrodystrophia  foetalis  (Kaufmann),  die  kongenitale  Hüft- 
gelenksluxation  (Grawitz,  Krönlein)  und  die  Mikrocephalie  (Mar- 
chand). 

Was  die  Cirkulations Störungen  betrifft,  so  wurden  die 
grundlegenden  Forschungen  Virchows  weiter  ausgebaut,  so  bezüg- 
lich der  Thrombose  (A.  Schmidt,  Zahn,  Bizzozero,  Eberth, 
Schimmelbusch,  Löwit),  der  Organisation  des  Thrombus  (Bub- 
noff,  Baumgarten,  Heuking  und  Thoma,  Beneke),  des  anä- 
mischen Infarktes  (Litten),  des  hämorrhagischen  Infarktes  (Cohn- 
heim,  v.  Recklinghausen)  und  der  Diapedesisblutung  (Stricker, 
Cohnheim,  Arnold)  und  wurden  neu  aufgedeckt  die  Fettembolie 
(Zenker,  Wagner,  v.  Recklinghausen.  Beneke),  die  Paren- 
chymzellenembolie  (Turner,  Jürgens,  Klebs,  Zenker,  v.  Reck- 
linghausen, Schmorl,  Lu barsch,  Leusden).  die  Embolia 
paradoxa  (Zahn,  Haus  er,  Bonome),  die  retrograde  Embolie  im 
Blutgefässsysteme  (v.  Recklinghausen,  Arnold)  und  im  Lymph- 
gefässsysteme  (Vogel,  Viert h)  und  die  Kugelthrombenbüdung 
(v.  Recklinghausen). 

Die  regressiven  Ernährungsstörungen  wurden  sehr  ein- 
gehend studiert,  so  die  lokale  Nekrose  in  Bezug  auf  ihre  Formen  — 
Koagulationsnekrose  (Weigert)  —  und  in  Bezug  auf  ihre  histo- 
logischen Details  (P fitzner,  Israel,  Schmaus  und  Albrecht), 
die  Entwicklung  der  pathologischen  Verhornung  (Posner,  Unna, 
Mertsching,  Ernst),  das  Wesen  der  trüben  Schwellung  (B e n a r i o , 
Luckjanow),  die  Fettinfiltration  (Flemming,  Gaule),  die  Her- 
kunft des  Fettes  bei  der  Fettdegeneration  (Haus er.  Kraus),  die 
schleimige  Degeneration  (Pfannenstiel,  Kossei,  Struiken),  die 
universelle  Amyloidose  hinsichtlich  ihrer  Verbreitung,  ihrer  histo- 
logischen Details  und  ihrer  Aetiologie  (Kyber,  Heschl,  Wich- 
mann, Czerny,  Krawkow),  die  lokale  Amyloidbildung  in  den 
verschiedenen  Organen  (Büro w.  Ziegler,  Kraus,  Schmidt),  die 
Colloiddegeneration  in  epithelialen  Gebilden  (v.  Recklinghausen, 
Ernst,  Marchand),  im  Bindegewebe  (v.  Wild),  in  Gefässen  (Arndt, 
Lubimoff,  Eppinger,Holschewnikoff,  Mallory),  in  Lymph- 
drüsen (Wieg er)  und  in  der  Muskulatur  (Zenker),  die  Glykogen- 
infiltration  (Ehrlich,  Langhans,  Marchand),  die  pathologische 
Verkalkung  im  allgemeinen  (Rey)  und  speziell  bei  Vergiftungen  mit 
Sublimat  (Sa iko WS ky,  Kaufmann,  Neuberger,  Leutert)  und 
mit  Phosphor  (A.  Pal  tauf),  die  Ablagerung  von  Uraten  bei  der 
Gicht  (Ebstein.  Pfeiffer,  v.  Noorden,  Riehl)  und  die  patho- 
logische Pigmentation  in  ihren  so  verschiedenen  Formen  als  häma- 
togene  Pigmentation  (Perls,  v.  Recklinghausen,  Neumann)  als 
„protoplasmatische"  Pigmentation  (Aeby,  v.  Kölliker,  Riehl, 
Ehrmann,  Jarisch,Gussenbauer,  Ribber t),  als  Pigmentation 
durch  Gallenfarbstoff  (Nauwerck,  Stroebe,  Browicz,  Pick, 
Neumann,  Orth,  Birch-Hirschfeld,  Hofmeier,  Silber- 
mann), die  Pigmentation  durch  Lipochrome  (Huber,  Krukenberg, 
Rosin)  und  die  Pigmentation  durch  von  aussen  eingeführte  Pigmente 
—  Siderosis  (Zenker)  —  Argyrie  (Kobert)  —  Staubinhalation 
( A  r  n  0 1  d). 

In  Bezug  auf  die  Hypertrophie  und  Hyperplasie  wmden 


550  H.  Chiari. 

die  feineren  Vorgänge  bei  den  pathologisclien  Zellteilungen  und  die 
dabei  vorkommenden  Abweichungen  von  der  normalen  Karyokinese, 
wie  sie  namentlich  Flemming  und  Eabl  kennen  gelehrt  hatten, 
festgestellt  (Arnold,  Hansemann,  Stroebej.  Es  wurde  ferner 
von  sehr  vielen  Forschern  die  regeneratorische  Hyperplasie  teils  im 
allgemeinen  (Samuel,  Demarquay,  Carriere,  Fraisse,  Bar- 
furth,  Bizzozero)  teils  im  speziellen  bezüglich  der  Epithelregene- 
ration (Arnold,  Cohnheim,  Eberth,  Bizzozero,  Podwys- 
socki,  Ponfick,  Meister),  der  Neubildung  von  Blutgefässen 
(Arnold,  Ziegler,  Thoma),  der  Neubildung  von  Bindegewebe 
(Neumann,  Ziegler,  Nikiforoff),  der  Neubildung  von  Knochen 
(Strelzoff,  Bruns,  Troja),  der  Regeneration  von  lymphatischem 
Gewebe  (Bayer,  Eibbert),  der  Regeneration  von  Muskulatur 
(Zenker,  Neumann,  Steudel  und  Nauwerck)  und  der  Rege- 
neration von  Nerven  (Vanlair,  Stroebe)  studiert  und  es  wurden 
des  genaueren  untersucht  die  kompensatorische  Hypertrophie  und 
Hyperplasie  des  Herzens  (Zielonko,  Tan  gl,  Horwath),  der  Niere 
(Perl,  Leichtenstern,  Boström,  Eckardt,  Sacerdotti),  der 
Geschlechtsorgane  (Ribbert),  der  Lunge  (Schuchardt).  und  der 
Hypophysis  cerebri  (Ribbert,  Rogowitsch,  Stieda),  die  eigen- 
artigen Hyperplasien  des  Knochensystems  —  die  Akromegalie  oder 
Pachyakrie  (Marie,  Arnold,  v.  Recklinghausen),  die  Osteo- 
arthropathie hypertrophiante  pneumique  (Marie)  und  die  Verdickung 
der  Phalangen  bei  chronischen  Lungen-  und  Herzkrankheiten  (E.  Bam- 
b erger),  sowie  die  Bedeutung  des  sogenannten  Status  lymphaticus 
(A.  Paltauf). 

Auf  dem  Gebiete  der  Entzündungslehre  sind  besonders  zu 
verzeichnen  die  Aufstellung  der  Gefässwandalterationstheorie  der  Ent- 
zündung (Cohnheim),  die  Entdeckung  der  Auswanderung  der  Leu- 
kocyten  bei  der  Entzündung  (Cohnheim),  das  weitere  Studium 
dieses  Vorganges  (Arnold,  Stricker,  Thoma,  Löwit)  und  die 
Untersuchungen  über  die  Herkunft  der  Exsudatzellen  (Stricker, 
Heitzmann,  Grawitz,  Marchand),  über  die  Ursachen  der 
Eiterung  (Councilman,  Grawitz,  Janowski),  über  die  Herkunft 
des  fibrinösen  Exsudates  (Weigert,  Rindfleisch,  Neu  mann, 
Hauser,  Marchand)  über  die  Chemotaxis  (Leber,  Buchner), 
die  Phagocytose  (Metschnikoff)  und  die  entzündliche  Gewebs- 
wucherung (Stricker,  Ziegler,  Hamilton,  Arnold,  Mar- 
chand, Eberth),  sowie  über  das  Syphilom  (Wagner)  und  die 
Tuberkulose  (Buhl,  Schüppel,  Baumgarten). 

Die  Geschwülste  erfuhren  vielfältige  Bearbeitung  und  be- 
schäftigte man  sich  namentlich  mit  der  Histogenese  derselben  — 
Histogenese  des  Carcinoms  (Köster,Thiersch,  W aide y er,  Hau- 
s  er) ,  Entwicklung  von  Geschwülsten  aus  besonderen  Gewebsanlagen 
(Cohnheim,  Grawitz),  Entstehung  von  Geschwülsten  aus  Störungen 
Im  Verhalten  der  einzelnen  Gewebe  zu  einander  (Boll,  Ribbert)  — , 
mit  ihrer  Aetiologie  —  durch  Phytoparasiten  (Sanfelice,  Foä, 
Binaghi),  durch  Zooparasiten  (Thoma,  Rosenthal,  Ruffer  und 
PI  immer);  mit  der  Entstehungs weise  der  Metastasen  (Gussen- 
bauer,  Zehnder)  und  mit  den  feineren  histologischen  Details,  so 
den  Teilungsvorgängen  in  den  Geschwulstzellen  (Cornil,  Arnold, 
Hansemann).  Weiter  wurden  aber  auch  die  einzelnen  Geschwulst- 
formen sehr  eingehend  studiert  und  sind  diesbezüglich  besonders  her- 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  551 

vorzuhebeii  die  Untersucliuiigeii  über  das  Sarkomstroma  (Bizzozero), 
das  Melanosarkom  (Ribbert),  das  Cylindrom  (Billroth.  Sattler, 
M a  1  a s s e z) ,  die  Endotheliome  (Klebs,  Schulz,  Glockn er,  Volk- 
mannj,  das  Myom  malignen  Charakters  (v.  Kahlden,  Williams), 
das  Neuroma  plexiforme  (Bruns).  das  Deciduom  (Sänger,  Pfeifer, 
Marchand),  das  Cholesteatom  (Habermann,  Boström),  die  bran- 
chiogenen  Carcinome  (Bruns,  Yolkmann)  und  die  Sacralteratome 
(Braun,  Middeldorpf,  Schmidt).  Die  Geschwülste  im  allge- 
meinen bearbeiteten  namentlich  Schuh,  Paget.   Lücke.   Zahn. 

Von  den  Zooparasiten  des  Menschen  wurden  etliche  neu  ent- 
deckt wie  das  Pentastomum  denticulatum  (Zenker),  das  Pentastomum 
taenioides  (Laudon),  das  Männchen  des  Sarcoptes  hominis  (Lan- 
quetin),  das  Anchylostomum  duodenale  (Dubini),  der  Strongylus 
longevaginatus  (Jortsitz),  die  Filaria  sanguinis  (Wucherer,  Le- 
wis), das  Distomum  haematobium  (Bilharz),  mehrere  sonstige  Di- 
stomen  (Baelz,  Winogradoff)  und  das  Plasmodium  malariae  (La- 
ver an,  Marchiafava  und  Celli,  Golgi).  Bei  vielen  wurde  die 
Art  der  Entwicklung,  der  Vorgang  der  Invasion  in  den  menschlichen 
Körper  sowie  die  medizinische  Bedeutung  derselben  erkannt,  so  die 
pathogene  Bedeutung  versclüedener  Dipteren  (Brauer,  Couil, 
Joseph,  Dubreuilh,  Scheube,  Lallier),  die  Entwicklung  des 
Pentastomum  (Leuckart),  die  Entstehungsweise  der  durch  den  Sar- 
coptes hominis  erzeugten  Scabies  (Eichstedt,  Hebra,  Gudden, 
Bourguignon),  die  Entwicklung  des  Ascaris  lumbricoides  (Grassi, 
Lutz,  Leuckart,  Epstein),  die  Infektion  mit  dem  Oxj'uris  ver- 
micularis  ^Zenker.  Heller),  die  pathologische  Bedeutung  der  An- 
chylostomiasis  und  ihre  Verbreitung  (Griesinger,  Bilharz,  Per- 
roncito,  Leichtenstern),  die  pathogenen  Eigenschaften  der 
AnguiUula  stercoralis  (Normand,  Golgi  und  Monti),  des  Tricho- 
cephalus  dispar  (Askanazy)  und  der  Trichina  spiralis  (Zenker), 
die  Wanderungs weise  der  Trichinenembryonen  (Pagen Stecher, 
Askanazy),  die  pathogene  Bedeutung  der  Filaria  sanguinis  (Man- 
son,  Scheube)  und  des  Bothriocephalus  latus,  der  Amoeba  dysen- 
teriae  (Kartulis,  Osler,  Councilman  und  Lafleur)  und  ver- 
schiedener Sporozoen  (G übler,  Podwyssotzki,  Kartulis, 
Bar  ab  an  und  Saint-Remy),  die  Art  der  Infektion  mit  der  Sco- 
lexform  des  Bothriocephalus  latus  (Braun,  Leuckart)  und  den 
Malariaplasmodien  (Grassi).  Gross  war  auch  die  Zahl  der  zusammen- 
fassenden Werke  über  Zooparasiten  des  Menschen,  unter  denen  hier 
nur  genannt  seien  die  Werke  von  Leuckart,  Davaine,  Heller, 
Küchenmeister  und  Zürn,  Perroncito,  Mosler  undPeiper, 
Braun,  Blanchard  und  Moniez. 

Geradezu  grossartig  waren  aber  die  Fortschritte  in  der  Kenntnis 
von  den  pathogenen  Phytoparasiten  des  Menschen.  Für  zahl- 
reiche Infektionskrankheiten  wurden  bestimmte  pflanzliche  Mikro- 
organismen als  Erreger  neu  nachgewiesen  und  durch  das  Studium 
dieser  sowie  der  bereits  von  früher  bekannten  pflanzlichen  Kranklieits- 
erreger  nicht  nur  das  Verständnis  des  Wesens  und  der  Verbreitungsart 
der  Infektionskrankheiten,  sondern  auch  die  Prophylaxe  und  Therapie 
derselben  sehr  wesentlich  gefördert. 

Neu  wurden  entdeckt  die  gewöhnlichsten  Eiterungserreger,  näm- 
lich der  Streptococcus  pyogenes  und  der  Staphylococcus  pyogenes 
(Ogston,  Becker,  Rosenbach),  dann  der  Gonococcus  (Neisser 


552  H.  Chiari. 

B u m m),  der  Diplococcus  pneumoniae  (Fraenkel,  Weichselbaum), 
der  Mening-ococcus  intracellularis  (Weichselbaum),  der  Bacillus 
typhi  (Eberth,  Gaffky),  das  Bacterium  coli  commune  (Es  eher  ich), 
der  Bacillus  pneumoniae  (Friedländer),  der  Bacillus  rhinosclero- 
matis  (v.  Frisch,  Paltauf,  v.  Eiseisberg),  der  Tuberkelbacillus 
(Koch  und  Baumgarten),  der  Bacillus  diphtheriae  (Klebs,  Löff- 
le r),  der  Bacillus  tetani  (Rosenbach,  Kitasat o),  der  Bacillus 
oedematis  maligni  (Koch),  der  Bacillus  leprae  (Hansen,  Neisser), 
der  Bacillus  mallei  (Schütz,  Löffle r),  der  Bacillus  influenzae 
(Pfeiffer),  der  Bacillus  pestis  bubonicae  (Kitasato,  Yersin),  die 
Vibrionen  der  Cholera  asiatica  (Koch)  und  das  Microsporon  furfur 
(E  i  c  h  s  t  e  d  t).  Es  wurde  weiter  die  pathogene  Wirkung  dieser  sowie 
sonstiger  im  oder  auf  dem  menschlichen  Körper  gefundener  Phyto- 
parasiten  sehr  eingehend  studiert,  dadurch  das  Wesen  der  sogenannten 
Septhämie  und  Pyohämie  präcisiert,  die  Begriffe  der  primären  und 
metastatischen  Entzündung  und  die  primäre  und  sekundäre  Infektion 
sowie  die  Mischinfektion  klargestellt  und  überhaupt  die  Pathogenese 
und  pathologische  Anatomie  einer  ganzen  Reihe  von  Infektionskrank- 
heiten aufgeklärt,  so  z.  B.  der  Tuberkulose  und  Lepra,  des  Typhus 
abdominalis,  der  Gonorrhoe,  des  Skleroms,  der  Aktinomykose,  der 
Mizbrandinfektion,  der  verschiedenen  Meningitiden,  Otitiden,  Pharyn- 
gitiden,  Pneumonien  und  Endocarditiden,  des  Tetanus,  des  Soors  und 
verschiedener  Erkrankungen  durch  Schimmelpilze.  Zahlreiche  Lehr- 
bücher und  Atlanten  der  Bakteriologie  resp.  Phytoparasitologie  ent- 
standen (Flügge,  Baumgarten,  Cornil  und  Babes,  Hüppe, 
Fraenkel,  Bouchard,  Günther,  Fraenkel  und  Pfeiffer, 
Heim,  Lehmann  und  Neumann,  Weichselbaum)  und  auch 
seitens  der  Botaniker  wurde  den  Phytoparasiten  des  Menschen  und 
speziell  den  Bakterien  immer  grössere  Aufmerksamkeit  zugewandt 
(De  Bary,  Fischer,  Zopf,  Migula). 

Auch  in  der  speziellen  pathologischen  Anatomie  wurde  sehr 
viel  geleistet  und  hebe  ich  hier  besonders  hervor 

bezüglich  des  Blutes  den  Nachweis  der  Anaemia  essentialis 
(Biermer),  der  myelogenen  Leukämie  (Neu mann),  der  Plethora 
Vera  (Bo  Hing  er)  und  der  entzündlichen  Leukocytose  (Ha  IIa, 
V.  Limb  eck)  sowie  die  Studien  über  die  Leukocyten  (Ehrlich, 
Löwit), 

bezüglich  der  Haut  die  zahlreichen,  zumeist  von  den  Derma- 
tologen ausgeführten  Untersuchungen  über  die  feineren  histologischen 
Verhältnisse  der  verschiedenen  Dermatitiden,  die  Feststellung  des 
Zusammenhanges  der  multiplen  Fibrome  der  Haut  mit  den  Nerven 
der  Haut  (v.  R  e  c  k  1  i  n  g  h  a  u  s  e  n)  und  die  Arbeiten  über  Rhinoskleron 
(Hebra,  v.  Mikulicz),  über  Myxödem  (Gull),  über  Hypertrichosis 
(Ecker,  Bartels),  über  die  Polymorphie  der  Hauttuberkulose,  über 
das  Keratoma  diffusum  congenitum  und  die  sogenannten  Atheromcysten, 

bezüglich  des  Auges  die  hohe  Entwicklung  der  pathologischen 
Histologie  aller  Erkrankungen  des  Auges  seitens  der  fast  durchwegs 
auf  anatomischem  Gebiete  ungemein  thätigen  Ophthalmologen,  womit 
vielfach  auch  vom  allgemein  pathologisch-anatomischen  Standpunkte 
aus  sehr  wichtig  zu  nennende  Erkenntnisse  zu  Tage  gefördert  wurden, 
so  in  betreff  der  Entzündung  durch  die  Untersuchungen  über  die 
Keratitis,  in  betreff  der  Neoplasmen  durch  die  Untersuchungen  über 
das  Glioma  respektive  Neuroepithelioma  retinae  und  in  betreff  der 


J 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  553 

lokalen  Amyloidose  durch  die  Untersuchungen  über  die  Amyloidosis 
conjunctivae. 

bezüglich  des  Gehörorganes  die  Feststellung  der  Aetiologie 
und  Genese  der  Otitis  media  acuta  (Zaufal.  Weichselbaum),  die 
Untersuchungen  über  die  Genese  der  Otitis  tuberculosa  (Haber- 
m  a  n  n)  und  die  zahlreichen  Arbeiten  über  die  pathologische  Histologie 
des  Labj'rinths, 

bezüglich  des  Knochensystems  die  Studien  über  die  regene- 
ratorische Bedeutung  des  Knochenmarkes  bei  Blutverlusten  (Neu- 
mann, Ponfick),  über  die  lakunäre  Resorption  (Kölliker),  die 
Osteomalacie  und  Rachitis  (v.  Recklinghausen,  Pommer),  die 
Aktinomykose  der  Knochen  (Ponfick),  die  Entzündungen  der  Knochen 
bei  Variola,  das  Myelom  (Zahn,  Kahler),  die  Coxa  vara  (Bruns), 
die  Skoliosen  (Albert,  Nicoladoni),  die  Beckenanomalien  überhaupt 
(Litzmann,  Michaelis,  Schauta,  Breus  und  Kolisko)  und 
einzelne  besondere  Beckenformeu,  so  das  Kyphosebecken  (Breisky), 
das  spondylolisthetische  Becken  (Kilian),  das  schräg-  und  querver- 
engte Becken  (Naegele,  Robert)  und  über  die  neuropathischen 
Arthritiden, 

bezüglich  der  Muskeln  die  Erkenntnis  der  idiopathischen  Muskel- 
atrophie (Friedreich,  Erb,  Landouzy  und  Dejerine),  der 
Pseudohypertrophie  (Griesinger,  Billroth),  des  lakunären  Muskel- 
schwundes (Klemensiewicz)  und  der  Häufigkeit  der  Muskelfaser- 
verkalkung (Seh  ujenin  off)  sowie  die  Arbeiten  über  die  wachsartige 
Degeneration  der  Muskelfasern  (Zenker,  Erb), 

bezüglich  des  Cirkulationssystems  die  Untersuchungen  über 
die  Myomalacia  cordis  (Ziegler),  die  Segmentatio  myocardii  (Re- 
naut,  V.  Recklinghausen),  die  Arteriitis  syphilitica  der  Hirn- 
arterien (Heubner),  die  Periarteriitis  nodosa  (Kussmaul  und 
Mai  er,  Meyer)   und   die  Aneurysmen  (Ponfick,   Eppinger), 

bezüglich  des  Nervensystems  die  zahlreichen  anatomischen 
Untersuchungen  zur  Pathologie  des  Gehirns  (Meynert,  Gudden, 
Westphal,  Charcot)  und  Rückenmarkes  (Türck,  Duchenne, 
Charcot,  Leyden,  Simon,  Flechsig,  Westphal,  Kahler 
und  Pick,  Dejerine,  Erb,  Marie,  Strümpell)  und  über  Neu- 
ritis (Strümpell,  Pitres  und  Vaillard,  Leyden,  Dejerine) 
sowie  die  Studien  über  die  Porenkephalie  (Heschl,  Kundrat)  und 
das  Xeuroglioma  cerebri  (Klebs), 

bezüglich  des  Respirationssystems  die  Entwicklung  der 
pathologischen  Anatomie  der  Nase  (Zuckerkandl).  die  Arbeiten 
über  das  Emphysema  pulmonum  (Eppinger,  Grawitz),  die  Pneu- 
monokoniose  (Arnold)  und  die  Lungeninduration  (Eppinger,  Mar- 
chand, Wagner,  v.  Kahl  den,  Ribber  tj,  die  hochwichtige  Ent- 
deckung der  Cachexia  strumi  priva  (Kocher)  und  die  Untersuchungen 
zur  Histologie  der  Struma  (Wolf  1er,  Gutknecht),  über  aberrierte 
Strumen  (Kaufmann.  R.  Pal  tauf),  über  Tuberkulose  der  Schild- 
drüse und  über  die  Persistenz  der  Thymus  (Waldeyer), 

bezüglich  des  Dig es tions Systems  die  Arbeiten  über  Ranula 
(Bochdalek,  v.  Recklinghausen,  Neumann).  Tuberkulose  der 
Mundspeicheldrüsen  (Finger,  Stubenrauch,  Paoli,  Bockhorn, 
Scheibj,  Oesophagusdivertikel  (Zenker),  peptische  Ulceration  des 
Oesophagus  (Zenker,  Quincke),  Aetzungsstrikturen  des  Oesophagus 
(v.  Hacker),  Oesophagustuberkulose  (Birch-Hirschfeld,  Orth, 


554  H.  Chiari. 

Zenker,  Breus,  Beck,  Glockner),  muskuläre  Pylorusstenose 
(Mai er),  urämische  Darmnekrose  (Treitz),  Darmkatarrh  (Noth- 
nagel), Entzündung  des  Wurmfortsatzes,  Hernia  interna  (Treitz), 
Leberinfarkte  (Z a h n) ,  Siderosis  hepatis  (Quincke),  Cirrhosis  hepatis 
(Ackermann,  Charcot,  Sabourin,  Hanot,  Kretz),  Choleli- 
thiasis  (Naunyn),  Fettgevvebsnekrose  des  Pankreas  (Baiser),  Auto- 
digestion des  Pankreas  und  die  Tuberkulose  des  Pankreas  (Kudre- 
wetzky), 

bezüglich  des  uropoe tischen  Systems  die  Untersuchungen 
über  den  Morbus  Brighti  (Bamberger,  AVagner,  Cornil),  über 
die  Entstehung  der  Harncylinder  (Burckhart,  Weissgerber  und 
Perls,  Knoll),  die  Hypernephrome  der  Nieren  (Grawitz),  die 
Harnsteine  (Posner,  Ebstein)  und  die  accessorischen  Nebennieren 
(Marchand,  d'Ajutolo,  Schmorl)  sowie  die  Erkenntnis  der  Be- 
deutung pathologischer  Veränderungen  in  den  Nebennieren  für  den 
ganzen  Körper  (Addison), 

bezüglich  des  Genitalsysteras  die  Arbeiten  über  die  Orchitis 
typhosa  (Tavel),  die  Orchitis  variolosa,  die  Teratome  des  Hodens 
(Wilms),  die  Cysten  der  Ausführungsgänge  der  Cowperschen  Prüsen 
(Elbogen),  die  accessorischen  Ovarien  (Bei gel),  die  Tubo-Ovarial- 
cysten  (Zahn),  die  Kystome  des  Ovariums  (Waldeyer,  Pfannen- 
stiel), die  Teratome  des  Ovariums  (Wilms),  die  Salpingitis  nodosa, 
die  Uterusmyome  (v.  Recklinghausen,  v.  Kahlden,  Williams, 
Pick)  und  die  Colpohyperplasia  cystica. 

Recht  wichtig  waren  weiter  die  technischen  Fortschritte  in  der 
pathologischen  Anatomie,  welche  teils  die  Sektionstechnik,  teils  die 
Herstellung  von  Musealpräparaten,  teils  die  pathologisch-histologische 
Präparation  betrafen. 

Bezüglich  der  Sektionstechnik  wurde  einerseits  die  all- 
gemeine pathologisch-anatomische  Sektionsmethode  der  beiden  Funda- 
toren der  modernen  pathologischen  Anatomie,  Rokitansky  und 
Virchow  weiter  ausgebildet  und  vielfach  neu  beschrieben,  anderer- 
seits wurden  neue  Methoden  für  die  Sektion  einzelner  Teile  des  Körpers 
erdacht,  so  hinsichtlich  des  Gehirns  (Meynert,  Pitres,  Nothnagel), 
des  Herzens  (Prausnitz),  der  Nasenrachenhöhle  (Schalle,  Klebs, 
Pölchen,  Harke,  Beneke,  Scheier)  und  des  Gehörorganes 
(Politzer). 

Die  Herstellung  instruktiver  und  schöner  Musealpräparate 
wurde  wesentlich  gefördert  durch  die  Konstruktion  zweckmässiger 
und  rasch  arbeitender  Knochen-Macerations-  und  Entfettungsapparate 
(Planer,  Heschl),  ganz  besonders  aber  durch  die  Einführung  der 
Formalinkonservierung  (Blum,  Melnikow-Raswedenkow, 
Jores,  Kaiserling).  Auch  wurde  vielfach  die  Plastik  zur  Repro- 
duktion pathologisch- anatomischer  Veränderungen  herangezogen. 

Was  die  pathologisch-histologische  Technik  anbelangt, 
so  erfuhr  dieselbe  eine  gewaltige  Entwicklung.  Es  wurden  zahlreiche 
neue  Methoden  der  Fixation  angegeben,  mit  denen  sehr  wesentliche 
neue  Details  zur  Darstellung  gebracht  werden  konnten,  so  die  Fixation 
in  der  F 1  e  m  m  i  n  g  sehen  Lösung,  in  den  R  ab  Ischen  Sublimat-Pikrin- 
säure- und  Platinchloridmischungen,  in  der  Zenk ersehen  Flüssigkeit 
und  in  der  Müller-Formolmischung  von  Orth;  es  wurde  die  Koch- 
methode für  die  Darstellung  von  Exsudaten  in  den  Geweben  (P  o  s  n  e  r) 
und  die  Gefriermethode  für  das  rasche  Anfertigen  von  Schnitten  aus 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  555 

frischen  Gewebsstücken  eingeführt;  es  wurde  die  Technik  der  mikro- 
skopischen Schnitte  auf  eine  früher  ungeahnte  Höhe  der  Vollendung 
gebracht  und  zwar  durch  die  Konstruktion  präcis  arbeitender  Mikro- 
tome (Thoma-Jung)  und  durch  die  Erfindung  der  Einbettung  in 
Celloidin  (Duval,  Schie  ff  erdecke  r)  und  in  Paraffin,  womit  auch 
die  Anfertigung  von  lückenlosen  Schnittserien  ermöglicht  wurde:  es 
wurden  die  verschiedenartigsten  neuen  Farbstoffe  zumal  aus  den  Ani- 
linfarbstoffen für  die  Färbung  mikroskopischer  Schnitte  in  Verwendung 
gezogen  und  damit  ungemein  instruktive  einfache.  Doppel-  und  Mehr- 
fachfärbungen erzielt,  und  es  wurden  zahlreiche  besondere  Färbungs- 
methoden für  bestimmte  Zwecke  erfunden,  so  für  die  Färbung  patho- 
gener  Mikroorganismen  (Weigert,  Gram,  Ehrlich)  für  die  elektive 
Färbung  des  Amyloids  (Heschl,  Jürgens,  Cornil),  des  Mucins 
(Hoyer),  der  elastischen  Fasern  (Taenzer,  Weigert),  der  Mark- 
scheiden (Weigert ),  der  Neuroglia  ( W e i g e r t),  des  Fibrins  (Wei- 
gert) und  für  die  Darstellung  der  Degeneration  von  Nervenfasern 
(Mar Chi  und  Algeri).  Dank  diesen  Methoden  konnten  jetzt  mit 
den  wesentlich  verbesserten  Mikroskopen  (Abbe scher  Apparat,  Oel- 
immersion)  früher  ganz  unbekannte  pathologisch  -  histologische  Ver- 
hältnisse erkannt  werden  und  daraus  über  die  Genese  pathologischer 
Veränderungen  wichtigste  Aufschlüsse  gewonnen  werden. 

Sehr  zahlreich  waren  schliesslich  die  in  dieser  Zeit  erschienenen 
Lehrbücher  und  Atlanten  auf  dem  Gebiete  der  pathologischen 
Anatomie. 

Auf  die  allgemeine  pathologische  Anatomie  allein  be- 
ziehen sich 

die  Physiologie  pathologique  von  Lebert,  Paris  1845, 

die  Lezioni  di  anatomia  patologica  generale  von  di  Guilio,  Neapel  1850, 

das  Savdbuch  der  allgemeinen  Pathologie  von  Ulile  und  Wagner,  Leipzig 

1862,  7.  Auflage  1876, 

das  Compendio  di  anatomia  patologica  generale  von  Tariifft,  Bologna  1870, 
das  Lehrbuch  der  allgemeinen  pathologischen  Anatomie  von  Maier,  Leipzig  1871, 
die  Anatomia  patologica  von  SangaUi,  Pavia  1873, 
die  Elements  d'anatomie  et  de  physiologie  pathologiques  generales  von  Wehen- 

kell,  Brüssel  1875, 

das  Lehrbuch   der  allgemeinen  pathologischen  Anatomie  von  Perls,   Stuttgart 

1877—1879,  3.  Auflage  (Xeelsen)  1894, 

die   Vorlesungen  über  allgemeine  utid  experimentelle  Pathologie  von  Stricker, 
Wien  1877-1883, 

die  Vorlesungen  über  allgemeine  Pathologie  von  Cohnheim,  Berlin  1877 — 1880, 
das  Handbuch  der  allgemeinen  Pathologie  von  Satnuel,  Stuttgart  1879, 
die  allgemeine  pathologische  Anatomie  von  Lange,  Kopenhagen  1878 — 1883, 
2.  Auflage  1897  (dänisch), 

die  Lezioni  di  patologia  generale  von  Volenti,  Rom  1881—1885, 

das  Handbuch  der  allgemeinen  Pathologie  des  Kreislaufes  und  der  Ernährung 
von  V.  Rei:klinghausen,  Stuttgart  1883, 

die  Elemente  der  Pathologie  von  Hl ntl fleisch,  Leipzig  1883, 

die  allgemeine  Pathologie  von  Klebs,  Jena  1887 — 1889, 

der  Traite  elementaire  de  pathologie  generale  von  Hallopeau,  1887,  5.  Auf- 
lage 1898, 

das  Manual  of  general  Pathology  von  JPai/ne,  London  1888, 
der  Grundriss  der  allgemeinen  Pathologie  von  Birch- Hirschfeld,  Leipzig  1892, 
der  Traite  de  pathologie  generale  von  Bouchard,   Paris  1895  (2.  Band  mii 
Hager,  1896), 

das  Manual  de  anatomia  patologica  general  von  Matnon  y  Cajal,  Madrid  1896 
und  die  Patologia  moderna  von  Monti,  Turin  1898. 


556  H.  Chiari. 

Die  gesamte  pathologische  Anatomie  oder  die  spe- 
zielle allein  umfassen 

das  Lehrbuch  der  pathologischen  Anatomie  und  Diagnostik  von  Bock,  Leipzig 
1847;  1849;  1864, 

das  Lehrbuch  und  das  Handbuch  der  pathologischen  Anatomie  von  Förster, 
Jena  1850;  10.  Auflage  1876  (Siebert),  resp.  Leipzig  1854—1855;  2.  Auflage  1865, 

das  Compendium  der  pathologischen  Anatomie  von  Wislocki,  Wien  1853, 

das  Manual  of  pathological  Aruitomy  von  Jones  und  Sieveking,  London  1854; 
1875  (JPayne), 

das  Compendium  der  allgemeinen  und  speciellen  pathologischen  Anatomie  von 
Heschl,  Wien  1855, 

der  Grundriss  der  pathologischen  Anatomie  von  Kolb,  Stuttgart  1855, 
das  Lehrbuch  der  imihologischen  Anatomie  von  Engel,  Wien  1856—1865, 
der   Tratte   d'anatomie  pathologique  generale  et  speciale  von  Lebert,   Paris 
1857—1861, 

die  Lections  on  pathological  Anatomy  von  Wilks,  London  1859;  mit  Moxon 
1875;  1889, 

die  Grundzüge  der  pathologischen  Anatomie  von  Jßrodoivski,  Warsclmu  1860, 

das  Hatidbuch  der  pathologischen  Anatomie  von  Klebs,  Berlin  1868 — 1876; 
Fortsetzung  von  Schwartze  1878  und  Eppinger  1880, 

das  Compendium  der  pathologischen  Anatomie  von  Joseph,  Berlin  1871;  1873; 
Leipzig  1884  (Hennig);  1889, 

die  Introduction  to  Pathology  and  morbid  Anatomy  von  Green,  Philadelphia 
1871;  3.  Auflage  1898, 

das  Handbook  of  post  mortem  axaminations  and  of  morbid  Anatomy  von 
DelafteUl,  New- York  1873, 

der  Traite  d'anatomie  pathologique  von  Lanceraux,  Paris  1875 — 1889, 

das  Compendium  der  pathologisch-anatomischen  Diagnostik  von  Orth,  Berlin 
1876;  6.  Auflage  1900, 

das  Lehrbuch  der  pathologischen  Anatomie  von  Bircli-Hirschfeld,  Leipzig 
1876;  5.  Auflage  1896, 

die  Nouveaux  Clements  d'anatomie  pathologique  descriptive  et  histologique  von 
Labotilbene,  Paris  1879, 

das  Lehrbuch  der  allgemeinen  und  speciellen  pathologischen  Anatomie  von 
Ziegler,  Jena  1882;  9.  Auflage  1898, 

die  Istituzioni  di  anatomia  patologica  von  Tommasi-Crudeli,  Turin 
1882—1883, 

das  Manual  of  Pathology  von  Coats,  Philadelphia  1883 ;  3.  Auflage  1895, 

die  Practical  Pathology  von  Woodhead,  Edinburgh  1883;  1885, 

die  Anatomia  patologica  von  Colotniatti,  Turin  1884, 

das  Handbook  of  pathological  Anatomy  and  Histology  von  Delafield  und 
Prudden,  New- York  1885;  5.  Auflage  1897, 

das  Lehrbuch  der  speciellen  pathologischen  Anatomie  von  Orth,  Berlin  1887 
(die  Haut  von  Unna,  1894), 

der  Precis  elementaire  d'anatomie  pathologique  von  Abadie-Leroy,  Paris  1887, 

das  Textbook  of  Pathology  von  Hamilton,  London  1889 — 1894, 

der  Abriss  der  pathologischen  Anatomie  von  Fütter  er,  Wiesbaden  1890 ;  1891, 

das  Compendium  der  pathologischen  Anatomie  von  Langerhans,  Berlin 
1891;  1896, 

der  Grundriss  der  pathologischen  Anatomie  von  Schmaus,  Wiesbaden  1893 ; 
5.  Auflage  1899, 

der  Grundriss  der  pathologischen  Anatomie  von  Gerdes,  Stuttgart  1893, 

der  Traite  elementaire  d'anatomie  pathologique  von  Cogne,  Paris  1893, 

das  Lehrbuch  der  pathologischen  Anatomie  von  Thoma,  Stuttgart  1894, 

das  Lehrbuch  der  pathologischen  Anatomie,  Histologie  und  Bakteriologie  von 
Hlava  und  Obrznt,  Prag  1894 — 1897  (cechisch), 

das  Lehrbuch  der  speciellen  pathologischen  Anatomie  von  Kaufmann, 
Berlin  1896, 

the  Pathologists  Handbook  von  Kelynack,  London  1899, 

das  Textbook  of  Pathology  von  Stengel,  London  1899 

und  die  Elemente  der  pathologisch -anatomischen  Diagnostik  von  Israel, 
Berlin  1900. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  557 

Die  pathologische  Histologie  allein  betreffen 

die  pathologische  Geivebelehre  von  CrUnsburg,  Leipzig  1845 — 1848, 
die  Grundzüge  der  pathologisclien  Histologie  von  JFedl,  Wien  1854, 
das  Lehrbuch  der  allgemeinen  pathologischen  Anatomie  der  Gewebe  des  Menschen 
von  Winther,  Giessen  1860, 

die  erste  Abtheüung  der  allgemeinen  Pathologie  von  Paulicki,  Lissa  1862, 
der  Tratte  elementaire  d/histologie  normale  et  pathologique  von  J£oi'el,  Paris 
1864;  3.  Auflage  1879, 

das  Lehrlmch  der  pathologischen  Gewebelehre  von  Mindfleischf  Leipzig  1867 — 
1869;  6.  Auflage  1886, 

der  Manuel  d'hisiologie  pathologique  von  Cornil  und  JSaiivier,  Paris  1869 — 
1876;  1881-1882:  1901, 

die  Practical  Histology  and  Pathology  von  Gibbes,  Philadelphia  1881 ;  3.  Auf- 
lage 1885, 

das  Practicum  der  patJiologischen  Histologie  von  Israel,  Berlin  1889;  1893, 
die    Grundzüge   einer   allgemeinen    Pathologie    der    Zdle    von    Liickjanou', 
Leipzig  1891, 

das  Textbook  of  morbid  Histology  von  Boyce,  London  1892. 

der  Grundriss  der  pathologischen  Histologie  von  Weichselba  um,  Wien  1892, 

das  Lehrbuch  der  pathologischen  Histologie  von  Ribbei't,  Bonn  1896 

und  der  Traite  elementaire  d'histologie pathologique  von  Brandeis,  Paris  1899. 

Von  Atlanten  sind  zu  nennen 

der  Atlas  der  pathologischen  Anatomie  von  Bock,  Leipzig  1854. 

der  Atlas  der  mikroskopischen  pathologischen  Anatomie  von  Förster,  Leipzig 
18o4r-1859, 

der  Atlas  zu  der  früher  erwähnten  Physiologie  pathologique  von  Lebertf 
Paris  1845 

und  der  Atlas  zu  dem  früher  erwähnten  Traite  d'anatomie  pathologique  generale 
et  speciale  von  Lebert,  Paris  1857 — 1861, 

der  Atlas  d'anatomie  pathologique  von  Lanceraux  und  Lackerbauer, 
Paris  1868, 

der  Atlas  der  pathologischen  Histologie  von  Tliierf eider,  Leipzig  1872 — 1881, 

der  Atlas  zu  der  früher  erwaJinten  Aiuxtomia  patologica  von  Sangalli, 

die  pathologisch-anatomischen  Tafeln  von  Suinpel,  Watidsbeck  1892, 

der  Atlas  der  patlwlogischen  Histologie  des  Nervensystems  von  Babes, 
Berlin  1892, 

der  Attas  der  pathologischen  Gewebelehre  von  G-raivitz,  Berlin  1893, 

der  Atlas  der  pathologischen  Gewebelehre  in  niikrophotographischer  Darstellung 
von  Karg  und  Sc/unorl,  Leipzig  1893, 

der  Atlas  und  Grundriss  der  pathologischen  Anatomie  von  Bollinger,  München 
1896—1897:  2.  Auflage  1901, 

der  stereoskopische  medicinische  Atlas  begründet  von  Keisser  1894,  Abth.  f. 
path.  Anatomie  red.  von  Poufick,  Leipzig.  1.  Folge  (Sclimorl)  1898.  2.  Folge 
(Kretz)  1900, 

der  stereoskopisch-photographische  Atlas  der  pathologischen  Anatomie  des  Herzetis 
und  der  grösseren  Blutgefässe  von  Schmorl,  München  1899, 

der  Atlas  und  Grundriss  der  pathologischen  Histologie  von  Dürck,  München  1900 

und  der  Cursus  der  pathologischen  Histologie  mit  einem  mikroskopischen  Atlas 
von  Aschoff  und  Gaylord,  Wiesbaden  1900. 


Aufgaben  eines  pathologischen  Anatomen  in  der  Gegenwart. 

Nach  der  gegebenen  Darstellung  ist  es  begreiflicli,  dass  nunmehr 
die  pathologische  Anatomie  an  ihre  Fachvertreter  ungemein  grosse 
Ansprüche  stellt  und  dass  es  für  einen  pathologischen  Anatomen  der 
Gegenwart  sehr  schwer  ist,  sein  ausgedehntes  Gebiet  zu  beherrecben. 
Er  muss  alle  Richtungen  der  pathologischen  Anatomie  betreiben,  er 
muss  makroskopischer  Anatom  und  Histolog  sein,  er  muss  experimentell 
und  bakteriologisch  untersuchen,  er  muss  als  pathologischer  Prosektor 
im  Stande  sein,  auf  die  naturgemäss  immer  mehr  sich  detaillierenden 


558  H.  Cliiari. 

Interessen  der  Vertreter  der  einzelnen  klinischen  Fächer  einzug-ehen  und 
dabei  stets  von  seinem  allg-emeineren  Standpunkte  als  pathologischer 
Anatom  das  ihm  zuströmende  Material  für  seine  Forschung  verwerten. 
Dann  wird  er  aber  auch  seinen  Platz  richtig-  ausfüllen,  und  sich  das 
richtige  Verhältnis  zwischen  ihm  und  den  Klinikern  von  selbst  er- 
geben. Die  pathologische  Anatomie  wird  von  der  Klinik  stets  neue 
Befruchtung  und  Anregung  empfangen  und  umgekehrt  wird  die  Klinik 
durch  die  pathologische  Anatomie  gefördert  werden,  so  dass  dann  der 
pathologische  Anatom  und  der  Kliniker  zum  Besten  des  Fortschrittes 
in  der  Erkenntnis  der  Krankheiten  zusammenwirken  werden. 

Wieviel  da  noch  zu  thun  ist,  zeigt  sich  Tag  für  Tag.  Fort  und 
fort  ergeben  sich  neue  Probleme.  Das  anatomische  Substrat  zahlreicher 
Funktionsstörungen  und  zahlreicher  Erkrankungsformen  wie  z.  B.  der 
verschiedenen  Psychosen  ist  festzustellen,  die  Genese  einer  ganze  Reihe 
von  Prozessen,  so  der  Bildungsanomalien  und  vieler  Ernährungsstörungen 
aufzudecken  und  die  Aetiologie  vieler  Krankheiten,  so  namentlich  vieler 
Infektionskrankheiten  und  der  Geschwulstbildungen  zu  eruieren  — 
durchwegs  schwierige  aber  auch  sehr  dankenswerte  Aufgaben,  bei 
denen  jeder  Schritt  vorwärts  zum  Segen  für  die  Menschheit  werden  wird. 


Litteratur  der  pathologischen  Anatomie. 

Wie  bereits  erwähnt  wurde,  besass  die  pathologische  Anatomie 
ursprünglich  keine  eigene  Litteratur.  Erst  allmählich  bildete  sich  eine 
solche  aus  und  erschienen  einerseits  selbständige  Schriften  und  Werke 
lediglich  pathologisch-anatomischen  Inhaltes,  andererseits  entstanden 
entweder  vollständig  oder  zum  Teile  ausdrücklicli  der  pathologischen 
Anatomie  gewidmete  Journale. 

Von  letzteren  wären  in  der  Gegenwart  zu  nennen : 

das  Archiv  für  pathologische  Anatomie  und  Physiologie  und  für  klinische 
Medicin,  seit  1847,  Berlin,  gegründet  von  Virchow  und  Itehihardt, 

das  Jouryial  de  Vanatomie  et  de  la  physiologie  normales  et  pathologiques  de 
Vhomme  et  des  animaux,  seit  1864,  Paris,  gegründet  von  Mobin, 

das  Journal  of  Anatomy  and  Physiology  normal  and  pathological,  seit  1866, 
Cambridge  und  London,  gegründet  von  MutnpJiry  und  Turner^ 

die  Beiträge  zur  pathologischen  Anatomie  und  allgemeinen  Pathologie,  seit  1886, 
Jena,  gegründet  von  Ziegler, 

die  Archives  de  medecine  experimentale  et  d'anatomie  pathologique,  seit  1889 
Paris,  gegründet  von  Charcot, 

das  Jotirnal  of  Pathology  and  Bacteriology,  seit  1892,  Edinburgh,  gegründet 
von  Woodhead, 

das  Centralblatt  für  allgemeine  Pathologie  und  pathologische  Anatomie,  seit 
1890,  Jena,  gegründet  von  Zieyler, 

die  Abtheilung  C.  für  pathologische  Anatomie  der  Bibliotheca  medica,  seit  1893, 
Cassel,  gegründet  von  Flügge,  Ponflck,  und  Weigert, 

die  Ergebnisse  der  allgemeinen  Pathologie  und  piathologischeyi  Anatomie  des 
Menschen  und  der  Thiere,  seit  1894,  Wiesbaden,  gegründet  von  Luharsch  und 
Ostertag, 

die  Rivista  italiana  di  patologia  generale  e  anatomia  patologica,  seit  1896, 
Turin,  gegründet  von  Lustig  und  JBanti, 

das  russische  Archiv  für  Pathologie  und  klinische  Medicin  und  Bakteriologie, 
seit  1896,  St.  Petersburg 

und  die  Abtheilung  für  pathologische  Anatomie  und  verwandte  Disciplinen  der 
Zeitschrift  für  Heilkunde,  seit  1900,   Wien. 


Geschichte  der  pathologischen  Anatomie  des  Menschen.  559 

Weiter  wären  noch  anzuführen: 

die  Annales  de  Vanatomie  et  de  la  physiologie pathologiques,  1842—1843,  Paris 
gegründet  von  Pigne, 

das  Giornale  die  anatomia  e  fi»iologia  patologica  1864 — 1865,  Pavia,  1866 — 1867, 
Mailand, 

das  russische  Journal  der  normalen  und  pathologischen  Histologie  und  klinischen 
Medicin  1870—1876,  St.  Petersburg, 

das  Archivio  della  scuola  d'anatomia  patologica  di  Firenze  1881 — 1886  saune 
seine  Fortsetzung,  das  Archivio  di  anatomia  normale  e  patologica  1889 — 1890,  Florenz 

und  die  Teratologia :  Quarterly  Contrihutions  to  antenatal  Pathology,  1894 — 
1895,  London  %ind  Edinburgh,  von  Ballantyne 

sowie  die  Verhandlungen  der  verschiedenen  pathologischen  Gesell- 
schaften. SO: 

der  Pathological  Society  of  London, 

der  Pathological  and  Clinical  Society  of  Glasgow, 

der  Pathological  Society  of  Dublin, 

der  Pathological  Society  of  Manchester, 

der  Belfast  Clinical  and  Pathological  Society, 

der  Neic-York  Pathological  Society, 

der  Brooklyn  Pathological  Society, 

der  Pathological  Society  of  Philadelphia, 

der  Clinico-Pathological  Society  of  Washington, 

der  Chicago  Pathological  Society, 

der  Pathological  Society  of  Toronto, 

der  Societe  d'anatomie  et  de  physiologie  normales  et  pathologiques  des  Bordeaux, 

der  Societe  d'anatomie  pathologique  de  Bruxelles, 

und  der  deutschen  pathologischen  Gesellschaft. 

Ausserdem  wurden  und  werden  aber  auch  jetzt  noch  zahlreiche 
Arbeiten  pathologisch-anatomischen  Inhaltes  in  den  Berichten  anderer 
Gesellschaften  und  in  anderen  Journalen,  so  in  solchen  der  Bakterio- 
logie, der  internen  Medizin,  der  Chirurgie,  der  Gynäkologie  etc.  publi- 
ziert und  ist  überhaupt  die  litterarische  Produktion  auf  dem  Gebiete 
der  pathologischen  Anatomie  eine  ungemein  ausgedehnte,  so  dass  die- 
selbe sehr  schwer  zu  übersehen  ist  und  sich  wie  überall  so  auch  hier 
der  Wunsch  nach  einer  Konzentration  geltend  zu  machen  begonnen  hat. 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in 
der  neueren  Zeit. 


Von 
Ed.  Schaer  (Strassburg). 


Litt  er  atur  angab  en. 

In  dem  nachstehenden  Litteratur Verzeichnisse  sind  die  wichtigsten,  auf  den 
vorstehenden  Abschnitt  bezüglichen  Schriften  der  im  Texte  mit  Anmerkungszeichen 
versehenen  Autoren  aufgeführt,  wobei  u.  a.  namentlich  folgende  Werke  mit  benützt 
worden  sind: 

1.  MeyeVf  Geschichte  der  Botanik,  Königsberg  1854 — 57.  —  2.  J,  F.  G-nielin, 
Gesch.  der  Gifte,  Erfurt  1811  —  3.  Q.  Chiai'lone  n.  C.  Mallaina,  Historia 
critico-literaria  de  la  farmacia,  Madrid  1875,  III  Ed.  —  4.  F.  A.  Flückigei% 
Pharmakognosie  des  Pflanzenreiches,  III.  Aufl.,  Berlin  1891,  Anhang.  —  5.  IT. 
Haeser,  Lehrbxich  der  Geschichte  der  Medicin,  III.  Bearb.,  Jena  1875J83.  —  6.  J. 
JPagel,  Einführung  in  die  Geschichte  der  Medicin,  Berlin  1898. 


1.  Ueber  die  Schriften  des  Paracelstts  s.  K.  SndJioff,  Bibliographica  Para- 
celsica,  Kritik  der  Aechtheif  der  Paracclsischen  Schriften,  Berlin  1894. 

2.  Winther  von  Andernach^  De  medicina  veteri  et  nova,  Basileae  1571. 

3.  Sammlung  der  Schriften  von  J>ii  Chesne  in  Quercetanus  redivivus,  Francof. 
1648. 

4.  Porta,  Magiae  naturalis  libr.  XX  1589.  —  De  distillatione  libr.  IX, 
Bomae  1608. 

5.  Crollf  Basilica  chymica  continens  philosophicam  .  .  .  et  usum  remediorum 
chymicorum  sdectissimorum  .  .  .  Francof.  1608. 

6.  Libavius,  Alchymia  .  .  .  collecta  .  .  .  et  in  integrum  corpus  redacta, 
Francof.  1595.  —  Praxis  alchymiae  etc.,  Francof.  1604.  —  Neoparacelsica,  in  quibus 
vetus  medicina  etc.,  Francof.  1596.  —  Sammlung  s.  Schriften:  Opera  omnia  medico- 
chymica  1613—15. 

7.  Sala,  Angeli  Salae  opera  medico-chymica  .  .  .  quae  exstant  omnia,  Fran- 
cof. 1647. 

8.  Foesius,  Oeconomia  Hippocratis  alphabeti  serie  distincta  etc.,  Francof.  1588. 

9.  Cornarus,  Hipjiokrates- Ausgabe,  Venedig  1544.  S.  a.  Grüner,  J.  Cor- 
neri  conjecturae  et  emendationes  Galenicae,  Jena  1789. 

10.  Jjaguna,  Ttaduccion  y  comentarios  de  Dioscorides,  Salamanca  1563. 
Epitome  operum  Galeni,  Basil.  1551. 

11.  Winther  r.  Andernach  (s.  o.  2),  Alex.  TralUani  medici  libr.  XII 
graece  et  latine  etc.,  Basil.  1556.   —   Pauli  Aeginetne  opus  de  re  medica,  nunc 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.        561 

primum  latinitate  donatum  per  Joannetn  Cruinterium  Andemacuni,    Tenet 
1542. 

12.  Fuchs,  Nicolai  Jlyrepsi  Alexandinni  medicamentai-um  opus  etc. 
Basil.  1549.  —  InstituHones  medicae,   Venet.  1556. 

13.  Brunfels,  Liher  Serapionis  de  medicamentis  simplicihus  vel  de  tempera- 
mentis  simplicium,  Ärgentor.  1531.  —  Shasis  liher  medicinalis  ad  Almansorem, 
Ärgentor.  1531. 

14.  AmatHS  Ltisitamis,  Ä.  L.  in  Dioscoridis  de  materia  medica  libros  V 
enarrationes,   Venet.  1533. 

15.  1\  Cordus,  V.  Cordii  Annotationes  in  Dioscoridis  de  materia  medica 
libros  etc.    Edit.  Conr.  Gesneri,  Ärgentor.  1561. 

16.  Jlatthioli,  Discorsi  di  P.  A.  Matthioli  nei  sei  libri  della  materia  medi- 
cinale  di  Fedacio  Dioscoride,   Vinegia^  1555. 

17.  Briinfels,  Herbarum  vivae  eicones  (De  vera  herbarum  cognitione),  Ärgen- 
tor. 1530—36. 

18.  Tragus,  New  Kreutterbuch  von  nnterscheydt,  tcürckung  u.  d.  namen  der 
Kreutter  etc.,  Strassburg  1539.  —  Latein.  Ausg.  (D.  Kyber),  Ärgent.  1552. 

19.  Fuchs,  De  historia  stirpium  commentarii  etc.,  Basil.  1542. 

20.  Tabernaetnontanus,  Neuw  kreuterbuch,  Frankfurt  1588 — 91. 

21.  Clusius,  Barior.  plantar,  historia,  Äntverp.  1601.  —  Notae  in  Garciae 
aromatnm  historiam  etc ,   Äntverp.  1582.   —   Exoticor.  libri  X  etc.,  Äntverp.  1605. 

22.  V.  Cai'flus,  Historia  stirpium  etc.  (Historia  plantarum).  Edit.  Gessner, 
Ärgent.  1561.  —  Dispensatorium  pharmacopolarnm  etc.,  Xorimberg  (1546). 

23.  Dodonaeus,  Cruydebook,  Antvtrp.  1554.  —  Stirpium  pemptades,  Änt- 
verp. 1583. 

24.  Coudenberg,    Valeri  Cordi  dispensatorium  pharmacoriim  omnium 

adjecto  novo  ejusdem  libello,  Äntverp.  1568. 

25.  Laredo,  Metaphora  medicinae,  Sevill.  1521.  —  Modus  faciendi  cum  ordine 
medicandi  etc.,  Madrid  1527  (vergl.  über  e.  span.  Ausg.  (in  Paris)  E.  Cordofinier 
in  Janus  1900). 

26.  Lobelius,  Stirpium  adversaria  nova  (Animadversiones),  London  1570  (mit 
P.  Pena).  —  Stirpium  historia,  Äntverp.  1576. 

27.  Gerarde,  The  Herball  or  Generali  historie  of  plants.  London  1597.  — 
Catalog.  arborum  etc.  tarn  indigenarum  quam  exoticarum  in  horto  Gerardi  nascentium, 
Londin.  1596. 

28.  Gessner,  De  hortis  Germaniae  lib.  recens.,  Ärgent.  1561.  —  Historiae 
animalium  libr.  V,  Tigur.  1551.  —  Car.  Clusii  et  Conr.  Gesneri  epistolae  ineditae. 
Ed.  Treviranvs,  Lips.  1831.  —  C.  Gesneri,  Opera  botanica  ed.  Schmiedel,  Tigur. 
1751—71. 

29.  Bonafede,  Erster  „Lector  simplicium"'  a.  d.  Universität  Padua  von 
1533—49:  Gründer  des  dortigen  botan.  Gartens  (1545). 

30.  Anguillara,  Semplici  delV  eccellente  M.  Luigi  Änguillara,  .  . .  nuovamente 
da  G.  Marinelli  mandati  in  luce,  Venegia  1561. 

31.  Frosper  Alpinus,  „Ostensore  dei  Semplici-^  in  Padua.  —  De  plantis 
Äegypti  liher,   Venet.  1592.    De  medicina  Aegypfiorum  libr.  IV,  Venet.  1591. 

32.  Marino  Santtto,  Liher  secretorum  etc.,  Hanoviae  1611. 

33.  Fegolotti,  Della  decima  etc.    Edit.  Pagnini  1766. 

34.  Pasi,  Taripha  .  .  .  composta  per  M.  Bartholomeo  di  Paxi  di  Venezia, 
Tenezia  1503. 

35.  Conti,  The  travels  of  Nicolö  Conti  in  the  East  ...  by  R.  H.  Major, 
London  1857  (Hakluyt  Society).  —  Vergl.  auch  A.  de  Gnbernatis,  Storia  dei 
viaggiatori  ital.  etc.  Livorno  1875  p.  161;186. 

36.  Belon,  Les  observations  de  plusieurs  singularitez  et  choses  memorahles  etc.., 
Paris  1553.  —  Li  latein.  Uebertragung  im  Anhang  von:  C.  Clusii,  Exoticor. 
libr.  X  (s.  0.). 

37.  Acosta,  Tractado  de  las  drogas  y  medicinas  de  las  Indios  orientales  .  .  ., 
Burgos.  1578.  —  Verbreiteter  die  italien.  Ausgabe,  Venetiae  (Ziletti)  1585,  s.  a. 
Clusius,  Exoticor.  libr.  X. 

38.  Garcia  da  Orta,  Colloquios  dos  simples  e  drogas  da  India  etc.  Edit. 
Varnhagen,  Lissabon  1872.  Neue  kommentierte  Ausg.  v.  Conde  de  Ficalho^ 
Lisboa  1891J95:  s.  a.  Clusius,  Exot.  libr.  X. 

39.  Oriedo,  Historia  general  y  natural  de  las  Indias  etc.,  Madrid  1851155. 

40.  Monardes,  Historia  medicinal  de  las  cosas  que  se  traen  de  nuestras 
Indias  occidentules  etc.,  Sevilla  1574,  s.  a.  Clusius,  Exotic.  libr.  X. 

41.  Hernandez,  Novae  Hispaniae  Thesaurus  (Edit.  Recchi),  Romae  1651. 

42.  Clusius  (s.  0.  Nr.  21),  Äromatum  et  simplicium  aliquot  medicamentorum 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  ü.  36 


562  Ed.  Schaer. 

ap^id  Indios  nascentium  historia  ...   a  D.  Garcia  ab  Horto,  Äntverp.  (Edit.  IV) 
1593.     Im  Anhange  die  latein.  Uebersetzungen   von  Acosta  u.  Monardes  (s.  o.). 

—  Diese  letzteren,  sowie  diejenige  von  G,  da  Orta  ausserdem  in  Exotic.  Uhr.  X. 
(1605). 

43.  JLeniery,  Cours  de  chimie  applique  ä  la  medecine,  Paris  1675.  —  Pharma- 
copee  universelle,  Paris  1697.  —  Dictionnaire  universel  des  drogues  simples,  Paris  1697. 

44.  Barha,  Vera  praxis  ad  curationem  tertianae  etc.,  Hispali  (Sevilla)  1642. 

45.  J.  Chr.  Schröder,  Pharmacopoeia  medico-chymica  seu  Thesaurus  pharma- 
cologicus,   Ulm  1641.     Deutsche  A.  („A7-zney-Schatz"),  Nürnberg  1748. 

46.  E.  d :  Villa,  Examen  de  boticarios  Burgos  1632.  —  Ramillete  de  plantas., 
Burgos  1636.    De  simples  incognitas  en  la  medicina,  1  y  II  parte,  Burgos  1643154. 

—  Libro  de  los  doce  principes  de  la  medicina,  Burgos  1647. 

47.  Aniatus  Jjusitanus^  Curationum  medicinalium  centuriae  VII,  Florent. 
1551.  —  A.  L.  in  Dioscoridis  de  materia  medica  libros  V  enarrationes,   Venet.  1533. 

48.  JBaccrus,  De  venenis  et  antidotis  prolegomena,  Bomae  1586. 

49.  Musa  Brassavola,  Examen  omnium  simplicium  etc.,  Bomae  1536. 

50.  Charas,  Experiences  sur  la  vipere,  Paris  1669.  Deutsche  Ausg.  Frank- 
furt alM.  1679. 

51.  JRedi,  Experimenta  etc.,  Amstelod.  1675  (I  ital.  Ausg.,  Florenz  1671 :  auch 
in  Opere  di  F.  Bedi  etc.,  Venet.  1712).  Im  Anhange:  Observationes  de  viperis.  — 
Epist.  ad  aliq.  oppositiones  factas  in  siias  observ.  de  viperis. 


52.  Fr.  Hoffmann,  Medicina  rationalis  systematica,  Halle  1718—1740. 

53.  G.  E.  Stahl,  Theoria  medica  vera,  Kai.  1708.  —  Fundamenta  chimico- 
pharmaceutica  generalia  etc.,  Herrnstad.  1721.  —  Fundamenta  chymiae  dogmaticae 
et  experim.,  Norimb.  1723. 

54.  Th.  Goulard,  Traite  sur  les  effets  des  präparations  du  plomb.,  Mont- 
pell.  1760. 

55.  A.  Stoerck,  Libellus,  quo  demonstratur,  cicutam  .  .  .  esse  remedium 
valde  utile,  Vindob.  1760. 

56.  tf.  A.  Murray,  Apparatus  medicaminum,  Götting.  1776/89.  Deutsche 
Ausg.  1793. 

57.  St.  Fr.  Geoffroy,  Tractatus  de  materia  medica,  Paris  1741;  franz.  Ausg. 
(Traite  de  m.  m.  1757). 

58.  C.  Neutnann,  Praelectiones  chymicae  1740;  Chymia  medica  dogmatico- 
experimentalis  1749    55. 

59.  tf.  JRay,  Historia  plantarum,  London  1686 — 1704. 

60.  E.  Kaetnpfer,  Amoenitates  exoticae,  Lemgo  1712;  Geschichte  und  Be- 
schreibung Japans,  Lemgo  1777. 

61.  C  Ortega,  Tratado  de  la  naturaleza  y  virtudes  de  la  cicuta,  Madrid 
1762;  Historia  natural  de  la  malagueta  o  pimienta  de  Tabasco,  Madrid  1780. 

62.  H.  Muiz,  Flora  peruviana  et  chilensis,  Madrid  1798-  1802 ;  Quinologia 
6  tratado  de  drbol  de  la  Quina  ö  Cascarilla,  Madrid  1792  (con  supplem.  1801). 

63.  S.  Hahneniann,  Organon  der  rationellen  Heilkunde,  Dresden  1810; 
Reine  Arzneimittellehre,  Dresden  1811. 

64.  J.  G.  Jtadeniacher,  Verstandesrechte  Erfahrungs-Heillehre  etc.,  Ber- 
lin 184L 

65.  tT".  Zeller,  Dissertatio  de  docimasia  vini  lithargyrio  mangonisati  1707. 

66.  eT.  P.  Frank,  System  einer  vollständigen  medizinischen  Polizei  1779 — 1819. 

67.  F.  Fontana,  Ricerche  filosofiche  sopra  il  veleno  della  vipera,  Lucca  1765; 
Traite  sur  le  venin  de  la  vipere,  sur  les  poisons  americains  etc.,  Florence  1781. 

68.  F.  W.  J.  Schelling,  Ideen  zu  einer  Philosophie  der  Natur,  Leipzig  1797. 
Erster  Entwurf  e.  Systems  der  Naturphilosophie,  Jena  1799. 

69.  K.  G.  Mitscherlich,  Lehrbuch  d.  Arzneimittellehre,  Berlin  1847 — 1863 
(3  Bde.). 

70.  K.  D.  V.  Schroff,  Lehrbuch  der  Pharmakognosie  1853;  Lehrb.  d.  Pharma- 
kologie 1856. 

71.  A.  Gabler,  schrieb  einen  preisgekrönten  Kommentar  zur  französischen 
Pharmakopoe  (1868),  sowie  ein  in  letzter  Auflage  nach  seinem  Tode  publiziertes 
„Traite  de  therajne^. 

72.  G.  Orosi  schrieb  die  in  4  Aufl.  erschienene  „Farmacopea  italiana'^,  bzw. 
ein  an  die  italienischen  Arzneibücher  sich  anschliessendes  Handbuch  d.  Pharma- 
kologie. 

73.  JR.  JBuchhehn,  Lehrbuch  der  Arzneimittellehre  1856. 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.       56S 

7d.  Cl.  Bernard,  Legons  siir  ks  effets  des  substances  toxiqnes  et  medi- 
camenteuses,  Paris  1857.  —  Legmis  de  physiologie  experinientale  appliquee  ä  la 
medecine.  Paris  1855\56  (2  Vol.). 

75.  »7.  Pereira,  Elements  of  materia  medica  and  therapeutics  1839!  1840. 

76.  H.  F.  Fristedt,  Lärobok  i  arganisk  pharmacologi,   Upsala  1873. 

77.  P.  C.  Pluyge  verfasste  neben  zahlreichen  Arbeiten  phar makologisch- 
chemischen  Inhaltes  die  preisgekrönte  Schrift:  „Overzicht  van  de  icisselende  chemische 
Samenstelling  en  pharmacodynamische  icaarde  van  eenige  belangrijke  geneesmiddelen 
1885.    Deutsche  Bearbeitung  von  Ed.  Schaer,  Jena  1886. 

78.  Th.  Httsemann,  Handb.  d.  ges.  Arzneimittellehre  2  Bde.  1883;  von 
1866—1874.    Herausg.  des  Jahresberichtes  der  Pharmacie. 

79.  y.  Criiiboiirt,  Histoire  naturelle  des  drogues  simples,  4  Vol.,  VI.  Aufl. 
(Mitherausgeber:  G.  Platichon),  Paris  186970. 

80.  H.  A.  L.  Wiggers,  Handbuch  der  Pharmakognosie,  Y.  Auf,.,  Göttingen 
1864. 

81.  C.  A.  J.  A.  Oudemans,  Sandleiding  to  de  Pharmacognosie  van  het 
planten-  en  dierenrijk,  Haarlem  1865:  II.  Aufl.  Amsterdam  1880. 

82.  O.  ßerg,  Pharmaceutische   Waarenkunde.   Y.  Aufl.,  Berlin  1879. 

83.  F.  A.  Flüch-iger,  Lehrbuch  der  Pharmakognosie  des  Pflanzenreiches;  in 
3.  Aufl.  Berlin  1867,  1883  u.  1891.  —  Pharmacographia,  a  history  of  the  principal 
drugs  etc.  (mit  D.  Hanbury),  London,  IL  Aufl.  1879.  Franz.  Uebers.  von 
J.  L.  Lanessan,  2  Yol.,  Paris  1878. 

84.  31.  J.  B.  Orfila,  Traite  de  toxicologie  generale.  5.  Aufl.,  Paris  1852 
(2  Bde.).  Deutsche  Uebers.  Braunschweig  1852,53  (2  Bde.).  Italien.  Bearbeitg. 
Livorno  1833. 

85.  B,  Cliristisoti,  A  treatise  on  poisons,  in  relation  to  medical  jurisprudence, 
4tf>  Ed.,  London  1844145. 

86.  B.  Bellinl,  Lezioni  sperimentali  di  tossicologia. 

87.  Cr.  JJratßendorffy  Die  gerichtlich-chemische  Ermittelung  von  Giften  etc., 
III.  Aufl.,  Gattingen  1888. 

88.  A.  I>uflos,  Die  Prüfung  chemischer  Gifte  etc.,  Breslau  1867. 
89   Fr.  Jlohr,  Chemische  Toxikologie  etc.,  Braunschiceig  1874. 

90.  F.  J.  Otto,  Anleitung  zur  Ausmittelung  der  Gifte  etc.,  I.  Aufl.,  Braun- 
schiceig 1856:  YII.  Aufl.  herausg.  u.  bearbeitet  v.  B.  Otto,  Braunschweig  1896. 

91.  F.  L.  Sonnenschein,  Handbuch  d.  gerichtl.  Chemie,  IL  Aufl.  (bearb.  v. 
A.  Classen),  Berlin  1881. 

Wenn  die  Geschichte  der  Medizin,  welche  gerade  in  den  Zeiten 
ihrer  normalsten  Entwicklung  und  Bethätigung  das  charakteristische 
Doppelbild  einer  Kunst  und  einer  Wissenschaft  darbietet,  einigen  An- 
spruch darauf  erheben  darf,  als  ein  Stück  Kulturgeschichte  betrachtet 
und  behandelt  zu  werden,  so  gilt  dies  nicht  zum  wenigsten  von  dem 
Teile,  der  den  Inhalt  des  im  Titel  bezeichneten,  kurz  zu  fassenden 
Kapitels  bilden  soll.  Denn  einmal  musste  zu  allen  Zeiten  das  instink- 
tive Bestreben,  für  die  zahlreichen  menschlichen  Leiden  aus  der  uns 
umgebenden  Natur  selbst  die  wirksamen  Heilmittel  auszuwählen  und 
in  passende  Formen  zu  bringen,  jene  der  Arzneibereitung  gewidmete 
Thätigkeit  hervorrufen,  welche  die  Hauptaufgabe  der  Pharmacie  ge- 
blieben ist  und  jeweilen,  unter  dem  Einfluss  der  Zeitgeschichte,  des 
Ortes  und  der  ötfentlichen  Meinung  in  irgend  einer  eigenartigen  Ge- 
staltung sich  den  übrigen  Seiten  des  Kulturlebens  angereiht  hat. 

Andererseits  aber  zeigt  uns  der  Rückblick  auf  die  Vergangenheit 
der  Medizin  und  der  so  enge  mit  ihr  verknüpften  Pharmacie,  wie  auf- 
fallend und  deutlich,  zumal  für  unseren  heutigen  Gesichtspunkt,  der 
Einfluss  der  damaligen  M3-stik  und  Naturphilosophie,  der  astrologisch- 
alchymistischen  Anschauungen,  ja  selbst  des  auf  Schwarzkunst  und 
Zauberei  bezüglichen  Aberglaubens  sich  auch  in  der  Auswahl  und  Zu- 
bereitung, überhaupt  in  der  ganzen  Verwendung  der  Heilmittel  geltend 
machte,  und  wie  die  alte,  besonders  im  Mittelalter  dominierende 
Tendenz,  der  Mehrzahl  der  Naturobjekte  gewisse  geheimnisvolle  Kräfte, 

36* 


564  Ed.  Schaer. 

zum  mindesten  aber  Heilwirkungen  zuzuschreiben,  eine  der  in- 
teressantesten Erscheinungen  der  Kulturgeschichte  herbeiführen  musste. 

In  der  That  sehen  wir  mehrere  Jahrhunderte  lang  die  Natur- 
beobachtung, und  zwar  nicht  allein  die  beschreibenden,  sondern  z.  T. 
auch  die  experimentellen  Naturwissenschaften  —  denn  als  solche  wird, 
aller  Verirrungen  ungeachtet,  auch  die  sog.  Alchj^mie  zu  betrachten 
sein,  —  vorwiegend  im  Dienste  der  Heilkunst  stehen.  Die  Naturkunde 
jener  Zeitepoche,  sowie  die  zugehörige,  namentlich  die  botanische 
Litteratur  war  daher,  der  teleologischen  Richtung  und  den  vielfach 
einseitig  praktischen  Zwecken  der  damaligen  Naturbetrachtung  ent- 
sprechend, grossenteils  das  Erzeugnis  ärztlicher  Gelehrter,  welche,  durch 
Bildung  und  Geist  zum  philosophischen  Studium  der  Natur  angeregt, 
durch  ihren  Beruf  mit  den  Erscheinungen  an  lebenden  Körpern  ver- 
traut geworden  und  durch  die  Bedürfnisse  ihrer  Kunst  auf  eine  nähere 
Kenntnis  und  Verwertung  von  Naturprodukten  angewiesen,  während 
einer  längeren  Periode  die  Geschicke  der  Naturforschung  gewisser- 
massen  in  ihren  Händen  hielten. 

So  mochte  in  dieser  denkwürdigen  Zeit,  für  welche  ein  volles  Ver- 
ständnis nicht  mehr  erreichbar  erscheint,  kaum  ein  nach  irgend  einer 
Richtung  bemerkenswerter  Naturgegenstand  —  Mineral,  Pflanze,  Tier 
oder  Teile  derselben  —  bekannt  werden,  ohne  dass  der  Gesichtspunkt 
arzneilicher  Verwendung  oder  geheimnisvoller  innerer  Beziehungen 
zum  Menschen  in  den  Vordergrund  getreten  wäre;  denn  dieser  war 
es,  der  wie  ein  bunter  Einschlag  die  Naturbeschreibung  durchwirkte 
und  jede  Betrachtung  allfälligen  praktischen  Nutzens  ihrer  Objekte 
beherrschte. 

Dass  aber  nicht  allein  die  unmittelbaren  Naturerzeugnisse,  sondern 
auch  die  durch  chemische  Kunst  aus  ihnen  bereiteten  Stoffe,  die  Chemi- 
kalien, schon  frühzeitig  und  mit  Begierde  in  den  Dienst  der  Heilkunde 
gezogen  wurden,  lehren  uns  nicht  nur  die  bekannten  Endziele  der 
Alchymie  selbst,  sondern  auch  die  mannigfachen  und  charakteristischen 
Beziehungen  der  Medizin  zur  latrochemie,  welche  auf  alchyraistischen 
und  z.  T.  grobsinnlichen  Ansichten  über  die  Wirkungsweise  chemischer 
Substanzen  im  menschlichen  Körper  fussend,  während  einer  längeren 
Periode  der  materia  medica  ihren  besonderen  Stempel  aufdrückte,  um 
endlich  in  neuerer  und  neuester  Zeit,  durch  die  Fortschritte  der  Chemie, 
Pharmacie  und  Pharmakologie  wissenschaftlich  geläutert,  in  einem 
wesentlich  veränderten  Sinne  zum  Stütz-  und  Angelpunkte  der  modernen 
Arzneimittellehre  zu  werden. 

So  darf  denn  wohl,  in  Erinnerung  an  den  für  gewisse  Epochen 
der  Zeitgeschichte  unverkennbaren  Einfluss,  welchen  die  praktische 
Verwertung  und  Verarbeitung  zahlreichster  Naturobjekte  als  Arznei- 
mittel auf  die  beschreibenden  Naturwissenschaften,  ja  auf  die 
Naturkunde  überhaupt  ausgeübt  hat,  der  Pharmakologie  in  ihrer  Ver- 
bindung mit  der  Pharmacie  und  damit  der  Geschichte  dieser  Diszi- 
plinen eine  wenn  auch  bescheidene  Rolle  im  Rahmen  der  Kulturgeschichte 
kaum  versagt  bleiben,  wie  einseitig  auch  jene  Bedeutung  für  das 
geistige  Leben  des  einen  oder  anderen  Landes  und  Zeitalters  sich  ge- 
staltet haben  mag.  Ist  doch  die  Kulturgeschichte  nur  ein  Versuch 
möglichst  klarer  und  überblickender  Würdigung  aller  Faktoren,  die  in 
dem  wundersamen  Webstuhle  geistiger  und  materieller  Entwicklung 
der  Menschheit  zusammenlaufen! 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.       565 

I.  Das  sechzehnte  und  siebenzehnte  Jahrhundert. 

Die  Heilmittellehre  dieser  Periode,  für  die  wir  nicht  ohne  Vor- 
behalt die  Benennung  „Pharmakologie"  wählen  dürfen,  welche  in  ihrer 
modernen  Auffassung  einer  streng  experimentell-wissenschaftlichen 
Disziplin  entspricht,  hat  mit  manchen  anderen  Teilen  der  Medizin, 
wenn  auch  nur  schrittweise,  die  Einflüsse  jener  eingreifenden,  so  viele 
Gebiete  geistiger  Kultur  umfassenden  Reform  erfahren,  unter  deren 
Zeichen  zumal  das  sechzehnte  Jahrhundert  steht.  Für  die  Heilkunde 
und  damit  für  die  Pharmakologie  ist  diese  Reform  in  erster  Linie  an 
den  Namen  Theophrastus  Paracelsus  (oder  Theophrastus 
von  Hohenheim)^)  geknüpft,  dessen  vielumstrittene  Bedeutung  für 
die  Wiedergeburt  der  Medizin  im  Reformationszeitalter  erst  in  neuester 
Zeit  durch  ein  Musterwerk  kritischer  Quellenforschung  wohl  endgültig 
und  zwar  wesentlich  in  günstigem  Sinne  festgestellt  worden  ist. 

Paracelsus.  einesteils  aufgeklärt  genug,  um  nicht  den  groben 
Irrtümern  der  damaligen  Nekromantie,  des  Dämonenglaubens  und  anderen 
Aberglaubens  zu  unterliegen,  anf  der  anderen  Seite  aber  in  mancherlei 
philosophisch-theosophischen  und  astrologischen  Spekulationen  befangen 
und  das  Verständnis  seiner  Schriften  vielfach  durch  abstruse  theo- 
retische Darlegungen  und  symbolische  Andeutungen  erschwerend,  hat 
sich  dennoch  überall  als  ein  Gegner  toter  Schulweisheit  bekannt  und 
unentwegt  auf  die  Ergebnisse  der  Beobachtung  und  auf  die  aus  der 
Erfahrung  gewonnenen  Kenntnisse  als  auf  die  Grundlage  wahren 
Wissens  und  Könnens  auf  den  verschiedenen  Gebieten  der  Heilkunde 
hingewiesen.  So  wirkte  er,  zunächst  von  Gedankengängen  des  neu- 
platonischen Systems  ausgehend,  namentlich  nach  zwei  Richtungen 
reformatorisch  auf  die  Lehre  von  den  Arzneimitteln  und  ihrer  Ver- 
wendung. 

Einerseits  gelangte  er,  dem  damaligen  philosophischen  Dogma  der 
in  die  Stoffe  gelegten  geheimnisvollen  höchsten  Kraft,  des  „Archaeus" 
folgend,  zu  einer  wesentlich  anderen  Auffassung  der  Arzneistoffe  und 
Gifte,  d.  h.  zur  Theorie  der  „arcana",  nach  welcher  er  in  den  Heil- 
mitteln als  wirksames  Agens  gewissermassen  ein  Kraftsubstanz  höherer 
Ordnung,  die  „quinta  essentia"  annahm,  welche  namentlich  auch  die 
Heilwirkung  der  zahreichen  pflanzlichen  Arzneistoffe  erklären  sollte. 
Das  Bestreben,  aus  diesen  letzteren  die  quinta  essentia  thunlichst  zu 
isolieren  und  zu  konzentrieren,  führte  Paracelsus  zu  vielfachen  Vor- 
schriften über  die  Extraktion  der  wirksamen  Substanz  durch  Aus- 
ziehen der  Drogen  mit  Alkohol,  welcher  selbst  schon  als  eine  „quinta 
essentia"  des  Weines  galt,  sowie  durch  Destillation  und  Sublimation, 
Verfahrungsarten ,  die  unzweifelhaft  als  teilweise  Verbesserungen 
früherer  pharmaceutischer  Prozeduren  zu  betrachten  sind  und  noch 
heute  in  den  rationellen  Methoden  der  Tinktur-  und  Fluidextrakt- 
bereitung  nachwirken. 

Und  zweitens  verliess  er  mehr  und  mehr  die  griechisch-arabischen 
Doctrinen  von  den  körperlichen  Hauptsäften  (Blut,  Galle,  Schleim  und 
schwarze  Galle),  um  sich  einer,  wenn  auch  nicht  im  modernen  Sinne 
chemischen  Auffassung  des  W^esens  und  der  Bestandteile  der  Körper- 
organe, sowie  ihrer  als  Krankheit  auftretenden  Veränderungen  und 
Störungen  zuzuwenden,  wie  es  u.  a.  besonders  seine  Ansichten  über 
das  Wesen  der  Gicht  und  Lithiasis  darthun.  Es  ist  deshalb  erklärlich, 
dass  Paracelsus,  schon  frühe  mit  alchymistischen  Versuchen  und  Studien, 


566  Ed.  Schaer. 

im  besseren  Sinne  des  Wortes,  beschäftigt,  dazu  gelangte,  Metalle, 
Metall  Verbindungen,  verschiedene  Salze  und  andere  anorganische  Sub- 
stanzen, deren  chemische  Eigenschaften  viel  auffallender,  als  bei  den 
Vegetabilien,  zu  Tage  treten,  in  seine  materia  medica  einzuführen  und 
so  z.  B.  das  Quecksilber,  seiner  toxischen  Qualitäten  ungeachtet,  für 
die  Behandlung  der  Syphilis,  andere  Metalle  für  anderweitige  Leiden 
warm  zu  empfehlen  und  vor  allem  selbst  ausgiebig  zu  verwenden. 

Es  ist  bekannt,  welche  polemischen  Stürme  während  eines  Zeit- 
raums von  fast  hundert  Jahren  durch  die  Lehren  dieses  Neuerers  ent- 
facht wurden  und  wie  zahlreiche  medizinische  Dissertationen  und 
Pamphlete  an  einzelne  pharmakologisch  gehaltene  paracelsische  Schriften 
wie  z.  B.  das  Buch  „vom  Holtz  Guajaco"  (1529),  aber  auch  an  die  drei 
Bücher  „von  der  Frantzösischen  Kranckheit"  (1530)  anknüpften.  Aber 
wie  sehr  auch  übereifrige  Anhänger  des  genialen  Arztes  diesen  miss- 
verstanden und  z.  T.  über  die  von  ihm  gesteckten  Ziele  hinausgegangen 
sein  mögen,  so  wird  die  historische  Betrachtung  der  Pharmakologie 
nicht  anstehen  dürfen,  Paracelsus  das  Verdienst  wirksamen  Zurück- 
drängens der  mittelalterlichen,  oft  ebenso  gedankenlosen  wie  aber- 
gläubischen Polypharmacie,  überdies  aber  des  erfolgreichen  Hinweises 
auf  den  pharmakologischen  Wert  mancher  Metallpräparate  und  analoger 
Chemikalien  zuzuschreiben. 

Es  würde  jedoch  ungerecht  erscheinen,  anlässlich  der  geschilderten 
Eeformen  nur  des  Paracelsus  selbst  zu  gedenken  und  darüber  eine 
Anzahl  hervorragender  und  thätiger  „Paracelsisten"  zu  vergessen,  die 
teils  zu  Lebzeiten,  teils  nach  dem  Tode  des  Paracelsus  in  verschiedenen 
Ländern,  nicht  selten  unter  ungünstigen  Verhältnissen  mit  ihrer  ganzen 
Autorität  für  die  Verbreitung  und  Befestigung  der  ihnen  richtig  er- 
scheinenden Anschauungen  und  Vorschriften  ihres  Lehrers  eintraten. 
An  dieser  Stelle  mögen  nur  einige  wenige  der  wichtigsten  Namen 
solcher  Paracelsisten  genannt  werden,  welche  für  die  Förderung  der 
Heilmittellehre  im  paracelsischen  Sinne  Bedeutung  aufweisen.  Es  sind 
dies:  Johann  Winther  v.  Andernach'-)  (Guintherus  Andernacensis) 
in  Paris,  Joseph  du  Chesne'^)  (Quercetanus),  Leibarzt  Heinrichs  IV., 
welche,  beide  in  Frankreich  lebend,  in  diesem  Lande  sehr  viel  zur 
Verbreitung  und  Annahme  der  paracelsischen  Medizin  beigetragen  und, 
in  objektiverer  Weise  von  den  Extravaganzen  des  neuen  Systems  sich 
fernhaltend,  namentlich  die  Anwendung  der  chemischen  Heilmittel  des 
Paracelsus  befürwortet  haben;  Giovanni  Battista  della  Porta*) 
in  Neapel,  einer  der  ersten,  der,  auf  der  Doktrin  der  quinta  essentia 
fussend,  die  Darstellung  und  arzneiliche  Verwendung  ätherischer  Oele 
wie  z.  B.  des  Rosmarin-  und  Lavendelöles,  des  Rosenöles,  des  Nelken-' 
Öles  u.  s.  w.  an  die  Hand  nahm  und  neben  Joachim  Camerarius 
(s.  u.)  und  Valerius  Cordus  (s.  u.)  die  Kenntnis  und  Benützung 
dieser  so  wichtig  gewordenen  Pflanzensekrete  vermehrte;  Oswald 
CrolP)  in  Wittenberg,  ein  Paracelsist  von  weitreichender  Autorität, 
der  durch  zielbewusste  Empfehlung  der  Doktrinen  und  der  materia 
medica  des  Paracelsus,  insbes.  seiner  chemischen  Mittel,  wohl  am  meisten 
die  Verbreitung  des  Paracelsismus  in  Deutschland  förderte,  wie  denn 
auch  Wittenberg  ein  Hauptausgangspunkt  für  die  fermentartige  Wirkung 
der  reformatorischen  Gedanken  des  Paracelsus  und  seiner  Schüler  ge- 
'  wesen  ist ;  endlich  Andreas  Libau*^)  (Libavius)  und  A n g e  1  u s 
Sala,'^)  aus  Italien  gebürtig,  zuletzt  mecklenburgischer  Leibarzt, 
welche  beiden,  ähnlich  wie  der  schon  genannte  Quercetanus   durch 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.       567 

zahlreiclie  chemische  Entdeckungen  und  besonders  durch  Verbesserung 
der  Darstellungsmethoden  vieler  Salze  und  Metallpräparate  sehr  wesent- 
lich zu  bleibender  Einführung  der  von  Paracelsus  und  den  Paracel- 
sisten  benützten  chemischen  Mittel  beigetragen  haben. 

Bei  Anführung  der  genannten  Mediziner,  die  in  Schrift  und  Wort 
für  die  Doktrinen  des  Paracelsus,  namentlich  für  die  Verwendung 
chemischer  Arzneistoife  eintraten,  darf  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass 
mehrere  derselben,  unter  denen  zunächst  Libavius  und  Querce- 
tanus,  bes.  aber  Sala  zu  nennen  sind,  auch  den  toxikologischen  Ver- 
hältnissen der  Metallpräparate  volle  Aufmerksamkeit  gewidmet  haben, 
so  dass  sich  in  ihren  Schriften,  in  denen  den  pharmaceutisch  wichtigeren 
Metallen  wie  Quecksilber,  Kupfer,  Blei,  Silber,  Antimon  u.  s.  w\  grössere 
Abschnitte  gewidmet  sind,  zahlreiche  Angaben  über  giftige  oder 
wenigstens  heroische  "Wirkungen  auf  den  menschlichen  Körper  vorfinden, 
Ergebnisse  teils  von  Beobachtungen  in  der  ärztlichen  Praxis,  teils 
auch  wohl  von  Versuchen  am  eigenen  Leibe,  wie  solche  schon  Para- 
celsus bei  seinen  chemischen  Experimenten,  nicht  ohne  Schaden  für 
seine  Gesundheit,  anzustellen  pflegte.  Wir  dürfen  deshalb  bei  diesen 
Vertretern  der  iatrochemischen  Richtung,  sowie  auch  bei  dem  später 
zu  nennenden  van  Helmont  wohl  die  ersten,  z.  T.  noch  unbewussten 
Anfänge  der  für  die  neuere  therapeutische  Medizin  so  wichtigen  Ver- 
bindung experimenteller  Pharmakologie  und  Toxikologie  erblicken. 

Eine  sehr  wesentliche,  wenn  auch  im  Einzelnen  nicht  immer  direkt 
zu  belegende  Förderung  brachten  der  Arzneimittellehre  des  16.  Jahr- 
hunderts die  fortgesetzten  Bemühungen  einer  Reihe  philologisch  ge- 
bildeter Mediziner  und  Pharmaceuten.  die  es  sich  zur  Lebensaufgabe 
ma"chten,  zahlreiche  bisher  nur  in  selteneren  Handschriften  oder  un- 
genügenden Auszügen  zugängliche  medizinische  Klassiker  des  Alter- 
tums und  Mittelalters,  sowohl  der  byzantinischen  als  der  arabischen 
Periode,  in  commentierten  lateinischen  Uebersetzungen,  zuweilen  unter 
Beifügung  des  Originaltextes  herauszugeben.  Dieses  Unternehmen, 
welches  die  Verbreitung  zahlreicher  pharmakologisch  wichtiger  älterer 
Schriftsteller  mächtig  förderte  und  die  ersten  Anfänge  einer  späteren 
rationellen  und  kritischen  Sichtung  der  materia  medica  anbahnte,  ist 
auch  insofern  nicht  ohne  kulturhistorisches  Interesse,  als  in  den  ersten 
beiden  Jahrhunderten  nach  Entdeckung  der  Buchdruckerkunst  die 
Herstellung  solcher  Ausgaben  bedeutender  Mediziner  aus  der  griechisch- 
römischen, byzantinischen  und  arabischen  Blütezeit  der  Heilkunde  mit 
einer  gewissen  Vorliebe  und  oft  mit  erheblichem  typographischen 
Aufwände  gerade  an  den  wichtigsten  damaligen  Druckorten,  wie  z.  B. 
Basel,  Strassburg,  Antwerpen,  Leiden,  Lyon,  Venedig,  Salamanca  u.  s.  w. 
betrieben  wurde  und  manche  Uebersetzungen  und  Kommentare  dieser 
Art  neben  den  schon  früher  aus  der  Schule  von  Salerno  hervorgegangenen 
Handbüchern  und  Antidotarien  jahrhundertelang  den  eisernen  Bestand 
der  Fachbibliothek  im  Hause  des  Arztes  wie  in  der  pharmaceutischen 
Offizin  gebildet  haben. 

Erwähnenswert,  weil  von  bedeutsamem  Einfluss  in  der  ange- 
deuteten Richtung,  sind  vor  allem  Foesius^)  als  erster  Herausgeber 
einer  Hippokrates-Ausgabe  nach  den  Codices  nebst  lateinischer  Ueber- 
tragung  und  Kommentar,  Johann  Cornarus*)  (mit  deutschem  Namen 
Hagenbut)  durch  lateinische  Uebersetzungen  des  Hippokrates  und 
Galenus,  der  Spanier  Andres  Laguna,^")  durch  seine  kommentierte 
Uebersetzung  des  Dioskorides  sowie  sein  Kompendium  des  Galen  weit 


568  Ed.  Schaer. 

Über  die  Grrenzen  der  iberischen  Halbinsel  hinaus  bekannt,  der  oben 
erwähnte  Winther  von  Andernach^')  durch  seine  Uebersetzungen 
des  Alexander  Trallianus  (mit  griechischem  Text),  des  Paulus  Aegineta 
und  des  Rhazes,  Leonhard  Fuchs^^)  als  Uebersetzer  des  Nikolaus 
Myrepsos,  Otto  ßrunfels^**)  als  Herausgeber  weit  verbreiteter 
lateinischer  Uebertragungen  des  Averroes,  Rhazes  und  Serapion  jun., 
endlich  die  später  noch  zu  nennenden  Amatus  Lusitanus  (Joäo 
Rodrigues),^^)  Valerius  Cordus,^^)  und  Matthioli^'')  als  die 
hauptsächlichsten  Kommentatoren  des  Dioskorides  d.  h.  desjenigen 
klassischen  Autors  über  Heilmittel,  der  wie  kein  anderer  über  einen 
Zeitraum  von  15  Jahrhunderten  hinaus,  von  massgebendstem  Einfluss 
in  der  Heilkunde  geblieben  ist. 

Wurde  so  durch  diese  Ausgaben,  d.  h.  durch  das  Zurückgehen  auf 
die  Quellen  eine  bessere  Einsicht  in  den  aus  dem  Altertum  und  Mittelalter 
übernommenen,  überdies  durch  die  arabischen  Mediziner  mit  manchen  Arz- 
neidrogen des  Orients  vermehrten  Arzneischatz  erleichtert,  so  machte  sich 
nun  eine  Reform  und  Erweiterung  der  materia  medica  und  damit  des 
pharmakologischen  Teiles  der  Medizin  dadurch  geltend,  dass  in  dieselbe 
Periode  eine  sehr  erhebliche  Förderung  der  systematischen  Botanik 
fiel.  Es  äusserte  sich  diese  namentlich  in  der  Richtung,  dass  zum 
ersten  Male,  unter  Berücksichtigung  und  Benutzung  der  klassischen 
botanischen  Schriftsteller,  wie  l'heophrast,  Dioskorides  und  Plinius,  eine 
Anzahl  für  die  damalige  Zeit  teilweise  vortrefflicher  Abbildungswerke 
entstanden,  welche  sehr  zahlreiche,  besonders  dem  südlichen  und  mitt- 
leren Europa  angehörende  Pflanzenspezies  beschrieben  und  abbildeten 
und  auf  diese  Weise  namentlich  den  fast  unübersehbaren  in  den  pflanz- 
lichen Volksheilmitteln  latent  gebliebenen  Arzneischatz  aufschlössen  und 
der  Beachtung  der  damals  botanisch  weit  besser  geschulten  Aerzte 
nahe  legten.  Hier  ist,  unter  Verzicht  auf  nähere  Besprechung,  in 
erster  Linie  zu  erinnern  an  die  botanischen  Handbücher  von  Brun- 
fels,^')  dessen  Schüler  Tragus  (Bock),^^)  Fuchs, ^^)  und  Taber- 
naemontanus.^o)  unter  denen  hinsichtlich  der  Darstellung  der  Pflanzen 
durch  Holzschnitte  vor  allem  Brunfels  und  Fuchs  hervorragen. 
Wenn  die  in  der  naturphilosophischen  Periode  früherer  Jahrhunderte 
so  lange  vorherrschende  teleologische,  sozusagen  anthropocentrische 
Richtung  in  Betracht  gezogen  wird,  so  kann  es  nicht  auffallen,  dass 
auch  jene  systematisch-botanischen  Werke  einer  vornehmlich  pharma- 
kologischen Tendenz  huldigten,  d.  h.  die  Darlegung  der  arzneilichen 
Wirkungen  und  die  Beschreibung  der  pharmaceutischen  Verwendung 
als  Hauptaufgabe  erfassten,  zumal  da  mit  nur  wenigen  Ausnahmen 
deren  Bearbeiter  dem  ärztlichen  Stande  angehörten  und  meist  auch 
Lehrer  der  Medizin  waren.  Aber  auch  diese  im  ganzen  aufgeklärten 
Männer  hatten  der  griechisch-arabischen  Scholastik  noch  mancherlei 
Tribut  zu  zahlen,  u.  a.  nicht  zum  wenigsten  bezüglich  jener  berühmten 
Lehre  der  Signaturen,  die  sich  bei  Vertretern  einzelner  medizinischer 
Schulen  (Rademacher  etc.)  bis  in  die  neuere  Zeit  hinein  erhalten  hat 
und  auch  in  der  Volksmedizin  keineswegs  ausgestorben  ist. 

Bei  Anführung  der  grossen  botanischen  Werke  des  16.  Jahr- 
hunderts und  ihrer  Beziehung  zur  Heilmittellehre  darf  nicht  übersehen 
werden,  dass  in  diesem  Zeitabschnitt  auch  die  ersten  Anfänge  einer 
medizinisch-pharmaceutischen  Drogenkunde,  heute  als  wissenschaftliche 
Disziplin  „Pharmakognosie"  genannt,  sich  nachweisen  lassen.  In  der 
That  finden  sich  pharmakognostische  Beobachtungen,  Beschreibungen 


Geschichte  der  Pharmakologie  nnd  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.       569 

und  Erörterungen  nicht  allein  in  den  schon  erwähnten  Diskorides- 
kommentaren  der  Autoren  Amatus  Lusitanus  und  Matthiolus, 
sondern  vor  allem  in  den  Schriften  dreier  berühmter  Botaniker  und 
Pharmakologen,  welche  in  gewissem  Sinne  w^ohl  als  die  ersten  Pharma- 
kognosten  bezeichnet  werden  dürfen.  Es  sind  diese  der  Franzose 
Charles  de  l'Escluse  (Clusius). -^)  der  Deutsche  Valerius 
C  0 r  d  u  s '--)  und  der  Niederländer  R  e  m  b  e  r  t  D  o  d  o  e  n  s  -■*)  (Dodonaeus). 
Aber  auch  unter  den  Pharmaceuten  jenes  Zeitalters  würden  mehrere 
zu  nennen  sein,  welche  als  namhafte  Förderer  einer  durch  gesunde 
Beobachtung  vertieften  Arzneimittelkunde  gelten  konnten  und  bei 
denen,  ähnlich  wie  bei  Cordus  in  seinem  Dispensatorium  oder  in 
seinen  Dioskoridesvorträgen  auffallend  richtige  Beschreibungen  mancher 
Drogen,  wie  Opium,  Aloe,  Nux  vomica,  Crocus  u.  s.  w.  gefunden 
werden.  In  die  Reihe  dieser  Pharmaceuten  gehört  u.  a.  besonders  der 
Antwerpner  Apotheker  Peter  C  o  u  d  e  n  b  e  r  g ,  -*)  Herausgeber  und 
Kommentator  des  eben  genannten  berühmten  Dispensatoriums,  sowie 
der  spanische  Klosterapotheker  und  spätere  Arzt  Bernardino 
Laredo-^)  in  Sevilla,  dessen  zwei  wichtigste  Schriften  „modus 
faciendi"  und  „metaphora  medicinae"  sich  in  Spanien,  Italien,  Frank- 
reich und  selbst  anderen  Ländern  Europas  nach  der  Aussage  zuver- 
lässiger Autoren  über  Geschichte  der  Pharmacie  der  grössten  Beachtung 
bei  Medizinern  und  Pharmaceuten  erfreuten,  während  leider  der  erstere 
(Coudenberg)  durch  frühzeitigen  Tod  an  der  Beendigung  und  Publi- 
kation eines  grösseren  für  Aerzte  und  Apotheker  bestimmten  pharma- 
kologisch-pharmakognostischen  Werkes  verhindert  wurde. 

In  den  oben  erwähnten  botanischen  Hauptwerken  finden  sich  nicht 
allein  zahlreiche  pharmakologische,  sondern  auch  mehrfach  toxikologische 
Andeutungen  und  Mitteilungen,  d.  h.  es  wurden  nicht  nur  die  arznei- 
lichen Kräfte  der  Pflanzen  beschrieben,  sondern  in  vielen  Fällen  auch 
deren  schädliche  und  giftige  Wirkungen  angeführt,  welche  bei  den 
in  das  graue  Altertum  zurückgehenden  ungezählten  Versuchen,  ii'gendwie 
auffällige  Pflanzen  als  Volksarzneimittel  zu  verwenden,  teihveise  schon 
seit  Jahrhunderten  bekannt  sein  mochten.  Es  wurde  so  allmählich 
eine  vegetabilische  Giftlehre  vorbereitet,  welche  freilich  erst  viel  später 
in  der  jetzigen  Periode  experimenteller  Pharmakologie  und  Toxikologie 
auf  sichere  und  rationelle  Basis  gestellt  werden  konnte. 

Während,  wie  soeben  gezeigt  worden  ist,  von  den  Schriften  der 
sog.  Väter  der  Botanik  eine  unverkennbar  fördernde  Wirkung  auf  die 
Heilmittellehre  und  systematische  Behandlung  der  Arzneipflanzen  aus- 
ging, deren  Kenntnis  in  ausgiebigster  Weise  durch  Abbildungen  unter- 
stützt wurde,  machte  sich  andererseits  ein  weiterer,  kaum  genug  zu 
würdigender  Einfluss  in  gleich  günstigem  Sinne  geltend,  nämlich  die 
in  die  erste  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  fallende  wichtige  Gründung 
zahlreicher,  zunächst  den  Arznei-  und  Nutzpflanzen,  späterhin  auch  den 
Zierpflanzen  gewidmeten  botanischen  Gärten,  welche  teils  staatlichen, 
teils  privaten  Charakter  besassen  und  unzweifelhaft  sehr  wesentlich 
zur  gründlicheren  Erkenntnis  einheimischer  und  ausländischer  Heil- 
pflanzen und  damit  zu  wissenschaftlicherer  Auffassung  der  materia 
medica  beigetragen  haben.  In  erster  Linie  sind  hier  die  botanischen 
Universitätsgärten,  sowie  botanische  Hofgärten  zu  nennen,  so  der  1545 
in  Padua  und  der  ungefähr  gleichzeitig,  d.  h.  1547  in  Pisa,  sowie  der 
1567  in  Bologna  gegründete  Univei-sitätsgarten,  denen  später  ähnliche 
Gärten  an  den  Universitäten  Montpellier,  Paris,  Breslau,  Heidelberg, 


570  Ed.  Schaer. 

Leipzig  und  in  den  Niederlanden  folgten,  ferner  der  auf  Betreiben  des 
schon  genannten  Laguna  1555  in  Aranjuez  eröffnete  botanische 
Garten.  Gleichzeitig  aber  entstanden  schon  im  Laufe  des  16.  Jahr- 
hunderts, z.  T.  erst  in  später  Zeit,  eine  grössere  Zahl  besonders  von 
Pharmaceuten  und  auch  von  Aerzten  gegründeter,  namentlich  der  An- 
pflanzung und  Beobachtung  wichtigerer  Arzneipflanzen  dienender 
Gärten,  die  als  pharmaceutische  Gärten  von  den  nach  etwas  weiteren 
Gesichtspunkten  angelegten  Universitätsgärten  zu  unterscheiden  sind. 
Als  einzelne  Beispiele  dieser  pharmaceutisch-botanischen  Gärten  mögen 
die  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  von  Francesco  Calzolari, 
Apotheker  in  Verona,  sowie  von  Peter  Coudenberg,  Apotheker  in 
Antwerpen  (s.  o.)  angelegten  Gärten  erwähnt  werden,  ebenso  der  dem 
Patrizier  Ollinger  in  Nürnberg  gehörige  weit  und  breit  berühmte 
Privatgarten,  soAvie  die  Gärten,  welche  1569  und  1577  von  Matthias 
de  1 ' 0 b e  1  (Lobelius)  -**)  und  von  John  G e r a r d e '")  auf  Anregung 
und  mit  den  Mitteln  vornehmer  Gönner  begründet  und  gehalten 
wurden.  Diese  Bestrebungen  fanden  vielfache  Unterstützung  durch 
hervorragende  Botaniker  und  Mediziner  jener  Zeit,  vor  allem  durch 
den  genannten  Antwerpener  P.  Coudenberg,  der  mehr  als  600  der 
wichtigsten,  z.  B.  exotischen  Heil-  und  Nutzpflanzen  in  seinem  Garten 
zog,  sowie  durch  den  um  die  Botanik  des  16.  Jahrhunderts  vielver- 
dienten Conrad  Gessner-^)  in  Zürich,  welcher,  selbst  im  Besitze 
eines  Medizingartens,  mit  der  Mehrzahl  der  damaligen  Besitzer  und 
Leiter  namhafter  botanisch-pharmaceutischer  Gärten  teils  in  schrift- 
lichem, teils,  auf  Reisen  in  Deutschland,  der  Schweiz  und  Italien,  auch 
in  persönlichem,  mündlichem  Verkehr  stand.  Von  der  grössten  Be- 
deutung für  eine  weitere  Entwicklung  der  pharmaceutischen  Botanik, 
der  Pharmakognosie  und  Pharmakologie  war  fernerhin  der  Umstand, 
dass  an  verschiedenen  Orten  mit  den  erwähnten  wissenschaftlichen 
Gärten  auch  botanische  Museen,  d.  h.  Sammlungen  getrockneter  Pflanzen 
sowie  sämtlicher  mineralischer,  vegetabilischer  und  animalischer  Arznei- 
stoffe oder  „Drogen"  verbunden  wurden.  Solche,  als  Vorgänger  unserer 
neueren  Herbarien  und  pharmakognostischen  Sammlungen  zu  be- 
trachtende Museen  bestanden  beispielsweise  in  Padua  und  Pisa,  und 
von  besonders  berühmten  naturhistorischen  Privatmuseen  jener  Zeit 
mögen  hier  etwa  diejenigen  des  oben  citierten  Veroneser  Apothekers 
Calzolari,  des  Leibarztes  Antonio  MusaBrasavola  in  Ferrara, 
sowie  des  Arztes  Nicolas  Monardes  in  Sevilla  genannt  werden. 
Auch  finden  wir  wohl  in  Italien  zuerst  die  Einrichtung,  dass,  bereits 
von  der  Gründung  der  botanischen  Universitätsgärten  an,  deren  Direk- 
toren oder  andere  Lehrer  damit  beauftragt  wurden,  unter  Benützung 
solcher  Museen  und  Sammlungen  entweder  als  ,.Lettori  dei  semplici"' 
Heilmittellehre  oder  als  „Ostensori  dei  semplici"  arzneiliche  Waren- 
kunde (Pharmakognosie)  vorzutragen.  Als  Professoren  für  solche  mit 
Demonstrationen  verbundene  Vorlesungen  sind  u.  a.  nachzuweisen 
Francesco  Bonafede,-'*)Luigi  Anguillara'^*')  und  Prospero 
Alpino-^^)  in  Padua,  Luca  Ghini  in  Pisa,  Ulysse  Aldrovandi 
in  Bologna,  unter  welchen  namentlich  Anguillara  durch  eine  Schrift 
über  Simpiicia,  d.  h.  Arzneipflanzen,  sowie  Prosper  Alpin us  durch 
sein  Buch  über  Aegypten  und  ägyptische  Pflanzen  die  damalige  Heil- 
mittel- und  Giftlehre  gefördert  haben,  wie  denn  überhaupt  die  durch 
Gründung  und  Pflege  zahlreicher  botanischer  Gärten  angebahnte  Rück- 
kehr  zur   Beobachtung   und  Erfahrung   zunächst   in  Italien   zur  An- 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.       571 

Stellung  von  Versuchen  über  arzneiliche  und  giftige  Wirkungen  der 
Pflanzen  führte.  Eine  rationelle  Pharmakologie  und  Toxikologie  konnte 
sich  freilich  erst  viel  später  entwickeln,  als  endlich  im  19.  Jahrhundert 
das  systematische  Experiment  in  sein  Eecht  eingesetzt  wurde. 

Eine  sehr  erhebliche,  im  15.  Jahrhundert  noch  ungeahnte  Be- 
reicherung der  materia  medica  und  damit  eine  in  wenigen  Sätzen  kaum 
zu  erörternde  Erweiterung  und  Vertiefung  der  Heilmittellehre  brachten 
die  in  das  Ende  des  genannten  Jahrhunderts  fallenden  grossen  geo- 
graphischen Entdeckungen,  nämlich  die  Auffindung  des  Capweges  nach 
Ostindien  und  die  Entdeckung  der  neuen  Welt.  Die  nach  den  ver- 
schiedensten Richtungen  so  folgenreichen  Reisen  Vasca  de  Gamäs  nach 
Calicut  in  Ostindien  und  von  Christoph  Columbus  nach  Westindien 
führten  sehr  bald  zur  Anbahnung  neuer  Handelswege  und  zur  Schaffung 
zahlreicher  und  wichtiger  Handelsbeziehungen  nach  Ostasien  und 
Amerika,  infolge  deren  viele  bisher  vorzugsweise  auf  beschwerlichen, 
weiten  Landwegen  an  das  Mittelmeer  gebrachte  und  deshalb  sehr  teure 
Arzneiwaren  nunmehr  weit  rascher  und  zu  ganz  anderen  Bedingungen 
zugänglich  wurden,  andererseits  in  grosser  Zahl  die  verschiedensten 
neuen  Naturprodukte,  besonders  pflanzliche  Heilstoffe  aus  den  durch 
die  Spanier  besetzten  und  aufgeschlossenen  Ländergebieten  von  West- 
indien. Central-  und  Südamerika  zur  Einfuhr  nach  Europa  gelangten. 
Wie  verhältnismässig  rasch  diese  Neuerungen  vor  sich  gingen,  erhellt 
n.  a.  aus  der  mehrfach  nachgevklesenen  Thatsache,  dass  eine  Anzahl 
der  damals  wichtigsten  aus  der  neuen  Welt  importierten  Arzneistoffe 
wie  z.  B.  das  Guajakholz.  die  Sarsaparillwurzel,  der  Tolubalsam  und 
andere  Drogen  schon  wenige  Decennien  nach  Entdeckung  der  neuen 
Welt  in  europäischen  Ländern  nicht  allein  den  Gelehrten  bekannt, 
sondern  bereits  in  arzneilicher  Verwendung  und  im  Handel  erhältlich 
waren. 

Den  bedeutsamsten  Einfluss  auf  die  Heilmittellehre  der  neueren 
Zeit  übte  aber  in  dieser  Periode  eine  immer  umfangreicher  werdende 
Litteratur  aus,  welche  nicht  allein  die  Pflanzenschätze  und  anderen 
Naturobjekte  Amerikas  zur  Kenntnis  der  alten  Welt  brachte,  sondern 
namentlich  auch  zum  ersten  Male  genauere  Angaben  und  zuverlässigere 
Nachrichten  über  Provenienz,  Handelswege  und  Merkmale  zahlreicher 
im  Abendlande  längst  bekannter  und  gebrauchter  Arzneidrogen  über- 
mittelte, z.  T.  in  so  zutreffender  Weise,  dass  einzelne  Werke  jener  Zeit 
dem  Pharmakognosten  auch  heute  noch  unentbehrlich  sind. 

Die  Entstehung  dieser  zahlreichen  und  wichtigen  Schriften  ist 
einerseits  darauf  zurückzuführen,  dass  nach  der  Entdeckung  des  neuen 
Seeweges  nach  Ostindien  und  der  damit  gegebenen  wesentlichen  Er- 
leichterung der  Reisen  nach  den  entlegeneren  Teilen  Asiens  bald  eine 
grössere  Zahl  gelehrter,  besonders  naturwissenschaftlich  und  medizinisch 
gebildeter  Reisenden  teils  in  offiziellen  Missionen  und  Stellungen,  teils 
aus  eigenem  Antriebe  nach  jenen  Ländergebieten  sich  begaben  und 
ihre  Beobachtungen  und  Erfahrungen  schriftlich  niederlegten.  Anderer- 
seits hatte  natürlicherweise  die  Auffindung  der  neuen  Welt  und  zwar 
zunächst  der  von  den  Spaniern,  später  von  den  Portugiesen  erschlossenen 
und  besiedelten  central-  und  südamerikanischen  Länder  ganz  analoge 
Erscheinungen  im  Gefolge  und  regte  sehr  bald  in  steigendem  Masse 
dazu  an,  den  in  Amerika  zu  Tage  tretenden  Reichtum  an  neuen  und 
z.  T.  ganz  fremdartigen  mineralischen,  vegetabilischen  und  animalischen 
Naturprodukten  in  systematischen,  womöglich  illustrierten  Werken  zu 


572  Ed.  Schaer. 

beschreiben.  Es  kann  dabei  nicht  auffallen,  dass  bei  der  ausgesprochen 
teleologischen  Tendenz,  welche  erwähnterraassen  besonders  die  syste- 
matische Botanik  im  15.  und  16.  Jahrhundert  noch  charakterisiert,  die 
Möglichkeit  der  arzneilichen  und  diätetischen  Verwendung  neu  bekannt 
gewordener  Pflanzenstoffe  des  entdeckten  Weltteiles  in  ausgiebigster 
Weise  zur  Erörterung  gelangte,  zumal  die  erobernder  Europäer  bei 
den  in  Amerika  wohnenden,  teilweise  in  altem  Kulturzustande  befind- 
lichen Eingeborenen  den  mannigfaltigsten  Erfahrungen  und  Gebräuchen 
in  betreff  einheimischer  Arzneimittel  und  Genussmittel  begegnen 
mussten.  Man  denke  dabei  u.  a.  nur  an  Stoffe,  wie  Copaiva-  und  Peru- 
balsam, die  schon  angetührten  Drogen  Guajak  und  Sarsaparille,  den 
Cacao  und  das  Cocablatt. 

Aus  der  ansehnlichen  Eeihe  der  kleineren  und  grösseren  Schriften, 
welche  z.  T.  in  lateinischer,  namentlich  aber  in  spanischer  und 
portugiesischer  Sprache  entweder  die  Naturprodukte,  insbesondere  die 
Pflanzenstoffe,  des  mittleren  und  östlichen  Asiens  oder  aber  diejenigen 
der  neuen  Welt  mit  besonderer  Rücksichtnahme  auf  die  materia  medica 
jenes  Zeitalters  behandeln,  seien  hier  nur  einige  der  wichtigsten  aus 
der  Gruppe  derjenigen  Druckwerke  des  16.  Jahrhunderts  angeführt, 
welche  für  die  Förderung  einer  besseren  Erkenntnis  sowie  nament- 
lich für  die  Erweiterung  des  Arzneischatzes  besonders  bedeutsam  ge- 
wesen sind. 

Nachdem  in  den  vorausgegangenen  Jahrhunderten  teils  durch 
arabische  Autoren,  vor  allem  aber  durch  Vermittlung  der  Kreuzzüge 
zahlreiche  Nachrichten  über  vorderasiatische  Arzneistoffe  nach  dem 
Abendlande  gelangt  waren  und  sodann  namentlich  gebildete  und  weit- 
gereiste italienische  Kaufleute,  als  Nachfolger  ihres  berühmten  Lands- 
mannes Marco  Polo  (XIIL  Saec),  so  Marino  Sanuto*^^)  und 
Francesco  Pegolotti^^)  (XIV.  S.),  Bartolomeo  Pasi^*)  und 
Niccolo  dei  Conti •^^)  (XV.  S.),  endlich  der  Franzose  Pierre 
Belon^'')  (Bellonius)  um  die  Mitte  des  XVI.  Saec.  viele  wichtige  An- 
gaben über  asiatische,  besonders  arabisch-persische  und  vorderindische 
Handelsverhältnisse  und  Handelsprodukte,  unter  diesen  auch  Arznei- 
stoffe und  Genussmittel,  gemacht  hatten,  veröffentlichten  in  der  zweiten 
Hälfte  des  Jahrhunderts  zwei  Schriftsteller,  der  spanische  Stadtarzt 
Christ  ob  al  Acosta'^")  in  Burgos  und  der  portugiesische  Spital-  und 
Leibarzt  („Physico  d'El  Key*')  Garcia  da  Orta'^**)  in  Goa,  gestützt 
auf  weite  Reisen  und  Aufenthalt  in  Vorderindien,  zwei  Schriften, 
welche,  die  eine  unter  dem  abgekürzten  Titel  „Tractado",  die  andere 
unter  der  Bezeichnung  „CoUoquios",  von  ungewöhnlicher  Bedeutung  für 
die  medizinische  Drogenkunde  jener  Zeit  gewesen  sind  und  durch  die 
Jahrhunderte  hindurch  ihren  Wert  als  Quellenwerke  behalten  haben, 
während  leider  einzelne  andere  Publikationen  aus  jener  Zeit,  »vie  bei- 
spielsweise die  für  Drogenkunde  wichtigen  Briefe  des  als  Drogenmakler 
und  Hafenbeamten  in  Vorder-  und  Hinterindien  thätigen  portugiesischen 
Apothekers  Thome  Pirez,  sowie  seine  an  den  König  von  Portugal 
gerichtete  Schrift  über  ostindische  Pflanzenstoffe,  ebenso  auch  der 
Reisebericht  von  Duarte  Barbosa*)  erst  in  neuerer  Zeit  die  ge- 
bührende Würdigung  gefunden  haben. 


*)  Sein  Reisebericht  ist  aufgenommen  in  Ramusio,  Delle  navigationi  et  viaggi 
Venet.  1554  und  noch  vollständiger  in  der  Ausg.  „Coasts  of  East  Africa  and  Malabar", 
London  1866  (Hakluyt  Society). 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.       573 

Was  soeben  über  die  Schriftwerke  der  Erforscher  ostindischer 
Arzneistoife  gesagt  wurde,  gilt  in  gleichem  Masse,  zum  Teil  in  noch 
höherem  Grade  von  den  Werken  der  Autoren,  welche  im  Laufe  des 
16.  Jahrhunderts  über  die  Heil-  und  Genussmittel  der  neuen  Welt  ge- 
schrieben haben.  Hier  ragen  als  besonders  bedeutend  hervor  die  drei 
Spanier  GonzaloFernandez^**)  (nach  seiner  Heimat  häufig  0  v  i  e  d  o 
genannt  und  mit  Columbus  noch  persönlich  bekanntj,  Nicolas 
Monarde s*'')  und  Francisco  Hernandez^^).  Der  erstgenannte 
verfasste  nach  seiner  Rückkehr  aus  Südamerika,  wo  er  Intendant  der 
staatlichen  Goldgruben  gewesen  war,  sein  grosses  Werk  „Historia  gene- 
ral  y  natural  de  las  Indias",  welches,  neben  der  ,.Cronica  del  Peru"  des 
Cieza  de  Leon,  wohl  die  ersten  glaubwürdigen  Nachrichten  über 
amerikanische  Arzneidrogen,  wie  z.  B.  das  historisch  so  bedeutsame 
..Lignum  sanctum"  (Guajakholz)  gab.  Der  zweite,  Monardes  (s.o.), 
Arzt  in  Sevilla,  wo  er  sein  ganzes  Leben  zubrachte,  erwarb  sich  um 
die  Pharmakologie  der  amerikanischen  Arzneistoife  besondere  Verdienste 
durch  Gründung  eines  für  jene  Zeit  grossartig  angelegten  und  in  den 
weitesten  Kreisen  bekannten  Museums  von  Naturprodukten  der  neuen 
Welt  und  ausserdem  durch  Beschreibung  eines  Teiles  derselben  in 
seiner  in  mehreren  Abteilungen  gedruckten  Schrift  „Historia  medicinal 
de  las  cosas,  que  se  traen  de  nuestras  Indias  occidentales  etc."',  in 
welcher  u.  a.  der  Tabak,  die  Sarsaparille,  der  Tolubalsam.  das  Anime- 
harz  zuerst  besprochen  werden.  Endlich  hat  der  letztgenannte  Mediziner 
Hernaudez  über  mexikanische  und  andere  centralamerikanische 
Pflanzenstoife  umfangreiche  Schriften  verfasst,  welche  freilich  von 
seinen  Nachfolgern  nur  lückenhaft  unter  dem  Titel  „Historia  plantarum 
Novae  Hispaniae"  publiziert  wurden,  dennoch  aber  ein  nicht  unwichtiges 
Quellenwerk  für  ältere  Drogengeschichte  bilden. 

Die  ebengenannten  Hauptschriften  über  asiatische  und  amerika- 
nische Heilstoffe  würden  aber,  weil  fast  ausnahmslos  in  portugiesischer 
oder  spanischer  Sprache  veröffentlicht,  in  den  ärztlichen  und  pharma- 
ceutischen  Kreisen  Europas  nur  in  sehr  beschränktem  Grade  Eingang 
gefunden  und  zur  Verbreitung  der  Kenntnis  des  neuen  Arzneischatzes 
beigetragen  haben,  wenn  nicht  fast  gleichzeitig  mit  deren  Erscheinen 
sich  ein  sprachkundiger  Gelehrter  von  umfassendem  AVissen  gefunden 
hätte,  der  die  Uebertragung  der  Schriften  eines  Acosta,  Belon,  Garcia 
da  Orta  und  Monardes  in  die  damalige  internationale  Sprache  der 
Gebildeten,  das  Lateinische,  sich  zu  einer  seiner  Lebensaufgaben 
machte.  Es  war  dies  der  aus  dem  heutigen  Belgien  gebürtige  Charles 
de  rEscluse*-)  (Carolus  Clusiusi,  welcher  als  Lehrer  der  Botanik 
und  Garten-  und  Museumsdirektor  in  Wien,  später  in  Leiden,  ausser- 
dem aber  namentlich  durch  seine  Verbindungen  mit  den  hervorragendsten 
Botanikern  und  Pharmaceuten  seiner  Zeit  zur  Förderung  der  Pharma- 
kologie in  besonderem  Masse  befähigt  war.  Seine  freien  und  mit 
Kommentar  versehenen  Uebersetzungen  der  genannten  Autoren  hat  er 
mit  zahlreichen  auf  eigene  Beobachtungen  und  Untersuchungen  bezüg- 
lichen Abschnitten  in  dem  illustrierten  Sammelwerke  „Exoticorum 
libri  decem"  etc.  vereinigt,  ein  Buch,  das  bis  in  das  letzte  Jahrhundert 
hinein  bei  Aerzten  und  Apothekern,  ja  selbst  in  Klosterbibliotheken 
neben  anderen  medizinischen  Werken  als  Nachschlagewerk  gedient  hat. 

Wenn  aus  Vorstehendem  sich  ergeben  hat,  dass  infolge  der  Ver- 
besserung und  Neuerschliessung  mannigfaltiger  Handelsbeziehungen  die 
materia   medica   des  16.  Jahrhunderts  eine  wesentliche  Erweiterung 


574  Ed.  Schaer. 

durch  zahlreiche  pflanzliche,  aber  auch  tierische  und  mineralische  Sub- 
stanzen erfahren  musste,  so  wird  andererseits  verständlich,  dass  in 
dieser  Periode  sich  ein  relatives  Zurücktreten  der  einheimischen  Arznei- 
stoffe allmählich  bemerkbar  macht,  da  man  sich  in  pharmakologischen 
Kreisen  instinktiv  den  z.  T.  auch  naturwissenschaftlich  interessanten 
Arzneidrogen  der  neuen  Welt,  aber  auch  manchen  zugänglicher  und 
bekannter  gewordenen  arzneilichen  Pflanzenstoffen  der  alten  Welt  d.  h. 
Asiens  zuwandte  und  deren  Heilkräfte  zu  erproben  begann,  —  freilich 
nicht  selten  ohne  genügende  Kritik,  wie  es  vielfach,  z.  B.  hinsichtlich 
des  Guajakholzes  („Lignum  sanctum",  öfters  nur  „das  Holz"  genannt) 
aus  der  Polemik  der  Paracelsisten  (s.  o.)  gegen  die  älteren  medizinischen 
Schulen  hervorgeht.  Erst  in  einer  merklich  späteren  Periode  sollte 
sich  wiederum  eine  wirksame  Reaktion  zu  Gunsten  der  einheimischen 
Arzneipflanzen  und  der  zugehörigen  Droguen  geltend  machen. 


Die  in  dem  vorstehenden  Abschnitte  geschilderten  Faktoren,  welche 
im  16.  Jahrhundert  zur  Bereicherung  des  Arzneischatzes  und  zur 
Förderung  der  bezüglichen  pharmakologischen  und  toxikologischen 
Kenntnisse  beitragen  mussten,  —  so  vor  allem  die  Einfuhr  und  das 
Studium  d.  h.  die  praktische  Erprobung  der  besonders  aus  Amerika 
stammenden  Pflanzenstoffe  und  arzneilichen  Drogen,  die  Neubelebung 
der  systematischen  Botanik,  endlich  die  planmässige  Verwendung 
chemischer  Substanzen,  besonders  verschiedener  Metallpräparate  zu 
Heilzwecken  —  fanden  ihre  naturgemässe  Fortsetzung  namentlich  in 
den  ersten  Decennien  des  17.  Jahrhunderts,  so  dass  sich  letzteres  in 
seinen  pharmakologischen  Bestrebungen  ergänzend  und  erweiternd  an 
die  vorhergehende  Epoche  anschliesst. 

Zunächst  ist  für  das  siebzehnte  Jahrhundert  die  Tendenz  charakte- 
ristisch, im  Sinne  des  Paracelsus  und  seiner  zeitgenössischen  Anhänger, 
der  Paracelsisten,  den  chemischen  Arzneimitteln  in  steigendem  Masse 
Eingang  in  den  Arzneischatz  zu  verschaffen.  In  dieser  Richtung 
waren  neben  anderen  namentlich  thätig  die  niederländischen  Mediziner 
und  Chemiker  Johann  Baptist  van  Helmont,  der  in  seinem 
„Ortus  medicinae",  besonders  aber  in  dem  Werke  „Pharmacopolium 
ac  dispensatorium  modern  um"  nicht  allein  die  Einführung  mancher 
Chemikalien  in  die  materia  medica  befürwortete,  sondern  auch  zahl- 
reiche verbesserte  Bereitungsmethoden  für  solche  chemische  Präparate 
aufstellte,  sodann  Franz  de  la  Boe  (Sylvius),  welcher,  ungeachtet 
seiner  mit  Recht  verurteilten  Versuche  der  Kombination  paracelsischer 
und  galenischer  Doctrinen  dennoch  einer  chemischen  Betrachtung  der 
normalen  und  pathologischen  Körperfunktionen  viel  näher  gerückt  war 
und  auf  derartige  Auffassungen  gestützt,  gleichfalls  zur  Empfehlung 
chemischer  Arzneistoffe  geführt  wurde,  ohne  jedoch  pflanzliche  Heil- 
mittel, wie  z.  B.  Rhabarber  und  Opium  zu  vernachlässigen.  Einen 
wesentlich  fördernden  Einfluss  auf  die  Ergänzung  der  materia  medica 
durch  chemische  Präparate  übte  auch  der  französische  Pharm aceut  und 
spätere  Arzt  Nicolas  Lemery*^)  aus,  dessen  Vorträge  über  Chemie 
und  Pharmacie  Zuhörer  aus  ganz  Frankreich,  England  und  anderen 
Ländern  iu  grosser  Zahl  nach  Paris  zogen  und  der  in  einer  seiner 
Hauptschriften,  dem  1675  zuerst  erschienenen,  in  die  verschiedensten 
Sprachen  übersetzten  und  fast  unzählige  Auflagen  aufweisenden  „Cours 
de  chimie  applique  ä  la  medecine"  in  wirksamster  Weise  für  eine  mehr 
chemische  Betrachtung  und  Behandlung  der  Pharmakologie  eintrat. 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.        575 

Aber  auch  die  Pharmakologie  des  pflanzlichen  Arzneischatzes  ist 
im  17.  Jahrhundert  keines^^'egs  leer  ausgegangen.  Nachdem  die  im 
letzten  Kapitel  genannten  grossen  Botaniker  des  16.  Jahrhunderts 
durch  ihre  Schriften  vielfach  auf  die  noch  brach  liegenden  Heilkräfte 
der  einheimischen  Pflanzenwelt  hingewiesen  hatten,  gab  der  Baseler 
Arzt  und  Botaniker  Caspar  Bau  hin  in  seinem  nahezu  6000  Pflanzen 
umfassenden  ..Pinax  theatri  botanici"'  eine  Uebersicht  der  in  den 
botanischen  Werken  des  Theophrast,  Dioskorides  und  Plinius.  sowie 
jüngerer  Autoren  beschriebenen  Pflanzen  und  legte  so  einen  Grund 
für  eine  freilich  erst  spätere  rationelle  Einschränkung  und  kritische 
Sichtung  der  vegetabilischen  materia  medica. 

Letztere  erhielt  nun  aber  in  dieser  Periode  teils  aus  der  neuen, 
teils  aus  der  alten  "Welt  einen  hochAvichtigen  Zuwachs  durch  die  Ein- 
führung einer  Anzahl  auch  heute  noch  offizineller  Arzneidrogen,  unter 
denen  nur  die  C  hin  a  r  i  n  d  e  n.  die  Ipecacuanhawurzel  und  die 
Col um bo  Wurzel  als  Beispiele  genannt  sein  mögen.  Das  erstgenannte 
Arzneimittel,  aus  wenig  erklärlichen  Gründen  erst  etwa  150  Jahre 
nach  Entdeckung  Amerikas  als  käufliche  Droge  in  Europa  auftretend 
und  hauptsächlich  durch  die  Bemühungen  des  Jesuitenordens,  insbe- 
sondere des  Cardinais  de  Lugo  („Pulvis  patrum'",  ,.Polvo  de  los  Jesu- 
itos"),  des  Pietro  Barba**),  sowie  des  englischen  Mediziners  Robert 
T  a  1  b  0  r  verbreitet,  teilte  mit  so  manchen  anderen  wichtigeren  Arznei- 
stoifen,  wie  z.  B.  der  Ipecacuanha.  dem  Filixrhizom  u.  s.  w..  das  Ge- 
schick, zunächst  in  Form  eines  Geheimmittels  seinen  Einzug  in  die 
series  medicaminum  zu  halten.  Die  mit  dem  neuen  amerikanischen 
Fiebermittel  gewonnenen  Erfahrungen,  sowie  die  gegen  seine  Ver- 
wendung erhobenen  Bedenken  veranlassten  zahlreiche  grössere  und 
kleinere  Schriften,  die  sich  z.  T.  in  das  nächste  18.  Jahrhundert  fort- 
setzten, in  welchem  erst  die  Cinchonenrinde  ihren  wohlerworbenen 
Platz  im  Arzneischatze  einnahm,  nachdem  sie  ähnlich  wie  zuvor  etwa 
das  Guajakholz  oder  das  Quecksilber  für  einzelne  medizinische  Schulen 
eine  Art  Losungswort  gewesen  war.  Wer  hätte  damals  ahnen  können, 
dass  die  Chinarinde  nebst  dem  daraus  gewonnenen  Chinin  dereinst  ein 
Welthandelsartikel  werden  und  dass  andererseits  angesichts  der  zahl- 
losen künstlichen  Antipyretica  als  einzig  unbestrittene  Indikation  für 
deren  Verwendung  nur  die  Malaria  bestehen  bleiben  w'ürde?  Die  im 
Laufe  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  in  relativ  kurzen  Zeiträumen  vor 
sich  gehende  Erweiterung  des  Arzneischatzes  musste  selbstverständlich 
das  Bedürfnis  nach  Ergänzung  der  pharmakognostischen  und  pharma- 
kologischen Kenntnisse  wach  rufen  und  eine  Bereicherung  der  Litteratur 
durch  solche  Werke  herbeiführen,  welche  geeignet  waren,  den  prak- 
tischen Arzt,  wie  den  Apotheker  in  dem  Labyrinthe  altüberlieferter 
und  neuerer  materia  medica  zu  orientieren  und  zuverlässige  Beschrei- 
bungen der  Arzneidrogen  und  ihrer  Wirkungen  zu  bieten.  An  der 
Ausarbeitung  dieser  pharmakognostischen  Schriften  beteiligten  sich 
Mediziner  und  Pharmaceuten,  unter  den  ersteren  neben  vielen  anderen 
insbesondere  die  berühmten  Aerzte  Hermann  Boerhave  in  Leiden 
und  Thomas  Sydenham  in  London  in  vorwiegend  therapeutisch- 
pharmakologischer  Richtung,  in  mehr  pharmaceutischer  Beziehung  der 
Frankfurter  Arzt  J.  Chr.  Schröder^*)  durch  seine  w^eit  verbreitete  Pliar- 
macopoeia  medico-chymica,  sowie  D  a  n  i  e  1  L  u  d  w  i  g  in  Gotha  durch  seine, 
auf  Vereinfachung  der  Pharmacie  gerichtete,  in  vielen  Auflagen  reprodu- 
zierte Schrift  „De  pharmacia  moderno  saeculo  accomodata"  (1671);  unter 


576  Ed.  Schaer. 

den  Pharmaceuten  der  schon  genannte  N.  Lemery  als  Verfasser  der 
,,pharmacopee  nniverselle",  sowie  des  noch  höher  geschätzten,  in  allen 
Ländern  benützten  „Dictionnaire  universel  des  drogues  simples",  der 
Londoner  Pharmaceut  Samnel  Dale,  der  spanische  Apotheker  Fr. 
Esteban  de  Villa *'')  in  Burgos,  endlich  der  französische  Drogist 
Pierre  Pomet  in  Paris  durch  seine  mehrere  hundert  Abbildungen 
enthaltende  ,,Histoire  generale  des  Drogues",  welche  namentlich  zahl- 
reiche exotische  Arzneistoife  dei-  allgemeineren  Kenntnis  bei  Aerzten 
und  Apothekern  seiner  Zeit  näher  brachte.  Als  besonders  bedeutsam 
für  den  Fortschritt  in  pharmakologischer  und  pharmaceutischer  Richtung 
muss  endlich  die  in  das  17.  Jahrhundert  fallende  Herausgabe  der  ersten 
teils  von  städtischen,  teils  von  staatlichen  Behörden  aufgestellten  und 
offiziell  anerkannten  Pharmakopoen  betrachtet  werden.  An  die 
aus  der  Blütezeit  der  medizinische  Schulen  zu  Salerno  stammenden,  im 
ganzen  Abendlande  bekannten  „Dispensatorien"  oder  „Antidotarien" 
und  die  noch  früheren  „Grabaddins"  der  späteren  arabischen  Mediziner 
sich  anschliessend,  wurden  diese  mehr  und  mehr  den  Charakter  von 
Gesetzbüchern  annehmenden  Pharmakopoen  zu  erwünschten  Wegleitern 
und  Orientierungschriften  für  eine  rationelle  Auswahl  und  Zubereitung 
von  Heilmitteln  sowohl  in  medizinischen  wie  in  pharmaceutischen 
Kreisen. 

Nachdem  im  14.  und  15.  Jahrhundert  zunächst  in  Italien  und  Süd- 
frankreich eine  Anzahl  teils  konventioneller  teils  staatlich  angenommener 
Pharmakopoe- ähnlicher  Arzneibücher  entstanden  waren  (so  der  „Ricet- 
tario  fiorentino"  von  1498,  das  „Antidotarium  Bononiense"  von  1574, 
die  „Pharmacopoea  bergamensis"  von  1580.  die  Pharm.  Lugdunensis 
von  1546),  w^urde  nördlich  der  Alpen  noch  im  16.  Jahrhundert,  kurze 
Zeit  nach  der  Publikation  des  berühmten  Dispensatoriums  von  Valerius 
Cordus  in  Nürnberg  (1546),  als  erste  Pharmakopoe  die  „Pharmacopoea 
Augustana"  in  Augsburg  (1564)  herausgegeben,  welcher  sodann  im 
nächsten,  17.  Jahrhunderte  eine  grössere  Zahl  anderer  folgten,  unter 
denen  die  Pharm.  Coloniensis  (1627),^")  die  Pharm.  Londinensis  (1618), 
die  Pharm.  Parisiensis  (1637),  die  Pharm.  Leidensis  (1638),  die  Pharm. 
Hagensis  (1652),  die  Pharm.  Holmiensis  (1686)  u.  s.  w.  an  dieser  Stelle 
genannt  sein  mögen,*)  ohne  dass  eine  Erörterung  der  Entwicklung 
dieser  ersten  Arzneibücher  zu  den  modernen  Pharmakopoen  im  Plane 
dieses  Werkes  liegen  könnte. 

Es  hat  im  17.  Jahrhundert  nicht  an  Erscheinungen  gefehlt,  welche 
geeignet  waren,  der  mit  der  Pharmakologie  so  nahe  verwandten  Toxi- 
kologie nach  mehreren  Richtungen  neue  Impulse  zu  geben,  wenn  auch 
die  Giftlehre  als  selbständige  Disziplin  erst  zu  den  Errungenschaften 
neuerer  und  neuester  Zeit  gehört.  Zunächst  führten  die  Versuche  zur 
allmählichen  systematischen  Verwendung  zahlreicher,  namentlich 
metallischer  Chemikalien  zu  arzneilichen  Zwecken  von  selbst  zu  viel- 
fachen Beobachtungen  über  Giftwirkungen,  sei  es  dass  es  sich  dabei 
um  Bestätigungen  älterer  Aufzeichnungen  oder  um  neue  Erfahrungen 
handelte.  So  finden  sich  nicht  wenige  Andeutungen  und  Angaben 
toxikologischer  Natur  in  den  Schriften  der  Paracelsisten  und  latro- 
chemiker  van  Helmont,  Sylvius,  Lemery,  Glaser,  Glauber,  sowie  des 
Begründers  der  neueren  wissenschaftlichen  Chemie  Robert  Boyle,  und 


*)  S.   über  ältere  Arzneibücher   namentlich  A.  N.  von  Scherer,    Litteratura 
phamacopoearum,  Lips.  1822. 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.       577 

kaum  wird  man  in  der  Annahme  irren,  dass  derartige  ^ßtteilungen 
über  angebliche  oder  wirkliche  toxische  Eigenschaften  chemischer 
Stoffe  eine  nicht  geringe  EoUe  in  der  zeitlich  sehr  ausgedehnten 
Polemik  z^^ischen  neueren  reformatorischen  und  älteren  konservativen 
medizinischen  Schulen  gespielt  haben,  nachdem  schon  in  den  Schriften 
des  Paracelsus  selbst  die  schädlichen  Eigenschaften  besonders  des 
Quecksilbers  Gegenstand  mehrfacher  Darlegungen  gewesen  waren. 

Ebenso  sehr  aber,  wie  die  Beschäftigung  zahlreicher  Aerzte  und 
Pharmaceuten  mit  chemischen  Versuchen  und  mit  Beobachtungen  über 
chemische  Arzneien  mussten  gewisse  schon  in  früheren  Perioden  nach- 
zuweisende, aber  für  die  Kulturgeschichte  des  17.  Jahrhunderts  be- 
sonders bezeichnende  Vorgänge  das  Interesse  für  toxikologische  Fragen 
in  hohem  Grade  wachrufen,  —  nämlich  die  in  jener  Zeit  namentlich 
in  Italien  und  Frankreich,  z.  T.  auch  in  anderen  Ländern  in  grossem 
Massstabe  betriebenen  systematischen  Giftmorde,  bei  welchen  neben 
Arsenik,  als  dem  Hauptgifte,  namentlich  die  sogenannten  ..schleichenden 
Gifte*'  —  Kombinationen  anorganischer  und  organischer,  oft  blausäure- 
haltiger, toxisch  wirkender  Substanzen  —  eine  Hauptrolle  spielten. 
Diese  Giftmischerpräparate,  welche,  unter  den  verschiedensten  Kon- 
venienznamen  (wie  Acqua  Tofana,  Acquetta  di  Perugia,  Essence  de 
Brinvilliers)  erwähnt,  in  ihrer  Zusammensetzung  und  ihren  oft  eigen- 
tümlichen Wirkungen  z.  T.  bis  auf  unsere  Tage  unerklärt  geblieben 
sind,  haben  schon  damals  eine  nicht  unerhebliche  Litteratur  gezeitigt 
und  insbesondere  enthalten  die  Akten  zahlreicher  Giftmordprozesse 
aus  jener  Zeit,  d.  h.  aus  der  Mitte  und  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts eine  Summe,  wenn  auch  teilweise  roher  und  trügerischer 
Beobachtungen  und  toxikologischer  Angaben,  von  denen  manche  einer 
historisch- medizinischen  Bearbeitung  wohl  wert  wären.  Bemerkens- 
wert bleibt  endlich  in  toxikologischer  Beziehung,  dass  neben  vielfachen 
Mitteilungen  über  giftige  Wirkungen  einzelner  mineralischer,  pflanz- 
licher und  tierischer  Stoffe,  wie  sie,  z.  T.  auf  Versuchen  mit  Ver- 
brechern fussend.  schon  im  16.  Jahrhundert  beispielsweise  in  den 
Schriften  von  AmatusLusitanus,*')  Baccius,**)  Musa  Brassa- 
vola***)  und  im  17.  Jahrhundert  u.  a.  in  dem  vielbenützten  Buche 
von  Timotheus  a  Guldenklee  („Casus  medicinales  et observationes 
practicae"  1662)  zu  finden  sind,  mehr  und  mehr  auch  monogi'aphische 
Abhandlungen  über  einzelne  Gifte,  besonders  über  Pflanzen  und  Tier- 
gifte entstanden.  Zu  den  letzteren  gehören  u.  a.  die  zu  ihrer  Zeit  in 
weiteren  Kreisen  Aufsehen  erregenden  Schriften  von  M.  Oharas*") 
und  Francesco  Redi  aus  Arezzo^*)  über  das  Viperngift.  Dabei 
darf  freilich  nicht  übersehen  werden,  dass  die  Therapie  jener  Zeitepoche 
noch  vollkommen  in  der  traditionellen  arzneilichen  Verwertung  zahl- 
reichster tierischer  Droguen,  d.  h.  getrockneter  Tiere  und  Tierteile, 
darunter  auch  giftiger  Schlangen,  Amphibien  und  Insekten,  be- 
fangen war. 

Das  achtzehnte  Jahrhundert. 

Wie  die  Periode  des  achtzehnten  Jahrhunderts  auf  den  allge- 
meinen geistigen  Gebieten  der  Religion.  Politik  und  Philosophie  durch 
das  Auftreten  möglichst  scharfer  Differenzen  und  mannigfacher  revo- 
lutionärer Bestrebungen  charakterisiert  ist.  so  traten  auch  in  der 
Heilkunde  bei  der  Konkurrenz  theoretisch-medizinischer  Ansichten  und 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  37 


578  Ed.  Schaer. 

Systeme  vielfache,  jahrzehntelang  von  den  Trägern  der  besten  Namen 
ausgefochtene,  scheinbar  unversöhnliche  Gegensätze  auf.  Zu  diesen 
gehörten  u.  a.  die  Gegnerschaft  des  grossen  ärztlichen  Praktikers  Fr. 
Hoffmann^'-)  und  des  zugleich  in  der  Geschichte  der  Chemie  be- 
deutungsvollen G.  E.  Stahl,  *^)  sowie  die  Opposition,  welche  vor  allem 
zwei  berühmte  Mediziner  jener  Zeit,  nämlich  Boissier  de  Sau  vages 
in  Montpellier  und  A.  de  Haen  in  Wien,  gegen  verschiedene  experi- 
mentell begründete  Lehren  des  Anatomen  und  Physiologen  Albrecht 
von  Haller  erhoben.  Wenn  so  der  Kampf  der  Meinungen  im  eigenen 
Lager  hier,  wie  zu  anderen  Zeiten,  durch  Anleitung  zu  sorgfältigerer 
Beobachtung  und  Kritik  in  manchen  Beziehungen  zum  Fortschritt  bei- 
tragen musste,  so  haben  doch  verschiedene  hervorragende  Leistungen 
und  Entdeckungen  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiete  die  wissen- 
schaftliche Heilkunde  in  nicht  geringerem  Grade,  wenn  auch  langsamer 
und  in  weniger  direkter  Weise  gefördert;  so  vor  allem  die  mit  den 
Namen  Bernoulli,  Euler,  Galvani,  Volta  u.  s.  w.  verknüpften 
glänzenden  Fortschritte  in  physikalisch-mathematischer  Richtung,  die 
mit  der  Aufstellung  des  phlogistischen  Systems  durch  Stahl  zusammen- 
fallende Begründung  einer  wissenschaftlichen  Chemie,  zu  welcher  bald 
darauf  die  Beobachtungen  und  Versuche  eines  Bergmann,  Scheele, 
Cavendish,  Priestley  und  Lavoisier  die  wertvollsten  Beiträge 
lieferten,  und  in  engerem  Zusammenhange  mit  den  letzteren  die  freilich 
mehr  in  das  19.  Jahrhundert  fallende,  aber  bereits  durch  die  Arbeiten 
des  grossen  Haller  und  seiner  Schule  eingeleitete  Errichtung  eines 
Lehrgebäudes  der  experimentellen  Physiologie  und  Biologie,  endlich 
die  bedeutende  Erweiterung  der  systematischen,  beschreibenden  Natur- 
kunde vor  allem  durch  den  grossen  Botaniker  L  i  n  n  e.  Es  erscheint 
selbstverständlich,  dass  die  eben  genannten  Faktoren  auch  auf  die 
Heilmittellehre  einen  gewissen,  mehr  oder  weniger  bemerkbaren  Ein- 
fluss  ausüben  mussten.  Und  dennoch  kann  sich  die  Periode  des 
18.  Jahrhunderts  in  pharmakologischer  Richtung  keineswegs  einer  be- 
sonderen Förderung  rühmen,  obwohl  andererseits  nicht  übersehen 
werden  darf,  dass  die  damalige  materia  medica  keineswegs  nur  stag- 
nierte, sondern  sogar  nach  einzelnen  Richtungen  bemerkenswerte  Er- 
weiterungen erfahren  hat.  Fällt  doch  gerade  in  diese  Zeit  die  sich 
immer  häufiger  wiederholende  Empfehlung  und  z.  T.  auch  thatsächliche 
Einführung  verschiedener  metallischer  Präparate  als  innerliche  Heil- 
mittel, wie  der  Kupfer-  und  Silbersalze,  des  Knallgoldes,  des  aus  der 
paracelsischen  Zeit  übernommenen  Quecksilbers,  besonders  aber  des 
Bleies,  über  dessen  Verwendung  namentlich  Th.  Goulard^*)  ver- 
schiedene Schriften  verfasst  hat.  Es  datieren  aus  dieser  Epoche,  d.  h. 
aus  der  2.  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  eine  Anzahl  von  Vorschriften 
zu  Metallpräparaten,  welche  sich  noch  bis  über  die  Mitte  des  19.  Jahr- 
hunderts in  zahlreichen  Pharmakopoen  vorfinden  und  erst  allmählich 
moderneren  Verbindungsformen  gewichen  sind. 

Wichtiger  jedoch  als  die  Chemikalien  waren  damals,  wie  noch 
heute,  die  pflanzlichen  Arzneistoffe.  Während  einerseits  der  oben  ge- 
nannte, des  grössten  Ansehens  sich  erfreuende  G.  E.  Stahl  auf  Grund 
seiner  animistischen  Theorien  über  den  gesunden  und  kranken  Körper 
einer  Reduktion  des  Arzneischatzes  das  Wort  redete  und  ausser  einer 
Anzahl  purgierender  und  tonisierender  Medikamente  (z.  B.  Eisensalze) 
zahlreiche  andere  bisherige  Heilmittel  verwarf  oder  auf  das  äusserste 
einschränkte  (so  namentlich  Chinarinde  und  Opium),  suchte  im  Gegen- 


k 

1 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  ia  der  neueren  Zeit.       579 

teil  Fr.  Hoffmann  (s.  o)  mit  seiner  Schule  die  copia  medicaminum 
besonders  durch  diverse  sedative,  roborierende  und  alterierende  Mittel 
zu  erweitern,  wobei  er  sich  auf  seine  Anschauungen  über  geAvisse 
pathologische  Veränderungen  der  Säfte  und  Organe,  namentlich  der 
Darmschleimhaut,  stützte  und  überdies  aus  reicher  klinischer  Er- 
fahrung schöpfte.  In  der  von  ihm  empfohlenen  Therapie  spielen  einzelne 
ätherische  Oele  und  Stearoptene  (z.  B.  der  Kampher),  die  Chinarinde, 
verschiedene  gewürzhafte  Drogen,  bittere  Vegetabilien  etc.  eine  hervor- 
ragende Kolle,  wie  ja  denn  manche  von  ihm  hemihrende  Vorschriften 
für  arzneiliche  Präparate,  z.  B.  den  ..Liq.  anodynus  H."'  (Spir.  aether.) 
oder  „Elixir  viscerale  H."  (Tinct.  Aurant.  comp.)  sich  in  fast  sämt- 
lichen europäischen  Arzneibüchern  bis  in  unsere  Tage  erhalten  haben. 

Die  vom  pharmakologischen  Standpunkte  bedeutsamste  Erscheinung 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  bleibt  aber  ohne  Zweifel  die  erfolgreiche 
Förderung  des  Interesses,  welches  unter  dem  Einflüsse  mehrerer  be- 
rühmter naturwissenschaftlicher  und  medizinischer  Autoren  in  grund- 
sätzlicher Weise  den  Heilwirkungen  zahlreicher  einheimischer  Pflanzen 
entgegengebracht  wurde.  Vor  allem  hatten  es  der  als  Mediziner  vor- 
gebildete weitausschauende  Botaniker  Linne  und  sein  nicht  minder 
berühmter  Zeitgenosse  Haller  verstanden,  in  ihren  allen  Gelehrten 
ihrer  Zeit  zugänglichen  botanischen  Schriften  die  Aufmerksamkeit  der 
ärztlichen  Kreise  auf  eine  grosse  Zahl  teils  längst  als  Volksheilmittel 
benutzter,  teils  bereits  von  den  sogenannten  Vätern  der  Botanik  im 
16.  und  17.  Jahrhundert  als  heilkräftig  empfohlenen  Pflanzen  besonders 
der  mitteleuropäischen  Länder  hinzulenken  und  so  deren  dauernde 
Aufnahme  als  offizielle  Arzneistoflfe  in  die  neueren  Pharmakopoen  vor- 
zubereiten. Zu  dieser  Gruppe  pflanzlicher  Medikamente  gehören  zu- 
nächst eine  Anzahl  Drogen  von  weniger  auffallender  physiologischer 
Wirkung,  wie  z.  B.  Frangularinde.  Arnikablüten.  Pfeff"erminzkraut, 
Bärentraubenblätter,  isländische  Flechte,  Lj'copodium.  mexikanisches 
Traubenkraut  (Chenopod.  ambros.).  Queckenwurzel  u.  s.  w.  Ganz  be- 
sonders aber  waren  es  die  jahrhundertelang  vorwiegend  als  ein- 
heimische Giftkräuter  bekannten  und  benützten  Pflanzen  Aconitum, 
Colchicum,  Conium,  Datura.  Hyoscyamus  und  Pulsatilla,  deren  Ein- 
führung in  die  materia  medica  mit  der  zweiten  Hälfte  oder  dem 
Schlüsse  des  18.  Jahrhunderts  zusammenfällt.  Dieselbe  ist.  wenn  nicht 
ausschliesslich,  doch  in  erster  Linie  auf  die  langjährigen  systematischen 
Beobachtungen  und  Versuche  eines  verdienten  Wiener  Arztes  und 
Lehrers  Anton  Störck.^^)  des  Schülers  von  de  H a e n  und  Nach- 
folgers van  Swietens  zurückzuführen,  welcher  durch  seine  Publi- 
kationen über  die  genannten  arzneilichen  Pflanzenstotte  eine  der  ersten 
Anregungen  zu  den  pharmakodynamischen  Prüfungen  der  neueren  Zeit 
gegeben  hat  und  zu  seiner  Zeit  durch  seine  Angaben  über  Anwendung 
jener  Giftpflanzen  bei  gewissen  Krankheiten  auch  die  Diskussion  über 
deren  Natur  vielfach  förderte.  Es  ist  bekannt,  dass  die  Mehrzahl  der 
OD  Stoerck  geprüften  und  empfohlenen  ..heroica"  in  Form  rationell 
ereiteter  galenischer  Präparate,  namentlich  auch  als  Fluidextrakte, 
sich  bis  in  unsere  Tage  im  Arzneischatze  erhalten  haben  und  wohl 
stets  typische  Beispiele  für  die  heilsame  Verwendung  an  und  für  sich 
giftiger  Vegetabilien  bleiben  werden. 

Wenn  so  gegen  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  eine  beginnende 
Tendenz  zu  pharmakologischer  Betrachtung  und  Prüfung  von  Arznei- 
stoflFen  sich  wahrnehmen  lässt,  so  machte  sich  andererseits  nicht  weniger 

37* 


580  Ed.  Schaer. 

das  Bedürfnis  geltend,  die  zahlreichen  einheimischen  und  ausländischen 
Arzneimittel  auch  vom  Standpunkte  der  pharmaceutischen  Drogenkunde 
aus,  d.  h.  in  ihren  naturwissenschaftlichen,  namentlich  botanischen  und 
pharmakochemischen  Merkmalen  und  Eigenschaften  näher  zu  beschreiben. 
Da  aber  in  jener  Zeitepoche  eine  Trennung  der  medizinischen  Heil- 
mittellehre oder  „Pharmakologie"  und  der  pharmaceutischen  Arznei- 
mittellehre oder  „Pharmakognosie"  im  Sinne  der  heute  diesen  Diszip- 
linen zuerkannten  Stellung  noch  nicht  bestand,  so  war  die  einer 
näheren  Kenntnis  der  Arzneistoffe  gewidmete  Litteratur  jener  Zeit 
gerade  in  ihren  besten  und  allgemeiner  bekannten  und  benützten  Er- 
zeugnissen eine  gleichzeitig  medizinisch-pharmaceutische  resp.  pharma- 
kologisch-pharmakognostische,  welche  in  ihren  Lehr-  und  Handbüchern 
ebensowohl  dem  praktischen  Arzte  als  dem  Pharmaceuten  zur  Be- 
lehrung diente. 

Als  wichtigere  Repräsentanten  dieser  Vorläufer  der  heutigen 
pharmakologischen  und  pharmakognostischen  Litteratur  sind  u.  a.  in 
erster  Linie  drei  Werke  anzuführen,  welche  nicht  allein  in  den  Heimat- 
ländern ihrer  Autoren,  sondern  weit  darüber  hinaus  als  zuverlässige 
und  treifliche  Kompendien  geschätzt  waren  und  bis  in  unsere  Zeit  bei 
allen  historischen  Studien  über  arzneiliche  Drogen  ihren  Wert  als 
Nachschlagewerke  behaupten :  Murrays^*')  „Apparatus  medicaminum'*, 
Geoffroys^^)  „Tractatus  de  materia  medica"  und  Neumanns ^^j 
„Chymia  medica".  J.  Andreas  Murray,  ein  Schwede  von  Geburt 
und  Lehrer  an  der  Universität  Göttingen  publizierte  daselbst  zuerst 
1776  das  genannte  mehrbändige  Werk,  welches  auf  sorgfältiger  Prüfung 
und  Benützung  der  zeitgenössischen  Fachschriften  fusst  und  fast  alle 
wichtigeren  damals  in  Europa  bekannt  gewordenen  Heilmittel  umfasst ; 
Stephan  Franz  Geoffroj^  der  Aeltere  genannt,  benützte  bei  Heraus- 
gabe seiner  dreibändigen  Schrift  über  materia  medica  u.  a.  die  vor 
ihm  noch  wenig  bekannten  Beobachtungen  und  Beschreibungen  des 
ausgezeichneten  englischen  Botanikers  John  Ray"^^)  (Rajus),  dessen 
Herbarium  noch  im  Brittischen  Museum  aufbewahrt  wird;  Caspar 
Neumann,  der  Berliner  Chemiker,  Pharmaceut  und  Professor,  ein 
Anhänger  Stahls  und  seiner  Phlogistontheorie,  machte  sich  um  die 
Erkenntnis  der  Arzneistolfe  besonders  dadurch  verdient,  dass  er  zahl- 
reiche Beobachtungen  und  chemische  Versuche  mit  Pflanzenstoffeu,  so 
mit  ätherischen  Oelen  und  Harzen.  Gewürzen,  Genussmitteln  und  narko- 
tischen Substanzen  vornahm  und  dieselben  in  seinen  Lectiones  über 
„Subjecta  chymica,  pharmaceutica  et  diaetetica"  vortrug  und  ver- 
öffentlichte. Seine  Schriften,  z.  T.  nach  seinem  Tode  zusammengestellt 
und  in  mehrere  Sprachen  übertragen,  sind  für  spätere  Pharmakologen 
eine  Fundgrube  für  chemische  Angaben  über  gewisse  arzneiliche 
Drogen  geblieben  und  haben  manche  Nachfolger  auf  diesem  Spezial- 
gebiete, so  besonders  den  berühmten  schwedischen  Apotheker  C.  W. 
Scheele  (geb.  1742,  f  1786)  zu  weiteren  Untersuchungen  über  pflanz- 
liche Heilmittel  angeregt. 

Neben  diesen  eben  genannten  Namen  verdienen  aber  auch  diejenigen 
einiger  weiterer  Autoren  auf  dem  Gebiete  der  Arzneiwarenkunde  und 
Heilmittellehre  Erwähnung,  so  besonders  Gren  (System  der  Pharma- 
kologie 1798),  Lewis  (Experimental  history  of  the  materia  medica 
1761),  Spielmann  (Institutiones  materiae  medicae  1774),  Tromms- 
dorff  (Handbuch  der  pharmaceutischen  Warenkunde  1799),  Valen- 
tini  (Museum  rauseorum  1704).     Und  endlich  ist  daran  zu  erinnern, 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.       581 

dass  auch  in  diesem  achtzehnten  Jahrhundert  die  Kenntnis  exotischer 
Heilstoffe  durch  verschiedene  gelehrte  Botaniker,  Mediziner  und  Phar- 
maceuten  erheblich  gefördert  wurde.  In  diesem  Sinne  würden  hier  be- 
sonders noch  anzuführen  sein:  der  westfälische  Arzt  Engelbert 
Kaempfer/*^)  der  die  Ergebnisse  weiter  Eeisen  in  Vorder-.  Mittel- 
und  Ostasien  in  mehreren  grösseren  Werken  niederlegte,  die  eine  Fülle 
wertvoller  Angaben  über  orientalische  Arznei-  und  Nutzpflanzen  ent- 
halten, sodann  der  spanische  Pharmaceut  und  Botaniker  Casimir 
Gomez  Ortega/^)  als  Verfasser  zahlreicher  Abhandlungen  über 
einheimische  und  ausländische  Drogen,  sowie  namentlich  als  üeber- 
setzer  und  Kommentator  verschiedener  wichtiger  Eeiseberichte  und 
botanischer  Schriften,  u.  a.  Linnes,  und  drittens  der  spanische 
Botaniker  Hippolit  Ruiz  (Lopez).  ^-)  welcher  in  den  Jahren 
1777—1778  als  Leiter  einer  grossen  naturwissenschaftlichen  Expedition 
nach  Peru  und  Chili  fungierte  und  seine  botanischen  Studien  und  Ent- 
deckungen in  zwei  mit  zahlreichen  trefflichen  Abbildungen  ausgestatteten 
Werken  veröffentlichte,  von  denen  das  eine  sich  speziell  mit  den 
Stammpflanzeu  der  Chinarinden  beschäftigt,  während  das  andere  eine 
Flora  der  von  Euiz  bereisten  Gebiete  darstellt  und  zahlreiche  Nach- 
richten über  amerikanische  Arznei-  und  Genusspflanzen  wie  z.  B.  über 
die  Eatanhiawurzel  und  die  schon  erwähnten  Cinchonen  enthält. 

Die  Betrachtung  der  Stellung  und  des  Zustandes  der  Heilmittel- 
lehre im  18.  Jahrhundert  darf  nicht  abgeschlossen  werden,  ohne  noch 
zweier  medizinischer  Eichtungen  zu  gedenken,  welche,  obwohl  in 
litterarischer  Beziehung  erst  in  den  früheren  Decennien  des  19.  Jahr- 
hunderts zur  Geltung  gelangend,  doch  noch  im  18.  Jahrhundert,  ja  z.  T. 
noch  in  früheren  Zeiten  wurzeln,  nämlich  der  durch  S.  Hahnemann  *=^) 
begründeten  Homöopathie,  sowie  der  zeitlich  etwas  später  auftretenden, 
in  einer  neuen  Organheillehre  gipfelnden  medizinischen  Doktrin  von 
J.  G.  E  a  d  e  m  a  c  h  e  r.  "*)  An  dieser  Stelle  auf  eine  nähere  Besprechung 
dieser  Heilmethoden  einzutreten,  verbietet  sich  von  selbst;  welches 
aber  auch  das  Urteil  über  dieselben  sein  mag,  —  und  dass  dasselbe 
nach  den  Gesichtspunkten  der  neueren  wissenschaftlichen  Medizin  in 
der  Hauptsache  kein  zustimmendes  sein  kann,  liegt  auf  der  Hand,  — 
so  muss  doch  zugestanden  werden,  dass  die  Beiziehung  einer  relativ 
grossen  Zahl  mineralischer,  vegetabilischer  und  animalischer  Arznei- 
stoffe sowohl  in  der  homöopathischen,  wie  in  der,  z.  T.  noch  auf  die 
mittelalterliche  Signaturenlehre  und  die  Arcanatheorien  des  Paracelsus 
zurückdeutenden  Eademacherschen  Heilkunst  manche  objektiv  und 
kritisch  denkende  Mediziner  zu  sorgfältiger  Eevision  des  Arzneischatzes 
und  gelegentlicher  erneuter  Prüfung  und  Würdigung  obsoleter  oder 
wenig  bekannter  Heilmittel  angeregt  hat.  In  dieser  Weise  konnten 
selbst  jene  einer  rationellen,  auf  dem  Boden  der  neueren  Physiologie 
fussenden  Pharmakologie  ferner  stehenden  medizinischen  Systeme  in 
gewissen  Beziehungen  klärend  und  ordnend  wirken.*) 

Noch  weniger,  als  auf  dem  Gebiete  der  Pharmakologie  sind  im 
achtzehnten  Jahrhundert  auf  demjenigen  der  Toxikologie  hervorragende 
Fortschritte  und  Neuerungen  zu  verzeichnen.  Wohl  unterscheiden 
sich    die    namhafteren    auf   toxikologische    Gegenstände    bezüglichen 


*)  Vgl.  über  ßademacher  u.  .s.  medizin.  Theorien  die  treffliche  neueste 
Schrift  von  F.  Oehmen:  Joh.  Gottfr.  Rademacher,  s.  Erfahrungsheillehre  und  ihre 
Greschichte,  Bonn  a./ßh.,  P.  Hanstein  1900. 


582  Ed.  Schaer. 

Schriften,  wie  z.  B.  die  über  verschiedene  anorganische  und  organische 
Gifte  publizierten  Abhandlungen  von  Mead  (1702),  Lindestolpe 
(1739),  Stenzel  (1740—1745)  u.  a.  in  vorteilhafter  Weise  von  der 
Giftlehre  früherer  Jahrhunderte,  wie  etwa  den  noch  in  mittelalter- 
lichen Vorurteilen  jeder  Art  befangenen  Traktaten  „de  venenis''  des 
Spaniers  Arnaldus  de  Villanova  oder  des  Venetianers  Santes 
Ardoyno;  allein  unter  den  Bedingungen  für  das  Auftreten  der  Toxi- 
kologie als  einer  mehr  oder  weniger  selbständigen  medizinisch-natur- 
wissenschaftlichen Disziplin  fehlten  noch  zum  grösseren  Teile  nicht  allein 
die  durch  systematische  Experimente  begründeten  Materialien  zur 
Kenntnis  der  physiologischen  Wirkungen  der  wichtigeren  Gifte,  wie 
zahlreich  auch  die  kasuistischen  Angaben  über  Vergiftungssymptome 
schon  sein  mochten,  sondern  besonders  auch  die  Grundlagen  einer 
chemischen  Toxikologie,  d.  h.  der  Besitz  genauerer  Kenntnisse  über 
die  chemischen  Eigenschaften  und  Reaktionen  und  zuverlässiger 
Methoden  zur  chemischen  Auffindung  der  Gifte.  Werden  doch  noch 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  aus  den  Nieder- 
landen,*) Frankreich  und  Deutschland  forensische  Fälle  angeführt,  in 
denen  selbst  namhafte  Quantitäten  von  Giften  wie  z.  B.  Arsenik  nicht 
oder  wenigstens  nicht  sicher  nachgewiesen  und  identifiziert  werden 
konnten,  nicht  zu  reden  von  zahlreichen  anderen  Giftstoffen.  Es  ist 
deshalb  erklärlich,  dass  es  bereits  als  eine  erhebliche  toxikologisch- 
chemische Leistung  angesehen  wurde,  als  der  Tübinger  Chemiker 
Zeller  ***)  aus  Schwefel  und  Kalkmilch  ein  Reagens  (Schwefelcalcium- 
lösung)  darstellen  lehrte,  welches  dazu  bestimmt  war,  Metalle  wie  das 
Blei,  Kupfer  u.  s.  w.  im  Wein  und  in  anderen  Genussmitteln,  wie  dies 
heute  mittels  Schwefelwasserstoff"  geschieht,  aufzusuchen. 

Was  aber  überdies  der  Entwicklung  einer  Litteratur  über  Gift- 
lehre damals  noch  hindernd  in  den  Weg  trat  und  nicht  ohne  psycho- 
logisches Interesse  erscheint,  war  eine  gewisse  instinktive  Besorgnis, 
durch  öffentliche  Behandlung  von  toxikologischen  Dingen  in  gedruckten 
Schriften  die  Kenntnisse  über  Gifte  in  einer  das  öffentliche  Wohl  ge- 
fährdenden Weise  zu  verbreiten.  Urteilte  doch  selbst  noch  1794  ein 
so  gewiegter  un4  scharfsinniger  Arzt,  wie  Joh.  Peter  Frank *'^)  (s. 
Wefers  Bettink  1.  s.  c.  p.  13),  in  seinem  wichtigsten  Werke  folgender- 
massen:  „Allein  einen  genauen  Gifttraktat  in  einer  Volkssprache  sehe 
ich  noch  immer  als  eine  Sache  an,  die  ihre  sehr  zweideutige  Seite 
hat;  und  es  haben  schon  die  blossen  Volksarzneibücher  soviel  Unheil 
gestiftet,  dass  ich  mich  nicht  enthalten  kann,  vor  einem  in  der  Volks- 
sprache geschriebenen  Buche  über  die  Giftmischerkunst  zu  zittern!" 

Dieser  Verhältnisse  ungeachtet,  ist  für  das  18.  Jahrhundert  von 
gewissen  Bestrebungen  auf  toxikologischem  Gebiete  Notiz  zu  nehmen 
und  namentlich  daran  zu  erinnern,  wie  in  diese  Zeitperiode  die  mehr 
und  mehr  zu  verfolgende  Befestigung  der  Ueberzeugung  fällt,  dass 
scharfe  Grenzen  zwischen  Medikamenten  und  Giften  nicht  existieren, 
dass  vielmehr  letztere  unter  bestimmten  Voraussetzungen  und  geeig- 
neten Bedingungen  der  Anwendung  zu  wertvollen  Heilmitteln  werden 
können.  Während  einzelne  Autoren  (wie  z.  B.  Thiery,  Fother- 
gill,  Falconer,  Corona  u.  a.)  sich  in  verdienstlicher  Weise  mit 
den  Nachteilen   des  Kontaktes   von   Speisen  mit  Blei,    Kupfer   oder 


*)H.   Wefers    Bettink,    Rede   uitgesproken   by    de    herdenking    van    den 
stichtingsdag  der  Utrechtsche  Hoogeschool.  1900  p.  10  ff. 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.       583 

anderen  Metallen  beschäftigten,  sprachen  sich  besonders  einige  be- 
rühmte englische  Aerzte  wie  Fowler  und  Percival  über  die 
Wirkungen  und  die  arzneilichen  Verwendungen  des  Arseniks  und  Bleis 
aus,  dessen  warme  Empfehlung  als  internum  und  externum  durch 
Goulard  schon  oben  berührt  wurde.  Endlich  ist  als  ein  bezeich- 
nender Zug  der  Giftlehre  des  18.  Jahrhunderts  die  Bemühung  um 
das  Studium  tierischer  Gifte,  wie  namentlich  der  Schlangengifte  und 
des  Giftes  der  Hundswut,  sowie  auch  der  zu  verwendenden  Antidote 
zu  bezeichnen,  obwohl,  wie  aus  dem  letzten  Abschnitte  ersichtlich, 
schon  im  17.  Jahrhundert  hierauf  gerichtete  Wahrnehmungen  und  Be- 
schreibungen vorliegen.  Es  gehören  in  die  hier  zu  behandelnde  Periode 
besonders  die  Publikationen  des  zu  seiner  Zeit  als  Physiologen  hoch- 
geschätzten Feiice  Fontana**')  zu  Pisa  über  das  Viperngift,  sowie 
des  englischen  Arztes  P.  Eussel  (1796)  über  indische  Schlangengifte. 
Nicht  weniger  bemerkenswert  sind  aber  auch  die  Abhandlungen  über 
Gegengifte,  wie  z.  B.  die  Versuche  von  Buchholz  (1785)  über  die 
Anwendung  der  Belladonna  gegen  Hundswut,  und  insbesondere  die 
Angaben  des  Botanikers  Linne,  sowie  verschiedener  zeitgenössischer 
Verfasser  von  Reiseberichten  über  die  sowohl  in  Asien  als  in  Amerika 
bekannten  und  benützten  pflanzlichen  Schlangengegengifte.  Es  ver- 
dient an  diesem  Orte  vielleicht  hervorgehoben  zu  werden,  dass  manche 
dieser  Antidote  bei  Schlangenbiss,  welche  Eingeborene  verschiedener 
Weltteile  seit  längster  Zeit  kennen  und  mit  oder  ohne  Erfolg  zu  ver- 
wenden pflegen,  z.  T.  schon  frühe  in  den  Arzneischatz  eingetreten  und 
damit  Objekte  der  Heilmittellehre  geworden  sind,  wie  z.  B.  Ead.  Ser- 
pentar.  virg.,  Rad.  Senegae.,  Lign.  colubrin.  etc.*)  Eine  tiefere,  wenn 
auch  noch  keineswegs  erschöpfende  Einsicht  in  die  Natur  der  ver- 
schiedenen tierischen  Gifte  und  damit  in  die  Behandlung  der  be- 
treffenden Vergiftungen  konnte  aber  erst  einem  späteren  Jahrhundert 
vorbehalten  sein. 

Das  neunzehnte  Jahrhundert. 

Die  für  diese  letzte  Periode  so  bezeichnende  Entwicklung  der 
älteren  Arzneikunde  zu  einer  als  selbständige  Disziplin  sich  bethätigenden 
wissenschaftlichen  Heilmittellehre  oder  Pharmakologie  setzte,  was 
näher  zu  begründen  an  diesem  Orte  als  überflüssig  erscheint,  zunächst 
eine  Neugestaltung  wichtiger  Teile  der  Naturwissenschaften,  nament- 
lich der  Physik  und  Chemie  voraus,  sodann  aber  auch  die  grossenteils 
von  der  Neubeleb iing  der  letztgenannten  Zweige  abhängige  Begründung 
der  neueren  Physiologie,  Entwicklungsgeschichte  und  Anatomie.  Der 
rationelle  Ausbau  dieser  wichtigsten  Grundlagen  der  neueren  Medizin 
konnte  allein  zu  einer  wissenschaftlich  begründeten  Pathologie  und 
Therapie  führen  und  damit  auch  das  Bedürfnis  wach  rufen,  die  vielen 
älteren  und  die  immer  zahlreicher  anstürmenden  neuen  Arzneimittel 
nach    systematischen,    dem    Geiste    der    modernen    Naturwissenschaft 


*)  Zahlreiche  Angaben  über  die  frühere  fiolle  zahlreicher  Pflanzenstoffe  als 
Antidote  gegen  tierische  Gifte  und  gleichzeitig  als  Volksheilmittel  finden  sich  u.  a. 
in  den  neueren  Handbüchern:  Dragendorff,  Die  Heilpflanzen  der  verschiedenen 
Zeiten  u.  Völker  1898;  J.  Pereira,  Elements  of  raateria  medica  and  therapeutics 
1839/40 ;  Guibourt  et  Planchon,  Histoire  naturelle  des  drogues  simples.  VII.  Ed. 
1876. 


584  Ed.  Schaer.  ^ 

entsprechenden  Methoden  zu  prüfen  und  in  ihren  Eigenschaften  zu 
ergründen. 

Nachdem  einerseits  durch  Lavoisiers  noch  in  das  achtzehnte 
Jahrhundert  fallende  Reform  der  Chemie  und  seine  bahnbrechenden 
Arbeiten  über  die  chemische  und  biologische  Bedeutung  des  Sauer- 
stoffes, sodann  durch  die  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  an- 
gehörenden grossen  physikalischen  und  chemischen  Entdeckungen  von 
Faraday,  Oersted,  Ampere.  Gay-Lussac,  Dalton,  Davy, 
Berzelius,  Liebig  u.  a.  die  massgebenden  Bedingungen  für  die 
gedeihliche  Entwicklung  einer  experimentellen  Physiologie  geschaffen 
waren,  andererseits  auch  die  anfänglich  durch  die  naturphilosophischen 
Schriften  von  F.  W.  J.  S  c  h  e  1 1  i  n  g  '*»)  stark  beeinflussten  beschreibenden 
Naturwissenschaften  zunächst  unter  der  Aegide  L.  Okens,  K.  F.  Kiel- 
meyers, J.  Döllingers,  später  E.  von  Baers  und  Schleidens 
von  der  früher  fast  ausschliesslich  systematischen  Richtung  mehr  und 
mehr  zu  intensiverer  Pflege  der  Tier-  und  Pflanzenanatomie  sowie  der 
Entwicklungsgeschichte  und  genetischen  Beziehungen  der  Lebewesen 
übergegangen  waren,  trat  jene  für  die  neuere  Physiologie  und  Biologie 
so  günstige  Periode  ein,  welche  der  neueren  Medizin  die  eingreifendste 
und  nachhaltigste  Förderung  gebracht  hat. 

Es  ist  bekannt,  welche  bedeutsame  Entwicklung  die  auf  streng 
naturwissenschaftlichen  und  experimentellen  Grundlagen  aufbauende 
Physiologie  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  durch  Forscher  wie  Bell, 
Magendie,  Flourens,  Pander,  Purkinje,  Ernst  Heinrich 
Weber  und  Wilhelm  Weber  und  manche  andere  Physiologen, 
insbesondere  aber  durch  Joh.  Müller  und  Th.  Schwann  erfahren 
hat.  Unter  solchen  Auspizien  war  zu  erwarten,  dass  allmählich  im 
Gange  eines  naturgemässen  x^usbaues  der  neueren  Medizin  die  Heil- 
mittellehre selbständige  Gestalt  annehmen,  d.  h.  als  neuere  „Pharma- 
kologie" sich  von  der  Therapie  emanzipieren  würde,  wenn  auch  natür- 
licherweise dieser  Prozess  sich  in  den  einzelnen  Ländern  je  nach 
dem  Charakter  der  herrschenden  medizinischen  Schulen  und  Richtungen 
langsamer  oder  rascher  und  auch  zu  verschiedenen  Zeiten  vollzog. 

Eine  erste  Epoche  dieser  immer  deutlicher  und  bewusster  sich 
vollziehenden  Lostrennung  einer  neueren  experimentellen  Heilmittel- 
lehre wird  durch  die  relativ  zahlreichen  Arbeiten  jener  älteren  Phar- 
makologen  charakterisiert,  welche  zunächst  in  engem  Anschlüsse  an 
die  Therapie  und  zum  Zwecke  ihrer  wissenschaftlichen  Förderung  und 
Kritik  teils  auf  Tierversuche  gestützt,  teils  durch  sorgfältige  syste- 
matische Beobachtungen  am  Krankenbette  die  Heilmittellehre  in  ihrer 
therapeutischen  Richtung  zu  präzisieren,  zu  vertiefen  und  durch  neue 
möglichst  zuverlässige  Beobachtungen  zu  fördern  bestrebt  waren.  Wir 
finden  diese  Richtung  u.  a.  hauptsächlich  vertreten  in  den  Arbeiten 
und  Schriften  von  Mitscherlich,**^)  dem  die  Arzneimittellehre  eine 
ansehnliche  Reihe  von  Ergänzungen  und  namentlich  die  Förderung  der 
Kenntnis  des  chemischen  Verhaltens  der  Arzneistoffe  im  Körper  sowie 
den  unermüdlichen  Hinweis  auf  die  Unentbehrlichkeit  der  pharma- 
kologischen Tierversuche  verdankt,  von  K.  D.  von  Schroff,**)  dessen 
für  seine  Zeit  klassische  Arbeiten  über  die  offizineilen  Solaneen  und 
deren  Alkaloide,  über  Aconitum,  Veratrum,  Helleborus  u.  s.  w.  der 
therapeutischen  Pharmakologie  vielfache  Bereicherung  brachten,  von 
Gubler,"^^)  bekannt  durch  zahlreiche  biologische  Arbeiten  und  phar- 
makologische   Studien    über    die    verschiedensten    Arzneimittel,    von 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.       585 

V  u  1  p  i  a  n ,  dessen  sehr  zahlreiche,  teils  auf  physiologisch-pathologischem , 
teils  auf  pharmakologisch-toxikologischem  Gebiete  sich  bewegenden 
Untersuchungen  von  ungewöhnlicher  Vielseitigkeit  und  rastlosem 
Fleisse  zeugen,  von  Orosi.'-)  dessen  Namen  eine  der  geschätztesten 
pharmaceutisch-pharmakologischen  italienischen  Fachschriften  heute 
noch  trägt. 

Von  durchgreifender  Bedeutung  für  die  endgültige  Erhöhung  der 
Pharmakologie  zur  selbständigen  medizinischen  Disziplin  wurde  der 
Umstand,  dass  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  in  verschiedenen 
Ländern  an  Stelle  der  früheren,  wesentlich  nur  auf  Vorlesungen  mit 
gelegentlichen  Demonstrationen  berechneten  Lehrstühle  für  Arznei- 
mittellehre oder  ,.materia  medica"  nunmehr  solche  für  experimentelle 
Pharmakologie  erstanden  und  zwar  in  Verbindung  mit  kleineren  oder 
grösseren  Instituten,  in  denen  die  nötigen  Hilfsmittel  sowohl  für  aus- 
giebige Verwendung  der  Tierexperimente  auf  physiologischer  Grund- 
lage als  auch  für  chemische  L'ntersuchungen  von  Arzneistoffen  gegeben 
waren.  Diese  pharmakologischen  Universitätsanstalten,  von  einem  der 
ersten  unter  bescheidenen  Verhältnissen  in  Dorpat  (durch  B.  Buch- 
heim) eingerichteten  Institute  angefangen  bis  zu  den  neueren  und 
neuesten  in  der  Mehrzahl  der  Kulturstaaten  zu  treifenden  pharma- 
kologischen Laboratorien  waren  und  sind  die  Bildungsstätten  für  eine 
als  zweite  neuere  Periode  zu  bezeichnende  Richtung  der  Pharmakologie, 
welche,  zunächst  unabhängig  von  Utilitätsrücksichten  der  praktischen 
Medizin,  wenn  auch  im  Hinblick  auf  die  Ziele  einer  rationellen 
Therapie,  die  Erforschung  früherer  und  neuer  namentlich  pflanzlicher 
Arzneistolfe  sowie  zahlreicher  aus  den  chemischen  Fabriken  und  Labo- 
ratorien hervorgehender  Heilmittel  als  naturwissenschaftliche  Aufgabe 
erfasst  und  behandelt. 

Nicht  ohne  merklichen  Einfluss  auf  die  gründlichere  Vertiefung 
der  neueren  pharmakologischen  Schulen  ist  endlich  auch  die  Thatsache 
geblieben,  dass  in  den  letzten  Decennien  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
auch  die  zunächst  dem  Studium  der  Pharmacie  dienende  wissenschaft- 
liche pharmaceutische  Drogenkunde,  die  „Pharmakognosie"  mehr  und 
mehr  zu  einer  selbständigen  Disziplin  sich  gestaltete  und  infolge 
ihrer  schrittweisen  Loslösung  aus  dem  Eahmen  der  systematischen 
Botanik  und  der  angewandten  Chemie  vielerorts  mit  eigenen  Lehr- 
kanzeln ausgestattet  wurde,  welche,  wie  z.  B.  in  Oesterreich  und  teil- 
weise auch  in  Deutschland,  mit  den  Lehrstühlen  für  medizinische 
Pharmakologie  vereinigt  worden  sind.  Wenn  die  Begründung  dieser 
neueren  Richtung  der  Pharmakologie  auf  deutschem  Sprachgebiete  in 
erster  Linie  auf  Rudolf  Buchheim,  '=^)  dem  Mitbegründer  des  weit- 
verbreiteten Archivs  für  experimentelle  Pathologie  und  Pharmakologie 
zurückgeht,  dessen  zahlreiche  Schüler  eine  namhafte  Zahl  wichtiger 
Objekte  der  materia  medica  bearbeitet  haben,  so  fand  andererseits  in 
P>ankreich  die  neue  Disziplin  wesentliche  Förderung  durch  den  Experi- 
mental Physiologen  Claude  B  e  r  n  a  r  d .  "*)  welche  seine  fruchtbare  und 
glückliche  Experimentierkunst  nicht  allein  auf  das  Gebiet  der  Physio- 
logie ausdehnte,  sondern  auch  die  wertvollsten  Beiträge  zur  Kenntnis 
verschiedener  Arzneistoffe  und  Gifte  lieferte  (Curare,  Opiurabasen  etc.). 
Als  hervorragende  gleichzeitig  die  Pharmakologie  und  die  Pharma- 
kognosie vertretende  Autoren,  welche  die  Arzneimittellehre  teils  durch 
experimentelle,  teils  durch  litterarische  Arbeiten  besonders  gefördert 
haben,  mögen  hier  aus  einer  grösseren  Reihe  die  Namen  von  K.  D. 


586  Ed.  Schaer. 

von  Schroff  in  Wien  (s.  o.),  J.  Pereira^^)  in  London,  R  F.  Fri- 
ste dt  '**)  in  Upsala  und  P.  C.  Plugge  ")  in  Groningen  und  Th.  Hu  Se- 
rn an  n'^)  in  Götting-en  genannt  werden. 

Diesen  ihrem  Berufe  nach  der  Medizin  zugehörigen  Pharm  akologen 
schliessen  sich  eine  Anzahl  aus  der  Pharmacie  hervorgegangener 
Pharm akogn Osten  an,  deren  z.  T.  bahnbrechende  und  reforma- 
torische Schriften  nicht  ohne  bemerkbaren  fördernden  Einfluss  auf  die 
neuere  Arzneimittellehre  bleiben  konnten.  Es  sind  dies  vor  allem 
Guibourt ''-')  (in  Paris).  Wiggers^'')  (in  Göttingen),  Oudemans^^) 
(in  Amsterdam),  Berg^-)  (in  Berlin)  und  Flückiger^*^)  (in  Bern  und 
Strassburg).  Namentlich  der  Letztgenannte  hat  in  seinem  klassischen 
Lehrbuche  der  Pharmakognosie  dieser  Disziplin  durch  Erweiterung 
und  Vertiefung  in  physikalisch-chemischer  und  historisch-geographischer 
Richtung,  im  Sinne  einer  monographischen  Behandlung  der  Arznei- 
stoffe, neues  Leben  eingeflösst  und  zugleich  den  Rang  einer  selbständigen 
angewandten  Wissenschaft  erworben. 

Endlich  ist  hier  auch  daran  zu  erinnern,  dass  besonders  im  letzten 
Drittel  des  Jahrhunderts  die  jeweiligen  Vorbereitungsarbeiten  für  zahl- 
reiche in  verschiedenen  Staaten  promulgierte  neuere  „Arzneibücher"' 
oder  „Pharmakopoen"  zu  einer  nicht  geringen  Zahl  wertvoller  phar- 
makologischer Untersuchungen  geführt  haben,  durch  welche  die  Kenntnis 
der  physiologischen  Wirkungen  und  des  pharmakologischen  Verhaltens 
vieler  wichtigerer  Arzneimittel,  wie  z.  B.  der  Solaneen-  und  Strychnos- 
drogen,  des  Mutterkorns,  der  Digitalis  u.  s.  w.  vielfach  ergänzt  und 
berichtigt  worden  ist. 

Bei  einer  Betrachtung  der  Stellung  und  Entwicklung  der  Pharma- 
kologie des  letztverflossenen  Jahrhunderts  darf  nicht  übersehen  werden, 
dass  die  materia  medica  dieser  Periode  und  damit  auch  die  Arznei- 
mittellehre in  mehrfacher  Richtung  Bereicherungen  erfahren  hat,  welche 
als  typische  Erscheinungen  der  Zeitepoche  zu  bezeichnen  sind,  wenn 
sie  gleich  an  diesem  Orte  nur  kurz  berührt  werden  dürfen,  da  ihre 
eingehendere  Besprechung  grossenteils  dem  Abschnitte  über  thera- 
peutische Medizin  zusteht.  In  erster  Linie  fällt  in  den  geschichtlichen 
Rahmen  des  19.  Jahrhunderts  die  Einführung  einer  Anzahl  eben  be- 
kannt gewordener  chemischer  Stoffe,  so  namentlich  des  Jodes  und  der 
Jodpräparate  (durch  die  Bemühungen  von  Coindet  in  Genf,  Lugol 
in  Paris  und  Bernatzik  in  Wien),  sodann  der  zahlreichen  An- 
aesthetica  und  Hypnotica,  welche  tiefgreifende  Reformen  sowohl  in  der 
chirurgischen  als  inneren  Medizin  zur  Folge  gehabt  haben  und  unter 
denen  in  erster  Linie  die  beiden  mit  den  Namen  Morton  in  Boston 
und  Simpson  in  Edinburg  verknüpften  wichtigsten  Stoffe  i\.ether  und 
Chloroform,  sowie  Chloralhydrat  und  Sulfonal  zu  nennen  sind. 

Vor  allem  aber  hat  die  Entdeckung  und  die  sich  anschliessende 
fabrikmässige  Darstellung  der  wichtigsten,  als  wirksame  Substanzen 
zahlreicher  älterer  und  neuerer  pflanzlicher  Arzneistoffe  zu  betrachtenden 
Pflanzenbasen  oder  Alkaloide  sehr  eingreifende  Aenderungen  und 
Neuerungen  in  der  Therapie  und  Arzneimittellehre  hervorgebracht, 
welche  auch  heute  noch  nicht  als  abgeschlossen  zu  betrachten  sind. 
Ihre  Isolierung  beginnt  zu  Anfang  des  Jahrhunderts  mit  der  Auf- 
findung der  Opiumbasen  durch  Derosne,  Sertürner  und  Robiquet; 
ihnen  folgten  die  ersten  Darstellungen  der  Strychiiosbasen  durch 
Pelletier  und  Caventou  (1818),  bald  darauf  des  Chinins  durch 
dieselben  pharmaceutischen  Chemiker,  des  Veratrins  durch  Meissner 


Geschichte  der  Pharmakologie  und  Toxikologie  in  der  neueren  Zeit.       587 

(1819),  des  Atropins,  Aconitins  und  Coniins  durch  Geiger  und 
Hesse  (1833),  des  Kaffeins  durch  Runge  u.  s.  w.  Es  ist  bekannt, 
in  welchem  Masse  die  Bereitung  und  arzneiliche  Benützung  der  ver- 
schiedenen offizinellen  Alkaloide  die  Anwendung  der  sog.  galenischen 
Präparate  der  physiologisch  starkwirkenden  Arzneipflanzen  eingeschränkt 
hat,  wenn  auch  keineswegs  in  allen  Fällen  volle  Kongruenz  der 
Wirkungen  der  letzteren  mit  denjenigen  der  entsprechenden  Pflanzen- 
basen besteht.  Hand  in  Hand  mit  der  durch  die  späteren  Decennien 
des  Jahrhunderts  sich  fortsetzende  Auffindung  zahlreicher  weiterer 
Alkaloide  ging  eine  andere  bemerkenswerte  Erscheinung,  nämlich  die 
versuchsweise  Einführung  verschiedener  teils  als  Pfeilgifte,  teils  als 
Gottesurteilsgifte  (Ordealgifte)  bekannter  ausländischer  Pflanzenstoffe 
in  die  materia  medica  und  die  nachherige  Isolierung  ihrer  wirksamen 
Stoffe  in  Form  von  Pflanzenbasen,  Ghxosiden  oder  ähnlichen  organischen 
Substanzen.  Nachdem  zunächst  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  aus  der 
Gruppe  der  Pfeilgifte  das  Curare,  das  Upas-Antjargift.  aus  derjenigen 
der  Ordealgifte  die  Calabarbohne,  die  Sassyrinde  (Erythrophloeum), 
später  auch  Strophanthus  physiologisch  geprüft  und  auf  Grund  pharma- 
kologischer Versuche  arzneilicher  Verwendung  dienstbar  gemacht 
worden  waren,  sind  diese  beiden  Gruppen  von  Giften,  zu  denen  sich 
auch  tierische  Pfeilgifte  gesellten,  zu  einer  Fundgrube  physiologisch 
interessanter  und  in  einzelnen  Fällen  auch  medizinisch  brauchbarer 
Substanzen  geworden. 

Endlich  muss  auf  die  grosse  pharmakologische  Bedeutung  noch 
hingewiesen  werden,  welche  sich  besonders  gegen  Schluss  des  Jahr- 
hunderts an  zwei  grosse  Klassen  von  Medikamenten  geknüpft  hat,  ein- 
mal an  die  unter  dem  allgemeinen  Namen  der  Antipyretica  bekannten 
äusserst  zahlreichen  Kunstprodukte  der  organisch-chemischen  Labora- 
torien, vom  Antipyrin  und  Thallin  (1884:),  Antifebrin  und  Phenacetin 
bis  zu  den  Präparaten  der  letzten  Tage,  sodann  an  die  noch  zahl- 
reicheren Antiseptica,  welche  zumeist  der  grossen  Abteilung  der 
Benzolderivate  oder  „aromatischen  Verbindungen"  angehören  und  unter 
denen  das  zuerst  als  Carbolsäure  bekannt  gewordene  Phenol  anerkannter- 
massen  unter  den  Händen  Listers  von  grösstem  Einflüsse  auf  die 
chirurgische  Praxis  und  Operationslehre  gewesen  ist. 

Eine  letzte,  ihrer  eventuellen  weiteren  Entwicklung  nach  schon 
dem  gegenwärtigen  Jahrhundert  zugehörige,  in  der  Geschichte  der 
Pharmakologie  sehr  merkwürdige  Erscheinung  ist  die  Erweiterung 
der  materia  medica  durch  die  neue  „ Organ therapie",  bei  welcher 
mehr  oder  weniger  rein  dargestellte  chemische  Substanzen  oder  auch 
Extrakte  aus  Organen  des  Tierkörpers  als  Heilmittel  bei  gewissen  Er- 
krankungen Verwendung  finden  und  als  deren  typische  Repräsentanten 
u.  a.  die  Schilddrüsenpräparate  und  das  von  E.  Baumann  zuerst 
isolierte  Thyrojodin  zu  nennen  sind.  Das  Auftreten  dieser  eigentüm- 
lichen neuen  Klasse  von  Arzneimitteln  ist  von  historischen  Gesichts- 
punkten aus  um  so  interessanter,  als  sich  unter  den  vielen  arzneilichen 
Stoffen  und  Volksheilmitteln  früherer  Zeit  mancherlei  Beziehungen  zu 
den  Heilstoffen  der  neuen  Organtherapie  auffinden  lassen. 

In  mehr  oder  weniger  enger  Verbindung  mit  der  Pharmakologie, 
jedenfalls  aber  unter  der  begünstigenden  Wirkung  derselben  Verhält- 
nisse vollzog  sich  im  neunzehnten  Jahrhundert  der  weitere  Fortschritt 
der  Giftlehre  oder  Toxikologie.  Auch  bei  dieser  Disziplin  konnte 
eine  allmähliche  Ausgestaltung  als  eigener  medizinischer  Wissenschafts- 


588  Ed.  Schaer. 

zweig"  erst  auf  jener  Grundlage  erfolgen,  wie  sie  durcli  die  intensivere 
Entwicklung  der  pathologischen  Anatomie,  der  experimentellen  Physio- 
logie und  andererseits  auch  der  allgemeinen  und  analytischen  Chemie 
geschaffen  wurde.  Während  eine  wesentliche  Förderung  der  Toxiko- 
logie zunächst  in  Frankreich  durch  die  Errichtung  eigenei',  in  der 
Kegel  mit  der  gerichtlichen  Medizin  vereinigter  Lehrstühle  gegeben 
war  und  die  Giftlehre  daselbst  durch  die  unermüdliche  Thätigkeit  von 
Orfila,**)  sowie  durch  die  trefflichen  toxikologisch-physiologischen 
Arbeiten  von  Claude  Bernard  (s.  o.),  in  England  durch  die  Schriften 
von  Christison*^)  in  Edinburg,  in  Italien  durch  diejenigen  B el- 
lin is^^)  in  Florenz  sich  sorgfältigster  Pflege  erfreute,  blieb  im  deut- 
schen Sprachgebiete  die  Bethätigung  in  wissenschaftlicher  Toxikologie 
vornehmlich  mit  dem  Fache  der  Pharmakologie  verbunden,  wie  denn 
auch,  einer  früheren  Bemerkung  über  die  pharmakologisch- therapeutische 
Bedeutung  der  Pfeilgifte,  Fischfanggifte  und  Ordealgifte  entsprechend, 
eine  scharfe  prinzipielle  Trennung  dieser  beiden  Disziplinen  nicht 
durchzuführen  ist.  So  lassen  sieb  die  experimentellen  und  litterarischen 
Arbeiten  der  namhaften  deutschen  Pharmakologen  des  19.  Jahrhunderts 
zugleich  als  wertvolle  Beiträge  zur  wissenschaftlichen  Giftlehre  be- 
trachten, um  so  mehr,  als  einzelne  dieser  Untersuchungen  besonders  über 
die  bis  in  die  neueste  Zeit  noch  dunkle  Natur  der  Tiergifte  Licht  ver- 
breitet und  letztere  teils  als  Alkaloide.  teils  als  fermentartig  wirkende 
Toxalbumine  haben  erkennen  lassen.  Andererseits  ist  der  Toxikologie 
in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  vorzugsweise  von  selten  deut- 
scher resp.  dem  deutschen  Sprachgebiete  angehörender  Pharmaceuten 
und  Chemiker,  denen  sich  einzelne  z.  T.  noch  lebende  ausländische 
Autoren  anschliessen,  in  einer  anderen,  auch  praktisch  bedeutsamen 
Eichtung,  nämlich  in  der  chemischen  Ermittlung  der  Gifte,  sehr 
wichtige  Förderung  zu  teil  geworden.  An  dieser  Begründung  der 
chemischen  Toxikologie  haben  sich  vor  allem  Gelehrte  wie  Dragen- 
dorff,»^)  Duflos,««)  Mohr,«»)  Otto,»")  Sonnenschein»^) 
u.  a.  m.  durch  Originaluntersuchungen  sowie  durch  allgemein  verbreitete 
toxikologisch-chemische  Lehr-  und  Handbücher  beteiligt,  so  dass  bekannt- 
lich die  chemische  Giftlehre  nicht  nur  als  ein  ausgedehnter  und  wich- 
tiger Zweig  der  angewandten  Chemie,  sondern  ebensosehr  als  ein  un- 
entbehrliches Hilfsmittel  der  gerichtlichen  Medizin  und  Kriminal- 
justiz gelten  darf.  Und  keineswegs  unbedeutend  sind  endlich  die 
vielfachen  Beziehungen,  welche  diesen  Teil  der  Toxikologie  mit  grossen 
Gebieten  der  allgemeinen  Gesundheitspflege,  insbesondere  der  Nahrungs- 
und Genussmittelhygiene  verbinden,  —  Beziehungen,  welche  am 
Schlüsse  des  Jahrhunderts  und  zu  Beginn  des  gegenwärtigen  mehrfach 
in  wichtigen  hygienisch-toxikologischen  Arbeiten  namentlich  deutscher 
Universitätsinstitute  deutlich  zu  Tage  getreten  sind.  Es  ist  deshalb 
wohl  der  Schluss  gerechtfertigt,  dass  auch  für  diese  beiden  pharma- 
kologisch-toxikologischen  und  hygienisch-toxikologischen  Richtungen 
das  zwanzigste  Jahrhundert  eine  Periode  intensiver  Pflege  und  Förderung 
sein  werde,  zumal  die  Ansichten  über  den  Kausalzusammenhang  wich- 
tiger Krankheitserscheinungen  mit  Giften,  die  als  Stoffwechselprodukte 
von  Mikroorganismen  im  lebenden  Körper  entstehen,  —  wenn  auch 
vielfach  mit  unberechtigten  Hypothesen  vermischt,  —  dennoch  sich  un- 
abweisbar aufdrängen. 


Geschichte  der  Balneologie  und  der  Grenzgebiete 
in  der  Neuzeit. 


Von 

Yon  Oefele  (Bad  Neuenahr). 


Schon  bei  den  Tieren  präj^t  sich  vielfach  das  Bestreben  deutlich 
aus  sich  zu  baden  oder  anderweit  zu  reinigen.  Während  Hund  und 
Pferd  direkt  in  das  Wasser  gehen,  reinigt  sich  die  wasserscheue  Haus- 
katze mit  dem  eigenen  Speichel.  Vögel  baden  sich  teils  in  Wasser 
teils  in  Sand.  Ohne  Gelegenheit  zu  solchen  Bädern  nimmt  das  Unge- 
ziefer im  Gefieder  sehr  leicht  überhand.  Verschiedene  Tiere  besitzen 
ein  weitgehendes  Bedürfnis  nach  Licht,  Luft  und  Wärme.  Zur  Ge- 
sundheit gehört  auch  die  Möglichkeit  der  zeitweisen  Lagerung  in  der 
Sonne  bei  manchen  Tieren.  Für  Sommer-  und  Winteraufenthalt 
wählen  Strich-  und  Zugvögel  vei-schiedene  Gegenden.  Das  wilde 
Rentier,  das  Reh  und  andere  wechseln  nach  Klima  und  Jahreszeit 
Wald,  Feld  und  Gegend.  Selbst  Fische  wandern.  Bewegung  im 
engeren  Rahmen,  als  niederste  Gymnastik  führen  alle  Tiere  der 
Menagerien  aus,  soweit  sie  nicht  dem  Dahinsiechen  verfallen  sind. 
Alle  anderen  gehen,  laufen,  klettern  oder  fliegen  im  Tage  hunderte 
und  tausende  Male  denselben  kurzen  Weg. 

Mit  den  ersten  Anfängen  der  Chirurgie,  den  ersten  Anfängen  der 
aktiven  wie  der  hj'gienisch-präservativen  Abwehr  der  Parasiten  er- 
scheinen somit  die  ersten  Anfänge  der  aktiven  sowie  präservativen 
ph\'sikalischen  Therapie  nicht  nur  prähistorisch  sondern  prähuman 
und  zwar  nicht  metaphj'sisch,  sondern  roh  empirisch.  Balneotherapie, 
Hydrotherapie  und  Klimatotlierapie  beginnen  schon  vor  der  Prähistorie 
bei  den  Tieren. 

In  dunkler  Ahnung  dieser  Verhältnisse  stellt  Matthiolus  z.  B.  Heil- 
mittel, vor  allem  Heilpflanzen  zusammen,  welche  augeblich  von  Tieren 
zweckmässig  verwendet  werden.  Ausserdem  sollen  aber  auch  in  mittel- 
alterlichen Berichten  häufig  Tiere  zuerst  auf  die  Heilkräfte  einer 
Quelle  aufmerksam  gemacht  haben. 

Prähistorisch  müssen  darum  Bäder  etc.  überall  vermutet  werden 
und  lassen  sich  bei  den  Naturvölkern  erweisen.    Wo  historische  Denk- 


590  von  Oefele. 

mäler  der  ältesten  Zeiten  erschlossen  werden  können,  finden  sich 
Bäder,  Waschungen  und  Reisen  für  Patienten  z.  B.  in  Keilschrift- 
belegen. Hier  drängt  sich  aber  durch  Vermittelung  der  Jahreszeiten- 
beobachtung die  Astronomie,  dann  Astrologie,  dann  Metaphysik  auch  in 
die  Balneologie  mit  dem  Ansprüche  ein,  die  veredelnde  Systematik  in 
den  lawinenhaft  anschwellenden  Erfahrungen  abgeben  zu  müssen. 
Ueberbleibsel  dieser  Abwege  haben  sich  in  Laienkreisen  bis  heute 
erhalten. 

Die  Balneologie,  noch  heute  zum  grössten  Teile  eine  Empirie, 
fügte  sich  nicht  in  die  Schablonen  der  ärztlichen  Systeme.  Darum 
sind  schon  im  klassischen  Altertume  die  bekannteren  Aerzte  nur  die 
Befürworter  von  Süsswasserbädern  und  eventuell  hydrotherapeutischen 
Massnahmen.  Mineralbäder  wurden  viel  mehr  von  Laien  wie  Horaz, 
Livius  und  Celsus  als  wie  von  den  Aerzten  Hippokrates  nnd  Galenos 
erwähnt.  Celsus  empfiehlt  auch  zuerst  den  Klimawechsel  bei  Phthisis 
z.  B.  von  Italien  nach  Alexandrien.  Paulus  von  Aegina  (ungefähr 
9.  Jahrh.)  ist  der  erste  Arzt  mit  einem  besonderen  Kapitel  über  natür- 
liche Mineralquellen.  Aber  beim  Publikum  der  Römer  und  Griechen 
waren  natürliche  Mineralquellen,  Klimawechsel  in  Verbindung  mit 
speziellen  Medikamenten  und  Wasserverwendungen  in  kaltem  und 
warmem  Zustande,  verbunden  mit  kleineren  Abänderungen  der  Ver- 
wendung vielfach  im  Gebrauche. 

Kein  therapeutisches  Gebiet  ist  praktisch  so  sehr  vom  Kultur- 
zustande und  der  allgemeinen  Wohlhabenheit  abhängig,  wie  die  Bal- 
neologie. Nur  durch  Massenbesuch  finanzkräftiger  Leute  können  die 
Einkünfte  der  Bäder  hinreichen,  der  Höhe  der  jeweiligen  Zeit  ent- 
sprechend alle  Anforderungen  zu  befriedigen.  Ein  solcher  Massen- 
besuch setzt  aber  einen  hohen  Bruchteil  der  Bevölkerung  mit  einem 
Einkommen  voraus,  das  trotz  längerer  Unterbrechung  der  Berufsthätig- 
keit  die  zeitweise  Verteuerung  der  Lebenshaltung  durch  Badereise 
und  Badeaufenthalt  gestattet. 

Daneben  herrscht  die  Mode.  Die  Furcht  vor  dem  Aussatze  ver- 
allgemeinerte im  12.  Jahrhundert  neben  den  natürlichen  Bädern  die 
Badestuben.  Die  Verordnungen  aus  Schrecken  vor  der  Frantzosen- 
krankheit,  welche  z.  B.  der  Nürnberger  Rat  1496  erliess,  behinderten 
die  Bäder  wieder.  Dem  früheren  Wohlstande  und  der  Lebenslust  trat 
am  Ende  des  Mittelalters  eine  ernstere  Lebensauffassung  gegenüber. 
Religionsstreitigkeiten  führten  zur  Reformation  und  diese  wieder 
zu  blutigen  Kriegen  und  einer  nationalökonomischen  Verarmung  in 
Deutschland,  was  dem  früheren  feucht-fröhlichen  Badeleben  nicht 
hold  war.  Die  Bäder  waren  nun  gezwungen  ihrem  drohenden  Nieder- 
gang mit  Hilfe  der  neuen  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  entgegen- 
zuarbeiten. 

Das  Baden  der  alten  Germanen,  das  Tacitus  beschreibt,  das  Erbe 
der  alten  Römer  in  den  mittelalterlichen  Staatengründungen  und  das 
arabische  Erbe  der  Kopten  resp.  Aegypter  einerseits  und  der  Sassa- 
niden  resp.  Keilschriftkultur  anderseits  sind  die  Grundlagen  der  Balneo- 
logie, denen  sich  das  Mittelalter  je  nach  Wohlhabenheit  und  Neigung 
zu  Luxus  angepasst  hat.  Meist  mangelt  dem  Mittelalter  durch  un- 
bedingten Autoritätsglauben  in  der  Religion  gegenüber  den  Kirchen- 
vätern und  in  Naturwissenschaften  und  Medizin  gegenüber  Aristoteles 
(und  Pseudaristoteles)  und  Galenos  die  Kritik. 


Geschichte  der  Balneologie  und  der  Grenzgebiete  in  der  Neuzeit.  591 

Konrad  von  Megenberg,  ^)  der  sich  ausnahmsweise  aufrafft  wieder- 
holt zu  erklären:  ,.Das  glaube  ich  nichf.  sagt  schon  richtig:  ..Das 
Wasser  entnimmt  seinen  Geschmack  und  seine  Eigenart  dem  Erdreich, 
das  es  durchfliesst"  Er  setzt  aber  hinzu:  „Desshalb  riechen  die 
heissen  Quellen,  die  man  Wildbäder  nennt,  nach  Schwefel,,  weil  das 
A\'asser  durch  brennendes,  schwefelhaltiges  Erdreich  hindurchfliesst, 
wodurch  es  sich  erhitzt  und  den  übelen  Geruch  annimmt  .  .  .  und  dess- 
halb zieht  solches  AVasser  auch  die  Feuchtigkeit  aus.  die  zwischen 
Haut  und  Fleisch  sich  findet."  Megenberg  (f  1374)  bespricht  dann 
auch  die  Xutzwässer  und  Medizinalwässer  ungetrennt  unter  gemein- 
samen Gesichtspunkten  und  fügt  -)  eine  bunte  Aufzählung  von  Mineral- 
quellen und  Fabel  wässern  an. 

Die  Konsequenzen  solcher  Geistesrichtung  legten  im  Interesse  der 
Eeklame  des  einzelnen  Badeortes  objektive  Beobachtungen  und  Speku- 
lationen in  Flugschriften  nieder,  deren  genügende  Vervielfältigung 
selir  bald  die  Entdeckung  der  Buchdruckerkunst  ermöglichte. 

Während  noch  im  13.  Jahrhundert  balneologische  Spezialschriften 
äusserst  selten  sind,  treten  im  14.  und  15.  Jahrhundert  teils  sonst  un- 
bekannte Aerzte,  teils  bekannte  Praktiker  und  Schriftsteller  wie 
Michael  Savonarola,  Joh.  de  Dondis.  Gentilis  de  Fulgineo,  Petrus  de 
Albano  u.  a.  mit  zahlreichen  solchen  Schriften  teils  zusammenfassenden 
Inhaltes  teils  bestimmte  Badeorte  besprechend  auf.  Sie  können  aber 
nicht  als  wissenschaftliche  Schriften  bezeichnet  werden,  da  dieselben 
als  Flugschriften  für  Laien  deren  Eeiselust  und  Badelust  nicht  erkalten 
lassen  wollten  gegenüber  dem  „Bade  zu  Hansel"  der  öffentlichen 
Badestuben  der  Gemeinden.  Meist  als  Pächter  der  letzteren  bildeten 
die  niederen  Chirurgen  (balneatores  oder  Bader)  in  Deutschland  bis 
zum  16.  Jahrhundert  eine  eigene  Zunft  und  Konkurrenz  der  Bäder. 

So  trat  die  Balneologie  in  die  Neuzeit  ein.  Wer  die  Quellen  zur 
Geschichte  selbst  einsehen  will,  findet  die  Grundlage  meiner  Darstellung 
sozusagen  in  der  vorhergehenden  Auflage  dieses  Handbuchs :  H  a  e  s  e  r , 
Lehrbuch  der  Geschichte  der  Medizin,  Jena,  mehrere  Auf- 
lagen. Für  Altertum  und  Mittelalter  sind  die  balneologischen  Texte 
in  lateinischer  Sprache  von  Thomas  Junta  1552 — 1554  in  Venedig 
in  einem  dicken  de  balmis  betitelten  Bande  gesammelt.  Eine  Samm- 
lung von  Materialien  für  die  Geschichte  der  Balneologie  hat  L  er  seh 
1863  in  Würz  bürg  als:  Geschichte  der  Balneolor/ie.  Hijdroposie  und 
Pef/ologie  herausgegeben.  Je  mehr  vrir  uns  der  Neuzeit  nähern,  umso- 
mehr  schwillt  auch  die  historisch-balneologische  Litteratur  an,  ohne 
dass  aber  ein  drittes  Buch  den  beiden  genannten  an  Bedeutung  auch 
nur  nahe  käme.  Für  den  allgemeinen  Ueberblick  des  Praktikers  sind 
die  historischen  Einleitungen  der  einzelnen  Kapitel  von  Pagel  im 
Handbuch  der  phtj.sikalisehen   Therapie  von  Goldscheider  genügend. 

Für  die  oben  angedeuteten  Bäderschriften  an  der  Grenze  von 
Mittelalter  und  Neuzeit  kann  Paracelsus  (f  1541)  als  Wendepunkt 
bezeichnet  werden.  Die  Chemie  der  Balneologie  verdankt  ihm  z.  B, 
Anwendung  der  Galläpfeltinktur  zur  Prüfung  des  Eisengehalts  der 
Mineralwässer.  Ebenso  versuchte  er  die  künstliche  Nachbildung  der- 
selben. 

Am  höchsten  schätzte  Paracelsus  die  Thermen  von  Pfafers,  ihnen 


^ 


Ausgabe  von  Hugo  Schulz,  Greifswald,  p.  83. 
Ausgabe  von  Hugo  Schulz,  Greifswald,  p.  414. 


592  von  Oefele. 

zunächst  die  von  Teplitz,  Wildbad  und  Baden.  Unter  den  heilkräftigen 
Trinkwässern  preist  er  am  meisten  St.  Moritz  im  Engadin.  Er  hat 
sich  Verdienste  erworben  um  die  Kenntnis  der  Heilquellen  der  Schweiz 
und  der  rheinischen  Säuerlinge. 

Vonn  dem  Bad  Pfeffers  in  Obeischwytz  gelegen,  Tugenden, 
Krefften  vnnd  würckung,  Vrsprung  vnnd  herkommen,  Regiment 
vnd  Ordinantz,  Durch  den  hochgeleerten  Doctorem  Theophrastum 
Paracelsum  etc.  1535  gedruckt.  —  1562  erschien  zum  ersten 
Male  durch  Boden  stein  publiziert:  Baderbüchlein.  Sechs  köft- 
liche  Tractat,  armen  und  reychen  nutzlich  vnd  notwendig  von 
wafferbädern.  Woher  die  felbige  warm,  vnd  andere  waffer  kalt, 
vnnd  aufs  was  vrsach  fy  foUicher  gewaltiger  kräfften,  das  jhr 
vrfsprung  mit  wachfender  arth  aufs  der  erdtglobel,  gleich  wie 
die  kreuter  vnnd  böwme  von  jhrem  famen,  mit  fchönem  bericht, 
wie  mennigklich  jhrs  brauchs  fich  behelffen  mag.  etc.  (Sudhoff, 
die  unter  Hohenheim's  Namen  erschienen  Druckschriften  Ber- 
lin 1894). 

Die  Chemie  der  Heilquellen  war  aber  in  diesen  Anfängen  npch  sehr 
kindlich:  ,,Wo  das  Salz  nicht  wäre,  wären  alle  Metalle  Wasser  und  das 
Gestein  dergleichen ;  so  folgt  aus  dem,  dass  aus  Zerbrechung  des  Salzes 
wiederum  Metallen  und  Stein  zu  Wasser  werden.  ...  So  ein  Metall  über 
sein  Zeit  daliegt  und  dieser  kalten  Feuchte  unterworfen  wird,  wie  ein  Eisen 
dem  Rost,  der  Rost  der  Humidität,  alsdann  folgt  desselben  Erz  Resolvierung 
und  was  sich  resolviert,  das  centriert  sich  zum  Brunnen  ,  .  .  und  gibt  den 
Ursprung  der  leiblichen  Wasser.  ,  .  .  Also  werden  viele  mineralia,  die  in 
vollkommener  Geburt  sind,  vom  Menschen  nicht  ausgegraben  werden  und 
über  ihr  Zeit  liegen,  verloren  und  verwandeln  sich  in  Wasser.  .  .  .  Solcher 
Wasser  species  erscheinen  in  mancherlei  Weg.  Einmal  aus  jeglichem  Metall 
ein  besonderes  und  auch  dieselbigen  stärker  und  schwächer.  ...  Es  begeben 
sich  auch  mancherlei  .  .  .  rechte  Wasser  laufen  aber  über  ein  Erz,  von 
welchem  sie  Art  empfahen.  Dersclbigen  Kräfte  sind  aber  nicht  voll- 
kommen. .  .  .  Die  Ursach  der  warmen  Bäder  .  .  .  dass  ein  jeglicher  Kalch 
das  Wasser  heiss  macht,  so  über  ihn  gössen  wird,  also  mögen  auch  die 
Wasser  aus  dem  Kalch  der  Erden  solche  Hitz  empfahen.  .  .  .  Die  Tugen- 
den der  Wasser  sind  so  viel  und  mancherlei,  so  viel  und  mancherlei  species 
der  Krankeiten  sind.  ...  Es  ist  das  höchst  an  einem  Arzt,  der  die  Kranken 
in  die  Bäder  schickt,  anfänglich  zu  wissen,  ob  derselbig  Krank  in  keinerlei 
Weg  durch  andere  Arznei  möchte  geheilt  werden.  Aber  der  Brauch  ist 
also,  so  ein  Arzt  an  einem  Kranken  verzweifelt  oder  besorgt  zukünftig 
Böseres,  dass  einem  solchen  in  ein  Bad  gerathen  wird  zu  einer  Ent- 
schuldigung." 

Wenn  wir  Paracelsus  als  beredten  Empfehler  einzelner  Quellen 
kennen  lernten,  so  musste  sein  unleugbarer  Einfluss  auf  das  chemische 
Denken  auch  jener  Aerzte,  welche  in  keiner  Weise  zur  Schule  des 
Paracelsus  gehören  wollten,  der  Anerkennung  der  Balneotherapie 
schaden.  Denn  bis  zu  einer  wirklich  chemisch-pharmakologischen  Auf- 
fassung der  balneologischen  Erfolge  mussten  noch  mehr  als  drei  Jahr- 
hunderte vergehen.  Auch  das  19.  Jahrhundert  konnte  den  mystischen 
Quellgeist  noch  nicht  aus  den  Köpfen  aller  angeblich  wissenschaft- 
lich gebildeten  Baineologen  vertreiben.  Und  die  wirklich  nüchternen 
chemischen  Anschauungen  sind  noch  in  keiner  Weise  unantastbar  fest- 


Geschichte  der  Balneologie  und  der  Grenzgebiete  in  der  Neuzeit.  593 

gelegt;  denn  die  lonenlehre  hat  erst  neuerlich  diese  Anschauungen 
bis  auf  den  tiefsten  Grund  aufgerührt  und  umgestaltet.  Und  kein 
Mensch  weiss,  was  hier  wenige  Jahre  an  tiefgehenden  Umgestaltungen 
bringen  können.    Ernste  Bearbeitung  der  Ionen  fehlt  noch. 

Beim  Aufblühen  der  Naturwissenschaften  musste  vorerst  die 
Wirkung  der  Quellen  als  etwas  Imponderabiles  als  Einbildung  zurück- 
gedrängt werden.  In  konservativen  Laienkreisen  behielten  die  Bade- 
orte ihr  Ansehen  wieder  mehr  trotz  der  wissenschaftlichen  Vorkämpfer 
der  Heilkunde  als  d  u  r  c  h  diese.  Die  Bäder  wurden  wieder  zum  ultimum 
refugium  des  chronischen  Patienten,  wenn  sich  Patient  und  Hausarzt 
nicht  mehr  verständigen  konnten.  Die  Badeärzte  wurden  somit  als 
eine  bessere  Sorte  Pfuscher  und  Charlatane  der  oberen  Zehntausend 
angesehen,  während  die  contribuens  plebs  oft  schon  von  Anfang  an 
aus  Armut  die  Aerzte  umgehen  musste  und  unter  den  Hausmitteln 
unapprobierter  Heilkünstler  gelegentlich  auch  mit  Hydrotherapie  und 
ähnlichem  behandelt  wurde.  Die  „wissenschaftliche"  Medizin  fand 
zudem  ja  schon  im  corpus  hippocraticum  in  „de  aere,  aquis  et  locis" 
eine  Verurteilung  aller  ausgesprochen  mineralhaltigen  Quellen. 

Im  Papyrus  Brugsch  ist  altägyptisch  niemals  nach  den  Zusammen- 
stellungen Neuburgers  Salz  innerlich  verwendet.  Auch  Dioskurides 
vermeidet  in  seiner  langen  Besprechung  des  Salzes  jede  innerliche 
Empfehlung.  Wenn  hier  das  Salz  ein  Massstab  dafür  sein  darf  für 
die  geringe  Schätzung  der  Mineralien  und  Mineralquellen  bei  den 
vorhippokratischen  und  klassischen  Kulturvölkern  des  Mittelmeer- 
beckens, so  ist  die  Wertschätzung  bei  den  Nordariern  um  so  höher. 
Nach  Tacitus  führten  die  Chatten  und  Hermunduren  im  Jahre  58 
n.  Chr.  wegen  heiliger  Salzquellen  in  ihrem  Grenzbezirke  einen  er- 
bitterten Kampf,  was  Sooden  a.  d.  Werra,  Soden-Salmünster  und 
andere  Orte  auf  sich  zu  beziehen  geneigt  sind. 

Diesen  heiligen  Quellen  des  Norden  wurden  schon  prähistorisch 
kostbare  Geschenke  in  Gestalt  von  Schmucksachen  oder  Geld  ge- 
opfert. Das  Gebiet  von  Pj'rmont  war  niemals  in  dem  Grade  und  auf 
die  Dauer  dem  römischen  Reiche  angegliedert,  dass  P^-rmont  als 
römische  Badegründung  erscheinen  könnte.  Die  Möglichkeit  zur  Ent- 
wicklung eines  römischen  Badelebens  war  durch  die  Gefahr  von 
Ueberraschungen  ähnlich  der  Schlacht  im  Teutoburger  Walde  aus- 
geschlossen. Im  Jahre  1863  bei  der  Neufassung  des  Brodelbrunnens 
in  PjTmont  wurden  1  Schöpfgefäss,  circa  200  Fibeln  und  3  Denare 
auf  dem  Boden  der  Quelle  gefunden,  deren  jüngste  den  Kopf  des 
Kaisers  Caracalla  trägt.  Pyrmont  ist  somit  ein  altgermanisches  Bad, 
das  schon  in  römischer  Kaiserzeit  bestand. 

Die  Kochsalzquellen  waren  aber  wohl  am  geschätztesten.  Schon 
lange  vor  Gründung  des  Bonifaciusklosters  (744)  am  Ufer  der  Fulda 
soll  ein  ansehnlicher  für  jene  Zeit  bedeutender  Siedelort  im  Gebiete 
der  Salzquellen  von  Soden-Salmünster  entstanden  sein.  In  der  zweiten 
Hälfte  des  8.'  Jahrhunderts  wird  unter  dem  älteren  Namen  Westera 
Sooden  zum  erstenmal  sicher  genannt,  als  der  Frankenkönig  den  Ort 
mit  vielen  Salzwerkstätten  und  reichen  Quellen  Salzes  dem  Stifte 
Fulda  zum  Geschenke  macht. 

Die  Quellen  werden  meist  nur  gelegentlich  in  der  Geschichte  der 
Klöster  genannt,  so  dass  die  heidnische  Voi'geschichte  verschollen  ist. 
Ungefähr  1140  war  in  Rippoldsau  ein  Benediktinerkloster  gegründet 
worden.    Rippoldsau  selbst  wird  1178  zum  erstenmal  in  einer  Urkunde 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  38 


594  "^on  Oefele. 

erwähnt.  Man  schliesst  daraus,  dass  die  Benediktiner  die  Mineral- 
quellen aufgefunden  haben.  Ebenso  berechtigt  ist  aber  der  Schluss, 
dass  die  Benediktiner  einen  alten  Quellkultort  zur  Klostergründung 
gewählt  hatten.  Denn  das  Laienelement  blieb  meist  auch  im  Bereich 
der  Quellen  angesiedelt  und  wuchs  mit  den  Klöstern.  Als  Barbarossa 
(1190)  in  seiner  Pfalz  in  Gelnhausen  weilte,  hatte  sich  Soden-Sal- 
münster  zu  einem  Städtchen  entwickelt. 

Die  slavischen  Völker  schätzten  auch  schon  prähistorisch  die  Heil- 
quellen. An  der  Stelle  des  jetzigen  Ortes  Salzbrunn  bestand  bereits 
1221  eine  Ansiedelung  deutscher  Kolonisten.  Die  Namensgebung 
Salzbrunn  setzt  schon  vor  1221  die  Bekanntschaft  der  Polen  mit  der 
Existenz  der  Mineralquellen  voraus  und  da  in  der  Vorzeit  nur  der 
angesiedelte  Volksstamm  Eigentümer  und  Nutzniesser  der  Quellen  war, 
so  erscheint  1221  der  Uebergang  alter  polnischer  Quellen  in  deutsches 
Eigentum.  Die  Existenz  der  Quellen  dürfte  ausschlaggebend  gewesen 
sein,  die  Wahl  des  Ortes  für  wertvoll  erscheinen  zu  lassen. 

Im  Jahre  1296  wurde  durch  König  Adolf  von  Nassau  auf  dem 
Reichstage  zu  Tribur  dem  Bade  Soden-Salmünster  unter  dem  Namen 
Stolzenthai  Stadtrechte  verliehen.  Wir  sehen  damit,  welchen  Auf- 
schwung im  Mittelalter  das  Badewesen  nahm. 

Die  angeführten  Beispiele  und  viele  andere  Erwähnungen  sind 
aber  nur  Gelegenheitsnachrichten,  so  dass  selbst  das  prähistorische 
Bad  P3Tmont  historisch  zuerst  vom  Dominikaner  Heinrich  von  Her- 
vorden  (f  1373)  mit  seinen  Quellen  erwähnt  wird,  indem  er  die  Fassung 
zweier  Quellen  des  Brodelbrunnens  (fons  buUiens)  und  der  Trinkquelle 
(fons  sacer)  bespricht. 

Im  Jahre  1385  ist  der  Ort  Salzbrunn  schon  derartig  angewachsen, 
dass  eine  Teilung  in  die  Gemeinden  Ober-  und  Niedersalzbrunn 
erfolgte. 

In  die  letzte  Periode  des  Mittelalters  fällt  die  Glanzzeit  von 
Soden-Salmünster  durch  einen  schwunghaften  Salzhandel.  Damals 
wurde  der  ältere  Name  Stolzenthal  durch  die  Sood  (später  Soden)  als 
die  damals  allgemein  gebräuchliche  Bezeichnung  für  eine  Salzsiede- 
stätte verdrängt.  Wie  Ausgrabungen  im  Jahre  1837  ergaben,  besassen 
diese  Quellen  eine  uralte  herrliche  Fassung  von  Blei  und  schweren 
Eichenhölzern.  Die  Badeorte  waren  reiche  Orte  infolge  der  Wert- 
schätzung bei  den  Laien. 

In  konservativer  Erhaltung  von  Aeusserlichkeiten  äussert  sich 
dieser  Einfluss  der  Laienwelt  z.  B.  dem  Becher  von  6  Unzen,  der  sich 
dem  metrischen  Systeme  höchstens  in  Abzug  einer  Unze  oder  Zusatz 
einer  halben  Unze  anschmiegt.  Baden  bei  Wien,  Baden-Baden, 
Pyrmont,  Wiesbaden,  Schwalbach,  Spaa  behielten  ihren  Ruf  vom  Alter- 
tum auch  in  die  Neuzeit  hinein.  Karlsbad,  Teplitz,  Wildbad  und  viele 
andere  kamen  zu  neuem  Rufe.  Johann  Winter  von  Andernach  konnte 
1565  ungefähr  75  Badeorte  aufzählen.  Der  Regensburger  Arzt  Ruland 
gab  1568  schon  28  Blätter  alphabetisches  Verzeichnis  von  Erkrankungen 
mit  Indikation  der  geeigneten  Badeorte  jedenfalls  aber  noch  ohne  die 
bei  Rudolf  Mosse  nötige  Insertionsgebühr.  Von  den  bekannteren 
Aerzten  verfassten  noch  Etschenreutter  (1571),  Baccius  (1571),  Thur- 
neysser  (1573),  Tabernämontanus  (1584)  und  Bauhinus  (1588)  balneo- 
logische  Schriften. 

Von  einem  Uebermasse  der  balneologischen  Litteratur  kann  noch 
nicht    die   Rede   sein   und   ihren  Zweck   hat   sie   auch  erreicht;    im 


Geschichte  der  Balneologie  und  der  Grenzgebiete  in  der  Neuzeit.         595 

16.  Jahrhundert  haben  erst  die  Badestuben,  aber  noch  nicht  die  Mineral- 
bäder unter  dem  Niedergänge  des  Badewesens  zu  leiden.  Im  17.  Jahr- 
hundert setzt  dann  die  Hochflut  der  balneologischen  Schriften  pro 
domo  ein,  ohne  den  Rückgang  des  Besuches  der  Mineralbäder  auf- 
halten zu  können.     Es  ist  die  Zeit  allgemeinen  Niederganges. 

So  wurden  durch  elementare  Ereignisse  (Ueberschwemmungen) 
sowie  durch  den  Bauernkrieg  und  den  dreissigj ährigen  Krieg  die  An- 
siedelungen und  die  Quellfassungen  von  Soden-Salmünster  zerstört  und 
Hessen  diese  Quellen  in  völlige  Vergessenheit  geraten.  Doch  treten 
auch  noch  neue  Quellen  auf.  So  wird  1601  im  Catalogus  stirpium  et 
fossilium  Silesiae  des  Hü'schberger  Arztes  Caspar  Schwenckfeld  zum 
erstenmal  der  Oberbrunnen  in  Salzbrunn  als  Heilquelle  (Salsula)  ge- 
nannt. Die  Indikationen  sind  schon  scharf  umschrieben  und  ent- 
sprechen den  modernen  für  die  gleiche  Quelle. 

Nachdem  ein  öifentlicher  ..Truck"  etlicher  Aerzte  oder  Doctores 
im  Jahre  1556  in  vier  Wochen  über  10000  Gäste  nach  Pyrmont  ge- 
lockt hatte,  kam  der  Rückschlag,  dass  im  17.  Jahrhundert  mit  der 
Aufzählung  von  Misserfolgeu  in  den  Bädern  von  Seite  der  ärztlichen 
Schriftsteller  nicht  zurückgehalten  wurde  z.  B.  Solenander,  Dortomann, 
Bauhin  und  Toxites.  De  Montaigne  zählt  als  die  bedeutendsten  Bäder 
seiner  Zeit  Banieres  in  Frankreich,  Plombiers  in  Lothringen,  Baden 
in  der  Schweiz  und  Lucca  (Villa)  in  Toscana  auf. 

Pyrmont  blieb  im  17.  und  18.  Jahrhundert  das  Bad  der  Fürstlich- 
keiten. Im  Jahre  1681  waren  nicht  weniger  wie  40  fürstliche  Persön- 
lichkeiten in  Pyrmont  vereint.  Im  Jahre  1683  besuchte  der  grosse 
Kurfürst  mit  zahlreichem  Gefolge  und  600  Pferden  wiederum  das  Bad. 

Durch  die  Entdeckungen  von  Boyle,  Glauber,  van  Helmont  u.  a. 
wurde  die  chemische  Untersuchung  der  Mineralwässer  ermöglicht,  die 
sich  vorzüglich  allerdings  nur  mit  der  Kohlensäure,  dem  Eisen  und 
der  Bestimmung  des  Abdampfrückstandes  befasste.  Baco  von  Verulam 
konnte  dadurch  dem  Gedanken  der  künstlichen  Herstellung  der  Mineral- 
wässer schon  einen  Schritt  näher  als  Paracelsus  treten. 

In  dem  Bestreben,  den  Badeschriften,  welche  doch  in  erster  Linie 
für  Laien  bestimmt  waren,  das  Beiwerk  modernster  Wissenschaft 
äusserlich  zu  geben,  werden  die  chemischen  Analysen  der  Wässer  auf- 
genommen, z.  B.  Albinus  über  den  Brunnen  zu  Freienwalde  (1685),  Joh. 
Christ.  Strauss  über  diejenigen  von  Karlsbad,  Fovet  über  die  Thermen 
von  Vichy  (1686),  Horst  über  Selters  1682,  Peirie  über  Bath  1694. 
Auch  die  ersten  Lehrbücher  der  Balneologie  stammen  aus  dem  17.  Jahr- 
hundert. 

Friedrich  Hoffmann  (1660 — 1742)  besuchte  zahlreiche  altbekannte 
Mineralquellen  wie  Spaa,  Selters,  Schwalbach,  Karlsbad  etc.,  prüfte  sie 
und  beschrieb  sie.  Neu  führte  er  z.  B.  Lauchstedt  bei  Halle  ein.  Die 
Methodus  examinandi  aquas  salubres  schrieb  er  1708.  Seine  Quellen- 
systematik ist  in  der  Grundlage  bis  heute  beibehalten  worden  trotz  der 
seitherigen  grossen  umwälzenden  Fortschritte  der  Chemie,  ein  Zeichen, 
dass  die  Wissenschaftlichkeit  der  Balneologie  in  den  grösseren  Zügen 
bald  zwei  Jahrhunderte  dem  Stillstand  verfallen  ist.  Hoffmann  teilte 
die  Quellen  in  indifferente  Thermen,  Bitterwässer,  Eisen wässer  und 
alkalihaltige  Quellen.  Dabei  wies  er  zuerst  das  Vorkommen  der 
Alkalien  in  den  Säuerlingen  nach. 

Hoffmann  erfand  die  Zusammensetzung  des  Sal  Sedlinense  und  des 
Sal  thermarum  Carolinensium  und  die  Nachbildung  der  Säuerlinge  und 

38* 


596  von  Oefele. 

veröffentlichte  1722  eine  Anleitung  zur  künstlichen  Nachbildung  von 
Mineralwässern. 

Der  Mineralwasserverbrauch  liess  solche  Versuche  in  jener  Zeit 
lohnend  erscheinen.  Denn  der  Mineralwasserversand  war  schon  sehr 
bedeutend,  so  dass  nach  Dr.  Marcurd  z.  B.  1785  500000  Flaschen 
allein  von  Pyrmont  nach  England  ausgeführt  wurden. 

Im  Jahre  1747  wurde  Brückenau  medizinisch  bekannt  und  er- 
lebte seine  erste  Blüte  unter  den  Fürstbischöfen  von  Fulda.  Und 
schon  zwei  Jahre  später  kennt  Schlereth  (1749)  den  Nutzen  des 
Mineralwassers  von  Brückenau  bei  Steinleiden.  Wie  die  Quellen  so- 
vieler  späterer  Badeorte  waren  die  Mineralbrunnen  des  Bades  Brückenau 
zum  Teil  schon  in  alter  Zeit  bekannt  und  als  erquickender  Labetrunk 
und  wohl  auch  als  Gesundbrunnen  erkannt  und  geschätzt.  Im  Jahre 
1747  wurden  durch  den  Fuldaer  Fürstbischof  Amand  von  Buseck,  den 
Landesherrn  des  sogenannten  Buchenlandes,  die  Heilquellen  neu  ent- 
deckt und  gefasst.  Derselbe  zeigte  grosses  Interesse  für  die  Hebung 
des  Kurortes;  er  erbaute  eine  Anzahl  Kurhäuser  für  Gäste,  liess  die 
Sinn  überbrücken  und  die  Hauptallee  mit  vier  Baumreihen  anlegen. 
Fürstbischof  Heinrich  von  Bibra  (1759 — 1788)  brachte  dann  das  Bad 
Brückenau  zur  höchsten  Blüte. 

Stahl  in  Halle  und  Boerhave  in  den  Niederlanden  veröffentlichten 
Einzelforschungen  zur  Balneo-Pharmakodynamik.  Der  schwedische 
Leibarzt  Urban  Hjärne  (1641 — 1724)  bemühte  sich  eifrig  um  die  Er- 
schliessung der  schwedischen  Heilquellen.  Besonders  in  Deutschland 
und  Frankreich  mehren  sich  die  balneologischen  Veröffentlichungen.  Der 
Chemiker  Venel  (1723 — 1775)  untersuchte  im  Auftrage  der  französischen 
Regierung  sämtliche  mineralhaltigen  Quellen  Frankreichs  systematisch 
und  publizierte  deren  Analysen.  Venel  verbesserte  auch  Hoffmanns 
Versuche  zur  Bereitung  künstlicher  Mineralwässer. 

Die  Verwendung  der  Mineralquellen  war  aber  und  blieb  in  der  Praxis 
wie  die  übrige  praktische  Therapie  bis  heute  reine  Empirie.  Anläufe, 
aus  dem  Gewerbe  der  Medizin  eine  Wissenschaft  zu  machen,  finden 
sich  für  die  Balneologie  bei  A.  v.  Haller  (1765),  Seguin  (1792)  und 
Abernethy  (1797). 

Der  Schein  der  Wissenschaftlichkeit  durch  begrenzte  Indikationen 
für  die  einzelne  Quelle  und  das  Streben  nach  möglichst  vielen  Bade- 
besuchern liess  den  Wunsch  nach  einer  Vielheit  von  Quellen  im  ein- 
zelnen Bade  aufkommen.  Wer  sucht,  der  findet.  1790  wurde  in 
Obersalzbrunn  in  Schlesien  zu  den  bisherigen  Quellen  der  Mühlbrunnen 
entdeckt  und  seit  1802  therapeutisch  verwendet.  Andere  Beispiele 
seien  übergangen! 

Im  Jahre  1797  berichtet  Zwirlein  von  Brückenau,  dass  bei 
Fehlern  der  Nieren  und  Blase,  insbesondere  aber  bei  Sand,  Gries  und 
Stein  schleunigste  Hilfe  durch  diese  Wässer  erzielt  wurde. 

Samuel  Gottlieb  von  Vogel  (1750—1830)  führte  für  Deutschland 
zuerst  den  therapeutischen  Gebrauch  der  Seebäder  ein  (1794).  Doberan 
bei  Rostock  und  Norderney  sind  die  ältesten  Seebäder  Deutschlands. 
Den  Aufschwung  Doberans  veranlasste  Vogel  und  nach  ihm  Johann 
David  Wilhelm  Sachse  (1772-1860). 

Eine  Uebersicht  über  die  Fortschritte  und  Leistungen  auf  dem 
Gebiet  der  Balneologie  für  das  18.  Jahrhundert  bietet,  nachdem  hier 
das  empfohlene  Buch  von  Lersch  summarisch  zu  werden  beginnt, 
Sprengel  in  seinem  5.  Bande  der  Geschichte  der  Arzneikunde  (p.  548  ff.). 


Greschichte  der  Balneologie  und  der  Grenzgebiete  in  der  Neuzeit.         597 

Für  das  19.  Jahrhundert  kommen  die  Fortschritte  in  den  Quellen- 
analysen durch  Berzelius.  Liebig  und  Fresenius  in  Betracht.  Friedrich 
Adolph  August  Struve  (1781—1840)  veröflfentlichte  in  Dresden  (1824 
bis  1826)  2  Hefte  „üeber  Nachbildung  der  natürlichen  Heilquellen" 
und  wurde  dadurch  der  Begi'ünder  der  künstlichen  Mineralwasser- 
fabrikation. Er  eröffnete  in  Dresden  die  erste  seiner  Anstalten,  der 
bald  zahlreiche  ähnliche  an  anderen  Orten  folgten. 

Im  19.  Jahrhundert  wurden  die  kompUatorischen  Handbücher  über 
allgemeine  Balneologie  häufiger  und  entsprachen  einem  Bedürfnis  der 
ärztlichen  Praxis.  Wenigstens  in  der  sogenannten  Praxis  aurea  wurde 
der  Hausarzt  resp.  Consüiarius  zur  indikatorischen  Auswahl  von  Bädeni, 
Luftkurorten  und  klimatischen  Kuren  herangezogen.  Die  Eeisever- 
binduugen  verbesserten  sich,  die  Reiselust  mehrte  sich  und  eine  wachsende 
Zahl  von  Kurorten  selbst  in  grösserer  Entfernung  fiel  in  den  Bereich 
der  möglichen  Auswahl.  So  wurden  die  Lehrbücher  der  Balneologie 
ein  Bedürfnis  des  beschäftigten  Hausarztes. 

Eine  physikalisch-medizinische  Darstellung  der  bekannten  Heil- 
quellen der  vorzüglichsten  Länder  Europas  erschien  vom  Neffen  und 
Schwiegersohn  C.  W.  Hufelands,  nämlich  von  Emil  Osann  (1787 — 1842) 
in  Berlin  1839—1841.  August'  Vetter  (1794—1850)  schrieb  ein  theo- 
retisch-praktisches Handbuch  der  allgemeinen  und  speziellen  HeilqueUen- 
lehre  (Berlin  1845).  Als  Ergänzungen  solcher  Werke  wurden  bei  der 
Hochflut  der  balneologischen  Flugschriftenlitteratur  Uebersichten  über 
die  Erscheinungen  kürzerer  oder  längerer  Perioden  notwendig.  So 
besitzen  wir  von  Burkard  Eble  (Wien  1840)  einen  Ueberblick  der  Fort- 
schritte und  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Balneologie  für  1800 
bis  1825. 

Eine  geographisch  begrenzte  Bibliographie  stellt  Fascikel  lY,  3 
der  Bibliogi'aphie  der  schweizerischen  Landeskunde  dar.  Hier  hat 
1900  Reber  in  Genf  den  ..Versuch  einer  schweizerischen  Bibliographie 
der  Litteratur  auf  den  Gebieten  des  Badewesens,  der  Heilquellen,  der 
klimatischen  Kurorte  u.  s.  w."  ein  klein  gedrucktes  Heft  von  111 
Seiten  zusammenstellen  können,  wobei  nirgends  auf  den  Lihalt  ein- 
gegangen wird,  sodass  wir  einzig  Buchtitel  erfahren.  Bedenken  wir 
die  geringe  Ausdehnung  der  Schweiz,  so  berechnet  sich  für  die  balneo- 
logische  Weltlitteratur  ein  grosses  Lexikonwerk,  wenn  nui-  die  Titel 
der  Badeschriften  zusammengetragen  werden  sollten.  Der  grösste 
Teil  dieser  Schriften  trägt  Jahreszahlen  aus  dem  19.  Jahrhundert  und 
zwar  meist  aus  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 

Manche  Bäder  verblassen  in  ihrem  Ruhme,  wobei  geographische 
Verschiebungen  der  Mode  eine  Rolle  spielen.  So  erhielten  im  19.  Jahr- 
hundert die  Bäder  in  den  Gebirgen  beiderseits  des  Rheines  die  Gunst 
des  Publikum  in  erhöhtem  Masse,  während  die  fränkischen  Bäder 
z.  B.  Rothenburg  ob  der  Tauber  und  Wildbad  bei  Burgbernheim  in 
Vergessenheit  gerieten  und  deshalb  die  Quellfassungen  und  andere 
Einrichtungen  in  den  Verfall  kommen  lassen  mussten. 

Die  beliebige  Vermehrung  der  Mineralquellen  wird  mit  dem 
19.  Jahrhundert  ermöglicht.  Angeblich  soll  schon  den  alten  orien- 
talischen Kulturen  eine  Brunnenbohrtechnik  eigen  gewesen  sein,  so 
dass  die  Erbohrung  des  Brunnens  des  Kartheuserklosters  zu  Lillers  in 
Artois  (1126)  nur  alte  Tradition  verwandt  hätte.  Glaubhaft  sind  diese 
Angaben  bei  der  Einfachheit  der  Grundlage  für  die  Seilbohrung.  Im 
letzten  Jahrhundert   trat   aber   das   feste  Gestänge  und  die  Dampf- 


598  "«"on  Oefele. 

mascliine  in  den  Dienst  der  Bohrtechnik.  Immerhin  waren  die  gebräuch- 
lichen Durchmesser  der  Bohrlöcher  von  meist  6  Zoll  ziemlich  Zeit  und 
Geld  raubend  und  konnten  infolge  der  unnötig  grossen  Erschliessungen 
von  Wassermassen  z.  B.  in  Schneidemühl  zu  unangenehmen  Ereignissen 
führen.  Vereinfachungen  der  Bohrinstrumente  ermöglichten  aber  auch 
billige  Bohrungen  bei  geringen  Tiefen  schon  von  Vj^  Zoll  Durch- 
messer und  bis  zu  mehreren  Hundert  Meter  Tiefe  mit  2  Zoll  Durch- 
messer. Die  Fortschritte  der  Geologie  konnten  zur  Beratung  zu  Hilfe 
genommen  werden.  So  konnten  künstliche  Quellen  und  Brunnen  nicht 
nur  zur  Versorgung  mit  Nutzwasser,  sondern  auch  Mineralwässer  er- 
schlossen werden,  wie  Oeynhausen,  Nauheim,  Neuenahr^)  und  un- 
zählige andere. 

Im  Jahre  1812  kam  zum  erstenmal  von  auswärts  ein  Patient  nach 
Obersalzbrunn.  Im  Jahre  1816  veranlasste  dann  dort  der  spätere 
Brunnenarzt  Zemplin  die  Einrichtung  einer  ordnungsmässig  geleiteten 
Brunnenanstalt.  Im  gleichen  Jahre  ist  hier  der  Uebergang  des  Bades 
Brückenau  an  das  Königreich  Bayern  einzuschalten,  dessen  Regierung 
nun  die  Verwaltung  des  Bades  übernahm.  Seit  1818  ist  dann  in 
Obersalzbrunn  auch  die  KronenqueUe  bekannt,  welche  aber  erst  seit 
1881  therapeutisch  benutzt  wird  und  zwar  fast  nur  als  Versand- 
wasser. 

Seit  1819  wird  "Wyk  auf  Föhr  als  ältestes  unter  den  nordfriesischen 
Seebädern  besucht,  nachdem  Norderney  in  Ostfriesland  schon  vor  1783 
in  Aufnahme  gekommen  war.  In  England  war  1751  ßussel,  de  usu 
aquae  marinae  in  morbis  glandularum  als  erste  Schrift  über  Seebäder 
erschienen. 

Für  jene  Zeiten  charakteristisch  ist  es,  dass  1820  und  1821  für 
das  junge  Bad  Obersalzbrunn  die  Errichtung  einer  grossen  Molken- 
anstalt und  einer  Filialapotheke  als  nötig  befunden  wurde. 

Wenn  bisher  meist  weltliche  und  geistliche  Fürsten  als  Begründer, 
Förderer  und  Besitzer  von  Bädern  erscheinen,  so  werden  im  19.  Jahr- 
hundert Erschliessung  und  Ausnützung  von  Heilbädern  Anlagen  für 
bürgerliches  Kapital.  Rippoldsau  ging  1824,  nachdem  es  lange  Jahre 
nur  mit  kurzen  Unterbrechungen  im  Besitze  des  Hauses  Fürstenberg 
war,  an  die  Familie  Goeringer  über.  Viele  Bäder  bleiben  aber  fürst- 
liches oder  staatliches  Eigentum.  Erwähnenswert  ist  hier,  dass  König 
Ludwig  I.  von  Bayern  26  Sommer  regelmässig  Brückenau  besuchte, 
was  diesem  Bade  sehr  zum  Vorteil  gereichte.  Er  Hess  die  Anlagen 
erweitern  und  verschönern,  neue  Fahr-  und  Reitwege,  Aussichts- 
plätze etc.  anlegen.  Aus  der  Geschichte  Brückenaus  ist  1823  an 
Stelle  des  alten  engen  Badehauses  ein  neuer  Badbau  zu  verzeichnen. 
Die  Quellen  erhielten  1827  eine  neue  Fassung,  was  zu  ihrer  Ergiebig- 
keit wesentlich  beitrug,  und  zwar  die  Stahlquelle  eine  Schachtfassung 
und  die  Wernazer  Quelle  eine  eiserne  Röhrenfassung.  Von  1827 — 1833 
Hess  Ludwig  I.  in  Brückenau  nach  Guttensohus  Entwurf  einen  neuen 
prachtvollen  Kursaal  aufführen. 

Die  Zeit  wurde  auch  wieder  Neugründungen  von  Bädern  hold. 
Im  Jahre  1833  wurde  die  Eigenschaft  der  Arminiusquelle  in  Lipp- 
springe  bei  Paderborn  erkannt  und  darauf  das  Bad  begründet,  das 
im   Jahre  1901    5000  Besucher   zählte.     Im  Jahre  1837   wurden  in 


^)  Schriften  über  Bad  Neuenahr  auch  aus  der  Feder  des  Verfassers,  der  daselbst 
seit  über  ein  Jahrzehnt  praktiziert. 


I 


Geschichte  der  Balneologie  und  der  Grenzgebiete  in  der  Neuzeit.  599 

Soden-Salmünster  die  uralten,  vergessenen  Quellfassungen  aufgefunden 
und  von  neuem  zu  Trink-  und  Badezwecken  nutzbar  gemacht. 

Im  Jahre  1845  wurden  in  Brücken  au  eisenhaltige  Moorbäder  ein- 
geführt und  1846  die  Molkereianstalt  gegründet  und  1856  die  Wernazer 
Quelle  zum  letztenmal  und  zwar  durch  Scherer  in  Würzburg  ana- 
lysiert. Nun  hört  die  staatliche  Fürsorge  auf.  Die  politischen  Ver- 
hältnisse verringern  1864  und  1866  die  Frequenz  und  1875  geht 
Brückenau  aus  dem  staatlichen  Eegiebetrieb  in  die  Pacht  privater 
Kapitalisten  über,  womit  wir  dies  Beispiel  eines  Bades  aus  Fürsten 
Gunst  verlassen  wollen. 

Die  Fluten  der  Nordsee  vernichteten  1855  das  blühende  Nordsee- 
bad Wangerooge,  das  sich  später  erst  allmählich  wieder  in  die  Höhe 
schwang.  Im  Jahre  1857  wurden  durch  den'Altonaer  Arzt  Dr.  Boss 
die  Bäder  Westerland  und  Wenningstedt  auf  Sylt  begründet  und  haben 
sich  so  sehr  entwickelt,  dass  1901  die  Frequenz  die  Zahl  von  16000 
überschritten  hat. 

In  Eippoldsau  wurde  1862  die  neue  Badquelle  gefasst. 

Seit  1872  wurden  auch  die  Herzkrankheiten,  welche  früher  eine 
Kontraindikation  für  Badekuren  waren,  einer  rationellen  Badebehand- 
lung zugeführt  dadurch,  dass  Benecke  fand,  dass  lauwarme  Nauheimer 
Soolbäder  regelmässige  Beruhigung  der  Herzthätigkeit  bewirkten.  Es 
giebt  kaum  mehr  eine  Indikation,  welcher  nicht  das  eine  oder  andere 
Bad  entspricht.  Dazu  machte  sich  der  internationale  Wohlstand  in 
der  Friedensperiode  des  letzten  Viertels  des  19.  Jahrhunderts  gelte^tid. 
Auf  das  Anwachsen  des  Fremdenverkehrs  wurde  schon  mehrfach  hin- 
gewiesen. Pyrmonts  Fremdenverkehr  hat  sich  von  1873  bis  1901  mit 
20000  Besuchern  ungefähr  verdoppelt. 

Wislicenus  in  Würzburg  analysierte  1877  die  Moorerde  von  Gers- 
feld bei  Brückenau,  welche  vielfach  auch  nach  anderen  Badeorten 
durch  Bahn  verschickt  wird.  1877  bis  1891  war  Wehner  alleiniger 
Arzt  in  Brückenau  und  die  Hälfte  der  dortigen  Badegäste  litt  an 
Frauenkrankheiten ;  nur  7,3  %  waren  Harnkranke.  Nach  einer 
Publikation  Wehners  im  Jahre  1883  über  die  Erkrankungen  der 
Harnorgane  liessen  sich  mehrere  Spezialärzte  nieder  und  die  Harn- 
kranken  stiegen  auf  den  grössten  Anteil  der  Besucher.  So  wechseln 
auch  in  anderen  Bädern  die  Indikationen.  Meist  sind  es  aber  uralte 
Indikationen,  welche  wieder  neu  in  den  Vordergrund  treten. 

Freudenstadt  im  Schwarzwald  begann  1879  als  Luftkurort  be- 
sucht zu  werden  und  stieg  bis  1901  in  der  Frequenz  auf  4000  an. 

Der  deutsche  Verein  für  Kinderheüstätten  an  der  See  eröifnete 
1883  seine  Thätigkeit  mit  der  Erbauung  eines  Hospizes  in  Wyk, 

In  Obersalzbrunn  wird  seit  1885  die  Aufnahme  des  Kefirver- 
brauches datiert.  In  allen  grösseren  Städten  wurden  fast  gleichzeitig 
Kefiranstalten  eröifnet.  Ein  nennenswerter  Verbrauch  über  die  Zeit 
der  Neuheit  hinaus  hielt  sich  nur  in  den  Badeorten. 

Rippoldsau  hat  1888  seine  Moorbäder  neu  eingerichtet,  wozu 
Moorerde  aus  Franzensbad  bezogen  wurde. 

Obersalzbrunn  datiert  die  Einführung  der  Sterilisation  der  Kuh- 
milch vermittels  Riedel-Hennebergschen  Dampfapparates  von  1891. 
Diese  und  ähnliche  Neuerungen  drängten  in  den  Badeorten  die  früher 
beliebten  Kuren  mit  Milch  von  Eselinnen,  Ziegen  oder  Schafen  zurück. 


600  von  Oefele. 

In  Soden-Salmünster  wurde  1896  am  östlichen  Abhänge  des  Burg- 
berges unabhängig  vom  Soolbade  eine  Wasserheilanstalt  Sanatorium 
Stolzenberg  errichtet.    (Siehe  folgende  Abschnitte.) 

Brückenau  feierte  1897  das  150  jährige  Jubiläum.  In  der  Jubiläums- 
festschrift fand  die  Geschichte  des  Bades  ihre  Bearbeitung  durch  Prof. 
Dr.  Hans  Reidelbach  (München  1897).  Die  Geschichte  der  Badeorte 
war  allmählich  zu  einem  beliebten  Studium  lokalpatriotischer  Forscher 
geworden.  Kaum  ein  besseres  Bad  versäumte  es  mehr  seinen  Eeklame- 
schriften  einen  historischen  Abschnitt  einzufügen.  Zur  Orientierung 
über  die  Geschichte  der  Balneologie  sind  diese  Schriftchen  zu  wert- 
vollen sekundären  Quellen  geworden,  deren  ich  hier  eine  Eeihe  be- 
nützt habe.  Eine  grössere  Zahl  umfassend  zu  verwenden  würde  den 
Umfang  des  Werkes  weit  überschreiten.  Der  wissenschaftliche  Ge- 
halt der  Reklameschriften  wurde  auch  mehrfach  durch  Zusammen- 
schluss  mehrerer  Mitarbeiter  erhöht.  In  Brückenau  wurde  1899  das 
Kollegium  der  Badeärzte  gegründet,  das  gemeinsame  Schriften  heraus- 
giebt.  An  anderen  Orten  steckt  aber  mehrfach  noch  Badedirektor 
und  ein  einzelner  Patienten  bedürftiger  Arzt  unter  einer  Decke  zur 
Herstellung  einer  unlauteren  Reklameschrift,  durch  welche  andere 
Kollegen  benachteiligt  werden. 

Die  Zunahme  der  Frequenz  wurde  mehrfach  erwähnt.  Von  1858 
bis  1899  hat  sich  die  Zahl  der  Badegäste  von  Wyk  von  600  auf  5170 
vermehrt.  Das  entspricht  aber  kaum  einem  höheren  Gewinn  der 
Badeorte,  da  die  Anforderungen  des  Badepublikums  ganz  unverhältnis- 
mässig wuchsen.  Herbergen,  mit  welchen  vor  wenigen  Jahrhunderten 
Fürsten  sich  begnügten,  würde  heute  kein  Arbeiter  einer  Fabrik- 
krankenkasse beziehen.  In  Brückenau  wurde  1900  das  neue  Kurhotel 
eröffnet,  das  auf  Staatskosten  mit  einem  Aufwand  von  circa  ^!^  Million 
Mark  erbaut  wurde;  demgegenüber  betrug  die  Frequenz  von  1899 
doch  nur  2300  Badegäste. 

Auch  die  Brunnenkur  ferne  der  bestimmten  Quelle  stieg  wieder 
und  damit  der  Versand  des  Wassers.  Von  1868  bis  1900  stieg  z.  B. 
der  Versand  des  Salzbrunner  Oberbrunnens  von  126152  auf  1249104 
Flaschen,  hat  sich  also  fast  verzehnfacht,  während  der  Versand  von 
1855  bis  1868  mit  geringen  Schwankungen  konstant  geblieben  war. 

Eine  neue  Zuthat  der  Bäder  war  die  Fangobehandlung,  welche 
z.  B.  Sooden  neben  den  genuinen  Soolbädern  1902  einführte.  Einen 
Schritt  weiter  muss  die  Neuschaffung  von  Bädern  an  einem  willkür- 
lich von  Menschen  gewählten  Orte  genannt  werden.  So  hat  das  Kur- 
etablissement Seelisberg  am  Vierwaldstättersee  1902  eine  vollständige 
hydrotherapeutische  Anstalt,  Douchen,  Wickel-  und  Massageräume, 
kohlensaures  Bad  und  elektrisches  Bad  neu  eingerichtet. 

Wissenschaftliche  physiologische  Fragen  wurden  unter  balneo- 
logischen  Bedingungen  studiert.  Braun,  Beneke,  Marcard  und  Petri 
lieferten  Arbeiten  über  die  Veränderung  der  Pulsfrequenz  beim  Ge- 
brauch der  Bäder.  Genth  (1856)  studierte  die  Wirkung  von  Trink- 
kuren auf  den  Stoffwechsel,  Mosler  die  Wirkung  von  gewöhnlichem 
Wasser  auf  den  Stoffwechsel,  C.  G.  Lehmann,  L.  Lehmann  und  Lieber- 
meister die  Bestimmung  der  Kohlensäure  im  allgemeinen  und  speziell 
in  den  Soolthermalbädern,  Röhrig  (1870)  die  Resorptionsverhältnisse 
im  Bade. 

Die  Bäder  waren  immer  mehr  oder  weniger  Orte  für  Spezial- 
behandlung  gewesen.    Der  allgemeine  Zug  zum  Spezialistentume  im 


Geschichte  der  Balneologfie  und  der  Grenzgehiete  in  der  Nenzeit.         601 

19.  Jahrhundert  veränderte  darum  die  Bäder  nur  noch  mehr  in  der 
Eichtung.  Orte  zu  werden,  welche  auch  abgesehen  von  der  spezifischen 
Wirkung  der  Quelle  oder  Quellen  alles  zu  vereinigen  und  zu  bieten 
suchten,  was  für  ein  einzelnes  oder  wenige  bestimmte  Leiden  der 
Fortschritt  oder  die  Polypragmasie  der  Therapie  ersinnt.  Diesen  Be- 
trieb von  Saison  zu  Saison  zu  unterbrechen,  verlangte  hohe  finanzielle 
Opfer.  Klimatisch  begünstigte  Thennalbadeorte  richteten  sich  nun  zu 
"Winterkuren  ein,  z.  ß.  Wiesbaden  und  Baden-Baden. 

Das  Klima  wurde  aber  auch  in  anderer  Eichtung  direkt  als  Heil- 
faktor verwendet.  Nicht  nur  die  klimatotherapeutischen  Eeisen  aus 
ältester  Zeit  nach  Aegypten  kamen  wieder  in  Auftiahme,  sondern  in 
Deutschland  selbst  entwickelten  sich  klimatische  Heilanstalten.  1854 
gründete  Dr.  Hermann  Brehmer  in  Görbersdorf  in  Schlesien  eine  Heil- 
anstalt für  Lungenkranke,  welche  allen  späteren  Sanatorien  als  Muster 
diente.  Für  die  Therapie  der  Phthise  begann  Brehmer  und  es  dürften 
sich  bald  noch  eine  Eeihe  von  anderen  Indikationen  anschliessen. 
Schon  wird  tür  Psychosen  ein  ähnliches  Prinzip  anerkannt  und,  unter 
dem  Namen  „Nervenheilanstalten"  verdeckt,  den  staatlichen  Irren- 
häusern in  den  Kreisen  dei-  zahlungsfähigen  Patienten  erfolgi'eich 
KonkuiTenz  gemacht. 

Für  Sanatorien  ist  nicht  der  enge  Bezirk  einer  Quelle  mit  excep- 
tionellen  chemischen  oder  physikalischen  Eigenschaften  nötig:  sondern 
meist  fern  der  Grossstadt  bietet  ein  grösserer  Bezü'k  durch  Klima, 
Höhengliederung  und  Bewuchs,  aber  auch  durch  nahe  verwandtschaft- 
liche Beziehungen  des  ersten  Unternehmers  zu  den  einflussreichsten 
Einwohnern  und  durch  relativ  geringere  Hindernisse  von  Seite  des 
Bureaukratismus  besonders  günstige  Bedingungen  für  alle  jene  Ein- 
richtungen, welche  auf  den  Verlauf  irgend  einer  Krankheit  oder  ihrer 
Eückbleibsel  bessernden  oder  heilenden  Einfluss  haben.  Ein  Punkt 
dieses  Bezirkes  wird  nun  auch  noch  durch  Menschenhand  in  eine 
Centrale  für  den  dauernden  oder  zeitweiligen  Aufenthalt  dieser  Kranken 
umgestaltet  und  erhält  nun  einen  ganz  ähnlichen  Euf  in  seiner  Art, 
wie  eine  natürliche  Mineralquelle.  AYo  der  erete  Unternehmer  seine 
Eechnung  findet,  leiht  nach  kui-zem  ein  Finanzmann  dem  Konkurrenten 
das  nötige  Geld,  um  nebenan  eine  zweite  Anstalt  zu  bauen.  Der  Arzt, 
der  in  der  Stadt  der  Knecht  der  Kassenvorstände  war,  wird  hier  der 
Knecht  des  Geldverleihers.  SpezialVerbesserungen  werden  fortgesetzt 
gegenseitig  erzwungen  durch  die  Nachbarschaft  der  Konkurrenz. 
Görbersdorf  besitzt  drei  Lungenheilstätten,  Bendorf  bei  Neuwied 
mehrere  Nervenheilanstalten. 

In  Pyrmont  wurde  1893  im  Anschlüsse  an  die  örtlichen  Kurmittel 
das  Helenen-Kinderheim  eröffnet  und  1901  das  Genesungsheim  Fried- 
richshöhe der  Landesversicherung  Hannover. 

Vielfach  wählten  diese  Sanatorien  auch  geeignete  Badeorte  für 
ihre  Begründung  oder  stehen  anderweitig  mit  einer  vielleicht  nur 
nebensächlichen  Quelle  in  Verbindung.  So  denkt  wohl  niemand  bei 
dem  stark  in  Aufschwung  gekommenen  Godesberg  am  Eheine  im 
ersten  Augenblicke  an  die  dortige  Quelle,  sondern  an  die  \ielfachen 
Sanatorien  dieses  Platzes.  Eine  Eeihe  von  Gästen  wird  dadurch  den 
Bädern  mit  Heilquellen  entzogen,  während  die  zunehmenden  Verkehrs- 
mittel, der  zunehmende  Wohlstand  und  die  persönliche  Steigerung  der 
Ansprüche  an  Lebensgenuss  immer  neue  Kreise  von  Kranken  ander- 


602  von  Oefele. 

seits  Bädern  wie  auch  Sanatorien  zuführt.  So  blühten  besonders  in 
der  Schweiz  viele  Sanatorien  mit  internationalen  Patienten  auf,  dank 
einer  staunenswerten  Rührigkeit.  Z.  B.  die  ärztlichen  Leiter  der 
Senatorien  am  Genfer  See  sind  häufig-  auf  Reisen,  um  in  allen  Kultur- 
ländern stets  die  Neuerrungenschaften  der  Spezialindikation  ihres 
Senatoriums  persönlich  kennen  zu  lernen. 

Zwischen  Heilquellen  und  Sanatorien  stehen  eine  grosse  Zahl  Luft- 
kurorte und  Aehnliches,  so  dass  eine  Scheidung  unmöglichst  wird.  Die 
Konkurrenz  zwischen  den  verschiedenen  Heilquellen,  Luftkurorten  und 
Sanatorien  veranlasste  starke  Benützung  aller  Reklamemittel  zum  An- 
locken von  Gästen.  Die  Vorstufen  der  Verstaatlichung  der  Standes- 
ehre der  Aerzte  zwangen  diese  als  den  durch  Schulen  gebildetsten  Teil 
der  Badeinteressenten,  ihre  Reklame  hinter  wissenschaftlichen  Formen 
zu  verstecken,  trotzdem  fast  immer  der  wissenschaftliche  Inhalt  gleich 
Null  war.  Die  balneologische  Litteratur  über  jedes  einzelne  Bad  ist 
zu  einer  selbst  für  den  Arzt  am  Ort  unübersehbaren  Hochflut  ange- 
schwollen, welche  dem  Hausarzte  vielfach  nicht  anders  wie  die  gesamte 
Reklamelitteratur  Papierkorbfiitter  ist.  Ausserdem  sind  zur  Be- 
stechung gegen  ungünstige  Artikel  für  alle  Badeverwaltungen  hohe 
Annoncenaufgaben  an  Tages-  und  Familienblätter  nötig.  Reklame- 
unternehmungen wie  der  Bäderalmanach,  welcher  seit  1882  erscheint 
und  sich  rühmt,  dass  der  Arzt  sicher  alles  Einschlägige  in  ihm 
finde  und  doch  nur  aus  sehr  einseitig  bezahlten  Annoncen  in 
wissenschaftlicher  Vermummung  besteht,  wirken  auf  die  wissenschaft- 
liche Balneologie  lähmend  und  vergiftend.  Diese  Zustände  hindern 
bis  heute  auch  eine  volle  Ausdehnung  der  chemischen  Errungenschaften 
auf  die  Klassifikation  der  Heilquellen.  Hält  es  eine  Badeverwaltung 
für  die  Schablone  ihrer  Reklame  für  vorteilhafter,  so  wird  ein  hoher 
Kalk-  und  Magnesiagehalt  wegen  der  alkalischen  Reaktion  dieser 
Erden  dazu  herangezogen,  diese  Quelle  alkalisch  zu  nennen.  Ein 
anderes  Mal  muss  derselbe  Name  Vorspann  leisten,  weil  der  hohe  Ge- 
halt der  Quelle  an  Chlor  und  Schwefelsäure  durch  Alkalien  neutrali- 
siert wird.  Säuerlinge  benennt  man  mit  kühner  Wortverkehrung 
vorzüglich  solche  COo-reiche  Quellen,  welche  alkalisch  auf  Lakmus 
reagieren.  In  kühner  Willkür  werden  in  den  Analysen  Säuren  und 
Basen  verbunden  mit  demselben  Rechte,  als  ob  es  sich  um  die  stünd- 
lich wechselnde  Benennung  einer  Dirne  als  Braut  durch  irgend  einen 
Zuhälter  handelte.  Für  die  Analysen  stehen  jene  Laboratorien  im 
höchsten  Ansehen,  welche  von  den  Stoffen  der  Quellen  die  längste 
Reihe  an  Dezimalen  bieten.  Ein  Fehler  in  der  zweiten  Stelle  wird 
entschuldigt,  wenn  das  Auge  nur  die  Genugthuung  hat,  in  der  6.  Stelle 
noch  bestimmte,  wenn  auch  nicht  stimmende  Zahlen  zu  sehen. 

Diesen  mannigfachen  Auswüchsen  gegenüber  konnte  die  Reaktion 
nicht  ausbleiben.  Das  Laienelement  trat  seit  einem  Jahrhundert 
wiederholt  hervor,  verzichtete  nicht  nur  auf  die  Haarspaltereien  der 
chemischen  Analysen,  sondern  überhaupt  auf  den  Gehalt  an  ausser- 
gewöhnlichen  Stoffen.  Ein  Teil  der  Erfolge  früherer  Jahrhunderte 
an  Mineralquellen  Hessen  sich,  wie  die  Erfahrung  lehrte,  bei  geeigneter 
Anwendung  mit  jedem  Wasser  erzielen.  Was  diese  Laien,  deren 
Namensregister  ich  wohl  keinem  Arzte  zu  nennen  brauche,  angeregt 
haben,  haben  im  letzten  Jahrhundert  vorurteilsfreiere  Aerzte  als 
Hydrotherapie  der  ärztlichen  Wissenschaft  angegliedert,  wobei  aller- 


Geschichte  der  Balneologie  und  der  Grenzgebiete  in  der  Neuzeit.         603 

dings  einige  Aerzte  als  Opfer  dieser  laienhaften  Einseitigkeit  und  des 
Fehlens  genügender  praktischer  Schulung  an  den  Universitäten  für 
immer  jede  Verbindung  mit  der  Wissenschaft  verloren,  als  Strafe  des 
verschleierten  Bildes  von  Sais. 

Wegen  der  Beschränkung  des  verfügbaren  Eaumes  kann  auf 
Details  nicht  eingegangen  werden.  Wenn  auch  nicht  viele  Lichtblicke 
geboten  werden  konnten,  so  ist  für  die  Zukunft  der  Balneologie  doch 
insofern  eine  günstigere  Prognose  zu  stellen,  als  die  Badeärzte  bisher 
relativ  frei  von  der  Bedrückung  durch  die  Krankenkassenentwicklung 
geblieben  sind. 


Geschichte  der  Perkussion  und  Auskultation. 

Von 
Hermann  Tierordt  (Tübingen). 


Litteratur. 

Leop.  Anenbrugger,  Inventum  noviim  ex  percussione  thoracis  hiimani  ut  signo 
abstrusos  interni  pectoris  morbos  detegendi,  Vindobonae,  J.  Th.  Trattner,  1761, 
8°,  95  S.;  2.  Aufl.  1763.  Wiederabgedruckt  bei:  Clar,  Leop.  Auenbrugger  .  .  . 
und  sein  Inventum  novum,  Graz  1867  (mit  Auenbruggers  Bildnis).  Wieder- 
herausgegeben mit  nebenstehender  Uebersetzung  von  8.  Ungar,  Wien  1843 
(s.  a.  Haeser,  Lehrbuch  II  p.  638).  —  Herausgegeben  mit  französischer  Ueber- 
setzung und  Commentar  von :  J.  N.  Corvisart,  Nouvelle  methode pour  recon- 
nattre  les  maladies  internes  de  la  poitrine  par  la  percussion  de  cette  cavite, 
Paris  1808  (wiederabgedruckt  in :  Encyclopedie  des  sciences  medicales,  Collection 
des  auteurs  classiques,  Paris  1838). 

«7".  If.  Corvisart,  Essai  sur  les  maladies  et  les  lesions  organiques  du  coeur  et  des 
gros  vaisseaux,  Paris  1806,  3.  Ausgabe  1818. 

JB.  T.  Laennec,  Traite  de  Vauscultation  mediate  et  des  maladies  des  poumons  et 
du  coeur,  2  Vol.,  Paris  1819.  4.  Edition,  3  Vol.,  1837  (von  Andral).  Aus- 
gabe der  Pariser  medicin.  Fakultät  von  1879  nach  der  2.  Edition  von  1826. 
Beste  Uebersetzung  von  Fr.  L.  Meissner,  Abhandlung  von  den  Krankheiten 
der  Lunge  und  des  Herzens  und  der  mittelbaren  Auscultation,  Leipzig  1832. 

J.  A.  Le  Junieau  de  Kergaradec,  Memoire  sur  Vauscultation  appliquee  ä 
Vetude  de  la  grossesse  ou  recherches  sur  deux  nouveaux  signes  propres  ä  faire 
reconnaitre  plusieurs  circonstances  de  Vetat  de  gestation,  Paris  1822.  Ueber- 
setzt  Weimar  1822  (Abdruck  aus  Froriep's  Notizen). 

P.  A.  Fiorry,  De  la  percussion  mediate  et  des  signes  obtenus  ä  Vaide  de  ce 
nouveau  mögen  d'exploration  dans  les  tnaladies  des  organes  thoraciques  et  ab- 
dominaux,  Paris  1828.  üebersetzt  von  F.  A.  B allin g,  Die  mittelbare  Per- 
kussion .  .  .  Würzburg  1828. 

piorry,  TraitS  du  plessimetrisme  et  d'organographisme ;  anatomie  des  organes  sains 
et  malades  etablie  pendant  la  vie  au  moyen  de  la  percussion  mediate  et  du 
dessin  .  .  .  Paris  1866. 

Josef  Skoda,  Abhandlung  über  Perkussion  und  Auskultation,  Wien  1839,  6.  Auf- 
lage 1864. 

ME.  A.  Wintrich,  Krankheiten  der  Bespirationsorgane,  Erlangen  1854  (in  Virchow's 
Handbuch  5.  Bd.  1.  Abteilung). 

tTuUus  Hofniann,  De  limitanda  laude  auscultationis  praemissa  brevi  hujus  artis 
historia.    Dissertatio  Lipsiae  1836,  Bibliograjihie  p.  23. 

€r.  Joseph,  Geschichte  der  Physiologie  der  Herztöne  vor  und  nach  Laennec  bis 
1852.    Janus  [Central-Magazin  .  .  .]  IL  Bd.,  Gotha  1853,  p.  1,  345,  505. 


Geschichte  der  Perkussion  und  Auskultation.  605 

F.  Küclientneister,  Die  physikalische  Diagnostik  des  Hippokrates  in  Bezug  auf 

Krankheiten   der   Respirationsorgane  und    der    Milz.      Schniidfs  Jahrbücher 

144.  Bd.,  1869,  p.  97. 
JP.  Iflenieyer,   Handbuch  der  theoretischen   und  clinischen  Percussion  und  Aus- 

cultation.  Erlangen,  I.  Bd.  1869  (Geschichte  der  Percussion  und  Auscultation) ; 

IL  Bd.  1.  Äbtheilung  1870,  2.  Abth.  1871.    3  Litteraturverzeichnisse. 
Lewi,   Historische  Notiz  über  die   ersten  Anfänge  (resp.  Spuren)  der  Percussion. 

Jahresbericht  der  Gesellschaft  für  Natur-  und  Heilkunde  in  Dresden  (September 

1878  bis  Mai  1879)  p.  71. 
Heinr,  Haeser,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Medicin  ...  5.  Bearbeitung,  2.  Bd., 

Jena  1881,  p.  637   („die  Erfindung  der  Percussion^);  p.  888   („Begründung 

der  physikalischen  Diagnostik'^). 
Henry  Hughes,  Allgemeine  Perkussionslehre,    Wiesbaden  1894;  p.  5  Litteratur. 
Artikel  Percussion  in  Dictionnaire  encyclopedique  des  sciences  medicales  IL  Serie 

T.  XXII p.  733  (Lereboullet);  Bibliographie  ibid.  p.  755  (L.  Hahn). 
Artikel  Percussion,    im  Index  Catalogue   of  the  library  of  the  surgeon  general 

Office,  Vol.  X,  1889. 
Artikel  Auscultation  im  Dictionnaire  encycl.   (s.  o.),   T.  VII,  1867.  —  Auscul- 
tation medicale  (Barth  et  Bog  er)  p.  262;  Bibliographie  p.  298.   —   Ausc. 

chir-urgicale   —   Ausc.   obstetricale   (Depaul)  p.  301;   Bibliographie  p.  339 

(L.  Hahn). 
Artikel  Auscultation   im  Index  Catalogue   (s.  o.).    Vol.  I,  1880.    Second  series 

Vol.  I,  1896. 
Artikel  Stethoscope   im   Dict.  encyclop.    (s.  o.)   III.  Ser.    T.  XII    1883  p.   62 

(A.  Dechambre  et  Andre  Petit)  —  giebt  die  Darstellung  verschiedener 

Stethoskope  bis  in  die  neuere  Zeit:  starre,  flexible,  binaurale  etc.  Stethoskope. 
Zur   Vorgeschichte   des  Sthetoskops  (!).     Ein    Originalbrief  Laennec's  [an 

Baron  Bevier  vom  18.  Mai  1826]  mit  Bemerkungen  von  C  Gerhardt.    Die 

medicinische  Woche  1900  Nr.  50. 
W.  Ebstein,   Einige  Bemerkungen   zu  der  Geschichte  des  Stethoskops.    Deutsches 

Archiv  für  Min.  Medicin  69.  Bd.  1901  p.  488. 
Artikel  Succussion  (H.  Barth)   im  Dict.  encycl.  (s.  o.)  III.  Ser.    T.  XII  1883 

p.  610. 
Auscidtation  et  percussion  bei  Alph.  JPauly,   Bibliographie  des  sciences  medicales. 

Paris  1874,  p.  897  (6  Titel). 
Auscultation  und  Percussion  bei  Jul.  Paget,  Historisch-medicinische  Bibliographie 

für  die  Jahre  1875—1896,  Berlin  1898,  p.  824  (4  Titel). 

Geht  man  auf  die  leisesten,  oft  gewiss  mehr  zufälligen  Aeusse- 
rungen  über  akustische  Phänomene  bei  Kranken  (und  Gesunden)  zu- 
rück, so  kann  man  sie  fraglos  da  und  dort  bei  verschiedenen  älteren 
Autoren  finden.  Freilich  begnügen  sich  manche  mit  blossen  Andeu- 
tungen, und  so  nehme  ich  auch  die  durch  keinerlei  Belegstellen  er- 
härtete Auslassung  nicht  ganz  ernst,  welche  sich  bei  Bhagvat  Sinh 
Jee  (A  Short  history  of  Aryan  medical  science,  London  1896,  p.  156) 
findet:  ,, Palpation,  percussion  and  auscultation  are  not  altogether 
modern.  They  are  referred  to  in  the  works  of  Charaka.  Atreya,  in 
his  interesting  dialogue  with  bis  favourite  pupil  Harita  [vgl.  Bd.  I 
p.  133]  speaks  with  even  more  precision  on  the  subject.  His  direc- 
tions  are  all  of  a  piece  with  those  in  any  of  our  modern  works."  —  Von 
P.  Niemeyer  (1.  c.  p.  226)  sind  die  Auskultation  und  Perkussion  be- 
trefi'enden  Stellen  in  leidlicher  Vollständigkeit  zusammengetragen.  Am 
berühmtesten  ist  wohl  die  Stelle  über  ,.Succussion"  —  die  Bezeich- 
nung von  Laennee  —  bei  Hippokrates  {tzsqI  vovatov  IL  cap.  47. 
Edit.  Kühn  II  p.  258 ;  Uebersetzung  R.  Fuchs  II  p.  438),  wonach  der 
auf  einen  Stuhl  gesetzte  und  an  den  Schultern  gerüttelte  Kranke 
durch  ein  Geräusch  die  Seite  erkennen  lässt,  welche  den  durch  Ein- 
schnitt zu  entleerenden  Eiter  enthält.  Eine  Parallelstelle  (Kioaycal 
7iQoyvu)a6tg,  Littre  §  20  Nr.  424.  Edit.  Kühn  I  p.  306;  Fuchs  II  p.  65) 
hebt  hervor,  dass  die  Empyematiker  mit  grossem  Geräusch  weniger 


606  Hermann  Vierordt. 

Eiter  haben,  als  die  stärker  dyspnoischeu  mit  wenig  Geräusch.  Bei 
Daremberg  (Oeuvres  choisies  d'Hippocrate,  2.  Edit.  Paris  1855,  p. 
282)  sind  die  hippokratischen  Stellen  über  Empyem  im  Zusammenhang 
zu  lesen.  Ambroise  Pare  (Oeuvres,  Edit.  Malgaigne  I  p.  93,  Table 
methodique)  verwertet  das  Schüttelgeräusch  in  ähnlicher  Weise.  — 
Die  auf  Auskultation,  speziell  Easselgeräusche,  bezogene  zweite  Stelle 
bei  Hippokrates  (negl  vovocov  II  cap.  61.  Edit.  Kühn  II  p.  277; 
Fuchs  II  p.  451)  ist  verdorben  und  nicht  ohne  weiteres  richtig  zu 
stellen.  Dagegen  mag  eine  weitere  Stelle  (ebenda  II  cap.  59.  Kühn 
II  p.  275;  Fuchs  II  p.  450),  wo  von  einem  hör-  (oder  fühl-)baren 
Geräusch  des  Blutes  (!)  wie  Leder  {fidaMrjg)  bei  Schmerz,  Atembe- 
hinderung, „weissem"  Sputum  und  vom  Liegen  auf  der  kranken  Seite 
die  Rede  ist,  füglich  auf  akute  Pleuritis  gedeutet  werden.  Aus 
Aretaeus  Kappadox  führt  Lewi  drei  Stellen  an,  zwei  aus  dem 
Kapitel  Ttegl  vögcoTtos  (Edit.  Kühn  p.  125  u.  127)  und  eine  aus  dem 
Abschnitt  ttsqI  Terdvov  (Kühn  p.  9),  welche  ohne  sonderlichen  Zwang 
auf  eine  Art  Perkussion  (TtaTdaaeiv,  erciyiQoveLv),  mindestens  auf  eine 
mit  der  Hand  ausgeführte,  stärkere  Erschütterung  des  „tympanitisch" 
schallenden  Abdomens  sich  beziehen  lässt.  Von  einer  Perkussion  des 
Thorax  liest  man  aber  erstmals  bei  A  u  e  n  b  r  u  g  g  e  r.  Den  einem 
„Tympanon"  vergleichbaren  Schall  verwerten  ebenso  spätere  Autoren, 
als  Aretaeus,  z.  B.  Galen,  Actuarius,  Paulus  Aegineta,  Tagault,  Pare 
(a.  a.  0.  I  p.  391,  de  Fhydropisie)  zur  Unterscheidung  von  Ascites 
und  Meteorismns,  der  rv/^Ttaviag  der  Alten;  auch  in  „de  aegritudinum 
curatione  Tractatus",  resp.  Joh.  Platearius'  Practica  (s.  S.  de 
Renzi's  CoUectio  Salernitana  II,  Napoli  1853  p.  298)  gibt  der  As- 
cites ..percussus"  den  Ton  eines  halbgefüllten  Schlauches,  der  „Thim- 
panites"  (!)  den  einer  Pauke.  Auch  Soranus  (jisqI  ywaiyceicov  Tta&üv 
cap.  58.  Edit.  Dietz  p.  277;  Edit.  Ermerins  p.  252;  Edit.  Val.  Rose 
p.  330)  unterscheidet  Mole  des  Uterus,  Tympanites  und  Ascites  durch 
Perkussion  und  Succussion,  Alexander  von  Tralles  im  Abschnitt 
7C€Qi  vÖ€Qov  (Edit.  Puschmaun  II  p.  441)  Ascites,  Tympanias  und  den 
vöegog  „ävd  odgy.a''^   durch  Succussion,  Perkussion  und  Fingerdruck. 

Von  einer  in  der  Schweiz  durch  die  Tierärzte  behufs  Ermittelung 
von  Cysticerken  im  Gehirn  mittelst  eines  Hammers  geübten  Perkussion 
des  Kopfes  berichtet  J.  J.  Wepfer  (1620—95)  in  seinen  „Obser- 
vationes  anatomicae  ex  cadaveribus  eorum,  quos  sustulit  apoplexia", 
Schaffhusii  1675  p.  69  und  bei  Lancisi  (s.  Abschnitt  „Geschichte 
der  Herzkrankheiten")  ist  von  der  Perkussion  des  Brustbeins  beim 
„Aneurysma"  des  Herzens  die  Rede. 

Die  Hörbarkeit  des  „Pulses"  des  Herzens  erwähnt  W.  Harvey 
(Exercitatio  anatomica  de  motu  cordis  et  sanguinis  in  animalibus  I  cap.  V 
Edit.  Francofurti  1628  p.  30,  Roterdami  1661  p.  51),  was  ihm  den 
Spott  des  Aemilius  Parisanus  eintrug,  und  ebenso  verzeichnet  Mor- 
gagni (De  sedibus  et  causis  morborum,  Lib.  II,  Epist.  XVI,  Art.  24) 
einen  Fall  von  Stalpaart  van  der  Wiel,  wo  bei  einem  Mädchen 
Geräusche  des  sich  (wie  man  annahm,  in  der  Flüssigkeit?)  bewegen- 
den Herzens  vernehmbar  waren;  er  meint,  von  diesem  Zeichen 
„Medicis,  qui  ad  pericardii  regionem  manum  auremve  admovendo 
aliquid  ibi  fluctuationis  animadvertant,  egregium  utique  prae  ceteris 
Signum  futurum  et  pro  pathognomonico  habendum". 

System  kam  aber  in  die  Lehre,  zunächst  die  der  Perkussion, 
erst  durch  Leopold  Auenbrugger's   (Graz   19.  Nov.  1722,   Wien 


Geschichte  der  Perkussion  und  Auskultation.  607 

17.  Mai  1809)  Inventiim  novum  (1761),  welcher  in  48  Sätzen  mit  an- 
gehängten „Schollen"'  die  Grundzüge  der  unmittelbaren  Perkussion, 
auch  die  Grenzen  ihrer  Leistungsfähigkeit  festlegte,  die  Bedeutung 
der  verschiedenen  Modifikationen  des  Schalls  bei  den  akuten  und 
chronischen  Krankheiten  der  Brust,  auch  einiger  Herzaffektionen  dar- 
that  (s.  das  Expose  von  M  e  r  b  a  c  h  im  Jahresberichte  der  Gesellschaft 
für  Natur-  und  Heilkunde  in  Dresden  1861  —  62,  p.  59  und  bei  Clar, 
1.  c.  p.  17,  Auszug  bei  Ha  es  er,  1.  c.  p.  639).  Von  den  chronischen 
Affektionen  der  Lunge  bespricht  Auenbrugger,  der  übrigens  den 
■weiteren  Ausbau  seiner  Methode  empfahl,  hauptsächlich  den  Scirrhus 
pulmonum,  worunter  er  Verdichtungen  i.  w.  S.,  auch  akute,  versteht, 
Kavernen,  Empj'em,  dessen  Operation  er  geübt  zu  haben  scheint, 
Hydrops  pectoris  und  pericardii.  Von  den  massgebenden  Zeitgenossen 
mit  rühmlichen  Ausnahmen  (Maximilian  St  oll,  Joh.  Peter  Frank) 
wenig  beachtet,  kaum  ernst  genommen  —  selbst  die  Satire  fehlte 
nicht  (vgl.  „Medizinisches  Vademekum  für  lustige  Aerzte  und  für 
lustige  Kranke",  Frankfurt  und  Leipzig  1798)  —  wurde  die  Technik 
durch  Auenbrugger s  üebersetzer  und  Kommentator  J.  X.  Cor- 
visart  (1755 — 1821)  wieder  neu  belebt  und  in  selbständigem  Ausbau 
der  Methode  auf  die  Erkennung  der  Krankheiten  des  Herzens  und 
der  grossen  Gefässe  ausgedehnt.  Erst  von  dieser  Zeit  ab  datiert  die 
prinzipielle  Einfügung  der  Perkussion  in  die  ärztliche  Technik,  was 
freilich  in  Deutschland  am  spätesten,  später  als  in  Frankreich  und 
England,  geschah. 

Der  Bretone  Rene  Theophile  Hyacinthe  Laennec  (Quimper 
17.  Febr.  1781,  Kerlouanec  13.  August  1826)  ist  als  der  selbständige 
Schöpfer  einer  klinischen  Auskultation  zu  verehren,  welche  er,  man 
kann  sagen,  aus  dem  Nichts  heraus  geschaffen,  in  den  verschiedensten 
Krankheiten  und  wieder  in  den  einzelnen  Phasen  derselben  aufs  ge- 
naueste verfolgt  hat,  überall  mit  dem  anatomischen  Zustand  der  Organe 
Beziehung  suchend,  wozu  ihm  ein  umfangreiches  Krankenmaterial  am 
Hospital  Necker  (seit  1817)  die  ausgiebigste  Gelegenheit  verschaffte.  — 
Laennecs  Werk,  zumal  in  der  2.  Auflage  von  1826,  ist  ein  voll- 
ständiges Handbuch  der  Diagnostik  und  Behandlung  der  Krankheiten 
der  Brustorgane,  worin  er  auch  der  (Auenbruggerschen)  Perkussion 
gedenkt,  ihre  Leistungen  für  sich  allein  zwar  eng  begrenzt  und  für 
zweifelhaft  hält,  in  Verbindung  jedoch  mit  der  mittelbaren  Aus- 
kultation ihre  Bedeutung,  z.  B.  für  den  Pneumothorax,  das  Lungen- 
emphysem, die  Spitzentuberkulose,  anerkennt.  Gegliedert  ist  das 
Buch  (2.  Aufl.)  in  drei  Hauptteile:  „Untersuchung  der  Brust,  Krank- 
heiten der  Lunge,  Krankheiten  des  Cirkulationsapparates".  Es  ent- 
hält eine  solche  Fülle  gut  beobachteter  und  ebenso  gut  beschriebener 
physikalisch -diagnostischer  Zeichen,  dass  man  es  heute  noch  mit 
Interesse  und  Nutzen  zu  lesen  vermag.  Krankengeschichten  und 
Nekropsien  sind  aufs  sorgfältigste  wiedergegeben.  Ein  Meister 
aber  erscheint  Laennec  in  der  Determination  der  akustischen 
Zeichen;  er  hat  in  der  Auskultation  die  Nomenklatur,  deren  wir  uns 
bedienen,  recht  eigentlich  geschaffen,  und  selbst  da,  wo  die  Ausdrücke 
fast , gesucht  erscheinen  mögen,  wie  in  der  Resonnance  de  pot  feie,, 
der  Egophonie,  dem  Fremissement  cataire,  haben  sie  sich  in  Ermange- 
lung streng  physikalischer  Begriffsbestimmungen  nicht  wohl  durch 
bezeichnendere  ersetzen  lassen.  Die  minutiöse  Beschreibung  und  Aus- 
wertung all'  der  Geräusche  und  Geräuschchen,  die  bei  den  einzelnen 


608  Hermann  Vierordt. 

Lungen-  und  Brustaffektionen  zu  beobachten  sind,  —  viel  Neues  ist 
ja  hier  kaum  noch  hinzuzufügen  gewesen  —  erregt  unsere  Bewunde- 
rung, wobei  freilich  das  Suchen  nach  pathognomonischen  Zeichen  all- 
zusehr hervortritt  und  andererseits  die  etwas  weit  gehende  Speziali- 
sierung ein  auf  grössere  Gesichtspunkte  gegründetes  (der  Physik  an- 
gepasstes)  System  vermissen  lässt.  —  Die  Krankheiten  des  Herzens 
nehmen  den  kleineren  Teil  des  Werkes  ein;  auch  hier  ist  der  Autor 
überaus  sorgfältig  und  vielseitig,  für  alle,  auch  die  entfernter  liegenden 
und  selteneren  Atfektionen,  z.  B.  Pneumopericard,  sucht  er  nach 
akustisch-diagnostischen  Merkmalen,  überall  kritisch  und  sichtend 
(man  vgl.  nur  das  Kapitel  XVIII  des  3.  Teils  über  die  „Polypen 
des  Herzens  und  der  Gefässe").  Von  den  Veränderungen  des  Herzens 
interessieren  ihn  vor  allem  die  Zustände  der  Hypertrophie  und  Dila- 
tation, aber  schon  erscheinen  Diagnosen  wie  „Vegetations  ou  retre- 
cissement  cartilagineux  de  la  valvule  mitrale,  Ossification  de  la  valvule 
mitrale,  des  valvules  sigmoides  de  l'aorte"  etc. 

Das  Instrument,  dessen  sich  Laennec  zu  seiner  „mittelbaren" 
Auskultation  bediente  und  dessen  Entstehung  bis  in  das  Jahr  1816 
zurückreicht  (Traite,  Introduction),  das  „Stethoskop",  war  ein  32^ jo  cm 
(1')  langer,  16'"  (=  36  mm)  dicker,  zwar  innen  durchbohrter,  aber 
immerhin  noch  230  g.  schwerer  „Cylinder"  aus  (Eichen-)  Holz,  der 
später  handlicheren,  vor  allem  leichteren  Instrumenten  Platz  ge- 
macht hat. 

Allgemeine  Anerkennung  hat  Laennec  auch  bei  seinen 
Landsleuten  zunächst  nicht  gefunden.  Von  mancher  Seite  wurde  gegen 
die  „Cj-lindromanes"  geeifert.  Mit  den  vielfachen,  meist  recht  klein- 
lichen Ausstellungen  und  Bemängelungen  Broussais'  (Examen  des 
doctrines  medicales  ...  T.  II  Paris  1821)  setzt  er  sich  in  der  Vor- 
rede zur  2.  Auflage  auseinander,  doch  verzeichnet  er  ebenda  mit  Ge- 
nugthuung,  dass  mehr  als  „300  junge  Aerzte  aus  allen  Nationen 
Europas"  unter  seiner  eigenen  Anleitung  die  ..Observations  stetho- 
scopiques"  geübt  haben.  Unter  den  namentlich  aufgeführten,  von 
Laennec  genauer  gekannten  sind  meist  Engländer,  nur  1—2  Deutsche, 
wie  denn  Deutschland  zuletzt  die  Laenne eschen  Lehren  aufnahm, 
während  in  England  Männer  wie  Ch.  Williams  in  London  und 
W,  Stokes  in  Dublin  die  Disziplin  weiter  ausbauten.  Uebrigens 
erwähnt  Laennec  als  Anhänger  und  Bestätiger  seiner  Lehre  von 
deutschen  Klinikern  K.  A.  W.  Berends  in  Berlin,  Chr.  Fr.  Nasse 
in  Bonn,  von  späteren  wären  Schönlein  in  Berlin,  Krukenberg 
in  Halle  zu  nennen,  welche  in  richtiger  Erkenntnis  der  Bedeutung 
der  physikalischen  Diagnostik  für  die  Entwicklung  der  Innern  Klinik 
sie  eifrig  pflegten. 

Eine  wertvolle  Ergänzung  fand,  wieder  auf  französischem  Boden, 
die  physikalische  Diagnostik  durch  eine  weitere  Verfeinerung  der 
Perkussion  von  selten  Pierre  Adolphe  Piorry's  (1794 — 1879).  Die 
Erfindung  eines  kleinen  Instrumentes,  des  elfenbeinernen,  runden  Plessi- 
meters, galt  dem  virtuosen,  oft  übrigens  nicht  genügend  objektiven 
Perkuteur  für  wesentlich,  wie  er  denn  auch  das  Stethoskop  in  eine  be- 
quemere, fast  zu  kurze  Form  brachte,  andererseits  aber  den  schon 
von  „Barry"  (David?  B.)  angegebenen,  von  Win  tri  ch  1841  wieder 
eingeführten  Perkussionshammer  und  die  (in  England  geübte,  von 
Stokes    (Vorrede    zu    den    Brustkrankheiten)    empfohlene    Finger- 


Geschichte  der  Perkussion  und  Auskultation.  609 

Fingerperkussion, ^)  welche  ihm  „mehrere  englische  und  amerikanische 
Aerzte"  in  seinen  Vorlesungen  demonstrierten  (s.  Uebersetzung  Balling 
p.  26).  energisch  zurückwies.  Piorrys  Verdienst  bleibt  es,  die  genaue 
Absteckung  der  Organgrenzen  und  namentlich  auch  die  Perkussion 
des  Bauches  und  seiner  Organe,  der  Milz  vor  allem,  weiters  die 
graphische  Fixierung  der  Grenzen,  die  Dermographie,  den  „Organogra- 
phisme"  i  Atlas  de  plessimetrisme  . . .  Paris  1851)  eingeführt  zu  haben. 
Wenn  er,  zumal  in  seinen  späteren  Arbeiten,  z.  B.  dem  Traite  de 
plessimetrisme.  Paris  1866,  aber  auch  schon  im  Traite  de  diagnostic  et 
de  semeiologie,  Paris  1836—37,  von  seinem  Virtuosentum  verleitet,  zu 
weit  ging,  mehr  beweisen  wollte,  als  er  konnte,  und  sogar  halb  un- 
bewusster  Selbsttäuschung  verfiel,  so  ist  dies  zu  bedauern  und  hat 
der  Methode  jedenfalls  mehr  geschadet,   als  sie   eigentlich  verdiente. 

In  der  nach-laennecschen  Zeit  schlug  der  weitere  Ausbau  seiner 
Lehre  in  den  einzelnen  Ländern  verschiedene  Wege  ein ;  in  Frankreich 
machte  sich  eine  nur  zu  sehr  verfeinerte  Symptomenlehre,  das  Haschen 
nach  pathognomonischen  Zeichen,  breit,  während  in  England  eine 
mehr  selbständige  Weiterentwicklung  sich  Bahn  brach  und  an  unab- 
hängigen Männern,  wie  Williams,  der  zuerst  nach  akustischen 
Grundlagen  forschte,  Stokes,  E.  J.  Graves,  Laennecs  Ueber- 
setzer  John  Forbes,  mächtige  Förderung  fand.  Die  Werke  von 
Stokes  und  W.  H.  Walshe  fanden  auch  in  Deutschland  ziemliche 
Verbreitung. 

Ein  hervorragendes  und  bleibendes  Verdienst  um  die  wissen- 
schaftliche Begründung  und  Feststellung  der  Perkussion  und  Aus- 
kultation hat  Josef  Skoda  (1805—13.  Juni  1881),  mit  C.  Roki- 
tansky der  Führer  der  jüngeren  Wiener  Schule,  sich  erworben.  Er 
ist  der  Xeuschöpfer  der  Lehre,  deren  Hauptzüge  er  vor  mehr  als 
60  Jahren  in  heute  noch  unanfechtbare,  in  gleicher  Präcision  zuvor 
nicht  ausgesprochene  Sätze  zu  fassen  wusste.  Die  1839  in  Wien  er- 
schienene „Abhandlung  über  Perkussion  und  Auskultation"  ist,  wenn 
auch  späterhin  einzelnes  modifiziert  werden  musste,  die  Grundlage 
der  heute  geltenden  Theorie  geworden.  Zunächst  wurden  die  ver- 
schiedenen von  Piorry  aufgestellten  Perkussionsschalle  wesentlich 
vereinfacht,  als  massgebend  für  den  Schall  nicht  das  spezifische  (ge- 
sunde oder  kranke)  Gewebe,  sondern  ganz  allgemein  gesagt,  der 
physikalische  Zustand  des  Organs,  sein  Luftgehalt,  resp.  das  Fehlen 
desselben  nachgewiesen,  womit  die  gekünstelte  und  gefahrliche  Lehre 
Piorrys  von  der  Spezifizität  der  Schalle  der  Einzelorgane  hin- 
fällig wurde.  An  den  Auslassungen  über  den  Perkussionsschall 
(S.  3-18)  dürfte  auch  heute  noch  wenig  zu  bemängeln  sein.  Wie 
recht  hat  Skoda  nur  in  der  Frage  über  den  tympanitischen  SchaU 
bei  Pleuritis  behalten,  das  „Bruit  skodique"  der  gerade  in  diesem 
Punkt  ihn  anfänglich  stark  befehdenden  Franzosen!  Schwieriger  ge- 
stalteten sich  die  Auseinandersetzungen  über  gewisse  auskultatorische 
Phänomene,  wo  auch  Skoda,  im  Drang  selbständigen  Schaffens  und 
ablehnender  Kritik,  Laennecs  Verdiensten  nicht  immer  ganz  gerecht 
geworden  sein  mag.  Jedenfalls  verdichteten  sich  Skodas  Unter- 
suchungen, die  besonders  auch  dem  Leichenexperiment  sich  zuwandten, 
zu  einer   eigentlichen,  brauchbaren  und   formulierbaren  Theorie  der 


*)  Bei  Win t rieh  (1.  c.  p.  4)  steht  die  Bemerkung,  dass  „Dr.  Skerrett  (?)" 
die  Finger-Fingerperkussion  zuerst  geübt  habe. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  39 


610  Hermann  Vierordt. 

Perkussion  und  Auskultation;  dabei  hatte  sie  den  besonderen  Vorzug 
einer  einfacheren,  dem  deutschen  Sprachgefühl  näher  gerückten  Nomen- 
klatur, ^)  wenn  auch  Hyperkritische  da  und  dort  der  formalen  Logik 
nicht  Rechnung  getragen  sahen  und  beispielsweise  die  gewiss  prak- 
tische Unterscheidung  zwischen  tj'^mpanitischem  und  nichttympanitischem 
Schall  bespöttelten.  So  sind  denn  die  Skodaschen  Lehren,  z.  T, 
getragen  vom  Enthusiasmus,  den  die  aufblühende  Wiener  Schule  in 
der  jüngeren  Aerztewelt  erregte,  rasch  in  die  Praxis  eingedrungen,-) 
die  von  den  Franzosen  stets  bevorzugte  Auskultation  hat  der  Per- 
kussion neben  sich  einen  ebenbürtigen  Platz  einräumen  müssen,  beide 
Untersuchungsmethoden  ergänzen  sich  jetzt  gegenseitig.  Nach  Skoda 
sind  zwar  da  und  dort,  namentlich  auch  in  den  theoretischen  Teilen, 
z.  B.  der  Lehre  vom  Perkussionsschall  der  Lunge,  ob  Luft  oder 
Membran  ,. Schallherrscher"  sei,  Ergänzungen  oder  mehr  oder  minder 
einleuchtende  Verbesserungen  aufgetaucht  —  Skoda  selbst  war  in 
den  späteren  Auflagen  seines  Buchs  zu  manchen  Antikritiken  ge- 
nötigt —  die  Grundzüge  sind  trotzdem  nicht  verwischt,  einzelne 
theoretische  Streitfragen  bis  heute  nicht  zum  Austrag  gebracht 
worden. 

Um  die  Befestigung  der  physikalischen  Grundlagen  der  Per- 
kussion und  Auskultation  hat  sich,  auf  experimentelle  Untersuchungen 
sich  stützend,  M.  Anton  Wintrich  (1812—1882)  in  Erlangen  be- 
müht. Auch  der  Physiker  Friedr.  Zammin  er  hat  in  dieser  Richtung 
gearbeitet  (Einleitung  zu  Eug.  Seitz,  Die  Auskultation  und  Per- 
kussion der  Respirationsorgane,  Erlangen  1860),  von  den  neuesten 
Publikationen  möge  die  von  Hughes  genannt  sein.  Doch  sind  wir 
noch  weit  davon  entfernt,  allseitig  befriedigende  physikalische  Grund- 
lagen geschaffen  zu  haben,  und  C.  Gerhardt  hat  gewiss  recht:  „der 
Bau  wird  erst  vollendet,  erhält  erst  die  Krone,  die  wissenschaftliche 
Weihe,  wenn  alle  diese  Ergebnisse  der  ärztlichen  Beobachtung  anstatt 
auf  bekannte  physikalische  Thatsachen,  auf  die-  Grundgesetze  der 
Lehre  vom  Schalle  zurückgeführt  sein  werden"  (Lehrbuch  der  Aus- 
cultation  und  Percussion,  2.  Aufl.,  Tübingen  1871,  6.  Aufl.  1900,  p.  7). 
Einzelheiten,  etwa  die  vielfachen  Kontroversen  und  Streitigkeiten 
hauptsächlich  auch  theoretischer  Natur,  über  Perkussionsschall,  Ent- 
stehung der  Herztöne  (s.  a.  das  Kapitel  „Herzkrankheiten")  u.  a.,  auch 
die  Aufzählung  einzelner  Zeichen  und  Phänomene  kann  im  allgemeinen 
hier  übergangen  werden.  Erwähnt  mögen  sein  der  Pektoralfremitus 
(J.  Jos.  Reynaud  1819),  ferner  die  verschiedenen  Arten  von  Schall- 
wechsel (Wintrich  1854,  Friedreich  1856,  Gerhardt  1859,  Biermer  1862, 
eigentlich  schon  Geigel  1861),  worüber  das  Wichtigste  bei  P.  Nie- 
meyer zu  finden  ist.  Ausdrücklich  soll  hingewiesen  sein  auf  die 
Benützung  der  Auskultation   zu  geburtshilflichen  Zwecken:  Frangois 

^)  Ein  „Index  sämmtlicher  in-  und  ausländischer  Kunstausdrücke"  findet  sich 
bei  P.  Niemeyer,  Grundriss  der  Percussion  und  Auscultation,  3.  Aufl.,  Stutt- 
gart 1880. 

-)  In  einer  Rezension  über  Skodas  Buch  (Schmidts  Jahrbücher.  32.  Bd., 
p.  100 — 106)  sagt  Kürschner  am  Schluss:  „Es  wird,  wenn  die  vorgetragenen 
Grundsätze  allgemeiner  bekannt  werden,  die  mythische  Epoche  der  Auskultation 
vorüber  sein,  die  Epoche,  wo  man  die  wenigen,  in  deren  Händen  sie  war,  bewunderte, 
und  die  Zeit  wird  näher  rücken,  wo  jeder,  der  Ohren  hat  zu,  hören,  hören  wird  und 
hören  rauss.  Demzufolge  stehen  wir  nicht  an,  den  Dr.  Skoda,  unsern  stets  ge-  . 
achteten  Lehrer  und  Freund,  für  den  wahren  Apostel  der  Auskultation  in  Deutsch-  f 
land  zu  erklären." 


Geschichte  der  Perkussion  und  Auskoltation.  611 

Isaac  M  a  T  0  r  in  Genf  —  „broits  du  coeur  du  foetus"  (Bibliotheque 
univ.  des  sciences  et  arts  IX.  Geneve  1818,  p.  248)  —  verwertete 
zuerst  die  Auskultation  der  kindlichen  Herztöne  zui*  Diagnose  des 
Lebens  des  Kindes.  Jean  AI.  LeJumeau  Vicomte  deKergaradec 
beschrieb  1822  erstmals  das  (Uterin-  oder)  Placentargeräusch,  Evory 
Kennedy  1830  (Dublin  Hosp.  reports)  das  Nabelschnurgeräusch, 
John  D.  Fisher  in  Boston  das  später  sog.  systolische  Himblasen, 
seine  »cephaüc  beUow's  sound~  (Medical  Magazine  11  Boston  1834 
und  American  Journal  of  the  medical  sciences  1838  p.  277).  Das 
pleuritische  Reibegeräusch  (H  e  y  n  a  u  d  1822),  das  perikardiale  Eeiben 
(V.  Co  11  in  1824).  das  peritonitische  Reiben  (A.  Despres  1834), 
das  Hydatidensch wirren,  fremissement  hydatique  (P.  A.  Briangon, 
These  von  1828),  die  Auskultation  der  Flüsterstimme  (G.  Baccelli 
1877)  mögen  ausserdem  Erwähnung  finden. 

Kombination  von  Perkussion  und  Auskultation  ist  zu  verschiedenen 
Malen  mit  wechselndem  Erfolg  zur  genaueren  Grenzbestünmung  der 
Organe  verwertet  worden,  so  von  Ca  mm  an  und  Clark  (New  York 
Journal  of  medicine  and  surgery  1840  July ;  ausführliches  Referat  bei 
Barth  et  Roger.  Traite  pratique  d'auscultation,  11.  Aufl.,  Paris 
1887.  p.  756);  in  neuester  Zeit  soU  das  Phonendoskop  von  A.  Bianchi 
und  E.  Bazzi  eben  solchen  Zwecken  dienen.  —  Historisches  In- 
teresse hat  der  bei  Piorry  (Uebersetzung  Balling  p.  27)  erwähnte 
Versuch  von  Jules  deDervieux,  welcher  im  Innern  des  Stethoskops 
einen  kleinen  Hammer  anbrachte. 


39* 


Lungenkrankheiten 

(ausschliesslich  Tuberkulose). 

Von 

Hermann  Yierordt  (Tübingen). 


Litteratur. 
a)  Pleuritis  und  Pneumonie. 

Ausser  den  im  einzelnen  nicht  aufzuführenden,  im  Text  ihre  Erwähnung 
findenden  medizinischen  Klassika-n  und  verschiedefien,  im  Kapitel  „Perkussion  und 
Auskultation'^  (s.  o)  angebenen  Verweisen  seien  besonders  namhaft  gemacht: 

Antonio  Guainierio  (c.  1440),    Opus  praeclarum    ad  praxin    non   mediocriter 

necessarium,  Papiae  1518,  4^.   Kapitel:  de  aegritudinious  pectoris  et  pulmonum; 

de  pleuresi. 
Pierre  JBrissot,  Apologetica  disceptatio,   qua  docetrir,  per  qua  loca  sanguis  mitti 

deheat  in  viscerum  inflammationibus,  praesertim  in  pleuritide,  Parisiis  1525,  4  **. 
Petms    Vascus   Castellus,    Exercitationes   medicinales   ad   omnes    thoracis  af- 

fecius  .  .  .    Tolosae  1616;    Tractatus  quintus,    de  pleuritide;   tract.  sextus   de 

peripneumonia. 
C  Schrödterf  De  pleuripne^imonia  dissertatio  medica,  in  qua  statuitur  veram  sedem 

peripneumoniae  esse  utrumque,  pleuritidis  vero  alterutrum  tantum  latus  pul- 
monum; quae  sententia  rationious  Hippocratisque  auctoritate  inprimis  stabilitur, 

Wittenbergae  1679,  4°. 
Dan,    Wilh.   Triller,   De  pleuritide   ejusque   curatione,   Irancofurto  1740,    von 

pag.  126   bis   Schhiss:   Selecta   quaedam   capita   de  pleuritide  e  .  .  .   Cornelia 

Celso,  Caelio  Aureliano  et  Theodoro  Prisciano  excerpta. 
JUichele  Sarcone,  Istoria  ragionata  dei  mali  osservati  in  Napoli  nelV  intero  corso 

delV  anno  1764.  Napoli  1765,  parte  seconda.    (Deutsche  Uebersetzung  v.  Schmid 

u.  Füssly,  Zürich  1770—72.) 
Laennec,  Traite  de  Vausacltation  mediale  1826.  —  Vgl.  S.  599. 
I*.  J.  Schneidet^  Haematomanie  im  19.  Jahrhundert,  Tübingen  1827. 
«Jos.  Dietl,  Der  Aderlass  in  der  Dungenentzündung,  Wien  1849. 
A.  Bernhardi,    lieber   die  Pneumonie-Lehre   der   Gegenwart  .  .  .  Zeitschrift  für 

Erfahrungsheilkunde,  Berlin  1851,  IV,  p.  353—522  (homoeopathisch !). 
M.  A.  Wintrichf  Krankheiten  der  Pleura  in  Virchow's  Handbuch  der  speciellen 

Pathologie  u.  Therapie,  5.  Band  1.  Abtheilung,  Erlangen  1854,  p.  225. 
A.  Biemier,    Krankheiten   der   Bronchien    und    des    Lungen-Parenchyms,    ibid. 

5.  Band  4.  it.  5.  Lieferung  1865—67. 
M.  Ziemssen,  Pleuritis  und  Pneumonie  im  Kindesalter,  Berlin  1862. 
JP.  Hietneyer,    Uebersicht  der  neueren  Forschungen  über  Pneumonie.     Schmidt's 

Jahrbücher  113.  Bd.  1862  p.  337;  132.  Bd.  1866  p.  317. 
A.  Grisolle,  Traite  pratique  de  la  pneumonie  aux  differents  äges  . .  .  Paris  1841, 

2.  edit.  1864. 


Lungenkxankheiten.  613 

O.  Seidel,  Der  Aderlass  in  der  croupösen  Pneumonie  historisch  dargestellt.    Ber- 
liner Dissertation  1869. 
üeinJi.   Köhler,    Handbuch    der   specidlen    Therapie.      Erster  Band.     3.   Aufl., 

Tübingen  1867,  p.  771,  893. 
J.  JBauer,  Geschichte  der  Aderlässe,  Bonn  1870. 
tTul.  Petersen,  Haiiptmoniente  in  der  geschichtlichen  Entunckelung  der  medicinischen 

Therapie,  Kopenhagen  1877. 
Th.  Jürgensen,    Croupöse    Pneumonie    in    Ziemssen^s   Sandbuch    V.  Band, 

Leipzig  1874,   p.  4.    —    Katarrhalpneumonie,    ibid.  p.  184.    —   Interstitielle 

Pneumonie,  id.  opus,  Supplementband  1878  p.  312. 
O.  Wf/ss,  Die  Catarrhalpneumonie  in  Gerhardt's  Sandbuch  3.  Bd.   2.  Hälfte, 

Tübingen  1878,  p.  729. 
Leichtenstern,  Krankheiten  d.  Pleura,  ibid.  p.  863. 
C.  Gerhardt,  Atelektase,  ibid.  p.  497. 
O.  V.  Gizycki,  Die  operative  Behandlung  der  Pleuritis  bis  Trousseau.    Berliner 

Dissertation  1880. 
Th.  Jürgensen  u.   A.  Fränkel,    Referat    u.    Correferat    „Ueber   die   genuine 

Pneumonie'^  in  Verhandlungen  des  Congresses  für  innere  Mediciyi.    3.  Congress 

(Berlin),   Wiesbaden  1884,  p.  6  und  anschliessende  Discussion. 
Aug.  Hirsch,  Handbuch  der  historisch-geographischen  Pathologie,  2.  Bearbeitung, 

3.  Abtheilung,  Stuttgart  1886,  p.  77  (Artikel  Lungenentzündung). 
Gottfr.  Krüger,   Der  Aderluss  im  neunzehnten  Jahrhundert.    Berliner  Disser- 
tation 1886. 
Leon  Delattref  Essai  sur  Vhistoire  de  la  saignee.     These  de  Paris  1886. 
H.  Barth,   Artikel   „Pneumonie''^    im   Dictionnaire    encyclop.    des    sciences    med. 

IL  Serie  t.  27,  Paris  1888,  p.  228  (Historique). 
Artikel  „Pneumonie^   im  Index  Catalogue   of  the   library   of  the  surgeon  general 

Office  Vol.  X,  1890,  p.  400 — 455   (auch  die  Unterabteilungen  Pn.  in  Infants 

and  children,  Catarrhal  or  lobular  Pn.  etc.  zu  vergleichen!).  — Artikel  „Pleurisy'^, 

ibid..  p.  374.   —   Artikel  „Bronchopneumonia",    Vol.  U,  1881,  p.  482;   second 

series  vol.  II,  1897,  p.  837—38. 
A.  Weichselbauni,   Zusammenfassender  histoiischer  Bericht  über  die  Aetiologie 

der  acuten  Lungen-   und  RippenfeUentzündungen.     Centralblatt  für  Bacterio- 

logie  und  Parasitenkunde,  Erster  Jahrgang  I.  Band,  Jena  1887,  p.  553,  587. 
C.  Gerhardt,  Die  Geschichte  des  Brv^tstiches,  Berlin  1890  [Verschiedenes  auch  b. 

Leichtenstern,  l.  c.  —  Gerhardt's  Handbuch  —  p.  946]. 
C.  Friedländer,    lieber  die  Schizomyceten  bei  der  acuten  fibrösen  (!)  Pneumonie. 

Virchou-'s  Archiv  87.  Bd.,  1882.  p.  319. 
Derselbe  (mit  Frobenitis),   Die  Mikrokokken  der  Pneumonie.     Fortschritte  der 

Medicin,  1.  Jahrgang,  1883,  p.  715. 
E.  Cestan,  La  therapeutique  des  empyemes,  Paris  1898  (mit  historischen  Notizen 

namentlich  über  neuere  Operationsmethoden). 
H.  Eppinger,  Krankheiten  der  Lunge,  in:  Lubarsch  &  Ostertag,  Ergebnisse 

der  allgemeinen  Pathologie  und  patholog.  Anatomie,   3.  Abteilung,    Wiesbaden 

1896,  p.  137. 
Iv.  Moni,  Spaltspitze  bei  Pneumonie,  ibid.,  1.  Abteilung,  1896  p.  648. 
Pleuritis  pulsans:  Alfr.  Keppler,  Deutsches  Archiv  f.  Min.  Medicin  41.  Bd. 

(Litteratur   bis  1887);   Th.  Fuchs,  Zeitschrift  für  Min.  Medicin   32.  Bd. 

Supplement- Heft  1897  p.  255. 
Alfr.  Wolff,  Die    Geschichte   der  Pleuritis   mit  besonderer  Berücksichtigung   der 

Therapie  und  der  Probepunktion.    Allgemeine  medicinische  Central- Zeitung  1900 

Nr.  24. 
G.  Sticker,  Die  Entwicklung  der  ärztlichen  Kunst  in  der  Behandlung  der  hitzigen 

Lungenentzündungen,   Wien  1902. 

b)  Sonstige  Lungenkrankheiten. 

J.tt«  dem  Index-Catalogue  of  the  library  of  the  surgeon  general  office  seien 
folgende  Artikel  genannt :  Bronchia  (Dilatation  of).  Vol.  II,  1881,  p.  474—76:  second 
series  Vol.  II,  1897,  p.  828.  —  Bronchial  glands,  ibid.  p.  474—76;  second  series 
p.  831.  —  Bronchitis,  Und.  476 — 82,  second  series  p.  832 — 37.  —  Embolism  (pul- 
monary), Vol.  IV,  1883,  p.  195;  secMid  series  Vol.  IV,  1899,  p.  864.  —  Embolism 

y).  Und.  p.  219;    second  series 
1887,  p.  417.  —  Pneumothorax, 


and  gangrene,  ibid.  p.  199;  Emphysema  (pulmonary),  ibid.  p.  219;    second  series 
Vol.  IV,  p.  897.  —  Lungs  (Gangrene  of),  Vol.  VIII,  IS" 


Toi.  XI,  1890,  p.  456. 


614  Hermann  Vierordt. 

«7.  Mögling,  Zur  Entstehung  des  haemorrhagischen  Inf ar cts.    Historische  Skizze; 
in :  Arbeiten  aus  dem  Gebiete  der  pathol.  Anatomie  und  der  allgem.  Pathologie, 
herausgegeben  von  E  Ziegler.    I.  Band:  Jena  1886,  p.  133. 
Bezüglich  des  kindlichen  Alters  findet  sich  manches  bei  Rilltet  et  Barthez, 

Traite   des  maladies   des  enfants.    5«  edition,  tvo  die  wichtigsten  Krankheiten  mit 

einem  Abschnitt  „Historique"  eingeleitet  sind,  der  freilich  die  französischen  Autoren 

bevorzugt,    und    in    C.    Gerhardts    Handbuch    der    Kinderkrankheiten,    3.   Bd. 

2.  Hälfte,  Tübingen  1878,  die  Artikel  Krankheiten  der  Bronchien  (Ad.  Weil),  Em- 
physem   (L.  Fürst),    hämorrhagischer   Infarct   (C.   Gerhardt),   Lungengangrän 

(Kohts). 

A.  Biernier,  Bronchitis  capillaris,  Virchotc's  Handbuch  5.  Bd.  I.  Abthlg.  4.J5.  Liefe- 
rung, Erlangen  1865 — 67,  p.  647,  Bronchitis  crouposa,  ibid.  p.  714. 

Itiegel,  Krankheiten  der  Trachea  und  der  Bronchien  (Bronchitis  catarrhalis;  Br. 
fibrinosa),  Ziemssen's  Handbuch  IV.  Bd.  2.  Hälfte,  Leipzig  1875. 

Ph.  JPJtöbuSf  Der  typische  Frühsommer-Kaiarrh  oder  das  sog.  Heufieber,  Giessen 
1862.  —  Biernier,  Idiosytikrasischer  Sommer -Katarrh,  l.  c.  p.  635.  — 
6r.  Sticker f  Der  Bostock'sche  Sommerkatarrh.  Nothnagels  spec.  Pathol.  u. 
Tlierapie  IV.  Bd.  IL  Theil  IL  Abthlg.,   Wien  1896,  p.  85. 

ßiermer,  Die  Lehre  vom  Ausivurf,  Würzburg  1855. 

Sam.  West,  Plastic  bronchitis.  The  Practitioner.  London  1889,  XLIII,  p.  83 
(mit  Litteratur). 

O.  ßeschoifier,  lieber  chronische  essentielle  fibrinöse  Bronchitis  (Bronchialcroup), 
Leipzig  1893  [Volkmann- s  Sammlung  N.  F.  Nr.  73]. 

Biermer,  Bronchiectasie,  l.  c.  (Virchow^s  Handbuch)  p.  734. 

Dechatnbre,  Article  „Anthracosis,  historique^'  im  Dict.  encyclop.  des  sciences  med. 
T.   V,  1866,  p.  248. 

JRossignol,  Recherches  anatomiques,  cliniques  et  experimentales  sur  la  nature  et 
les  causes  de  l'emphyseme  pulmonaire  (asthme  continu  des  anciens),  Bruxelles 
1849. 

W.  A.  Freund,  Der  Zusammenhang  gewisser  Lungenkrankheiten  mit  pi-imären 
Bippenknorpelanomalien.    Mit  7  Tafeln,  Erlangen  1859.  —   Vgl.  S.  618. 

Biertner,  Lungenemphysem,  l.  c.  (Virchow's  Handbuch)  p.  781. 

Th.  R,  Knauthe,  lieber  das  Substantive  Lungenemphysem.  Schmidfs  Jahr- 
bücher, Jahrgang  1874,  163.  Bd.  p.  169,  281  [Sammelbericht]. 

Hertz,  Anaemie  und  Oedem  der  Lunge,  Irnngenemphysem,  Lungenbrand  in  Ziems- 
sen's Handbuch,  V.  Band,  Leipzig  1874  (z.  Teil  gekürzt  in  3.  Aufl.,  Lpzg.  1887). 

E.  Wittche,    lieber    Geschichte    und   pathologische    Veränderungen    des   Lungen- 

emphysems.    Würzburger  Dissertation  1891. 

F.  A,  Hoffinann,  Emphysem  und  Atelektase.   Wien  1900  [NothnageVs  spec.  Patho- 

logie u.  Therapie  XIV.  Bd.  II.  Theil  III.  Abtheilung]. 

JE,  AvfrecJit,  Lungenentzündungen  in  NothnageVs  spec.  Pathol.  u.  Therapie 
XIV.  Bd.  I.  Hälfte  IL  Theil,  Wien  1899;  darin:  Die  Pneunionokoniosen 
p.  303 ;  Embolie,  Thrombose  und  Infarct  p.  381;  das  Lungencarcinom  p.  362; 
der  Lungendbscess  p.  410 ;  Lungengangrän  p.  419. 

Wintrich,  l.  c.  (Virchow's  Handbuch):  Hydrothorax  p.  365;  Pneumothorax  p.  336; 
Haemothorax  p.  362. 

A  Weil,  Zur  Lehre  vom  Pneumothorax,  insbesondere  vom  Pneumothorax  bei 
Lungenschwindsucht,  Leipzig  1882  (Separat  aus:  Deutsches  Archiv  f.  klin. 
Medicin  Bd.  25,  29,  31);  ferner  ibid.  Bd.  40,  1887. 

N.  Golubojf,  Das  Bronchialasthma  und  seine  Behandlung,  Leipzig  1899  [Samm- 
lung klinischer  Vorträge  Nr.  256157  —  enthält  eine  Geschichte  der  Krankheit]. 

*T  Paget  in  Goldscheider' s  und  P.  Jacob' s  Han dbuch  der  physikalischen 
Therapie,  Teil  I  Band  I,  Leipzig  1901:  Verschiedene  „historische  Einleitungen", 
zu  Pneumato-  und  InhalationstJwrapie  p.  181;  zu  Klimato-  und  Höhenluft- 
therapie p.  1  u.  s.  w. 

Von  den  Lungenalfektionen  kommen  bis  zu  der  Zeit,  da  die 
pathologische  Anatomie  auch  die  anderen  und  selteneren  (nicht 
tuberkulösen)  Krankheiten  der  Lunge  unterscheiden  lehrte,  eigentlich 
nur  Pneumonie  und  Pleuritis  in  Betracht.  Und  selbst  diese  hat  eine 
frühere  Zeit,  obschon  ihr  beide  Affektionen  wohl  bekannt  waren,  nicht 
so,  wie  es  uns  als  selbstverständlich  erscheint,  auseinandergehalten, 
was  in  der  keineswegs  einheitlichen,  fast  verwirrenden  Nomenklatur 
genugsam  zum  Ausdruck  kommt.     Im  allgemeinen  heisst  die  akute 


Lungenkrankheiten.  615 

Limj^enentzündung  bei  den  Hippokratikern  und  den  späteren  Autoren, 
eigentlich  bis  in  das  19.  Jahrhundert  herein  TiegntrevLiovia  (auch 
7teqL7clev(.iovia),  während  TtlevQlxLg  mehr  den  Seitenstich,  oft  bloss  rein 
symptomatisch,  bezeichnet.  Erschwerend  ist  der  Umstand,  dass  man 
beide  Affektionen  nur  mehr  gradweise  verschieden  sein  Hess  und  ihr 
nicht  so  seltenes  gleichzeitiges  Vorkommen  nicht  zugeben  wollte.  Die 
akuten  Lungen  äff ektionen,  welche  Hippokrates  unter  verschiedenen 
Bezeichnungen  beschreibt:  o  7ilevf.iu)v  oiöiiov  vtio  %ffi  d^eQuaoir^g  ircegl 
rovacüv  III,  7  —  Edit.  Kühn  II,  297.  Uebersetzung  Fuchs  TI,  466), 
oder  7tXtvf.ia)v  Ttlr^od-dg  (ibid.  II,  58  —  Kühn  II,  274;  Fuchs  II  449), 
aQd^qa  [äoQzga  nach  anderer  Lesart]  roh  jtXevf.iovog  onaoS^evia  (ibid. 
II.  54  —  Kühn  II,  268 ;  Fuchs  II,  445)  lassen  sich  in  Anbetracht  der 
Dj^spnoe  („aufgeblähte  Nasenlöcher,  wie  ein  Pferd  nach  dem  Eitt"), 
der  zuweilen  blutigen  Sputa,  des  Entscheids  am  vierten  oder  besser 
siebenten  Tag  ganz  wohl  als  akute  Pneumonien  deuten.  Das  „Auf- 
fallen der  Lunge  auf  die  Seite'"  —  o  Tcl6vf.ia}v  TtQoqrteoiov  ig  rb  tiXsvqöv 
{TteQi  vovotov  II,  59  —  Kühn  II,  275 ;  Fuchs  II,  450)  —  entspricht  aber 
mehr  unserer  (exsudativen)  Pleuritis  mit  dem  Ausgang  in  „Empyem" 
und  dementsprechender  operativer  Behandlung,  die  den  Hippokratikern 
geläufig  gewesen  zu  scheint.  Darüber  wären  auch  zur  Vermeidung 
von  Wiederholungen  die  einschlägigen  Stellen  bei  dem  Abschnitt 
„Perkussion  und  Auskultation"  (S.  605)  zu  vergleichen.  Auch  vom 
Ausgang  in  Schwindsucht  {cpd^ioig)  ist  vielfach  die  Rede,  vielleicht 
auch  von  dem  in  Brand  {•/.way.aL  TTqoyviboe.ig  —  Kühn  I,  302,  Fuchs 
II,  63  Nr.  401),  wenn  der  Auswurf  als  aus  schwarzen,  russigen 
Massen  bestehend  geschildert  oder  mit  „dunkelm  Wein"  verglichen 
wird  bei  einer  ausdrücklich  als  tödlich  bezeichneten  Affektion. 
üeberhaupt  ist  in  den  koischen  Prognosen  (Kühn  I,  293—306; 
Fuchs  II,  56  ff.,  Littre  §  20  Nr.  373—424)  viel  Prognostisches  von 
..Pleuritikern  und  Peripleumonikern"  angeführt;  dass  freilich  die 
..turnerisch  geübten  und  festen  Körper  eher  erliegen,  als  die  un- 
geübten" (Nr.  392  —  Kühn  I,  299)  will  uns  befremdlich  erscheinen, 
während  andererseits  (Nr.  423  —  Kühn  I,  306)  gesagt  ist,  dass  an  den 
aus  Lungenentzündung  sich  entwickelnden  „Empyemen"  mehr  die  Be- 
jahrten zu  Grunde  gehen.  Aphor.  VII,  11  wird  eine  auf  Seitenstechen 
folgende  TtegmAev/iioviri  als  ein  schlimmes  Ding  bezeichnet,  wozu  auch 
koische  Prognosen  (Fuchs  II,  56  Nr.  391)  zu  vergleichen  ist.  Im 
übrigen  gilt  der  bald  nach  Hippokrates  (in  Athen?)  lebende 
Diokles  von  Karystos  als  derjenige,  welcher  zuerst  die  Pleuritis  in 
das  Brustfell,  die  Lungenentzündung  in  die  Lungensubstanz,  und  zwar 
in  die  Venen  verlegte,  während  Erasistratus  die  Arterien  ver- 
mutete. —  Eine  Erklärung  der  Pleuritis  giebt  Galen  an  ver- 
schiedenen Stellen,  so  De  locis  atfectis  Lib.  II  (Edit.  Kühn  VIII,  77): 
f]  fcXtvQlxLg  vöar^t-C  iazl  xov  tag  TtXevqag  vTtotwAOTog  vfiivog ;  ebenso  Lib.  V 
(Kühn  VIII,  326),  wo  sie  als  „fphyfwvrj-^  dieser  Membran  bezeichnet 
ist  —  vgl.  auch  den  Kühnschen  Index  (Bd.  XX),  S.  488.  Aretaios 
von  Kappadocien  (/regl  ahiibv  xai  or^^eiCbv  d^etov  y.al  xgoviwv  nad-wv 
Lib.  II  cap.  I  —  TteQL  7tvevf.iovir}g)  definiert  die  „TiegiTivet/iiovir]^'  als 
„Entzündung  {(pley^ovri)  der  Lunge  mit  akutem  Fieber",  die  an  sich 
keine  Schmerzen  mache,  wenn  nicht  die  umgebende  Membran  zugleich 
entzündet  sei.  Nicht  viel  anders  sind  die  Anschauungen  des  A 1  e  x  a  n  d  e  r 
von  Tralles,  welcher  den  Symptomen  der  Lungenentzündung  das 
2.  Kapitel   des   5.  Buches    (Edit.  Buschmann  II  S.  151),  der  eigent- 


616  Hermann  Vier  ordt. 

liehen  „yrAgy^img"  und  ihrer  Therapie  das  ganze  6.  Buch  (Pusch- 
mann  II,  229)  widmet  Auch  Paulos  von  Aegina  (Lib.  III  cap.  30) 
ist  zu  erwähnen,  nicht  minder  Caelius  Aurelianus  (de  morbis 
acutis  et  chronicis  II,  18 — 29).  Dagegen  ist  die  Schilderung  des 
wesentlich  an  Hippokrates  sich  anlehnenden  Corn.  Celsus 
(Lib.  IV  cap.  6  u.  7)  ziemlich  dürftig.  In  van  Swieten's 
Commentaria,  Kapitel  „Peripneumonia  vera"  (Bd.  II  §  820  ff.)  und 
„Pleuritis"  (Bd.  III  §  875)  sind  die  Anschauungen  des  Altertums 
ausführlich  wiedergegeben,  ohne  dass  beide  Affektionen  genügend  aus- 
einandergehalten sind;  desgleichen  findet  man  sie  zusammengestellt, 
namentlich  auch  mit  Berücksichtigung  Galens,  bei  Buschmann 
in  der  Einleitung  zu  Alexander  von  Tralles  p.  190. 

Die  therapeutischen  Grundsätze  der  Alten  sind  keineswegs  durch- 
aus verwerflich;  vielfach  war  ein  mehr  kühlendes  Verfahren  im  Ge- 
brauch, so  bei  Hippokrates,  und  die  Anwendung  des  Aderlasses 
scheint  sich,  freilich  nicht  ohne  Ausnahmen  (tisqI  öiaitr]g  ö^ecov  vöd-a  — 
Appendice  bei  Littre  11  p.  457;  Edit.  H.  Kühlewein,  Vol.  I  S.  162, 
Lipsiae  1894)  in  massigen  Grenzen  gehalten  zu  haben.  Die  ohnedies 
im  wesentlichen  an  Galen  sich  haltenden  Araber,  vor  allen 
Ehazes  und  Avicenna,  bringen  nichts  neues  bei  und  das  gleiche 
gilt  von  dem  ganzen  Mittelalter.  In  therapeutischer  Beziehung 
hatten  die  blutscheuen  Araber  im  Anschluss  an  Oreibasios  bei  der 
akuten  Entzündung  der  Brustorgane  die  Methode  der  „Eevulsion" 
ausgebildet,  den  geringfügigen  oder  gar  nur  tropfenweisen  Aderlass 
aus  einer  ganz  entfernten  Vene.  Es  erregte  einen  Sturm  der  Ent- 
rüstung und  wurde  einer  wahren  Häresie  gleich  erachtet,  als 
Pierre  Brissot  (1478 — 1522),  auf  Hippokrates  zurückgreifend, 
wieder  den  ergiebigeren  Aderlass  in  der  Nähe  des  erkrankten  Teils, 
bei  der  „Pleuritis"  an  der  Armvene  der  leidenden  Seite,  die  „Deri- 
vation" empfahl  und  auch  praktisch  erprobte,  so  namentlich  bei  einer 
„Pleuritis "-Epidemie  in  Evora,  Portugal,  wohin  er  sich  vor  den  Ver- 
folgungen seiner  Feinde  geflüchtet  hatte.  Seine  berühmte  „Apolo- 
getik" (s.  Lit.),  eine  Antwort  auf  eine  Schrift  des  portugiesischen 
Leibarztes  D  i  o  n  y  s  i  u  s ,  auch  als  Quellenwerk  über  die  Ansichten  der 
Alten  von  Bedeutung,  erschien  erst  drei  Jahre  nach  seinem  Tode, 
herausgegeben  von  seinem  Freunde  Ant.  Luceus. 

Erst  das  18.  Jahrhundert  hat,  wenigstens  bezüglich  der  Beob- 
achtung am  Krankenbette,  gewisse  Fortschritte  zu  verzeichnen,  obwohl 
das  Zusammenwerfen  von  Peripneumonie  und  Pleuritis  noch  keines- 
wegs überwunden  ist,  oder  gelegentlich  gar  (in  Anlehnung  an  Hippo- 
krates, Ttsql  x6rc(x}v  TCüv  y.aT  ävd-QWTtov,  XIV.  Kühn  II,  121,  Fuchs 
II,  579)  die  Peripneumonie  als  eine  doppel-,  die  Pleuritis  als  eine 
einseitige  Lungenaffektion  aufgefasst,  also  nur  eine  Differenz  dem 
Grade  nach  angenommen  wird  (s.  Litt.:  Schrödters  Dissertation 
von  1679).  Die  Doppelbezeiclinung  gebraucht  zuerst  Vincenzio 
Baronio,  „De  pleuripneumonia  . .  .  libri  II,  Forlivii  1636.  —  Hatte 
nochBaglivi  den  resignierten  Ausspruch  gethan:  „0  quam  difficile 
curare  morbos  pulmonum,  o  quanto  difficilius  eosdem  cognoscere!", 
so  wusste  auch  Borsieri  (Institutiones  medicae  practicae  . . .  Mailand 
1781  ff.)  zwischen  Pleuritis  und  Pneumonie  als  einzigen  Unterschied 
lediglich  „den  heftigen  und  anhaltenden  Schmerz"  aufzustellen.  Aehn- 
lichen  Standpunkt  vertrat  Michele  Sarcone,  „vielleicht  der  be- 
deutendste   Praktiker   des   18.   Jahrhunderts"    (Laennec),    und    auch 


Lungenkrankheiten.  617 

später  noch  glaubte  Aug.  Gottl  Ei  cht  er  (Specielle  Therapie  I 
p.  171)  die  von  den  Nosologen  aufgestellten  Unterscheidungsmerkmale 
zwischen  Pneumonie  und  Pleuritis,  als  am  Krankenbette  und  in  der 
Natur  nicht  Stich  haltend,  nicht  anerkennen  zu  sollen,  hielt  sogar  die 
Unterscheidung  als  bedeutungslos  für  den  Praktiker,  „da  die  Kur- 
methode dieser  verschiedenen  Entzündungen  wenig  voneinander  ab- 
weiche" (vgl.  auch  Voigt  el.  Handbuch  der  pathologischen  Anatomie, 
2.  Bd.,  Halle  1804,  p.  248).  Dabei  fällt  es  fast  auf,  dass  C.  v.  Linne 
in  seinen  bekanntlich  kaum  massgebenden  „Genera  morborum" 
Upsaliae  1763  deutlich  unterscheidet  (theoretisch?):  Xr.  27  Pleuritis  = 
Inflammatio  pleurae.  Nr.  37  Peripneumonia  =  Inflammatio  pulmonis; 
ferner  Pleuritica  =^  Thoracis  dolor  lateralis  punctorius ;  Pneumonica  = 
Pulmonis  dolor  (cum  Orthopnoea,  tussi,  haemoptysi).  Nicht  uninteres- 
sant ist  im  Vergleich  hierzu  die  lange  Keihe  von  Synonyma,  die 
Boissier  de  Sau  vages  in  seiner  für  Linne  vorbildlichen  „Noso- 
logia  methodica"  bei  Pleuritis  (Klasse  III  Nr.  XXI)  und  Peripneumonie 
(Nr.  XIII)  aufzählt.  Auch  Charles  Barbeyrac  (f  1699)  könnte  als 
einer  der  wenigen  angelührt  werden,  welche  Brustfell-  und  Lungen- 
entzündung schärfer  zu  trennen  bestrebt  waren  (Dissertations  nouvelles 
sur  les  maladies  de  la  poitrine,  du  coeur  etc.).  Im  übrigen  ist  die 
Zahl  der  Abhandlungen  und  namentlich  Dissertationen  über  Pleuritis 
Vera  und  ..uotha".  Peripneumonia  u.  s.  w.  im  18.  Jahrhundert,  zumal 
in  Deutschland,  eine  überaus  grosse. 

Ausdrücke  wie  Pleuresch,  Pleures  (echte,  falsche  und  verkehrte), 
Fleiresin  (aus  TtXevQlrig)  sind  auch  in  die  (medizinische)  Vulgärsprache  über- 
gegangen (s.  M.  Wolf  1er,  Deutsches  Krankheitsnamen-Buch,  München  1899, 
p.  474) ;  auch  die  in  Norddeutschland  verbreitete  Bezeichnung  „Fleier" 
gehört  hierher. 

Dieser  unfruchtbaren,  rein  symptomatischen  Anschauungsweise 
gegenüber  war  Laennec's  Betonung  des  anatomischen  Standpunktes, 
wodurch  die  pathologische  Anatomie  der  Lungenentzündung  mit  der 
klinischen,  von  ihm  selbst  in  so  genialer  Weise  ausgebauten  Sympto- 
matologie in  (fast  übertreibend  genauen)  Einklang  gebracht  wurde, 
eine  erlösende  That.  Einiges  in  pathologisch-anatomischer  Beziehung 
hatte,  ohne  sich  übrigens  von  den  Alten  ganz  zu  emanzipieren,  J.  B. 
Morgagni  vorgearbeitet,  indem  er  wenigstens  die  Möglichkeit  des 
getrennten  Vorkommens  von  Pleuritis  und  Pneumonie  erkannte 
(Epist.  XX,  37  if.;  XXI,  37  ff.);  freilich  vermochte  er  die  in  ihrer  Art 
ausgezeichneten  Arbeiten  von  Lazare  Ei  viere  (gest.  1655  —  Praxis 
medica  Lib.  VII  cap.  2  pag.  248 — 253),  der  schon  eine  Differential- 
diagnose zwischen  Pleuritis  spuria  und  legitima  versucht,  sowie  von 
Ysbrand  van  Diemerbroeck  (gest.  1674  —  Anatome  corporis 
humani  Lib.  II  cap.  XIII  pag.  309j,  welcher  zwei  Fälle  von  Pleuritis 
mit  reichlichem  Exsudat  ohne  Beteiligung  der  Lungen  beschreibt, 
seinerseits  nicht  rückhaltslos  anzuerkennen.  Laennec  hat  mit  der 
Aufstellung  verschiedener,  allerdings  nicht  gar  so  streng  zu  trennender 
Stadien  (degre)  der  Pneumonie,  Engouement  (Bayle),  Anschoppung  mit 
der  Crepitation,  Hepatisation  (Laelius  a  Fönte  in  Venedig  ca.  1600, 
s.  bei  Morgagni,  Epist.  XXI  Art.  28)  mit  Bronchialatmen.  Infiltration 
purulente  mit  Subcrepitation  und  gröberen  Geräuschen,  viel  Klarheit 
und  Verständnis  des  pathologisch-anatomischen  Prozesses  geschaffen, 
durch  die  parallel  gehende  genaue  Festlegung  der  objektiven  Zeichen 


618  Hermann  Vierordt. 

auch  die  Beobachtung  der  Krankheit  mächtig  gefördert,  ferner  im 
Gegensatz  zur  bisherigen  gewaltsamen  und  schwächenden  Therapie 
der  „physiologischen  Medizin"  unter  Fr.  Jos.  Vict.  Broussais  (1772 — 
1838)  eine  rationellere  Behandlung  mit  wirksamen  Mitteln,  China 
(auch  Tartarus  stibiatus)  und  Stimulantien,  eingeführt.  Laennec 
kannte  auch  das  Zurücktreten  der  physikalischen  Zeichen  bei  der 
centralen  Pneumonie  und  schuf  die  genaue  Differentialdiagnose  gegen- 
über den,  perkussorisch  schon  durch  Auenbrugger  genugsam  unter- 
schiedenen Ergüssen  in  das  Brustfell.  Nach  pathologisch-anatomischen 
und  zugleich  praktisch-medizinischen  Gesichtspunkten  unterschied  er 
8  Arten  der  Pleuritis  (s.  Traite,  Partie  II  Sect.  IV  Chap.  I),  worunter 
namentlich  das  konsekutive,  von  ihm  genau  geschilderte  und  ab- 
gebildete (Tafel  II)  „retrecissement  de  la  poitrine"  und  die  „pleuresie 
seche",  als  eine  Art  der  partiellen  oder  circumskripten  Pleuritis,  an- 
geführt sein  mögen.  Dass  noch  vor  Laennec  Philipp  Pinel  (1745 — 
1826:  Nosographie  philosophique  t.  II  p.  408,  Paris  1818)  die  Pleuritis 
in  die  Entzündung  der  serösen  Häute  eingereiht  hat,  soll  nicht  un- 
erwähnt bleiben. 

Nach  Laennec  haben  sich  noch  verschiedene  Franzosen  um  die 
Kenntnis  der  Pneumonie  verdient  gemacht,  unter  denen  ausser  Andral 
und  Piorry  Augustin  Grisolle  wegen  seiner  Monographie  (s.  Litt.) 
namhaft  gemacht  sein  mag  —  vgl.  Wunderlich,  Handbuch  der 
Pathologie  u.  Therapie,  3.  Bd.,  2.  Aufl.,  Stuttgart  1856,  p.  298. 

Deutschland  blieb  diesen  und  auch  anderen  z.  B.  englischen 
(Stokes,  Walshe)  Forschungen  gegenüber  zunächst  zurück,  bis  in 
C.  Kokitansky  (Handbuch  der  patholog.  Anatomie,  III.  Bd.,  Wien 
1842,  p.  84)  die  anatomische  Darstellung  der  genuinen  „croupösen" 
Pneumonie  ihren  unübertrolfenen  Meister  fand  und  Skoda  in  der 
Zeichenlehre  der  Pneumonie  wie  Pleuritis  eine  weitere  Vertiefung  und 
Verfeinerung  unserer  Kenntnisse  herbeiführte,  zugleich  auch  durch 
seinen  therapeutischen  Skeptizismus  mit  den  Anstoss  zu  Aenderungen 
in  den  Grundsätzen  der  Therapie  gab.  Nachdem  schon  Broussais' 
erklärter  Gegner  P.  Ch.  AI.  Louis  (1787  —  1872),  der  hochverdiente 
Kliniker  und  Begründer  der  „methode  numerique"  mit  seinen  „  Recher- 
ches  sur  les  effets  de  la  saignee  .  .  ."  1835  den  Nutzen  des  Aderlasses, 
mindestens  des  frühen,  in  der  Pneumonie  sehr  in  Frage  gestellt  hatte, 
erregte  auf  deutschem  Boden  Dietl's  (s.  Litt.)  erfolgreicher  Angriif 
auf  die  prinzipielle  Aderlassbehandlung  der  Lungenentzündung  Auf- 
sehen; im  weiteren  Verlauf  der  von  Dietl  hervorgerufenen  Bewegung 
wurde  der  Aderlass  in  vielleicht  allzu  radikaler  V^eise  aus  dem  Heil- 
apparat des  inneren  Arztes  verbannt. 

Experimentelle  Studien  über  Entzündung  der  Pleura  machte 
Win  trieb  (1.  c.  p.  230),  ebenso  fand  die  Histologie  der  „Pseudo- 
membranen", des  Exsudats  und  Transsudats  —  vgl.  namentlich 
Virchow  „Ueber  den  Faserstoff"  in  „Ges.  Abhandlungen"  1856 
p.  57  —  vielfach  Bearbeiter.  Auch  der  Versuch  der  Wiederbelebung 
der  alten  (hippokratischen  und  galenischen)  Lehre  von  den  kritischen 
Tagen  durch  L.  Traube  1851/52  (Ges.  Beiträge  ...  Bd.  II  p.  235, 
689)  darf  nicht  übergangen  werden,  —  Die  Temperaturverhältnisse 
bei  Pneumonie  haben  hauptsächlich  in  C.  A.  W  u  n  d  e  r  1  i  c  h  (Verhalten 
der  Eigenwärme  in  Krankheiten,  Leipzig  1868)  ihren  exakten  Be- 
obachter und  Beschreiber  gefunden. 

Die  Pneumonie  der  Kinder  haben  zuerst  J.Cruveilhier  ( Archives 


Lungenkrankheiten.  619 

gener.  de  med.  IV,  1824,  p.  169),  dann  Guersant,  Yalleix, 
Grisolle,  Killiet  et  Barthez,  von  anderen  zu  schweigen,  ge- 
nauer studiert;  die  Monographie  H.  Ziemssens  is.  Litt.)  sei  aus- 
drücklich erwähnt.  Cruveilhiers  Ausspruch,  dass  ebenso  viele 
Neugeborene  an  Lungenerkrankungen  sterben,  als  Erwachsene,  war 
für  seine  Zeit  ein  gewichtiges  Wort. 

Die  Greisenpneumonie  ist  seit  Hourman  et  Dechambre 
(Archives  gener.  de  med.  3^  ser.  1836,  t.  X)  öfters,  namentlich  auch 
von  französischer  Seite, behandelt  worden  (s.  Wunderlich  1.  c.  Hand- 
buch 3.  Bd.,  p.  299;  E.  Dermo nt.  De  la  pneumonie  des  vieillards, 
These  de  Montpellier  1884  p.  11).  —  Die  besondere  Form  der  Pleuritis 
(Empyema)  puls  ans  (vgl.  Litt.  S.  613)  ist  schon  von  G.  de  Baillou 
(Ballonius,  gest.  1616)  gesehen,  aber  erst  von  E.  L.  Mac  Donneil 
(Montreal),  früherem  Assistenten  von  Graves  und  Stokes,  1844 
(Dublin  Journal  of  med.  and  chemical  science.  Vol.  XXV)  eingehender 
gewürdigt  worden. 

In  neueren  Zeiten  ist  nun  bei  der  Pneumonie  wie  Pleuritis  mehr 
der  ätiologische,  nicht  bloss  mit  „Erkältung"  sich  begnügende  Stand- 
punkt zur  Geltung  gekommen.  Hatten  in  früheren  Zeiten  schon  einzelne 
(Sydenham)  die  Pneumonie  oder  Pleuritis  als  Lokalisation  einer 
Blutkrankheit  aufgefasst,  Grisolle  für  manche  Fälle  von  Pneumonie 
ein  unfassbares  verborgenes  Agens  (,.cause  occulte,  insaisissable") 
vermutet,  Parrot  (Gaz.  hebd.  1871)  die  Pneumonie  als  ,,fievre  her- 
petique  avec  manifestation  sur  le  poumon"  bezeichnet,  so  ist  die  An- 
erkennung der  echten  krupösen  Lungenentzündung  als  einer  Infektions- 
krankheit immer  mehr  zur  Geltung  gekommen.  Th.  Jürgensen  ist 
wohl  derjenige  gewesen,  welcher  zuerst  aus  dem  Verhalten  der 
Pneumonie  nach  ätiologischen,  experimentellen  und  besonders  klinischen 
Gesichtspunkten  den  infektiösen  Charakter  der  Krankheit  erschlossen 
und  nachdrücklich  vertreten  hat;  so  schon  in  seiner  Darstellung  der 
krupösen  Pneumonie  in  Ziemssens  Handbuch  1875  p.  153,  143: 
„Die  Annahme  eines  specifischen  Krankheitserregers  ist  notwendig"  . .  . 
„Die  krupöse  Pneumonie  gehört  also  zu  der  Gruppe  der  Infektions- 
krankheiten" . . .  Die  Erkältung  liess  er  nur  noch  als  „seltene  Ge- 
legenheitsursache" gelten,  während  z.  B.  noch  1886  A.  Hirsch 
(Histor.-geograph.  Pathol.,  2.  Bearbeitung,  Dritte  Abteilung,  p.  103  ff.) 
bei  Besprechung  der  Pneumonie  -  Epidemien  und  dem  von  ihm  be- 
dingungsweise anerkannten  infektiösen  Charakter  der  Krankheit  die 
Erkältungspneumonie  „nicht  aus  der  Nosologie  streichen"  möchte. 
In  der  That  wurde  dann  auch  der  Krankheitserreger  bald  nach- 
gewiesen, nach  ersten  Anläufen  von  E.  Klebs,  Eberth,  R.  Koch, 
durch  C.  Friedländer  1882  und  mit  der  hinreichenden  experimen- 
tellen Begründung  1883  (s. Litt).  Der  von  Friedländer  im  Verein 
mit  Frobenius  gezüchtete  „Pneumonie-Mikrococcus"  wurde  zwar 
von  A.  Fränkel  (Verhandlungen  des  Congresses  für  innere  Medicin, 
3.  Congress  in  Berlin,  Wiesbaden  1884,  p.  17)  nicht  in  vollem  Um- 
fang bestätigt,  insbesondere  die  „Kapsel"  und  das  sog.  „nageiförmige 
Wachstum"  wurden  von  ihm  als  keineswegs  wesentlich,  den  Pneumonie- 
coccus  als  solchen  auszeichnend  hingestellt.  Von  anderen  Unter- 
suchungen abgesehen  stellte  Weichsel  bäum  die  Thatsache  fest, 
dass  bei  „Pneumonie"  verschiedene  ^Mikroben  vorkommen  und  dass 
der  meist  ovale  „Diplococcus"  (lanceolatus)  am  häufigsten  vertreten 
sei,  dass  aber  auch  ein  „Bacillus"   pneumoniae  (Friedländer)  ange- 


620  Hermann  Vierordt. 

nommen  werden  müsse,  mithin  eine  Einheitlichkeit  des  pneumonischen 
Virus  eigentlich  nicht  existiere.  Andererseits  hat  der  Diplococcus 
auch  bei  allerlei  Affektionen,  welche  an  eine  Pneumonie  anschliessen, 
Pleuritis,  Meningitis,  Peritonitis  und  dann  wieder  in  normalem 
ßronchialsekret  und  Sputum  sich  nachweisen  lassen.  Auch  Strepto- 
coccen-Pneumonien sind,  freilich  wohl  nur  sehr  selten  primär,  be- 
obachtet (Weichselbaum)  und  als  sicher  sekundär  solche  durch 
Staphylococcus  pyogenes  aureus  et  albus. 

In  ähnlicher  Weise  wurde  von  der  Pleuritis,  soweit  sie  über- 
haupt als  eine  „primäre"  angesehen  werden  konnte,  der  Nachweis 
von  allerlei  Mikroben  erbracht,  meist  Streptococcenarten.  Jedenfalls 
ist  auch  hier  keine  Einheitlichkeit  des  Virus  vorhanden,  die  umso- 
weniger  anzunehmen  ist,  als  eine  Reihe  von  scheinbar  selbständig 
entstandenen  Pleuritiden  auf  tuberkulöser  Grundlage  beruht.  Die 
„metapneumonischen"  mehr  bei  jüngeren  Individuen,  auch  in  Endemien 
auftretenden  Pleuritiden  (Empyeme),  welche  durch  den  Pneumonie- 
coccus  verursacht  sind,  hat  Netter  (Bullet,  et  mem.  de  la  soc.  med. 
des  hopitaux  de  Paris,  3®  serie,  6*  annee,  1889)  zuerst  beschrieben.  — 
Die  Therapie  der  Pleuritis,  die  in  diagnostischer  Beziehung. durch 
die  Probepunktion  mit  der  Pravazschen  Spritze  (zuerst  vorgeschlagen 
von  Mader,  Wiener  med.  Wochenschrift  1866  p.  301;  1868  19.  Sept. 
erstmals  geübt  bei  einer  Cyste  von  Bernhard  Arnold  in  Donzdorf, 
Med.  Corresp.-Blatt  des  Württ.  ärztl.  Vereins  39.  Bd.  1869  p.  269) 
wesentlich  gefördert  wurde,  ist  zum  grossen  Teil,  jedenfalls  mit  den 
eitrigen  und  veralteten  Ergüssen  mit  Recht  der  Chirurgie  zugefallen, 
die  sich  seit  Trousseau  in  einer  stattlichen  Reihe  von  Operations- 
methoden mit  wechselndem  Glück  versucht  hat.  Die  „antiseptische" 
Pleurotomie  scheint  zuerst  1873  Ewart  in  Calcutta  vollführt  zu 
haben  (s.  darüber  viele  Notizen  bei  E.  Cestan,  Litt.  S.  608).  Die 
alte  Uebung  des  Bruststiches  hat  durch  C.  Gerhardt  eine  zusammen- 
fassende und  übersichtliche  Darstellung  erfahren. 

Von  sonstigen  entzündlichen  Affektionen  der  Lunge  sei  die 
Katarrhalpneumonie  genannt,  deren  erste  deutliche  Beschreibung 
freilich  in  verhältnismässig  späte  Zeit  fällt.  Jürgensen  (1.  c.)  stellt 
einige  diesbezügliche  Angaben  zusammen.  Von  alten  Autoren  ist 
höchstens  A  e  t  i  u  s  von  Amida  (6.  Jahrhundert)  anzuführen,  dann  aber 
Th.  Sydenham  und  ihm  eng  sich  anschliessend  van  Swieten 
(Bd.  II  §  867 — 74).  Aus  Morgagni  möchte  Jürgensen  einen 
Sektionsbefund  bei  einem  14  tägigen  Mädchen  der  Katarrhalpneumonie 
zuweisen  (Lib.  II  Epist.  XX  Art.  15). 

Hatte  man  früher  in  solchen  Fällen  wohl  von  Peripneumonia 
notha  (z.  B.  A.  G.  Richter  1813)  oder  auch  Pneumonia  „notha"  ge- 
sprochen, .  vermochte  auch  L  a  e  n  n  e  c  über  gewisse  symptomatische 
Bezeichnungen,  wie  „Catarrhe  suffocant",  nicht  hinauszukommen,  so 
sind  einzelne  der  späteren  Franzosen  schon  deutlicher;  ich  nenne 
Rilliet  et  Barthez,  bei  denen  (Traite  1. 1  Chap.  X,  3.  edit.  p.  594) 
eine  genauere  geschichtliche  Skizze  der  Bronchopneumonie  zu  finden 
ist,  dann  auch  Grisolle,  welcher  schon  eine  Pneumonie  lobulaire, 
mamelonnee  (der  Kinder)  unterscheidet.  Die  Bezeichnung  Katarrhal- 
pneumonie gebraucht,  freilich  nicht  genau  mit  der  jetzigen  Auffassung 
übereinstimmend,  der  die  erworbene  und  oft  falsch  gedeutete  Atelek- 
tase wohl  kennende  Fr.  L.  Legendre,  den  Ausdruck  „lobuläre 
Pneumonie"   F.  Bournet  1833   (Journal  univ.   et  hebd.  de  med.  et 


Lungenkrankheiten.  621 

chir.  prai).  Von  der  „BroncMopneumonie  der  Neugeborenen  und 
Säuglinge"  handelt  Phil.  M.  Seifert  1837;  um  die  Erforschung  der 
angeborenen  und  erworbenen  Atelektase  der  Lungen  hat  sich  Ed.  Jörg 
(Die  Fötuslunge  im  geborenen  Kinde  . . .  Grimma  1835  —  erweiterte 
Bearbeitung  der  Dissertation:  De  morbo  pulmonum  organico  .  .  . 
Lipsiae  1832}  besonders  verdient  gemacht  und  damit  auch  die  Lehre 
von  der  Katarrhalpneumonie  bedeutend  gefördert.  Die  grobe  patho- 
logische Anatomie  der  „lobulären  Pneumonie  der  Kinder"  legte  an 
grossem  Material  Joh.  Steiner  (Prager  Yierteljahrsschrift  1862  Bd.  3) 
fest,  die  Masernpneumonie  und  deren  Therapie  studierte  Bartels 
(Virchows  Archiv  21.  Bd.  1861  p.  65,  129),  H.  Ziemssen  (L.  c.)  den 
Temperaturverlauf  und  L.  Buhl  (Lungenentzündung,  Tuberkulose 
und  Schwindsucht,  München  1872)  die  histologischen  Vorgänge  („Des- 
quamativpneumonie"). 

Bronchialkatarrh.  Die  alte  Zeit  leitete  die  Schleimflüsse 
aus  dem  Gehirn  ab  und  es  dauerte  lange,  bis  dieser  unbegreiflich 
hartnäckige  Best  hippokratisch-galenischer  Doktrin,  gegen  die  übrigens 
schon  Hier.  Cardanus  und  J.  B.  van  H e  1  m o n t  angekämpft  hatten, 
durch  J.  Yict.  Schneider's  unvergessene  Schrift  „De  catarrhis", 
Vitenbergae  1660  endgültig  beseitigt  wurde.  —  Sonst  lief  der  gewöhn- 
liche Katarrh  der  Bronchien  unter  allerlei,  oft  rein  symptomatischen 
Namen,  und  gewiss  auch  dem  der  „Peripneumonia  notha"  (Sydenham, 
Huxham).  Bei  Max.  St  oll  findet  sich  eine  „Angina  bronchialis". 
Der  von  Laennec  nicht  gebilligte  und  durch  Catarrhe  pulmonaire 
ersetzte  Ausdruck  Bronchitis  wird  zuerst  gebraucht  von  Ch.  B  a  d  h  a  m 
(An  essay  on  Bronchitis,  2.  Aufl.  übers,  von  L.  A.  Kraus,  Bremen 
1814),  dann  auch  bei  Joh.  Peter  Frank  (Interpretationes  clinicae 
observat.  electarum  Tubingae  1810  p.  110  —  „Br.  lethalis"  bei  einer 
25jährigen  Frau).  Nach  Laennec  ist  der  Lungenkatarrh  „sans 
contredit  une  des  maladies  les  plus  frequentes" ;  er  unterschied  schon 
den  akuten  und  chronischen  Schleimkatarrh.  Bei  den  späteren  Autoren 
sind,  wie  bei  B  i  e  r  m  e  r  1 1.  c.  p.  649)  zusammengestellt  ist,  z.  T.  ziem- 
lich komplizierte  Einteilungen  zu  finden;  den  Ausdruck  „Bronchitis 
capillaris"  scheinen  A.  L.  de  la  Berge  et  Ed.  Monneret  (Com- 
pendium  de  medecine  pratique  .  .  .  Paris  1836—46),  dann  A.  M.  Fau- 
vel  (Pariser  These  von  1840)  zuerst  eingeführt  zu  haben.  Die 
schwereren  Formen  der  Bronchitis  der  Kinder  sind  von  den  eigentlichen 
Bronchopneumonien  nicht  immer  streng  getrennt  gehalten  worden 
(vergl.  0.  S.  615).  Die  geographische  Verbreitung  der  „katarrhalischen 
Krankheiten"  der  Atmungsorgane  behandelt  Hirsch  in  seinem  Hand- 
buch 3.  Bd.  p.  1. 

Hier  sei  der  bezüglich  seiner  Aetiologie  eine  gewisse  Sonder- 
stellung einnehmende  Catarrhus  aestivus  (Heufieber,  Heuasthma) 
eingereiht.  Der  englische  Arzt  Jolm  B  o  s  t  o  c  k ,  nach  dem  die  Affektion 
vielfach  auch  benannt  wird,  hat  sie  an  sich  selbst  zuerst  1819  ge- 
schildert (Medico-chirurg.  Transact.  Vol.  X)  als  „a  periodical  aftection 
of  the  eye  and  ehest",  nachdem  vor  ihm  Heberden  mit  kurzen 
Worten  eines  im  Sommer  auftretenden  lästigen  Katarrhs  Erwähnung 
gethan.  Im  Jahr  1828  (2.  Mitteilung  Bostocks  Trans.  Vol.  XIV) 
ist  bereits  die  Bezeichnung  „Catarrhus  aestivus  or  summer  catarrh" 
acceptiert.  Als  Ursache  der  Krankheit  vermutete  man  schon  früher 
die  Emanationen  gewisser  Pflanzen ;  Gordon  1829  dachte  mehr  bloss 
an   die  Riechstoffe,  Elliotson   1831  u.  a.  an  den  Blütenstaub,  den 


622  Hermann  Vierordt. 

Pollen,  was  dann  (1873)  Blackley  besonders  auch  experimentell 
bestätigte.  Aus  dem  Jahr  1862  ist  die  allerdings  umständliche,  aber 
verdienstliche  Monographie  von  Ph.  Phöbus  (s.  Litt.)  zu  erwähnen. 

Die  Bronchitis  fibrinosa  s.  crouposa  ist  in  früheren 
Zeiten  bekannt  gewesen,  da  man  von  ausgeworfenen  Lungengefässen 
(Galen,  Tulpius),  von  polypenartigen  Bildungen  (Th.  Bonnetus, 
Euysch)  unter  Betonung  der  verzweigten  Gestalt  der  Gebilde 
sprach.  Die  Bezeichnung  Bronchitis  fibrinosa  hat  schon  1845  Rob. 
Remak  gebraucht.  Leb  er t  1869  (Deutsches  Archiv  f.  klin.  Medizin 
VI  Bd.  p.  74,  126)  sie  eigentlich  in  die  Litteratur  eingeführt.  Ausser 
des  letzeren  Abhandlungen  sind  namentlich  Biermer's  Darstellungen 
und  zuletzt  noch  Riegel's  Bearbeitung  des  Gegenstandes  als  für 
den  heutigen  Stand  unseres  Wissens  massgebend  anzuführen. 

Der  etwas  schwankende  Begriff  der  schon  L  a  e  n  n  e  c ,  A  n  d  r  a  1  u.  a. 
bekannten  Bronchitis  putrida  sollte,  wie  es  auch  Traube  hervor- 
gehoben (Ges.  Beiträge  ...  II  p.  556,  684),  auf  die  Fälle  von  Katarrh 
mit  faulig  zersetztem  Sekret  beschränkt  werden,  ohne  Hereinziehung 
der  ulcerösen  Formen  mit  Substanzverlusten  der  Schleimhaut  und 
des  Bronchialrohrs  oder  von  Bronchiektasie  und  Lungengangrän. 
Die  bei  ihr  (aber  auch  bei  Lungengangrän)  im  dreifach  geschichteten 
Sputum  sich  findenden  bis  bohnengrossen  „Di ttrich sehen  Pfropfe" 
sind  von  dem  eben  genannten  als  „pfropfartige,  heftig  stinkende, 
missfarbige  Massen"  in  „Beiträgen  z.  path.  Anatomie  der  Lungen- 
Krankheiten,"  Erlangen  1850,  (2.  Abhdlg. :  über  Lungenbrand  . .  .)  erst- 
mals beschrieben  worden.  Die  wichtigsten  historischen  Notizen  über 
fötide   Bronchitis  s.  bei  Riegel,   Ziemssens  Handbuch  IV,  2  p.  121. 

Die  Bronchiektasie,  wenn  zunächst  auch  nicht  als  Ausgang 
einer  interstitiellen  Pneumonie,  welche  Anschauung  einer 
späteren  Zeit  angehört,  ist  mit  genügender  Deutlichkeit  zuerst  bei 
Laennec  erwähnt;  er  widmet  ihr  ein  besonderes  Kapitel  (II)  der 
Lungenkrankheiten:  De  la  dilatation  des  bronches.  Laennec  er- 
zählt, dass  er  durch  den  damaligen  Studenten,  späteren  (bis  zur  Juli- 
revolution!) Professor  der  Medizin  J.  B.  Cayol  (1787 — 1856)  auf  die 
eigenartige  Afiektion,  welche  übrigens  nicht  allzu  selten  sei  und  bei 
Kindern  nach  Keuchhusten,  sowie  bei  alten  Leuten  vorkomme,  auf- 
merksam gemacht  worden  sei.  Laennec  nahm  als  Ursache  der  Er- 
weiterung Anhäufung  von  schleimigem  Sekret  in  den  Bronchien  an, 
was  durch  Licht lieim's  zunächst  der  Lungenatelektase  gewidmeten 
Tierexperimente  (Archiv  für  experiment.  Pathologie  und  Pharmako- 
logie Bd.  X  1879)  eine  gewisse  Bestätigung  erfuhr,  indem  derselbe 
in  abgeschlossenen  und  entzündeten  Bronchien  Ansammlung  von 
(eitrigem)  Sekret  und  event.  Ektasie  beobachtete.  Andral  Hess  die 
Bronchien  noch  in  der  Ernährung  und  Widerstandsfähigkeit  beein- 
trächtigt sein,  während  Reynaud  der  Inspiration,  Williams  der 
Exspiration  eine  Wirkung  zuschrieb.  Erst  Corrigan,  mit  der  Leber- 
cirrhose  vergleichend  (On  cirrhosis  of  the  lung,  Dublin  Journal 
Vol.  XIII  1838),  zog  das  „fibrös-zellige"  Zwischengewebe  und  dessen 
Schrumpfung  nach  vorausgegangener  Entzündung  heran.  C.  E.  H  a  s  s  e , 
Rokitansky  beschäftigten  sich  vorzugsweise  auch  mit  den  weiteren 
Folgezuständen,  z.  B.  Lungenblutungen,  und  Ausgängen  der  Bron- 
chiektasien,  letzterer  auch  mit  dem  anatomischen  Begriff  der  „inter- 
stitiellen Pneumonie".  Von  weiteren  Autoren  (Litteratur  bei  B  i  e  r  m  e  r) 
seien  Rilliet   et  Barthez  (Traite  . . .),  A.  M e n d e  1  s o h n  (Mecha- 


Liingenkrankheiten.  623 

nismus  der  Respiration  und  Circulation  .  .  .  1845),  van  Geuns, 
(Nederlandsch  Lancet  1854),  J.  B.  Barth  (1856),  Trojanowsky 
(Dorpater  Dissertation  1864),  dann  namentlich  B  i  e  r  m  e  r  s  Aufsatz  in 
Virchows  Archiv  XIX  1860  und  seine  zusammenfassende  Darstellung 
in  Virchow's  Handbuch  5.  Bd.  1.  Abteil,  hervorgehoben.  Die  ätio- 
logische Seite  bespricht  Fr.  A.  Hoffmann  (Krankheiten  der  Bronchien 
1896  in  Nothnagels  Sammelwerk  XHI  Bd.  III.  Teil  I.  Abteilung 
p.  168)  ausführlicher,  auch  unter  Anführung  der  wichtigeren  älteren 
Theorien. 

Die  durch  Staubinhalation  hervorgerufenen  chronischen 
Entzündungen,  die  Pneumonokoniosis  in  Form  der  Anthracosis,  Side- 
rosis  .  Chalicosis ,  Alurainosis ,  Tabacosis  etc.  sind  seit  T  r  a  u  b  e  s 
(Deutsche  Klinik  1860;  Ges.  Beiträge  II  p.  511;  765)  grundlegenden 
Untersuchungen  über  den  Kohlenstaub  in  den  Lungen  und  Zenkers 
eingehenden  pathologischen  Forschungen  wiederholt,  auch  nach  der 
klinischen  Seite  (Skoda,  Bamberger,  Biermer,  Lebert)  be- 
arbeitet worden,  und  bis  in  die  neueste  Zeit  sind  immer  neue  Formen 
der  Staubinhalation  bei  den  verschiedensten  gewerblichen  Betrieben 
festgestellt  worden,  die  allerdings  im  Grunde  genommen  schon  früher 
bekannt  waren.  Sagt  doch  schon  Laennec  im  Kapitel  ..Melanose 
du  poumou"' :  „  J'ai  quelquefois  soupgonne  que  cette  matiere  noire  pou- 
vait  provenir,  en  moins  en  partie,  de  la  fumee  des  lampes  et  des 
Corps  combustibles ,  dont  nous  nous  servons  pour  nous  chauffer  et 
nous  eclairer"  etc. 

Das  Lungenemphysem  ist  von  Laennec  in  die  Pathologie 
eingeführt,  wenn  es  auch  vor  ihm  in  einzelnen  Fällen  (B  o  n  n  e  t , 
Ruysch,  Morgagni,  Baillie  s.  bei  Laennec,  Kapitel  ..Emphyseme 
du  poumon'';  beschrieben  ist.  Bei  älteren  Aerzten  war  es  teils  zum 
Asthma  siccum,  teils  zur  Brustwassersucht  gerechnet  worden.  Laen- 
nec traf  auch  schon  die  Unterscheidung  in  eigentliches  (vesikuläres 
oder  alveoläres)  Emphysem  und  in  interlobuläres.  Die  pathologische 
Anatomie  des  Emphysems  wurde  durch  Rokitansky,  die  klinische 
Diagnose  durch  Casp.  Friedr.  Fuchs  (Abhandlung  über  das  Emphysem 
der  Lunge,  Leipzig  1845),  dann  durch  A.  Mendelsohn  (s.  o.)  ein- 
gehend erörtert.  Die  Anhänger  der  mechanischen  Theorie  der 
Entstehung  der  Lungenblähung  teilten  sich  in  solche,  welche  im  In- 
spirationsdruck (Laennec,  Rokitansky,  Kompensationstheorie 
von  Williams  und  besonders  Gairdner)  und  in  solche,  die  im 
Exspirationsdruck  (Jenner  1857.  Med.-chirur.  Transact.  Vol.  XL; 
Ziemssen  1858,  Deutsche  Klinik)  die  hauptsächlichste  Ursache  er- 
blickten, während  wieder  andere,  Frey  (Mannheim),  F.  Niemeyer, 
Gerhardt,  Biermer,  beiden  (dabei  aber  meist  der  Exspiration  die 
grössere)  Bedeutung  zuschrieben.  Dem  gegenüber  wollten  Aerzte  wie 
pathologische  Anatomen  (Rainey,  Hertz,  Steffen,  Villemin, 
Archives  gener.  1866,  Rindfleisch)  Ernährungsstörungen  des  Lungen- 
gewebes oder  auch  gewisse  angeborene,  krankhafte  Veränderungen 
des  Lungengewebes  in  den  Vordergi'und  stellen,  wohin  z.  B.  Wilh. 
Alex.  Freund's  Theorie  von  den  „primären  Rippenknorpelanomalien" 
(1859)  gehört,  welche  Erweiterung  des  Brustkorbs  und  ihr  folgendes 
Emphysem  annahm  (vergl.  ßerl.  klin.  Wochenschrift  1902  p.  1,  29; 
Diskussion  p.  39,  81).  RossignoFs  Abhandlung  von  1849  (s.  Litt) 
sei  besonders  erwähnt.    Die  bei  Kindern  vorkommenden  Formen  des 


624  Hermann  Vierordt. 

Emphysems  sind  erst  später  nach  dem  Vorgang  der  Franzosen  Bailly 
(1843),  Guillot  (1851),  Rilliet  et  Barthez  etc.  in  die  Unter- 
suchung hereingezogen  worden  (s.  bei  Fürst  1.  c). 

Um  die  klinische  Therapie  des  Emphysems  haben  sich  A.  Bier- 
mann, um  eine  rationelle  pneumatische  Behandlung  J.  Lange,  E. 
V.  Vivenot  d.  J.,  G.  v.  Liebig,  Waidenburg,  Biedert  Ver- 
dienste erworben  (s.  J.  Lazarus,  Die  pneumatische  Therapie  von 
1875—1900;  Berliner  klin.  Wochenschrift  1900  p.  51,  79). 

Auch  die  Pathologie  des  0  e  d  e  m  s  der  Lunge  ist  im  wesentlichen 
von  Laennec  geschaffen,  für  das  E.  Darwin  die  Bezeichnung  Ana- 
sarca  pulmonum,  Itard  Hydropneumonie  einzuführen  versucht  hatte. 
Die  akute  und  höchst  akute  Form  hat  A  n  d  r  a  1  besonders  gewürdigt. 

Lungeninfarkt,  in  früherer  Zeit  unter  die  Hämoptysis  oder 
Pneumorrhagie  eingereiht,  ist  zunächst  von  Laennec  geschildert 
(Kapitel  „Apoplexie  pulmonaire")  und  auch  anatomisch  gut  beschrieben. 
Die  Lungenblutung  ist  mit  der  Gehirnblutung  (exhalation  sanguine 
cerebrale)  in  Parallele  gesetzt:  auch  der  ältere  Ausdruck  „infarctus" 
wird  gebraucht,  die  keilförmige  Form  hervorgehoben,  die  primäre 
Arterienverstopfung  freilich  nicht  beachtet,  was  durch  J.  B  o  u  i  1 1  a  u  d 
(Archives  gener.  t.  XII  1826  p.  392)  erstmals  geschah.  Crüveil- 
hier,  dann  Bochdalek  (Prager  Vierteljahrsschrift  1846)  wiesen  die 
Hindernisse  im  Gefässsystem  nach.  Während  aber  letzterer  die  Neigung 
des  Bluts  zur  Gerinnung  und  Bildung  von  Faserstoffpfröpfen  auf  eine 
Arterienentzündung  zurückführte,  Hess  Rokitansky  (Handbuch 
1.  Aufl.)  den  Faserstoff  des  Blutes  mehr  direkt  oder  unter  dem  Ein- 
fluss  einer  pyogen en  Blutkrasis,  von  Pyämie,  Typhus,  akuten  Exan- 
themen, erkrankt  und  zur  Gerinnung  geneigt  sein. 

Völlig  neue  Gesichtspunkte  von  grundlegender  Bedeutung  brachte 
R.  Virchow  in  die  Lehre  hinein.  Als  Schöpfer  und  experimenteller 
Begründer  der  Lehre  von  der  Embolie,  der  Verschleppung  von  Blut- 
gerinnseln mit  dem  Blutstrom,  lag  auch  ihm  der  Zusammenhang  des 
Lungeninfarkts  mit  einem  Embolus  überaus  nahe,  doch  liess  er  in 
weiser  Zurückhaltung  die  von  manchen  anderen  sofort  bejahte  Frage 
noch  offen,  da  ihm  die  experimentelle  Erzeugung  speziell  eines  Lungen- 
infarktes nicht  gelang.  Einige,  wie  B.  C  o  h  u  (Klinik  der  embolischen 
Gefässkrankheiten,  Berlin  1860  —  enthält  auch  die  wichtigsten  Daten 
der  vorhergehenden  Zeit)  erklärten  den  Infarkt  im  wesentlichen  als 
aus  einer  Obturation  der  kapillären  Bahnen  hervorgegangen.  Die 
etwas  früher  fallenden  Ansichten  von  Engel  oder  von  Dittrich 
bedeuten  so  wie  so  einen  Rückschritt  in  der  Auffassung,  während 
He  sc  hl  für  den  Lungeninfarkt  „kapilläre  Embolien"  annahm.  Von 
Wichtigkeit  sind  Panum's  Experimente  (Virchows  Archiv  Bd.  27 — 29), 
mit  zweckmässigerem  Material  (Wachskügelchen)  angestellt,  freilich 
im  Resultat  insoferne  noch  nicht  ausgereift,  als  augenscheinliche  In- 
farkte als  „pneumonische  entzündliche  Knoten"  beschrieben  werden, 
während  der  wahre,  unkomplizierte,  nicht  infektiöse  Infarkt  mit  Ent- 
zündung nichts  zu  thun  haben  dürfte  (Cohnheim,  Litten).  Eine 
erneute  Umwälzung  in  den  Anschauungen  bewirkten  P.  Cohnheims 
bekannte  „Untersuchungen  über  die  embolischen  Prozesse"  (Berlin 
1872),  die  von  Litten  mehrfach  ergänzt  wurden.  Cohnheim 
schlug  den  Weg  der  direkten  Beobachtung  an  der  Froschzunge  ein 
und  verfolgte  die  Entstehung  des  Infarktes  von  Anbeginn  an  durch 
alle  seine  Stadien.    Die  Bedeutung  der  sekundären  Degeneration  der 


Lungenkrankheiten.  625 

Gefäss wände  für  die  Durchlässigkeit  der  prall  gefüllten  Venen  und 
die  daraus  entstehende  Hämorrhagie,  sowie  die  der  ..Endarterie", 
welche  freilich  nicht  für  alle  einzelnen  Fälle  (Art.  meseraica  super.!) 
stimmen  wollte,  w^urde  hervorgehoben.  —  Zu  voller  Aufhellung  ist 
die  Frage  des  blutigen  Infarktes  (der  Lunge)  auch  durch  die  weiteren. 
anCohnheim  anknüpfenden  Untersuchungen  nicht  durchgedrungen; 
so  sind  z.  B.  v.  Recklingshausen's  gewichtige  Einwände,  seine 
„hyalinen  Thrombosen"  in  den  Kapillaren,  gegenüber  den  Cohn- 
he  im  sehen  Lehren  wohl  zu  beachten.  Üeberhaupt  ist  im  Prinzip 
die  Möglichkeit  nicht  abzustreiten,  dass  hämorrhagischer  Infarkt  ohne 
Embolie  sich  bilden  kann,  wenn  auch  die  Embolie  der  gewöhnliche 
Entstehungsmodus  sein  mag.  —  Bis  in  die  neueste  Zeit  ist  die  Frage 
der  Embolie  und  Thrombenbildung  in  der  Lunge,  ohne  nach  allen 
Richtungen  hin  aufgeklärt  zu  sein,  immer  wieder  mit  den  ver- 
schiedensten experimentellen  Mitteln  —  z.  B.  Paraffin,  Gsell  — 
untersucht  worden  (s.  b.  Aufrecht,  Litt).  —  Der  klinischen 
Würdigung  des  Infarktes  hat,  wenn  wir  von  Laennec  absehen 
wollen,  zunächst  Gerhardt  (1863)  mit  verschiedenen  seiner  Schüler, 
dann  auch  F.  Niemeyer  seine  Aufmerksamkeit  zugewandt.  Dass 
ein  Embolus,  wenn  er  infektiös  ist,  den  embolischen  (metastatischenj 
schon  von  Laennec  gekannten  Äbscess  der  Lunge  erzeugt,  ist 
eine  wichtige  Errungenschaft  der  neueren  Zeit,  die  namentlich  dieses 
Verhalten  für  die  ulceröse,  septische  Endocarditis,  welche  selbst  wieder 
durch  verschiedene  Krankheitserreger  (insbesondere  Staphylococcus 
pyogenes  aureus,  Streptococcus  pyogenes  etc.)  bedingt  sein  kann,  er- 
wiesen hat. 

Brand  der  Lunge.  (Litteratur  ausser  bei  Hertz,  1.  c,  bei 
Wunderlich,  Path.  u.  Therap.  III  Bd.  II  Abt.  p.  509).  war  sicher- 
lich schon  den  Alten  (s.  S.  615)  bekannt,  ist  aber  erst  von  Laennec 
genauer  charakterisiert  worden  mit  der  aligemein  angenommenen  Unter- 
scheidung in  nicht  umschriebenen  und  umschriebenen  oder  essentiellen 
Brand.  Bei  van  Swieten  sucht  man  vergebens  nach  der  in  Rede 
stehenden  Affektion.  Laennec  betont  den  Fötor  ex  ore,  das  putride 
..üeliquium"  der  Lunge,  das  eigenartige  Sputum.  Nach  ihm  hat 
(ruveilhier  die  pathologische  Anatomie  bereichert,  desgleichen 
Schröder  van  der  Kolk  (diffuser  Brand);  Guislain  beschrieb 
den  Brand  bei  der  Nahrungsverweigerung  der  Geisteskranken,  Gri- 
solle  den  an  Pneumonie  sich  anschliessenden.  Eine  zusammen- 
fassende Arbeit  (These  von  1840)  lieferte  Laurence,  ebenso  Ger- 
hardt-Philadelphia (citiert  bei  Hasse.  Path.  Anat.  I,  300).  —  Die 
Therapie  förderte  Skoda,  indem  er  eine  mehr  lokale  Behandlung 
anstrebte,  Traube  erweiterte  die  Diagnostik.  —  Die  Lungengangrän 
bei  Kindern  beschrieben  Rilliet  et  Barthez  (s.  a.  Traite  Bd.  I 
Chap.  XIV),  später  Boudet  (Archives  gener.  1843  II  &  III).  Die 
„Aetiologie  des  Lungenbrandes"  behandelt  in  einer  brauchbaren  Zu- 
sammenstellung Gustav  Cohen  (Strassburger  Dissertation  1876). 
Auch  über  endemisches  und  epidemisches  Vorkommen  wird  nicht  so 
selten  berichtet,  so  von  G.  H.  Mosing  über  eine  Endemie  in  der 
Strafanstalt  zu  Lemberg  (1842);  doch  sind  die  diesbezüglichen  Nach- 
richten nicht  in  jeder  Beziehung  klar  und  leicht  verständlich. 

Den  Hydrothorax,die  „13rustwassersucht",  als  s e  1  b s t ä n d i g e 
Krankheit,  entgegen  der  vulgären  Ansicht,  auch  vieler  Aerzte  (z.  B. 
Jos.   Frank,   Praxeos    medicae   univ.   praecepta,   Pars  II,    Vol.  II, 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  ;  40 


626  Hermann  Vierordt. 

Sect.  1  p.  676),  zurückgewiesen  oder  wenigstens  als  extrem  selten  — 
1  Fall  auf  2000  Sektionen!  —  hingestellt  zu  haben,  ist  wiederum 
Laennec's  Verdienst;  andererseits  bezeichnet  er  den  „sympto- 
matischen" Hydrothorax  „für  ebenso  häufig,  als  der  idiopathische 
selten  sei".  Er  kennt  sein  öfters  dem  Ende  vorausgehendes  und 
dieses  beschleunigende  Vorkommen  bei  anderen  Affektionen  (Herz-, 
Leberkrankheiten,  Krebs).  In  der  Folge  haben  Reynaud,  Stokes, 
Eokitansky  u.  a.  den  Hydrothorax  anatomisch  noch  genauer  präci- 
siert,  so  dass  jetzt  allgemein  nur  das  reine  seröse  Transsudat  unter 
diesem  Namen  geht,  wobei  Entzündungserscheinungen  gänzlich  oder 
fast  gänzlich  zurücktreten. 

Den  Hydrops  pectoris  unterschied  schon  Luca  Tozzi  (1638 — 
1717),  1695  Malpighi's  Nachfolger  in  Rom,  vom  Hydrops  pulmonum, 
dem  Lungenödem;  deutlicher  ist  es  durch  I.  Fr.  Albertini  ge- 
schehen, der  den  letzteren  mit  den  Herzkrankheiten  (p.  636)  in 
Verbindung  brachte.  Später  hat  Pierre  Barr  er  e  (Observations  ana- 
tomiques  1753)  das  Lungenödem  beschrieben;  im  übrigen  hat  auch 
hier  Laennec  wieder  die  anatomischen  und  klinischen  Grundlagen 
geschaffen,  indem  er  —  vergl.  auch  die  spätere  Unterscheidung  des 
aktiven  und  passiven  Oedems  —  das  „idiopathische"  oder  „primitive" 
Oedem  für  selten  erklärte. 

Pneumothorax  —  der  Name  stammt  von  Itard  (Dissertation 
sur  le  pneumo-thorax,  Paris  1803)  —  war,  wenigstens  in  der  Form 
des  Pyo  -  Pneumothorax,  den  Alten  wohl  bekannt,  worüber  das  im 
Kapitel  „Perkussion  und  Auskultation"  von  der  Sukkussion  Gesagte 
(S.  605)  verglichen  werden  mag.  Freilich  haben  die  Alten  das  Haupt- 
gewicht auf  die  Eiter-,  nicht  die  Luftansammlung  gelegt,  trotz  der 
offenkundigen  Schüttelgeräusche.  Morgagni  registriert  (Epist.  XVI 
Nr.  36)  4  Fälle  von  Luftansammlung  in  der  Pleura,  denen  Laennec 
(II.  Teil  4.  Abschnitt,  4.  Kap.,  3.  Artikel)  einen  5.  aus  Ambr.  Pare 
anfügt.    Van  Swieten  scheint  den  Pneumothorax  nicht  zu  kennen. 

Die  Symptome  der  Gasansammlung  in  der  Pleurahöhle  lehrte 
Laennec  mit  ziemlicher  Vollständigkeit  kennen;  er  bestimmte  die 
Bedeutung  der  Sukkussion  und  versucht  auch  eine  Erklärung  der 
metallischen  Phänomene,  die  allerdings  von  Skoda  in  verschiedenen 
Punkten  bekämpft  und  auf  das  Vorhandensein  eines  grösseren,  zur 
„Reflexion"  des  Schalls  der  Beschaffenheit  seiner  Wände  nach  ge- 
eigneten, Luftraums  zurückgeführt  wurde.  Piorrj^  Reynaud,  der 
schon  1830  80  Fälle  zusammenstellen  konnte,  Louis,  Stokes,  An- 
dral,  später  Puchelt,  welcher  zuerst  einen  doppelten  Pneumothorax 
beschreibt,  Saussier  (Pariser  These  von  1841),  Copland,  Woil- 
lez  u.  a.  sind  zu  erwähnen,  aus  neueren  Zeiten  besonders  auch 
Arbeiten  über  den  Metallklang  und  die  experimentellen  Untersuchungen 
von  Ad.  Weil  (s.  Litt.),  der  die  Unterscheidung  der  einzelnen  Arten 
des  Pneumothorax,  den  geschlossenen  und  offenen,  begründete. 

Eine  erste  Darstellung  des  Bronchialasthmas,  dessen  Ge- 
schichte in  Goluboff's  Abhandlung  (s.  Litt.)  eingehend  besprochen 
ist,  kann  man  schon  bei  Aretaios  von  Kappadocien  erkennen. 
Dann  finden  wir  es  wieder  bei  dem  selbst  an  Asthma  leidenden  van 
Helmont,  welcher  den  asthmatischen  Anfall  mit  dem  epileptischen 
vergleicht.  Thom.  Willis  (Pathologia  cerebri  et  nervosi  generis  .  . . 
Oxoniae  1667)  giebt  eine  genauere  Beschreibung  des  Asthma  bronchiale, 
das  er  aus  einem  durch  Nerven  vermittelten  Spasmus  der  Bronchien 


Lungenkrankheiten.  627 

erklärt;  auch  die  Lungenblähung  bespricht  er  und  erwähnt  eine 
Nekropsie  mit  einem,  wenigstens  was  die  Lunge  betrifft,  negativen 
Befund.  Ein  englischer  Arzt,  Eob.  Bree  (A  practical  inquiry  into 
disordered  respiration,  distinguishing  the  species  of  convulsive  asthma. 
4.  Ed.  London  1807,  übersetzt  mit  Anmerkungen  von  K.  F.  A.  S.: 
„Untersuchung  über  ki-ampfhaftes  Athemholen",  Leipzig  1800),  machte 
als  erster  auf  die  reichliche  Schleimabsonderung  am  Schluss  des  An- 
falls aufmerksam,  so  wie  späterhin  Traube  mit  einem  akutesten 
Bronchialkatarrh  auskommen  wollte.  Laennec  (Partie  II  Sect.  III 
Chap.  VIII),  der  die  Reiss  eisen  sehen  glatten  Muskelfasern  der 
Bronchien  ausdrücklich  erwähnt,  dachte  an  einen  Bronchialkrampf 
in  Form  eines  primär  nervösen  Prozesses  und  Katarrhs.  Vom  nervösen 
Asthma  selbst  unterschied  er  zwei  Arten:  Asthme  avec  respiration 
puerile  und  Asthme  spasmodique.  Der  „asthmatische  Katarrh"  kam 
auf.  Die  von  Longet,  A.  W.  Volk  mann  u.  a.  festgestellte  Be- 
deutung des  Vagus  als  des  die  Bronchien  versorgenden  Nerven  ver- 
anlasste Romberg  zu  der  Annahme  eines  eigentlichen  Bronchial- 
spasmus. Gegen  die  1854  von  Wiutrich  aufgestellte,  unhaltbare 
Theorie  des  Zwerchfellkrampfes  erhob  Biermer  1870  die  gewich- 
tigsten Einwände,  Er  legte  seiner  Theorie  den  Spasmus  der  Bronchial- 
muskeln zu  Gi'unde  und  betonte  des  weiteren  die  Zurückhaltung  der 
Luft  in  den  Alveolen,  die  Lungenblähung,  die  Kompression  der  kleinen 
Bronchien  und  der  Alveolen  durch  den  Exspirationsmechanismus.  Den 
begleitenden  Katarrh  vermochte  er  nicht  zu  erklären.  Riegel  kam 
wieder  auf  den  (Win  t  rieh  sehen)  Zwerchfellkrampf  zurück,  da  er 
den  Bronchialspasmus  experimentell  nicht  erzielen  konnte,  was  erst 
späteren  Experimentatoren,  namentlich  Einthoven,  Beer,  durch 
Reizung  des  peripheren  Vagusteils  gelang.  Th.  Weber  (1873)  vertrat 
mit  Glück  eine  angio-neuro-v^asomotorische  Theorie;  Erweiterung  der 
Gefässe  und  Anschwellung  der  Schleimhaut  der  Bronchien  war  ihm 
das  wesentliche.  1875  entdeckte  LeydendiealsCharcot-Leyden- 
sche  bezeichneten  Asthmakrystalle,  die  nur  selten  im  Anfalle  fehlen, 
bei  ca.  10  %.  1883  beschrieb  Curschmann  seine  Spiralen  und  nahm 
eine  spezifische  „Bronchiolitis  exsudativa"  an.  Als  letztes  möge  der 
von  verschiedenen  Beobachtern  geführte  Nachweis  eines  gesteigerten 
Vorkommens  von  eosinophilen  Zellen  im  Sputum  und  Blut  erwähnt  sein. 


40« 


Geschichte  der  Herzkrankheiten. 

Von 
Hermann  Vierordt  (Tübingen). 


Litteratur. 

Sebast.  Pissinius,  De  cordis  palpitatione  cognoscenda  et  curanda  libri  II,  Francof. 

1609. 
tToh.  Mama  Lancisi,   De   siibitaneis   mortibus   libri  II,   Romae  1707  u.  öfter; 

deutsch  neu  bearbeitet  von  Joh.  Chr.  F  ahn  er,  Leij)zig  1790191. 
Derselbe,  De  motu  cordis  et  de  aneurysmatibus,  Romae  1728  u.  öfter. 
It.  Viettssens,  Traite  nouveau  de  la  structure  et  des  causes  du  mouvement  naturtl 

du  coeur,  Toulouse  1715. 
Hipp.  Fr.  Albertini,   Animadversiones   super   quibusdam   difficilis  respirationis 

vitiis  a  laesa  cordis  et  praecordiorum  structura  pendentibus,  1748  (De  Bononiensi 

scientiarum  et  artiiim  instituto  atque  academia  commentarius  Vol.I);  auch  in 

Albertini  Opuscula  ed.  atque  praefatus  est  M.  H.  Romberg,  Berolini  1828. 
D.  Langhans,   Dissertatio   de   vasorum   corporis   humani   lithiasi  (Praes.  A.  B. 

Winkler),  Göttingae  1747. 
J.  B.  Senac,  Traite  de  la  structure  du  coeur,  de  son  action  et  ses  maladies,  Paris 

1749,  2  vol.  (edit.  Portal  1774).    Deutsch  [nur  der  letzte  Abschnitt!]:  Prak- 
tische Abhandlung  von  den  Krankheiten  des  Herzens,  Leipzig  1781. 
Alb.  Haller,  Disputationes  ad  morborum  historiam  et  curationem  facientes,  Lau- 

sannae,  Tom.  II,  1757,  4  °  [enthält  verschiedene  Abhandlungen]. 
Scriptorum  latinorum  de  aneurysmatibus  collectio  (Lancisi,  Guattani,  Matani,  Ver- 

brugge,  Weltinus,  Murray,   Trete,  Asman)  ed.  Th.  Lauth,  Argentorati  1785, 

4",  c.  15  tab. 
Allan  Bums,   Observations  on  some  of  the  most  frequent  and  important  diseases 

of  the  heart,  Edinburgh  1809;  übersetzt  von  P.  Nasse,  Lemgo  1817. 
Ant,  Guiseppe  Testa,  Delle  malattie  del  cuore,  loro  cagioni,  specie,  segni  e  cura, 

2.  ediz.,  3  Yol.,  Firenze  1823.  —  „Auszug  mit  Anmerkungen'*  (der  1.  Auflage) : 

lieber  die  Krankheiten  des  Herzens  von  Kurt  Sprengel,  Halle  1813. 
Corvisart,  Laennec  s.  bei  Perkussion  u.  Auskultation  S.  599. 
Fr.  Ludwig  Kreysig,  Die  Krankheiten  des  Herzens  systematisch  bearbeitet  und 

durch  eigene  Beobachtungen  erläutert,  3  Theile  in  4  Bänden,  Berlin  1814/17. 
»7.  Johnson,   Practical  researches  on  the  nature,   eure  and  prevention  of  gout  in 

all  its  open  and  concealed  forms  .  .  .  London  1818.    Deutsch  von  A.  F.  Bloch, 

Halberstadt  1819. 
Ludtv.  Kobelt,  Dissertatio  inauguralis  medica  sistens  disquisitionem  historicam 

de  cordis   et  praecordiorum  vitiis   organicis   cura  Valsalviana  et  Albertiniana 

persanandis,  Heidelbergae  1833,  4  °. 
«7.  B.  Bouillaud,   Traite  clinique  des  maladies  du  coeur  .  .  .  2  Vol.,  Paris  1835 ; 

2.  edit.,  1841.    Deutsche  Ueber$etzung  von  Atfr.  Ferd.  Becker,  Leipzig  1836137. 


Geschichte  der  Herzkrankheiten. 

Derselbe^  Nouvelles  recherches  sur  le  rhumaiisme  articulaire  aigu  en  general  et 
specialement  sur  la  loi  de.  coincidence  de  pericardite  et  l'endocardite  avec  cette 
maladie  .  .  .  Paris  1836;  deutsch  von  K ersten,  Magdeburg  1837.  —  Traite 
clinique  du  rhumatisme  articulaire  .  .  .  Paris  1840. 

William  Stokes,  The  diseases  of  the  heart  and  the  aorta,  Dublin  1854;  deutsch 
von  J.  Lindivurm,  Würzburg  1835. 

2*.  J,  Pliilipi),  IHe  Kenntniss  von  den  Krankheiten  des  Herzens  im  18.  Jahr- 
hundert, Berlin  1856.  (Wiederabgedruckt  aus  HenscheVs  Janus  II  u.  III 
[Vieussens  u.  Laticisi],  sowie  aris  Göschen^ s  Deutscher  Klinik  1853  [Albertini, 
Morgagni],  1856  [Senac]). 

JH.  Baniberger,  Lehrbuch  der  Krankheiten  des  Herzens,  Wien  1857  (enthält  auf 
pag.  819  die  loichtigsten  Monographien  von  Senac  bis  1856). 

M.  Locher,  Zur  Lehre  vom  Herzen,  Erlangen  1860,  p.  1 — 71.  I.  Beiträge  zur 
Geschichte  unserer  Kenntnisse  von  den  Herzkrankheiten  [hauptsächlich  Notizen 
über  Senac  und  Corvisart]. 

O.  Schüppel,  Zur  älteren  Literatur  der  Embolie.  Archiv  der  Heilkunde,  5.  Jahr- 
gang 1864,  p.  93. 

P.  Kiemeyer,  Die  Herzgeräusche,  ihre  Geschichte  und  ihre  Tlieorie.  Deutsche 
Klinik  1869,  p.  433. 

Ferd.  JUartini,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Lehre  vom  Herzen  und  den  Herz- 
krankheiten, von  den  frühesten  Zeiten  einer  icissenschaftlichen  Medicin  bis  zur 
Begründung  der  Lehre  von  den  Herzkrankheiten  durch  Senac.  Berliner  Disser- 
tation 1869. 

O.  Schadewald,  Sphygmologiae  historia  inde  ab  antiquissimis  temporibus  usque 
ad  aetatem  Paracelsi.    Dissertatio,  Berolini  1869,  cum  3  tab. 

Die  Ueberanstrengung  des  Herzens.  Sechs  Abhandlungen  von  Alhutt,  Da 
Costa,  Myers,  Seitz,  Timm,  herausgegeben  von  Joh,  Seitz,  Berlin  1875  (be- 
sprochen von  Walde7iburg,  Berliner  Min.   Wochenschrift  1875,  p.  406). 

Cesare  Tarttfft,  Sülle  malattie  congenite  e  sulle  anomalie  del  cuore,  Bologna  1875, 
4  **  (Memorie  della  societä  medico-chirurgica  di  Bologna,  Vol.  8). 

Artikel  „Coeur^  im  Dictionnaire  encycloped.  des  sciences  medicales,  I.  serie,  t.  XVIII, 
Paris  1876;  Anomalies  (Larcher)  p.  293,  Pathologie  generale  (Parrot) 
p.  382,  Historique  p.  383,  Bibliographie  hiezu  p.  433,  Pathologie  speciale 
(Potain  et  Rendu)  p.  487. 

S.  JRosenstein,  L.  Schrötter,  H.  Quincke,  J.  Bauer,  M.  Lebert,  Handbuch 
der  Krankheiten  des  Circtdatio7isapparates,  2.  Aufl.,  Leipzig  1879  (Ziemssen's 
Handbuch  der  spec.  Pathol.  und  Therapie  6.  Band). 

JL.  Haeser,  Kapitel  „Krankheitai  des  Herzens^  im  Lehrbuch  der  Geschichte  der 
Medicin  .  .  .  Ziceiter  Band,  3.  Bearbeitung,  Jena  1881,  p.  628. 

Artikel  „Heart"  mit  entsprechenden  Unterabteilungen  im  „Index- Catalogue  of  tlie 
library  of  the  surgeon  general  otüce''^  Yol.  V,  Washington  1884;  second  series 
Vol  VI,  190L 

Max  Joseph  Oertel,  Handbuch  der  allgemeinen  Therapie  der  Kreislaufs-Störungen^ 
Kraftabnahme  des  Herzmuskels,  ungenügender  Compensationen  hei  Herzfehlern, 
Fettherz  und  Fettsucht  .  .  .  Leipzig  1884,  4.  Aufl.  1891  (Ziemssen's  Handbuch 
der  allgemeinen  Therapie  4.  Band). 

Ch.  Ozanarn,  La  circulation  et  le  pouls,  histoire,  physiologie,  semnotique,  in- 
dications  therapeutiques,  Paris  1886. 

Oertel  u.  lAchtheitn,  Referate:  Die  chronischen  Herzmuskelerkrankungen  und 
ihre  Behandlung,  nebst  anschliessender  Diskussion.  7.  Congress  für  innere 
Medicin,   Wiesbaden  1888,  p.  13. 

Oscar  Fräntzel,  Vorlesungen  über  die  Krankheiten  des  Herzens,  Berlin,  1 1889, 
II  189L 

V.  Uanot,  Histoire  resum.ee  de  la  pathologie  cardio-vasculaire.    Archives  generales 

de  medecine  1890,  t.  I  p.  82. 
<J.  Quantin,  Essai  sur  les   maladies  du  coeur  depuis  Erasistrate  jusqu'ä  Senac, 

These  de  Paris,  4",  1892. 
LiSon  Huard,  Aj)er^u  historique  sur  la  sphygmographie,  TMse  de  Paris  1892. 
8.  V.  Hasch,  Historisches  und  Kritisches  zur  Compensation  der  Herzfehler.     Wiener 

klinische   Wochenschrift  1893  p.  257,  274. 
Hermann  Vierordt,  Die  angeborenen  Herzkrankheiten,    Wien  1898  (NothnageVs 

spec.  Pathologie  u.  Therapie  XV.  Bd.  I.   Theil  II.  Abtheilung). 
L,  V.  Schrötter  u.  Fr.  Martins,   Die  Insufficienz   des  Herzmuskels.     Referate 

mit  anschliessender  Diskussion.      Verhandlungen   des    Congresses   für    innere 

Medicin,  17.  Congress  1899. 


630  Hermann  Vierordt. 

Th.  (Türgensen,  Erkrankungen  der  Kreislaufsorgane  —  Insufficienz  (Schwäche) 
des  Herzens,  Wien  1899  (Nothnagel's  spec.  Pathologie  u.  Therapie  XV.  Bd. 
I.  Theil  I.  Abtheilung).  —  Endocaraitis  1900;  ibid.  III.  Abtheilung.  —  Klappen- 
fehler 1903,  ibid.  IV.  Ahth. 

0.  Mosenbach,   lieber  Erkrankungen  des  Herzens  im  Verlaufe  der  Syphilis  und 

Gonorrhoe.    Berliner  klinische  Wochenschrift  1900,  p.  1081,  1109. 
Aug.  Hoffniann,  Pathologie  und  Therapie  der  Herzneurosen  und  der  funktionellen 
Kreislaufstörungen,  Wiesbaden  1901. 

Die  wissenscliaftliche  Ausgestaltung  der  Lehre  von  den  Herz- 
krankheiten gehört  ohne  Frage  den  neueren  und  bezüglich  einzelner 
Kapitel  sogar  neuesten  Zeiten  an.  Dennoch  lassen  sich  Spuren  einer 
Pathologie  des  Herzens  auch  in  entlegenere  Zeiten  zurückverfolgen, 
wobei  wir  allerdings  den  ägyptischen  Glauben  von  dem  im  Alter  sich 
ganz  aufzehrenden  Herzen  (Plinius  XI  §  184)  oder  die  legendenhafte 
Angabe  über  das  „cor  hirsutum"  des  Messeniers  Aristomenes  (7.  Jahr- 
hundert V.  Chr.)  —  weitere  Beispiele  bei  Morgagni,  Lib.  II,  cap. 
XXIV,  art.  4  —  nicht  hoch  anschlagen  werden.  Auch  des  Pytha- 
goras'  und  Piaton  zum  Teil  phantastische  Anschauungen  können 
übergangen  werden.  In  den  hippokratischen  Schriften, 
aber  nicht  den  echten,  finden  sich  einzelne  Angaben  über  Herzpatho- 
logie. Aphor.  IV  17  u.  65,  auch  TteQt  vovaiov  IV  erwähnen  den  bis 
über  das  Mittelalter  hinaus  vielberufenen  „y.aQÖuoyi.iög''^,  der  freilich 
bei  der  wechselnden  Bedeutung  von  naQÖLa  bei  den  Alten,  bald  Magen, 
so  bei  Thucydides  II,  49.  3,  bald  Herz  —  vgl.  die  spätere  hippo- 
kratische  Schrift  Tteqi  xaQdir]g  und  G  a  1  e  n  s  Bemerkungen  zu  Aphor.  65. 
Edit.  Kühn  XVII,  2  p.  745  — ,  ebenso  Magendrücken  als  Herz- 
beklemmung bedeuten  kann.  Fuchs  (I  95,  103  u.  250)  übersetzt 
an  den  erwähnten  Stellen  gewiss  richtig  Magenkrampf  oder  Magen- 
drücken. In  TtsQi  vovocov  IV  (Edit.  Kühn  II,  331;  Fuchs  I,  245)  ist 
eine  Stelle,  welche  eine  3.  (volkstümliche)  Bedeutung  von  ytagdia  dar- 
thut:  dXyeei  rb  ^tioq,  otieq  ol  Ttaldag  x.aQÖlr]v  y.al^ovoLV.  Keineswegs 
aber  ist  es  zwingend,  an  das  Herz  zu  denken,  wenn  vom  Gefühl,  als 
ob  sich  etwas  xara  rt]v  ytaQÖirjv  zusammenziehe  {ETtLÖrjfxiwv  VII ;  Kühn 
III,  658;  Fuchs  II,  309),  die  Rede  ist,  oder  wenn  (Kühn  III,  645; 
Fuchs  II,  300)  aori  (Unbehagen)  rt^ql  ttjv  xaQÖh]v  verzeichnet  ist.  Die 
Kommentatoren,  auch  Fuchs,  übersetzen  im  ersten  Falle  Herz,  im 
zweiten   Magenmund.    Gleich  hier  mag  erwähnt  sein,   dass   Celsus 

1,  8  vom  „praecordiorum  dolor"  spricht  bei  Schilderung  des  „Stomachus 
infirmus".  Ebenso  ist  Fuchs  (11,  323,  Kühn  III,  677)  zuzustimmen, 
wenn  er  TtQog  KaQÖirjV  älyog  osivöv  entgegen  dem  hergebrachten 
„ad  cor  dolor  ingens"  mit  „heftiger  Schmerz  am  Magenmund"  über- 
setzt, und  auch  bei  der  von  ihm  (II,  336)  als  „Kardialgie"  wieder- 
gegebenen TcuQÖiaXylrj  (Epidem.  VH,  Kühn  III,  694  u.  695)  möchte  ich 
mit  den  Kommentatoren  „oris  ventriculi  dolor"  herauslesen.  Ebenso 
führt  der  in  der  Auslegung  durchaus  nicht  konsequente  Galen  aus 
(De  compos.  medic.  sec.  locos  Lib.  VIII.  Edit.  Kühn  XIII,  121): 
„EXqriTai  TtoXläxig  ö)g  rb  rfjg  yaorgbg  (ventriculi)  oröfia  xalelv  eS-og 
eatl  Tolg  iargolg  wotisq  ■/.aqdiav,  ovxo)  yial  atöfiaxov.  dlla  ndhxi  fxev 
^v  avviqd-^öTBQOv  (frequentior)  rb  rijg  y.aqdLag  ovo(.ia,  vvvl  öe  ärt*  ey.sivov 
(xkv  £Ti  diafx^vec  rb  ^agöiwaoeiv  xal  fj  xagÖLalyta"  [quibus  vocibus  non 
cordis,  sed  oris  ventris  dolores  significantur]. 

Die  Herzwunden  gelten  als  ■d'avatcoörjg  neben  denen  der  Blase,  des 
Gehirns,  Zwerchfells,    Dünndarms,  Magen   und    der  Leber  (Aphor,  VI^   18 : 


Greschichte  der  Herzkrankheiten.  631 

Kühn  in,  752;  Fuchs  I,  122).    Eine  ähnliche  Stelle  Ttegl  vovaiov  I  (Kühn  11, 
167/68;  Fuchs  ü,  378)  und  wieder  bei  Celsus,  Lib.  V  cap.  26,  2. 

An  2  Stellen  in  fcegl  vovoiov  lY  (Kühn  II  334  u.  339;  Fuchs  I, 
247  u.  250j  wird  die  Behauptung  aufgestellt,  dass  das  Herz  als  eine 
feste  {oTEQeög)  und  dichte  {nvy.vög)  Masse  von  einem  reichlichen  Säfte- 
andrang keinen  Schaden  nehme  und  nicht  von  Schmerz  befallen 
werde.  Dies  sind  wohl  die  Stellen,  welche  die  lang  festgehaltene 
Behauptung  (z.  B.  Plinius  XI  §  182)  veranlasst  haben,  das  Herz 
könne  bei  den  Hippokratikern  nicht  erkranken.  Immerhin  Hesse  sich 
an  das  Herz  denken  bei  einer  Stelle  in  „rtegl  legf^g  vöoov  (Kühn  I, 
598;  Fuchs  IL  555),  wo  es  heisst:  „wenn  der  Fluss  seinen  Weg  zum 
Herzen  {y.aQÖirj)  nimmt,  entstehen  Palpitationen  {nal^og),  Asthma;  die 
Brust  "wii'd  angegriifen  und  einige  werden  auch  bucklig"  (vornüber- 
gebeugte Haltung!).  Es  ist  gewiss  nicht  zufällig,  dass  trotz  voraus- 
gehender y.agdirj  nicht  von  y.aQÖiaXylrj  (s.  o.),  sondern  vom  rtali^wg  und 
anderen  auf  die  Brustorgane  bezüglichen  Erscheinungen  die  Rede  ist.  — 
Der  heftige  „Ttal/^ibg  rtegl  -/.agdirfv^  in  der  langen  Krankengeschichte 
des  Sohnes  des  Eratolaus  (Kühn  III,  637 ;  Fuchs  II,  295)  dürfte  einer 
epigastrischen  Pulsation  entsprechen,  um  so  mehr,  als  das  Klopfen 
zwischen  Nabel  und  „Knorpel"  verlegt  wird.  — 

Bei  der  Bedeutung,  welche  diese  hippokratischen,  wie  man  aus  dem 
Vorstehenden  ersieht,  durchaus  nicht  einheitlichen  Anschauungen  für  die 
spätere  Medizin  gehabt  haben,  war  eine  etwas  eingehendere  Behandlung 
derselben  sicherlich  nicht  ganz  ungerechtfertigt. 

Eine  rationelle  Pathologie  des  Herzens  hat  gründliche  anatomische 
Kenntnisse  zur  selbstverständlichen  Voraussetzung.  Wenn  nun  auch 
die  Anatomie  des  Herzens  selbst  in  älteren  Zeiten,  wie  wir  aus 
Diogenes  von  Apollonia  (Fragment  bei  Aristoteles,  Tier- 
geschichte III,  1),  den  Hippokratikern  —  ausser  der  genannten  Spezial- 
schrift  einige  Bemerkungen  in  der  älteren  tceqI  ävatoftf^g  —  nament- 
lich aber  den  Alexandrinern,  voran  Herophilos  und  Erasistratos, 
wissen,  auf  einer  leidlichen  Höhe  stand,  —  Herophilos  benannte  die 
(pllip  äQTTjQiwör^g,  letzterer  kannte  die  Herzklappen,  im  ganzen  11,  und 
die  Herzostien  — ,  so  dauerte  es  doch  lange,  bis  pathologische,  auch 
heute  noch  verständliche  Veränderungen  am  Herzen  ausdrücklich 
namhaft  gemacht  werden. 

Viel  ist  bei  den  Alten  die  Rede  von  ..xaQÖLay.öv,  avyxortr]  yiagöiaycij, 
morbus  cardiacus,  passio  cardiaca,  aber  der  Sitz  des  Leidens  wird 
sehr  verschieden  angegeben.  Das  Uebel  scheint  populär  gewesen  zu 
sein,  denn  Cicero  (De  Divinitate  I,  38),  Horaz  (Satir.  II,  3  V.  161), 
S  e  n  e  c  a  (Epistolae  Lib.  II,  cap.  XV ),  J  u  v  e  n  a  1  (V,  32)  sprechen  von 
den  Cardiaci,  bei  denen  übrigens  auch  gelegentlich  mehr  an  psychische 
Affektion  zu  denken  sein  dürfte.  Celsus  (III  cap.  19),  zugleich  von 
den  ..phrenetici"  redend,  fasst  den  morbus  cardiacus  im  wesentlichen 
als  eine  mit  Schwäche  und  reichlichem  Seh  weiss  einhergehende  Magen- 
affektion, wie  auch  Alexander  Trallianus  die  Krankheit  in  den 
Magen,  Asklepiades  dagegen  in  das  Herz  verlegt,  worin  sich  ihm 
Plinius  (XI  §  187)  mit  merkwürdigen  Angaben  über  die  Unver- 
brennlichkeit  des  Herzens  und  Aretaios  Kappadox  (De  causis  et 
signis  acut.  Lib.  H,  cap.  3.  Edit.  Kühn  p.  39)  anschliesst:  „at-yxornj 
xaQÖirjg  iatl  xal  ^cjf^g  vovaog^.    Er  verspottet  diejenigen,  welche  die 


632  Hermann  Vierordt. 

Synkope  in  den  Magen  verlegen.  Galenos  hinwiederum  denkt  an 
den  Magen,  hebt  aber  den  sympathischen  Einfluss  der  ,.xa^(5m"  auf 
Herz,  Hirn  etc.  hervor,  wie  nach  ihm  Aetios  von  Amida  (Tetra- 
biblion  Edit.  Cornarus  III  5).  So,  wie  späterhin  Paulos  von  Aegina 
die  „Sj^ncope"  als  eine  Herzaffektion  beschreibt,  kann  jede  Ohnmachts- 
anwandlung darunter  verstanden  werden ;  allerdings  ist  es  für  manche 
Autoren,  Aretaios,  Alexander  von  Tralles,  zuweilen  eine  tödliche 
Krankheit,  und  so  mögen  für  die  Alten  mancherlei  Aflfektionen, 
Magen-  und  Herzleiden,  auch  allerhand  „Kachexien"  und  schwere 
Anämien,  unter  diesem  Namen  figuriert  haben.  Die  Definition,  die 
beispielsweise  Caelius  Aurelianus  (Lib.  II  cap.  30  ff.)  mit  einer 
Trennung  in  eine  „communis  und  propria  significatio"  und  entsprechen- 
den differentiell- diagnostischen  Bemerkungen  von  der  „cardiaca  passio" 
giebt,  ist  keinesfalls  geeignet,  Klarheit  zu  schaffen.  Schon  der  Um- 
stand, dass  die  einen,  Celsus,  Caelius  Aurelianus,  sie  für 
fieberhaft  erklären,  andere,  wie  Asklepiades,  nicht,  macht  die 
Sache  sehr  kompliziert.  Hat  doch  sogar  C.  Hecker,  an  Jacques 
Houillier  sich  anlehnend,  beim  Malum  cardiacum  an  den  englischen 
Schweiss  (\)  erinnert  (s.  seine  Monographie,  Berlin  1834,  p.  186). 

Auch  die  Entzündung  der  Hohlvene  hat  bei  den  Alten 
und  in  späteren  Jahrhunderten  noch  eine  ßolle  gespielt.  Die  Schil- 
derung derselben  bei  Aretaios  (Acut.  Lib.  11  cap.  8;  Kühn  p.  51) 
ist  mit  Anmerkungen  in  deutscher  Uebersetzung  bei  Testa-Sprengel 
(p.  215)  nachzulesen.  Da  und  dort  wird  bei  den  Alten  von  dia- 
gnostischen Zeichen  am  Gefässsystem  gesprochen.  Berühmt  war  des 
Herophilos  (s.  a.  bei  Ozanam,  1.  c.  p.  9)  verloren  gegangene 
Schrift  „7T€qI  acpvy(.iCjv  Ttgay^arsiag'^  und  Plinius  redet,  auf  ihn  sich 
beziehend,  XXIX  §  6  vom  venarum  und  deutlicher  XI,  219  vom 
arteriarum  pulsus  als  „index  fere  morborum",  wie  auch  Herophilos 
mit  wunderbarer  Kunst,  in  allzu  grosser  Spitzfindigkeit  eine  Art 
Metrik  des  Pulses  aufgestellt  habe.  Die  Wichtigkeit  der  Beobachtung 
des  rascheren  oder  langsameren  Pulses  erkennt  auch  Plinius  an. 

Galen,  der  gegen  des  Erasistratos  Annahme,  dass  die  x\r- 
terien  bloss  Luft  enthalten,  eine  besondere  Schrift  (Kühn  IV,  307) 
gerichtet  hat,  ist  der  Schöpfer  einer  über  Gebühr  ausgesponnenen,  in 
verschiedenen  Einzelschriften  niedergelegten  Pulslehre,  die,  wie  auch 
seine  verworrenen  Lehren  von  der  Blutbewegung,  bis  in  Harvey's 
Zeiten,  ja  noch  länger  ihren  nicht  gerade  günstigen  Einfluss  geübt 
hat.  Er  spricht  von  Veränderung  des  Pulses  bei  leichten  Dyskrasien, 
vom  plötzlichen  Tod  bei  „organischen"  Dyskrasien,  bei  anscheinend 
herzkranken  Gladiatoren,  von  der  Behinderung  der  Herzthätigkeit 
durch  Ansammlung  von  Flüssigkeit  im  Herzbeutel,  von  einem  Tumor 
im  Perikard  eines  Affen,  Hahns  und  nimmt  ähnliche  Veränderungen 
auch  beim  Menschen  an.  Ausdrücklich  unterscheidet  er  gefährliche 
Herzwunden,  welche  den  Ventrikel,  zumal  den  linken,  eröffnen  und 
solche,  welche  das  Herzfleisch  nicht  ganz  durchbohren.  Auch  von 
einer  vom  Herzen  ausgehenden  Dyspnoe,  deren  Theorie  uns  freilich 
kaum  ansprechen  dürfte,  ist  die  Rede. 

Unter  den  arabischen  Aerzten  bietet  die  reichste  Ausbeute 
Avenzoar  (12.  Jahrhundert),  der  in  seinem  „Altheisii^"  Lib.  I  Tract. 
XII  die  Krankheiten  des  Herzens  behandelt,  dessen  primäre  und 
„sympathische"  Erkrankung  unterscheidet,  die  Affektionen  des  linken 
und  rechten  Ventrikels,  erstere  als  die  wichtigeren,  trennt.    Nachein- 


Geschichte  der  Herzkrankheiten.  633 

ander  bespricht  er  in  6  Kapiteln  die  Herzpalpitationen,  das  „malum 
cardiacum",  das  er  als  eine  vielfach  durch  psychische  Erregungen  ver- 
anlasste Herzkrankheit  auffasst,  die  (wie  bei  Galen  mit  dem  Urin 
verglichenen!)  serösen  Ansammlungen  im  Herzbeutel,  wobei  er  auch 
geronnener  Säfte  (also  Pseudomembranen)  und  der  Knorpelbildung  im 
Herzbeutel  gedenkt,  fieberhaftes  „Erysipel"  des  Herzens  und  den 
Abscess  desselben.  In  der  Therapie  der  Herzkrankheiten  spielt  der 
reichliche  Aderlass  eine  Rolle. 

Das  weitere  Mittelalter  bringt  nicht  viel  Neues  bei;  höchstens 
wären  (s.  übrigens  bei  Testa  p.  15 — 17)  die  „Consilia"  des  Bartolomeo 
Montag  nana  d.  Aelt.,  Prof.  in  Padua  (f  ca.  1460)  zu  nennen,  die 
sich  in  einzelnen  Fällen  auf  Leichenöffnungen  gründen.  Er  nimmt 
ursprüngliche  Herzfehler  an,  spricht  von  motus  tremulans  et  bipulsans 
cordis  (Consil.  266).  Aus  dem  spätesten  Mittelalter  ist  der  Florentiner 
Antonio  Benivieni  (f  1502)  —  de  abditis  morborum  causis  —  zu 
erwähnen,  der  verschiedene  Herzbefunde,  wovon  einige  lediglich  Blut- 
gerinnsel gewesen  zu  sein  scheinen,  geheilte  Herzverletzung  (Observ. 
65),  auch  ein  durch  Rippencaries  freigelegtes  Herz  beschreibt  — 
vgl.  Galen 's  Beobachtung:  de  anatom.  administrationibus  Lib.  VII; 
Kühn  II  p.  631. 

Sein  Schüler,  der  Anatom  Alessandro  Benedetti  (f  1525)  er- 
wähnt in  seiner  „Anatomia"  (Lib.  III  cap.  12)  die  Verschiebungen 
des  Herzens  bei  wechselnder  Lage. 

Nicolö  Massa  (j  1569)  —  Liber  introductorius  anatomiae  cap. 
XXII)  beobachtete  ein  „Geschwür"  (Abscess)  beider  Herzhälften,  des- 
gleichen eine  von  ihm  Cardiogmus  genannte  gewaltige  Erweiterung 
des  Herzens,  weiche  übrigens  auch  die  etwas  älteren  Achillini, 
Berengar  von  Carpi  und  Charles  Estienne  kennen.  V e sa- 
lin s  erwähnt  in  seiner  grossen  Anatomie  Edit  II  Lib.  I  cap.  V  (Edit. 
Basil.  p.  24;  Albin.  p.  17 j  eine  Herzanomalie  mit  anschliessendem  Aus- 
setzen des  Pulses  und  Gangrän  der  linken  Unterextremität  (vgl. 
Anatom.  G.  Falloppiae  observationum  examen;  Edit.  Albin.  p.  806). 
Den  angeborenen  Mangel  des  Herzbeutels  bespricht  zuerst  bei  einem 
an  Ohnmächten  leidenden,  plötzlich  verstorbenen  Akademieschüler 
Realdo  Colombo  (De  re  anat.  libri  XV  Venetiis  1559  p.  265),  nach 
ihm  Tulpius,  AI.  Littre  (1712)  u.  a.  —  s.  Taruffi,  1.  c.  p.  308. 

Auch  der  Morbus  cardiacus  erscheint  bei  den  einzelnen  Autoren 
sehr  verschieden  erklärt,  so  von  Gi.  Batt.  de  Monte  (f  1552)  — 
Gonsultationes  medicae  —  in  einem  Fall  aus  hysterischen  Beschwerden. 

Von  sonstigen  Schriftstellern  nenne  ich  Guillaume  Rondelet, 
welcher  die  Entzündung  des  Herzbeutels  als  sehr  seltene  Krankheit 
beschreibt,  Jacques  Houillier  (1498—1562)  mit  manchen  Beobach- 
tungen in  „De  morbis  internis"  und  Antonio  Donato  d'Altomari 
(De  medendis  humani  corporis  malis  1553,  cap.  54,  55). 

Bezüglich  der  Kasuistik  sollen  Joh.  Schenck's  von  Grafen- 
berg in  Württemberg  (1530—98)  namentlich  auch  die  pathologische 
Anatomie  berücksichtigendes  Sammelwerk  TlaQatriQr^oetov  sive  observa- 
tionum medicärum  .  .  .  volumen,  sowie  des  Marcellus  Donatus  De 
medica  historia  libri  VI,  Mantuae  1686  erwähnt  sein  und  Guillaume 
Baillou  (Ballonius,  1538—1616  —  Consiliorum  medicinalium  libri  III) 
sei  als  derjenige  genannt,  welcher  zuerst  die  (venvirrende !)  Bezeichnung 
„Aneurysma  cordis"  für  Herzerweiterung  anwandte,  während  Jean 
Fernel  (f  1558)  als  erster  Aneurysma  für  Arterienerweiterung  mit 


634  Hermann  Vierordt. 

der  Unterscheidung  in  wahres  und  falsches  An.  gebraucht  hat. 
Uebrigens  verwendet  auch  Vesalius  (Chirurgia  magna  Lib.  V  cap.  I, 
Edit.  Albini  p.  1040  u.  1041)  den  Ausdruck  „Aneurysma"  für  die 
Geschwulst  beim  ungeschickten  Aderlass.  Eine  reiche  Zusammen- 
stellung von  Fällen  knochiger  und  steinartiger  Konkretionen  in  und 
am  Herzen  findet  man,  mit  Berücksichtigung  auch  der  früheren  Zeit, 
in  D.  Langhans'  Dissertation  (s.  Litt.)  von  1747. 

Schon  hier  sei  angeführt,  dass  die  Verkreidung  der  Coronar-Ar- 
terien  von  Lorenzo  Bellini  (1643 — 1704),  Charles  Drelincourt 
(1633—1697),  J.  F.  Grell  (Dissertation  Wittenberg  1740,  resp.  G. 
S.  Reinhold;  auch  in  A.  Hallers  Disputationes  s.  Litt.)  beschrieben 
ist,  allerdings  ohne  Aufstellung  einer  spezifischen  Symptomatologie. 
Die  Verknöcherung  der  Aorta  und  Pulmonalis  registriert  Pechlin. 

Yerschiedene,  namentlich  ältere  Angaben  über  knöcherne  Neubildungen 
in  und  am  Herzen  findet  man  in  Haller's  Physiologie,  Edit.  Lausannae, 
Bd.  I  p.  325,  343,  349. 

Das  17.  Jahrhundert  bringt,  von  schon  Erwähntem  abgesehen, 
der  Lehre  vom  Herzen  und  den  Herzkrankheiten  einige  Förderung. 
Des  Sebastiano  Pissini  in  Lucca  Werk  (s.  Litt.)  ist,  wenn  auch 
noch  sehr  in  alten  Anschauungen  befangen,  reichhaltiger,  als  sogar 
verschiedene  spätere  Werke,  wie  das  des  Attilius  Bulgetius  von 
1657.  Von  Pissinius  stammt  die  Bezeichnung  „Polypus"  cordis,  die 
so  viel  Unheil  und  Verwirrung  in  der  Pathologie  angerichtet  hat. 
Fabrizio  Bartoletti's  (f  1630)  Methodus  in  Dyspnoeam,  Bononiae 
1620,  enthält  viele  interessante  Beobachtungen:  Verwachsung  des 
Herzens  mit  dem  Herzbeutel,  Fettansammlung  in  diesem,  Verschwärung 
des  Herzens,  Verknöcherung  der  arteriösen  Klappen;  natürlich  fehlen 
auch  nicht  die  vielberufenen  Polypen,  welchen  auch  Marcello  M  a  1  - 
pighi  eine  Studie  widmete;  Th.  Ke rekring  (Spicilegium  ana- 
tomicum,  Amstelodami  1670)  erklärte  sie  für  agonale  Erscheinungen, 
während  wieder  Nicolaus  Tulpius  (11678)  in  seinen  verdienstlichen 
Observationes  medicae  Libri  III  —  Lib.  I  cap.  72  —  „echte"  Polypen 
beschreibt  und  abbildet.  Auch  in  Harvey's  epochemachender  Schrift 
finden  sich  einzelne  pathologische  Beobachtungen,  so  der  erste  Fall 
einer  (an  Robert  Darcy  beobachteten)  Ruptur  der  linken  Herzkammer 
mit  fingerbreitem  Riss  in  der  Exercitatio  II  ad  Riolanum,  Edit. 
Roterod.  1660  p.  251.  Gleich  darauf  beschreibt  er  ein  „bovinum  cor" 
mit  stark  erweiterter  Aorta  und  skizziert  die  Symptome  während  des 
Lebens.  Der  berühmte  Fall  des  jungen  Lord  Montgomery,  dessen 
Herz  nach  traumatischer  Eiterung  der  Brustwand  freilag,  steht  in 
den  Exercitationes  anatomicae  de  generatione  animalium  Nr.  LI, 
Londini  1651  p.  156.  —  Vgl.  die  Fälle  Galen's  und  Benivieni's 
s.  0.  p.  633. 

Auch  der  für  die  normale  Anatomie  und  Physiologie  bedeutungs- 
volle Tractatus  de  corde  Londini  1669  von  Richard  Lower  enthält 
einige  Bemerkungen  über  die  Herzbeutelergüsse  infolge  venöser 
Stauung  und  über  deren  Wirkung,  auch  eine  Herzbeutelverwachsung 
bei  einer  alten  Frau. 

Wesentliche  und  nachhaltige  Bereicherung  erfuhr  die  Lehre  von 
den  Herzkrankheiten  im  18.  Jahrhundert,  in  welchem  der  Grund 
zu  einer  strengeren,  wissenschaftlichen  Behandlung  des  Gegenstandes 
gelegt   wurde.     Hier   glänzen   die    Namen   Vieussens,   Lancisi, 


Geschichte  der  Herzkrankheiten.  635 

Albertini  und  vor  allem  Senac,  dem  sich  der  auch  auf  anderen 
Gebieten  der  Pathologie  bahnbrechende  Morgagni  anschliesst. 

Eaymond  (de)  Vieussens  (1641—1715)  aus  Vieussens  in  der 
Eouergue,  Arzt  und  Professor  in  Montpellier,  ein  auch  um  die  mensch- 
liche Neurologie  hochverdienter  Forscher,  hat  in  seinem  Hauptwerke 
(s.  Litt.)  sich  zwar  mehr  der  normalen  Anatomie  und  Physiologie  ge- 
widmet, aber  durch  eingestreute  Sektionen  —  er  verfügte  über  ein 
reiches  Leichenmaterial  —  doch  der  pathologischen  Anatomie  wesent- 
lichen Vorschub  geleistet.  Erwähnt  mag  sein  die  vielfach  ange- 
zweifelte Beschreibung  eines  doppelten  Herzens  bei  einem  bisher  ge- 
sunden 35jährigen  Soldaten,  weiters  (im  XII.  Kap.)  die  Beschreibung 
einer  Stenose  des  Ostium  venosum  sin.  mit  Verkalkung  der  Bicus- 
pidalklappe  und  Dilatation  des  rechten  Herzens  und  die  erste  deut- 
lich beschriebene  Insufficienz  der  Aortenklappen  infolge  „Versteinerung" 
bei  einem  Epileptiker,  freilich  wohl  nicht  die  erste  überhaupt  — 
vgl,  0.  Bartoletti  —  wie  Vieussens  meint.  Bei  beiden  Fällen  wird 
die  Rückwirkung  auf  die  Blutcirculation  besprochen,  im  zweiten  FaU 
auch  der  sehr  volle  und  harte  Puls  hervorgehoben.  Er  war  „so  stark, 
dass  die  Arterien  beider  Arme  die  Spitzen  meiner  Finger  wie  eine 
straff  gespannte  und  mit  grosser  Gewalt  in  Schwingung  versetzte 
Saite  trafen"  —  also  der  späterhin  von  Corrigan  und  Hope  (s.  u.) 
eingehender  beschriebenen  charakteristische  Puls.  „Je  n'ai  jamais  vu 
pareille  affection  et  j'espere  bien  n'en  jamais  revoir."  Oefters  wagt 
Vieussens  am  Krankenbette  die  Diagnose  einer  Herzkrankheit,  im 
besonderen  der  Herzbeutelwassersucht  in  Fällen,  wo  früher  wohl 
„Asthma"  und  „Hydrothorax"  vorausgesetzt  wurde. 

Eeicher  noch  ist  die  pathologische  Ausbeute,  systematischer  der 
Aufbau  des  ganzen  Materials  bei  seinem  Zeitgenossen,  dem  Römer 
Giovanni  Maria  Lancisi  (1654 — 1720),  zumal  in  dessen  posthumem 
Hauptwerke  über  das  Herz.  Schon  in  der  älteren  kleinen  Schrift 
(s.  Litt.)  wird  der  plötzliche  Tod  zurückgeführt  auf  Strukturfehler, 
mechanische  Hindernisse  (Tumoren,  Polypen)  oder  nervöse  Krankheiten 
des  Herzens  („Ohnmacht");  es  werden  unterschieden  Hypertrophie 
(==  nimis  aucta  moles)  und  Aneurysma  cordis  (Dilatation).  Er  spricht 
von  knorpligen,  verknöcherten,  entzündeten  Klappen  und  erwähnt 
erstmals  warzenförmige  Auswüchse  derselben.  —  Der  zweite  Haupt- 
teil des  grösseren  Werkes,  der  von  den  Aneurysmen  handelt,  ist  be- 
sonders denen  des  Herzens  gewidmet,  worunter  Lancisi  die  (nach 
seiner  Ansicht  am  häufigsten  in  den  Vorhöfen,  im  linken  Ventrikel 
am  seltensten  zu  treffende)  Dilatation  mit  Wandverdünnung  haupt- 
sächlich versteht,  obwohl  ihm  die  gleichzeitig  vorkommende  Ver- 
dickung der  Wand  nicht  unbekannt  ist.  Das  Uebel  erklärt  er  für 
häufiger,  als  die  meisten  Aerzte  glauben;  in  ätiologischer  Beziehung 
betont  er  mechanische  Hindemisse  durch  Arterien-  und  Klappener- 
krankung, Verengerung  der  Ostien,  auch  die  „diuturna  vis  repercussi 
sanguinis",  femer  chronischen  Lungenkatarrh  (vgl.  das  Lungenem- 
physem), psychische  Depression,  heftige  Anstrengungen.  Diese  Mo- 
mente wirken  um  so  eher,  wenn  das  Blut,  wie  bei  Hypochondrie, 
Hysterie,  Syphilis  („Aneurysma  gallicum"),  mit  scharfen  und  ätzenden 
(Aneurysma  mercuriale)  Stoffen  beladen  ist.  Lancisi  weist  als  erster 
ausdrücklich  auf  die  Bedeutung  der  Schwellung  der  Halsvenen  bei 
Erweiterung  der  rechten  Herzhöhle  hin.    Er  spricht  dabei  von  der 


636  Hermann  Vierordt. 

Insufficienz  der  dreizipfligen  Klappe,  worin  ihm  merkwürdigereise 
Senac  späterhin  nicht  beipflichten  will. 

In  diagnostischer  Beziehung  ragt  rühmlich  hervor  der  von  einer 
ganzen  Reihe  von  Autoren,  Sprengel,  Baas  (Grundriss),  Quantin, 
P a g e  1 ,  mit  Stillschweigen  übergangene  Ippolito  Francesco  Albertini 
aus  Crevalcuore  bei  Bologna,  also  eines  Landsmanns  von  Marcello 
Malpighi  und  wie  dieser  Professor  in  Bologna.  Geboren  ist  er 
1662,  gestorben  1738,  im  gleichen  Jahre  wie  Boerhaave.  Nicht  zu 
verwechseln  ist  er  mit  dem  älteren  Annibale  Albertini,  der  1618 
„De  affectionibus  cordis"  geschrieben  hat.  Obwohl  erst  1748  im  Druck 
erschienen  (s.  Lit),  ist  Albertini's  Schrift  schon  1726  als  Mitteilung 
an  die  Akademie  in  Bologna  verfasst,  demnach  noch  vor  Herausgabe 
von  Lancisi's  posthuraem  Werk;  sie  ist  die  Frucht  langjähriger  Be- 
obachtung. Den  verschiedenen  Arten  der  Herzerweiterung  sucht  Al- 
bertini nach  der  diagnostischen  Seite  näher  zu  kommen,  glaubt 
aber  in  seiner  Bescheidenheit  keine  „distincta  signa  diagnostica"  auf- 
stellen zu  können.  Mit  seiner  Trennung  in  aneurysmatische,  durch 
fühlbares  Schwirren  und  Stossen  in  der  Präkordialgegend  ausge- 
zeichnete und  in  variköse  Erweiterung  scheint  er  die  Dilatation 
mit  oder  ohne  Wandverdickung  zu  meinen.  Bei  der  Erweite- 
rung des  rechten  Herzens  kommt  mehr  die  variköse  Form  in  Be- 
tracht, bei  der  aneurysmatischen,  mit  starkem  Anschlag  verknüpften 
mrd  auch  der  gelegentlichen  Usur  der  Wirbel  Erwähnung  gethan. 
Als  besonders  schwierig  zu  erkennen  schildert  Albertini  die  vari- 
kösen Erweiterungen  mit  schwacher  (confusus  et  obscurus)  Herzbe- 
wegung, da  ja  auch  beim  perikarditischen  Exsudat  schwacher  Schlag 
vorkomme.  Die  Herzpulsation  will  er  auch  nach  ihrer  Ausdehnung 
am  Thorax  gewürdigt  wissen.  Die  Dyspnoe  der  Herzkranken  führt 
er  auf  die  Blutüberfüllung  der  Lunge  zurück,  die  sogar  zu  Blutaustritt 
in  die  Lungenbläschen,  weiters  zu  Hydrops  pectoris  führen  könne. 
Gefährlicher  als  dieser  sei  der  Hydrops  pulmonum.  Dem  Hydrops 
der  äusseren  Teile  entspreche  eine  seröse  Infiltration  der  inneren.  — 
Bezüglich  der  Prognose  lässt  Albertini  ältere  und  schwächere  In- 
dividuen, sowie  das  weibliche  Geschlecht  bei  Herzkrankheiten  im 
ganzen  weniger  gefährdet  sein.  In  therapeutischer  Hinsicht  ist  die 
Venäsektion  bei  den  Paroxysmen  in  den  Vordergrund  gestellt,  sonst 
ist  er  mehr  für  milde  Mittel  (Eisenpräparate),  perhorresciert  Purgantia 
und  Diuretica,  überhaupt  eingreifenderes  Verfahren  und  empfiehlt  im 
Gegenteil  milde,  aber  stärkende  Nahrungsmittel  (Hühnerbrühe,  Frosch- 
suppe). Dem  begleitenden  Katarrh  gebührt  besondere  Aufmerksam- 
keit (Honig,  Plantago,  Terpentin).  Nur  für  die  Aneurysmen  der 
(inneren)  Arterien  hat  er  gemeinschaftlich  mit  Ant.  Maria  Val- 
salva  (1666 — 1723)  die  an  eine  Venäsektion  sich  anschliessende 
40tägige  (im  19.  Jahrhundert  durch  Bellingham  u.  Th.  J.  Tufnell 
modifizierte)  Ruhe-  und  Hungerkur  eingeführt,  angeblich  vielfach  mit 
gutem  Erfolg,  namentlich  wo  es  sich  um  die  (oft  wohl  nur  ver- 
muteten!) Anfänge  des  Leidens  handelte.  War  doch  in  jener  Zeit  die 
Furcht,  an  Herzaneurysma ,  sozusagen  der  Modekrankheit,  zu  er- 
kranken, gerade  auch  bei  den  Aerzten  weit  verbreitet. 

Morgagni,  Schüler  Albertini's,  widmet  den  Herzkrankheiten 
mehrere  seiner  Briefe  des  II.  Buches,  in  welchen  die  „Respiratio  laesa" 
der  Reihe  nach  aus  ihren  Ursachen  hergeleitet  wird:  Thoracis  et 
pericardii  hydrops  (Epist.  16),  Cordis  aut  magnae  arteriae  intra  tho- 


GrescMchte  der  Herzkrankheiten.  637 

racem  aneurrsmata  (Epist.  17  u.  18».  Palpitatio  et  dolor  cordis  (Ep. 
23),  Pulsus  praeter  naturam  (24),  Lipothvmia  et  Syncope  (25),  Mors 
repentina  ex  \itio  vasorum  sanguiferorum  (26).  Neben  eigenen  Be- 
obachtungen figurieren  namentlich  auch  solche  von  Valsalva.  vom 
Schluss  der  16.  Epistel  ab  (s.  daselbst)  kennt  er  auch  Senae's  Traite. 
Die  Differentialdiagnose  zwischen  Brust-  und  Herzbeutelwassersucht 
wird  an  der  Hand  von  Krankengeschichten  erörtert,  resp.  ihre  Schwierig- 
keit hervorgehoben,  da  die  konventionellen  Symptome  nicht  durchaus 
verlässlich  seien,  jedenfalls  ein  pathoguomonisches  Zeichen  für  die 
Herzbeutelwassersucht  nicht  existiere.  Ausdrückliche  Erwähnung  ver- 
dient ein  derartiger,  berühmt  gewordener  Fall  bei  einer  Nonne  in 
Bologna  (Epist.  XVI  Art.  42 ff.),  Avobei  Albertini's  diagnostisches 
Können  neben  dem  der  anderen  Aerzte  sich  in  glänzendem  Lichte 
zeigt.  —  In  manchen  Beziehungen  stimmt  Morgagni  mit  seinem 
Lehi'er  Albertini  und  seinem  Freunde  Lancisi  überein.  was  die 
Arten  der  Herzvergrösserung  (Hypertrophie  und  Dilatation),  die  Be- 
deutung der  gestörten  Klappenfunktion,  des  begleitenden  Lungen- 
katarrhs etc.  betrifft. 

Es  verdient  angemerkt  zu  werden,  dass  Morgagni  bei  der  an- 
geborenen Cyanose  mit  Recht  weniger  an  die  Durchmischung  beider 
Blutarten,  als  an  die  Rückstauung  und  Ueberfüllung  im  Venensystem 
denkt  (Epist.  XVII  Art.  12,  13i  und  dass  er  den  übrigens  schon  von 
Galen  gekannten  (echten)  Puls  der  Venae  jugulares  richtig  deutet 
(Epist.  XVin  Art.  12)  als  auf  Ventrikel-,  ausdi'ücklich  nicht  Vorhofs- 
kontraktion beruhend.  Wie  im  ganzen  Werk,  so  wird  auch  hier  an 
die  Stelle  vager  Sjrmptome  die  anatomische  Veränderung  zu  setzen 
gesucht ;  als  Grund  der  ,,Palpitationen"  lassen  sich  gar  häufig  wirk- 
liche organische  Krankheiten  des  Herzens  und  der  Aorta  nachweisen. 

Ein  für  seine  Zeit  und  auch  für  die  spätere  noch  hervorragendes 
und  umfassendes,  jedenfalls  eine  im  Ganzen  gelungene  systematische 
Anordnung  aufweisendes  Werk  stellt  Jean  Bapt.  Senae's  Traite  (s. 
Litt.)  dar,  von  welchem  manche,  Albertini's  Verdienst  übersehend, 
die  eigentliche  wissenschaftliche  Lehre  von  den  Herzkrankheiten  da- 
tieren, indem  sie  das  Werk  als  das  erste  seiner  Art  für  das  18.  Jahr- 
hundert erklären.  Senac  betont,  —  wenn  wir  vom  anatomischen  und 
physiologischen  Teil  absehen  —  die  Zunahme  der  Herzkrankheiten 
mit  dem  höheren  Alter  (60 — 65  J.).  Das  ..Aneurysma"  hält  er  füi* 
das  häufigste  Vorkommnis  am  Herzen,  die  Bedeutung  der  Polypen 
schränkt  er  ein,  dagegen  betont  er  als  erster  die  Entzündung  des 
Herzens  (im  4.  Kapitel)  und  des  Herzbeutels,  welch'  letzteren  er  auch 
bei  Entzündungen  der  Lunge  und  des  Brustfells  in  Mitleidenschaft 
gezogen  werden  lässt.  Pathognomonische  Zeichen  für  die  einzelnen 
Arten  der  Herzkrankheiten  erkennt  er  nicht  an,  sucht  aber  einige, 
späterhin  nicht  bewährte  Sj'mptome  für  die  Herzbeutelwassersucht  zu 
fixieren.  Im  1.  Kapitel  stellt  er  sehr  beachtenswerte  Normen  für  die 
Behandlung  der  Herzkrankheiten  auf,  zumal  in  diätetischer  Hinsicht; 
gegen  den  sekundären  Hydrops  empfiehlt  er  Scilla.  Das  Missverhält- 
nis zwischen  Grösse  des  Ergusses  ins  Perikard  und  den  dyspnoischen 
Beschwerden,  die  selbst  bei  grossen  Ergüssen  gering  sein  können, 
wird  betont.  Besondere  Anerkennung  verdient  es,  dass  Senac  die 
legendäre  Kasuistik  vom  haarigen  Herzen,  von  Steinen  und  Würmern 
im  Herzen  sehr  kritisch  behandelt  (5.  Kapitel).  —  Die  „Polypen"  des 
Herzens  (6.  Kap.)  würdigt  er  als  überwiegend  agonale  Erscheinungen, 


638  Hermann  Vierordt. 

die  durch  Unebenheiten  und  Rauhigkeiten  im  Herzen  begünstigt 
werden.  Auch  Senac  begreift  unter  Aneurysma  die  verschiedenen 
Arten  der  Herzvergrösserung  (8.  Kap.),  ohne  übrigens  Hypertrophie 
und  Dilatation  ausdrücklich  zu  unterscheiden.  In  der  Mehrzahl  der 
Fälle  lässt  er  die  Wandungen  verdickt  sein.  Er  kennt  (auf  Distanz 
vernehmbare)  Herzgeräusche,  auch  den  Herzbuckel,  den  er  unter  den 
Zeichen  des  Aneurysmas  mit  verdickter  Wand  aufführt;  Stenose 
der  arteriellen  Ostien  (durch  Klappenveränderung)  lässt  er  häufiger 
sein,  als  die  der  venösen.  Auch  die  Fettauflagerung  auf  dem  Herzen 
wird  nach  der  mechanischen  Seite  gewürdigt  (5.  Kap.). 

In  Auenbrugger's  freilich  erst  später  zu  Geltung  und  Ansehen 
gelangtem  Inventum  novum  vom  Jahr  1761  (s.  p.  604)  ist  der  Hydrops 
pericardii  (§  46)  —  aquosus  vel  purulentus  —  und  das  Aneurysma 
cordis  =  Dilatatio  cordis  (§  48)  erwähnenswert;  bei  beiden  ist  ausser 
sonstigen  Zeichen  der  „sonitus  carnis  percussae"  vorhanden. 

Einschneidender  ist,  speziell  für  die  Herzkrankheiten,  die  Be- 
deutung J.  N.  Corvisart's  in  seinen  beiden  Schriften.  In  seinem 
Essai  sur  les  maladies  du  coeur  (Litt,  bei  „Perkussion  und  Auskul- 
tation) ist  die  Lehre  von  den  Herzkrankheiten  auf  Grund  lang- 
jähriger Beobachtungen  beträchtlich  gefördert,  namentlich  im. Kapitel 
der  Erkrankungen  der  Herzmuskulatur  (2.  wohl  bester  Abschnitt)  und 
der  sehnigen  und  fibrösen  Teile  des  Herzens.  Von  ihm  stammt  der 
Begriif  der  „Lesion  organique"  des  Herzens  (1.  c.  Discours  preliminaire, 
init.).  Corvisart  unterschied  in  nicht  ganz  zweckmässiger  Weise 
ein  aktives  und  passives  Aneurysma  des  Herzens,  d.  h.  Erweiterung 
mit  Wandverdickung  oder  -Verdünnung.  Die  verschiedenen  Verände- 
rungen an  den  Klappen  und  Ostien  sind  eingehend  an  der  Hand 
zahlreicher  persönlicher  Beobachtungen  geschildert;  bei  der  5.  „Klasse", 
welche  dem  Aortenaneurysma  gewidmet  ist,  überrascht  die  genaue 
Symptomatologie:  perkussorische  Zeichen,  allmählich  vorspringende  Ge- 
schwulst, Veränderung  der  Stimme,  Ungleichheit  der  Pulse  an  den 
Extremitäten;  die  Usur  der  Knochen  (s.  a.  p.  636),  das  Bersten  des 
Sacks  in  die  Trachea  und  vieles  andere  werden  erwähnt.  Im  übrigen 
ist,  während  Aetiologie  und  Pathogenese,  auch  die  Therapie,  ziemlich 
berücksichtigt  sind,  die  Lehre  von  den  Herzkrankheiten  im  heutigen 
Sinne  aus  begreiflichen  Gründen  nicht  sehr  entwickelt;  man  lese  in 
dieser  Beziehung  beispielsweise  die  Auseinandersetzung  über  die 
Zeichen  des  „retrecissement  des  orifices"  (2.  Kapitel  der  3.  Klasse). 
Eine  Spur  der  Auskultation  findet  sich  auch  bei  Corvisart.  Wo  er 
von  den  angeblich  auf  Distanz  hörbaren  Herzgeräuschen  spricht,  er- 
wähnt er,  dass  er  die  Herzschläge  nur  gehört  habe  „en  approchant 
l'oreille  de  la  poitrine  du  malade"  (Corollaires,  Art.  IL  Etat  de  la 
circulation).  Das  von  Laennec  als  fremissement  cataire  bezeichnete 
fühlbare  Schwirren  hat  auch  Corvisart  gekannt  und  gewürdigt. 

In  die  Lücken  springt  hier  wieder  Laennec's  Genie  ein,  vor 
dessen  Auftreten  etwa  noch  die  Arbeiten  von  Allan  Bums  (1781 
bis  1813)  in  Glasgow,  Ant.  Guiseppe  Testa  (f  1713)  in  Bologna  und 
L.  Fr.  Kreysig  (1770 — 1839)  in  Dresden  zu  nennen  wären,  von 
welchen  namentlich  des  letztgenannten  Werk  (s.  Litt.)  eine  wertvolle 
Uebersicht  über  den  jeweiligen  Stand  des  Wissens  giebt. 

Eene  Jos.  Hyac.  Bert  in  (f  1828),  der  auch  eine  von  Bouillaud 
redigierte  Monographie  über  Herzkrankheiten  (Traite  des  maladies 
du  coeur)  verfasst  hat  (1824),  mag  genannt  sein  als  Schöpfer  (1811) 


Geschichte  der  Herzkrankheiten.  639 

der  vielfach  miss verstandenen  Begriffe  der  „excentrischen"  und  ,,kon- 
centrischen"  Hypertrophie,  welche  Laennec  einfacher  als  H}T)er- 
trophie  mit  Dilatation  oder  Kontraktion  unterschied.  Aber  auch  bei 
Laennec,  so  detailliert  und  klar  seine  pathologischen  Befunde  sind, 
die  man  heute  noch  mit  Belehrung  zu  lesen  vermag,  fehlt  noch  für 
die  einzelnen  Herzklappenfehler  die  feinere  Lokalisation,  welche  in 
den  folgenden  Jahrzehnten  durch  eifrigste  Arbeit  einer  ganzen  Reihe 
vorzüglicher  Beobachter  festgestellt  wurde.  Es  war  eine  intensive 
Ausbildung  der  durch  Auenbrugger-Corvisart  und  namentlich 
Laennec  geschaffenen  physikalisch-diagnostischen  Grundlagen.  Von 
1829—1838  erschienen  6  Abhandlungen  von  Dominic  John  Corrigan 
(1802 — 1880),  worunter  besonders  die  über  Aortenklappeninsufficienz 
—  „on  permanent  patency  of  the  mouth  of  the  aorta  or  inadequacy 
of  the  aortic  valves"  in  Edinburgh  medical  and  surgical  Journal 
Vol.  37,  1832  p.  225  —  berühmt  geworden  ist.  Man  vergleiche  hierzu 
die  Bezeichnung  Maladie  de  Corrigan  (T  r  o  u  s  s  e  a  u),  pouls  de  Corrigan 
(s.  übrigens  p.  635).  Fr.  Gramer  in  seinem  Kompendium  „Die  Krank- 
heiten des  Herzens"  Kassel  1837  bezeichnet  die  ..Unzulänglichkeit 
der  Klappen"  als  „die  jüngste  Entdeckung  im  Gebiete  der  Herzkrank- 
heiten". 

Uebrigens  muss  man  den  Hinweis  auf  eine  Insufficienz  der  Aorta 
(oder  Bicuspidalis?)  auch  herausfinden  aus  den  Worten,  mit  welchen 
Chr.  G.  Seile  (Neue  Beiträge  zur  Natur-  und  Arzenei Wissenschaft 
Zweiter  Theil.  Berlin  1783.  p.  23),  eine  Beobachtung  von  „knochen- 
harten und  unbeweglichen  Yalveln  des  Herzens"  begleitet  bei  einem 
im  Leben  „ausserordentlich  grossen,  geschwinden  und  harten 
Puls''  und  die  Gerechtigkeit  erfordert  es,  darauf  hinzuweisen,  dass 
bereits  1827  Thomas  Hodgkin  in  „Medical  Gazette"  die  „Retro- 
version" der  Aortenklappen  mindestens  ebenso  genau,  als  später 
Corrigan,  beschrieben,  auch  das  diastolische  ..Bruit  de  scie"  her- 
vorgehoben hat  (s.  Guy's  Hospital  Reports  III  Series  Vol.  XXIII  1878 
p.  65).  Auf  die  nicht  allgemein  anerkannte  Verspätung  der  peri- 
pheren Pulse  gegenüber  dem  Herzstoss  hat  Will.  Henderson 
(Edinb.  med.  and  surg.  Journal  Vol.  48  1837  p.  364)  aufmerksam  ge- 
macht.—  J.  Hope,  an  dessen  Werk  über  „Krankheiten  des  Herzens 
und  der  grossen  Gefässe"  (London  1832)  auch  die  Vorrede  wegen 
seines  Standpunktes  Laennec  gegenüber  interessiert,  nimmt  für  sich 
die  schon  1825  gemachte,  von  Laennec  übersehene  Beobachtung  in 
Anspruch,  dass  mangelnder  Schluss  der  Zipfelklappen  durch  Regur- 
gitation ein  Aftergeräusch  neben  dem  ersten  Geräusch  hervorrufe 
(Uebersetzung  F.  W.  Becker,  Berlin  1833  p.  39  und  18.  u.  19.  Krank- 
heitsgeschichte). Grosses  und  bleibendes  Verdienst  erwarb  sich  Jean 
Bapt.  Bouillaud  (1796—1881).  indem  er  die  Häufigkeit  der  „Endo- 
carditis"  nachwies,  während  z.  B.  noch  Laennec  die  übrigens  auch 
von  Matth.  Baillie  und  besonders  Kreysig  angenommene  Ent- 
zündung der  „inneren  Membran"  des  Herzens  für  eine  „affection  fort 
rare"  erklärt  (III.  Partie  IL  Sect.  Chap.  XIX),  andererseits  aber  seine 
„vegetations  globuleuses"  (ibid.  Chap.  XX)  für  entzündliche  (Eiter- 
cysten)  gehalten  hatte,  die  eine  spätere  Zeit  als  ältere,  im  ganzen 
unschuldige  Gerinnsel  erkannte.  —  Auf  die  den  Gelenkrheumatismus 
komplizierenden  Herzfehler  hatte  schon  früher  (s.  Litt.)  James  John- 
son (1777—1845),  auf  die  Pericarditis  beim  Rheumatismus  Fr. 
Chomel  aufmerksam  gemacht. 


640  Hermann  Vierordt. 

Von  vielen  Autoren,  die  Erwähnung-  verdienen,  indem  sie  meist 
auch  durch  spezielle  Werke  über  Herzkrankheiten  sich  bemerkbar 
machten,  seien  genannt  Andral,  Herausgeber  der  4.  Auflage  von 
Laennec's  Traite,  Hope  (s.o.),  Williams,  Walshe,  Gendrin 
(relative  Tricaspidalisinsufficienz,  übrigens  schon  von  Kreysig  ge- 
kannt), Stokes  (s.  Litt). 

In  Deutschland  fanden  die  ausländischen  Forschungen  nur  lang- 
sam Eingang  —  vgl.  auch  den  Abschnitt  über  Perkussion  und  Aus- 
kultation p.  603  — ,  obwohl  die  hervorragenderen  Schriftwerke  fast 
ohne  Ausnahme  übersetzt  wurden.  Alte  einflussreiche  Praktiker,  wie 
Hufe  1  and,  hatten  ohnedies  nichts  von  der  Häufigkeit  der  Herzkrank- 
heiten wissen  wollen  und  die  akuten  Alfektionen  liefen  so  wie  so 
unter  allerlei  hochtönenden  Namen,  wie  Brustentzündung,  entzünd- 
liches rheumatisches  Fieber  u.  dergl.  Dabei  ist  lange  Zeit,  auch 
bei  den  Franzosen,  z.  B.  noch  bei  Grisolle  (3.  Aufl.  von  1848  des 
Traite  ...  de  pathologie  interne  IL  Bd.),  eine  gewisse  zusammen- 
fassende Behandlung  der  Stenosen  und  Insufficienzen  zu  bemerken, 
die  doch  anatomisch  und  klinisch  so  beträchtliche  Unterschiede  zeigen. 

Auch  bei  den  Herzkrankheiten  erkennt  man  S  k  o  d  a '  s  mächtigen 
und  massgebenden  Einfluss.  Die  Nachdrücklichkeit,  mit  der  er  sich 
auf  die  pathologische  Anatomie  stützte,  ist  bezeichnend  für  seine  An- 
schauungen. Bei  ihm  findet  sich  noch  deutlicher,  als  bei  Hope, 
schon  in  der  1.  Auflage  von  1839  die  genaue  Distinktion  der  „Klappen- 
fehler", Insufficienz  und  Stenose  der  einzelnen  Klappen,  wie  wir  sie 
heutzutage  zu  unterscheiden  gewohnt  sind.  Wenn  er  aber  beispiels- 
weise von  der  Verengerung  des  rechten  Ostium  venosum  schreibt: 
„ich  habe  sie  nie  beobachtet  und  es  findet  sich  selbst  im  hierortigen 
pathologischen  Museum  kein  Beispiel  davon"  (Edit.  I  p.  263)  oder 
„eine  Insufficienz  der  Klappe  an  der  Pulmonalarterie  oder  eine  Ver- 
engerung der  Einmündung  der  Pulmonalarterie  infolge  von  Fehlern 
ihrer  Klappen  habe  ich  noch  nie  gefunden"  —  die  späteren  Auflagen 
geben  sie  mindestens  als  „ungemein  selten"  an  — ,  so  können  wir 
auch  hier  ermessen,  wie  sehr  sich  unsere  Detailkenntnis  vertieft  hat; 
beide  Affektionen  rechnen  wir  nicht  mehr  zu  den  extrem  seltenen. 
Wie  schwer  uns  jetzt  selbstverständlich  erscheinende  Dinge  sich  ein- 
gebürgert haben  und  mangelndes  Verständnis  fanden,  zeigt  u.  a.  ein 
Aufsatz  von  G.  Rapp  (Zeitschrift  für  rat.  Medizin  8.  Bd.  1849  p.  146), 
in  welchen  die  uns  jetzt  geläufigen  physikalischen  Zeichen  der  Bicus- 
pidalinsufficienz  gegen  anderweitige  falsche  Auffassungen  verteidigt 
werden  müssen.  Von  Einzelheiten  der  Symptomatologie  der  Herz- 
krankheiten seien  erwähnt:  das  von  Fauvel  (Arch.  gener.  de  mede- 
cine  1843  IV  ser.  t.  I  p.  1)  zuerst  beschriebene,  heutzutage  als  prä- 
systolisches bezeichnete  Geräusch  bei  Mitralstenose,  die  Verfolgung 
des  schon  von  Senac  und  Kreysig  gekannten  Phänomens  der 
Leberpulsation  durch  H.  Seidel  (Deutsche  Klinik  1864),  Geigel 
(1864)  und  besonders  auch  Friedreich  (Deutsches  Archiv  für  klin. 
Medicin  1866  I  241,  II  262),  M.  F.  Mahot  (Des  battements  du  foie 
.  .  .  These  de  Paris  1869),  ferner  Potain's  Bruit  de  galop  (1875)  — 
vgl.  die  Angaben  bei  Kriege  u.  Seh  mall,  Zeitschrift  für  klin. 
Medicin  18.  Bd.  p.  261. 

Manches,  was  früher  in  hohem  Ansehen  stand,  wie  die  Carditis 
(s,  John  Ford  Davis,  An  inquiry  into  the  Symptoms  and  treatment 
of  carditis,  Bath  1808,  aus  dem  Engl,  übersetzt  von  Choulant,  mit 


Geschichte  der  Herzkrankheiten.  641 

Anmerkungen  von  Kreysig,  Halle  1816),  Aortitis,  Phlebitis  (John 
Hunter,  Breschet,  Cruveilhier,  der  die  ganze  Pathologie  von 
der  Phlebitis  beherrscht  sein  liess),  hat  vor  der  objektiven  Kritik  der 
pathologischen  Anatomie  nicht  Stand  gehalten.  Nicht  zum  mindesten 
sind  es  Virchow's  bahnbrechende  Arbeiten  über  den  Faserstoff,  über 
Thrombose  und  Embolie  (seit  1845)  —  vgl.  „Gesammelte  Abhand- 
lungen" Abschnitt  II  u.  IV  —  gewesen,  welche  an  die  Stelle  mancher 
Hypothesen  reellere  pathologisclie  Prozesse  gesetzt  haben. 

Die  Lehre  von  der  Endocarditis  fand  insoferne  eine  weitere 
wichtige  Ausbildung,  als  die  in  verschiedenen  Zeiten  auch  verschieden 
beurteilte  Endocarditis  „ulcerosa"  aufgestellt  wurde.  Schon  der  auch 
um  die  Lehre  von  der  Embolie  (Edinb.  med.  u.  surg.  Journ.  1853  Vol.  80 
p.  119  oder  Med.-chir.  Trans.  Vol.  XXXV  1852  p.  281)  verdiente 
Will.  Senhouse  Kirkes  (f  1864)  spricht  von  „Ulcerative  inflaramation 
of  the  valves  of  the  heart  as  a  cause  of  pyaemia  (British  med.  Jour- 
nal Vol.  II  for  1863  p.  497)  und  Virchow  (Ges.  Abhandl.  p.  711  ff. 
und  Archiv  56.  Bd.  p.  415)  hat  bei  dieser  Form  in  einem  exquisiten 
Fall  bei  einer  Puerpera  an  eine  „Materies  sanguinem  inficiens"  ge- 
dacht, die  durch  die  älteren.  „Mycosis  endocardii"  betr.  Fälle  von  E. 
Winge  und  Hjalmar  Heiberg  (Virchows  Archiv  56.  Bd.  1872 
p.  407)  nur  bestätigt  wurden.  Jetzt  ist  man  zu  der  ätiologisch 
wichtigen  Thatsache  durchgedrungen,  dass  die  Endocarditis  der  Ein- 
wanderung und  Vermehrung  von  Spaltpilzen  ihre  Entstehung  verdankt, 
und,  wenn  auch  klinische  Unterschiede  nicht  mit  der  wünschenswerten 
Deutlichkeit  sich  aufstellen  lassen  —  man  hat  einerseits  fast  lieber- 
lose ulceröse  (sonst  „bösartige")  Endocai'ditis  und  wieder  mit  Frösten 
tödlich  verlaufende  „verruköse"  (sonst  „gutartige")  E.  beobachtet  (A. 
F  r  ä  n  k  e  1)  — ,  so  ist  es  doch  sicher,  dass  die  verschiedensten  Erreger, 
Staphylococcen  und  Streptococcen,  Diplococcus  pneumoniae  (Netter, 
Weichsel  bäum),  Typhus-,  Diphtherie-  und  Tuberkelbazillen,  Bac- 
terium  coli,  Gonococcen  (J.  Marty,  Archives  gener.  de  med.  1876 
Dez.,  mit  9  Fällen,  worunter  einer  von  Lorrain  aus  dem  Jahre  1866, 
Morel.  These  de  Paris  1878,  P.  Schedler  [Le3'densche  Klinik], 
Berliner  Dissertation  1880,  v.  Leyden,  D.  med.  W.  1893  Nr.  38j  Endo- 
carditis erzeugen  können  und  zwar  von  allen  nur  denkbaren  primären 
namentlich  septischen  und  pyämischen)  Herden  aus.  Welch  ein  Um- 
schwung in  der  Pathologie  selbst  seit  den  Zeiten,  da  die  Endocarditis 
(gegen  Laennec)  als  eine  nicht  allzu  seltene  Krankheit  anerkannt 
wurde  und  der  Zeit,  da  Gen  drin  die  geringere  Ziffer  der  Endocar- 
ditis bei  Engländern  und  Deutschen  gegenüber  den  Franzosen  ledig- 
lich aus  der  einfacheren  Behandlung,  der  selteneren  Anwendung  des 
Aderlasses,  erklären  wollte!  So  ist  die  von  Virchow  geschaffene 
Lehre  von  der  Embolie,  soweit  sie  die  Verschleppung  korpuskularer 
Elemente  durch  den  Blutstrom  bedeutet  —  eine  Lehre,  die  übrigens 
auch  ihre  „Vorgänger"  in  früherer  Zeit  gehabt  hat  (s.  Litt.  Schuppe  1) 
—  gewissermassen  auch  in  mikrobiologischem  Sinne,  nicht  bloss  in 
rein  mechanischem,  zu  ihrem  Recht  gekommen. 

Die  Fettentartung  des  Herzens  ist  viel  später,  als  das  sog. 
(Mast-)  Fettherz,  die  Fettumwachsung  und  -durchwachsung  des  Herzens, 
die  früher  schon  gelegentlich  berührt  wurde,  und  als  Teilerscheinung 
der  Lipomatosis  universalis  eine,  oft  freilich  etwas  übertriebene  Rolle 
spielt,  klinisch  und  anatomisch  bearbeitet  worden.  Es  ist  dies  wohl 
begreiflich,  da   das  Mikroskop   erst  genauere  Aufklärung  zu  geben 

Handbuch  der  Oeschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  41 


542  Hermann  Vierordt. 

imstande  war.  Eine  Trennung  beider  Arten  des  Fettherzens  hat,  wie 
schon  vor  ihm  Corvisart  (1.  c.  p.  177  II.  Klasse,  Chap.  IV  Art.  3), 
der  einige  ältere  Fälle  anführt,  Laennec  (Partie  III  Sect.  II  Chap. 
XIV)  vorgenommen.  Für  die  Herzrupturen  hat  Cruveilhier  eine 
Fettentartung  des  Herzmuskels  verantwortlich  gemacht.  Später  haben 
namentlich  Williams,  Peacock  (1844),  Rieh.  Quain  (1850  und 
1852),  Ormerod,  in  Deutschland  Rokitansk}^  (1847)  und  E. 
Wagner  (Fettmetamorphose  des  Herzfleisches  in  Beziehung  zu  deren 
ursächlichen  Krankheiten  1864;  Verhandlungen  der  mediz.  Gesellschaft 
zu  Leipzig  Bd.  I)  zur  Förderung  unserer  Kenntnisse  beigetragen.  Ins- 
besondere ist  die,  andere  Affektionen  begleitende  Herzverfettung  ge- 
nauer studiert  worden,  wie  sie  bei  Ernährungsstörungen,  namentlich 
auch  schweren  Anämien  (Biermer,  Ponfick),  dann  bei  fieberhaften 
Krankheiten,  Typhus  (Louis,  F.  A.  Zenker,  C.  E.  E.  Ho  ff  mann 
s.  bei  Liebermeister,  Pathologie  des  Fiebers  1875  p.  437), 
Scharlach,  Diphtherie,  wobei  auch  Infektionswirkungen  in  Betracht 
kommen  mögen  (Hayem),  dann  bei  Syphilis,  Pocken,  Phosphor-  und 
Alkoholvergiftung,  Pericarditis,  im  Verlauf  von  Klappenfehlern  und 
als  Ausgang  der  parenchymatösen  Myocarditis  vorkommen,  während 
die  von  Eiterbildung  gefolgte  Myocarditis  unter  der  Bezeichnung  „Ge- 
schwürsbildung" schon  älteren  Autoren,  Benivieni,  Rota  (1555), 
Bartoletti  (s.  p.  634),  dann  auch  Morgagni  bekannt  war.  Bei 
Sobernheim  (Prakt.  Diagnostik  der  Innern  Krankheiten  .  . .  Berlin 
1837  p.  118)  sind  für  uns  allerdings  jetzt  unverbindliche  „charakte- 
ristische Zeichen"  der  Myocarditis  aufgestellt.  Den  ersten  mikro- 
skopischen Befund  einer  Entzifeidung  der  Papillarmuskeln  lieferte  1844 
Hamernjk.  Genaueres  findet  man  in  der  „chronologischen  Zu- 
sammenstellung" von  H.  Stein's  Preisschrift  „Untersuchungen  über 
die  Myocarditis"  München  1861,  auch  bei  Sehr  öfter  (1.  c.  Ziemssens 
Handbuch  6.  Bd.  p.  246).  —  Dass  die  Substrate  des  Herzens,  Perikard, 
Myokard,  Endokard,  vielfach  mit-  und  nebeneinander  erkranken,  ist 
durch  neuere,  namentlich  in  Leipzig  ausgeführte  Untersuchungen  ein- 
gehend erwiesen;  die  prinzipielle  Trennung  der  einzelnen  Afiektionen 
erfährt  dadurch  eine  gewisse  Einschränkung  und  füglich  mag  man 
von  „Pancarditis"  reden. 

Ueber  die  im  ganzen  seltene  Syphilis  des  Herzens  hat  zuerst 
wohl  Lancisi  (s.  p.  630),  dann  Morgagni,  Corvisart,  Ricord 
(1845),  Virchow  (1859,  von  späteren  abgesehen,  gehandelt;  von 
letzterem  ist  auch  die  syphilitische  Aortitis  zuerst  genau  beschrieben  — 
Casuistik  der  erworbenen  und  ererbten  Herzsyphilis  bei  F.  M  r  a  c  e  k 
(Ergänzungshefte  zum  XXV.  Band  des  Archivs  für  Dermatologie  und 
Syphilis  1893  p.  279 — 411).  Die  jetzt  als  Herzaneurysma  be- 
zeichnete partielle  Ausweitung  der  Herzwand  ist  von  Dom.  Mar.  Guzman 
Galeazzi  1757  erstmals  beschrieben  (De  Bonon.  scient.  et  artium 
instituto  atque  academia  commentarii  t.  IV  —  Academiarum  quariin- 
dam  opuscula  varia  1757  p.  26 — 33).  Später  haben  Breschet, 
L ö b  1  und  namentlich  auch  Rokitansky  eingehendere  Darstellungen 
geliefert  —  vgl.  Pelvet,  Des  anevrysmes  du  coeur,  These  de 
Paris  1867.  —  Die  schon  von  R.  Bright  selbst  gekannte  und  aus  Ver- 
änderungen im  Gefässsystem  der  Nieren  erklärte  Hypertrophie  des 
Herzens  bei  Morbus  Brighti  hat  L.  Traube  1856  —  Ges.  Beiträge 
II  p.  290,  421)  eingehender,  besonders  für  die  Granularatrophie  der 
Nieren  behandelt,   wenn  er   auch  keine  nach  allen  Richtungen  be- 


1 


Geschichte  der  Herzkrankheiten.  643 

friedigende  Erklärung  zu  geben  vermochte.  Darauf,  dass  Hyper- 
trophie des  Herzens  auch  ohne  eigentliche  Klappenfehler  vorkomme, 
hatte  Stokes  hingewiesen.  W.  Gull's  und.  H.  Sutton's  Arterio- 
capillary  fibrosis  (Med.  chir.  Transactions  Vol.  55.  1872)  mag  hier  Er- 
wähnung finden. 

Die  Verbindung  von  Herzklopfen  mit  Kropf  hat,  wie  später 
(1835)  Graves,  schon  der  römische  Arzt  Flajani  (1802)  hervorge- 
hoben. Den  Exophthalmus  zusammen  mit  den  vorerwähnten  Sym- 
ptomen nennt  zuerst  Caleb  Hillier  Parry  (j  1822  —  Collection  from 
the  unpublished  medical  writings  .  .  .  London  1825);  vgl.  Maitland 
Ramsay  (Glasgow  med.  Journal  XXXVI  1891  p.  81);  Karl  v.  Base- 
dow (1850  Caspers  Wochenschrift)  hat  meder  den  Exophthalmus  in 
den  Vordergrund  gestellt.  —  Genaueres  in  den  Monographien  von 
Buschan  (Wien  u.  Leipzig  1894)  und  P.  Mannheim  (Berlin  1894). 

In  neueren  Zeiten  hat  man  mehr  als  früher  der  von  Degeneration 
unabhängigen  geschwächten  Herzthätigkeit,  der  Insufficienz  des 
Herzens,  die  Aufmerksamkeit  zugewandt.  Hatte  schon  früher  (1853 
— 1856)  Jos.  Hon.  Sim.  Beau  (f  1865),  ein  Hauptvertreter  der  patho- 
logischen Physiologie,  den  Begriif  der  ..Asystolie''  (s.  a.  Traite  experi- 
mental  et  clinique  d'auscultation  .  .  .  Paris  1856)  aufgestellt  und 
Bamberger  (1.  c.  p.  313j  ausdrücklich  von  der  „verminderten  Trieb- 
kraft'' des  Herzens,  allerdings  bloss  im  Anschluss  an  die  Herzdegene- 
ration gesprochen,  Ausdrücke  wie  „wahre  Insufficienz  des  Herzens" 
oder  „Unzulänglichkeit  des  erkrankten  Herzmuskels  gegenüber  den 
bestehenden  Hindernissen"  angewandt,  Stokes  vom  ..weakened  heart" 
„von  den  vitalen  und  anatomischen  Verhältnissen  der  Muskelfasern  als 
Schlüssel  zur  Pathologie  des  Herzens"  gesprochen,  so  hat  doch  eigent- 
lich erst  Ott.  Rosenbach  1881  (s.  Eulenburgs  Realen c3'klopädie 
Bd.  IX  2.  Aufl.  p.  412;  Artikel  Herzkrankheiten  —  Krankheiten  des 
Herzmuskels,  3.  Aufl.  X  p.  442)  den  Begiiff"  der  Herzinsufficienz  schärfer 
herausgehoben,  wobei  er  die  klinische,  funktionelle  Seite  in  den  Vorder- 
grund stellte  im  Gegensatz  zu  Krehl  u.  a.,  welche  später  auf  den 
Herzmuskel  selbst  und  sein  anatomisches  Verhalten  das  Hauptgevricht 
legten,  obwohl  bei  der  Abhängigkeit  des  Herzmuskels  von  dritten 
Faktoren  (den  Vasomotoren,  Coronararterien)  noch  weiteres,  jedenfalls 
gewisse  „nervöse"  Störungen,  in  den  Kreis  der  „Insufficienz"  zu 
ziehen  wäre. 

Auch  der  Nachweis  akuter  Vergi'össerung  (Dehnung)  infolge 
Ueberanstrengung  mit  konsekutiver  Insufficienz  gehört  neueren  Zeiten 
an.  Da  Costa  (s.  Litt,  bei  J.  Seitz),  Ose.  Fräntzel  (Virchows 
Archiv  57.  Bd.  1872)  wiesen  beispielsweise  den  Einfluss  der  Kriegs- 
strapazen, dann  aber  auch  sonstiger  schwerer,  selbst  bloss  vorüber- 
gehender Arbeit  (Fräntzel,  1.  c.  I  p.  112)  nach,  und  in  ähnlicher 
Weise  ist  es  ja  in  neuesten  Zeiten  von  den  sportlichen  Ueberanstren- 
gnngen  geschehen.  Auf  die  unter  besonderen  Umständen,  bei  Lungen- 
emphysen  (Hunzinger  1877  präsid.  Jürgensen:  „Tübinger  Herz"), 
bei  reichlichster  Flüssigkeitszufuhr  (s.  Bauer  u.  Bollinger  1893 
„Münchener  Bierherz")  sich  ergebenden  Störungen,  bei  denen  Dila- 
tation und  hypertrophische  Zustände  nebeneinander  herlaufen,  muss 
noch  ausdrücklich  hingewiesen  werden.  Und  so  ist  das  früher  grosse 
Gebiet  der  „idiopathischen"  Herzvergi-össerung  ziemlich  zusammenge- 
schrumpft, wenn  schon  immer  noch  ein  Rest  von  Fällen  bleibt,  für 
den  man  genügende  Aetiologie  nicht  aufzufinden  vermag. 

41* 


644  Hermann  Vierordt. 

Die  von  Renault  (1877)  als  „Fragmentation"  des  Myocardiums 
beschriebene  Veränderung,  welche  gelegentlich  auch  für  plötzliche 
Todesfälle  in  Betracht  kommt,  hat  Jos.  Coats  1872  als  „fracture" 
der  Muskelfasern  gesehen.  Genaueres  hei  Tedeschi,  Virchows  Ar- 
chiv 128.  Bd.  p.  185. 

Von  den  in  neuerer  Zeit  mehr  gewürdigten  Neurosen  des  Herzens, 
welche  eigentlich  dem  neurologischen  Abschnitt  angehören,  sei  nur  erwähnt, 
dass  zwar  P  i  s  s  i  n  i  und  Albertini,  auch  Morgagni  (s.  o.)  nervöses 
Herzklopfen  schildern,  dass  ferner  von  Jos.  Frank  (1771 — 1842)  be- 
schrieben (Praxeos  medic.  univ.  praecepta,  Partis  II  Vol.  II  Sect.  II, 
Lipsiae  1824,  p.  373)  eine  Selbstbeobachtung  von  Job.  Peter  Frank  vor- 
liegt („imaginationis  laesae  affectus"),  dass  aber  erst  Bamberger  eine 
wissenschaftHche  Behandlung  begründete,  indem  er  gesteigerte  Innervation 
(mit  Hyperkinese)  und  verminderte  Innervation  unterschied.  Friedreich, 
Fräntzel,  später  G.  See,  O.Ilosenbach,  Beard,  Lehr,  Huchard 
haben  die  Lehre  weiter  ausgebaut,  nicht  zu  reden  von  einer  ausgedehnten, 
hier  nicht  weiter  heranzuziehenden  mehr  kasuistischen  Litteratur. 

Dass  man  die  Arbeit  des  (menschlichen)  Herzens  neuerdings 
verlässlicher  zu  taxieren  gelernt  hat  (Zuntz,  Benno  Lewy)  ist  ein 
grosser  Gewinn  für  die  Pathologie,  da  die  dem  Herzen  verfügbaren 
Reserven  sich  nunmehr  in  approximativen  Zahlenwerten  ausdrücken 
lassen.  Auch  das  ist  eine  Errungenschaft,  dass  man  die  Herzleistung 
nicht  mehr  summarisch  nach  dem  trügerischen  Ausweis  der  Stärke 
des  Herzstosses  zu  messen  sucht,  den  man,  wohl  nach  Gendrin's 
Vorgang  (s.  Citat  bei  Martins  1.  c.  p.  71),  als  einen  Index  für  die 
Grösse  der  Herzarbeit  zu  nehmen  gewohnt  war.  Seit  S  e  n  a  c '  s  Zeiten 
hat  er  die  Aerzte  beschäftigt  und  der  „Theorien  des  Spitzenstosses" 
giebt  es  eine  grosse  Zahl,  um  nur  einige  zu  nennen:  von  Alderson 
(1825),  Gutbrod-Skoda.Hamernjk,  Kürschner,  C.  Ludwig, 
neuestens  Fr.  Martins. 

Die  angeborenen  Herzkrankheiten  können  nur  in  Kürze 
behandelt  werden.  Die  wichtigste  Litteratur  findet  man  in  meiner 
Monographie,  bes.  p.  13,  historische  Notizen  in  den  dort  genannten 
Werken  von  Peacock,  Taruffi,  Rauchfuss  u.  a.,  sowie  vielfach 
am  Beginn  der  einzelnen  Kapitel.  Erwähnt  mag  sein,  dass  die  an- 
geborene Cyanose  schon  Paracelsus  bekannt  war ,  dass  Morgagni 
(Lib.  II  Epist.  XVII  Art.  12.  13)  gelegentlich  eines  Falls  von  Pulmonal- 
stenose  bei  einem  16jährigen  Mädchen  erstmals  eine  Rückstauung 
im  Venensystem  (statt  der  angeblichen  Durchmischung  des  arteriellen 
und  venösen  Blutes!)  zur  Erklärung  der  Cyanose  annahm  (s.  p.  632), 
dass  Hippokrates  die  Trommelschlägel,  wenigstens  bei  Lungen- 
phthise  und  Empyem  kannte  (bvvxeg  7ieQLTeTaf.iivoi:  TteQi  töticov  iüv 
v.at'  avd-QojTTov  cap.  14,  Kühn  II,  125;  Fuchs  II,  581;  ow^eg  ely-ovrei: 
negl  tCjv  evrbg  na&ibv  cap.  X,  Kühn  II,  445;  Fuchs  II,  495;  ovvxsg  yqv- 
TiovvTai:  TtQoyvojatiKÖv  cap.  XXX,  Kühn  I,  106;  Fuchs  I,  463;  yctüay.al 
TtQoyvwaeig  Nr.  396,  Kühn  I,  300;  Fuchs  II,  61),  und  dass  Galen  [7C€Qi 
Xgeiag  .  . .  f.ioQuov  Lib.  XV;  Kühn  IV,  244)  das  mit  einer  Klappe  ver- 
sehene {vi.ir]v  öUrjv  e7iLd-ri(.LaTog)  nach  der  Geburt  sich  schliessende 
{av^cpvoig  xov  xQi'j/xaTog)  Foram*en  ovale,  welches  späterhin  Riolan 
als  Foramen  Botalli  bezeichnet  hat,  und  den  Ductus  arteriosus  samt 
seinem  Obliterationsvorgang  beschreibt  (1.  c.  p.  245/46).  Das  erste  Cor 
„biloculare"    s.    simplex    mit    Defekt    beider    Septa    hat    bei    einem 


Geschichte  der  Herzkrankheiten.  645 

27jährigen  Manne  Pozzis  beschrieben  (1673).  Sandifort  (1677)  den 
so  häufigen  Ursprung  der  Aorta  aus  beiden  Ventrikeln.  Die  zuerst 
von  Kürschner  (1837)  und  W.  Turner  fl862),  dann  aber  nament- 
lich von  Rokitansky  (Die  Defekte  der  Scheidewände  des  Herzens, 
Wien  1875)  wissenschaftlich  aus  anomaler  Scheidung  des  primären 
Truncus  arteriosus  befriedigend  erklärte  Transposition  der  Gefässe  hat 
erstmals  Math.  Baillie  1797  geschildert.  Die  nicht  allzu  seltene 
Stenose  der  Aorta  am  Ductus  arteriosus  —  bis  jetzt  ca.  140  Fälle  — 
beschrieb  zugleich  mit  der  charakteristischen  Entwicklung  der  Kol- 
lateralen zuerst  1789  Paris,  Prosektor  am  Pariser  Hotel-Dieu. 

Eine  Erwähnung  verdienen  die  zahlreichen,  zunächst  zwar  aus 
mehr  theoretischem  Interesse  unternommenen,  indirekt  aber  auch  der 
Praxis  zu  gute  kommenden  Versuche,  welche  zuerst  von  Rouanet 
(Analyse  des  bruits  du  coeur,  These  de  Paris  1832)  über  die  Ent- 
stehung der  Herztöne  angestellt,  von  anderen  fortgesetzt  wurden,  wo- 
bei die  Experimente  des  Dubliner  Comites  an  jungen  Kälbern  (London 
medical  Gazette  Vol.  XVI  1834 — 35)  und  die  Versuche  von  Chau- 
veau  und  Faivre,  welche  die  Unhaltbarkeit  der  Theorie  Beau's 
und  der  Lyoner  Schule  darthaten,  anzuführen  sind.  Eine  Uebersicht 
findet  sich  bei  Roger  et  Barth  (Traite  .  .  .  d'auscultation,  11.  edit, 
Paris  1887,  p.  351);  auch  bei  P.  Niemeyer  (s.  Litt,  bei  Perkussion 
und  Auskultation).  —  Um  die  Erklärung  der  pathologischen  Geräusche, 
die  bis  heute  noch  nicht  allseitig  befriedigend  gegeben  ist,  haben  sich 
E.H.Weber,  Traube.  A.  Geigel,  Leared  (Dublin  quarterly 
Journal  1852  Ma}').  Heynsius,  Talma  u.  a.  bemüht;  auch  die 
Arbeiten  A.  Weil 's  (Auscultation  der  Arterien  und  Venen,  Leipzig 
1875)  dürfen  nicht  unerwähnt  bleiben.  Ein  tieferes  Eingehen  auf  die 
historische  Entwicklung  dieser  manche  interessante  Seiten  bietenden 
Lehre  von  den  Herztönen  und  -geräuschen  lässt  der  beschränkte 
Raum  nicht  zu  —  vgl.  a.  (s.  Litt,  bei  „Perkussion")  G.  Joseph  und 
P.  Niemeyer,  Handbuch  II,  1  p.  62). 

Der  Puls  ist  seit  Jahrhunderten  als  ein  besonders  verlässlicher 
Index  des  Herzens  in  gesundem  und  krankem  Zustande  angesehen 
worden,  auch  schon  vor  der  Fixierung  der  Lehre  eines  systematischen 
Kreislaufes.  Es  darf  an  die  komplizierte  alte,  freilich  auf  ihr  Vater- 
land beschränkt  gebliebene  Pulslehre  der  Chinesen  mit  den  verschie- 
denen Untersuchungsstellen  der  Pulse  (Ausführliches  bei  Ozanam, 
1.  c.  p.  81)  und  ihre  Kenntnis  der  puerperalen  Bradykardie  erinnert 
werden,  während  die  in  mancher  Beziehung  hochentwickelte  indische 
Medizin  vom  Puls,  wenigstens  bei  Charaka  und  Susruta,  nicht  gar  "vdel 
zu  wissen  scheint  (vergl.  Bd.  I  p.  140).  Im  Altertum  hatten  die,  auch 
das  Pathologische  berücksichtigende  Lehren  des  Herophilus  (s.  o. 
p.  632),  welche  später  R h u p h o s  von  Ephesus  und  Archigenes  (beide 
ca.  100  n.  Chr.)  weiter  ausbauten,  Ansehen.  Von  Galens  verwickelter 
Pulslehre  ist  oben  (p.  632)  einiges  angedeutet;  bei  Ozanam  ist  sie  ge- 
nauer erörtert.  Die  Pulslehre  der  Hippokratiker  findet  man  in  Ant.  de 
Haen's  Ratio  medendi  in  nosocomio  practico  .  .  .  pars  XII  cap.  1 
(Viennae  1768)  besprochen,  in  den  drei  folgenden  Kapiteln  die  spätere 
Zeit.  Versuche,  den  Puls  zu  zählen,  reichen  weit  zurück,  auf  den  1464 
gestorbenen  Kardinal  Nicolaus  Cusanus  (s.  C.  Binz,  Deutsche  medic. 
Wochenschrift  1898  p.  640),  der  mit  der  Wasseruhr  zählen  wollte,  während 
1625  Santorio,  welcher  immerhin  noch  73  Pulsarten  unterschied 
(Galen  27  mit  je  3  Unterabteilungen!),  ein  Pulsilogium.  wie  vor  ihm 


646  .       Hermann  Vierordt. 

Galilei  beschreibt  (s.  bei  H  u  a  r  d ,  1.  c.  p.  7).  Bei  Job.  K  e  p  p  1  e  r  (Opera 
omnia  ed.  Chr.  Frisch  Vol.  VI  p.  248)  ist  für  den  Mann  70,  für  die  Frau 
80  als  durchschnittliche  Pulsfrequenz  angenommen.  Im  übrigen  machte 
sich  gegenüber  der  weitausschweifenden  Pulslehre  der  Alten  späterhin 
eine  gesunde  Eeaktion  geltend,  so  bei  Friedr.  Hoff  mann,  der  be- 
sonders auf  B  e  1 1  i  n  i '  s  (s.  o.  p.  634)  Schrift  (De  urinis  et  pulsibus  . . . 
Bononiae  1683)  hinwies,  bei  A.  v.  Haller,  auch  noch  bei  Testa, 
welcher  dem  „Puls  als  Zeichen  der  Herzkrankheiten"  zwar  ein  be- 
sonderes Kapitel  widmet,  aber  ehrlich  eingesteht:  „ich  bekenne,  dass 
Ich  es  immer  weniger  begreife,  wie  so  viele  grosse  Meister  der  Kunst 
allein  auf  dieses  Merkmal  haben  ihre  Vorhersagungen  bauen  können." 
So  war  eine  Objektivierung  der  Beobachtungen  gewiss  zu  fordern, 
und  zunächst  für  das  Tierexperiment  wurde  eine  Reihe  von  xA.pparaten 
—  s.  bei  Ozanam  p.  397 if.  —  ersonnen,  von  denen  ich  nur  Stephan 
Haies'  Sphygmoskop  (1748),  Poiseuille's  Hämodynamometer  (1828), 
Ludwig 's  und  Volkmann 's  Kymographion  (1847)  erwähnen  will. 
Das  erste  brauchbare  Instrument  zur  Untersuchung  des  Pulses  am 
unverletzten  Arterienrohr  des  Menschen  war  K.  Vierordt's 
Sphygmograph,  erstmals  demonstriert  auf  der  Naturforscherversamm- 
lung zu  Tübingen  1853  —  (Archiv  für  physiolog.  Heilkunde  1854 
p.  284  Lehre  vom  Arterienpuls  in  gesunden  und  kranken  Zuständen, 
Braunschweig  1855).  Erst  seit  dieser  Zeit  existiert  eine  eigentliche 
wissenschaftliche,  auch  auf  das  klinisch-pathologische  Gebiet  und  die 
Symptomatologie  und  Diagnostik  der  Herzkrankheiten  ausgedehnte 
Pulslehre,  zu  deren  Ausbau  die  Herstellung  handlicherer,  auch  am 
Krankenbette  anwendbarer  Instrumente,  von  Marey  an  bis  herab  zu 
Dudgeon,  Wesentliches  beigetragen  hat  (s.  Ozanam  p,  399 ff.). 

In  neuerer  Zeit  ist  die  Kardiographie  von  selten  der  Physio- 
logen und  Pathologen  auch  für  die  unmittelbare  Untersuchung  des 
fühlbaren  Herzstosses  —  früher  hatte  man  die  Fälle  von  Fissura 
sterni  bevorzugt  —  nach  manchen  Richtungen  hin  vervollkommnet 
worden;  auch  hier  fehlen  allseitig  anerkannte  Normen,  wie  denn  die 
wichtige  Lehre  vom  Herzstoss  wohl  mancherlei  Verbesserung  —  von 
neueren  Untersuchern  seien  Martins  und  Hürthle  genannt  — , 
aber  immer  noch  nicht  einheitliche  Deutung  erfahren  hat. 

Von  Einzelheiten,  die  freilich  nur  mit  Auswahl  berücksichtigt 
werden  können,  übrigens  auch  früher  schon  gelegentliche  Erwähnung 
gefunden  haben,  seien  hier  noch  besonders  aufgeführt :  der  von  Kuss- 
maul als  Pulsus  paradoxus  (Berliner  klin.  Wochenschrift  1873  p.  433) 
bezeichnete,  während  der  Inspiration  aussetzende  Puls  ist  erstmals 
von  F.  Hoppe  (Deutsche  Klinik  1854  Nr.  3),  dann  unter  Grie- 
singer's  Leitung  von  A.  Widenmann  (Beitrag  zur  Diagnose  der 
Mediastinitis,  Tübinger  Dissertation  1856)  beschrieben  worden.  Als 
Charakteristikum  für  „eine  schwielige  Mediastinitis"  kann  er  nicht 
mehr  gelten,  kommt  er  doch  bei  gewöhnlicher  Pericarditis,  zumal  mit 
intraperikardialen  Verwachsungen  vor  (Traube,  Stricker),  auch 
darf  nicht  vergessen  werden,  dass  ein  (sphygmographisch  nachweis- 
bares) Kleinerwerden  des  Pulses  selbst  bei  Gesunden  durch  tiefere 
Inspiration  bewirkt  wird  (Riegel,  Sommer brodt). 

Die  bei  Herzbeutelobliteration  unter  Umständen  vorkommende 
systolische  Einziehung  hat  schon  Williams  registriert;  später 
haben  Skoda,  auch  Friedreich,  Traube,  die  diesbezügliche 
Diagnostik  weiter  ausgebaut. 


Geschichte  der  Herzkrankheiten.  647 

Das  schwierige  Kapitel  der  normalen  und  pathologischen  Venen- 
pulsation  ist  in  neuerer  Zeit  mittels  subtilster  Sphygmographie 
namentlich  auch  von  Riegel  (Deutsches  Archiv  für  klin.  Medicin 
31.  Bd.  1882  p.  1)  in  vielen  Stücken  aufgeklärt  und  auf  gesunde  mecha- 
nische Grundlagen  gestellt  worden. 

In  Beziehung  auf  die  Therapie  der  Herzkrankheiten  ist 
hervorzuhehen,  dass  die  erste  allgemeinere  Anwendung  der  auch  vor- 
her nicht  unbekannten  Digitalis  bei  Hydrops  auf  Will.  Withering 
(An  account  of  the  fox-glove  .  .  .  London  1778;  Deutsch  von  Chr.  F. 
Michaelis,  Leipzig  1786  (1799)  zurückzuführen  ist.  Gramer  in 
seinem  Büchlein  (1.  p.  639  c.  p.  47  Anmerkung)  sagt  auffallenderweise: 
„Es  ist  hier  zum  erstenmale,  wo  (!)  Digitalis  als  ein  mächtiges 
Mittel  in  Herzleiden  angerühmt  wird".  Später  hat  u.  a.  Traube 
das  Mittel  in  seinen  Wirkungen  wieder  eingehender  studiert  (Berliner 
klin.  Wochenschrift  1870  p.  201,  213;  1871  p.  368,  396  —  Ges.  Bei- 
träge .  .  .  L  Bd.  p.  252,  274).  Die  in  neueren  Zeiten  fast  wie  ein 
Novum  angepriesene  diuretische  Wirkung  des  Calomels  ist  längst  be- 
kannt, von  Paracelsus  und  Späteren  erwähnt  —  „potentissimus 
hydropis  dormitor"  — ,  von  W.  S  t  o  k  e  s  u.  a.  verwertet,  so  dass  es  nur 
Wunder  nehmen  muss,  wenn  das  Mittel  zeitweise  nach  dieser  Sichtung 
in  Vergessenheit  geraten  ist  (s.  A.  Corradi,  Annali  univ.  di  med.  e 
chir.  1887  Giuglio). 

In  den  80er  Jahren  hat  die  von  M.  J.  Oertel  in  München 
(t  1897)  inaugurierte,  zum  Teil  übrigens  von  nicht  ganz  richtigen  Vor- 
aussetzungen, namentlich  der  „serösen  Plethora",  ausgehende  diätetisch- 
mechanische Behandlung  der  Herzkranken  Aufsehen  erregt  und  weite 
Verbreitung  gefunden,  wobei  aber  nicht  vergessen  werden  darf,  dass 
schon  ältere  Aerzte,  Stokes  (vgl.  auch  Verhandlungen  des  7.  Kon- 
gresses für  innere  Medicin  p.  55),  Traube,  Herzkranken  die  Körper- 
bewegung anempfahlen.  Wenn  auch  nicht,  wie  begreiflich,  allge- 
meinster Anwendung  fähig,  so  haben  die  kardinalen  Punkte  des 
Oertel  sehen  Regimes :  Ueberwachung  resp.  Beschränkung  der  Flüssig- 
keitszufuhr und  systematische  Körperbewegung  mit  Bergsteigen 
(,, Terrain kur"^  für  die  hierzu  geeigneten  Fälle  gewiss  ihre  Bedeutung 
und  therapeutischen  Vorzüge. 

In  jüngster  Zeit  hat  die  von  den  Brüdern  August  (f  1886)  und 
Theodor  Schott  begründete  und  ausgebildete  NauheimerMethode 
vielfach  Eingang  gefunden:  (kohlensäurehaltige)  laue  Soolbäder  ver- 
bunden mit  einer  systematischen,  auf  bessere  Entleerung  des  Herz- 
inhaltes abzielenden  sog.  Widerstandsgymnastik.  Auf  die  kalmierende 
Wirkung  der  Nauheimer  Bäder  und  ihre  Anwendbarkeit  bei  Herz- 
affektionen hatte  schon  1872  F.  M.  Beneke  hingewiesen;  Aug. 
Schott's  erste  Publikation  stammt  aus  dem  Jahr  1880  (Berliner  klin. 
Wochenschrift  Nr.  25  u.  26  —  weitere  Litteratur  s.  bei  Jürgensen, 
Insufficienz  des  Herzens  p.  196).  Uebrigens  hat  1870  J.  Jacob 
(Cudowa)  in  seinen  „Grundzügen  der  Balneotherapie  .  .  ."  auf  die 
Bäderbehandlung  der  Herzmuskelschwäche  hingewiesen  und  1884,  also 
gleichzeitig  mit  Oertel,  methodisches  Bergsteigen  empfohlen  (Ver- 
handlungen des  7.  Kongresses  für  innere  Medicin  p.  64). 


Die  klinisch  wichtigen  Parasiten. 

Von 

Hermann  Vierordt  (Tübingen). 


Litteratur. 

Alexander  von  Trolles,  Original- Text  und  Uebersetzung  von  Th.  Puschmann; 
I.  Band,   Wien  1878;  Einleitung  p.  238—241. 

Julius  Jolly,  Medicin  in  „  Grundriss  der  indo-arischen  Philologie  und  Altertums- 
kunde", begründet  von  G.  Bühl  er,  fortgesetzt  von  Kielhorn,  Band  III, 
Heft  10,  Strassburg  1901. 

Ific,  Andry,  Traite  sur  la  generation  des  vers  dans  le  corps  de  l'homme,  Paris 
1700.  —  Uebersetzung  Leipzig  1716 :  Gründlicher  Unterricht  von  der  Erzeugung 
der  Würmer  im  menschlichen  Leibe.    Mit  5  Tafeln. 

Dan.  Le  Clerc  (Clericus),  Historia  naturalis  et  medica  latorum  lumbricorum 
intra  hominem  et  animälia  nascentium  . .  .  Genevae  1715  —  wörtliche  Wieder- 
gabe vieler  älterer  Autoren. 

W.  van  Doeveren,  Dissertatio  de  vermibus,  Lugduni  Batav.  1753  —  Abhandlung 
von  den  Würmern  in  den  Gedärmen  des  menschlichen  Körpers,  übersetzt  von 
TJi.  Thomas  Weichardt,  Leipzig  1776.     Reiche  Kasuistik  und  Litteratur. 

tf.  A.  E.  Goeze,  Versuch  einer  Naturgeschichte  der  Eingetoeideioürmer  thierischer 
Körper,  Blankenburg  1782,  4  °,  mit  44  Tafeln. 

J.  G.  H.  Zeder,  Erster  Nachtrag  zur  Naturgeschichte  der  Eingeweidewürmer  von 
J.  A.  E.  Goeze,  Leipzig  1800,  4  ">. 

JUarcus  Elieser  Bloch,  Abhandlung  von  der  Erzeugung  der  Eingeweidewürmer 
und  den  Mitteln  wider  dieselben,  Berlin  1782,  4  ^. 

K.  JL.  Rudolphi,  Entozoorum  sive  vermium  intestinalium  historia  naturalis, 
Amstelaedami  Vol.  I  1808,  Vol.  II  (2  Partes)  1809  u.  1810. 

Derselbe,  Entozoorum  Synopsis,  cui  accedunt  mantissa  duplex  et  indices  locuple- 
tissimi,  Berolini  1819  —  hiezu  Icones  helminthum  .  .  .  von  Joh.  Godofr. 
Bremser,  Viennae  1824. 

Joh.  Gottfr.  Bremser,  Ueber  lebende  Würmer  im  lebenden  Menschen,  Wien  1819. 
Mit  4  Tafeln. 

Joh.  Japetus  Smith  Steenstrup,  Ueber  den  Generationswechsel  oder  die  Fort- 
pflanzung und  Entwicklung  durch  abivechselnde  Generationen  .  .  .  Uebersetzung 
von  C.  Lorenzer,  Copenhagen  1842. 

K.  Th.  E.  V.  Siebold,  Artikel  „Parasiten''^  in  B.  Wagner' s  Handwörterbuch  der 
Physiologie  2.  Band,  Braunschweig  1844,  p.  641. 

Ed.  Martiny,  Naturgeschichte  der  für  die  Heilkunde  wichtigen  Thiere,  Giessen  1847. 

C.  M.  Diesing,  Systema  helminthum,   Vindobonae,   Vol.  I  1850,    Vol.  II  1851. 

Derselbe,  Revision  der  Cephalocotyleen  1864  (aus:  Sitzungsberichte  der  K.  Akademie 
der  Wissenschaften). 


Die  klinisch  wichtigen  Parasiten.  649 

JRud.  Leuckart,  Die  menschlichen  Parasiten  und  die  von  ihnen  herrührenden 
Krankheiten.  Leipzig  u.  Heidelberg,  I.  Band  1863;  II.  Band  1876  —  2.  Auf- 
lage I.Bd.  i.  Äbtheilung  1879—1886,  2.  Abtheilung  1886—1901. 

C  Davaine,  Artikel  „C'estoides'^  in  Dictionnaire  encycloped.  des  sciences  medicales 

1.  Serie  t.  IV,  Paris  1873,  p.  547  —  Bibliographie  p.  592. 

Derselbe^  Traite  des  entozoaireß  et  des  maladies  vermineuses  2.  Edit.,  Paris  1877. 

F.  Küchetuneister  und  F.  A.  Zürn,   Die  Parasiten  des  Menschen,  2.  Auflage, 

Leipzig  (1878 — 1881),  namentlich  Anmerkungen  auf  p.  51  u.  55  und  auf  p.  375. 

Aug.  Hirsch,  Handbuch  der  historisch-geographischen  Pathologie,  2.  Bearbeitung 

2.  Abtheilung,  Stuttgart  1883. 

Raphael  Blonchard,  Artikel  „Helminihes"  in  Dict.  des  sciences  med.  IV.  Ser. 
t.  XII,  Paris  1886,  p.  627. 

Derselbe,  Zoologie  medicale  1 1889. 

Bibliotheca  zoolog ica,  1.  Theil  (1846 — 60)  von  J.  V.  Carus  und  W.  Engel- 
mann —  2.  Theil  (1861-80)  von  0.  Taschenberg,  Leipzig  1889,  2.  Bd.,  1011  ff. 
(Vermcs). 

A.  Heller,   „Darmschmarotzer^^    in   Ziemssen's   Handbuch    der   spec.    Pathol    m. 

Therapie,   VII.  Band  2.  Hälfte  2.  Auflage,  Leipzig  1878,  p.  575. 

Artikel  „Parasites^^  im  Index-Catalogue,  Vol.  X,  1889,  p.  484  (und  die  dort  ver- 
zeichneten Artikel -Verweise). 

H.  G.  Bronn,  Klassen  und  Ordnungen  des  Thier-Reiches,  fortgesetzt  von  H.  A. 
Pagenstecher,  von  Liefenmg  7  an  von  M.  Braun ,  Vierter  Band,  Würmer, 
seit  1887.  —  Aeltere  Quellen  und  allgemeine  Geschichte  Lfrg.  1 — 7 :  Autoren- 
verzeichnis Lief.  7  (1889)  p.  209 — 215.     Hiezu  ergänzend: 

J.  CIt.  Huber,  Zur  älteren  Geschichte  der  klinischen  Helminthologie,  Deutsches 
Archiv  filr  klin.  Medicin  45.  Band  1889  p.  354;  46.  Band  1890  p.  194. 

Huber,  Bibliographie  der  klinischen  Helminthologie,  9  Hefte,  München  1891 — 95, 
381  S.  —  Supplementheft,  Jena,  Druck  der  Fr omniann' sehen  Buchdruckerei 
1898,  22.  S. 

Derselbe,  Bibliographie  der  klinischen  Entomologie  (Heaapoden,  Acarinen),  Heft  1, 
Jena,  Druck  der  Frommann' sehen  Buchdruckerei  1899,  24  S.  —  Heft  2  u.  3, 
ibid.  24  u.  25  S.,  Heft  4,  ibid.  1900  [Sarcoptes  scabiei]. 

J.  Ch.  Huber,  Animal  Parasites  and  the  diseases  caused  hy  them  (Twentieth 
Century  pi-actice,  New   York,   Vol.  VIII,  p.  501—627). 

F.  llosler  u.  E.  Peiper,  Thierische  Parasiten,  Wien  1894  (Nothnagel,  s  specielle 
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Corrado  I*arona,  L'elmintologia  italiana  da  suoi  primi  tempi  alV  anno  1S90, 
Genova  1894  (Alti  della  regia  universitä  di  Genova  .  .  .  Vol.  XIII). 

B.  Schetibe,  Die  Krankheiten  der  warmen  Länder,   Jena  1896;   2.  Auflage  1900. 

E.  Peiper,  Thierische  Parasiten  des  Menschen  in:  Lubarsch  u.  Ostertag,  Er- 
gebnisse der  allgem.  Pathologie  und  patholog.  Anatomie,  3.  Jahrgang  1896, 
Wiesbaden  1877,  p.  22  [Besprechung  der  neueren  Arbeiten]. 

JPatricJc  Matison,  Tropical  diseases,  London  1898  (namentlich  Section  V). 

A.  Krämer,  Die  tierischen  Schmarotzer  des  Auges.  Kapitel  XVIII  (X.  Band) 
von  Graefe-Saemisch,  Handbuch  der  gesamten  Augenheilkunde,  2.  Auf- 
lage, Leipzig.  —  Bemerkungen  hierzu  von  J.  Ch.  Hub  er,  Centralblatt  für 
Bakteriologie,  Parasitenkunde  und  Infektionskrankheiten,  I.  Abteilung  XXVIII. 
Bd.  1900,  p.  517. 

Baron  Felix  v.  Oefele,  Studien  über  die  altägyptische  Parasitologie.  Erster 
Teil:  Aeussere  Parasiten.  Archives  de  Parasitologie  IV,  Paris  1901,  p.  481.  — 
Zweiler  Teil:  Innere  Parasiten,  ibid.   V,  1902,  p.  461. 

V.  Oefele,  Studien  zur  mittelniederdeutschen  Parasitologie,  ibid.  V,  1902.,  p.  67. 

V.  Oefele,  Praehistorische  Parasitologie  nach  Tierbeobachtungen,  ibid.  V,  1902, 
P   117. 

M.  Braun,  Die  thierischen  Parasiten  des  Menschm,  3.  Aufl.,  1903. 


Spezielle  Litteratur. 
Cestoden  und  Blasenwürmer. 

Cr.  Seeger,  Die  Bandwürmer  des  Menschen,  Stuttgart  1852. 

Alb.  Neisser,  Die  Echinococcenkrankheit,  Berlin  1877. 

F.  Küchenmeister,   Quellenstudien  über  die  Geschichte  der  Cestoden,   Deutsches 


650  Hermann  Vierordt. 

Archiv   für   Geschichte   der  Medicin  .  .  .  herausgegeben   von  H.  w.  G.  Rohlfs, 

Leipzig,  II.  Bd.  1879,  III.  Bd.  1880. 
Artikel  „Hydatids"  im  „Index-Catalogue" ,   Vol.  VI,  1885,  p.  530. 
H.  Vierordt,  Abhandlung  über  den  multilokularen  Echinococcus,  Freiburg  ijBr.  1886. 
Ad.  Posselt,   Die  geographische   Verbreitung   des  Blasenwurmleidens   insbesondere 

des  Alveolarechinococcus  der  Leber  und   dessen  Casuistik   seit  1886,  Stuttgart 

1900  [Besprechung   hierzu   von   Hub  er,    Münch.   med.    Wochenschrift  1900 

Nr.  37]. 
Huber,  Bibliographie  der  Min.  Helminthologie,  Heft  1  1891,  Echinococcus;  Heft  2 

1891,    Cysticercus  cellulosae;  Heft  314  1892,  Die  Darmcestoden  des  Menschen 

(Geschichte  und  Litteratur  der  Taenien  und  Bothriocephalen). 
Artikel  „Cysticercus"  im  Index-Catalogue",    Vol.  III,   1882,  p.  574;   second  series. 

Vol.  III,  1898,  p.  1095. 
fT.  Ch.  Huher,  Zur  Geschichte  der  PseudoCysticerkose,  Centralblatt  für  Bakterio- 
logie,  Parasitenkunde   und   Infektionskrankheiten   I.  Abteilung   XXVIII.  Bd. 

1900,  p.  595. 
Braun  in  Bronn's  Klassen  und  Ordnungen,  4.  Band  Abtheilung  I^  1894 — 1900, 

p.  927 — 1145  (Name,    Geschichte  und  Litteratur,  historisches  Verzeichnis  der 

Gattungs-  und  Artnamen). 
Artikel  „Taenia"  im  „Index  Catalogue" ,   Vol.  1893,  p.  182—192;   T.  mediocanellata 

p.  191. 
Artikel  ,,Bothriocephalus",  ibid.   Vol.  II,  1881,  p.  286;  second  series  Vol.  II,  1897, 

p.   '602. 

Nematoden. 

Huber,  Bibliographie  .  .  .  Heft  5/6  Ascaris,  Oxyuris,  Trichocephalus,  Ankylosto- 
mum,  1893.  —  Heft  7j8  Dracunculus  Persarum,  Filaria  sanguinis  hominis 
Lewis  und  Trematoden  [Distoma,  Amphistomum  hominis,  Monostomum 
lentis,  Bilharzia  haematobia],  1894.  —  Heft  9  Eustrongylus  gigas,  Trichina 
spiralis,  1895.  —  Supplementheft:  Filaria,  Strongylus,  Gnathostoma, 
Strongyloides,  Rhabditis,  Pentastomum,  Jena  1898. 

Trichine.    Huber,  Bibliographie  .  .  .  Heft  9  (s.  o.). 

H.  Alex.  Pagenstecher,  Die  Trichinen,  2.  Auflage,  Leipzig  1866. 

«7.  Ch.  Huber,  Zur  Geschichte  der  Trichinose,  Centralblatt  für  Bakteriologie, 
Parasitenkunde  und  Infektionskrankheiten,  Erste  Abteilung  XXI.  Band,  1897, 
p.  684. 

Artikel  „Trichina  und  Trichinosis"  im  ,.Index-Catalogue",   Vol.  XIV,  1893,  p.  757. 

Artikel  „Hogs",  ibid.   Vol.  VI,  1885,  p.  292. 

Artikel  „Ascaris"  im  „Index-Catalogue",  Vol.  I,  1880,  p.  625.  —  Artikel  „Ascarides", 
ibid.  second  series  Vol.  I,  1896,  p.  710. 

Filaria.     Huber  (s.  o.),  Bibliographie  Heft  718  u.  Supplementheft. 

Artikel  „Filaria"  im  „Index-Catalogue",  Vol.  IV,  1883,  p.  971  —  second  series 
Vol.  V,  1900,  p.  782. 

Alte  Abbildung  von  1598,  Operation  der  Filaria  Medinensis  und  Fil.  Loa  betr.  bei 
R.  Blanchard,  Archives  de  parasitologie,  1899.  Oct.  (wiedergegeben  Janus 
1900,  p.  262).  —  Eine  weitere  Abbildung  aus  dem  Ende  d.  17.  oder  Anfang 
des  18.  Jahrhunderts,  Janus  1901,  S.  95. 

Artikel  „Oxyuris"  im  „Index-Catalogue",   Vol.  X,  1889,  p.  335. 

Dracunculus.  Huber  (s.  o.),  Heft  718  —  Artikel  „Dracunculus"  im  „Index- 
Catalogue",  Vol.  in,  1881,  p.  889.    Second  series  Vol.  IV,  1899,  p.  489. 

Ankylostomum.      Artikel    „Anchylostomum    duodenale"    im    „Index-Catalogue", 

Vol.  I,  1880,  p.  338.   —    „Anaemia  (tropical)  ibid.  p.  283   und  second   series 

Vol.  I,  p.  348.  —  Artikel  „Ankylostomum  duodenale  and  ankylostomiasis"  ibid. 

second  series  Vol.  I,  1896,  p.  496,  —  Artikel  „Saint  Gothard's  Tunnel  epidemic". 

Vol.  XII,  1891,  p.  450. 

Huber  (s.  o.),  Bibliographie  Heft  516. 

W.  Zinn  &  31.  Jacoby,  Ankylostomum  duodenale,  mit  2  Karten,  Leipzig  1898 
(mit  ausführlichem  Litteraturverzeichnis  u.  geschichtlicher  Skizze). 

Trematoden. 

Huber,  Heft  7(8  (s.  o.  bei  Nematoden).  —  Braun  u.  Pagenstecher  in  Bronn's 
Klassen  .  .  .  IV.  Band  Abtheilung  1",  Leipzig  1879—93  Geschichte  und  Litte- 
ratur p.  1—406,  Nachträge  919—925. 


Die  klinisch  wichtigen  Parasiten.  651 

Blutegel.  Huber,  Die  Blutegel  im  Alterthum,  Deutsches  Archiv  für  klinische 
Medizin  47.  Band  1891,  p.  522.  —  Leuckart,  Parasiten,  I.  Aufl.  I  p.  720 
(„medicinische  Bedeutung'^). 

Scabies. 

JoJi.  Ernst  Wichmann,  Aetioloqie  der  Krätze,  Hannover  1786,  2.  Ausgabe  1791. 
Et'nst  Moritz  Heyland,  De  acaro  scabiei  humano.  Dissertatio  BeroUni  18S6. 
JH.  H.  F.  Filrstenherg,    Die    Krätzmilbe    der   Menschen    und    Thiere,    Leipzig, 

Fol.  mit  15  lafeln;  p.  1 — 172  Geschichte. 
Artikel  „Scabies"   im  „Index-Catalogue",    Vol.  XII,    1891,  p.  560  ff.   —   Acarus  of 

Scabies  p.  563.  —  Treatment  of  Scabies  p.  564. 
J.  Ch.  Huher,  Bibliographie  d.  Min.  Entomologie,  Heft  4,  1900  (s.  o.  p.  644). 
F.  Hebra,  Hautkrankheiten   in  Virchoic's  Handbuch  der  speciellen  Pathologie 

und  Therapie  III.  Bd. 

Fast  gleicher  Text  im  Atlas  der  Hautkrankheiten,  5.  Lieferung  1865. 

Bei  keiner  Affektion  erscheint  der  Nachweis  in  den  alten  über- 
lieferten Quellen  verhältnismässig  so  leicht,  wie  bei  den  Parasiten, 
wenigstens  insoweit  die  grösseren  und  auch  häufigeren  unter  denselben 
in  Betracht  kommen.  Geht  man  auf  die  ältesten  üeberlieferungen 
zurück,  so  erwähnen  schon  die  ägyptischen  Papyri  unzweifelhaft  mensch- 
liche Parasiten.  Den  Ektozoen  hat  F.  v.  Oefele  eine  eingehendere 
8tudie  gewidmet  (s.  Litteratur  p.  649).  In  dem  parasitenreichen  Lande 
haben  verschiedene  Hautparasiten,  namentlich  die  verschiedenen  Läuse, 
dann  Krätze  und  verwandte  Affektionen,  Dipteren  und  Hymenopteren 
eine  Rolle  gespielt.  Im  Papyrus  Ebers,  niedergeschrieben  c.  1550 
V.  Chr.,  in  einzelnen  Teilen  wohl  sehr  viel  älter,  kommen  pend-Wurm 
und  beft-Wurm  vor.  Ersteren  deutet  H.  Joachim  (Papyrus  Ebers 
aus  dem  Aegyptischen  übersetzt,  Berlin  1890  XVII  und  p.  11  ff.  ver- 
schiedene Rezepte  gegen  Würmer,  hauptsächlich  beft)  als  Taenia  sagi- 
nata,  den  beft-Wurm  als  Ascaris  lumbricoides.  Einigermassen  für 
letztere  Erklärung  scheint  mir,  wie  auch  Scheuthauer  hervorhob, 
der  Umstand  zu  sprechen,  dass  dieser  AYurm  als  „dunkler,  schwarzer 
beft-Wurm"  auch  als  Medikament  (gegen  graues  Haar)  verordnet  wird, 
was  in  ähnlicher  Weise  Plinius  (Naturalis  historia,  Lib.  XXX,  §54) 
von  den  Magiern  berichtet,  welche  den  Regenwurm  gegen  Hüftweh 
anwandten.  —  v.  Oefele  (s.  Litt.  p.  649  IL  Teil  p.  8  u.  18)  vermag 
sich  der  Joachimschen  Deutung  nicht  anzuschliessen.  Den  beft- 
Wurm  lässt  er  nicht  als  Spulwurm  gelten,  der  im  Gegenteil  durch 
den  pend-Wurm  dargestellt  werde.  Das  alte  ägyptische  Haarwuchs- 
rezept erscheint  merkwürdigerweise  später  bei  Ibn  il  Beitar,  dem 
arabischen  Botaniker  des  13.  Jahrhunderts,  als  Schlangenöl,  aus 
„schwarzen  Schlangen"  bereitet.  Als  die  für  das  alte  Aegypten  in 
Betracht  kommende  Taenie  lässt  v.  Oefele  höchstens  für  die  prä- 
historische Zeit,  in  welcher  Schweinefleisch  gegessen  wurde,  Taenia 
solium  gelten,  für  die  eigentliche  Hieroglyphenzeit  aber  muss  nach 
seinem  Dafürhalten  Bothriocephalus  latus  angenommen  werden,  da 
der  Fischgenuss  im  Volke  sehr  verbreitet  war,  auch  Wasservögel 
(als  event.  Träger  der  Bothriocephalus-Finne)  von  den  ärmeren  Klassen 
vielfach  verzehrt  wurden.  Das  Essen  von  Fischen  war,  wie  uns  auch 
Herodot  (II,  37)  berichtet,  den  Aegyptern  verboten,  gerade  wie  sie 
gegen  Ektoparasiten  durch  Enthaarung  sich  zu  schützen  hatten.  Ein 
üault-Wurm  wird  bei  Joachim  p.  105  erwähnt.  Im  (hermaphrodi- 
tischen) Habitus  gewisser  Nilgötter  vermutet  v.  Oefele  den  Ausdruck 


652  Hermann  Vier or dt. 

einer  bei  manchen  alten  Völkern  als  eine  Menstruatio  virilis  ange- 
sehenen Haematuria  parasitaria  (1.  c.  V  p.  499).  Die  äaä-Krankheit 
will  Joachim  ziemlich  willkürlich  und  ohne  dass  ihm  die  anderen 
Autoren,  v.  Oefele  z.  B.,  darin  folgen  würden,  als  Chlorosis  aegyp- 
tiaca,  also  Ankylostomiasis,  deuten  (1.  c.  p.  XIV),  auch  die  uba-Krank- 
heit  wird  mit  ihr  in  Verbindung  gebracht  (p.  XVIII).  Viele  Rezepte 
gegen  äaä-Krankheit  auf  p.  13  ff.  (1.  c.  Register  p.  209). 

In  der  Probe,  die  neuerdings  F.  Küchler  (Beiträge  zur  Kennt- 
nis der  assyrischen  Medizin,  Inaug.-Dissertation  der  philosoph.  Fakultät 
Marburg  1902,  4")  aus  den  vielen  vorliegenden  medizinischen  Texten 
giebt,  finde  ich,  obwohl  viel  von  Leibschneiden,  Entzündungen  im 
Bauche  u.  ähnl.  die  Rede  ist,  nichts  verzeichnet,  was  auf  Annahme 
von  (auch  hypothetischen)  Parasiten  hindeuten  könnte. 

Manche,  leider  wenig  genaue  Angaben  über  Würmer  finden  sich 
in  den,  bei  Bronn  mit  gänzlichem  Stillschweigen  übergangenen,  alten 
indischen  Autoren,  wobei  namentlich  auch  die  Darstellung  von  J.  JoUy 
(1.  c.  bes.  §  55)  zu  beachten  wäre.  Schon  die  „Hundert  Lieder  des 
Atharva-Veda"  (übersetzt  von  J.  Grill,  2.  Aufl.  Stuttgart  1888), 
welche  aus  uraltem  Stoff  sich  aufbauen,  wenn  sie  auch  in  ihrer 
jetzigen  Gestalt  einer  viel  späteren  Zeit  angehören  mögen,  widmen 
in  den  Gebeten  und  Zaubersprüchen  den  „Würmern"  (wie  auch  den 
Schlangen)  ein  ganz  besonderes  Kapitel,  n,  31  Vers  2  sind  selbst 
verschiedene,  jetzt  nicht  mehr  bestimmbare  Arten  bezeichnet;  das 
Lied  nennt  —  Vers  4  —  „den  Wurm,  der  in  den  Eingeweiden,  im  Kopf, 
an  den  Rippen  haust,  den  zerrenden,  den  bohrenden"  (nachgelassene  hand- 
schriftliche Uebersetzung  von  Rud.  Roth,  Univ.-Bibliothek  Tübingen) : 
—  II,  32  Vers  1  spricht  „von  Würmern,  die  im  Rinde  sind",  und 
Vers  2  vom  „vielfarbigen,  vieräugigen,  scheckigen,  weisslichen  Wurm", 
letztere  beiden  Epitheta  auch  in  V.  23  Vers  9  neben  dreiköpfig  und 
dreihöckerig.  V,  23  Vers  2  bittet  „dieses  Knaben  Wurm  töte,  o  Indra, 
0  Herr  des  Reichtums!"  Vers  4  spricht  vom  gleichfarbigen,  ungleich- 
farbigen, schwarzen,  roten,  gelben,  gelbohrigen,  „dem  Geier  und  dem 
Kuckuck."  Einige  Phantasie  könnte  in  dem  vieräugigen  Wurm  den 
Bandwurm  mit  den  Saugnäpfen  (also  wohl  Taenia  mediocanellata,  da 
das  Schwein  nicht  wohl  in  Betracht  kommt)  vermuten,  wie  denn  auch 
Jahrhunderte  später  N.  Andry  (1.  c.)  die  Saugnäpfe  für  Augen  aus- 
gab. Uebrigens  kommt  gerade  die  Bezeichnung  „vieräugig"  (s.  Grill 
1.  c.  p.  101)  auch  bei  anderen  Tieren  mit  Flecken  an  den  Augen  vor. 

Ausführlicher  und  sachlicher  handelt  über  Würmer  eine  Reihe 
späterer  Autoren,  wie  denn  auch  bei  T.  A.  Wise  in  seinem  jetzt 
allerdings  etwas  veralteten  „Commentary  on  the  Hindu  System  of 
medicine",  Kalkutta  1845  (new  issue  1860)  auf  pag.  348  und  ebenso 
in  seinem  „Review  of  the  history  of  medicine.  Vol.  II.  London  1867 
p.  301  verschiedenes  über  „Krimi"  (Würmer),  auch  aus  späteren  Au- 
toren, zu  finden  ist.  Der  besonderen  Liebenswürdigkeit  von  Prof. 
Jolly  in  Würzburg,  dem  genauen  Kenner  der  medizinischen  Sans- 
kritlitteratur  (s.  o.),  verdanke  ich  eine  ausführlichere  briefliche  Mit- 
teilung über  Würmer  betreffende  Stellen  aus  Mädhavanidäna  und 
einigen  sich  ihm  unmittelbar  anschliessenden  Autoren,  dann  aus 
Susruta  und  Hanta.  Aus  C  a  r  a  k  a  -  S  a  m  h  i  t  a  ist  das  einschlägige  in 
der  neuen  englischen  Uebersetzung  von  Avinash  Chandra  Kavi- 
ratna  (Kalkutta  Part  XVII  p.  529)  zu  finden.  Alle  diese  Autoren 
haben   viel  Uebereinstimmendes;    sie  unterscheiden  äussere  Würmer 


Die  klinisch  wichtigen  Parasiten.  653 

(Läuse  in  Haaren  und  Kleidern  etc.)  und  innere,  ferner  heilbare  Arten 
(13  bei  Susruta)  und  nicht  oder  nur  schwer  heilbare  (7  an  der 
Zahl) ;  oder  es  werden  die  Würmer  nach  ihrer  Entstehung  aus  äusserem 
Schmutz,  Schleim.  Blut  oder  Fäces  eingeteilt,  wobei  wieder  die  Nah- 
rung eine  wichtige  ätiologische  Eolle  spielt.  Mancherlei  Wurmsym- 
ptome werden  aufgeführt.  Doch  dürfte  es  trotz  gelegentlicher  summa- 
rischer Beschreibung  von  Gestalt  und  Grösse  nicht  so  leicht  sein, 
heute  noch  die  einzelnen  Wurmarten  festzustellen.  Caraka  unter- 
scheidet Würmer,  welche  den  oberen  und  unteren  Teil  des  Darms 
(ämägaya  und  pakkägaya)  bewohnen,  woraus  nichts  Spezielles  zu  ent- 
nehmen sein  dürfte.  Dagegen  sind  die  ..kleinen,  weissen,  zum  After 
hindrängenden"  (Susruta),  die  ,,leicliten  (kleinen),  Afterjucken  ver- 
ursachenden" (Härlta)  zweifellos  als  Oxyuriden  zu  deuten.  Die  Er- 
wähnung einer  Wurmart  „Sughanda"  von  „angenehmem"  Geruch  er- 
innert an  den  eigenartigen  Geruch  des  Spulwurms.  Aber  andererseits 
ist  es  nicht  möglich,  den  in  Indien,  heutzutage  wenigstens,  gar  nicht 
seltenen  Bandwurm  herauszufinden.  Wenn  Mädhavanidäna  (innere) 
Würmer  mit  „breiten  Eanken  von  Schlinggewächsen  oder  Erdwürmern" 
vergleicht,  so  könnte  man  an  Bandwurm,  jedenfalls  an  den  Spulwurm 
denken.  Auch  Mahäguha,  ein  „grosser"  Eingeweidewurm,  mag  hier- 
her gehören.  Nirgends  aber  ist  ausdrücklich  der  Abgang  von  Wurni- 
gliedern  oder  Gliederketten  oder  etwa  von  Gurkenkern  oder  Kürbis- 
kern ähnlichen  Gebilden  erwähnt,  wie  mir  auch  Prof.  R.  Garbe  in 
Tübingen  nach  Ausweis  der  Sanskrit- Wörterbücher  bestätigt.  Wise's 
Erklärung  von  Ohara  (Curu)  als  „plattgedrücktem  Reis",  was  ja  einem 
Bandwurm  entsprechen  könnte,  möchte  JoUy  beanstanden.  Dass 
Udarävesta  (wörtlich  ,,den  Bauch  bedeckend,  ausfüllend")  vom  kleinen 
Petersburger  Wörterbuch,  desgleichen  vom  älteren  Wörterbuch  von 
M.  Williams  mit  Bandwurm  übersetzt  wird,  lässt  sich  kaum  recht- 
fertigen. Der  auch  in  Indien  vorkommende  Guinea- Wurm  lässt  sich 
nicht  identifizieren.  Eine  grosse  Rolle  spielen  die  Anthelminthica ; 
so  nennt  Susruta  besonders  Yidaiiga  (Embelia  Ribes  Biirm.),  worüber 
Dutt  (The  materia  medica  of  tlie  Hindus,  Kalkutta  1887,  p.  183)  zu 
vergleichen  ist.  Auch  Kamalä.  Sanskrit  Kampilla,  wird  erwähnt 
(Dutt  p.  232),  ausserdem  noch  eine  ganze  Reihe  von  z.  T.  sehr  zu- 
sammengesetzten Wurmmitteln.  Caraka  (1.  c.  p.  5340".)  zählt  eben- 
falls viele  Mittel  auf,  Dekokte,  Infuse.  die  auch  wohl  als  Klysma  an- 
zuwenden sind,  Pasten. 

Von  vereinzelten  Notizen  noch  älterer  Griechen  abgesehen,  so 
findet  man  im  Corpus  Hippocraticum  verschiedene  Angaben  über 
menschliche  Würmer,  worüber  auch  die  Zusammenstellung  bei  H  u  b  e  r , 
1.  c,  Archiv,  p.  137)  zu  vergleichen  wäre.  Es  werden  unterschieden 
eXiiitvd^sg  OTQoyyvlai  und  ao/Mgideg  als  bei  älteren  Kindern  vorkommend 
(Aphorismen  III,  26;  Edit.  Kühn  III  p.  725;  Uebersetzung  Fuchs  I 
p.  89);  an  anderen  Stellen  rteol  voüatov  IV  (Kühn  II  p.  366,  Fuchs  I 
p.  266)  ist  neben  den  (skf^iivi^sg)  arQoyyv'/Mi  von  Ttlarslai  die  Rede, 
welche  gurkenkernähnliche  {oixvov  ojieQ^a)  Stücke  mit  dem  Kot  von 
Zeit  zu  Zeit  ausstossen,  was  einige  als  „Geburt"  des  ^\'urms  —  wie 
Hippokrates  meint,  mit  Unrecht  —  betrachten.  Ebendort  wird 
beschrieben,  dass  bei  geeigneter,  wohl  vorbereiteter  Kur  der  Wurm 
als  ganzes,  als  Knäuel  (acpalga)  abgehe  und  der  Mensch  gesund  werde, 
oft  aber  bloss  mehr  oder  weniger  grosse  Stücke  abreissen,  die  dann 
wieder  nachwachsen.    Es  wird  angenommen,  dass  nur  ein  „einziges 


654  Hermann  Vierordt. 

Tier"  im  Darm  vorhaiiflen  sei.  Auch  die  Zeichen  der  Bandwurm- 
krankheit werden  erörtert  (Schmerzen  an  der  Leber ,  Speichelfluss, 
Bauchschmerz,  Stimmlosigkeit).  Die  Würmer  lässt  Hippokrates 
im  Kind  schon  während  des  intrauterinen  Lebens  entstehen,  eine  lange 
in  Geltung  gebliebene  Anschauung.  —  Das  „Gebären"'  gurkenkernähn- 
licher  Gebilde  erwähnt  auch  Aristoteles  (Tiergeschichte  V.  Buch 
XIX.  Kap.),  dann  Galen,  Oreibasios,  Paulos  von  Aegina,  nicht 
aber  Alexander  von  Tralles,  der  in  seiner  übrigens  nichts 
Neues  enthaltenden  IthotoIti  an  Theodoros  (Edit.  Puschmann  II  p. 
587)  Würmer  von  ,.nahezu  16  Fuss"  aufführt.  Die  prognostisch 
günstige  Bedeutung  des  Abgangs  von  Spulwürmern,  namentlich  wenn 
die  Krisis  in  der  Nähe  ist,  wird  erwähnt  im  ngoyviooriyiöv  (Kühn  I 
p.  99,  Fuchs  I  p.  457),  /isql  yigiaecov  (Kühn  I  p.  136,  Fuchs  I  p.  416), 
■/May-ai  TiQoyvcüaeig  (Kühn  I  p.  338,  Fuchs  II  p.  92).  In  nQOQQtjTixd 
II  Buch  (Kühn  I  p.  222,  Fuchs  I  p.  519)  ist  das  Erbrechen  von  Spul- 
würmern aufgeführt  und  "ETtLÖr^f-uibv  VII  (Kühn  III  p.  702;  Fuchs  II 
p.  342)  der  gelegentliche  Abgang  eines  ausgewachsenen  (Spul-) Wurms 
aus  einer  kleinen  Bauchfistel  bei  einem  Knaben. 

In  Pwaiy-dtov  II  (Kühn  II  p.  853,  Fuchs  III  p.  570)  ist  von  ccgym- 
Qiöeg  (Oxyuren)  im  weiblichen  Genitale  und  deren  Behandlung  die 
Rede.  —  'ETtLÖmiCbv  II  (Kühn  III  p.  428,  Fuchs  II  p.  160)  sind  die 
Askariden  als  am  Abend  und  wieder  im  Herbst  besonders  lästig  be- 
zeichnet. Die  Stelle  negl  zCbv  evzbc  rcad^Cov  (Kühn  II  p.  469,  Fuchs  II 
p.  510),  wo  von  Wassersucht  infolge  von  Geschwülsten  in  der  Lunge 
gehandelt  wird,  welche  sich  mit  Wasser  füllen  und  nach  der  Brust 
durchbrechen,  wird  auf  Hydatiden  (Lungenechinococcus)  bezogen;  es  wird 
ihr  Vorkommen  beim  Rind,  Hund  und  Schwein  erwähnt,  die  Operation 
ausführlich  geschildert.  Auch  Aphorismus  VII,  55  (Kühn  III  p.  763; 
Fuchs  I  p.  136),  der  den  Durchbruch  einer  mit  Wasser  gefüllten  Leber 
in  die  Bauchhöhle  und  den  darauf  folgenden  Tod  bespricht,  lässt  sich 
als  Echinococcus  (der  Leber)  deuten. 

Die  Kenntnis  der  Finnen  beim  Schwein  {xdlat^ai)  wird  aus  den 
„Rittern"  des  Aristophanes  (Vers  381)  erschlossen,  wo  eine  Unter- 
suchungsmethode für  die  Zunge  angegeben  wird.  (Ueber  diese  Stelle 
genauer  Küchenmeister,  Quellenstudien  1.  c.  —  II  Bd.  des  Archivs 
—  p.  312.)  Auch  bei  Hippokrates  in  'E7iiörif.uG)v  IV  (Kühn  III 
p.  515,  Fuchs  II  p.  196)  könnte  man  mit  Küchenmeister  an  Finnen 
denken  (xaÄaCa»<5i^g  7cvy.v6q  auf  der  Zunge). 

Agatharchides,  ein  unter  Ptolemaeus  Philometor  im  2.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  lebender  Philosoph  und  Geograph,  erwähnt  deutlich 
genug  den  Dracunculus  Persarum  s.  Filaria  Mediuensis,  den  Guinea- 
wurm, das  dgayiövriov,  als  am  roten  Meer  vorkommend  und  das  „Fleisch 
der  Waden  und  Arme  verzehrend".  Plutarch  in  den  „Symposiaca" 
Lib.  VIII  Kap.  9  hat  uns  die  Sache  in  ausführlicher  Darstellung  über- 
liefert. Eine  neuerdings  von  Iw.  Bloch  ausgegrabene,  interessante 
Stelle  in  Rhuphos'  von  Ephesus  (1.  Jahrhundert  p.  Chr.)  iargiyccc 
iQcoTr]f.iaTa  (Edit.  Daremberg-Ruelle,  Paris  1879  p.  216)  behandelt  eben- 
falls die  Krankheit  bcpig  oder  vsvqov,  die  in  Arabien  bei  Einheimischen 
und  Fremden  vorkomme  —  vergl.  auch  die  Bemerkungen  hierzu  von 
J.  Chr.  H  u  b  e  r  (Centralblatt  für  Bakteriologie  u.  Parasitenkunde  ...  I. 
Abteilung  XXVII  Bd.  1900  Nr.  6)  und  dieses  Handbuch,  Bd.  I  p.  370 
u.  553.  —  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  daran  erinnert,  dass  in  der 
Bibel,  4.  Buch  Mosis  Kap.  21  V.  6,   „feurige"   Schlangen  vorkommen, 


Die  klinisch  wichtigen  Parasiten.  655 

welche  erstmals  Fortun atus  Licetus  (1577 — 1657),  später  Tho- 
mas Bartholin  und  dann  namentlich,  mit  Aufwand  von  ^iel  Ge- 
lehrsamkeit, Küchenmeister  (Parasiten  p.  419)  als  Dracunculi  auf- 
fassen wollten.  Es  erscheint  mir  einig-ermassen  erzwungen,  die  Affek- 
tion, an  der  „viel  Volks"  starb,  als  Guineawurm  zu  deuten,  obwohl 
auch  Küchenmeister  (p.  421)  dies  aus  Unkenntnis  des  Leidens 
und  irrationeller  Behandlung  ..leicht"  erklären  will.  Die  „Saraph"  — 
in  der  Parallelbibel  ist  ..brennend,  brandmachend''  erklärt  —  müssen 
doch  eine  ernstere  Affektion  darstellen.  Will  man  nicht  unmittelbar 
an  Giftschlangen  denken,  so  könnte  irgend  eine  gefährliche  Hautaffek- 
tion gemeint  sein,  ein  bösartiges,  weiter  kriechendes  Erj^sipel  etwa. 
Ich  werde  hierbei  an  die  ausdrücklich  als  fast  zu  Tode  führend  ge- 
schilderte, von  Brächet  als  Scharlach  gedeutete,  Krankheit  „Ar- 
naldia"  erinnert,  an  der  auf  dem  3.  Kreuzzug  nach  des  Magisters 
"Roger  de  Hoveden's  Chronika  (Edit.  Stubbs,  Vol.  III.  London  1870, 
p.  113)  Eichard  Löwenherz  und  Philipp  II.  August  von  Frankreich 
litten  und  die  manche  als  eine  simple  „Alopecie"  auffassten,  weil  den 
Kranken  die  Haare  ausgingen. 

Des  Aristoteles  Schüler  Theophrastos  von  Eresus  (4.  Jahr- 
hundert) im  9.  Buch  Kap.  20  seiner  Schrift  ..nsgl  xfig  twv  cfvrcbv  laiogiag^ 
(Edit.  Schneider,  t  I.  Lipsiae  1818,  p.  327)  macht  interessante,  auch 
von  Plinius  (XXVII  §  145)  mit  Auslassung  der  Armenier  und  Me- 
tatiden  wiederholte  Bemerkungen  über  die  Verbreitung  des  Band- 
wurms. Aegypter.  Araber,  Armenier,  Metadiden  (Masatiden)  [??].*) 
Syrer,  Cilicier  haben  ihn,  Thracier  und  Phrygier  seien  immun.  Unter 
den  Griechen  haben  ihn  die  Thebaner.  soweit  sie  Gymnasien  besuchen 
(Athleten),  und  überhaupt  die  Böotier.  Die  Athener  kennen  ihn  nicht. 
Plinius  gebraucht  an  verschiedenen  Stellen,  auch  den  citierten,  die 
Bezeichnung  „Taenia",  vde  vor  ihm  schon  M.  Porcius  Cato  (De  agri- 
cultura  cap.  126).  Bei  den  Griechen  findet  sich  der  Ausdruck  raivia 
(Galen  u.  a.). 

Dioskurides  (1.  Jahrhundert  n.  Chr.)  ist  uns  wertvoll  durch 
die  Aufzählung  einer  ganzen  Eeihe  von  Wurmmitteln,  welche  Hub  er 
(1.  c.  46.  Bd.  p.  189)  in  alphabetischer  Ordnung  zusammenstellt.  Er- 
wähnt mögen  sein  Filix  (Ttzegig)  in  Verbindung  mit  einer  Knoblauch- 
vorkur und  die  auch  bei  anderen  Autoren  (Plinius,  Galenos,  Alexander 
von  Tralles)  viel  citierte  Wurzelrinde  des  Maulbeerbaums  (tisqI  vArjg 
iaxQi/.f^g,  Buchl  Kap.  180;  Edit.  0.  Sprengel  I  p.  158).  In  III  25 
erwähnt  Dioskurides  ein  Absynthium  Santonicum.  in  Kap.  24  ein 
wurmwidriges  AbsjTithium  marinum  s.  Seriphon.  Vielleicht  ist  an 
eine,  wenn  auch  nicht  das  echte  ..Semen  Cinae"  (der  Artemisia  maritima) 
liefernde  Artemisiaart  zu  denken,  so  dass  also  die  Alten  drei  der  wich- 
tigsten Wurmmittel  wohl  gekannt  hätten,  per  spätere  Bernard  de 
Palissy  (1500—1590)  empfiehlt  die  „absynthe  appelee  Xaintonique" 
als  Dekokt  oder  als  Schmalzgebäck  verabreicht. 

Cornelius  Celsus  (De  medicina  IV  cap.  17)  beschreibt  eine 
regelrechte,  auf  mehrere  Tage  ausgedehnte,  Bandwurmkur.  in  welcher 
ein  Dekokt  der  feinen  Würzelchen  des  Granatbaums  wohl  das  wich- 
tigste sein  dürfte.  Es  fehlt  nicht  die  Vorkur  mit  Allium.  Auch  die 
leichteren  Mittel  gegen  Lumbrici  der  Kinder  sind  angegeben. 


*)  Plinius  erwähnt  Lib.  V  §  9  ein  Volk  Masati  in  Manretanien. 


656  Hermann  Vier ordt. 

Ob  die  bei  Aretaios  von  Kappadocien  (1.  Jahrhundert  n.  Chr.)  er- 
wähnte —  Editio  Kühn  p.  131  —  bei  gewissen  Formen  von  Ascites  vor- 
kommenden, multiplen,  kleinen,  mit  Flüssigkeit  gefüllten  Blasen,  die  sich 
vor  die  Punktionsöffnung  des  Bauchs  legen  und  den  Abfluss  der  Flüssigkeit 
verhindern  können,  als  Echinococcus  oder  Ovarialcyste  aufzufassen  sind,  mag 
im  Zweifel  gelassen  werden. 

Quintus  Serenus  Samonicus  (2.  Jahrhundert  n.  Chr.) 
spricht  in  seinem  medizinischen  Lehrgedicht  vom  Eindringen  der 
„Lumbrici"  in  die  Luftwege  und  dadurch  bewirkter  Erstickung. 

Bei  Galen  finden  sich,  namentlich  auch  in  den  Kommentaren  zu 
den  hippokratischen  Schriften,  vielerlei,  bei  Bronn-Pagenstecher 
(p.  16)  fast  3  Seiten  füllende  Angaben,  allerdings  nichts  eigentlich 
Originelles. 

Caelius  Aurelianus  und  Oreibasios  (beide  4.  Säkulum) 
handeln  ausführlich  über  Würmer,  zumal  der  letztere,  der  sich  auch 
über  die  Finnen  äussert.  Eine  grosse  Zahl  von  Wurmmitteln  wird 
aufgeführt,  welche  bei  Marcellus  Empiricus  (2.  Hälfte  des  4.  Jahr- 
hunderts) in  eine  richtige,  ziemlich  rationelle  Bandwurmkur  mit  Vor- 
kur gefasst  sind  —  De  medicamentis  liber,  Edit.  Helmreich  1889, 
cap.  XXYIII  p.  292. 

Die  folgenden  Jahrhunderte,  eigentlich  bis  auf  Johann  Ac- 
tuarius  (1300  n.Chr.)  bringen  nichts  nennenswert  Neues.  So  findet 
man  auch  bei  dem  schon  dem  6.  Jahrhundert  angehörigen  Paulos 
von  Aegina  nichts  von  Belang;  er  huldigt  ebenfalls  der  dem  Altertum 
sehr  geläufigen  Lehre,  dass  der  breite  Wurm  in  ein  lebendes  Wesen 
umgewandelte  Darmwand  sei.  Dem  gegenüber  ist  die  andere,  bei 
den  (von  Davaine,  1.  c.  p.  41  ausführlicher  behandelten)  Arabern, 
z.  B.  Avicenna,  sich  findende  Anschauung,  die  Eingeweidewürmer  ent- 
ständen aus  Kot,  fast  die  annehmbarere.  Der  Dracunculus  tritt  bei 
den  Arabern,  Abulcasim  u.  a.,  wieder  mehr  hervor,  oft  mit  der 
merkwürdigen  Bezeichnung  „Vena  Medinensis",  die  z.  B.  noch  der 
Augsburger  Arzt  Georg  Hieronym.  Welsch  in  seiner  Monographie 
vom  Jahr  1676  gebraucht.  Petrus  von  Abano  (Mitte  des  13.  Jahr- 
hunderts) lässt  die  Tänien  durch  aneinander  gereihte  Kürbiswürmer 
entstehen,  was  im  Grunde  genommen  auch  noch  Blumenbach  Jahr- 
hunderte später,  1774,  vertrat. 

Der  in  zoologischen  Kenntnissen  besonders  hervorragende  Alber- 
tus Magnus  (1193 — 1280)  —  de  animalibus  libri  XXVI  —  spricht 
auch  von  Eingeweidewürmern,  aber  mehr  der  Tiere,  als  der  Menschen. 

Aus  einigen  keineswegs  originalen  und  fortgesetzt  auf  alte  Autoren 
sich  beziehenden,  mittelniederdeutschen  Arzneibüchern  („Utrechter", 
„Gothaer"  etc.)  hat  v.  Oefele  (s.  Litt.  p.  644)  das  auf  Parasiten,  äussere 
und  innere,  Bezügliche  mitgeteilt;  eine  besonders  merkwürdige  Stelle 
ist  die  über  den  in  der  Narkose  operativ  zu  behandelnden  „Gehirn- 
wurm" (1.  c.  p.  87).  Im  übrigen  ist  gerade  aus  dem  Mittelalter  wenig 
Brauchbares  zu  verzeichnen :  Insekten  und  Würmer  werden  so  wie  so 
zusammengeworfen.  Nur  wäre  die  interessante  Thatsache  zu  regi- 
strieren, dass  die  Krätze  von  einzelnen  auf  Hautparasiten  zurückgeführt 
wird.  Wenigstens  geschieht  in  dem  der  h.  Hildegardis  (1098  bis 
1180),  Aebtissin  des  Nonnenklosters  auf  dem  Rupertusberg  bei  Bingen, 
zugeschriebenen  Buch  „de  physica"  in  Lib.  I  cap.  76  de  Myntza 
majori  und  110  de  Bilsa,  der  äusserlichen   Behandlung  der   „suern, 


Die  klinisch  wichtigen  Parasiten.  657 

suren"  Erwähnung  und  im  gleichen  Jahrhundert  finden  wir  Aven- 
zoar  (s.  bei  Fürstenberg  p.  20".)  als  Besclireiber  der  (Kratz ?)Milbe 
und  eines  ziemlich  rationellen  Heilverfahrens  (neben  Laxantien  äusser- 
lich  Bittermandel-  und  Ricinusöl)  gegen  dieselbe.  Freilich  kann  man 
bei  Hildegardis  nicht  minder  wie  bei  A v e n z o a r  gerechte  Zweifel 
wegen  der  vielfach  gemutmassten  Krätze  nicht  unterdrücken  (vgl.  auch 
Huber.  Bibliogr.  d.  klin.  Entomol.  Heft  4  p.  2).  Ulisse  Aldro- 
vandi  (1522—1605).  Prof.  der  Xaturgeschichte  in  Bologna,  behandelt 
die  Eingeweidewürmer  des  Menschen  genau  —  De  animalibus  in- 
sectis  libri  septem. 

Die  erste  Nachricht  über  Bothriocephalus  latus  will  Leuckart 
(I  p.  517)  in  einer  Notiz  des  Thaddeus  Dunus  in  Locarno  sehen  — 
Epistolae  medicinales  .  .  .  Tiguri  1592.  Es  handelte  sich  um  einen 
mehr  als  20  Ellen  laugen  Band\\Tirm.  Auch  den  Cysticercus  tenui- 
collis,  dessen  Vorkommen  beim  Menschen  noch  keineswegs  sicher  ge- 
stellt ist.  vermutet  Leuckart  (I.e.  p.  71 6)  bei  Felix  P 1  a  t  e  r  (Opus 
praxeos  medicae.  t.  II,  de  animalibus  excretionibus).  Jedenfalls  hat 
Plater  die  Taenia  intestinorum  und  den  Vermis  cucurbitinus  (Bothrio- 
cephalus) scharf  unterschieden. 

Joh.  Schenck  von  Grafenberg  (1.  p.  633  c.)  erwähnt  aus  anderen 
Autoren  manches  über  menscliliche  Parasiten.  Syrones,  Dracunculi, 
Lumbrici  und  Bandwürmer,  Echinococcus  (Lib.  III  Obs.  7)  des  Mesen- 
teriums, von  ihm  als  -Strumae"  bezeichnet.  Als  vorzügliches  ^Vurm- 
mittel  wird  Corallina,  muscus  maris,  in  Pulverform  empfohlen,  ein 
Präparat,  das  noch  in  van  Swieten's  ..Commentaria"  unter  den  haupt- 
sächlichsten Mitteln  erwähnt  ist,  den  Mitteln  „erster  Klasse"  (IV 
§  1371;  Edit.  Lugdunensis  IV  p.  725),  den  „Anthelminthica  aspera 
et  scabra". 

Ein  Eustrongylus  gigas  fand  sich  in  der  Niere  des  1595  in 
Brüssel  gestorbenen  Erzherzogs  Ernst  von  Oesterreich,  me  uns  D.  M. 
Jansen  berichtet  (Mercurii  Gallobelgici  . .  .  tomus  tertius,  Coloniae 
Agrippinae  1596  p.  163).  Allerlei  Kasuistik  bringen  die  Schriften 
von  Fabry  von  Hilden,  Nicolaus  Tulpius,  Thomas  Bartholin. 
Als  Beschreiber  namentlich  auch  der  Parasiten  von  Tieren  ragt 
Redi  hervor;  am  Bandwurm  sah  er  4  Punkte  (Sauggruben),  auch 
mit  Wurmitteln  experimentierte  er. 

Wenn  wir  die  sonst  hier  angezogenen  Fälle  von  R  u  m  1  e  r  (1588) 
—  vgl.  Küchenmeister,  Quellenstudien  ...  —  und  von  W h a r t o n 
(1679)  —  s.  b.  Leuckart  I,  1  p.  705  —  welche  Huber  (s.  Litt. — 
„PseudoCysticerkose'')  mit  guten  Gründen  zurückweist,  ausser  acht 
lassen,  so  hat  Finnen  im  Menschen  zuerst  der  Römer  Domenico 
Panaroli  1650  (s.  b.  Küchenmeister)  im  Corpus  callosum  eines  epilep- 
tischen Priesters  beobachtet,  während  die  genauere  Beschreibung 
und  der  bis  dahin  bloss  für  Gesichtsblattern  übliche  Name  „Finna", 
von  Paul  Chr.  Friedr.  Werner  herrührt,  welcher  auch  die  Ein- 
stülpung des  Kopfes  in  die  Blase  zuerst  gesehen  hat  —  Vermium 
intestinalium  praesertim  Taeniae  humanae  brevis  expositio.  Lipsiae 
1782.  —  Von  ,.finnichtem  Speck"  redet  übrigens  schon  die  ,.Politische 
Golica  ..."  (Leipzig  1680)  —  vgl.  Grimm,  Deutsches  Wörterbuch, 
3.  Band,  p.  1666.  Allerdings  hat  in  älteren  Schriften  ..finnig"  viel- 
fach die  Bedeutung  von  ranzig.  Ein  genauer  anatomischer  Beschreiber 
der  Eingeweidewürmer  tritt   in   Edward  Tyson  (1658 — 1708)   auf, 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  42 


658  Hermann  Vierordt. 

Seine  Beobachtungen  sind,  zugleich  mit  grossen  leidlichen  Abbildungen, 
hauptsächlich  niedergelegt  in  den  „Philosophical  Transactions"  (13, 
1683,  Nr.  146,  p.  113.  Lumbricus  latus  or  a  discovery  .  . .  of  the 
jointed  worm  . . .).  Er  schildert  Kopf  und  Hakenkranz,  den  ver- 
dünnten Halsteil  beim  Hundebandwurm,  hält  freilich  die  Geschlechts- 
öffnungen für  Mundöffnungen.  Tyson  sah  Cysten  in  der  Blase  eines 
Mannes,  operierte,  allerdings  ohne  ihn  für  einen  solchen  zu  halten, 
Echinococcus  der  Leber  (500  Blasen!)  bei  einer  Frau  mit  gutem  Er- 
folg. Den  Abbildungen  nach  scheint  er  auch  Bothriocephalus  latus 
vor  sich  gehabt  zu  haben.  Auch  er  beobachtete  das  Vorkommen 
mehrerer  Bandwürmer  in  einem  Individuum,  wie  früher  Petrus 
Forestus,  Bieter  van  Foreest,  Observationum  et  curationum  medi- 
cinalium  libri  XXXII,  Lugduni  Batav.  1593—1606,  Lib.  21  Obs.  26, 
12  auf  einmal  entleert  werden  sah,  während  z.  B.  Spigelius,  vor 
ihm  Johann  Actuarius  und  auch  Hippokrates  (s.  o.  p.  653) 
nur  einen  zugelassen  hatten. 

Von  Leeuwe nhoek's  vielseitigen  mikroskopischen  Entdeckungen 
sei  erwähnt,  dass  er  die  Comedones  nicht  als  Würmer  gelten  liess 
(Anatomia  seu  interiora  rerum  ope  microscopiorum  detecta.  Lugd. 
Batav.  1687,  p.  36). 

Das  Verdienst,  die  tierische  Natur  des  Cysticercus  (tenuicollis)  er- 
kannt zu  haben,  gebührt  Philipp  Jakob  Hartmann  in  Königsberg 
(Mise.  cur.  sive  Ephemeridum  med.-physicarum  germanicarum  Academiae 
naturae  curiosorum  Decuriae  II  annus  quartus,  anni  1685,  Norimbergae 
1705,  Obs.  73,  p.  152.  Er  beschreibt  die  Bewegung  der  gegliederten 
„Appendix"  der  Blasenwürmer,  also  des  Scolex  (aus  dem  Omentum 
einer  Ziege)  in  warmem  Wasser,  ihre  gemeinschaftliche  und  besondere 
Membran,  gibt  auch  eine  übrigens  mangelhafte  Abbildung.  Nicolas 
Andry's,  des  von  Vallisnieri  so  genannten  „Homo  vermiculosus", 
Traite  ist,  wenn  auch  mit  mancher  abstrakten  Theorie  durchsetzt,  für 
seine  Zeit  ein  wichtiges  Buch.  Andry  nimmt  2  Bandwurmarten  an, 
Taenia  ordinaire  ohne  Kopf  (Bothriocephalus)  und  die  nach  ihm  stets 
allein  vorkommende,  allerdings  ohne  Hakenkranz,  mit  schwarzem, 
birnförmigem  Kopf  und  4  „Augen"  daran  beschriebene  Taenia  „solium", 
also  wohl  Taenia  mediocanellata.  Die  schon  bei  Arnald  von  Villa- 
nova (1235 — 1312)  —  Breviarium  Lib.  II  cap.  21  —  sich  findende 
Bezeichnung  „solium"  gebraucht  auch  Andry  und  leitet  es  von  sohis 
ab  —  Ver  solitaire.  So  wenig  befriedigend  diese  Ableitung  ist,  so 
wenig  ansprechend  ist  auf  der  anderen  Seite  die  von  K  r  e  h  1  gegebene, 
mindestens  sehr  abliegende,  Erklärung  aus  einem  durch  die  Arabisten 
möglicherweise  aufgekommenen  syrischen  schuschl  =  Kette  (siehe 
Leuckart  I,  1  p.  519).  Mit  dem  gleichen  Recht  könnte  allenfalls  an 
das  Sanskritwort  „sul"  (süla  =  spitzer  Pfahl,  stechender  Schmerz) 
gedacht  werden,  das  (vgl.  Wise,  1.  p.  652  c.  p.  341  u.  348)  Kolik 
bedeutet  und  auch  unter  den  Wurmsymptomen  aufgeführt  wird. 
Uebrigens  lässt  Littre,  im  Artikel  „Seuil"  seines  grossen  Diction- 
naire,  solium  im  Spätlateinischen  die  Bedeutung  „Sohle"  haben,  gerade 
so  wie  im  früheren  Latein  solea  die  Sandale  und  einen  platten  Fisch, 
die  Scholle,  ausdrückt.  Scheuthauer  (Virchows  Archiv  85.  Bd. 
p.  354)  nimmt  solium  in  der  Bedeutung  von  Schwelle,  längliches  Recht- 
eck. Gleicher  Sinn  und  ein  besseres  Latein  würde  durch  die  Lesart 
„Solum"  statt  solium  gegeben  sein. 

Den  Trichocephalus  dispar  Rudolphi  beschrieb  zuerst  J.  B.  M  o  r  - 


Die  klinisch  wichtigen  Parasiten.  659 

gagni  (Epistolae  auatomicae  duodeviginti  Patav.  1768.  XIV.  42  — 
Eudolphi.  Entozoorum  bist.  I.  p.  27).  später  genauer  Roederer  und 
Wagler  (Göttingische  gelehite  Anzeigen  1761.  25.  Stück  p.  243). 
Den  von  Christ  Wilh.  (?)  Büttner  Trieb uris  betitelten  Wurm 
nannte  späterbin  Goeze  richtig  Trichocephalus  (hominis).  Auch 
die  bekannte  Schrift  von  Roederer  und  Wagler  über  ..Morbus 
mucosus"  (jöttingen  1762  erwähnt  die  Trichuris  und  bildet  sie  ab 
iTafel  ITIj.  Vor  der  Xeuausgabe  der  Schrift  von  H.  A.  Wrisberg 
(1783j  findet  sich  eine  ..Praefatio  continens  simul  descriptionem  Trichu- 
ridum".  Der  von  Zeder  beliebte  Name  ..Mastogides"  kam  nicht  auf. 
In  seinem  Hauptwerk  (De  sedibus  et  causis  morborum)  erwähnt 
Morgagni  bei  seinen  Sektionsbefunden  öfters  Würmer,  aber  eigent- 
lich nur  die  Lumbrici  „teretes",  die  Spulwürmer.  Taenie  und  Ascar- 
ides  scheint  er  weniger  beobachtet  zu  haben.  In  van  Swieten's 
Commentarien  ist  den  Würmern  ein  längerer  Exkiu's  gewidmet 
itomus  IV  §  13610".  bes.  aber  1363).  Die  Annahme,  dass  die  Taenia 
=  Vermis  solitarius  nur  allein  vorkomme,  wird  zurückgewiesen. 
§  1371  u.  72  behandelt  genauer  die  AVurmkuren  (s.  o.  p.  657). 

Den  Kopf  des  Bothriocephalus  latus  Bremser  hat  zuerst  Ch. 
Bonnet  in  seiner  2.  Abhandlung  über  die  Taenia  vom  Jahr  1777, 
seine  ei-ste  von  1750  berichtigend,  beschrieben  (s.  Leuckart  I,  1 
p.  523),  1819  hat  ihn  Bremser  von  neuem  bestätigt,  nachdem  ihn 
Linne  noch  1762  geleugnet  hatte. 

Einen  wesentlichen  Fortschritt  in  systematischer  Beziehung  be- 
deutet die  1782  erschienene  Monographie  des  Pastors  Joh.  Aug.  Ephraim 
Goeze  (gest.  1793  in  Quedlinburg).  Er  nahm,  wie  übrigens  schon 
Peter  Simon  Pallas  (1741 — 1811)  unter  Aufstellung  seiner  Taenia 
hydatigena  (s.  Bronn-Braun  p.  948  Nr,  70),  Blasen-  und  Bandwürmer 
zusammen,  entdeckte  den  Kopf  der  Echinococcusblasen,  kannte  die 
Eier  und  Embrya  einzelner  Bandwürmer.  Die  schon  von  Werner 
(s.  0.  p.  657)  angenommene  tierische  Natur  der  Finnen  des  Schweine- 
fleisches, der  von  manchen  sog.  „glandulae",  praezisierte  er  genauer 
(1784),  wie  es  übrigens  auch  0,  Fahr ic ins  in  Kopenhagen  1783 
gethau  hatte  (s.  Bronn-Braun  p.  955  Nr.  107  u.  108). 

Nach  Goeze  haben  der  ihn  ergänzende  Joh.  Georg  Heinr. 
Zeder,  Stadtphysikus  in  Forchheim  in  Bayern,  der  leider  Band-  und 
Blasenwurm  wieder  auseinanderriss.  dann  der  eifrige  Konservator 
des  Wiener  naturhistorischen  Museums,  der  durch  seine  Monographie 
über  die  Würmer  (1819j  bekannte  Joh.  Gottfried  Bremser  (gest. 
1827),  endlich  der  mit  Bremser  in  wissenschaftlichem  Verkehr 
stehende,  das  gesamte  grosse  ]\[aterial  verarbeitende  hochverdiente 
Karl  Asmund  Rudolphi  (1771—1832),  in  Berlin,  der  „Vater"  der 
Helminthenkunde,  die  Parasitologie  in  hervorragender  Weise  ge- 
fördert. Doch  nahmen  auch  diese  vorgeschrittenen  Forscher  eine 
später  (1841)  von  Eschricht  wirksam  bekämpfte  Generatio  aequi- 
voca  an,  während  in  der  früheren  Zeit  wenigstens  ein  Uebergang 
der  Eier  von  der  Mutter  auf  die  Frucht  als  möglich  gegolten  hatte, 
oder  beispielsweise  Marcus  Elieser  Bloch  in  seiner  Abhandlung  die 
Samen  der  Eingeweidewürmer,  ähnlich  wie  Goeze,  angeboren  sein, 
diese  selbst  aber  von  einem  Wirt  zum  anderen  verpflanzt  werden  Hess. 
1835  beschrieb  C.  Th.  v.  Siebold  das  Embryon  des  Taenieneies  als 
mit  6  Häkchen  bewaönet,  das  Jahr  darauf  Spermatozoen  einzelner 
Taenien  (Bronn  p.  973—75  Nr.  210,  215,  222). 

42* 


660  Hermann  Vierordt. 

Die  an  sich  fruchtbare  Lehre  des  Dänen  Steenstrup  (1813  bis 
1897)  vom  Generationswechsel  und  der  Ammenerzeugung  (1842)  hatte 
nur  allmählich  Geltung  erlangt  und  trotz  der  Erziehung  von  Band- 
würmern aus  Blasenwürmern  im  Darm  geeigneter  Tiere  dui'ch  Sie- 
bold  (s.  u.)  hielt  dieser  selbst  die  Blasen würmer  eher  für  verirrte 
und  entartete,  als  etwa  unentwickelte  Bandwürmer,  eine  Ansicht,  die 
Küchenmeister  später  beseitigte. 

Immerhin  gewann  die  Auffassung  Boden,  dass  der  Bandwurm 
aus  verschiedenartigen  Teilen  bestehe  (Steenstrup,  van  Benedeu),  aus 
Scolex  und  den  Proglottiden.  Schon  1779  hatte  übrigens  der  Frei- 
herr W.  Fr.  V.  Gleichen-Eusworm  (s.  bei  Bronn-Braun  p.  950) 
das  Vorderstück  des  Bandwurms,  das  sich  an  der  Darm  wand  fest- 
sauge, als  die  „Wurzel"  des  Ganzen  aufgefasst,  von  der  aus  das 
Wiederwachsen  von  Gliedern  bemrkt  werde. 

Eine  neue,  an  Funden  und  Entdeckungen  reiche  Periode  beginnt 
in  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts.  Wesentlich  trug  dazu  bei  das  für 
praktisch-medizinische  Zwecke  besonders  wichtige  helminthologische 
Experiment,  dessen  Ausbildung  und  wissenschaftliche  Verwertung 
Friedr.  Küchenmeister  (1821 — 1890)  zu  verdanken  ist.  Hatte 
schon  früher  1793  P.  C.  Abildgaard  bei  Hausenten  die  Taenie 
des  Stachelbarsches  (s.  Bronn  p.  316  Nr.  70  und  p.  958  Nr.  131)  und 
Friedr.  Christ.  Heinr.  Creplin  in  Greifswald  (Artikel  Distoma  in 
Ersch  u.  Gruber's  Encyklopädie,  I.  Sektion,  29.  Teil  1837  p.  309)  „in- 
fusorielle  Junge"  aus  Eiern  von  Bothriocephalus  ditremus  gezüchtet, 
so  gelang  es  Küchenmeister  an  verschiedenen  Beispielen  den 
Nachweis  zu  liefern,  dass  die  Blasen  würmer  die  ungeschlechtlichen 
Vorstufen  der  Bandwürmer  sind;  es  wurde  1851  aus  Cysticercus 
pisiformis  die  Taenia  serrata  in  Hund  (und  Katze)  gezüchtet,  dann 
Cysticercus  fasciolaris  in  Taenia  crassicoUis  übergeführt,  die  Zu- 
sammengehörigkeit von  Cysticercus  cellulosae  und  Taenia  solium  ver- 
mutet. Siebold  (Bronn  p.  997  Nr.  330)  erzog  aus  Coenurus  cere- 
bralis  eine  Taenia  (Coenurus)  und  aus  Echinococcus  veterinorum 
(Rudolphi)  eine  kleine  3  gliedrige  Taenia  echinococcus  des  Hundes 
(7.  Juli  1852),  die  übrigens  vielleicht  schon  Eudolphi  (Additamenta  I 
p.  411)  gesehen  hatte;  Naunyn  (1862),  später  Krabbe  und  Finsen, 
konnten  aus  verfütterten  menschlichen  Echinococcen  die  Taenia  im 
Hunde  erzeugen.  Die  Hundetaenia  selbst  hatte  übrigens  schon 
Eudolphi  (1810)  im  Darm  eines  Mopses  gesehen,  freilich  auch  mit 
Generatio  aequivoca  (s.o.)  erklärt.  1855  züchtete  Küchenmeister 
in  einem  Delinquenten  verschiedene  Taenien,  darunter  auch  Taenia 
solium  aus  dem  Cysticercus  cellulosae  des  Schweins  (Wiener  mediz. 
Wochenschrift  1855  Nr.  1),  andererseits  vermochte  Leuckart  die 
schon  Goeze  (1.  c.  Tafel  XXI.)  bekannte  Taenia  cucurbitina,  grandis 
saginata  auf  einen  Cysticercus  im  Eind  zurückzuführen,  nachdem  sie 
Küchenmeister  als  besondere  Art,  Taenia  mediocanellata,  hominis 
seu  Zittaviensis ,  abgetrennt  hatte  (Göschen's  Deutsche  Klinik  1852 
p.  101).  Aus  den  Proglottiden  dieser  Taenie  ist  von  Leuckart 
1861  im  Kalb  (s.  Parasiten  I,  1  p.  581  If.,  auch  Bronn  p.  1023  Nr.-  488 
u.  89),  dann  aber  auch  von  anderen,  z.  B.  P.  I.  van  B  e  n  e  d  e  n 
(1809—1894),  der  zugehörige  Cysticercus  gezüchtet  worden.  Die 
Finne  in  den  Lippenmuskeln  des  lebenden  Einds  fand  zuerst  S  i  e  d  a  m  - 
grotzky  1869,  nachher  wurde  sie  auch  in  anderen  Teilen,  Zunge, 


I 


Die  klinisch  wichtigen  Parasiten.  661 

Psoas,  Glutaeus  nachgewiesen,  in  europäischen  wie  aussereuropäischen 
Ländern  (Indien). 

Ton  dieser  Zeit  an  ist  die  prinzipielle  Trennung  beider  Taenien- 
arten  durchgeführt  und  das  gegenseitige  Verhalten  derselben  zu  ein- 
ander, besonders  auch  das  in  Deutschland,  nicht  minder  aber  auch 
anderen  Ländern,  auffälliger  werdende  Vorwiegen  oder  fast  aus- 
schliessliche Vorkommen  der  Mediocanellata  ist  eine  erst  in  neuerer 
Zeit  gewürdigte  Thatsache.  Die  Diagnose  auf  Cysticercus  des  Gehirns 
am  Lebenden  ohne  gleichzeitigen  Nachweis  von  Cysticerken  in  ober- 
flächlichen Organen  (der  Haut  etc.)  hat  zuerst  W.  Griesinger 
,1817—1868)  gestellt  (Archiv  der  Heilkunde  IIL  1862  p.  207). 

In  der  speziellen  Lehre  von  den  Echinococcen  ist,  nachdem 
schon  Pallas  1767  die  tierische  Natur  derselben  vermutet  (Bronn 
p.  948  Nr.  72),  im  Laufe  des  Jahrhunderts  seit  der  Aufstellung  von 
Laennec's  sterilen  Acephaloc3"sten  (1804;  vgl.  Bronn  p.  965)  und 
der  unberechtigten  Eudolphi'schen  Trennung  in  einen,  Tochter- 
und  Enkelblasen  führenden,  Echinococcus  hominis  und  einen  einfachen 
Echinococcus  veterinorum  manche  Aenderung  und  Klärung  eingetreten. 
Die  verschiedenen  „Varietäten"  Küchenmeister's  haben  sich  nicht 
behaupten  können,  jedoch  ist  die  Abtrennung  des  (vielleicht  einer 
besonderen  Taenie  entsprechenden)  Echinococcus  multilocularis  (Vir- 
chow)  durchaus  geboten.  Die  vielleicht  schon  von  Friedr.  Ruvsch 
(1638—1731)  1696  gesehene,  früher  als  Alveolarkolloid  oder  Gallert- 
krebs (trotz  gleichzeitigen  Befundes  von  wohlerhaltenen  Scoleces! 
E.  Zeller  1854)  bezeichnete  Neubildung  hat  Virchow  1855  als 
parasitäre  Bildung  erkannt,  die  übrigens  Buhl,  der  die  Bezeichnung 
Echinococcus  alveolaris  vorschlug,  schon  im  Mai  1854  als  „Echino- 
coccusentartung"  gedeutet  haben  wollte  (vgl.  meine  Abhandlung 
p.  74  75  und  4 — 6).  Mehrmals  ausgeführte  Fütterungsversuche  ver- 
schiedener Experimentatoren  haben  bezüglich  der  Stellung  des  mul- 
tilokularen Echinococcus  kein  eindeutiges  Eesultat  ergeben.  Im 
übrigen  ist  gerade  die  kasuistische  Litteratur  des  ohnehin  über  die 
ganze  Erde  verbreiteten  Echinococcus  zu  einem  grossartigen  Umfang 
angewachsen. 

Von  anderen  Parasiten  hat  in  diesem  Jahrhundert  namentlich 
auch  die  Trichina  spiralis  (Owen)  klinische  Bedeutung  erlangt. 
Entdeckt  1835  vom  Studenten  James  Paget  zugleich  mit  dem  Bo- 
taniker Robert  Brown  wurde  sie  von  Richard  Owen  wissenschaft- 
lich genauer  als  Nematode  beschrieben.  Die  kleinen  weissen  Stippchen 
der  verkalkten  Muskeltrichine  hatte  1828  schon  H.  Peacock.  1832 
und  später  H  i  1 1  o  n ,  Prosektor  an  Guy's  Hospital,  gesehen.  T  i  e  d  e  - 
m  a  n  n '  s  Priorität  (1822)  muss  als  zweifelhaft  gelten  (s.  Pagenstecher, 
Trichinen  p.  4).  Leidy  konstatierte  den  Parasiten  1847  im  Schwein. 
Nach  den  freilich  nicht  ganz  einwandfreien  Tierversuchen  Herb  st 's 
(1850)  sah  Virchow  1859  (Deutsche  Klinik  p.  430)  die  ersten  reifen 
Darmtrichinen.  Anfang  1860  erkannte  Leuckart  die  Darm- 
trichinen als  den  innerhalb  einer  Woche  erreichten  geschlechtsreifen 
Zustand  der  Muskeltrichine,  sah  auch  die  Embrya  in  den  Weibchen. 
Etwas  später,  Januar  1861,  konstatierte  Fr.  Alb.  Zenker  (1825  bis 
1898)  in  den  Muskeln  eines  im  Dresdener  Stadtkrankenhause  ver- 
storbenen Dienstmädchens  die  frisch  eingewanderten,  noch  nicht  ein- 
gekapselten Muskeltrichinen,  deren  Wanderung  vom  Darm  durch  den 
Körper  (Mesenterialdrüsen,  Bauchhöhle  u.  s.  w.  in  die  Muskelsubstanz) 


662  Hermann  Vierorclt. 

von  ihm  und  Virchow  genauer  verfolgt  wurde.  Vorgreifend  sei 
bemerkt,  dass  der  Nachweis  toter  (weiblicher)  verfetteter  Trichinen 
in  der  Darm  wand  von  H.  Alex.  Pagenstecher  in  seiner  bekannten 
Monographie  geführt  wurde.  Uebrigens  hatte  die  jungen  Muskel- 
trichinen schon  1835  H.  Wood  in  Bristol  gesehen  (London  medical 
gazette  1835  p.  190). 

Die  Bedeutung  des  trichinösen  Schweinefleisches  für  die  Infektion 
des  Menschen  hat  ebenfalls  Zenker  im  Anschluss  an  seinen  Krank- 
heitsfall (s.  0.)  festgestellt,  ebenso  die  Grundzüge  der  „'J'richinosis"  als 
Krankheit  und  die  Auffassung  der  Einkapselung  der  Trichinen  als 
ausgeheilte  Krankheit.  In  der  That  wurde  nach  den  Zenker' sehen 
Entdeckungen  die  Trichinose  in  immer  gehäufteren  Fällen  beobachtet, 
von  welchen  die  Epidemien  von  Hettstedt  Eeg.-Bez.  Merseburg  1863 
und  die  grössere  von  Hedersleben  Eeg.-Bez.  Magdeburg  vom  Jahr  1865 
mit  101  Todesfällen  bei  337  Erkrankungen  eine  besondere  Berühmt- 
heit erlangt  haben.  Die  seitdem  zu  beobachtende  grössere  Vorsicht 
im  Genuss  des  rohen  Schweinefleisches  ist  wohl  auch  von  Einfluss 
auf  das  Seltener  werden  der  Taenia  solium  gewesen.  —  Ein  chrono- 
logisch geordnetes  Verzeichnis  der  Epidemien  giebt  Hub  er,  (Biblio- 
graphie p.  322). 

Neben  der  Vertiefung  der  anatomischen  und  biologischen  Kennt- 
nisse schon  gekannter  Arten  sind  in  diesem  Jahrhundert  auch  manche 
neue  Parasiten,  nicht  wenige  durch  den  regeren  Verkehr  mit  über- 
seeischen Ländern,  aufgefunden  und  bezüglich  ihrer  oft  schwer  ent- 
wirrbaren Entwicklung  genauer  verfolgt  worden.  Manches  ist  in 
dieser  Richtung  heute  noch  nicht  völlig  aufgeklärt. 

Das  Ankylostoma  duodenale  fand  Angelo  D u b  i n i ,  Arzt 
am  Spedale  maggiore  in  Mailand,  im  Schleim  des  Jejunums  einer 
Bäuerin  (Mai  1838);  die  vom  Parasiten  selbst  bewirkten  Krankheits- 
symptome waren  unter  den  verschiedensten  Namen  etwa  seit  der 
Mitte  des  17.  Jahrhunderts,  aus  Brasilien  z.  B.  durch  den  Holländer 
Willem  Piso  (1611 — 1678),  den  Begründer  der  „kolonialen  Medizin" 
bekannt.  Papyrus  Ebers  ist  oben  (p.  651)  erwähnt.  Auch  nach  D  u  - 
bini  wurde  der  Wurm  öfters  gesehen,  so  in  Aegypten  von  Bilharz, 
der  ihn  an  Siebold  zur  genaueren  Bestimmung  sandte,  und  von 
W.  Griesinger  (tropische  Chlorose);  dann  1866  u.  1872  von 
O.  Wucherer  in  Bahia  (Deutsches  Archiv  für  klin.  Medizin  X.  1872 
p.  379).  1877/78  wurde  die  Anämie  der  italienischen  Ziegelarbeiter 
mit  dem  Parasiten  in  Zusammenhang  gebracht  (Sangalli,  Grassi, 
Corrado  und  E.  Parona  etc.),  auch  die  Diagnose  aus  den  Eiern  in 
die  Praxis  eingeführt.  Perroncito  und  Concato  klärten  seit  1880 
die  Anämie  der  italienischen  Arbeiter  im  Gotthard-Tunnel  (gebohrt 
1872—1880)  und  ebenso  wurde  die  seit  langer  Zeit  bekannte  „Berg- 
kachexie"  auf  ihre  wahre  Ursache  zurückgeführt.  Abgesehen  von 
der  gelegentlichen  Konstatierung  einzelner  vom  Gotthard  stammender 
Fälle  hat  der  Parasit  auch  für  Deutschland  durch  Schaff'ung  grösserer 
Infektionsherde  im  unteren  Eheingebiet  (neuerdings  auch  in  Ober- 
schlesien) erhöhte  praktische  Bedeutung  erlangt.  Die  erste  Fest- 
stellung geschah  1882  an  einem  Ziegelbrenner  in  Kessenich  durch 
Menche  (Bonn),  gleich  darauf  in  Köln  durch  Leichtenstern, 
welch  letzterem  die  Naturgeschichte  und  Klinik  des  Parasiten  ganz 
besondere  Förderung  verdankt. 

Bilharzia  haematobia  Cobbold  wurde  1851  in  Kairo  entdeckt 


1 


Die  klinisch  wichtigen  Parasiten.  663 

von  Theodor  Bilharz  (1825 — 1862).  der  die  Wissenschaft  in  demselben 
Jahre  mit  der  Entdeckung  von  Taenia  nana  und  Distoma  heterophyes 
bereichert  hat.  Der  häufigen  Harnkonkretionen  in  Aegypten  gedenkt 
schon  Prospero  Alpini  (gest.  1617)  in  seinen  „De  medicina  Aegyp- 
tiorum  libri  quator  .  .  /'  Venetiis  1591.  Lib.  I  cap.  XIV,  wie  auch 
A.  J.  Renoult  das  Auftreten  von  Hämaturie  bei  der  ägyptischen 
Expedition  Buonapartes  hervorhebt  (1798 — 1799).  J.  Harley 
fand  1864  den  in  der  Hauptsache  auf  Afrika  beschränkten  Parasiten 
am  Kap. 

Filaria  sanguinis  hominis  Lewis,  wenigstens  die  Embrya. 
scheint  zuerst  Demarquay  1863  in  Paris  in  der  durch  Punktion 
entleerten  milchigen  Hydroceleflüssigkeit  eines  Havanesen  gesehen  zn 
haben,  1868  4.  August  fand  sie  Wucherer  im  milchigen  Urin  eines 
Kranken  im  Hospital  zu  Bahia  und  unabhängig  davon  in  demselben 
Jahre  T.  E.  Lewis  in  Calcutta  bei  einem  Chyluriker,  weiterhin  der 
Reihe  nach  im  Blut  bei  einem  Diarrhoiker,  in  den  lymphatischen 
Sekreten  des  Scrotums,  der  Beine  bei  Elephantiasis  (Arabum).  Le- 
wis gab  auch  dem  Parasiten  den  Namen.  21.  Dezember  1876  ent- 
deckte Bau  er  oft  in  Brisbane  (Queensland)  das  reife,  lebendige 
Junge  gebärende,  Weibchen  in  einem  Lymphabscess  des  Arms.  Die 
Entwicklungsgeschichte  des  Wurms,  sein  anfallsweises  periodisches 
Auftreten,  seine  etwaigen  Beziehungen  zum  Moskito  sind  von  Patrick 
Manson  seit  1878  in  China  in  eingehendster  Weise  studiert  worden. 
—  Die  Elephantiasis  (Arabum)  ist,  wie  hier  bemerkt  sein  mag.  von 
den  arabischen  Aerzten  des  9.  und  10.  Jahrhunderts  als  Elephanten- 
krankheit,  daher  der  jetzige  Name,  deutlich  beschrieben. 

Distomum  hepaticum  Abildgaard,  der  Leberegel,  ist  beim 
Tier  wenigstens  schon  lange  bekannt.  Der  Schäfer  Jehan  de  Brie 
berichtet  über  ihn,  dauve  =  douve,  1379  an  Karl  V  von  Frankreich 
in  einem  ,.Traicte  de  Testat,  science  et  pratique  de  Tart  de  Bergerie". 
Dann  schreibt  der  Italiener  Gabuccini  1547  über  Leberegel 
(kürbiskernähnliche  Würmer),  die  er  bei  Schafen  und  Ziegen  beobachtete. 
Beim  Menschen  sah  ihn  vielleicht  schon  Marcello  Malpighi  (1628 — 
1694)  —  in  seinen  ..Opera  posthuma"  ist  er  als  „vermis  cucurbitinus" 
bezeichnet  — .  auch  der  Holländer  Govert  Bidloo  (1649 — 1713;  vgl. 
Bronn-Braun,  p.  309  Nr.  16 — 18),  sicher  aber  P.  S.  Pallas  im  ana- 
tomischen Theater  zu  Berlin  in  einer  weiblichen  Leiche  (De  infestis 
viventibus  intra  viventia,  Dissert.  Lugd.  Batav.  1760.  4  •*  —  Sandifort's 
Thesaurus  Dissertationum  I  1768  p.  247).  Die  Entwicklungsgeschichte 
des  für  den  Menschen  übrigens  wenig  bedeutungsvollen  Egels  hat 
hauptsächlich  Leuckart  gefördert.  —  Andere,  für  die  menschliche 
Pathologie  noch  weniger  in  Betracht  kommende  Distomen  (Distoma 
crassum,  sinense  etc.)  können  hier  füglich  übergangen  werden. 

In  manchen  Stücken  ist  die  Naturgeschichte  des  Bothriocepha- 
lus  latus  (s.  0.)  in  den  neueren  Zeiten  aufgehellt  worden.  Dahin 
gehört  die  längere  Zeit  nicht  entschiedene  Frage  nach  dem  Zwischen- 
wirt, als  welchen  M.  Braun  Hecht  und  Quappe  (Lota  vulgaris), 
ferner  Parona  den  Flussbarsch  nachgewiesen  haben.  Aus  finnigem 
Hechtfleisch  züchteten  Braun,  später  Grassi  und  Parona  im 
Menschen  Bothriocephalus.  Wie  die  im  Wasser  (J.  Knoch  in  St. 
Petersburg)  aus  den  Eiern  sich  entwickelnden,  wimpernden  Embrj-a 
in  den  Zwischenwirt  gelangen,  ist  trotz  mannigfacher  Versuche  noch 
nicht  aufgeklärt.  —  Auf  den  nicht  von  der  Hand  zu  weisenden  Zu- 


664  Hermann  Vierordt. 

sammenhaiig  von  Botliriocephalusinfektion  und  gewissen  Formen  von 
Anämie  scheint  Eud.  Albrecht  in  St.  Petersburg  in  den  80er  Jahren 
zuerst  aufmerksam  gemacht  zu  haben  (s.  Askanazy,  Zeitschrift  für 
klin.  Medicin,  27.  Bd.  1895,  p.  492). 

Ueber  die  medizinische  Bedeutung  der  1876  von  Norm  and  in 
Marseille  bei  der  Cochinchina-Diarrhoe  gefundenen  Anguillula  in- 
testinalis (Bavay)  ist  noch  nicht  endgültig  entschieden. 

Von  selteneren  Parasiten  möge  noch  das  Balantidium  coli,  von 
Per  Henrik  Malmsten  (1811 — 1883)  in  Stockholm,  dem  Entdecker 
des  Trichophyton  tonsurans  (1848),  im  Eiter  einer  Fistel  am  Anus 
1856  aufgefunden,  erwähnt  sein  (Virchows  Archiv  XII  1857,  p.  302). 
Klinisch  ist  der  Trichocephalus  dispar(s.  o.)  nur  in  ganz  ver- 
einzelten Fällen  hervorgetreten,  M.  Burchardt  (Deutsche  med. 
Wochenschrift  1880),  Moosbrugger  (Württ,  med.  Corresp.  Blatt 
1890  u.  1891,  Münch.  med.  W.  1895).  Andererseits  sind  die  in  früherer 
Zeit  noch  viel  höher  angeschlagenen  Fälle  nicht  zu  leugnen,  wo 
Konglomerate  von  Ascaris  lumbricoides  zu  schweren  Symptomen, 
selbst  tödlichem  Darmverschluss  geführt  haben  (s.  Mosler  -  Peiper 
p.  194  ff.). 

Die  Naturgeschichte  der  Aristoteles  (Tiergeschichte  V  32,  §  138) 
übrigens  wohl  kaum  bekannt  gewesenen  Krätzmilbe  ist  im  19.  Jahr- 
hundert wesentlich  ausgebaut  worden.  Ob  die  Kenntniss  der  Milbe 
selbst  schon  früheren  Jahrhunderten,  wenn  auch  nicht  als  Gemein- 
gut der  Aerzte,  angehörte  (s.  o.  p.  656)  dürfte  fraglich  sein;  immer- 
hin mag  erwähnt  sein,  dass  vielleicht  Guy  de  Chauliac  (14.  Jahr- 
hundert) im  6.  Traktat  seiner  „Chirurgia  magna",  ferner  Ingrassias, 
Rondelet  (16.  Jahrhundert)  die  Milbe  kennen  und  der  Engländer 
Moufet,  gest.  c.  1600,  sie  ausdrücklich  von  Läusen  unterscheidet. 
Die  erste  Abbildung  gab  Aug.  Hauptmann  (1657);  G.  C.  Bonomo 
und  Cestoni  legten  die  Beziehung  der  nicht  mehr  abzuleugnenden 
Milbe  zu  der  Krätze  dar,  die  trotz  der  trefflichen  Monographie  Joh. 
Ernst  Wichmann's  (1786)  nur  allmählich  im  19.  Jahrhundert  sich 
Bahn  brach,  als  die  Demonstration  der  Milbe  (ßenucci  1834,  Raspail) 
wieder  mehr  in  Aufnahme  kam.  Uebrigens  gab  schon  vor  Wich- 
mann  der  schwedische  Freiherr  Carl  de  Geer  eine  treffliche  Ab- 
bildung (mit  Haftscheiben  der  Vorderbeine)  und  gute  wissenschaft- 
liche Beschreibung  der  Milbe.  Einen  nach  allen  Eichtungen  hin 
schon  sehr  vorgeschrittenen  Standpunkt  vertritt  die  Dissertation  von 
E.  M.  H  e  y  1  a  n  d ,  die  auch  im  Kap.  I  eine  gedrängte  Geschichte  giebt 
(s.  Virchows  Archiv  55  Bd.,  p.  330).  1846  beschrieb  C.  Eichst e dt 
(Froriep's  Neue  Notizen,  38.  Bd.,  p.  106;  39  Bd.,  p.  265)  die  Eier  in 
den  Milbengängen  und  den  Häutungsprozess  des  Tierchens.  Die 
Pathologie  der  Krätze  hat  vor  allem  Ferd.  Hebra  (1844  und  später) 
bereichert,  auch  Bourguignon,  B.  Gudden,  M.  H.  F.  Fürsten- 
berg mögen  genannt  sein.  J.  He  nie  hat  mit  weit  ausschauendem 
Blick  die  Pathologie  der  Krätzmilbe  zur  Grundlage  seiner  (in  den 
neueren  Zeiten  im  wesentlichen  bestätigten)  Lehre  von  den  echten 
kontagiösen,  auf  Parasiten  beruhenden  Krankheiten  gemacht. 

Nicht  unerwähnt  mag  bleiben,  dass  der  erst  im  19.  Jahrhundert 
(v.  Pastau  1864)  wieder  zu  Ehren  gebrachte  Storax  schon  vonEbn 
El-Bei  tar  (13.  Jahrhundert)  —  vgl.  Uebersetzung  von  J.  Sontheimer, 
2.  Bd.,  Stuttgart  1842  p.  541  —  als  äusserlich  anzuwendendes  Krätz- 
mittel aufgeführt  wird  (s.  Küchenmeistei',  Parasiten  p.  529). 


Die  klinisch  wichtigen  Parasiten.  665 

Auf  das  Balsamum  Peruvianum  als  Krätzmittel  hat  zuerst  nicht 
Gieffert  in  Hagen  1862  aufmerksam  gemacht,  sondern  schon  1853 
Bosch  in  Braunsbach  (Die  Krätze,  ein  einfaches  Mittel  solche  zu 
heilen,  Ulm  1853;  Württemb.  medic.  Corresp.  Blatt,  1853  p.  154). 

Die  Erwähnung  der  Läuse  ist  damit  begründet,  dass  sie  in 
alter  und  auch  noch  späterer  Zeit  mit  einer  besonderen  Krankheit, 
der  Läusesucht,  Phthiriasis,  in  Verbindung  gebracht  wurden.  Eine 
Läusesucht  im  eigentlichen  Sinn  existiert  freilich  nicht;  was  bei 
manchen  vorwiegend  nicht-medizinischen  Schriftstellern,  wie  Flavius 
Josephus,  Eusebius,  Lactantius  u.  a.  über  allerlei  Bösewichter  berichtet 
wird,  mögen  Fliegenmaden  in  unrein  gehaltenen  Geschwüi'en  gewesen 
sein.  Xicht  viel  besser  steht  es  mit  der  „Läusekrankheit"  späterer, 
auch  medizinischer  Autoren.  Bei  Küchenmeister  (Parasiten  p.  550) 
ist  darüber  zu  lesen,  und  von  Hub  er  (klin.  Entomologie  Heft  1 
p.  22—24)  ist  die  einschlägige  Litteratur  aus  allen  Zeitaltern  zusammen- 
gestellt, ebenso  im  Index  Catalogue,  Artikel  ,.Pediculi"  Vol.  X  1889 
p.  597. 

Der  Blutegel  sei  gedacht,  weil  sie  eine  medizinische  Bedeutung, 
freilich  zunächst  in  therapeutischer  Hinsicht,  besitzen.  Gelegentlich 
kommen  Egel  als  Parasiten  in  Betracht  (Haemopis  vorax);  schon  bei 
Hippokrates  (Praedicta  II,  Edit.  Kühn  I  p.  211,  Uebersetzung 
Fuchs  I,  p.  511)  ist  davon  die  Rede.  Aber  auch  bezüglich  der  Ge- 
fährlichkeit der  zu  medizinalen  Zwecken  verwandten  Egel  (Stecken- 
bleiben des  Kopfes,  Verschlucktwerden)  waren  im  Altertum  merk- 
würdige Vorstellungen  verbreitet.  Als  erste  Quelle,  welche  den  Blut- 
egel zur  örtlichen  Blutentziehung  verwendet  werden  lässt,  gilt  das 
„Theriaca"  betitelte  Gedicht  des  Nikander  von  Kolophon  (2^ — 130 
V.  Chr.),  der  eigentliche  Ausbauer  der  Egelbehandlung  scheint  The- 
mison  von  Laodicea  (1.  Jahrhundert  v.  Chr.)  gewesen  zu  sein.  Be- 
sonderes Interesse  erheischt  die  Stelle  bei  Oreibasios  (VII,  21,  nach 
Antyllus),  welcher  die  Technik  des  Blutegelsetzens  genau  schildert 
(Oeuvres  d'Oribase,  par  Bussemaker  et  Daremberg,  t.  II  Paris  1854 
p.  69;  Anmerkungen  p.  781  u.  790). 


Verdaimiigsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechts- 
krankheiten. 


Von 
Oeorg  Korn  (Berlin). 


Litteratur. 

Ausser  den  medizinisch-historischen  Werken  von  Sprengel,  Maeser,  Hirsch, 
Wunderlich,  Puschniann,  Pagel:  Petersen,  Geschichte  der  medicinischen 
Tlierapie,  Kopenhagen  1877,  und:  Hauptmomente  in  der  älteren  Geschichte  der 
medicinischen  Klinik,  Kopenhagen  1890.  —  Ewald  u.  Posner,  Die  deutsche 
Medicin  im  19.  Jahrhundert,  Berlin  1901.  —  W.  Leiibe,  Die  Magensonde.  Ihre 
Geschichte,  ihre  Entwicklung  u.  s.  n\.  Erlangen  1879.  —  Grohe,  Pathologie  u. 
Therapie  der  Typhlitiden.  Eine  historische  Studie,  Greifswald  1896.  —  F.  Falk, 
Die  Pathologie  und  Therapie  der  Systematiker,  Zeitschr.  für  klin.  Medicin  XVII— 
XX.  —  JF.  Zienissen,  Wissenschaft  u.  Praxis  in  den  letzten  50  Jahren,  Leipzig 
1890.  —  Naunyn,  Die  Entwicklung  der  neueren  Medicin  u.  s.  w.  im  19.  Jahr- 
hundert, Jena  1900.  —  Eulenburg  u.  Samttel,  Lehrbuch  der  allgemeinen  Therapie, 
Wien  1898—99.  —  Penzoldt  u.  Stintzing,  Handbuch  der  Therapie  innerer 
Krankheiten,  2.  Aufl.  1897 — 98.  —  E.  v.  Leyden,  Handbuch  der  Ernährungs- 
Therapie,  Leipzig  1897199.  —  Goldscheider  u.  Jacob,  Handbuch  der  physikalischen 
Therapie,  Leipzig  190112.  —  Die  Sammelwerke  „Deutsche  Chirurgie'^ ,  Eulen- 
burgs  Real-Encyclopädie,  Kothnagel's  Sammelwerk  u.  s.  tv. 

Nachdem  das  medizinische  Mittelalter  durch  die  Erschütterung- 
von  Galens  Doktrin  nach  anderthalbtausendjähriger  Herrschaft  in- 
folge des  Auftretens  von  Vesal,  Pare,  Paracelsus  sein  Ende 
gefunden  hatte,  wurde  es  doch  erst  langsam  hell  auf  dem  Gebiete 
der  inneren  Medizin.  Immer  wieder  wucherten  neue  Systeme  mit 
neuen  Irrtümern  hervor,  die  sich  an  Stelle  der  alten  setzten,  und  die 
Anfänge  unbefangener,  kritischer  Beobachtung  und  naturwissenschaft- 
licher Forschung  nicht  weiter  aufkommen  Hessen.  Verfrühte  und  un- 
reife Versuche,  die  Chemie  oder  die  Physik  zur  Grundlage  der  Me- 
dizin zu  machen,  wie  sie  die  latromechaniker  und  lator- 
chemiker  unternahmen,  mussten  an  der  Unzulänglichkeit  des  vor- 
handenen gesicherten  Wissensmaterials  jämmerlich  scheitern. 

Lange  Zeit  blieb  die  Pariser  Fakultät  der  Hauptsitz  des 
medizinischen  Rückschritts  oder  Beharrungsvermögens.    Galens  Lehre 


Terdanungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  667 

war  das  Palladium,  gegen  dessen  Nichtachtung  sie  bei  ihren  Mit- 
gliedern streng  einschritt.  Im  17.  Jahrhundert  entspann  sich  ein 
heftiger  Kampf  in  Paris  um  die  Einführung  der  metallischen  Heil- 
mittel, insbesondere  des  Antimons.  Die  Dekane  der  Fakultät  Ei ol an 
und  Gut  Patin  (f  1672)  leisteten  dieser  Neuerung  gi*ossen  Wider- 
stand. Aber  die  Masse  der  Aerzte  war  für  sie.  Auf  Parlaments- 
befehl traten  1653  sämtliche  Aerzte  von  Paris  zusammen  uud  er- 
klärten sich  mit  grosser  Majorität  für  die  Einführung  des  Antimons, 
von  dem  Guy  Patin  behauptete,  dass  es  mehr  Menschen  getötet 
habe,  als  der  dreissigjährige  Krieg.  Diese  Niederlage  der  Fakultät 
war  ihr  Todestoss.  Sie  versank  danach  und  mit  ihr  die  ganze  innere 
Heilkunde  in  Frankreich  in  eine  ununterbrochene  Unbedeutendheit, 
aus  der  sie  sich  erst  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  zu  neuem 
Glänze  erhob. 

Guy  Patins  ganze  Therapie  bestand  in  saigner  et  senner.  in 
Aderlass  und  Sennesblätteni.  Aber  diese  beiden  Kurmethoden  wandte 
er  im  reichlichsten  Masse  an.  selbst  bei  Säuglingen,  und  seine  Methode 
beherrschte  die  rechtgläubige  französische  Therapie  noch  bis  weit 
ins  folgende  Jahrhundert  hinein.  Trotz  der  grossen  Hospitäler  war 
ein  eigentlich  klinischer  Unterricht  in  Paris  bis  in  die  letzten  Jahr- 
zehnte des  18.  Jahrhunderts  hinein  vollständig  unbekannt.  Der  blutige 
Hohn,  der  aus  Molieres  Komödien  die  Aerzte  seiner  Zeit  trifft, 
war  wohlverdient;  namentlich  ist  die  beissende  Persiflage  in  seiner 
letzten  Komödie  ..Le  malade  imaginaire"  charakteristisch.  So  sagt 
der  alte  Doktor  Diafoirus  zu  Gunsten  seines  Sohnes:  ..Mais,  sur  toute 
chose.  ce  qui  me  plait  en  lui,  et  en  quoi  il  suit  mon  exemple.  c'est 
qu'il  s'attache  aveuglement  aux  opinions  de  nos  anciens.  et  que  jamais 
il  n'a  voulu  comprendre  ni  ecouter  les  raisons  et  les  experiences  des 
pretendues  decouvertes  de  notre  siecle  touchant  la  circulation  du  sang 
et  autres  opinions  de  meme  farine."  Noch  deutlicher  ist  das  Zwischen- 
spiel, das  eine  Doktorpromotion  darstellt,  wobei  der  Baccalaureus  die 
schlafbringende  Wirkung  des  Opiums  aus  einer  .."sirtus  dormitiva" 
erklärt  und  auf  alle  Fragen  der  Doktoren  nach  den  Mitteln,  die  bei 
den  verschiedensten  Krankheiten  angewendet  werden  müssen,  stets 
nur  antwortet:  ..Clysterium  donare,  Postea  seignare.  Ensuita  purgare. 
Reseignare,  repurgare  et  reclysterisare",  worauf  dann  der  Chor  ap- 
plaudiert: ..Bene,  bene,  bene  respondisti,  Dignus  es  intrare  In  nostro 
docto  corpore." 

In  der  That  bestand  die  Ausbildung  der  Pariser  Galenisten  nur 
in  Thesen  und  ewigen  Disputationen,  in  theoretischen  Koramentaren 
der  Galenischen  Schriften,  wirkliche  Ej-ankenbeobachtungen  wurden 
gar  nicht  berücksichtigt.  Nicht  viel  andere  stand  es  in  Deutschland 
und  anderen  Ländern.  Allerdings  wandte  auch  die  spätere  Klinik 
noch  Klystier  und  Aderlass  an  (beides  sind  ja  hippokratische  Haupt- 
mittel), aber  der  grosse  Unterschied  zwischen  beiden  ist,  dass  es  hier 
auf  Grund  sorgfältiger  Krankenbeobachtung  und  Indi^^dualisie^ung 
geschieht,  in  der  Galenischen  Pariser  Schule  dagegen  nur  ganz 
schematisch. 

Immerhin  waren  einzelne  französische  Aerzte  schon  im  16.  Jahr- 
hundert ihren  Zeitgenossen  voraus  an  Vorurteilslosigkeit,  geistiger 
Ueberlegenheit  und  positiven  Kenntnissen.  In  ereter  Reihe  war 
Jean  Fernel  (f  1558),  Professor  in  Paris  um  die  Mitte  des  16.  Jahr- 
hunderts, schon  damals  ein  energischer  Vorkämpfer  gegen  den  Gale- 


Georg  Korn. 

nismiis  und  das  ganze  scholastische  Treiben.  Er  verlangte,  dass  man 
sich  nicht  auf  Autoritäten,  sondern  nur  auf  die  Natur  und  die  Be- 
obachtung berufen  dürfe.  Er  legte  vorzugsweise  auf  die  Verände- 
rungen der  festen  Teile,  Gewebe  und  Organe,  im  Gegensatz  zu  den 
Säften  Gewicht.  Einer  der  berühmtesten  Aerzte  seiner  Zeit,  wirkte 
er  noch  nach  seinem  Tode  durch  seine  Schriften,  namentlich  die 
.,üniversa  medicina",  auf  die  ersten  klinischen  Anfänge  im  17.  Jahr- 
hundert (Holland  von  1638  an  durch  van  Heurne).  Er  stützt  sich 
zum  Teil  noch  auf  den  arabischen  Galenismus  in  der  Praxis,  arbeitet 
aber  doch  dahin,  die  Medizin  von  ihm  loszureissen,  so  z.  B,  in  der 
Uroskopie,  einem  Hauptpunkte  der  alten  Doktrin.  Er  erkennt  wohl 
zum  Teil  die  ganz  feine  subtile  Diagnostik  an,  und  seine  grosse 
Vormittags-Konsultation  bestand  zum  grossen  Teil  in  der  Inspektion 
von  zugesandtem  Urin  und  darauf  basiertem  Gutachten  über  den  be- 
treffenden Patienten.  Aber  daneben  tritt  er  mit  scharfer  Kritik  auf 
gegen  die  „uroscopi,  qui  multa  de  absente  aegroto  ex  sola  urinae 
inspectione  augurentur*'.  In  der  Therapie  folgt  er  vorwiegend  den 
Arabern  und  die  zahlreichen  komplizierten  Syrupe  dieser  Schule 
spielen   eine   besonders  hervorragende  Rolle  in  seinen  Verordnungen. 

Aber  Erscheinungen  wie  Fernel  blieben  ziemlich  vereinzelt  in 
Frankreich,  wo  dann  später  Montpellier  die  Hochburg  des  Hippo- 
kratismus  und  Vitalismus  wurde.  Positiver  verfuhren  die  Holländer 
und  Engländer;  in  Utrecht  und  Leyden  wurde  seit  1636  ein 
klinischer  Unterricht  begründet,  der  methodisch  abgehalten  und  ent- 
wickelt durch  hippokratische  Anschauungen  allmählich  den  galenisch- 
arabischen  Doktrinarismus  verdrängte  und  durch  Kyper  und  Syl- 
vius  Aufschwung  bekam.  Weit  wirksamer  aber  noch  wurde  die 
Medizin  beeinflusst  durch  die  dicht  aufeinanderfolgenden  Erschei- 
nungen hervorragender  Praktiker  und  Systematiker:  das  Auftreten 
von  Thomas  Sydenham  in  England  und  die  Lehren  und  die  praktisch- 
therapeutische Wirksamkeit  der  beiden  Hallenser  Antipoden  Stahl 
und  Friedrich  Hoff  mann  und  des  Holländers  Boerhaave. 

Der  hervorragendste  unter  den  Aerzten,  welche  den  hippokratischen 
Standpunkt  festhielten,  war  im  17.  Jahrhundert  der  grosse  Praktiker 
Thomas  Sydenham  (1624 — 1689),  Englands  Hippokrates,  wie  man 
ihn  nicht  ganz  mit  Unrecht  nannte.  Aehnlich  wie  der  jüngere  Stahl 
definierte  er  die  Krankheit  als  „das  Bestreben  den  Natur  den  Kranken 
zu  erhalten".  Dieses  Bestreben  offenbart  sich  nun  vorzugsweise  in 
einem  reinigenden  Fieber,  in  dessen  Symptomen  stets  —  sogar  bei 
Kaltfieber  —  der  Kampf  der  Natur  zu  Tage  tritt,  oder  auch  in  Darm- 
ausleerungen,  im  Ausbruch  von  Schweissen  oder  Hautausschlägen. 
Haben  die  Anstrengungen  der  Natur  Erfolg,  so  wird  die  Krank- 
heit akut,  im  entgegengesetzten  Falle  chronisch.  Als  echter  nüchterner 
Hippokratiker  bedient  sich  Sydenham  doch  stets  der  weniger  präjudi- 
zierenden  Bezeichnung  „Natur"  im  Gegensatz  zur  „Anima"  des  Stahl- 
schen  Systems. 

Die  praktische  Seite  der  Medizin  suchte  Sydenham  nach  Kräften 
selbständig  und  erfahrungsgemäss,  ohne  wesentlichen  Zusammenhang 
mit  der  physiatrischen  Doktrin  zu  entwickeln.  Namentlich  sucht  er 
die  verschiedenen  Krankheitsformen  bestimmt  abzugrenzen,  zunächst 
um  für  die  Anwendung  spezifischer  Mittel  sichere  Anhaltspunkte  zu 
gewinnen.  Er  gerät  hierbei  jedoch  in  eine  rein  ontologische  Auf- 
fassung hinein,  die  ihn  sogar  dahin  bringt,  die   Krankheiten   nach 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechlskranklieiten .  669 

einem  botanischen  Schema  zu  klassifizieren.  Sein  Hauptmittel  bildeten 
übrigens  China  und  Opium  und  namentlich  für  den  Gebrauch  des 
letzteren  hat  er  verschiedene  Indikationen  von  dauerndem  praktischen 
Werte  festgestellt.  Treu  dem  antiken  Dogmatismus  hielt  er  jedoch 
vor  allem  den  Aderlass  als  Hauptmittel  aufrecht  und  bediente  sich 
seiner  bei  verschiedenen  Krankheiten  mit  so  ausserordentlicher  Energie, 
dass  er  die  späteren  französischen  Vampyriker  beinahe  in  den  Schatten 
stellt;  er  Hess  das  Blut  regelmässig  bis  zur  eintretenden  Synkope 
fliessen.  Konnte  er  sich  duix-h  diese  Blutkuren  so  grossen  Euf  als 
Arzt  erwerben,  so  hat  man  dies  nui'  dadurch  erklären  können,  dass 
man  im  wohlhabendsten  Teile  Londons,  in  Westminster.  praktizierte 
und  es  hier  wesentlich  mit  robusten  und  plethorischen  Patienten  zu 
thun  hatte. 

Sydenham  nimmt  die  reine  und  sorgfältige  Erfahrung  als  die 
einzige  Grundlage  der  Medizin  an;  er  verwirft  die  blosse  Bücher- 
gelehrsamkeit und  weist  jede  Autorität  zurück,  von  wem  sie  auch 
stammen  mag.  Er  lässt  nur  solche  Hypothesen  zu,  welche  aus  den 
Thatsachen  selbst  entnommen  seien  und  der  Praxis  ihren  Ursprung 
A'erdanken.  Als  wesentlichste  Aufgabe  der  Medizin  bezeichnet  er  die 
praktischen  Forderungen:  Genaue  Krankheitsbeschreibung  und  Auf- 
stellung einer  sicheren  Therapie. 

Freilich  erscheint  heute  Sydenhams  Symptomatik  dürftig  und 
oberflächlich,  aber  die  seiner  Vorgänger  war  eben  noch  viel  ärmlicher ; 
unter  seinen  Krankheitsbildern  sind  namentlich  die  des  Rheumatismus, 
des  Rotlaufs,  der  Pleuritis,  der  Peripneumonia  notha.  der  Bräune, 
der  Hysterie.  Gicht,  Wassersucht,  des  Ileus,  der  Syphilis,  des  Veits- 
tanzes, der  englichen  Krankheit  und  des  Skorbuts  zu  nennen.  Eine 
seiner  Spezialitäten  war  die  Lehre  von  den  epidemischen  Konstitutionen ; 
das  Gesetzmässige  und  Typische  in  dem  Krankheitsverlauf  erkannte 
er  vollständig.  Einen  grossen  Wert  legte  er  auf  die  Spontanheilungen 
der  Krankheiten,  die  ..vis  medicatrix  naturae". 

Von  den  drei  grossen  Systematikern  am  Anfang  des  18.  Jahr- 
hunderts, Stahl,  Hoff  mann  und  Boerhaave  hat  der  erstere 
mehr  die  theoretischen  und  dogmatischen  Anschauungen  der  Mediziner 
beeinflusst.  während  die  beiden  letzteren  die  therapeutischen  Eingriffe 
für  lange  Zeit  vorbildlich  beherrschten. 

Georg  Ernst  Stahl  (1660—1734)  aus  Ansbach,  doziert  seit 
1685  in  Jena,  bis  er  1687  Leibmedikus  in  Weimar  wurde;  damals 
war  er  Anhänger  der  iatromechanischen  Richtung.  Auf  den  Antrag 
Friedrich  Hoff  manns  wurde  er  als  zweiter  Professor  der  Medizin 
1694  an  die  neubegründete  Universität  Halle  berufen.  Eine  Zeit 
lang  waren  diese  beiden  die  einzigen  Lehrer  der  Medizin  an  der 
Hochschule.  Hoffmann  las  Anatomie,  Physik,  Chemie.  Chirurgie  und 
praktische  Medizin,  Stahl  Botanik,  Physiologie,  Pathologie,  Diätetik, 
Arzneimittellehre  und  medizinische  Institutionen.  22  Jahre  lang 
wirkten  sie  als  Kollegen,  anfangs  freundschaftlich  verbunden,  später  in 
gespannten  Beziehungen.  Schliesslich  ging  Stahl,  der  weniger  An- 
klang fand,  aus  Halle  fort  (1716),  um  in  Berlin  Leibarzt  zu  werden, 
und  starb  hier  1734. 

G.  E.  Stahl  stützt  sich  zum  Teil  auf  van  Helmont,  der  die 
Tiehre  vom  Archaeus  ausgiebig  entmckelte.  An  die  Stelle  des 
Archaeus  setzt  er  die  „anima"',  die  er  zu  grosser  persönlicher  Wirk- 
samkeit im  Interesse  des  Organismus  gelangen  lässt.    Diese  ,.Seele", 


670  Georg  Korn. 

die  er  übrigens  von  der  eigentlichen,  ewigen  und  selbstbewnssten 
Seele  zu  trennen  sucht,  ist  zunächst  die  Macht,  welche  während  der 
Lebensprozesse  die  körperlichen  Stoffe  namentlich  durch  eine  sehr 
sorgfältige  Regelung  des  Kreislaufs,  vor  der  Zersetzung  bewahrt. 
Allein  die  „Seele*'  ist  dennoch  schwach  und  bedarf  beständig  der 
Stütze,  und  er  empfiehlt  deshalb  periodische  Aderlässe.  Ein  ent- 
schiedenes Zeichen  des  mangelhaften  Eegiments  der  Seele  erblickt  er 
in  den  Hämorrhoidalleiden,  und  er  ist  der  Begründer  jener 
ganzen  metastatischen  Hämorrhoidaldoktrin,  die  sich  namentlich  bei 
Laien  noch  heutzutage  grossen  Anklangs  befreit.  Ist  aber  so  die 
Seele  in  ihrem  Wirken  unvollkommen,  so  ist  dies  nur  ein  Mangel  an 
Können  und  nicht  an  gutem  Willen,  denn  in  jeder  Krankheit,  nicht 
nur  in  den  akuten  Fiebern,  reagiert  sie  aus  allen  Kräften,  um  die 
friedliche  Krankheit,  die  verdorbenen  Säfte,  fortzuschaft'en.  Die  antike 
Humoralpathologie,  von  der  sich  die  Paracelsische  Physiatrie  ent- 
schieden losgesagt  hatte,  kommt  so  bei  Stahl  wieder  zum  Vorschein. 

Die  allgemeine  Anlage  zu  Krankheiten  sucht  Stahl  in  der  Neigung 
des  Körpers  zu  fauliger  Zersetzung,  die  nächste  Ursache  der  Krank- 
heiten darin,  dass  ein  Hindernis  entgegentritt  gegen  die  Thätigkeiten 
der  Seele.  Üeberfluss  des  Blutes  (Plethora)  und  Verdickung  desselben 
sollen  die  allgemeinsten  Verhältnisse  sein,  die  zur  Krankheit  führen. 
Die  Bewegungen,  welche  die  Seele  zur  Entfernung  der  Ursache  mache, 
seien  aber  nicht  immer  zw^eckmässig,  of  seien  sie  unverhältnismässig 
stark,  oft  schwankend  und  unordentlich,  aber  oft  ^uch  zu  schwach. 

Da  Plethora  der  Hauptfeind  der  Gesundheit  ist,  so  ist  für  Stahl 
auch  nichts  zweckmässiger,  als  wenn  durch  Blutergüsse  die  Plethora 
gehoben  wird.  Am  deutlichsten  sei  dies  bei  der  Menstruation,  aber 
auch  beim  männlichen  Geschlechte  finde  ein  ähnliches  Verhältnis  statt: 
die  Hämorrhoiden.  Im  Kindesalter  gehe  die  Plethora  mehr  zum  Kopf, 
beim  Jüngling  zu  der  Brust,  im  männlichen  Alter  aber  zum  Unterleib 
und  dieses  sei  das  günstigste,  vorausgesetzt,  dass  der  Hämorrhoidal- 
abfluss  zu  Stande  komme.  Dieser  sei  daher  den  meisten  Konstitutionen 
heilsam  und  ihn  herbeizuführen  und  zu  erhalten,  gilt  für  Stahl  als 
die  Aufgabe  des  Arztes.  Die  Plethora  abdominalis  sieht  er  als  die 
Quelle  der  meisten  chronischen  Krankheiten  an. 

Die  Hypochondrie  namentlich  ist  durch  diese  Plethora  bedingt, 
und  schon  die  zu  geringe  Flüssigkeit  des  Blutes  vermag  die  hypo- 
chondrischen Zufälle  auf  rein  materielle  Weise  hervorzurufen.  Soll 
der  Körper  nicht  gestört,  sondern  erhalten  werden,  so  steht  das 
sicherste  und  anwendbarste  Heilmittel  allein  der  Natur  zu  Gebote: 
durch  angemessene  Vermehrung  der  Bewegungen  das  ungünstige 
Verhältnis  des  zu  bewegenden  Stoffes  nicht  nur  zu  kompensieren, 
sondern  auch  zu  verbessern. 

Das  Fieber  ist  für  Stahl  nichts  anderes,  als  eine  Bewegung,  ein 
motorischer,  sekretorischer  und  exkretorischer  Akt,  von  der  Seele 
gegen  die  vorhandene  Schädlichkeit  vorgenommen.  Alle  Erscheinungen, 
die  man  einmütig  für  bloss  krankhafte  gehalten  habe,  seien  nur  als 
unmittelbare  und  positive  Wirkungen  der  Natur  zu  einem  heilbringen- 
den Zweck  zu  erklären,  deren  Bestimmung  sich  auf  die  Austreibung 
der  schädlichen  Materie  beziehe,  welcher  sie  in  einem  angemessenen 
mechanisch-organischen  Verhältnis  entsprechen.  Schon  beim  Froste 
sehe  man  diese  Tendenz.  Die  Vermehrung  der  Ab-  und  Aussonde- 
rungen im  Fieber  können  nur  durch  eine  Beschleunigung  des  Blut- 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  671 

Umlaufs  und  durch  dessen  Richtung  nach  den  eigentümlich  ent- 
sprechenden Organen  der  Sekretion  und  Exkretion  bewerkstelligt 
werden.  Das  Fieber  sei  also  heilsam,  so  namentlich  auch  das  Wechsel- 
fieber und  dürfe  darum  nicht  unterdrückt  werden,  wie  man  durch 
China  in  schädlicher  Weise  versuche.  Stahl  hält  die  Seele  für  so 
notwendig  beim  Fieber,  dass  er  behauptet,  letzteres  komme  bei  den 
Tieren  gar  nicht  vor.  weil  ihnen  die  Seele  fehle,  die  energia  aesti- 
matoria  tam  rerum  quam  actionum.  Die  Hauptaufgabe  der  ärztlichen 
Ueberlegung  ist  nach  ihm  im  konkreten  Falle,  quid  in  motibus 
febrilibus  activum  insit,  quid  vero  passivum. 

Das  Zurückdrängen  des  Blutes  von  der  Körperoberfläche  zu  den 
inneren  Organen,  das  in  den  gelindesten  Graden  als  Gänsehaut,  in 
den  höheren  als  Schüttelfrost  erscheint,  bewirkt  auch  die  Konvulsionen, 
da  sie  gewöhnlich  am  Ende  gefährlicher  Krankheiten  eintreten,  so 
seien  sie  als  die  letzte  Anstrengung  anzusehen,  ne  quid  usquam  in- 
ausum  et  intentatum  relinquatur.  Die  Stockung  des  Blutes  erkennt 
Stahl  als  blosse  verlangsamte  Bewegung;  er  will  von  ihr  die  Kon- 
gestion unterschieden  wissen,  weil  diese  aktiver  Art  sei  und  von 
einem  durch  die  tonischen  Leibesbewegungen  verstärkten  Antriebe 
der  Säfte  gegen  den  Teil  herrühre.  Die  Entzündung  sieht  er  als 
Folge  von  Kongestion  und  Stockung  an  und  unterscheidet  Rotlauf, 
Phlegmone  und  Apostema  als  Formen  der  Entzündung. 

Die  wahrhaft  methodische  Therapie  muss  ihm  Anweisung  geben, 
auf  welche  Art  der  Lebensthätigkeit  und  ihrer  Richtung,  dem  stets 
bereiten  Mitwirker  der  Natur  hilfreiche  Hand  geboten  werden  kann 
und  soll.  Ueber  die  Mischung  des  Körpers  und  über  alle  Bedingungen 
derselben  habe  die  Kunst  fast  gar  keine  Macht  und  das  ganze  Ge- 
schäft des  Arztes  müsse  vielmehr  darauf  gerichtet  sein,  das  Leben 
selbst  in  ungestörter  Thätigkeit  zu  erhalten.  Die  Aufgabe  sei,  die 
natürlichen  und  günstigen  Bestrebungen  der  Seele,  welches  die 
Symptome  sind,  zu  leiten  und  zu  verstärken,  namentlich  die  Aus- 
leerungen gehörig  zu  unterstützen.  Beim  Fieber  namentlich  sind  die 
Ausleerungen  non  solum  tolerandae  sed  etiam  observandae,  guber- 
nandae  et  quoque  modo  juvandae  atque  promovendae. 

Stahl  war  ein  Feind  vieler  kräftiger  Arzneimittel,  der  China,  des 
Opiums,  des  Eisens  und  der  Reizmittel.  Seine  Hauptmedikamente 
waren  Laxantien:  Aloe,  Rhabarber,  Jalappe,  die  er  namentlich  in 
chronischen  Krankheiten  gab.  In  akuten  Krankheiten  gab  er  kühlende 
Salze  und  allgemeine  wie  örtliche  Blutentziehungen  wurden  von  ihm 
sehr  gerühmt;  namentlich  sah  er  die  Aderlässe  als  Mittel  zur  Her- 
beiführung von  Krisen  an.  Uebrigens  betrieb  er  auch  einen  einträg- 
lichen Handel  mit  sogenannten  eröffnend  balsamischen  Pillen,  welche 
aus  Antimon,  Aloe  und  Helleborus  bestanden  haben  sollen.  Derartige 
Nebenverdienste  waren  bei  den  angesehenen  Aerzten  jener  Zeit  nichts 
Seltenes. 

Friedrich  Hoff  mann  (1660 — 1742)  wurde  durch  mechanisch- 
dogmatisches  System,  das  in  verschiedenen  seiner  Schriften  weitläuftig 
auseinandergesetzt  ist  (u.  a.  „Idea  fundamentalis  univei-sae  medicinae, 
ex  sanguinis  mechanismo,  methodo,  facili  et  demonstrativa  in  usura 
tironum  adornata~,  Hai.  1707)  in  seiner  praktischen  Thätigkeit  am 
Krankenbett  wenig  beeinflusst.  Gerade  als  Förderer  praktischen 
klinischen  Wissens  erscheint  er  aber  vielfach  seinen  Zeitgenossen 
überlegen.    Besondere  Aufmerksamkeit  wandte  er  den  ansteckenden, 


672  Georg-  Korn. 

den  Volkskrankheiten  und  Seuchen  zu,  ferner  der  Herstellung  und 
Zubereitung  der  Arzneien,  dem  Studium  der  inländischen  Mineral- 
quellen. Die  ärztliche  Deontologie  und  Ethik,  das  Benehmen  am 
Krankenbett  suchte  er  durch  seine  praktischen  Ratschläge  zu  fördern. 
Grösste  Decenz  und  Rücksichtnahme  empfiehlt  er  seinen  Kollegen ;  so 
soll  die  Harninspektion  möglichst  in  der  Wohnung  des  Arztes  vor- 
genommen werden. 

Aufs  gründlichste  studierte  er  die  Störungen  der  Harn-  und 
Samen exkretion  sowie  die  gonorrhoische  Aifektion.  Sehr  eingehend 
behandelt  er  den  Skorbut.  Nach  seinen  Anschauungen  ist  der  Magen 
und  Darm,  namentlich  der  oberste  Abschnitt  des  Darmes,  Ausgangs- 
punkt vieler  Leiden;  deshalb  erlangt  bei  ihm  die  Ernährungsweise 
in  ätiologischer  und  therapeutischer  Beziehung  hohe  Bedeutung,  wenn 
auch  die  Diät  der  Kranken  von  ihm  nicht  so  ausführlich  behandelt 
wird  wie  von  Boerhaave.  Oft  ist  der  westfälische  Pumpernickel  in 
seinen  Krankengeschichten  aufgeführt;  er  widmete  diesem  Nahrungs- 
mittel sogar  eine  besondere  Schrift.  Unter  den  ursächlichen  Schädlich- 
keiten hebt  er  beeonders  die  Art  der  Ingesta  hervor  und  nähert  sich 
den  heutigen  Lehren  von  der  Autointoxikation  („De  saliura  morbosorum 
generatione  in  corpore  humano").  Von  den  Arzneien  bevorzugt  er  die 
JPtisanen,  gern  greift  er  zu  Magistralformeln;  manche  von  ihm  er- 
dachte, als  wirksam  erprobte  Mittel  sind  in  den  heutigen  Arzneischatz 
und  in  die  Volksmedizin  übergegangen  („Holfmannstropfen"). 

Auch  die  Pharmacopoea  elegans  Hess  er  sich  angelegen  sein, 
zumal  er  über  eine  praxis  aurea  verfügte.  So  ist  seine  Diätetik  gern 
auf  den  Geschmack  der  oberen  Zehntausend  zugeschnitten ;  dem  Arznei- 
werte verschiedener  teurer  Weinsorten  widmet  er  eingehende  Be- 
sprechung und  zieht  die  Klimatotherapie,  soweit  es  die  Kenntnisse 
und  Verkehrsverhältnisse  seiner  Zeit  zulassen,  in  Anwendung.  Er 
empfiehlt  den  Aufenthalt  in  milden  Himmelstrichen  für  Brustkranke, 
an  Verdauungskrankheiten  Leidende  und  Rekonvaleszenten  dringend 
und  giebt  eine  Art  Leitfaden  für  derartige  Erholungsreisen.  Von 
Brunnen  und  Bädern,  denen  er  seine  besondere  Aufmerksamkeit  zu- 
wendet, empfiehlt  er  namentlich  solche  in  der  Nachbarstadt  von  Halle, 
namentlich  Lauchstädt,  noch  bis  zum  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
ein  beliebtes  Modebad  und  aus  der  Theatergeschichte  unserer  klassischen 
Litteraturperiode  bekannt.  Aber  auch  die  Wässer  von  Eger,  Ems, 
Spaa  und  insbesondere  von  Selters  verordnete  er  häufig.  Auch  in 
Karlsbad  liess  er  viele  Kuren  gebrauchen,  und  versuchte  seine  Unter- 
scheidungen in  den  Indikationen  von  Sprudel  und  Mühlbrunnen.  Be- 
sonders betonte  er  den  Wert  dieser  Quellen  gegen  Leberleiden,  die 
er  oft  diagnostizierte.  Auch  sonstigen  Bädern,  namentlich  Dampf- 
und warmen  Bädern  und  Waschungen  erkennt  er  einen  hohen  Wert 
zu.  Seine  Bemühungen,  die  Zusammensetzung  der  Mineralwässer  zu 
erforschen  und  zu  Nachbildungen  anzuregen,  blieben  freilich  ziemlich 
erfolglos. 

Für  die  reichlichen  Blutentziehungen  war  er  nicht  eingenommen, 
immerhin  hatte  der  Aderlass  ein  weites  Feld,  namentlich  als  Proph}'- 
laktikum  u.  a.  gegen  Nierenstein  und  bei  akuten  Krankheiten  der 
verschiedensten  Organe.  Vom  Unterlassen  regelmässiger  Aderlässe 
werden  Hämoptysen,  Blutbrechen  und  ähnliche  Uebel  abgeleitet.  Auch 
lokalen  Blutentziehungen  mit  Schröpf  köpfen  ist  er  bei  vielen  chronischen 
Leiden  und  namentlich  Krankheitsanlagen,  u.  a.  bei  arthritischer  Dis- 


Verdauimgsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  673 

Position,  ziigethan.  Tag-  und  Nachtgleiche  und  heiterer  Himmel 
waren  ihm  für  solche  Aderlässe  erwünscht. 

Ein  Freund  des  Chinins,  hält  er  es  doch  für  kein  Spezifikum. 
Vor  allem  müsse  man  den  Zustand  der  Verdauungsorgane  berück- 
sichtigen ;  die  China  sei  bei  "Wechselfieber  durchaus  zu  meiden,  solange 
ein  Zustand  von  Magenschwäche  vorhanden  sei.  Zuerst  müsse  der 
Magen  gereinigt  werden;  hierzu  empfiehlt  Hoff"mann  Balsamica  in 
Pillen-,  Elixier-  und  Spiritusform,  dann  aber  kurzweg  Brechmittel, 
aber  nur  während  der  Intermissionen  des  Fiebers.  Bei  plethorischen 
Personen  sei  im  Anfall  ein  Aderlass  ganz  geeignet. 

Die  Krankheiten  des  Magens  und  des  Duodenum  (A'entriculus 
minor,  eigentlich  nur  eine  Erweiterung,  ein  Anhängsel  des  Magens) 
spielen  bei  Hofi'mann  eine  grosse  Eolle.  Eine  besondere  Schrift 
handelt  ,.de  duodeno  multorum  malorum  causa" ;  danach  haben  auch 
fieberhafte  und  fieberlose  Purpura-Exantheme,  Podagra,  intermittierende 
Fieber  ihre  Quelle  im  Zwölffingerdarme.  Hypochondrie  beruhe  ebenso 
auf  krampfhafter  Kontraktur  wie  auf  Atonie  und  Erschlafi'ung  des 
Magens  und  des  Darms.  Obwohl  er  in  seiner  Praxis  der  Humoral- 
pathologie  zuneigt,  so  räumt  er  doch  hier  den  Nerven  einen  breiten 
Spielraum  ein.  Durch  Reizung  des  nervenreichen  Magens  und  Darms, 
daher  auch  durch  Würmer,  sollen  Störungen  entfernter  Organe  ver- 
ursacht werden.  So  hält  er  den  Magen  fast  für  ebenso  bedeutsam, 
wie  einst  Helmont,  der  sogar  den  Sitz  der  Seele  dorthin  ver- 
legt hatte. 

Magen-  und  Darmentzündung  wird  oft  erwähnt,  aber  als  in- 
flammatio  ventriculi  et  intestini  sehr  unklar  geschildert.  Die  Krank- 
heit soll  sich  von  Cardialgie  schon  durch  das  Fehlen  von  Fieber  bei 
letzterer  unterscheiden.  Ausgänge  sind  Eiterung  oder  rascher  Tod. 
Die  Lebensgefahr  sei  in  der  Antiperistaltik  begründet.  Abgesehen 
von  Intoxikationen  soll  die  Krankheit  entstehen,  wenn  Podagra  zurück- 
getrieben wird  oder  im  Verlaufe  von  akuten  Exanthemen  (,.ex  ardore 
circa  praecordia,  virium  defectu,  extremorum  frigore,  faucium  in- 
flammatione  et  singultu  agnoscitur).  Bei  Febris  stomachica  inflam- 
matoria  soll  es  sich  um  eine  Stase  in  den  Kapillaren  und  Lymph- 
gefässen  der  Innenwand  handeln,  die  sich  dann  mit  geschwollenen 
Drüsen  durchsetzt  zeigt.  Magengeschwür  wird  gelegentlich  als  seltene 
Magenkrankheit  (gegenüber  den  Entzündungen)  gestreift.  Blutbrechen 
soll  vor  allem  durch  Stauung  von  Blutflüssen  verursacht  werden, 
Darmgeschwüre  durch  Anätzung  der  Darmwand  durch  sauren  Inhalt 
veranlasst  werden. 

Die  Eektalgeschwüre  bei  Dysenterie  werden  eingehend  ge- 
schildert; Dysenterie  pflanzt  sich  durch  Ansteckung  fort,  doch  kann 
dieser  Ansteckungsstolf  längere  Zeit  im  Körper  verborgen  bleiben. 
Begünstigt  werden  Ruhrepidemien,  wenn  auf  trockene  und  heisse 
Sommer  kühle  und  feuchte  Witterung  schnell  folgt.  Die  Krankheit 
verlange  wegen  der  verdorbenen  Säfte  schon  im  Anfange  ein  Brech- 
mittel, am  liebsten  die  (vor  kurzem  aus  Amerika  herübergebrachte) 
Ipecacuanha.  Den  Opiaten  ist  Hofi'mann  bei  der  Ruhr  im  allgemeinen 
abgeneigt,  empfiehlt  bei  kräftigen  Personen  dagegen  den  Aderlass. 
Auch  rät  er  bei  Ruhr  und  ähnlichen  Leiden  nach  dem  Vorbild  der 
Alten  zum  Trinken  von  kaltem  A\'asser,  um  die  Bewegung  der  Darm- 
wand zu  stärken.  Seine  innere  Runrtherapie  zeigt  ferner  lange 
Rezepte    und  erlesene  Diät,    doch   erwähnt  er  auch  den  günstigen 

Handbuch  der  Oeschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  4.3 


674  Georg  Korn. 

Kranklieitsverlauf  bei  denen,  welche  nichts  brauchen  und  sich  nur  in 
gelinder  Wärme  halten. 

Gegen  Cardialgie  wird  Karlsbad  innerlich  und  Teplitz  äusserlich 
gepriesen.  Darmkrämpfe  (Colica  spasmodica)  führen  Eingeweide- 
verwachsungen nach  sich;  durch  den  Krampf  wird  Serum  aus  den 
Darmwänden  und  feinsten  Gefässen  ausgepresst  und  daraus  entsteht 
dann  Verklebung.  Atonie  von  Magen  und  Duodenum  verursacht 
Stagnation  des  Inhalts,  der  dann  wieder  durch  Zufluss  verdorbener 
Verdauungssäfte  in  Zersetzung  übergeht.  Apepsie  entwickelt  sich, 
wenn  die  Magensäure,  das  „saure  Ferment"  fehlt.  Als  Therapie 
gelten  Aromatica.  Als  Ursache  von  chronischem  Erbrechen  werden 
ausser  Atonie  Stenosen  des  Magens  und  namentlich  des  Duodenums, 
nicht  bloss  durch  Krampf,  sondern  auch  durch  „Callus"  der  Wand 
bedingte,  genannt.  Darmverschlingung  behandelt  er  mit  Quecksilber ; 
es  wirke  vermöge  seiner  Schwere. 

Auch  die  Lehre  von  der  „goldenen  Ader"  macht  sich  Hoffmann 
zu  eigen,  doch  bekämpft  er  die  Ueberschätzung  der  Hämorrhoiden 
z.  B.  als  angebliches  Gegengewicht  gegen  Lithiasis  und  Podagra, 
Hämorrhoiden  sollen  in  Italien  häufig  sein  als  Folge  der  süssen  Weine, 
Bei  Obstipation  sucht  er  die  Therapie  streng  nach  den  Ursachen  zu 
wählen:  So  schade  bei  der  durch  Krampf  verursachten  Obstruktion 
der  Hypochonder  und  der  Hj^sterischen  starke  Abführmittel ;  schleimige, 
ölige  Mittel,  namentlich  auch  Eselsmilch,  treten  hier  als  krampf- 
lösend in  ihr  Eecht.  Die  Senna  ist  bei  ihm  nicht  beliebt.  Im  all- 
gemeinen wirken  Abführmittel  nicht  so  prompt  wie  Brechmittel,  da 
sie  durch  die  Crusta  glandulosa  hindurch  die  Tunica  nervea  nicht 
genügend  reizen  können.  Eingeweidewürmer  (z.  B.  in  Narbonne 
häufig)  sollen  oft  Ursache  von  Magen-  und  Darmperforation  sein.  Die 
örtlichen  Wurmbeschwerden  rühren  von  den  Absonderungen  der  Tiere 
her,  die  zu  der  Membrana  nervea  der  Darmwand  dringen  und  diese 
zu  krampfhafter  Kontraktion  reizen. 

Im  Gegensatz  zum  Magen  neigt  die  Leber,  weil  nervenarm, 
nicht  zu  akuter  Entzündung,  wohl  aber  zu  chronischer  Schwellung. 
Wo  Entzündung  vorkäme,  handele  es  sich  gewöhnlich  um  die  Kapsel 
(membrana).  Auch  chronische  Abscesse  in  der  Leber  seien  nicht 
häufig,  abgesehen  von  denen  nach  Schädelverletzung.  Häufig  und 
bedeutsam  seien  „obstructiones  et  scirrhosi  tumores  hepatis"  dank 
dem  eigentümlichen  Bau  der  Pfortader.  Bei  Stauungen  in  der  Leber 
werden  die  schwefligen,  salzigen  und  Auswurfsstolfe,  die  sonst  in  der 
Galle  sind,  nicht  aus  dem  Blute  abgeschieden,  Leberhydatiden  werden 
öfters  erwähnt,  auch  Gangrän  der  Leber.  Ikterus  ist,  wenn  er  schnell 
abläuft  und  periodenweise  auftritt,  im  Krampf  der  sehr  empfindlichen 
Schleimhaut  des  Gallengangs,  namentlich  an  der  Mündung  bei  zu 
scharfer  Galle  begründet.    Hier  helfen  in  erster  Eeihe  Opiate. 

Andere  Ursachen  für  Gelbsucht  sind  Verstopfung  durch  Steine 
und  Schleim  in  den  Gallengängen  und  deren  kleinsten  Aesten,  Kom- 
pression durch  geschwollene  Drüsen  oder  andere  Geschwülste.  Eisen, 
China  und  Pyrmonter  Brunnen  sind  geeignet,  den  geschwächten  Tonus 
der  Lebergefässe,  der  die  Verstopfungen  bedingt,  zu  heben.  Häufiger 
noch  als  die  Leber,  veranlasst  das  Blut  den  Ikterus,  namentlich  die 
Plethora.  Dann  seien  die  Wasser  von  Spaa,  Schwalbach,  Karlsbader 
Thermen,  Sedlitzer,  Epsomer  Brunnen,  letzterer  namentlich  mit  Molken, 
am  Platze,   doch  seien   sie  wesentlich   von  prophylaktischem  Nutzen. 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  675 

Auf  die  fäulnis\\idrigen  Eigenschaften  der  Galle  schliesst  Hoffmann 
ans  dem  Foetor  ex  ore  der  Gelbsüchtigen.  Da  er  \ie\e.  namentlich 
nervöse  Beschwerden  von  scharfer  Galle  ableitet,  so  verwendet  er 
übertrieben  häufig  Brechmittel  und  starke  Abfühnnittel. 

Die  physiologische  Bedeutung  der  Milz  erkennt  er  darin,  dass 
in  ihren  feineren  Kanälen  das  Blut  verdünnt,  hierdurch  der  Pfortader- 
kreislauf erleichtert  werde;  bei  Schwäche  des  Organismus  könne  das 
Blut  in  den  ..Buchten"  sich  leicht  anstauen. 

Nierensteine  unterzieht  er  einer  chemischen  Auah'se  und  betont 
ihre  organische  Xatur;  die  Ursache  der  Steinbildung  wird  in  Er- 
schlaffung der  Nieren  gesucht.  Anurie  wii'd  auf  krampfhafte  Zu- 
stände zurückgeführt:  durch  die  Harnverhaltung  können  epileptische 
Krämpfe  nach  dem  Kopf  abgeleitet  werden,  wie  einige  (anscheinend 
urämische)  Fälle  beweisen. 

Xierenfieber  infolge  von  Nierenentzündung  (Febris  nephritica  ex 
inflammatione  renum)  wird  noch  von  der  calculosa  gesondert,  aber 
nur  undeutlich  skizziert.  Die  linke  Niere  entzündet  sich  leichter,  da 
sie  mehr  bedeckt  und  der  Flexura  coli  näher  sei:  wenn  diese  durch 
Flatus  und  kompakte  Massen  stärker  gedehnt  wurde,  so  behindere 
dies  der  Blutumlauf  in  der  linken  Nierenvene. 

Entzündung  der  Blase  soll  unter  anderem  nach  unterdrückten 
Hämorrhoiden  zu  stände  kommen;  schon  Heinrich  v.  Herr  habe 
hier  Spaa -Wasser  empfohlen,  Hoffmann  ist  mehr  für  Selters.  In  einem 
Falle  sei  die  Krankheit  nach  Erj'sipel  am  Fusse  geheilt.  Er  ist  kein 
Anhänger  subtiler  üromantie,  doch  untersucht  er  den  Urin,  wie  andere 
abnorme  und  physiologische  Sekrete,  durchaus  methodisch;  er  wägt, 
benutzt  aräometrische  Vorrichtungen,  kocht  u.  s.  w.  Er  findet  im 
Urin  Salze  und  ein  ..feines  Oel".  woher  die  Harnfarbe  kommen  soll. 
Auch  vergleichende  üroskopie  treibt  er  und  erzählt,  dass  Hydrocele 
und  Sarkocele  u.  a.  in  Narbonne  häufig  beobachtet  werden,  als  Folge 
unmässigen  Genusses  von  Kastanien. 

Boerhaave  (1668 — 1738)  war  besonders  glücklich  in  der  Therapie, 
in  der  er.  wie  in  der  Pathologie,  die  aufmerksame  Beobachtung  der 
Natur  predigte.  Zu  den  Wegen,  welche  die  Natur  zum  Heile  der 
Kranken  einschlägt,  will  er  auch  seinen  Heilplan  wenden,  und  danach 
stellt  er  scharf  die  Indikationen  für  den  therapeutischen  Feldzug.  Er 
hat  keine  Spur  von  Nihilismus,  sondern  volles  Vertrauen  in  die  Schätze 
der  Apotheke.  Vorzugsweise  entlehnt  er  seine  Ai'zeneien  dem  Pflanzen- 
reiche, aber  nach  dem  Vorgange  des  Paracelsus  würdigte  er  auch 
chemische,  insbesondere  mineralische  Stoffe;  er  förderte  die  methodische 
Eisentherapie,  wie  kaum  einer  vor  ihm,  und  auch  die  Balneotherapie 
schätzte  er  als  Hilfsmittel.  Daneben  aber  hielt  er  auf  sorgfältige 
D  i  ä  t  V  0  r  s  c  h  r  i  f  t  e  n.  Im  allgemeinen  ist  er  für  eine  frühe  Kräftigung 
in  Behandlung  und  Pflege  und  beachtet  hierbei  auch  die  Genussmittel; 
vor  ausgiebiger  Empfehlung  des  Alkohols  scheut  er  nicht  zurück, 
wobei  er  neben  den  verschiedensten  Weinarten,  vor  deren  Verfälschung 
er  warnt,  von  Bieren  Braunschweiger  Mumme  mit  gi'osser  Vorliebe 
als  Tonicura  und  Stomachicum  empfiehlt. 

Selbständig  und  vorurteilsfrei  in  der  Diätetik,  regelt  er  aufs 
peinlichste  in  therapeutischer  wie  prophylaktischer  Hinsicht  die  ge- 
samte Lebensweise  der  Kranken,  namentlich  bei  allgemeinen  Er- 
nährungsstörungen; er  giebt  besonders  eingehende  Diätrezepte  bei 
der  Chlorose,  deren  ^^'esen  er  dahin  zusammenfasst,  dass  die  flüssigen 

43* 


676  Georg  Korn. 

Teile  des  Körpers,  namentlich  auch  des  Blutes,  die  festen  zu  sehr 
überwiegen.  Nach  dem  Vorbilde  Galens  empfiehlt  er  Leibesübung-en, 
und  unter  seinen  Heilvorschriften  gegen  Leiden  innerer  Organe  finden 
sich  vielfach  Eeibungen  der  entsprechenden  Hauptgegenden,  aber 
nicht  direkte  Massage,  sondern  Eeibungen  mit  Tüchern. 

Als  Aphthen  beschreibt  Boerhaave  Geschwüre  und  Prozesse  in 
der  Mundhöhle,  die  namentlich  als  häufige  Begleiter  fieberhafter 
Leiden  nach  Exfoliation  pustulöser  Auswüchse  zu  Tage  treten.  Sie 
haben  dort  namentlich  ihren  Sitz  an  den  Speichelgangsenden,  aber 
aphthöse  Prozesse  sollen  auch  in  den  verschiedensten  Teilen  des  Ver- 
dauungsapparates, auch  im  Magen  und  Darm  einschliesslich  des  Mast- 
darms vorkommen.  Noch  van  Swieten  wirft  die  mannigfaltigsten 
Geschwürsformen  innerhalb  des  Verdauungskanals  zusammen. 

In  der  Pathologie  des  Magens  dreht  sich  alles  um  dessen  Ent- 
zündung. Ihre  Zeichen  sind  brennender  und  bleibender  Schmerz, 
namentlich  bei  Nahrungszufuhr,  Erbrechen.  Präcordialangst.  Die 
Krankheit  kann  tödlich  sein  oder  wie  andere  Entzündungen  in  Scirrhus, 
Cancer,  Brand  oder  P^iterung  übergehen.  Wenn  sie  mit  heftigem 
Fieber  einsetzt,  dann  ist  ein  kräftiger  Aderlass  geboten.  Uebergang 
in  Scirrhus  und  Krebs  wird  durch  das  anhaltende  heftige  und  schmerz- 
liche Erbrechen  angezeigt.  Brunnen-"  und  Molkenkuren  werden  em- 
pfohlen, scharfe  Stoffe  sind  zu  meiden  (spezielle  Diätvorschriften 
finden  sich  in  der  „Praxis  medica  sive  commentarii  in  aphorismos". 
die  jedoch  als  unecht  gilt). 

Auch  die  D  a  r  m  erkrankungen  werden  ätiologisch,  semiotisch  und 
therapeutisch  wesentlich  vom  Standpunkt  der  Entzündung  behandelt; 
von  einfacher  Diarrhöe  bis  zu  Ruhr  und  ruhrartigen  Prozessen,  von 
der  erschwerten  Entleerung  bis  zum  Ileus  werden  die  bedeutsamsten 
Erscheinungen  gestörter  Darmfunktion  aus  der  Inflammatio  instesti- 
norum  abgeleitet.  Der  Dünndarm  sei  am  häufigsten  Sitz  der  Ent- 
zündung, w^eil  er  zahlreiche  und  dünne  Gefässe  hat;  auch  wird  die 
Entzündung  oft  durch  das  Eindringen  von  besonders  scharfer  Galle 
ins  Duodenum  bewirkt.  Ileus  soll  namentlich  Symptom  des  Ausgangs 
in  Scirrhus  sein,  indem  durch  Verhärtung  der  Wand  das  Lumen  ver- 
engt wird;  der  Scirrhus  kann  seinerseits  auch  im  Darme  in  Krebs 
mit  Geschwürsbildung  übergehen.  Abscesse  können  manchen  dysen- 
terischen Erscheinungen  folgen.  Der  Brand  wird  aus  dem  plötzlichen 
Nachlass  des  Schmerzes  bei  sonstigem  Fortbestehen  der  objektiven 
Erscheinungen  geschlossen.  Die  Galen  sehe  Darmpathologie  schimmert 
hier  überall  durch. 

Der  Opiumtherapie,  bei  gleichzeitiger  milder  Diät,  wird  auch 
gegen  Dysenterien  lebhaft  das  Wort  geredet,  aber  auch  bei  Enteritis 
der  Aderlass  zur  Bekämpfung  der  Entzündungserscheinungen  an  die 
Spitze  gestellt.  Dem  chirurgischen  Eingreifen  wird,  abgesehen  von 
den  Hernien,  nur  ein  ganz  bescheidener  Raum  zugewiesen,  z.  B.  auch 
bei  Volvulus. 

Eingehend  wird  die  Leberentzündung  besprochen,  obwohl  sie 
als  selten  bezeichnet  wdrd,  was  aus  der  Kleinheit  der  Leberarterie 
im  Verhältnis  zur  Masse  des  Organs  und  dem  geringen  Druck  des 
Pfortaderblutes  zu  erklären  sei.  Der  Ursprung  der  Entzündung  soll, 
ähnlich  wie  anderwärts,  in  den  letzten  Endigungen  jener  beiden  zu- 
führenden Gefässe  zu  suchen  sein.  Günstiger  Ausgang  der  Ent- 
zündung ist  Zerteilung  und  Ausscheidung  der  kranken  Masse  durch 


Yerdanungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  677 

Darm,  Nieren,  Nase,  Schweiss.  Ist  es  endgültig-  zur  Eiterung  in  die 
Leber  gekommen,  so  kann  der  Eiter  in  die  Bauchhöhle  oder  durch 
die  Hohlader  in  den  Kreislauf,  oder  durch  den  Gallengang  in  den 
Darm,  oder  nach  aussen  treten;  diesen  Durehbruch  soll  man  durch 
Kauterisation  der  Haut  erleichtern.  Der  Eiter,  der  durch  Beimengung 
von  Galle  faulig  wird,  zerfrisst  die  Leber;  dann  soll  es  unter 
Ikterus,  Durst,  grosser  Schwäche,  Angstgefühl,  fast  schwarzem  Harn, 
Tympanites,  fötiden  Durchfällen  zu  langsamer  Auszehrung  kommen. 
Ist  die  Eiterung  eine  begrenzte,  so  führt  dies  zu  Verhärtungen,  die 
natürlich  auch  hier  krebsig  werden  können,  Steinbildungen  oder 
Pusteln;  auch  die  kleinen  Leberabscesse  bewirken  stete  Fieber- 
steigerung. Die  Diagnose  ist  mangelhaft;  Schmerzhaftigkeit  und 
Schwellung  oder  nur  Völle  in  der  Lebergegend  sind  die  Haupt- 
anzeichen. 

Die  Gelbsucht,  meist  durch  die  Schwellung  der  entzündeten 
Leber  verursacht,  wird  immer  als  hepatogen  aufgefasst.  auch  der 
Ikterus  nach  Schlangenbiss.  Gegen  Cholelithiasis.  auch  eine  Folge 
von  Leberentzündung,  werden  die  Wässer  von  Spaa  und  Molken 
empfohlen.  Ferner  werden  funktionelle  Abnormitäten  der  Leber- 
thätigkeit,  die  ihrerseits  wieder  auf  Verdauungsstörungen  beruhen,  als 
Ursache  von  allgemeinen  Ernährungsstörungen  und  chi'onischem  Maras- 
mus aufgefasst ;  dieser  entwickelt  sich  namentlich  dadurch,  dass  Galle 
zu  wenig  oder  fehlerhaft  abgeschieden  und  die  ChyUfikation  und  Assi- 
milation geschädigt  wird. 

Wenig  Originales  bietet  die  Pathologie  des  ürogenital- 
svstems.  Nur  die  Nierenentzündung  ist  zu  erwähnen;  sie  entsteht 
durch  starke  Erschütterungen,  Erkältungen  u.  s.  w..  veiTät  sich  durch 
Schmerz  in  der  Nierengegend,  Fieber  und  spärliche  Harnausscheidung. 
Steine  können  auch  Nephritis  bedingen,  öfter  aber  sind  sie  Ausgänge 
derselben.  Wichtig  aber  sind  Anomalien  der  allgemeinen  Blut- 
mischung. Durch  Steinansammlung  bedingte  Anuiie  kann  unter 
Somnolenzerscheinungen  schnell  zum  Tode  führen.  Als  sonstige  Folgen 
der  Nephritis  werden,  wie  bei  anderen  Entzündungen,  Heilung  oder 
Abscesse,  SciiThus.  Gangrän  angeführt.  Wertvoller  und  origineller 
sind  seine  Lekren  von  den  Krankheiten  des  Gehirns  und  der  Nerven, 
die  wir,  gleich  den  anderen  Gebieten  der  Pathologie,  hier  nicht  er- 
örtern können. 

Lange  Zeit,  fast  drei  Jahrhunderte  hindurch,  folgten  in  der  Patho- 
logie und  Therapie  System  auf  System,  immer  mit  einer  anderen 
Therapie.  Von  ihnen  gilt  Autenrieths  Wort:  „Jedes  medizinische 
System  verhält  sich  zur  Natur  wie  die  Tangente  zum  Kreise ;  es  be- 
rührt sie  nur  an  einem  Punkte,  um  sich  sofort  wieder  von  ihr  zu 
entfernen,  wenn  es  nicht  gebrochen  oder  modifiziert  wird."  Das 
eklektische  System  Boerhaaves  1668—1 738,  das  animistische  System 
Stahls  1666 — 1734,  das  mechanisch-dynamische  System  Friedrich 
Hofmanns  1660 — 1742,  die  antiphlogistische  Theorie  Girtanners 
1760—1800  gegen  Priestleys  phlogistische  Theorie  1733—1804, 
der  „Generalisierte  Chemismus",  das  Brown  sehe  System  1772, 
Röschlaubs  Erregungstheorie  1804,  Rasoris  Stimulo  und  Con- 
trastimulo  1807,  Okens  Naturphilosophie  1828,  endlich  die  natur- 
historische Schule  1830—1850.  Es  war  noch  anzuerkennen,  wenn 
ein  solches  System  wenig  Blut  forderte,  durch  wenig  Brechmittel, 
Ekelkuren,  Klystiere  zum  angestrebten  therapeutischen  Ziele  zu  ge- 


678  Georg  Korn. 

langen  suchte.  Bouillaud  forderte  noch  1797  in  vielen  akuten 
Krankheiten  Aderlässe  Schlag  auf  Schlag,  Broussais  verlangte  für 
seine  vermeintliche  Gastroenteritis  einige  hundert  Blutegel  auf  den 
Bauch.  In  den  von  ihm  und  seinen  Schülern  geleiteten  Hospitälern 
kam  es  so  weit,  dass  man  sich  um  die  Zahl  der  Blutegel  nicht  mehr 
kümmerte.  Man  stülpte  einfach  das  Gefäss  um  und  Hess  die  Tiere 
nach  Belieben  saugen.  Während  eines  einzigen  Jahres  (1819)  wurden 
auf  der  Abteilung  von  Broussais  100000  Blutegel  verbrauclit.  Im 
Jahre  1824  betrug  die  Zahl  der  nach  Frankreich  eingeführten  Blut- 
egel nur  300000,  im  Jahre  1827:  33  Millionen!  Broussais  selbst  ver- 
ordnete sich  in  den  ersten  zwei  Tagen  seiner  letzten  Krankheit  vier 
Aderlässe  und  sechzig  Blutegel,  dann  noch  zwei  Aderlässe  und  un- 
gezählte Mengen  von  Blutegeln.  Auf  seiner  Abteilung  des  Val  de  Gräce 
war  denn  auch  die  Sterblichkeit  am  grössten.  Schon  1753  gab 
Kämpf  Visceralklystiere  gegen  den  schwarzen  galligen  und  schleimigen 
Infarktus;  Rasori  verordnete  ausser  häufigen  Aderlässen  Brech Wein- 
stein täglich  7  Gramm  gegen  Pneumonie,  gegen  Hydrothorax  6  Tage 
hindurch  21  Gramm,  ggen  Ruhr  Dosen  von  1,4  Gummigut.  Er  gab 
in  einzelnen  Krankheiten  pro  die  60 — 90  Gramm  Nitrum,  in  7  Tagen 
134  Gramm  Extractum  Aconiti,  alles  als  Contrastimulantia  directa. 
Eine  wissenschaftliche  Therapie  konnte  es  in  jener  Zeit  noch  nicht 
geben,  weil  noch  alle  Voraussetzungen,  insbesondere  die  diagnostischen, 
fehlten. 

Broussais  (f  1838)  nannte  sein  System  die  „physiologische 
Medizin".  Die  ganze  bisherige  Medizin  ruhe  auf  einem  prinzipiellen 
Irrtum;  sie  fasse  die  Krankheiten  als  Dinge,  als  Wesen,  als  Entit^s 
auf.  Als  ersten  Satz  seiner  Physiologie  stellt  Broussais  Browns 
Ausspruch  hin :  Das  tierische  Leben  unterhalte  sich  nur  durch  äussere 
Reize.  Alles,  was  die  vitalen  Phänomene  erhöhe,  setzt  Broussais 
hinzu,  ist  reizend,  stimulierend.    Als  Hauptreiz  sieht  er  die  Wärme  an. 

Jede  Stimulation,  wenn  sie  nicht  zu  schwach  ist,  mag  sie  einen 
Teil  treffen,  welchen  sie  will,  durchwandert  nach  Broussais  das  Ge- 
samtnervensystem  sowohl  der  Eingeweide  als  der  Centralteile.  Ist  sie 
stark  genug,  ins  Gehirn  zu  gelangen,  so  gelangt  sie  sicher  auch  in 
alle  Eingeweide.  Vom  Centrum,  dem  Gehirn,  aus  geht  darauf  der 
Impuls  zu  dem  Muskelsystem.  Das  Gangliensj^stera  und  seine  Knoten 
stellen  für  sich  Nervencentren  dar,  welche  Stimulationen  von  einem 
Ort  auf  den  anderen  übertragen  können.  Sie  sind  zugänglich  den 
Stimulantien  des  übrigen  Nervensj'stems,  jedoch  unabhängig  vom 
AVillen.  Das  Ich  nimmt  von  ihnen,  aber  auch  von  den  Zuständen 
der  übrigen  Nerven  bald  Notiz,  bald  nicht. 

Die  aktive  krankhafte  Kongestion  und  ihre  stete  Begleiterin,  die 
Surexcitation.  nennt  Broussais  Irritation.  Die  Irritation  beschränkt 
sich  nur  in  ganz  leichten  Graden  auf  ein  System.  Sie  beginnt  zwar 
stets  in  einem  einzigen,  aber  bei  irgend  bedeutendem  Grade  werden 
noch  andere  in  sympathische  Irritation  versetzt  durch  Vermittlung 
der  Nerven.  Je  sensibler  das  ursprünglich  irritierte  Organ  ist,  um 
so  zahlreicher  sind  die  Sympathien,  die  durch  dasselbe  erregt  werden. 
Je  zahlreicher  die  Sympathien  sind,  desto  schwerer  ist  die  Krankheit. 
Eine  Irritation,  welche  Blut  in  dem  Gewebe  anhäuft,  mit  ungewöhn- 
licher Röte,  Hitze  und  Geschwulst  heisst  Entzündung. 

Jede  Irritation  eines  Organs  erregt,  wenn  sie  einen  gewissen 
Grad  erreicht,  sympathische  Irritation  des  Gehirns,  Kopfweh,  Müdig-' 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  679 

keit.  Alle  intensiven  IiTitationen  erregen  ferner  gleich  zu  Anfang  sym- 
pathische Irritation  des  Magens  (Appetitlosigkeit.  Zungenbelag).  Alle 
intensiven  Irritationen  erregen  endlich  sympathische  Irritation  des 
Herzens  (Fieber).  Jede  Irritation,  die  stark  genug  ist.  Fieber  zu  er- 
regen, ist  Entzündung  und  erregt  sicherlich  Irritation  des  Magens 
und  Gehiras. 

Wenn  Entzündung  des  Gehirns  und  des  Magens  vorhanden  ist, 
so  ist  erstere  häufiger  die  Folge,  als  die  Ursache  der  letzteren.  Die 
Entzündung  des  Magens.  Gastrite,  kommt  nie  vor  ohne  solche  der 
Dünndärme,  weshalb  sie  Gastroenterite  heissen  muss.  Anderer- 
seits ist  die  Enterite  für  sich  wenigstens  sehr  selten  ohne  Gastrite. 
und  bei  Gastroenterite  überwiegt  bald  die  Magen-,  bald  die  Dünn- 
darmaifektion.  Die  Gastroenterite  ist  immer  ohne  Schmerzen  im 
Bauch,  wenigstens  ohne  umschriebene  und  heftige.  Wo  solche  be- 
stehen, ist  Peritonitis  und  Colitis  damit  verbunden.  Eine  akute 
Gastroenterite.  wenn  sie  heftig  wird,  kompliziert  sich  mit  vielen  und 
heftigen  sympathischen  Irritationen.  Es  entstehen  die  Symptome 
eines  putriden  Fiebers  oder  Typhus.  Alle  sogenannten  essentiellen 
Fieber  der  Schule  sind  Gastroenteriten.  Auch  die  akuten  Hautaus- 
schläge beginnen  mit  Gastroenteritis  und  erst  sekundär  treten  die 
Hautphlegmasien  an  ihre  Stelle. 

Die  Hypochondrie  ist  eine  chronische  Gastroenterite;  die  Dys- 
pepsien. Gastrodynien,  Pyrosen,  Cardialgien  sind  chronische  Gastro- 
enteriten. Die  Gastroenterite  leitet  die  Leberentzündung  ein.  Die 
Bauchwassersucht  ist  durch  Gastroenterite  veranlasst,  welche  auf  das 
Peritoneum  fortschreitet.  Die  Peritonitis  geht  entweder  von  der 
Gastroenteritis  oder,  wie  beim  Kindbettfieber,  von  einer  Metritis  aus. 
Tuberkeln.  Scirrhus  sind  Folgen  von  Entzündung.  Auch  die  Skropheln 
sind  durch  eine  Art  von  Entzündung  hervorgebracht,  jedoch  ist  dabei 
keine  vermehrte  "N^'ärme  und  wenig  Röte.  Broussais  führte  hierfiir 
den  Namen  Subinflammation  ein. 

Für  Therapie  gelten  folgende  Grundsätze.  Eine  Entzündung 
darf  nicht  erwartet  werden,  man  muss  ihr  vorbeugen;  man  darf  nicht 
auf  den  Ausgang  und  die  spontane  Heilung  durch  Krisen  sich  ver- 
lassen, sondern  muss  sie  so  schnell  als  möglich  unterdrücken.  Es 
giebt  vier  Arten  von  Mitteln,  den  Gang  der  Entzündung  aufzuhalten : 
Schwächende  Mittel,  revulsive  Mittel,  die  Tonica,  flüchtige  Reize. 

Die  schwächenden  Mittel  sind  Blutlassen.  Hungern,  emollierende 
und  säuerliche  Getränke.  Unter  allen  diesen  ist  das  Blutlassen  das 
wirksamste.  Das  Oeffnen  einer  Vene  eignet  sich  für  sehr  rasch  sich 
ausbildende  Entzündungen  in  parenchymatösen  Organen.  Die  kapilläre 
Blutentziehung  ist  dagegen  in  allen  anderen  Fällen,  namentlich  im 
Beginne  der  Krankheit,  vorzuziehen.  Nur  in  einzelnen  Fällen  ist  die 
Blutentziehung  kontraindiziert,  nämlich  bei  blutleeren  Personen,  bei 
vorgeschrittenen  chronischen  Entzündungen  der  wichtigsten  Einge- 
weide (Tuberkel,  Krebs),  bei  Gehimkongestionen  mit  schwachem  Puls. 
In  allen  sonstigen  Erki-ankungen  verhindert  eine  zeitige  Ansetzung 
von  Blutegeln  die  schlimmsten  Störungen.  Blutegel  an  den  Hals  ver- 
hindern den  Uebergang  des  Katarrhs  in  Phthisis,  Blutegel  in  der 
Magengegend  wirken  bei  allen  Formen  von  Gastrite  und  leichten 
Phlegmasien  des  Gehirns,  Blutegel  an  den  After  bei  Kolik  und 
Dysenterie;  bei  Angina  und  Croup  werden  Blutegel  an  die  ent- 
sprechende Stelle  gesetzt.    Biliöse,  muköse  und  gastrische  Symptome 


680  Georg  Korn. 

verlangen  Blutegel  an  die  epigastrische  Gegend,  Eheumatismus  an 
die  befallenen  Gelenke  und  in  die  Magengegend.  Bei  akuten  Haut- 
ausschlägen werden  Blutegel  an  die  epigastrische  Gegend,  bei  ady- 
namischem Fieber,  Typhus  Blutegel  auf  den  Bauch  gesetzt.  Bei 
Würmern  im  Darm  werden  ebenfalls  Blutegel  auf  den  Bauch  appliziert, 
denn  jene  sind  durch  Gastroenterite  unterhalten,  und  sie  gehen  von 
selbst  ab,  sobald  diese  gehoben  ist.  Bei  Kindbettfleber  werden  Blut- 
egel in  Menge  in  die  hypogastrische  Gegend  gesetzt  u.  s.  w.  Neben 
diesen  lokalen  Blutentziehungen  ist  bei  allen  diesen  Krankheiten 
grösstmögliche  Diät  und  die  Anwendung  von  Gummiwasser  notwendig. 
Diese  Behandlung  lässt  die  Krankheit  abortieren;  sie  heilt  plötzlich, 
so  lange  die  Affektion  noch  nicht  zu  einer  gewissen  Höhe  gelangt  ist. 

Die  revulsiven  Mittel:  Blasenpflaster,  Diaphoretica,  Diuretica, 
Emetica,  Laxantien  sind  wohl  imstande,  durch  Hervorbringung  einer 
sekundären  Irritation  die  primäre  zu  entfernen,  aber  sie  sind  immer 
gefährlich,  denn  wenn  dies  nicht  glückt,  so  steigern  sie  im  Gegenteil 
die  primäre  Krankheit. 

Broussais'  extremster  Anhänger  war  Bouillaud.  Die  Desessen- 
tialisation  der  Fieber  und  die  blutentziehende  Therapie  waren  die 
Hauptpunkte,  wegen  deren  ihm  Broussais  als  medizinischer  Messias 
galt.  In  letzterem  Punkt  übertraf  er  diesen  noch  und  führte  die 
Saignee  coup  sour  coup  ein,  durch  die  er  Typhus,  Pneumonie,  Rheuma- 
tismus acutus,  Herzentzündung  und  andere  Krankheiten  glaubte  er- 
drosseln zu  können. 

Dieses  Broussais  sehe  Sj^stem  des  „Vampyrismus"  ist  hier  aus- 
führlicher behandelt  worden,  weil  es  einmal  grossen  Einfluss  besass 
und  die  Einseitigkeit  solcher  Systeme  noch  kurz  vor  ihrem  Ver- 
schwinden in  der  wissenschaftlichen  Medizin  zeigt,  dann  aber  auch, 
weil  es  speziell  die  Erkrankungen  der  Verdauungsorgane  und  des  Unter- 
leibes in  den  Vordergrund  treten  lässt.  Der  unwiderstehliche  Zug 
nach  dem  „System"  war  der  Hemmschuh,  den  die  deutschen  Gelehrten 
von  einer  vorurteilsfreien  Einzelforschung  zurückhielt.  Bei  dem 
Streben  das  Ganze  zu  beherrschen,  ging  der  Sinn  für  das  Einzelne 
verloren ;  man  fühlte  sich  wohl  im  Besitze  des  alles  umfassenden  und 
alles  erklärenden  Systems. 

Erst  der  Aufschwung,  den  die  exakten  Naturwissenschaften  in 
den  ersten  Jahrzehnten  des  19.  Jahrhunderts  nahmen,  führten  in  der 
Medizin  zu  der  Ueberzeugung  von  der  Notwendigkeit,  dem  Studium 
der  Erscheinungen  naturwissenschaftliche  Methode  zu  Grunde  legen. 
Diese  naturwissenschaftliche  Richtung  wurde  eröffnet  einerseits  durch 
die  Wiener  Schule  unter  Rokitansky  und  Skoda,  andererseits 
durch  die  Schule  Schönleins.  Schönlein  wuchs  aus  der  natur- 
philosophischen Strömung  heraus  zu  der  Erkenntnis,  dass  für  die 
klinische  Medizin  die  naturwissenschaftliche  Methode  allein  einen 
Fortschritt  verbürge.  Die  neue  Wiener  Schule  unter  Dietl  und 
Skoda  führte  den  ersten  leidenschaftlichen  Stoss  gegen  den  Aderlass 
und  die  alte  Heilmittellehre,  „jenen  Inbegriff  von  Sagen  und  Tradi- 
tionen der  Vorzeit";  sie  sollte  ganz  beseitigt  und  an  ihre  Stelle  die 
durch  keine  therapeutischen  Eingriffe  gestörte  Naturheilthätigkeit 
treten.  Vielfach  artete  die  Reaktion  der  Wiener  in  therapeutischen 
Nihilismus  aus. 

Die  Therapie  der  Heilkunde  bis  nahe  zur  Mitte  unseres  Jahr- 
hunderts bewegte   sich  bei  akuten  fieberhaften  Krankheiten  in  vor- 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  681 

sichtiger  Anwendung  der  allgemeinen  und  örtlichen  Blutentziehungen, 
in  der  inneren  Anwendung  der  die  Absonderungen  und  Ausscheidungen 
zum  Zwecke  der  natürlichen  Entscheidung  der  Krankheit  durch  die 
sogenannten  Krisen  massig  anregenden  mineralsauren  und  pflanzen- 
sauren Salze  und  ,.resolvierenden"  Mittel  und  in  dem  Gebrauch  der 
„Analeptica",  besonders  des  Weines,  Aethers,  Kamphers  beim  Sinken 
der  Kräfte,  namentlich  bei  drohender  flerzlähmung.  In  den  chronischen 
Krankheiten  bestand  die  Behandlung  in  dem  fortgesetzten  Gebrauch 
der  salinischen  und  pflanzlichen  Lösungsmittel,  massiger  Abführmittel, 
in  Regelung  der  Diät  und  des  übrigen  Verhaltens,  in  den  sehr  vor- 
sichtigen und  überlegten  Uebergang  zu  den  tonischen  Mitteln  und 
besonders  auch  zum  Gebrauch  der  Eisenmittel. 

Die  klinische  Medizin  hatte  sich  zunächst  mit  Eifer  dem  Studium 
der  einzelnen  Organkrankheiten  zngewendet.  Dem  geläuterten  patho- 
logisch-physiologischen Wissen  entsprechend,  wurden  die  Krankheits- 
bilder für  die  einzelnen  Organe  genauer  studiert,  die  Untersuchungs- 
methoden vervollkommnet  und  die  Behandlung  namentlich  in  der 
Richtung  einer  Lokaltherapie  vervollkommnet.  Allgemein  und  ein- 
stimmig wurde  in  den  vierziger  Jahren  der  Ruf  nach  einer  Befreiung 
der  Medizin  aus  dem  Banne  der  naturphilosophischen  Systeme  und 
nach  einer  Angliederung  an  die  Naturwissenschaften  erhoben,  allge- 
mein war  auch  das  Bedürfnis  nach  einer  wissenschaftlichen  Erforschung 
der  Heilgrundsätze  und  der  Heilmittellehre. 

Aber  so  einstimmig  man  in  der  Forderung  war,  so  verschieden 
waren  die  Wege,  die  man  zur  Erreichung  des  Zieles  vorschlug  und 
teilweise  auch  einschlug.  Alle  Schulen,  die  in  dieser  Periode  der 
Gärung  sich  wissenschaftliche  Organe  schufen,  haben  ihre  Verdienste 
an  der  Wegräumung  der  Trümmer  der  naturphilosophischen  und  natur- 
historischen Systeme;  alle  Führer  der  verschiedenen  Richtungen  haben 
Teil  an  der  Bereicherung  unseres  Wissens  mit  positiven  Thatsachen 
und  an  dem  Aufschwung  der  naturwissenschaftlichen  Richtung,  so 
Foi-scher  wie  Roser  und  Wunderlich,  die  1892  das  ..Archiv  für 
physiologische  Heilkunde"  begründeten,  Henle  und  Pfeuffer,  die 
seit  demselben  Jahre  die  ..Zeitschrift  für  rationelle  Medizin"  leiteten, 
V.  Jak  seh  und  Hamernik,  Skoda  und  Bamberger. 

Aber  die  klinische  Medizin  -wurde  doch  erst  recht  wissenschaft- 
lich neugestaltet  durch  Rudolf  Virchows  Arbeiten,  der  die  natur- 
wissenschaftliche Methode  in  der  medizinischen  Forschung  durchführte 
und  die  pathologischen  Anschauungen  von  Grund  aus  neugestaltete. 
In  seiner  Cellularpathologie  gab  er  dann  der  Klinik  den  erwünschten 
festen  Standpunkt  für  ihr  Handeln. 

Der  Umschwung  in  den  klinischen  Anschauungen  und  Lehren 
vollzog  sich  nun  in  den  fünfziger  Jahren  v^hältnismässig  rasch,  und 
die  geläuterte  Methode  kam  in  letzter  Reihe  auch  der  Therapie  zu 
gute.  Der  anfänglich  von  der  Wiener  Schule  eingenommenen  Front- 
stellung der  wissenschaftlichen  Medizin  gegen  die  alte  empirische 
Therapie  folgte  bald  die  Wendung  zu  einer  ruhigeren  und  nüchternen 
Auffassung  des  ärztlichen  Könnens.  Der  Schaden,  den  der  Skeptizismus 
der  Wiener  Schule  der  Heilkunde  im  Hinblick  auf  die  Therapie  ge- 
bracht hatte,  erwies  sich  als  weit  weniger  gross  wie  der  Nutzen,  den 
die  Medizin  aus  der  erlangten  Kenntnis  des  natürlichen  Verlaufs  der 
Krankheiten  für  die  Therapie  selbst  gewann. 

Einen  glänzenden  Anteil  an  dem  Aufschwünge  der  Medizin  hatte 


682  Georg  Korn. 

die  moderne  Physiologie  durch  Johannes  Müller  und  die 
Schar  seiner  Schüler,  zu  denen  ausser  Virchow  und  Helmholtz  Forscher 
wie  Schwann,  Henle,  Eemak,  Traube,  Dubois  -  Reymond,  Brücke, 
A.  V.  Gräfe,  W.  Busch,  Max  Schnitze,  also  die  gefeiertsten  Namen  aus 
allen  Gebieten  der  modernen  Medizin  gehörten.  Unabhängig  von  ihm 
wirkten  die  Gebrüder  Weber,  Purkinje,  Karl  Ludwig  u.  a.  in 
dieser  Glanzzeit  der  deutschen  Physiologie  an  der  Aufhellung  der 
Vorgänge  im  gesunden  und  kranken  Körper.  Daneben  entwickelte 
sich  aus  der  organischen  Chemie  durch  J.  Lieb  ig  und  dessen  zahl- 
reiche Nachfolger  die  Physiologie  des  tierischen  Chemismus,  die 
physiologische  Chemie,  Friedrich  Wöhlers  Synthese  des  Harnstoffes 
1828  bildete  den  Ausgangspunkt  für  die  Entwicklung  der  modernen 
organischen  Chemie  und  einer  endlosen  Reihe  von  Entdeckungen,  die 
tiefe  Blicke  in  das  mechanische  Verständnis  der  organischen  Vor- 
gänge eröffneten  und  zugleich  praktisch  von  der  höchsten  Bedeutung 
sowohl  für  die  Industrie  als  für  die  Medizin  wurden,  für  letztere  nicht 
nur  durch  Darbietung  neuer  Arzneimittel,  sondern  wesentlich  auch 
durch  die  vielfachen  Aufklärungen  über  Krankheitsvorgänge  im 
menschlichen  Körper. 

Gerade  für  die  Pathologie  und  Therapie  der  Krankheiten  der 
Verdauungs-  und  Absonderungsorgane  wurden  die  physiologischen 
Forschungen  besonders  bedeutungsvoll  als  wichtigste  Grundlage  des 
klinischen  Eingreifens.  Ein  kurzer  historischer  Ueberblick  über  ihre 
Ergebnisse  auf  diesem  Gebiete  erscheint  daher  hier  unerlässlich. 

Im  Altertum  bezeichnete  man  die  Verdauung  als  Coctio  ciborum, 
indem  man  an  ein  dem  Kochen  vergleichbares  Garmachen  der  Speisen 
dachte.  Im  Mittelalter  wurde  vielfach  wirklich  an  einem  kochenden 
Einfluss  der  tierischen  Wärme  gedacht.  Erst  im  17.  Jahrhundert 
entwickelten  sich  bestimmtere  Vorstellungen  und  zwar  nahmen  die 
latrochemiker  ein  verdauendes  Ferment  im  Magen  an,  dessen  Zu- 
sammenhang mit  einer  Absonderung  sie  ja  doch  nicht  erfassten, 
während  die  iatromechanische  Schule  die  Verdauung  nur  als  fort- 
schreitende mechanische  Zerkleinerung  betrachtete. 

Erst  Reaumur  (1752)  und  SpaHanzani  (1783)  stellten  als  das 
Hauptmoment  der  Verdauung  den  Magensaft  fest,  der  ohne  mecha- 
nische Beihilfe  verdaut.  Seine  saure  Reaktion,  die  schon  vor  Reaumur 
bekannt  war,  wurde  erst  1834  durch  Prout  von  freier  Salzsäure 
hergeleitet,  während  das  Pepsin  von  Schwann  (1836)  erkannt  wurde. 
Der  ganze  Verdauungsvorgang  wurde  zum  ersten  Male  infolge  einer 
1823  von  der  Pariser  Akademie  gestellten  Preisaufgabe  von  L e u r et 
und  Lasseigne  und  von  Tiedemann  und  Gmelin  einer  experi- 
mentellen Bearbeitung  unterworfen.  Während  die  natürliche  Magen- 
verdauung von  Beaumont  an  den  vielgenannten  kanadischen  Jäger 
mit  Magenfistel  1834  sorgfältig  beobachtet  wurde,  lehrte  im  gleichen 
Jahre  E  b  e  r  1  e  künstlichen  Magensaft  bereiten  und  mit  ihm  künstlich 
verdauen.  Künstliche  Magenfisteln  legte  erst  Blondlot  1843  an. 
Die  zuckerbildende  Wirkung  des  Speichels  entdeckte  Leuchs  1831. 

Die  Kenntnis  von  den  Vorgängen  im  Darm  begann  erst  durch 
Cl.  Bernards  Entdeckung  (1848),  dass  der  Bauchspeichel  Fette  ver- 
daut, was  schon  Eberle  behauptet  hatte.  Corvisart  entdeckte 
1857  die  eiweissverdauende  Wirkung  dieses  Sekretes,  die  Kühne 
(1867)  in  wesentlichen  Punkten  weiter  verfolgte.  In  einem  Zustande 
lehrte  erst  Thiry  (1865)  den  Darmsaft  in  reinem  Zustande  gewinnen. 


Verdanungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  683 

Weitere  umfassende  Arbeiten  über  die  gesamte  Verdauung,  die 
wesentlich  die  Kenntnis  der  Verdauungsvorgänge  förderten,  waren  die 
von  F  r  e  r  i  c  h  s  (1849)  und  von  B  i  d  d  e  r  und  Schmidt  (1852).  Daran 
schlössen  sich  dann  eine  grosse  ßeihe  neuerer  experimenteller  Arbeiten, 
die  freilich  in  manchen  wichtigen  Fragen  eine  abschliessende  Lösung 
noch  nicht  haben  erreichen  können. 

Auch  die  Absonderungs Vorgänge  der  Drüsen  sind  erst  seit 
verhältnismässig  kurzer  Zeit  wissenschaftlich  erforscht  worden.  Die 
antike  Medizin  und  noch  mehr  die  mittelalterlichen  Aerzte  hatten 
von  der  Natur  der  Absonderungen  so  unklare  Vorstellungen,  dass 
z.  B.  der  Nasenschleim  lange  als  ein  Abfluss  aus  dem  Gehirn  durch 
das  Siebbein  betrachtet  wui'de.  Erst  die  Untersuchungen  Schneiders 
über  die  Nasenschleirahaut  (1660)  beseitigten  diesen  Irrtum.  Ungefähr 
um  die  gleiche  Zeit  wurden  durch  zahlreiche  Arbeiten  von  Forschern 
wie  Glisson.  Wharton,  Stenson,  ßivini,  Peyer,  Brunner, 
Malpighi  die  Anatomie  der  Drüsen  genauer  bekannt.  Sie  erhielt 
aber  erst  im  neuzehnten  Jahrhundert  durch  die  Entdeckung  der 
Nierenstruktur,  um  die  sich  Johannes  Müller  und  Bowinan  ver- 
dient machten,  und  durch  das  umfassende  und  grundlegende  Werk 
von  Johannes  Müller  über  die  Drüsen,  das  dieser  im  Jahre  1830 
veröffentlichte,  einen  gewissen  Abschluss. 

Der  Absonderungsvorgang  selbst  musste  so  lange  im  Dunkeln 
bleiben,  als  man  von  der  Geschlossenheit  der  Blutbahnen  in  den 
Drüsen  noch  nicht  überzeugt  war,  sondern  annahm,  dass  die  blasigen 
und  röhrigen  Hohlräume  der  Drüsen  mit  den  feinsten  Arterien  kom- 
munizierten (wie  dies  Malpighi  aussprach),  so  dass  das  Sekret  als 
eine  direkte  ,.Colatur"  des  Blutes,  dessen  Körperchen  in  die  feinen 
Räume  nicht  eindringen  könnten,  betrachtet,  ja  von  ßuysch  die 
Drüsen  geradezu  nur  als  aus  Blutgefässen  bestehend  angesehen 
wurden.  Die  neuere  Entwicklung  der  Absonderungslehre  knüpft  sich 
an  die  Entwicklung  der  Zellenlehre  (Schwann)  und  an  die  Ent- 
deckung der  Endosmose  (Dutrochet),  wurde  aber  erst  durch  die 
vivisektorischen  Versuche  an  den  Absonderungsnerven  (Ludwig, 
Bernard)  und  durch  die  mikroskopische  Vergleichung  der  ruhigen 
und  thätigen  Drüsen  (Heidenhain)  zur  heutigen  Höhe  gehoben. 
(Vgl.  Herrmann,  Lehrbuch  der  Phj'siologie,  11.  Aufl..  Berlin  1896.) 

Um  den  Ausbau  der  Lehre  von  den  Erkrankungen  der  Ver- 
dauungs-  und  Absonderungsorgane  erwarb  sich  in  erster  Reihe 
Friedrich  Theodor  v.  Frerichs  hervorragende  Verdienste.  Er 
wusste  den  grossen  Gewinn,  den  die  Medizin  aus  den  Fortschritten 
der  Naturwissenschaften,  besonders  der  Chemie  und  Phj'sik  und  aus 
der  Uebertragung  exakter  naturwissenschaftlicher  Methoden  auf  die 
Erforschung  physiologischer  und  pathologischer  Probleme  gewann,  in 
richtiger  Erkenntnis  zu  würdigen  und  auszunützen.  Er  stellte  sich 
lediglich  auf  den  Boden  der  nüchternen  Thatsachen,  die  auf  dem 
Wege  der  strengen  und  voraussetzungslosen  Forschung  und  Beobach- 
tung, auf  dem  mühevollen  Wege  des  Experimentes  erlangt  waren. 
Als  einer  der  Ersten  übertrug  er  die  strenge  naturwissenschaftliche 
Methode  auf  das  Studium  des  kranken  lebenden  Organismus,  auf  die 
Klinik  und  wurde  dadurch  für  lange  Zeit  der  bedeutendste  Pathologe 
Deutschlands. 

Er  begann  seine  Arbeiten  mit  chemischen  L^ntersuchungen  (ge- 
meinsam mit  Wohl  er)  „über  die  Veränderungen,  welche  namentlich 


684  Georg  Korn, 

organische  Stoffe  bei  ihrem  Uebergange  in  den  Harn  erleiden" 
(Annalen  der  Chemie  und  Pharmacie  1848,  S.  235),  über  das  Mass 
des  Stoffwechsels  (Müllers  Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie)  und 
Arbeiten  über  die  AUantroinausscheidung  bei  beschränkter  Eespiration, 
über  das  Vorkommen  von  Harnstoff,  Taurin  und  Scyllit  in  den  Organen 
der  Plagiostomen.  Von  diesen  ist  die  erstere  der  Beginn  und  der 
Ausgangspunkt  aller  der  zahlreichen  Arbeiten  geworden,  welche  die 
im  Organismus  wirkenden  chemischen  Kräfte  der  Stoffmetamorphose 
zu  ergründen  suchen.  Die  Untersuchungen  über  das  Mass  des  Stoff- 
wechsels wurden  durch  die  darin  ausgeführten  Versuche  an  hungernden 
Tieren  auf  lange  Zeit  grundlegend  für  die  Arbeiten  über  den  Eiweiss- 
stoffwechsel,  obgleich  sich  Frerichs'  Anschauung,  dass  der  Stoffwechsel 
im  Hunger  das  niedrigste  Mass  des  normalen  Stoffwechsels  sei,  als 
irrig  erwiesen  hat.  Von  grosser  Bedeutung  war  auch  die  mit 
Städeler  gemeinsam  gemachte  Entdeckung  des  Vorkommens  von 
Leucin  und  Ty rosin  in  den  Lebern  und  dem  Harn  von  Leber-^ 
Tj^phus-  und  Variolakranken  (1854)  und  bei  der  akuten  gelben  Leber- 
atrophie (1856). 

Bald  darauf  wurde  dem  jungen  Göttinger  Dozenten  die,  ursprüng- 
lich dem  Professor  J.  V  o  g  e  1  zugedachte,  Bearbeitung  des  Abschnittes 
„Verdauung"  in  E.  Wagners  Handwörterbuch  der  Physiologie  über- 
tragen. Frerichs  begnügte  sich  nicht  mit  einer  oberflächlichen  Be- 
arbeitung des  vorhandenen  Materials,  sondern  brachte  eine  erschöpfende, 
auf  zahlreichen  Experimenten,  chemischen  und  anatomischen  Studien 
fussende  Monographie  mtt  vielen  neuen  Beobachtungen  und  voll- 
ständiger Beherrschung  der  bisherigen  Leistungen.  Er  hob  mit  einem 
Schlage  die  Lehre  von  der  Verdauung  auf  ein  vollkommen  neues 
Niveau.  An  Stelle  von  Vermutungen  traten  Thatsachen,  an  Stelle 
von  unklaren  Hypothesen  exakte  Beweisführungen,  gestützt  auf 
Experimente  chemischer  und  physiologischer  Natur,  von  denen  nament- 
lich die  ersteren  bei  seinen  Vorgängern  wenig  Beachtung  gefunden 
hatten.  So  war  die  „Verdauung"  ein  Werk  von  fundamentaler  Be- 
deutung auf  ihrem  Gebiete. 

Sein  nächstes  Werk,  die  Monographie  über  die  Brightsche  Nieren- 
krankheit und  ihre  Behandlung,  zeigt  ihn  als  Pathologen  ersten- 
Eanges.  Das  Buch,  das  1851  erschien,  fand  grosse  Anerkennung  nament- 
lich auch  in  England,  wo  man  der  Krankheit  wegen  ihres  häufigen 
Vorkommens  von  alters  her  ein  besonderes  Interesse  zuwandte.  Sein 
Wort  beruht  auf  der  Einführung  physiologischer  Methoden,  der  all- 
seitigen und  durchdringenden  Verarbeitung  des  Stoffes  und  der  Klar- 
heit der  Darstellung.  Bei  der  sogenannten  Brightschen  Nierenkrankheit 
handelte  es  sich  um  höchst  komplizierte  anatomische  und  funktionelle 
Störungen  der  Niere,  deren  gemeinsames  Symptom  Eiweissausscheidung 
im  Harn  und  deren  Folgen,  Wassersucht,  Herz-,  Lungen-  und  Hirn- 
erkrankungen sind.  Diesen  verwickelten  Prozess,  über  den  die  ver- 
schiedensten Theorien  bestanden,  hatte  Frerichs  mit  sichtender  Hand 
entwirrt  und  von  einem  einheitlichen  Standpunkt  aus  gedeutet.  Die 
Lücken  der  klinischen  Beobachtung  suchte  er  durch  das  Experiment 
zu  entscheiden.  Er  stellte  zuerst  für  die  eigentümlichen  Hirn- 
erscheinungen, die  man  als  urämische  Intoxikation  von  dem  im  Blute 
zurückgehaltenen  Harnstoff  ableitete,  die  Ansicht  auf,  dass  nicht  dieser, 
sondern  ein  giftiges  Zersetzungsprodukt  desselben,  das  kohlensaure 
Ammoniak,  ihre  Ursache  sei  und  suchte  seine  Auffassung  experimentell 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  685 

ZU  erhärten.  Seine  Beweisführung,  die  sich  als  unhaltbar  erwies, 
wurde  dennoch  fruchtbar  als  Ausgangspunkt  zahlreicher  anderer 
experimenteller  Arbeiten.  Durch  Unterbindung  der  Nierenvenen  be- 
wies er,  dass  die  Stauung  des  Blutes  in  ihnen  den  Uebertritt  von  Ei- 
weiss,  Faserstoff  und  Blut  in  die  Harnkanälchen  zur  Folge  hat  und 
die  Entstehung  eigentümlicher,  schon  früher  bekannter  Gerinnsel  in 
ihnen  bedingt,  die  später  durch  den  Harn  fortgeschwemmt  und  mit 
ihm  ausgeschieden  werden.  Umgekehrt  widerlegte  die  Unterbindung 
der  Aorta  die  Ansicht,  als  ob  der  vermehrte  arterielle  Druck  die 
Ursache  der  Eiweissausscheidung  sei.  Neben  dem  semiotischen  und 
pathogenetischen  Teil  wurde  auch  entgegen  der  damals  von  der 
Wiener  Schule  ausgehenden  nihilistischen  Strömung  ein  besonderes 
Gewicht  auf  die  Behandlung  gelegt,  das  Bekannte  einer  scharfen 
Kritik  unterzogen,  und.  gestützt  auf  die  neugewonnene  Einsicht, 
wurden  neue  Mittel  und  Verfahren  empfohlen.  Schon  vor  Frerichs 
hatten  sich  andere  Forscher,  wie  H.  Meyer,  Raj^er,  Bowman, 
Johnson,  He  nie,  Nasse,  J.  Vogel  und  eine  Reihe  weiterer 
Kliniker  mit  diesen  Fragen  beschäftigt,  und  wesentlich  neu  ist  bei 
Frerichs  nur  die  Theorie  der  urämischen  Intoxikation  und  die  scharfe 
Betonung  der  Stadienlehre;  aber  die  erschöpfende  Methodik  und  der 
wissenschaftliche  Geist  hob  sein  Werk  weit  über  die  Arbeiten  der 
Vorgänger. 

Sein  nächstes  grosses  Werk  war  die  „Klinik  der  Leber- 
krankheiten", die  jedoch  unvollendet  blieb.  Auch  hier  findet  sich 
neben  einer  bisher  unerreichten  Fülle  und  Gediegenheit  der  klinischen 
Beobachtungen  und  einer  auf  eingehenden  historischen  Studien 
fussenden  Darstellung  eine  Menge  histologische  und  namentlich  physio- 
logisch-chemischer Befunde,  die  zum  grössten  Teil  seine  eigenen  Ent- 
deckungen sind,  die  genauere  Einsicht  in  die  anatomischen  Verände- 
rungen der  Leber  bei  der  Cirrhose  und  bei  den  Folgezuständen  der 
schweren  Wechselfieber,  in  die  Veränderungen  des  Blutes  bei  der 
Melanämie,  und  endlich  das  Vorkommen  gewisser  Zwischenprodukte 
des  Stoffwechsels  in  Leber  und  Harn;  das  Leucin  und  Tyrosin  bei 
der  akuten  gelben  Leberatrophie,  das  Verschwinden  des  Harnstoffes 
bei  derselben,  die  chemische  Kenntnis  der  Gallenpigmente  u.  a.  m. 
wurden  durch  Frerichs  festgestellt.  Seine  Ansichten  über  die  Ent- 
stehung der  Gallenpigmente  und  Gallensäuren  wurden  dagegen  durch 
weitere  Untersuchungen  nicht  bestätigt.  In  der  Vorrede  zu  den 
Leberkrankheiten  sprach  er  es  als  sein  Ziel  aus,  die  Pathologie  vom 
Standpunkt  des  Naturforschers  und  mit  allen  Hilfsmitteln  desselben 
zu  bearbeiten.  Sein  letztes  Werk  behandelte  den  Diabetes.  (Vgl. 
Ewald  in  der  ,.Allg.  deutschen  Biographie",  Bd.  XXL  782.) 

Die  Lehre  von  den  Magenkrankheiten  wurde  in  neuerer 
Zeit  wesentlich  gefördert  durch  die  Einführung  der  Magensonde  und 
Magen  pumpe  in  die  Klinik  zu  therapeutischen  und  diagnostischen 
Zwecken. 

Die  Anfänge  der  Magensondierung  fallen  ins  griechische 
Altertum;  in  der  römischen  Kaiserzeit  wurde  sie  zum  Zwecke  der 
Erleichterung  des  Erbrechens  systematisch  ausgebildet.  Statt  des  in 
den  Hals  gesteckten  Fingers  wurde  bald  eine  ,.pinna",  Brechfeder, 
üblich.  Oribasius  beschreibt  im  vierten  Jahrhundert  n.  Chr.  einen 
10  —  12  Zoll  langen  Handschuhfinger  aus  weichem  Leder,  dessen  untere 
zwei  Dritteile  mit  Wolle   ausgestopft  werden   sollten,   während   das 


686  Georg-  Korn. 

oberste  Dritteil  leer  zu  bleiben  und  den  das  Instrument  dirigierenden 
Finger  des  Arztes  aufzunehmen  hatte.  Dieses  digitale  vomitorium 
wurde  mit  Oel  bestrichen  in  die  Speiseröhre  eingeschoben;  dies  In- 
strument kann  man  als  die  erste  Art  von  Magensonde  ansehen.  Das 
lorum  vomitorium,  „Brechriemen",  wurde  im  ersten  Jahrhundert 
n.  Chr.  speziell  bei  der  Opiumvergiftung  von  Scribonius  Largus 
empfohlen,  wahrscheinlich  ein  Lederriemen,  der,  mit  einem  ekelhaften 
Gerbstoff  getränkt,  durch  seinen  Geschmack  zum  Brechen  reizte. 

Bis  in  die  neuere  Zeit  beschränkte  sich  der  Gebrauch  von  Schlund- 
sonden darauf,  Erbrechen  einzuleiten  und  Fremdkörper  aus  der 
Speiseröhre  herauszuziehen.  Erst  gegen  Ende  des  17.  und  im  Anfang 
des  18.  Jahrhunderts  kam  eine  ganz  neue  Anwendungsweise  der 
Magensonde  in  Gebrauch,  die  d i r e k t e  B e h a n d  1  u n g  der  Magen- 
schleimhaut mit  der  Sonde,  eine  Indikation,  die  dann  bei  der 
modernen  Behandlung  der  Magenleiden  wieder  in  den  Vordergrund 
trat.  Es  geschah  dies  durch  die  Eeinigung  des  Magens  mittelst  der 
excutia  ventriculi,  der  Magenbürste.  Die  Magenbürstung  des  17. 
und  18.  Jahrhunderts  scheint  von  den  Wilden  Amerikas  übernommen 
worden  zu  sein,  die  nach  Dapper  (1673)  den  Leib  durch  einen 
Strang  von  scharfen  Blättern  von  innen  reinigten.  Im  Jahre  1659 
liess  der  Engländer  Eumsaeus  seine  privilegierten  Instrumente,  die 
er  in  der  Schrift  „Organum  salutis.  or  an  Instrument  to  cleanse  the 
stomach"  anpries,  in  London  öffentlich  feilbieten.  Sie  bestanden  aus 
2—3  Fuss  langen  geschmeidigen  Fischbeinstäben,  deren  unteres  Ende 
ein  Knöpfchen  bildete,  woran  eine  Quaste  zum  Herausfegen  des 
Magenschleims  hing.  Am  Ende  des  17.  ,Iahrhunderts  wurde  mit  der 
Magenbürste  in  einem  Mönchskloster  an  einem  vornehmen  deutschen 
Würdenträger  eine  Aufsehen  erregende  Kur  vorgenommen  und  bald 
danach  in  Leipzig  und  an  anderen  Orten  Magenbürsten  hergestellt 
und  angepriesen  als  Universalmittel  gegen  alle  aus  dem  Magen 
stammenden  Krankheiten  und  als  ein  Präservativmittel  auch  für  Ge- 
sunde, die  ihr  Leben  sich  lange  zu  erhalten  wünschten.  Das  Magen- 
ausbürsten mit  darauffolgendem  Einnehmen  eines  aus  Aloe,  Saifran, 
Myrrhen  u.  s.  w.  bestehenden  Elixiers  sollen  24  Stunden  lang  vor 
allem  Gift  und  jeder  Pest  schützen,  ein  gutes  Gedächtnis  bringen,  das 
Gesicht  schärfen  u.  s.  w.  und  helfen  gegen  kalte  und  hitzige  Fieber, 
Asthma,  Brustgeschwür,  Schwindsucht,  Kephalalgie,  Schlag,  Zahn- 
und  Augenweh  u.  a.  m. 

Der  Stiel  des  Instrumentes,  26  Zoll  lang,  bestand  aus  einem 
starken,  doppelten,  soi-gfältig  geglühten  Messingdrahte,  der  geflochten 
und  mit  Seidenfäden  umwickelt  war.  An  seinem  unteren  Ende  war 
eine  kleine,  3  Zoll  lange  und  2  Zoll  breite  Bürste  (nach  der  Art  der 
heutigen  Flaschenbürsten)  aus  Ziegenbart-  oder  Pferdehaaren  ange- 
bracht. Bei  Anwendung  des  Instruments  sollte  es  so  gekrümmt 
werden,  dass  seine  Biegung  „nicht  gar  wie  ein  halber  Zirkel,  sondern 
etwas  krümmer  sei" ;  ausserdem  sollten  Bürste  sowohl  als  Stiel  zuvor 
mit  Wasser  benetzt  werden  und  vor  der  Einführung  von  dem  Be- 
treffenden, der  die  Operationen  sich  machen  lässt  oder  selbst  macht, 
„2 — 4  gute  Schlucke"  Franzbranntwein  und  7-2  Nösel  Brunnenwasser 
getrunken  werden.  In  jenem  rohen  Instrumente,  das  wissenschaft- 
liche Mediziner  der  damaligen  Zeit  freilich  ein  „remedium  durum  et 
rusticum"  nannten,  liegt  der  Keim  der  Methode,  nach  der  neuerdings 
die  Magenkrankheiten   behandelt   werden.     W.  Leube  (1.  c.  S.  15) 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  687 

hält  es  sogar  entschieden  des  Versuches  wert,  bei  Nervosität  und 
Atonie  der  Magenschleimhaut  mit  einem  ähnlichen  Instrumente 
therapeutisch  vorzugehen. 

Bald  jedoch  geriet  die  Magenbürste  in  Vergessenheit,  im  18.  Jahr- 
hundert war  später  fast  ausnahmslos  ein  Fischstab  als  Speiseröhren- 
sonde in  Gebrauch,  an  dessen  unterem  Ende  ein  kleiner  Schwamm 
befestigt  Avar.  Dies  Instrument  diente  teils  dazu,  die  in  der  Speise- 
röhre infolge  Lähmung  angesammelten  Speisen  in  den  Magen  hinab- 
zustossen,  teils  auch  zu  diagnostischen  Zwecken.  Ferner  wurde  sie 
benutzt,  um  Verengerungen  der  Speiseröhre  zu  erweitern  oder  mittelst 
Durchstossung  gänzlich  zu  beseitigen.  Geuns  benutzte  1767  in  einem 
Falle  von  scirrhöser  Cardiastenose  als  Sondenansatz  ein  Elfenbein- 
knöpfchen,  operierte  also  mit  Fischbeinsonde,  mit  Elfenbeinolive,  einem 
Instrument,  das  bei  Oesophagusstrikturen  noch  in  der  Gegenwart 
gebräuchlich  ist.  Ein  ähnliches  Instrument,  bestehend  aus  Silber- 
draht mit  einer  eiförmigen  Silberkugel  empfahl  Abercrombie  bei 
Oesophagusstriktur. 

Eine  neue  Indikation  eröffnete  sich  in  Fällen,  wo  man  bei  Auf- 
hebung des  Schlingvermögens  auf  künstlichem  Wege  Nahrung  oder 
Arzneimittel  dem  Magen  zuzuführen  bestrebt  war,  oder  wo  es  geboten 
war.  den  Inhalt  des  Magens  rascher  und  vollständiger  nach  aussen  zu 
befördern,  als  es  durch  Brechmittel  geschehen  konnte.  In  beiden 
Fällen  w^ar  der  Heilzweck  vollständig  nur  dann  zu  erreichen,  wenn 
die  Sonde  röhrenförmig  w^ar  und  in  die  Speiseröhre  eingeführt  mit 
ihrem  unteren  Ende  bis  den  Magen  reichte. 

Die  ersten  Versuche  mit  solchen  röhrenförmigen  Sonden  stellten 
bereits  Hieronymus  Capivacceus  (1598)  und  Fabricius  ab 
A  q  u  a  p  e  n  d  e  n  t  e  an.  Letzterer  tührte  bei  Mundsperre  ein  gekrümmtes 
silbernes,  mit  einem  dünnen  Lammsdarm  umwickeltes  Röhrchen  durch 
die  Nase  in  den  Schlund.  Das  Röhrchen  war  aber  so  kurz,  dass  es 
nicht  über  die  Gegend  des  Kehldeckels  hinunterreichte.  Immerhin 
ist  in  der  Anwendung  dieser  Instrumente,  so  unvollkommen  sie  waren, 
der  erste  Versuch  zur  künstlichen  Ernährung  mit  der  röhrenförmigen 
Schlundsonde  zu  sehen,  zumal  Fabricius  die  später  oft  üblichen  Wege 
für  die  Einführung  der  Schlundsonde  angiebt,  den  Weg  durch  den 
Nasengang  und  der  Weg  durch  die  hinter  den  letzten  Backzähnen 
zwischen  den  Kiefern  befindliche  Lücke. 

Weiterhin  wurde  Länge  und  Material  der  Magensonden  verbessert. 
Schon  1646  lehrte  van  Helmont  die  Katheder  aus  Leder  machen 
und  1768  wurden  die  ersten  elastischen  Katheder  auf  eine  Empfehlung 
von  Herissaut  angefertigt.  Damit  konnte  den  Schlundsonden  unter 
Umständen  eine  grössere  Länge  gegeben  werden.  John  Hunter 
erwähnte  1776  in  einem  Vortrage  die  Möglichkeit,  stark  reizende 
Substanzen  in  den  Magen  einzuspritzen,  ohne  dass  sie  zugleich  auf 
die  Lunge  wirken  könnten.  Zu  diesem  Zwecke  empfahl  er  hohle 
Bougies  oder  biegsame  Katheter,  die  so  lang  sein  müssten,  dass  sie 
bis  in  den  Magen  reichten;  durch  diese  röhrenförmigen  Magensonden 
sollten  dann  mittelst  einer  Spritze  die  betreffenden  Arzneimittel  in- 
jiziert w'erden. 

Der  Gedanke,  eine  röhrenförmige  Magensonde  bis  in  die  Magen- 
höhle hinabzuführen  und  durch  diese  Sonde  Flüssigkeiten  mit  einer 
Spritze  in  den  Magen  zu  injizieren,  führte  dann  bald  zu  dem  weiteren, 
auch  die  Rückwärtsbewegung  des  Spritzenstempels  bei  dieser  Kom- 


688  Georg  Korn. 

bination  von  Sonde  und  Spitze  zu  benützen,  also  Flüssigkeiten  aus 
dem  Magen  mit  diesem  Apparat  heraufzuholen.  Der  Wundarzt 
F.  Bush  (1822)  und  ziemlich  gleichzeitig  Jukes  verwirklichten 
diesen  Gedanken.  Bush  schraubte  in  Fällen  von  Opiumvergiftung  an 
eine  gewöhnliche  Spritze  eine  biegsame  Röhre  aus  Gummi  elasticum 
oder  Leder,  spritzte  erst  Wasser  in  den  Magen  ein  und  zog  nun  den 
Spritzenstempel  auf,  um  das  mit  Wasser  vermischte  Gift  aus  dem 
Magen  „gleichsam  herauf  zu  pumpen".  Noch  im  Laufe  der  zwanziger 
Jahre  des  vergangenen  Jahrhunderts  wurden  dann  von  Ward,  Read. 
Weiss  u.  a.  Magenpumpen  verschiedener  Art  angegeben.  Jukes' 
Apparat  benutzt  Röhren  von  elastischem  Gummi  (27-2  Fuss  lang  und 
^j^  Zoll  im  Durchmesser),  an  deren  Ende  eine  kleine  durchlöcherte 
elfenbeinerne  Kugel  befestigt  war  als  Magensonde,  während  Weiss 
und  Read  nicht  zusammengesetzte  biegsame,  elastische  Röhren,  deren 
Spitze  abgerundet  und  mit  zwei  Seitenöffnungen  versehen  war,  an- 
wendeten. 

Seit  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  bürgerten  sich  dann  haupt- 
sächlich die  Hartkautschuksonden  und  die  englischen  Sonden 
ein,  die  aus  einem  mit  Harzmasse  getränktem  Gewebe  gefertigt  wurden. 
Ewald  und  Oser  benutzten  (1875)  einen  gewöhnlichen  Gummischlauch 
als  Magensonde;  dann  folgten  Gummischlauchsonden  und  immer  neue 
Verbesserungen.  Doppelsonden  wurden  von  Auerbach  und  Bloss 
(1870)  zuerst  bei  Magenkranken  angewandt  und  empfohlen. 

Nachdem  die  Magenpumpe  ursprünglich  nur  in  Fällen  von 
Vergiftung,  namentlich  durch  Opium,  verwendet  w^orden  war,  empfahl 
1842  Lefevre  die  Auspumpung  des  Magens  und  nachfolgende  Aus- 
waschung mit  einem  erweichenden  Dekokt  bei  drohender  Gastrorhexis 
und  1846  riet  Canstatt  die  Magenpumpe  auch  in  der  Therapie  der 
Magenektasie  zur  „öfteren  Entleerung  der  im  Magen  angehäuften 
Flüssigkeiten  zu  benutzen".  Aber  erst  Kussmaul  hat  seit  1869 
(„Behandlung  der  Magenerweiterung  durch  eine  neue  Methode  mittelst 
der  Magenpumpe".  Deutsches  Archiv  für  klinische  Medizin  Bd.  VI, 
S.  455)  die  Magenpumpe  am  Krankenbett  und  in  der  Klinik  einge- 
bürgert und  durch  die  Behandlung  einer  Reihe  von  Magenerweiterungen 
durch  Auspumpung  des  Magens  praktisch  in  die  Therapie  der  Magen- 
krankheiten eingeführt.  Seiner  Initiative  ist  auch  die  weitere  An- 
wendung der  Entleerung  des  Magens  auf  mechanischem  Wege  als 
Heilmittel  bei  anderen  Magenkrankheiten  zu  danken,  so  bei  akutem 
und  chronischem  Magenkatarrh,  bei  Geschwüren  und  Carcinom  des 
Magens,  bei  nervösen  Magenleiden  (wo  Malbranc  1878  die  „Magen- 
douche"  mit  warmem  kohlensauren  Wasser  empfahl)  u.  s.  w. 

Noch  gegen  Ende  der  sechziger  Jahre  gehörte  die  Magen- 
erweiterung namentlich  in  der  schweren  Form,  die  aus  Verengerung 
und  Verschluss  des  Pförtners  hervorgeht,  zu  den  qualvollsten  Leiden. 
„Nur  ausnahmsweise",  sagt  Kussmaul,  ,, erfreuten  wir  uns  in  der 
Behandlung  dieser  furchtbaren  Krankheit  besonderer  Erfolge,  in  der 
Regel  gelang  es  uns  kaum,  den  Hilfesuchenden  Erleichterung,  ge- 
schweige denn  Heilung,  zu  verschaffen."  Die  meisten  derartigen 
Kranken  galten  als  unrettbar  verloren  und  waren  deshalb  in  den 
Krankenhäusern  und  Kliniken  ungern  gesehen.  Auch  Kussmaul 
nahm  am  15.  April  1867  nur  ungern  das  25jährige  Bauernmädchen 
Marie  Wein  er  aus  Heimbach  auf,  das  seit  seinem  11.  Lebensjahre 
magenleidend  war   und  eine  starke  Erweiterung  des  Magens   durch 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blaseu-  und  Geschlechtskrankheiten.  689 

Ulcus  pylori.  Hypertrophie  des  Pförtners  und  chronischen  Katarrh 
des  Magens  hatte,  enorm  abgemagert  war  und  überdies  an  Krampf- 
anfällen litt. 

Ihr  beklagenswerter  Zustand  Hess  in  Kussmaul  den  Gedanken 
aufkommen,  die  Magenpumpe  anzuwenden.  Mit  der  Entfernung  der 
grossen  Massen  zersetzten  sauren  Mageninhalts  musste  das  quälende 
Bannen  und  "Würgen  sofort  aufhören.  Mittelst  der  Pumpe  musste 
es  gelingen,  den  Magen  vollständig  auszuleeren,  ihm  vielleicht  sogar 
die  Fähigkeit,  sich  auf  seinen  kleinsten  Umfang  zusammenzuziehen, 
wieder  zu  verschaiFen.  Mit  der  Entleerung  und  Verkleinerung  des 
Magens  würde  auch  die  mechanische  Verschliessung  des  Pförtners 
sich  heben  lassen.  Endlich  schien  die  Anwendung  der  Magenpumpe 
eine  wirksamere  örtliche  Behandlung  der  kranken  Magenschleimhaut 
zuzulassen,  nicht  nur  die  vollständige  Entfernung  der  scharfen, 
ätzenden  Massen,  sondern  auch  eine  Waschung  und  Reinigung  der 
kranken,  durch  Säure  misshandelten  Schleimhaut  mit  alkalischen 
Flüssigkeiten.  Diesen  Ueberlegungen  folgend,  fing  Kussmaul  an,  am 
22.  Juli  1867  seiner  Patientin  zum  erstenmal  den  Magen  auszu- 
pumpen und  auszuwaschen.  Die  Einführung  der  Magensonde,  das 
Auspumpen  und  Auswaschen  mit  Vichywasser  ging  über  alles  Er- 
warten leicht  von  statten.  Der  unmittelbare  Erfolg  war  ein  über- 
raschend wohlthätiger  und  die  Kranke  war  wie  umgewandelt;  sie 
nahm  in  knapp  6  Monaten  dann  20 — 23  Pfund  zu.  Die  Genesung 
blieb  eine  vollständige,  obwohl  sich  die  Patientin  keineswegs  in  guten 
äusseren  Verhältnissen  befand. 

Die  ersten  Mitteilungen  über  seine  neue  Behandlungsweise  der 
Magenerweiterung  machte  Kussmaul  in  der  ersten  Sitzung  der  Sektion 
füi'  innere  Medizin  auf  der  41.  Versammlung  deutscher  Naturforscher 
und  Aerzte  in  Frankfurt  a.  M.  im  September  1867.  Weitere  Be- 
obachtungen und  Erfahrungen  über  die  inzwischen  zur  Methode  aus- 
gebildete Behandlung  der  Magenerweiterung  enthielt  die  Freiburger 
Prorektoratsrede  Kussmauls  vom  9.  September  1869  und  die  inhalts- 
reiche bekannte  Arbeit  im  6.  Bande  des  ..Deutschen  Archivs  für 
klinische  Medizin"  vom  Jahre  1869:  ..Ueber  die  Behandlung  der 
Magenerweiterung  durch  eine  neue  Methode  mittelst  der  Magen- 
pumpe". 

Neben  der  neuen  Behandlungsmethode  gab  diese  Arbeit  eine 
solche  Fülle  klinischen  Materials  und  so  viele  neue  Gesichtspunkte 
für  die  Pathologie,  Diagnostik  und  Therapie,  dass  sie  zur  Grundlage 
für  die  meisten  späteren  Arbeiten  über  Magenkrankheiten  wui'de. 
Kussmaul  würdigte  hier  neben  der  gutartigen  Verengerung  des 
Pförtners  durch  Geschwüre,  Narben  und  Pylorushypertropliie  und  der 
bösartigen  Verengerung  des  Pförtners  durch  Krebsgeschwülste  schon 
die  einfachen,  nicht  von  Stenose  des  Pylorus  oder  Duodenum  ab- 
hängigen Erweiterungen  des  Magens,  die  durch  Atonie  des  Muscularis 
infolge  von  Belastung  und  Ausdehnung  des  Magens  über  die  Elastizitäts- 
koeffizienten hinaus  bei  Polyphagie  oder  als  paralytische  Schwäche 
in  der  Rekonvaleszenz  nach  erschöpfenden  Krankheiten,  z.  B.  Typhus, 
oder  bei  nervös-anämischen  Zuständen  sich  ausgebildet  hatten,  ferner 
die  Parese  der  Magen muskulatur  infolge  fettiger  und  kolloider  Ent- 
artung der  Muskelfasern.  Auch  bestimmten  mechanischen  Momenten 
"wird  nachgegangen,  die  mitunter  zu  Lebzeiten  Sj'mptome  gänzlichen 
Pylorusverschlusses  veranlassen,    während   sich   an  der  Leiche   noch 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  44 


690  Georg  Korn. 

bequem  der  kleine  Finger  durch  den  verengten  Piörtner  in  das 
Duodenum  bringen  lässt.  Dabei  wird  auf  das  Herabsinken  des  bei 
Magenerweiterungen  am  meisten  ausgebuchteten  und  belasteten  Pylorus- 
teils  des  Magens,  auf  die  Ausbildung  der  fötalen  (Vertikal-)  Stellung 
des  Magens  verwiesen,  auch  an  die  Möglichkeit  eines  reflektorischen 
tonischen  Krampfes  des  hypertrophischen  Pylorus  gedacht,  der  infolge 
der  Eeizung  der  sensiblen  Nerven  der  Pförtnergegend  durch  die  von 
einer  gesteigerten  Peristaltik  gegen  den  Pförtner  angetriebenen 
scharfen  Massen  zu  höheren  Graden  anwächst. 

Dass  diese  stärkere  Keizung  der  Magenschleimhaut  durch  stag- 
nierenden Mageninhalt  reflektorisch  auch  eine  gesteigerte,  sogar  kon- 
tinuierliche Absonderung  von  Flüssigkeit  hervorruft,  entzog  sich  noch 
damals  Kussmauls  Kenntnis ;  den  exakten  Nachweis  hierfür  erbrachte 
erst  V.  Mering  1893  auf  dem  Wege  des  Experiments.  Dagegen  er- 
kannte Kussmaul  die  Bedeutung  der  starken  und  oft  schnellen  Wasser- 
verluste bei  manchen  Magenerweiterungen;  die  von  ihm  zuerst  be- 
schriebenen tonischen  Muskelkrämpfe  (die  sog.  Magentetanie)  fasste 
er  als  Folgen  der  raschen  Eindickung  des  Blutes  und  Austrocknung 
von  Nerv  und  Muskel  auf  und  legte  auch  damals  schon  grossen  Wert 
auf  die  Zufuhr  von  Flüssigkeit  in  Form  von  Fleischbrüh -Wein- 
klystieren,  die  im  Darme  zur  Aufsaugung  gelangten  und  wohlthätig 
wirkten.  Kussmaul  fand  ferner,  dass  der  erweiterte  Magen,  der 
grössere  Mahlzeiten  nicht  mehr  auszutreiben  vermag,  doch  im  stände 
ist,  kleine,  in  bestimmten  Abständen  verabreichte  Portionen  in  den 
Darm  weiterzuschieben,  und  gab  die  Verordnung,  den  herabgesunkenen 
und  erweiterten  Magen  durch  eine  hypogastrische  Binde  zu  stützen. 

Kussmaul  lehrte  ferner  die  Kranken,  sich  selbst  die  Schlund- 
sonde einzuführen  und  den  Magen  auszuspülen;  so  griff  ein  Schwarz- 
wälder Wollspinner,  der  keineswegs  streng  Diät  hielt,  bei  Beschwerden 
oft  zweimal  zur  Pumpe  und  spülte  sich  den  Magen  rein,  und  gedieh 
dabei  trotz  seiner  Diätsünden. 

Kussmaul  benutzte  die  Magenpumpe  auch  zu  Spülungen  der 
kranken  Magenschleimhaut,  zunächst  mit  alkalischen  Wässern.  Die 
Grenzen  der  Behandlungsmethode  gab  er  selbst  an.  Er  vermochte 
Magenerweiterungen  zu  heilen,  wenn  keine  oder  nur  eine  massige 
Verengerung  des  Pylorus  oder  Duodenum  vorlag.  Keine  Heilung, 
nur  Erleichterung  konnten  die  Magenspülungen  aber  gewähren  bei 
krebsiger  Pylorusverengerung,  bei  sehr  bedeutender  narbiger  Ver- 
engerung des  Pförtners  und  bei  massiger  Verengerung,  wenn  die 
Magenwand  infolge  chronischer  Gastritis  vorgeschrittene,  einer  Eück- 
bildung  nicht  mehr  fähige  Entartungen  erlitten  hat.  Auch  für  die 
in  jener  Zeit  (1869)  für  unheilbar  geltenden  Fälle  war  doch  die 
Magenspülung  ein  Mittel,  das  frühzeitig  angewendet,  jedenfalls  das 
Leben  beträchtlich  zu  verlängern  und  wesentlich  besser  zu  gestalten 
im  Stande  war.  (Vgl.  W.  F leiner  in  der  Festschrift  für  Kussmaul, 
Deutsches  Archiv  für  klinische  Medizin,  Band  73,  Leipzig  1902.) 

Im  Zusammenhange  mit  der  neuen  Methode  zur  Behandlung  der 
Magenerweiterung  stehen  Kussmauls  Versuche,  die  Speiseröhre  und 
selbst  das  Innere  des  Magens  zu  spiegeln.  Er  führte  im  Jahre  1868 
die  erste  direkte  Oesophagoskopie  mit  Erfolg  durch,  und  die  Magen- 
spiegelung gelang  ihm  an  einem  herumreisenden  Schwertschlucker 
so  gut,  dass  er  sie  in  der  Klinik  und  am  21.  Juli  1868  der  natur- 
forschenden Versammlung  zu  Freiburg  demonstrieren  konnte. 


Verdauungsapparat,  Harn-.  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  691 

In  das  von  ihm  erschlossene  Gehiet  der  Magenpathologie  kehrte 
Kussmaul  1880  zurück  mit  einem  klinischen  Vortrage  über  „Die 
peristaltische  Unruhe  des  Magens  nebst  Bemerkungen  über  Tiefstand 
und  Erweiterung  desselben,  das  Klatschgeräusch  und  Galle  im  Magen". 
InzTsischen  hatte  man  durch  chemische  und  physiologische,  auch 
bakteriologische  Untersuchung  des  Mageninhalts  wichtige  Einblicke 
in  die  normalen  und  krankhaften  Verdauungsvorgänge  gewonnen  und 
gelernt,  den  Ueberschuss  und  den  Mangel  der  Salzsäure  im  Magen- 
saft diagnostisch  und  prognostisch  zu  verwerten.  Die  motorischen 
Funktionen  des  Magens  aber  und  die  Störungen,  die  sie  durch  Ki-ank- 
heiten  erleiden,  waren  noch  ein  dunkles  Gebiet  der  Medizin,  nur 
durch  Tierexperimente  einigermassen  erhellt.  Kussmaul  zeigte  in 
diesem  Vortrage  neue  Krankheitserscheinungen,  bisher  unbeachtete 
Störungen  der  motorischen  Funktionen,  Form-  und  Lageanomalien 
des  Magens. 

In  allen  Fällen  von  Magenerweiterung  bei  verengertem  Pylorus 
ist  die  von  Kussmaul  geschilderte  peristaltische  Unruhe  nichts  als 
der  Ausdruck  und  die  Wirkung  einer  grob  mechanischen  Störung. 
Aber  auch  ohne  solche  kann  die  peristaltische  Unruhe  des  Magens  in- 
folge einer  krankhaft  gesteigerten  Erregbarkeit  des  peristaltischen 
Nerven apparates  als  Motilitätsneurose  auftreten.  Der  Tiefstand  des 
Magens  mit  subvertikaler  Stellung,  die  Plätschergeräusche,  die  Gegen- 
wart von  Galle  im  nüchternen  Magen  u.  s.  w.  stellte  Kussmaul  hier 
in  ihrer  diagnostischen  und  pathologischen  Bedeutung  fest.  (Vgl. 
W.  Fleiner,  1.  c.  S.  19.) 

Statt  der  Pumpe  wurde  schon  1823  von  Sommerville,  und 
dann  1870  nach  Kussmauls  Veröffentlichung  von  Th.  Jürgensen 
und  anderen  einfachere  Hebevorrichtung  zur  Entleerung  des  Magen- 
inhalts empfohlen  und  diese  Methode  der  „Magenausspülung"  bürgerte 
sich  bald  in  der  Praxis  ein,  vielfach  an  Stelle  der  Auspumpung. 

Die  Elektrisierung  des  Magens  mittelst  der  Sonde  empfahl  zuerst 
Canstatt  1846,  aber  erst  Duchenne  verwirklichte  sie  im  Anfang 
der  fünfziger  Jahre  unter  Anwendung  von  Faradisation,  doch  wurde 
in  der  Folge  nach  seinen  wenig  günstigen  Erfahrungen  der  Magen 
meist  von  aussen  her  elektrisiert.  Kussmaul  berichtete  dann  1877 
über  seine  Erfolge  mit  der  inneren  Faradisation  des  Magens  bei 
Kranken  mit  Magenerweiterung  und  hartnäckiger  Obstipation. 

Die  Magensoude  errang  sich  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte 
des  19.  Jahrhunderts  auf  vielen  Gebieten  eine  "vsdchtige  Stellung, 
namentlich  zur  künstlichen  Ernährung  der  Kranken,  zur  allmählichen 
Erweiterung  der  Stenosen  der  Cardiagegend,  zur  Prüfung  des  physio- 
logischen und  pathologischen  ^lageninhalts  und  zur  Diagnose  der  ver- 
schiedenen Krankheiten  des  Magens,  die  sich  immer  weiter  vervoll- 
kommnete. 

Im  letzten  Menschenalter  lag  der  Schwerpunkt  in  der  patho- 
logischen Erforschung  der  Magenkrankheiten  weniger  auf  dem  patho- 
logisch-anatomischen Befund,  als  auf  der  Erkenntnis  der  physiologischen 
Funktionsstörungen,  an  die  das  therapeutische  Vorgehen  anknüpft. 
Das  verfeinerte  Studium  der  physiologischen  Funktionsstörungen, 
deren  genaue  Feststellung  erzielt  und  erreicht  wurde,  ist  für  den 
heutigen  Stand  der  Lehre  von  den  Magenkrankheiten  charakteristisch. 

Nachdem  Kussmaul  1869  die  Sonde  und  Magenpumpe  in  die 
Behandlung  eingeführt  hatte,  war  es  das  bleibende  Verdienst  Leubes 

44* 


692  Georg  Korn. 

(1871),  zuerst  die  Magensonde  zu  diagnostischen  Zwecken  verwendet 
zu  haben.  Durch  die  Sonde  suchte  Leube  zweierlei  zu  erreichen, 
einesteils  die  zeitliche  Dauer  der  Verdauung,  andererseits  die  Stärke 
der  Saftsekretion  festzustellen.  Leubes  Methode  der  Prüfung  der 
zeitlichen  Dauer  der  Digestion  ist  auch  heute  noch  allgemein  üblich, 
dagegen  ergab  seine  Methode  zur  Prüfung  der  Stärke  der  Saft- 
sekretion, weil  am  nüchternen  Magen  angestellt,  keine  entscheidenden 
Eesultate.  Der  Vorschlag  Leubes,  die  Sonde  auch  zu  diagnostischen 
Zwecken  zu  verwenden,  blieb  lange  Zeit  gänzlich  unbeachtet. 

Einen  neuen  Anstoss  gab  erst  die  im  Jahre  1879  aus  Kussmauls 
Klinik  erschienene  Arbeit  v.  d.  Veldens.  Er  untersuchte  mit  ge- 
wissen Farbstoifreagentien,  die  eine  deutliche  Eeaktion  mit  Salzsäure 
geben,  den  Mageninhalt  einer  Eeihe  von  Kranken  mit  Magenerweite- 
rung und  fand  dabei,  dass  der  Mageninhalt  in  der  einen  Reihe  von 
Fällen  mit  diesen  Farbstoffen  Salzsäurereaktionen  gab,  in  einer 
anderen  nicht,  und  zwar  fand  er  letzteres  Verhalten  bei  den  carcino- 
matösen  Ektasien,  während  bei  den  nicht  carcinomatösen  Ektasien 
die  Reaktionen  positiv  ausfielen.  Aus  diesem  Fehlen  der  Farbstoff- 
reaktionen bei  carcinomatösen  Ektasien  schloss  v.  d.  Velde.n,  dass 
hier  überhaupt  keine  Salzsäure  abgesondert  werde. 

Riegel  bestätigte  diese  Resultate  im  wesentlichen  und  dehnte 
die  Untersuchung  des  Mageninhalts  auf  alle  hartnäckigen  Magen- 
krankheiten überhaupt  aus.  Um  aber  vergleichbare  Werte  zu  erhalten, 
empfahl  er  den  ausgeheberten  Mageninhalt  auf  der  Höhe  der  Ver- 
dauung, nach  Einführung  einer  stets  in  gleicher  Weise  zusammen- 
gesetzten Probemahlzeit,  auf  seinen  Verdauungszustand,  auf  sein  Ver- 
halten gegen  diese  Farbstoffreageutien,  sowie  auf  seine  etwa  noch 
vorhandene  Verdauungskraft  zu  untersuchen. 

Später  erfolgten  weitere  Vorschläge  in  anderer  Weise  zusammen- 
gesetzter Probemaillzeiten,  so  von  Haworski,  Boas  und  Ewald, 
Klemperer,  See  u.  a.  Unter  allen  Methoden  hat  sich  die  von 
Riegel  empfohlene  Probemittagsmahlzeit  und  das  Ewald-Boassche 
Probefrühstück  am  meisten  eingebürgert. 

Bald  ergab  sich,  dass  der  negative  Ausfall  der  Farbestoff- 
reaktionen keineswegs  allein  dem  Pyloruscarcinom  zukommt.  Schon 
1880  wies  Edinger  nach,  dass  auch  in  Fällen  von  amyloider 
Degeneration  der  Magenschleimhaut  die  Farbstoffreaktionen  negativ 
ausgefallen  waren,  d.  h.  die  freie  Salzsäure  gefehlt  hatte.  Das  Gleiche 
zeigte  sich  bei  Magenverätzung.  Damit  war  erwiesen,  dass  dieses 
Fehlen  der  reinen  Salzsäure  kein  absolut  pathognomonisches  Symptom 
des  Magencarcinoms  ist. 

In  die  nächste  Zeit  fällt  das  eifrige  Bestreben,  neue  Farbstoff- 
reagentien  zum  Nachweis  der  Salzsäure  im  Mageninhalt  aufzufinden, 
die  meist  wieder  der  Vergessenheit  anheimgefallen  sind.  Nur  ein  aus 
früherer  Periode  stammendes  Reagens  behauptete  seinen  Platz,  das 
Uf  fei  mann  sehe  Reagens  (Mischung  von  Eisenchlorid  und  Karbol- 
säure) zum  Nachweis  der  Milchsäure.  Aus  späterer  Zeit  stammen  das 
bald  eingebürgerte  Congorot  (1886)  und  Phloroglucinvanillin  (1887). 

Bedroht  wurden  die  bisherigen  Ergebnisse  in  der  Salzsäurefrage 
durch  die  Arbeit  von  Cahn  und  v.  Mering  (1886).  Es  gelang  diesen 
nämlich  durch  ein  besonderes  Verfahren,  in  ausgeheberten  Massen, 
die  keine  Farbstoffreaktionen  gaben,  dennoch  Salzsäure  nachzuweisen. 
Sie  verwarfen   daher  die  Farbstoffreageutien  und  behaupteten,   dass 


^ 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  693 

in  solchen  carcinomatösen  Magensäften  nicht  das  Fehlen,  sondern  das 
Vorhandensein  von  Salzsäure  die  Eegel  sei. 

Die  Nachprüfungen  Honigmanns  und  v.  Xoordens  klärten 
dann  die  Salzsäurefrage  auf.  Durch  ihre  Untersuchungen  wurde  nicht 
nur  das  Ausbleiben  der  Eeaktionen  beim  Carcinom  erklärt,  sondern 
dem  Beginffe  der  freien  Salzsäure  neuer  Inhalt  gegeben.  Ein  Magen- 
saft, der  die  Salzsäurereaktionen  giebt,  hat  seine  Schuldigkeit  ge- 
than,  denn  er  hat  freie  oder  überschüssige  Salzsäure.  Umgekehrt 
musste  da,  wo  keine  freie  Salzsäure  sich  fand,  wo  die  Farbstoff- 
reaktionen negativ  ausfielen,  die  Menge  des  Verdauungssekretes  eine 
ungenügende  sein.  Damit  waren  die  Farbstoffreagentien,  die  auf  freie 
Säure  oder  Salzsäure  reagieren,  wieder  anerkannt. 

Bald  schritt  man  nun  zu  einer  quantitativen  Säurebestimmung, 
man  ermittelte  die  Gesamtacidität,  und  unterschied  normalen  Chemis- 
mus, Superacidität  und  Subacidität.  Das  Suchen  nach  möglichst 
exakten  Methoden  für  die  quantitative  Bestimmung  beschäftigte  die 
Forschung  eine  Eeihe  von  Jahren,  und  zahlreiche  Methoden  der  Salz- 
säurebestimmung wurden  im  Laufe  der  Zeiten  angegeben,  geübt  und 
wieder  verlassen. 

Stand  die  Salzsäurefrage  so  lange  Zeit  hindurch  im  Vordergrunde 
der  Magenpathologie,  so  machte  sich  doch  in  neuerer  Zeit  immer 
mehr  das  Bestreben  geltend,  auch  nach  anderen  Seiten  hin  die  Ein- 
sicht in  das  Wesen  der  einzelnen  Magenkrankheiten  zu  vertiefen.  In 
jüngster  Zeit  wurden  namentlich  die  Störungen  der  Motilität,  der 
Resorption,  die  Bedeutung  der  Gasbildung,  der  Gasgärungen  u.  s.  w. 
Gegenstand  eifriger  Forschungen,  die  Prüfung  der  motorischen  Thätig- 
keit  des  Magens,  für  die  zuerst  Leube  eine  Methode  angab,  wurde 
durch  die  Oelmethode  von  Klemperer  (1888),  die  Salolmethode  von 
Ewald  und  Sievers  (1887),  den  Gastrograph  von  Einhorn  (1894) 
weiter  ausgebildet.  Zur  Magenspülung  gesellten  sich  in  der  Therapie 
]^Iagendouche  und  Massage  des  Magens,  die  Ernährungstherapie  er- 
freute sich  besonderer  Pflege,  ebenso  die  anderen  physikalisch-diäte- 
tischen Methoden.  Viele  Krankheitsformen,  die  früher  ihrem  Wesen 
und  dem  Zusammenhang  ihrer  Erscheinungen  nach  unzugänglich 
schienen,  können  jetzt  geheilt  oder  doch  gelindert  werden,  namentlich 
auch  durch  die  Mitwirkung  der  Chirurgie  auf  manchen  Gebieten. 

In  der  Therapie  des  Magengeschwürs  spiegelt  sich  die  ge- 
schichtliche Entwicklung  der  Pathologie  und  Therapie  der  Magen- 
krankheiten in  der  Neuzeit  anschaulich  wieder.  Eine  der  wichtigsten 
Erscheinungen  des  Magengeschwürs  beschreibt  schon  Hippokrates 
als  eine  besondere  Krankheit;  Morbus  niger  und  sphacelosartige 
Krankheit  nannte  er  sie,  weil  die  schwarzen  ^fassen  in  Form  von 
Klumpen  erbrochen  wurden  oder  nach  unten  abgingen.  Allerdings 
können  auch  andere  Zustände  ein  ähnliches  Kraiikheitsbild  herbei- 
führen, aber  manche  Züge  des  ^forbus  niger  des  Hippokrates  sind 
charakteristisch  für  das  ^iagengeschwür  und  seine  diätetischen  Regeln 
haben  eine  für  alle  Zeiten  giltige  Grundlage  für  die  Behandlung  des 
Magengeschwürs  gegeben. 

Hippokrates  bezeichnete  die  beim  Morbus  niger  nach  oben  und 
unten  entleerten  Massen  als  schwarze  Galle,  Atra  bilis.  Diese 
Bezeichnung  erhielt  sich,  bis  Fr.  Hoffmann  in  Halle  1740  für 
manche  Fälle  nachwies,  dass  der  Sitz  und  die  Quelle  des  Morbus  niger 
der  klagen  sei.    „Dort  liefern  die  Gefässe,  welche  gleichzeitig  mit  der 


694  Georg  Korn. 

Zerstörung  der  Substanz  des  Magens  eröffnet  werden  oder  aufbrechen, 
das  Blut,  welches  durch  Erbrechen  ausgeworfen  wird,  —  ]\[an  muss 
annehmen,  dass  die  Gefässe  durch  saure,  ätzende  Säfte  angefressen 
wurden,  wenn  dem  Erbrechen  ein  scharfer  Magenschmerz  voraus- 
gegangen und  wenn  die  durch  Erbrechen  entleerte  blutige  Masse 
schwarz  und  sauer  zugleich  ist,  die  Zähne  stumpf  macht  und  Schlund 
und  Mund  anätzt." 

Morgagni  schloss  sich  der  einfachen  Erklärung  von  Fr.  Hoff- 
mann nicht  an;  er  nahm  eine  Art  von  Gangrän  im  Magen  an  und 
glaubte,  die  Leute,  welche  an  Morbus  niger  zu  Grunde  gehen,  stürben 
nicht  etwa  am  Blutverlust,  sondern  an  einer  Art  von  Vergiftung  des 
Blutes,  welche  das  Gehirn  infizierte,  etwa  wie  Leute,  die  an  Gangrän 
sterben.  Er  bleibt  bei  der  Eigenartigkeit  der  Atra  bilis  Hippocratis 
stehen.  Morgagni  erwähnt  auch  das  Erbrechen  von  chokoladefarbenen 
Massen  und  lauchgrüner  Flüssigkeit  in  grossen  Mengen  und  schildert 
in  der  Krankengeschichte  eines  deutschen  Edelmanns  in  Bologna  die 
Zustände  der  kontinuierlichen  Saftsekretion,  die  unter  den  Erschei- 
nungen der  gastrischen  Tetanie  in  kurzer  Zeit  den  Tod  des  Kranken 
herbeiführte. 

Von  Hoffmanns  Mitteln  sind  einige  Vorbilder  moderner  Methoden, 
so  die  mit  Stärke  gekochte  Milch,  die  kleisterartig  die  klaffenden 
Gefässe  schliessen  soll,  für  Carnots  lokale  Gelatineapplikation,  sein 
Rhabarberpulver  mit  Krebssteinpulver  (kohlensaurem  Kalk)  gemischt 
für  die  beliebten  Mischungen  von  Ehabarber  mit  Alkalien,  das 
Leubesche  und  das  Siegeische  Pulver  u.  s.  w. 

Die  Bezeichnung  „Ulcus  ventriculi"  findet  sich  zuerst  bei 
Johann  Peter  Frank;  von  ihm  stammt  auch  die  Verordnung  ab- 
soluter Euhe  (summa  quies  corporis  imperanda),  die  Applikation  von 
Schnee  oder  gestossenem  Eise  auf  den  Magen  und  die  Anwendung 
von  kleinen,  aber  häufigen  Portionen  von  Milch  oder  von  Fleisch- 
brühe, die  er  mit  Blättern  von  Rumex  acetosa  abkochen  liess  und 
endlich  Verwendung  des  Serum  lactis  albuminatum  als  Blutstillungs- 
mittel. 

Aber  erst  Cruveilhier  verbreitete  genauere  Kenntnisse  von 
der  Pathologie  des  Magengeschwürs;  er  bildete  zumeist  in  seiner 
Anatomie  pathologique  du  corps  humain  Magengeschwüre  ab  und  be- 
schrieb zum  erstenmal  das  Ulcus  simplex  chronicum.  Die  beliebten 
Brechkuren  wurden  seit  seinen  Aufklarungen  mit  einem  Schlage  be- 
seitigt. Auch  die  Therapie  dieses  Leidens  leitete  er  durch  systematische 
Anwendung  der  Milchdiät,  Fernhalten  aller  Medikamente  und  metho- 
disches Individualisieren  in  der  Diät.  Vor  allem  empfahl  er  Ruhe: 
„Le  repos  pour  l'estomac,  c'est  la  diete". 

Fast  das  gesamte  über  die  Krankheiten  des  Magens  bis  zum  Ende 
der  fünfziger  Jahre  bekannt  gewordene  Material  fasste  dann  W  i  1 1  i  a  m 
Brinton  in  seinen  im  St.  Thomas-Hospital  gehaltenen  Vorlesungen 
zusammen.  Auf  den  Lehren  der  Verdauungsphysiologie  begründete  er 
sein  diätetisches  Sj^stem  als  beste  Behandlungsmethode.  Er  nahm 
schon  in  den  fünfziger  Jahren  an,  was  erst  viel  später  durch  Pawlow 
und  dessen  Schule  bewiesen  wurde,  dass  Menge  und  Art  der  Nahrung 
die  Sekretion  des  Magensaftes  beeinflusst,  und  zog  aus  dieser,  der 
klinischen  Erfahrung  entnommenen  Erscheinung  therapeutisclien 
Nutzen. 

Der  französische  Kliniker  Trousseau   empfahl  Bismutum   sub- 


Terdauungsapparat.  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  695 

nitricum  in  der  Behandlung  des  Magengeschwürs.  Nicht  lange  nach 
dem  Erscheinen  des  Trousseauschen  ..Clinique  medicale",  am  Ende  der 
sechziger  Jahre,  kamen  Kussmauls  erste  Mitteilungen  über  seine 
neue  Behandlung  der  Magenerweiterung  mittelst  der  Magenpumpe, 
welche  die  gesamte  Therapie  der  Magenkrankheiten  mächtig  förderte. 
Erst  die  chemisch-phj'siologische  Untersuchung  des  nach  Kussmauls 
Vorgange  zunächst  aus  krankem  und  dann  auch  aus  gesundem  Magen 
entnommenen  Inhaltes  gab  richtige  Vorstellungen  A'on  den  normalen 
und  krankhhaften  Vorgängen  im  Magen.  Kussmaul  empfahl  die 
Wismutbehandlung  der  Geschwüre ;  mit  Hilfe  der  Magensonde  brachte 
er  grosse  Giengen  des  altbewährten  Bismutum  subnitricum  dergestalt 
in  die  erkrankte  Kegion  des  Magens,  dass  dort  die  zu  Eeizerscheinungen 
Anlass  gebende  Stelle  mit  einer  Schutzdecke  von  Wismut  überlagert 
und  von  der  Berührung  mit  dem  Mageninhalte  abgeschlossen  wird. 

Die  Verengerungen  des  Magenausganges  und  die  von 
diesen  abhängige  Magener  Weiterung,  die  häufigsten  und  wich- 
tigsten Folgen  von  Geschwürsnarben,  galten  noch  vor  wenigen  Jahr- 
zehnten als  unheilbar  und  unsäglich  qualvoll.  Seit  Kussmauls  ^lethode 
der  Magenspülungen  wurden  sie  in  ihren  Erscheinungen  gemildert 
und  nicht  selten  geheilt.  Trotz  der  glänzenden  Erfolge  seiner  Be- 
handlungsmethode erkannte  Kussmaul  doch,  dass  man  durch  Magen- 
spülungen Magenerweiterungen  nur  zu  heilen  vermag,  wenn  keine 
oder  nur  eine  massige  Verengerung  des  Pförtners  oder  des  Duodenum 
vorliegt.  Er  hielt  hier  als  erster  die  Hilfe  des  Chirurgen  für  nötig 
und  sein  Gedanke  hat  vielleicht  erst  seinen  Freund  Billroth  ange- 
regt, den  Magen  auf  operativem  Wege  in  Angriff  zu  nehmen.  Ebenso 
forderte  Kussmaul  auch  bei  Perforation  des  Magens,  schon  in  einer 
Zeit,  wo  Magenoperationen  noch  nicht  ausgeführt  wurden  —  die  erste 
Operation  führte  1881  Rydygier  aus  —  die  Hilfe  des  Chirurgen  da, 
wo  die  internen  Mittel  versagten.  In  einer  Strassburger  Dissertation 
(von  P.  Koch)  aus  dem  Jahre  1880  wird  nämlich  als  Kussmauls 
Ueberzeugung  ausgesprochen,  dass  man  dahin  kommen  wird,  in  an- 
scheinend verlorenen  Fällen  noch  günstige  Bedingungen  für  die 
Heilung  zu  schaffen  ..durch  Eröffnung  der  Bauchhöhle,  Auswaschung 
der  verderblichen  Massen  und  regelrechte  Naht  der  Perforationsstelle, 
nachdem  man  sie  vielleicht  in  eine  in  normalem  Gewebe  gelegene 
Schnittwunde  umgewandelt  hat". 

Auf  der  durch  Kussmaul  gewonnenen  Grundlage  beruht  die  von 
Ziemssen  (1871)  eingeführte  Behandlung  des  Magengeschwürs, 
welche  die  Neutralisation  der  Magensäure,  die  Beseitigung  der  sauren 
Gärung  des  Mageninhaltes  und  die  tägliche  regelmässige  Entleerung 
des  gesamten  Mageninhaltes  in  den  Darm  als  wichtigste  Indikationen 
aufstellte.  Karlsbader  Kur,  strenge  Diät  und  symptomatische  An- 
wendung des  Morphiums  waren  die  Hauptmittel  der  Therapie. 

Auf  ähnlichen  Grundsätzen  baute  W.  Leube  (seit  1873)  seine 
Kur  auf.  Keine  bessere  Diät  fand  er  (gleich  Cruveilhier),  als  Ruhe. 
Strenge  Bettruhe  leitet  die  Kur  deshalb  ein,  das  Karlsbader  Salz  be- 
hielt er  bei  und  führte  in  die  Geschwürsdiät  die  Fleischsolution 
als  ein  wirkungsvolles  Präparat  ein.  Weiteren  Ausbau  erhielt  die 
Lehre  vom  Magengeschwüre  dann  in  neuester  Zeit  u.  a.  durch  Ewald, 
Boas,  Rosenheim,  Riegel,  Penzoldt,  v.  Mering  und  W. 
Fl  ein  er.  (Vgl.  W.  Fleiner,  Die  Behandlung  des  Magengeschwürs, 
München,  Med.  Wochenschrift  1902.  No.  22—24.) 


696  Georg  Korn. 

In  der  Zeit  der  Antisepsis  und  Asepsis  wurde  auch  die  Chirurgie 
mehr  und  mehr  in  schweren  Fällen  von  Magenerkrankungen  zur 
rettenden  Helferin  der  inneren  Medizin,  wo  deren  Mittel  versagten. 

Chirurgische  Eingrilfe  in  den  Magen  sind  schon  lange  vor 
der  antiseptischen  Zeit  vereinzelt  vorgekommen;  sie  richteten  sich 
gegen  Fremdkörper,  die  von  aussen  fühlbar  waren  und  ausgeschnitten 
wurden.  Florian  Mathis  (1602),  ein  Bader  in  Prag,  und  Daniel 
Schwabe  (1635),  ein  Bader  in  Königsberg,  sollen  auf  diese  Weise 
zum  erstenmal  verschluckte  Messer  entfernt  haben.  In  dringenden 
Fällen  wurden  solche  Operationen  auch  später  des  öfteren  vorge- 
nommen. 

Den  Gedanken,  den  krankhaft  entarteten  Pylorusteil  des  Magens 
wegzunehmen,  führte  bereits  1810  Merrem  in  einer  Dissertation 
aus.  Er  suchte  die  Möglichkeit  der  Pylorusresektion  durch  Experimente 
an  drei  Hunden  darzulegen,  die  jedoch  ungünstig  verliefen.  Merrems 
Vorschläge  wurden  damals  wenig  ernst  genommen  und  kaum  be- 
achtet; noch  1825  bezeichnete  sie  Seh  reger  ausdrücklich  als  einen 
Traum, 

Im  Jahre  1837  empfahl  der  norwegische  Arzt  Egeberg,  durch 
den  traurigen  Zustand  von  Patienten  mit  unheilbarer  Speiseröhren- 
verengerung veranlasst,  für  deren  Ernährung  die  Anlegung  einer 
Magenfistel.  Zwar  legten  schon  bald  nachher  die  Physiologen  bei 
Tieren  zum  Studium  der  Verdauuungsvorgänge  Magenfisteln  an,  aber 
erst  1849  führte  Sedillot  in  Strassburg  Eggebergs  Vorschlag  aus 
und  die  Magenfistelbildung  zur  direkten  Zufuhr  von  Speisen  blieb 
seitdem  in  Uebung.  In  neuester  Zeit  erfuhr  sie  wesentliche  Ver- 
besserungen. 

Die  Excision  des  Magencarcinoms  wagte  zuerst  Pean  in  Paris 
1879,  dann  1880  Rydygier  in  Kulm.  Inzwischen  hatten  seit  1874, 
vielleicht  angeregt  durch  Kussmaul,  Billroth  und  seine  Schüler 
(Gussenbauer,  Winiwarter,  Czerny)  den  Gedanken  kranke 
Magenteile  zu  resezieren,  durch  experimentelle  und  statistische  Unter- 
suchungen, auch  der  Sektionsprotokolle  bei  Magencarcinom,  verfolgt 
und  vorbereitet.  Im  Jahre  1881  unternahm  dann  Billroth  die  Operation, 
die  erste  mit  glücklichem  Erfolge.  Die  Magenoperationen  wurden 
dann  durch  seine  Schüler  Wölfler  (1881)  und  v.  Hacker,  welche 
Pylorusstenosen  durch  Bildung  einer  Anastomose  zwischen  Magen  und 
Jejunum  umgingen,  durch  Mikulicz  (1887)  u.  a.  weiter  aus- 
gebildet. 

Auch  auf  den  Gebieten  der  Pathologie  und  Therapie  der  Leber- 
und  Gallenkrankheiten,  der  Erkrankungen  der  Bauchspeichel- 
drüse, den  Leiden  des  Darmes  und  der  Blase,  der  Harnröhren 
und  der  Nieren  machten  sich  im  Laufe  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts, namentlich  gegen  dessen  Ende  hin,  ähnliche  Verhältnisse 
vielfach  geltend,  wie  bei  den  Magenkrankheiten.  Insbesondere  gilt 
dies  von  der  Verfeinerung  der  Diagnostik  und  dem  Aufschwung  der 
Therapie  durch  Einführung  neuer  oder  verbesserter  und  umgestalteter 
mechanisch-physikalischer  Hilfsmittel  und  dem  immer  weiter  aus- 
gedehnten Vordringen  der  Chirurgie  im  Gebiete  der  inneren  Medizin, 
die  ihr  früher  als  unnahbar  gelten  mussten.  Auch  die  Erkenntnis, 
dass  häufig  Mikroorganismen  als  Infektionsträger  ätiologisch  eine 
bisher  ungeahnte  Rolle  spielen,  wurde  in  der  Epoche  der  modernen 
Bakteriologie  auf  allen  diesen  Gebieten  zum  Gemeingut.    Ein  Blick 


"Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  697 

auf  die  Entwicklung  der  Pathologie  bei  einzelnen  Leiden  aus  diesen 
Gebieten  wird  dies  des  näheren  erweisen. 

S.  Th.  Sömmering  konnte  schon  im  Jahre  1795  in  seiner 
Schrift  ..De  concrementis  biliariis  corporis  humani"  213  Autoren 
citieren.  die  über  Gallenstein  geschrieben  hatten,  dazu  15  Werke 
mit  Abbildungen.  Aber  grosse  Fortschritte  sind  in  der  Erkenntnis 
wesentlich  erst  in  jüngster  Zeit  und  namentlich  durch  Naunyns 
grundlegende  Arbeiten  zu  verzeichnen.  Naunvn  sagte  in  Paris  1900: 
..Die  Lehre  von  der  Cholelithiasis  hat  in  diesem  letzten  Jahrzehnte 
eine  vollständige  Umgestaltung  erfahren.  Aetiologie  und  Pathogenese 
werden  gegenwärtig  von  der  Infektion  beherrscht  und  von  dieser 
getragen  strebt  in  der  Therapie  die  Chirurgie  nach  der  Alleinherr- 
schaft." Nachdem  es  gelungen  war,  durch  künstliche  Infektion  der 
Gallenblase  Steinbildung  hervorzurufen,  erschienen  Zweifel  am  bak- 
teriellen Ursprünge  der  Gallensteine  kaum  noch  gerechtfertigt.  Zu 
berücksichtigen  war  allerdings,  dass  experimentell  Vorbedingungen 
geschaffen  werden  mussten,  wie  sie  beim  Menschen  nicht  existieren. 

Einfache  Einspritzung  von  Infektionsträgern  in  die  Gallenblase 
führte  zu  negativen  Resultaten,  die  Tiere  wurden  dadurch  nicht  lokal 
infiziert,  viel  weniger  bekamen  sie  Steine.  Will  man  letztere  hervor- 
rufen, so  muss  nach  Mignot  (1898)  die  Kontraktilität  der  Gallen- 
blase aufgehoben,  sondern  dürfen  nur  Bakterien  mit  abgeschwächter 
Virulenz  eingespritzt  werden.  Die  verschiedensten  Infektionsträger 
wurden  von  ihm  wie  von  Miyake  (1900 1  mit  positivem  Eesultate 
einverleibt. 

Diese  Experimente  bestätigten  allgemein  gehegte  Anschauungen. 
Dass  Steine  in  einer  ganz  intakten  Gallenblase  entständen,  glaubte 
wohl  niemand.  Der  Katarrh  der  Galle  wird  wahi^scheinlich  durch 
Mikroorganismen  angeregt,  so  dass  die  Einzelheiten  der  Steinbildung 
auf  diese  zurückführen.  Eine  gewisse  Disposition  zur  Steinbüdung 
muss  dabei  vorhanden  sein. 

Welch  grosser  Umwege  es  bedurft  hat,  die  Pathologie  der  Gallen- 
steinkrankheit auf  die  heutige  Höhe  der  Forschung  zu  führen,  lehrt 
ein  historischer  Rückblick  auf  die  Geschichte  der  Cholelithiasis,  wie 
sie  sich  seit  Jahrhunderten  gestaltet  hat. 

Im  Altertum  und  Mittelalter  wird  merkwürdigerweise  das  Vor- 
kommen von  Gallensteinen  nicht  erwähnt.  Erst  Antonius 
Benivenius,  der  1582  starb,  erwähnt  solche,  die  bei  der  Sektion 
einer  Frau  sich  in  der  Gallenblase  und  neben  ihr  fanden,  die  an 
Schmerzen  in  der  Lebergegend  gelitten  hatte,  und  führt  auf  sie  den 
Tod  zurück.  Fernel  gab  1554  schon  eine  gute  Beschreibung  des 
Vorkommens  von  Gallensteinen  und  der  dabei  auftretenden  Symptome. 
Er  weiss,  dass  Verstopfung  des  Choledochus  zur  Anschwellung  der 
Gallenblase,  weisser  Verfärbung  der  Fäces,  dunkler  des  Urins  führt, 
während  bei  Hepaticusverschluss  die  Gallenblase  leer  ist.  Die  in  der 
Gallenblase  gebildeten  Konkremente  seien  meist  schwarz  und  immer 
leicht,  so  dass  sie  auf  dem  Wasser  schwimmen.  Sie  entstehen  nach 
ihm  aus  der  Galle,  die  zu  lange  zurückgehalten,  nicht  entleert  oder 
erneuert  ^\1rd,  besonders  kommen  sie  bei  Verstopfung  des  Gallen- 
blasenganges zustande.  Die  Krankheitserscheinungen  sind  oft  undeut- 
lich und  nicht  geeignet,  die  Diagnose  sicher  zu  stellen. 

Eine  Reihe  weiterer  Beobachter  folgten ;  wertvoll  waren  nament- 
lich Glissons   anatomische   Untersuchungen  (1569),    der    auch    die 


698  Ge*rg  Korn. 

Leberkolik,  verbunden  mit  Ikterus,  aus  eigener  Erfahrung  schildert. 
Zur  selben  Zeit  werden  von  Blasius  u.  a.  die  ersten  Fälle  von 
Abscessbildung  infolge  von  Gallensteinen  geschildert.  Sydenham 
fasste  die  Leberkolik  nur  als  ein  hysterisches  Zeichen  auf,  erwähnt 
aber  nichts  von  Gallensteinen.  Ausführlich  behandelte  Friedrich 
Hoff  mann  die  Steinbildung,  die  er  auf  Stagnation  der  Galle  zurück- 
führt. In  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  kommt  helleres 
Licht  in  die  Lehre  von  dem  Gallensteinleiden  durch  die  experimentellen 
und  pathologisch-anatomischen  Studien  Hallers,  Morgagnis,  Four- 
croys,  Vicq  d'Azyrs  u.  s.  w.  Ein  treues  Bild  der  damaligen 
Kenntnisse  giebt  Morgagnis  Werk  ,.De  sedibus  et  causis  raorborum". 
Im  19.  Jahrhundert  wurde  dann  die  Klinik  der  Cholelithiasis  durch 
Andral,  Trousseau,  Frerichs  u.  a.  gefördert;  die  Bildung  der 
Gallensteine  ist  seit  dem  x4Lufschwung  der  physiologischen  Chemie 
namentlich  durch  Naunyn  erhellt,  und  die  Chirurgie  der  Gallen- 
wege durch  Kocher,  Sims,  Langen  buch,  Küster,  Cour- 
roisier  u.  a.  in  neuester  Zeit  erfolgreich  ausgebaut  worden. 

Die  Bauchspeicheldrüse,  das  Pankreas,  blieb  lange  in  dunkler 
und  unbekannter  Verborgenheit.  Ob  Hippokrates  dies  Organ 
kannte  ist  zweifelhaft.  Galen  erwähnt  es  unter  dem  Namen  Pankreas, 
der  von  der  hippokratischen  Vorstellung  ausgeht,  nach  welcher  die 
Drüsen  „ganz  aus  Fleisch"  bestehen.  Das  Aufleben  der  anatomischen 
Forschung  im  16.  Jahrhundert  brachte  auch  einige  Fortschritte  der 
Kenntnisse  vom  Pankreas.  Vesal,  Fallopius,  Bauhin  erwähnen 
es,  ohne  jedoch  näheres  über  Bau  und  Verrichtung  zu  berichten. 

Der  wichtigste  Fortschritt  in  der  Erkenntnis  des  Organs  wurde 
1642  durch  Georg  Wirsüng  gemacht,  einen  Bayern,  der  in  Padua 
Prosektor  des  Professors  Johann  Vesling  war.  Er  entdeckte  den 
Ausführungsgang  der  Drüse,  sowie  dessen  Einmündung  ins  Duodenum 
und  teilte  seinen  wichtigen  Fund  in  einem  ausführlichen  Briefe  dem 
berühmten  Pariser  Anatomen  Johann  Eiolan  mit  (vgl.  M.  Schirmer' 
Beitrag  zur  Geschichte  und  Anatomie  des  Pankreas.  Dissertation- 
Basel  1893).  Wirsüng  konnte  sich  jedoch  seines  jungen  Entdecker- 
ruhms nicht  lange  erfreuen,  da  er  etwa  ein  Jahr  nach  jenem  Briefe 
in  Padua  von  einem  Dalmatiner  aus  Privathass  (nicht  aus  Eifersucht 
wegen  seiner  Entdeckung)  meuchlings  erschossen  wurde.  Lange  Zeit 
nach  seinem  Tode  wurde  von  J.  M.  Hoff  mann  in  Altdorf  behauptet, 
dass  er  den  Ausfuhrungsgang  ein  Jahr  früher  beim  indischen  Hahn 
gefunden  und  seinem  Freunde  Wirsüng  gezeigt  habe.  Jedenfalls  hat 
ihn  dieser  aber  zuerst  beim  Menschen  nachgewiesen,  auch  giebt  er 
bereits  an,  dass  zuweilen  beim  Menschen  und  bei  Tieren  ein  doppelter 
Gang  vorkäme. 

Erst  Santorini  zeigte  in  einer  Arbeit,  die  38  Jahre  nach  seinem 
1737  erfolgten  Tode  veröffentlicht  wurde,  dass  ausser  dem  Haupt- 
gange, der  noch  heute  nach  dem  Entdecker  „Ductus  Wirsungianus" 
genannt  wird,  beständig  ein  zweiter  kleinerer  Ausführungsgang  ins 
Duodenum  führt,  welcher  seitdem  nach  ihm  als  „Ductus  Santorini" 
bezeichnet  Avird.  Merkwürdigerweise  wurde  seine  Entdeckung  ver- 
gessen; die  meisten  Anatomen  nahmen  in  der  Eegel  das  Vorhanden- 
sein eines  einzigen  Ausführungsganges  an,  und  in  seltenen  Ausnahme- 
fällen käme  ein  zweiter  Nebenausführungsgang  hinzu.  Erst  durch 
Verneuil  1851  und  Bernard  (1856)  wurde  das  beständige  Vor- 
kommen  zweier  Gänge   wieder   hervorgehoben.    Der  Name   „Bauch* 


Verdaiiungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  699 

Speicheldrüse"  wurde  durch  Sömmering  in  die  deutsche  Anatomie 
eingeführt. 

Den  Fortschritten  der  Anatomie  folgte  sehr  langsam  die  Erkennt- 
nis der  physiologischen  Bedeutung  der  Drüse,  welche  nach  vorbe- 
reitenden Arbeiten  verschiedener  Forscher  erst  von  Claude  Bernard 
(1856)  zu  einem  gewissen  Abschluss  gebracht  wurde.  Dieser  erkannte 
zuerst  nach  zahlreichen  Versuchen,  deren  Resultate  er  in  seinem 
..Memoire  sur  le  Pancreas"  zusammenfasste,  dass  das  Sekret  der 
Drüse  auf  alle  drei  Kategorien  von  Xahrungsstoffen  einen  Einfluss 
ausübe.  Es  wandelt  Stärke  in  Zucker  um.  zerlegt  Fette  in  Fett- 
säuren und  Glycerin,  emulgiert  ausserdem  neutrale  Fette  und  endlich 
vermag  es  Eiweiss  zu  lösen.  Corvisart  (1857)  wies  besonders  auf 
die  letztere  Fähigkeit  des  Pankreassaftes  hin.  B  i  d  d  e  r  und  Schmidt, 
Kühne.  Heidenhain  förderten  weiterhin  die  Kenntnis  von  der 
Wirkung  des  Sekretes. 

Die  Pathologie  des  Pankreas  entwickelte  sich  erst  sehr  spät. 
Bamberger  schrieb  im  Jahre  1855  mit  Recht:  ,.Zu  einer  Zeit,  als 
man  von  dem  feineren  Bau  und  der  Funktion  des  Pankreas  noch  gar 
nichts  wusste.  glaubte  man  über  die  Krankheiten  des  Organs  die 
ausgedehntesten  Kenntnisse  zu  besitzen."  Die  latrochemiker  wiesen 
dem  Pankreas  eine  sehr  bedeutende  Rolle  in  der  Pathologie  zu.  Einer 
von  ihnen,  Bernhard  Swalve.  veröffentlichte  1677  eine  Schrift,  in 
der  er  die  Anschauungen  seiner  Zeitgenossen  niederlegte:  ..Pancreas 
pancrene  s.  pancreatis  et  succi  ex  eo  profluentis  commentuni  suc- 
cinctum". 

^[  0  r  g  a  g  n  i  und  L  i  e  u  t  a  u  d  brachten  Mitteilungen  über  Sektions- 
befunde bei  Krankheiten  des  Pankreas.  Auch  klinische  Mitteilungen 
über  die  an  derartigen  Fällen  gemachten  Beobachtungen  wurden  im 
18.  Jahrhundert  mehrfach  veröffentlicht.  Rahn  gab  1796  Beiträge 
zur  ..Diagnosis  scii-rhorum  pancreatis".  Aus  dem  Anfange  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  stammen  Schriften  von  Harles  und  Schmack- 
pfeffer.  Becourt  gab  1830  einen  Ueberblick  über  das  bis  dahin 
Bekannte  und  fügte  neue  Beobachtungen  hinzu.  Kurz  darauf  gab 
Mondiere  (1836)  ebenfalls  eine  referierende  Zusammenstellung  des 
vorhandenen  Stoffes,  und  Joseph  Frank  folgte  1843  mit  einer  ähn- 
lichen Arbeit.  Von  besonderer  "Wichtigkeit  ist  die  Schrift  von 
Clansen  (1846)  für  die  Lehre  von  den  Krankheiten  des  Pankreas, 
weil  sie  die  gesamte  ältere  Litteratur  sammelte  und  das  grosse 
Material  von  Einzelbeobachtung  kritisch  sichtete;  sein  "Wert  giebt 
den  gesamten  Stand  der  damaligen  Kenntnisse  über  diesen  Gegen- 
stand wieder.  Weniger  kritisch  ist  Ancelets  Schrift  (1866),  doch 
lenkte  sie  durch  eine  mühevolle  Sammlung  zahlreicher  Einzelbeobach- 
tungen von  Pankreaskrankheiten  die  Aufmerksamkeit  der  Fach- 
genossen wieder  auf  dies  Kapitel  der  Medizin. 

Einen  grossen  Fortschritt  bedeutete  dann  Friedreichs  Arbeit 
in  Ziemssens  Sammelwerk  (1878),  der  in  streng  wissenschaftlicher 
Weise  vom  Standpunkte  des  inneren  Klinikers  aus  die  Krankheiten 
des  Pankreas  behandelte,  aber  dabei  die  vorhandenen  grossen  Lücken 
der  Erkenntnis  scharf  betonte. 

Die  pathologische  Anatomie  der  Bauchspeicheldrüse  be- 
handelte nach  Rokitansky  und  V i r c h o w  namentlich  K 1  e b s  (1874), 
der  zuerst  die  pathologischen  Affektionen  des  Pankreas  ausführlicher 
darstellte  und  eine  gewisse  Grundlage   schuf    Si)äter  (1894)   stellte 


700  Georg  Korn. 

Dieckhoff  wichtige  Untersuchungen  auf  diesem  Gebiete  an.  Die 
^Entzündungen  des  Organs  bearbeitete  Filz  (1890)  gründlich; 
eine  eingehende  Studie  über  Blutung,  Entzündung,  brandiges  Ab- 
sterben des  Pankreas  gab  dann  Seitz  1892.  Eine  reiche  Litteratur 
rief  die  Entdeckung  v.  Merings  und  Minkowskis  hervor,  dass 
nach  totaler  Entfernung  des  Pankreas  bei  Tieren  Diabetes  eintritt. 

Das  Pankreas  war  eines  der  letzten  Organe,  an  die  das  Messer 
des  Chirurgen  sich  gewagt  hat.  Erst  seit  dem  Anfang  der  achtziger 
Jahre  des  19.  Jahrhunderts  kann  man  von  einer  Chirurgie  des 
Pankreas  sprechen.  Eröffnet  wurde  sie  durch  die  von  Gussen- 
bauer  angebahnte  Erkenntnis  und  Behandlung  der  Cysten.  1884 
veröJBfentlichte  Seen  seine  Chirurgie  des  Pankreas,  dessen  Entzündung, 
Eiterung  und  Nekrose,  dann  Körte,  dessen  topographisch-anatomische 
Verhältnisse  für  die  Exstirpation  fester  Geschwülste  Krön  lein  be- 
arbeitete. Litterarisch  wurde  dann  die  Chirurgie  des  Pankreas  be- 
handelt von  Nimier  (1893),  Madelung  (1896)  und  namentlich  von 
W.  Koerte  (1898). 

Die  Hämorrhoiden,  die  Blutungen  der  erweiterten  Mastdarm - 
venen,  haben  in  der  Pathologie  der  früheren  Jahrhunderte  eine  sehr 
wichtige  Rolle  gespielt.  Dass  die  Krankheit  im  Altertum  bereits  be- 
kannt war,  geht  aus  mehreren  Stellen  bei  Hippokrates  und  C e  1  s u s 
hervor,  und  es  finden  sich  hier  bereits,  soweit  es  sich  um  rein  ob- 
jektive Angaben  handelt,  eine  Reihe  treffender  und  feiner  Beobach- 
tungen niedergelegt.  Eine  ganz  besondere  Aufmerksamkeit  wandten, 
wie  oben  erwähnt,  G.  E.  Stahl,  Hoff  mann  und  Alberti  am  Be- 
ginn des  18.  Jahrhunderts  der  Hämorrhoidalkrankheit  zu.  Eine  Reihe 
ihrer  Werke  geben  davon  ausführlich  Kunde:  G.  E.  Stahls  „Abhand- 
lungen von  der  goldenen  Ader",  Leipzig  1729,  desselben  Schrift  „De 
haemorrh.  mot.  et  fluxuum  haemorrh.  diversitate",  Offenbach  1731, 
ferner  Stahls  „De  dubia  et  suspecta  haemorrhoid.  laude",  Halle  1733; 
von  F.  Hoff  mann:  „De  salubritate  fluxus  haemorrh.",  Halle  1708, 
„De  immod.  haemorrh.  fluxione",  Halle  1730,  „De  cephalaea  cum 
haemorrhoidali  fluxu",  Halle  1735;  von  Albertus  endlich  die  folgen- 
den Veröffentlichungen: 

„Tractus  de  haemorrhoidibus",  Halle  1722,  „De  haemorrh.  et 
mensium  consensu",  Halle  1719,  „De  haemorrh.  symptom.  et  pernicie", 
Halle  1726,  „De  haemorrh.  feminarum",  Halle  1727,  „De  haemorrh. 
suppressione",  Halle  1718,  „De  diff.  haemorrh.  ab  aliis  cruentis  alvi 
fluxibus",  Halle  1727,  „De  haemorrh.  gravidarum  et  puerperarum",. 
Halle  1727,  „De  haemorrh.  praeservatione",  Halle  1727,  endlich  „De 
haemorrh.  juniorum",  Halle  1727.  Schon  die  Anführung  dieser  zahl- 
reichen Titel  weniger  Autoren  zeigt  die  Wichtigkeit,  welche  man 
damals  den  Hämorrhoiden  beilegte. 

Eine  reiche  Litteratur  schloss  sich  bis  in  die  Gegenwart  hinein 
an  diese  Veröffentlichungen,  so  dass  wenig  Krankheiten  litterarisch 
so  umfangreich  vertreten  sind,  wie  diese.  Es  entspringt  dies  aus  der 
Auffassung  der  früheren  Aerztegenerationen  von  dem  Wesen  der 
Krankheit.  Sie  waren  gewöhnt,  die  Ausbildung  von  Hämorrhoiden 
als  den  Ausdruck  einer  Konstitutionsanomalie  anzusehen.  Es  spricht 
sich  diese  Anschauung  namentlich  darin  aus,  dass  sie  der  Erblichkeit 
eine  sehr  weitgehende  ätiologische  Bedeutung  einräumten.  Auch 
pflegten  sie  in  den  hämorrhoidalen  Blutungen  eine  Art  von  heilsamem 
Vorgange  zu  erblicken,  durch  welchen  der  Organismus  das  Bestreben 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  701 

habe,  sich  aller  unreinen  und  krankmachenden  Säfte  zu  entledigen. 
In  der  Regel  führen  hämorrhoidale  Blutungen,  wenn  sie  nicht  zu 
stark  sind  und  dadurch  die  unangenehme  Empfindung  der  Schwäche 
hervorrufen,  ein  Gefühl  von  Erleichterung  und  Wohlbefinden  herbei. 
Hieraus  ist  es  zu  erklären,  dass  die  ältere  Medizin  der  Hämorrhoidal- 
blutung  für  eine  Art  natürlichen  Reinigungsvorganges  des  Organismus 
angesehen  hat,  und  dass  auch  heute  noch  von  Laien  (wie  das  Volk 
überhaupt  häufig  frühere  überwundene  Anschauungen  der  wissen- 
schaftlichen Medizin  hartnäckig  festhält)  die  Blutung  als  eine  günstige 
Wendung  und  als  ein  für  die  ganze  Gesundheit  bedeutungsvoller  Vor- 
gang begrüsst  wird.  Ging  man  doch  so  weit,  aus  dem  Nichtwieder- 
erscheinen  von  Blutungen  eine  Reihe  von  Krankheiten  anderer  Organe 
abzuleiten,  und  unter  Umständen  auch  selbst  eine  Hämoptoe,  den 
häufigen  Vorläufer  von  Lungenschwindsucht,  als  die  Folge  veretockter 
und  versetzter  Hämorrhoiden  zu  bezeichnen. 

Die  moderne  Medizin,  die  namentlich  seit  dem  Erscheinen  von 
Virchows  Cellularpathologie  die  Krankheitsprozesse  mehr  örtlich  zu 
konzentrieren  suchte,  ging  in  der  Erklärung  der  Hämorrhoidal- 
erscheinungen  weit  nüchterner  und  mehr  mechanisch  zu  Werke.  Sie 
erkannte  als  Ursachen  für  die  Entwicklung  von  Phlebektasie  der 
Hämorrhoidalnerven  keine  anderen  Ursachen  als  Zirkulationsstörungen 
im  Pfortadergebiet  an,  und  erblickte  in  der  Blutung  nichts  weiter  als 
den  Höhepunkt  der  Wirkung,  welche  die  Blutstockung  nach  sich  zieht. 
Neben  den  lokalen  Symptomen  treten  allerdings  auch  allgemeine 
Symptome  auf  (Störungen  der  Verdauung,  psychische  Symptome),  die 
jedoch  früher  vielfach  übertrieben  und  in  dem  Kapitel  der  Krankheits- 
ursachen arg  missbraucht  wurden,  um  ätiologisch  unbekannten  Krank- 
heiten eine  Art  von  Erklärung  unterzuschieben.  Die  Therapie  wurde 
ausser  durch  diätetische  Massnahmen  in  neuester  Zeit  auch  durch 
chirurgische  Eingriffe  (Karbolinjektionen  und  verschiedene  Operationen) 
für  schwerere  Fälle  wesentlich  ergänzt. 

Die  Pathologie  und  Therapie  der  T  y  p  h  1  i  t  i  s  und  Perityphlitis 
ist  erst  seit  den  dreissiger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  wissenschaft- 
lich genauer  erforscht  worden.  Wohl  finden  sich  bei  Ar  et  aus  und 
bei  Celsus  schon  Erwähnungen  hierher  gehöriger  Krankheitsfälle 
und  einige  Fälle  von  Abnormitäten  des  Wurmfortsatzes  wurden 
weiterhin  beschrieben,  aber  erst  im  18.  Jahrhundert  zeigt  sich  das 
Streben  nach  Erklärung  der  Ursachen  der  Erkrankungen.  Es  bricht 
sich  die  Meinung  durch,  dass  eine  Kotretention  und  Kotverdickung 
die  Entzündung  bewirke,  so  bei  Morgagni  und  Boerhaave.  Mehr- 
fach wird  ein  Brandigsein  des  Wurmfortsatzes  und  off"enbar  nicht 
erkannte  Kotsteine  beschrieben.  Die  erste  eingehendere  Beschreibung 
des  Krankheitsbildes  lieferte  Peter  Frank  (1792  in  ,.De  curandis 
hominum  morbis  epitome").  Unter  dem  Namen  Peritonitis  muscularis 
und  Psoitis  führte  er  in  einer  Reihe  von  Fällen  an,  die  das  Bild  einer 
Perityphlitis  zeigen;  aber  schon  seine  Benennungen  zeigen,  dass  er 
nicht  den  Kern  der  Sache  erkannte.  Therapeutisch  empfahl  er  neben 
allgemeiner  und  örtlicher  Blutentziehung  Nitrum  in  Mohnsamenemulsion 
mit  Extr.  hyoscyani  und  Extr.  opii  aquos.,  bei  geringerer  Entzündung 
Calomel  ev.  mit  Opium  oder  Calomel  mit  Kampher. 

Wesentliche  Fortschritte  brachten  erst  französische  Forscher, 
zuerst  Louyer-Villermay,  der  1824  der  Akademie  über  zwei 
Krankheitsbeobachtungen  berichtete  und  gleich  den  Processus  vermi- 


702  Georg  Koru. 

cularis  beschuldigte.  Gesunde,  kräftige  Menschen  erkrankten  plötz- 
lich mit  Schmerzen  in  der  rechten  Fossa  iliaca,  denen  Erbrechen  folgte. 
Der  Leib  war  stark  aufgetrieben.  Die  Behandlung  mit  Blutegeln, 
Lavements  und  Aderlass  konnten  den  in  wenigen  Tagen  eintretenden 
Tod  nicht  hindern.  Bei  den  Sektionen  fand  man  in  beiden  Fällen 
nur  den  Processus  vermiformis  ergriffen,  zum  Teil  auch  das  zunächst 
gelegene  Gewebe.  „Verschont  war  aber  das  ganze  Peritoneum,  das 
Innere  des  Blinddarms  und  der  übrige  Darm."  Erstaunt  fragte 
Louyer-Villermay,  woher  die  Entzündung  dieses  so  kleinen  und  in 
seinen  Funktionen  noch  unbekannten  Organes  stamme,  dass  sie  so 
schnell  ohne  folgende  Bauchfellentzündung  tödlich  endigt?  Eine  Er- 
klärung wusste  er  nicht. 

Bald  nach  ihm  (1827)  traten  Hasson  und  Dance,  Schüler 
Dupuytrens,  der  dann  1838  selbst  das  Wort  nahm,  dieser  Frage 
näher.  Sie  kamen  durch  die  Häufigkeit  der  Entzündungen  in  der 
rechten  Fossa  iliaca  auf  den  Zusammenhang  mit  dem  Coecum.  Als 
Grund  des  häufigeren  Vorkommens  der  Entzündungen  rechterseits 
nahmen  sie  die  natürliche  Verengerung  an  der  Valvula  ileo-coecalis 
an,  wie  sie  auch  am  Pylorus  existiert,  ferner  den  Umstand,  dass  der 
Darm  hier  aufhört,  frei  und  beweglich  zu  sein,  die  Kotmassen  hier 
beginnen  eingedickt  zu  werden,  die  Fortbewegung  der  Fäces  hier 
gegen  die  Schwerkraft  geht,  alles  Momente,  um  die  Stase  der  Fäkal- 
niassen  zu  begünstigen  und  die  Quelle  für  Entzündungen  in  der  Nach- 
barschaft des  Darmes  zu  werden,  welche  meist  in  Gestalt  einer  Ge- 
schwulst nachzuweisen  seien.  Die  eigentlichen  Symptome  der  Krank- 
heit bestanden  in  der  Beständigkeit  des  Schmerzes  an  einer  bestimmten 
Stelle  in  der  Fossa  iliaca  dextra  und  in  der  Anschwellung  dieser 
Stelle.  Als  Verlauf  hatten  Husson  und  Dance  beobachtet:  Eine  lang- 
same Verteilung,  seltener  eine  Peritonitis  oder  Pericellulitis,  endlich 
den  Durchbruch  des  eiternden  Tumors  nach  aussen  oder  in  den  Darm. 
Bei  der  Therapie  hat  sich  die  Antiphlogose  glänzend  bewährt.  So 
wurden  bei  dem  einen  Falle  bis  zu  200  Blutegel  auf  die  Bauchdecken 
appliziert.  Aber  auch  Aderlässe  hatten  den  glücklichsten  Erfolg,  dazu 
milde  Purgantien  und  Lavements ;  aber  die  Drastica  seien  zu  meiden, 
da  die  hierdurch  bewirkten  heftigen  Bewegungen  des  Darms  die 
Adhäsionen  zwischen  Darm  und  Herd  zerreissen  können. 

Melier  und  Meniere  (1828)  gingen  in  der  Therapie  noch  einen 
Schritt  weiter.  "Während  sie  mit  anfänglicher  präservativer  Behand- 
lung, mit  lokaler  Blutentziehung  u.  s.  w.  einverstanden  sind,  um  eine 
Lösung  des  Prozesses  oder  einen  Durchbruch  bei  Eiterung  des  Darms 
abzuwarten,  so  soll  baldige,  künstlich  bewerkstelligte  Entleerung  des 
Eiters  nach  aussen  beim  Anwachsen  der  Anschwellung  erfolgen.  Der 
Ort  der  operativen  Eröffnung  ist  am  besten  an  der  Crista  ossis  ischii, 
das  Instrument  der  Troicart  oder  des  Bistouri. 

Wie  wenig  Verständnis  für  das  Wesen  der  Krankheitsgruppe  noch 
vorhanden  war,  zeigt  ein  Aufsatz  von  Corbien  (1830).  Er  wirft 
trotz  seiner  Berufung  auf  die  eben  genannten  Autoren  die  entzünd- 
lichen Prozesse  in  beiden  Biacalgruben  unterschiedlos  durcheinander 
und  will  durch  einen  Druck  auf  den  Entzündungsherd  vom  Mastdarm 
aus  die  Eiterung  vermindern. 

Nachdem  in  Deutschland  Unger,  in  England  Abercrombie 
u.  a.  weitere  Studien  veröffentlicht  hatten,  war  es  ein  deutscher  Kliniker, 
P  u  c  h  e  1 1  in  Heidelberg,  der  endlich  einen  festen  Symptomenkomplex 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  703 

dieser  Krankheitsgruppe  aufstellte  und  zugleich  den  Xamen  „Peri- 
typhlitis" einführte.  Zunächst  sprach  er  (in  seinem  „System  der 
Medizin,  1829)  in  dem  Kapitel:  Eiterung.  Yerschwärung  und  Ge- 
schwüre des  Darmkanals  über  eine  oft  beobachtete  Abscessbildung, 
besonders  im  Colon  ascendens,  1.  durch  akute  und  chronische  Ent- 
zündung mit  dem  Sitz  seltener  in  den  Darmhäuten,  häufiger  im 
Mesenterium  und  in  dessen  Drüsen  mit  Durchbruch  a.  in  den  Darm 
und  damit  erfolgter  Heilung,  b.  in  die  Peritonealhöhle  und  letalem, 
c.  in  die  Xachbarorgane  und  unbestimmten  Ausgang.  2.  bei  tuber- 
kulösen Prozessen,  bei  gastrischen,  pituitösen,  hektischen  und  fauligen 
Fiebern,  3.  durch  Carcinome.  Therapeutisch  ist  die  Eiterung  zu  ver- 
hindern, Diarrhöen  aber  nicht,  damit  Jauche  und  Eiter  jederzeit  Ab- 
fluss  haben.  Nur  bei  totaler  Erschöpfung  sind  Mucilaginosa  und 
Opiate  anwendbar,  die  Hauptsache  der  Geschwürsheilung  ist  aber  der 
Natur  zu  überlassen. 

Bald  nachher  (1832)  gaben  er  und  zwei  seiner  Schüler,  Spiel- 
m  a  n  n  und  G  o  1  d  b  e  c  k  eine  weitergehende  Anschauung  bekannt.  Sie 
kommen  zum  Schluss,  dass  es  sich  um  eine  durch  vorausgegangene 
entzündliche  Eeizung  der  Mucosa  des  Blinddarms  bedingte  Entzündung 
des  unterliegenden  Zellgewebes  handle.  Es  fehlt  aber  noch  die  Er- 
kenntnis der  Ursache  dieser  entzündlichen  Heizung. 

In  ein  neues  Stadium  führte  die  Aufmerksamkeit,  die  man  den 
Darmperforationen,  besonders  denen  des  Wurmfortsatzes  zu  schenken 
begann.  Namentlich  die  Engländer,  Burne,  Smith  u.  s.  w.  hielten 
fest  an  den  Beobachtungen  über  die  öfteren  Perforationen  des  Pro- 
cessus vermiformis  und  bekämpften  die  Anschauungen  Dupuytrens. 
Als  geeignete  Therapie  erwies  sich  ihnen  die  Opiumtherapie,  die  schon 
Graves  1824  neben  Paracentese  bei  Peritonitis  mit  Erfolg  angewandt 
hatte,  und  die  nun  Stokes  (1835)  auf  die  Behandlung  der  Perityphliden 
mit  günstigem  Erfolg  bei  hohen  Gaben  übertrug,  indem  er  dadurch 
den  Darm  ruhig  stellte  und  somit  den  gefährlichen  Austritt  der  Fäces 
hinderte. 

Diese  Opiumtherapie  fand  vielfach  Nachfolge.  In  Deutschland 
trat  A.  Volz  (1843)  als  Vorkämpfer  der  Opiumbehandlung  auf  und 
wies  zugleich  eingehend  die  Eolle  der  Fremdkörper  im  Wurmfortsatz 
nach.  Oft  schaden  derartige  Konkremente  nicht,  häufiger  verursachen 
sie  aber  durch  die  Zunahme  ihres  Umfanges  eine  kataiThalische  An- 
wulstung  und  Zerstörung  der  Schleimhaut,  schliesslich  eine  Perforation 
der  Serosa  und  infolgedessen  eine  Peritonitis.  Ueber  die  Ursachen 
der  Konkrementbildung  kann  Volz  nichts  sagen ;  merkwürdig  erscheint 
ihm  dabei  die  Bevorzugung  des  männlichen  Geschlechts.  Kurz  vorher 
hatte  Rokitansky  die  Beziehungen  der  im  Wurmfortsatz  befind- 
lichen Konkremente  zu  den  anatomischen  Veränderungen  der  Ulceration 
und  Perforation  erkannt  und  pathologisch-anatomisch  mustergültig  dar- 
gelegt. 

Das  klinische  Verständnis  der  Perityphlitis  förderte  dann  in  den 
fünfziger  Jahren  in  erster  Linie  Bamberg  er  durch  seine  Arbeiten; 
es  folgten  dann  eine  Reihe  anatomischer  Arbeiten,  eine  genauere 
Einteilung  des  Krankheitsbildes  in  Gruppen  (Oppolzer,  Matter- 
stock u.  a.)  und  vor  allem  das  Eingreifen  der  Chirurgie,  das  schon 
in  vorantiseptischer  Zeit  als  Paracentese  und  Incision  vielfach  em- 
pfohlen war,  aber  erst  durch  die  Antisepsis  Sicherheit  bekam,  zumal 
man  das  Peritoneum  (z.  B.  noch  1882  Nussbaum)  als  ein  chirurgisches 


704  Georg  Korn. 

Noli  me  tangere  ansah.  Keith,  Spencer- Wells,  Peaslee, 
Schröder,  Lawson  Tait  nahmen  nun  in  den  achtziger  Jahren 
die  frühzeitige  Incision  energisch  in  Angriff.  Krön  lein  konnte  1886 
von  einer  55  Stunden  nach  der  Perforation  vorgenommenen  Lapara- 
tomie  und  gleichzeitigen  Eesektion  des  Wurmfortsatzes  berichten  und 
Mikulicz  zu  gleicher  Zeit  von  seinen  Erfolgen  bei  jauchig-eitriger 
Peritonitis  durch  mehrere  Laparatomien.  Schon  im  März  1889  hatte 
Leyden  gefragt,  ob  man  nicht  der  Peritonitis  auf  operativem  Wege 
beikommen  könne. 

Wie  weit  die  chirurgische  Behandlung  berechtigt  sei,  wurde  dann 
vielfach  umstritten;  für  rein  interne  (Opium-)  Behandlung,  für  rein 
operative  und  für  eine  vermittelnde  Richtung  treten  verschiedene 
Gruppen  von  Klinikern  ein.  Eine  zweckentsprechende  Aussprache 
zwischen  den  Anhängern  dieser  Richtungen  wurde  dann  im  Frühjahr 
1895  auf  dem  Kongress  für  innere  Medizin  herbeigeführt,  wo  Sahli 
und  Helfer  ich  als  Referenten  auftraten.  Es  wurden  dabei  die 
Indikationen  für  das  Eingreifen  des  Chirurgen  im  wesentlichen  fest- 
gestellt und  in  ihren  eingeschränkten  Grenzen  auch  von  den  An- 
hängern der  internen  Therapie  anerkannt. 

Die  Harnschau  bildete  bis  in  die  Neuzeit  hinein  für  das  Volk 
ein  wichtiges  Attribut  des  Arztes,  der  auf  alten  Bildern  nie  ohne 
Uringlas  erscheint.  Bei  den  Arabern  und  in  der  scholastischen 
Medizin  wurde  in  der  Semiotik  namentlich  auf  den  Urin  Rücksicht 
genommen  und  die  Uroskopie  gab  vorzugsweise  Gelegenheit,  den  Arzt 
als  einen  in  die  verborgensten  Geheimnisse  Eingeweihten  erscheinen 
zu  lassen.  Besonders  berühmt  waren  im  12.  und  13.  Jahrhundert  die 
regulae  urinarum  magistri  mauri.  Es  werden  darin  19  Farben  des 
Urins  unterschieden:  Albus  (klarem  Wasser  gleich),  lacteus,  glaukus, 
karopos  (von  der  Farbe  der  Kamelhaare),  subpallidus,  pallidus  (dünn 
fleischbrühartig),  subcitrinus,  citrinus,  subrufus,  rufus  (goldgelb),  sub- 
rubens,  rubens  (blutrot),  subrubicundus,  rubicundus  (braunrot,  safran- 
gelb), inopos  (ähnlich  dem  trüben  abgestandenen  Wein),  kianos  (grau), 
viridis,  lividus,  niger.  Daneben  wurde  die  Menge  und  Konsistenz 
beobachtet.  Alle  Zeichen  werden  bezogen  auf  Wärme  oder  Kälte, 
Trockenheit  oder  _  Feuchtigkeit  des  Organismus. 

Gewissenlose  Abenteurer  und  unwissende  Empiriker  trieben  mit 
der  Harnschau  einen  unerträglichen  Missbrauch.  Es  war  begreiflich, 
dass  sich  namentlich  seit  dem  16.  Jahrhundert  ehrliche  Aerzte  und 
verständige  Laien,  wie  der  Bischof  Dudith  von  Horekowicz 
gegen  dieses  Treiben  wandten  und  eine  wissenschaftliche  Behandlung 
der  Urinlehre  anstrebten,  die  freilich  erst  in  einer  späteren  Ent- 
wicklungsperiode der  Chemie  erreichbar  war.  Die  Erkenntnis  der 
Nierenkrankheiten  und  der  Erkrankungen  der  Geschlechtswerkzeuge 
ist  durch  die  Uroskopie  in  keiner  Weise  gefördert  worden. 

Die  chirurgische  Behandlung  der  Unterleibsorgane  blieb  bis 
in  die  Neuzeit  hinein  mangelhaft,  wenn  auch  Anfänge  schon  im  Mittel- 
alter vorhanden  waren.  So  genoss  in  der  Operation  der  Mastdarm- 
fisteln John  Ardern  im  14.  Jahrhundert " einen  grossen  Ruf.  Die 
Hernien  wurden  durch  andauernde  Rückenlage  oder  durch  Bruch- 
bänder behandelt.  Eine  wesentliche  Förderung  erfuhr  die  Herniologie 
durch  Guy  v.  Chauliac,  der  verschiedene  Formen  der  Hernien 
nach  ihren  Bruchpforten  unterschied  und  die  Varicocele,  Hydrocele 
und  Sarcocele  überhaupt  davon  absonderte.    Die  Eadikalheihmg  suchte 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  705 

man  durch  Aetzungen  der  Bruchpforte  nach  Eeposition  der  vorge- 
fallenen Eingeweide  zu  erzielen.  Zu  der  Entfernung  des  Hodens, 
welche  bei  Skrotalhernien  angewandt  wurde,  entschlossen  sich  nur 
die  herumziehenden  Empiriker. 

Auch  der  Steinschnitt,  welcher  nach  der  Methode  des  Celsus 
ausgeführt  wurde,  lag  im  Mittelalter  in  den  Händen  von  Spezialisten 
dieser  Art.  Bei  Strikturen  der  Harnröhre  wurden  Bougies  aus 
Wachs,  Zinn  oder  Silber  gebraucht.  Bei  Erkrankungen  der  Blase 
und  beim  Tripper  verordnete  John  Ardern  Einspritzungen. 

Eine  bedeutende  Bereicherung  erfuhr  die  Technik  des  Stein- 
schnitts im  16.  Jahrhundert.  Die  bis  dahin  gebräuchliche,  von 
Celsus  beschriebene  und  von  Paulus  Aegineta  vereinfachte 
Methode  wurde  dadurch  verbessert,  dass  vor  der  Operation  eine 
katheterartig  gekrümmte  Hohlsonde,  welche  mit  der  Konvexität  nach 
dem  Perineum  drängte,  in  die  Harnröhre  eingeführt  wurde.  Indem 
der  Schnitt  in  die  Pars  membranacea  in  der  Rinne  dieser  Hohlsonde 
gezogen  wurde,  erhielt  die  Hand  des  Operateurs  eine  sichere  Leitung, 
welche  für  den  Erfolg  von  grosser  Bedeutung  war.  Man  nannte  dies 
Verfahren  die  Operation  mit  der  grossen  Gerätschaft  und  betrachtet 
Bernardo  di  Rapallo  als  ihren  Erfinder.  Allgemeiner  bekannt 
w^urde  sie  durch  Mariano  Santo. 

Die  Nachteile,  welche  der  Steinschnitt  vom  Perineum  aus  zu- 
weilen im  Gefolge  hatte,  namentlich  die  Vereiterung  der  Prostata 
und  der  Samenausführungsgänge  und  die  dadurch  hervorgerufene 
Zeugungsunfähigkeit,  vor  allem  aber  die  Unmöglichkeit,  sehr  grosse 
Steine  oder,  wenn  sich  Steine  abgesackt  haben,  solche  auf  diesem 
^Vege  durch  die  Perinealwunde  zu  entfernen,  regten  den  Gedanken 
an,  ob  es  nicht  möglich  sei,  den  Stein  von  oben  her  durch  einen  Ein- 
schnitt über  der  Schambeinfuge  herauszuholen.  Pierre  Franco 
führte  den  hohen  Steinschnitt  zum  erstenmal  im  Jahre  1560  mit  glück- 
lichem Erfolge  bei  einem  zweijährigem  Kinde  aus,  nachdem  er  ver- 
geblich versucht  hatte,  den  Stein,  der  die  Grösse  eines  Hühnereies 
hatte,  nach  der  alten  Methode  zu  entfernen.  Er  fühlte  sich  dazu 
besonders  dadurch  veranlasst,  dass  die  Blase  stark  nach  vorn  drängte. 
R  0  u  s  s  e  t  gab  deshalb  auch  später  den  Rat,  die  Harnblase  mit  Wasser 
auszufüllen,  bevor  man  zui'  Operation  schreitet. 

Auch  der  hohe  Steinschnitt  hatte  manche  Gefahren,  welche  den 
Erfolg  der  Operation  in  Frage  stellten.  Schon  Pierre  Franco  er- 
kannte dies  und  beschäftigte  sich  aus  diesem  Grunde  wieder  mit  dem 
Perinealsteinschnitt,  für  welchen  er  eine  neue  Methode  angab.  Danach 
wurde  der  Schnitt  auf  der  in  die  Harnröhre  eingeführten  Furchen- 
sonde seitlich  von  der  Raphe  ausgeführt  und  durch  die  Prostata  ver- 
längert. Der  Seitensteinschnitt,  wie  dieses  Verfahren  genannt  wurde, 
hatte  wenigstens  den  Vorteil,  dass  dabei  selbst  Steine  von  bedeuten- 
dem Umfange  entfernt  werden  konnten.  Pierre  Franco  machte  ferner 
darauf  aufmerksam,  dass  Blasensteine  beim  weiblichen  Geschlecht 
häufig  durch  eine  einlache  Erweiterung  der  Harnröhre  herausgebracht 
werden. 

Die  Lithothrypsie  war  nahezu  in  Vergessenheit  geraten.  Alessandro 
Benedetti  erzählte  (1508),  dass  einige  Chirurgen  den  Blasenstein,  ohne 
dass  ein  Einschnitt  gemacht  wird,  mit  eisernen  Instrumenten  zer- 
trümmerten, hielt  aber  von  diesem  Verfahren  nicht  viel.  Eine  eigen- 
tümliche Methode   beschrieb  Prosper  Alpini,   die   er  in   Aegypten 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  45 


706  Georg  Korn. 

kennen  gelernt  hatte.  Sie  bestand  darin,  dass  die  Harnröhre  erweitert 
und  der  Stein  von  aussen  in  dieselbe  hineingedrängt  wurde. 

Die  Hernien  suchte  man  durch  anhaltende  Eückenlage  oder 
Bruchbänder  zur  Heilung  zu  bringen ;  auch  entschloss  man  sich  nicht 
selten  zur  Radikaloperation.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  bei  Leisten- 
brüchen die  Pforte  nach  der  Reposition  der  vorgefallenen  Eingeweide 
mit  einem  feinen  goldenen  oder  bleiernen  Draht  oder  einem  Faden 
vernäht.  Ambroise  Pare  erwarb  sich  das  grosse  Verdienst,  dass 
er  das  operative  Eingreifen  so  viel  als  möglich  auf  die  eingeklemmten 
Hernien  beschränkte.  Nur  in  diesem  Falle  führte  er  die  regelrechte 
Herniotomie  aus.  Allerdings  haben  andere  Chirurgen,  wie  P.  Franc o 
und  Rousset,  dies  schon  vor  ihm  gethan,  aber  erst  durch  Pare 
wurde  dies  Verfahren  bei  eingeklemmten  Hernien  wissenschaftlich 
begründet  und  damit  den  Kranken  dieser  Art,  welche  man  früher 
häufig  ihrem  Schicksal  überlassen  hatte,  die  Aussicht  auf  Rettung 
geboten. 

Auf  die  operative  Beseitigung  der  Harnröhrenstrikturen  durch 
gewaltsame  Trennung  mit  dem  Messer  wird  durch  A.  Pare  wieder 
der  Vergessenheit  (schon  die  Chirurgen  der  römischen  Kaiserzeit 
übten  sie)  entrissen.  Ausserdem  wandte  man  gegen  dies  Leiden 
Bougies  an,  die  mit  geeigneten  Arzneistoffen  bestrichen  waren;  sie 
wurden  namentlich  von  Laguna  empfohlen. 

Zu  den  glänzendsten  und  segensreichsten  Fortschritten  gehört 
die  Lithothrypsie.  Diese  bereits  von  den  Aerzten  der  byzan- 
tinischen Periode  ausgeführte  Operation  war,  wie  oben  erwähnt,  ab- 
gesehen von  einzelnen  Beobachtungen  bei  Benedetti  im  16.  und 
trotz  der  lebhaften  Bemühungen  von  Cincci  im  18.  Jahrhundert,  in 
welchem  sich  auch  mehrfache  Nachrichten  von  der  Ausführung  der 
Operation  durch  Laien  vorfinden,  so  gut  als  ganz  in  Vergessenheit 
geraten.  Das  Verdienst,  die  Lithothrypsie  zu  neuem  Leben  erweckt 
zu  haben,  gebührt  unstreitig  Gruithuisen  in  München,  obschon  die 
sehr  unvollkommenen  Instrumente  desselben  sich  am  Lebenden  nicht 
bewährten.  In  Frankreich  wurde  Gruithuisens  Erfindung,  wie  es 
scheint,  durch  die  Vorlesungen  von  Marjolie  bekannt,  zu  dessen 
Zuhörern  Civiale  gehörte. 

Aber  die  sichere  Methode,  den  Stein  in  der  unverletzten  Blase 
soweit  zu  zertrümmern,  dass  nun  seine  Trümmer  freien  Ausgang 
finden,  würde  technisch-instrumentell  erst  durch  Heurteloup  ge- 
funden. Sein  1832  angegebenes  Instrument,  der  Percuteur,  ist  das 
Vorbild  aller  eigentlichen  Lithotriptoren.  Er  zeigt  bereits  die  zwei 
Arme,  von  denen  der  „männliche"  im  „weiblichen"  gleitet  und  die 
mit  ihren  löffeiförmigen  Enden  den  Stein  ergreifen  und  festhalten; 
ein  Hammerschlag  liess  den  Stein  zerspringen.  Eine  Reihe  technischer 
Aenderungen  vervollkommneten  das  Instrument  dann,  so  der  Ersatz 
des  Hammers  durch  die  Schraub  Vorrichtung  von  Segalas  und 
Civiale,  der  Charriere sehe  Schlüssel,  Thompsons  Griff' u.  s.  w. 

Nach  starken  Kämpfen,  besonders  in  der  Pariser  Akademie  (1835), 
eroberte  sich  die  Lithothrypsie  das  Bürgerrecht.  Es  entwickelte  sich 
durch  die  grossen  Operateure  (Civiale,  Ivanchic,  Dittel,  Henry 
Thompson,  Guyon)  eine  bestimmte  Form  der  Operation:  Kurze 
Sitzungen  von  3—5  Minuten  Dauer  ohne  Narkose,  Wiederholung  der 
Sitzungen  erst  nach  eingetretener  vollkommener  Beruhigung  der  Blase. 

Ein  Umschwung  trat  1878  durch  Bigelow  ein;  er  forderte  die 


VerdauTUigsapparat,  Harn-,  Blasen-  imd  Geschlechtskrankheiten.  707 

Sitzungen  auszudehnen,  bis  der  Stein  wirklich  zertrümmert  und  ent- 
fernt war  und  gab  hierfür  ein  geeignetes  Instrumentarium  an.  Durch 
besonders  starke  Instrumente  und  durch  eine  an  die  vollkommene 
Zerpulverung  der  Steine  sich  anschliessende  Auspumpung  der  Blase 
mit  dicken  Evakuationskathetern  und  einem  Aspirator  erreichte  er 
seinen  Zweck.  Tiefe  Narkose  war  dabei  erforderlich,  die  später  viel- 
fach durch  lokale  Anästhesie  ersetzt  wurde.  Bigelows  Prinzip  drang 
siegreich  durch  und  schränkte  die  Gefahr  der  Lithrothrypsie  erheblich 
ein.  Die  Kystoskopie  nach  Nitze  erwies  sich  hierbei,  namentlich 
bei  Anwendung  seines  Evakuationskjstoskopes  und  Operationskj'sto- 
skopses.  als  ein  äusserst  wertvolles  Hilfsmittel.  Die  Technik  der 
Operation  ist  gegenwärtig  so  glänzend  entwickelt,  dass  D  i  1 1  e  1 , 
Marc,  Frejer  u.  a.  lange  Serien  von  Fällen  ohne  jeden  Todesfall 
mitteilen  konnten. 

Von  den  blutigen  Methoden  des  Steinschnitts  war  zu  Anfang  des 
12.  Jahrhunderts  ganz  vorwiegend  die  perineale  Methode  aus- 
gebildet und  in  Anwendung,  die  schon  Jahrhunderte  lang  als  Spezial- 
kunst  besonders  ausgebildeter  „Steinschneider"  geübt  worden  war. 
Seit  Thompsons  glänzenden  Operationsreihen  galt  der  Seitenstein- 
schnitt  als  der  eigentlich  klassische  Schnitt.  Er  gestattete  die  Ent- 
fernung von  Konkrementen  bis  zu  3  cm  Durchmesser  ohne  Zerrung 
oder  Quetschung  der  Wundränder;  bei  grösseren  Steinen  sah  man  sich 
gezwungen,  noch  eine  Zerbrechung  derselben  im  Blaseninnern  anzu- 
schliessen.  Erst  in  den  siebziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  ver- 
schaflFte  Volkmann  dem  Medianschnitt  durch  seine  warme 
Empfehlung  wieder  Anhänger. 

Der  hohe  Schnitt,  die  Eröffnung  der  Blase  über  der  Symphyse, 
galt  bis  in  unsere  Tage  hinein,  als  ausserordentlich  schwierig  und 
bedenklich,  namentlich  wegen  der  befürchteten  Verletzung  des  Bauch- 
fells. Erst  die  Näherung  der  Blase  an  die  Bauchwand  durch  Ein- 
führung eines  mit  Wasser  angefüllten  Behälters  in  das  Eektum  nach 
Petersen  erleichterte  die  Operation,  noch  mehr  aber  Trendelen- 
burgs  Beckenhochlagerung,  wobei  die  Eingeweide  stark  nach  unten 
sinken  und  die  Bauchfellfalte  mit  sich  ziehen. 

Hierdurch  wurde  die  Operation  zu  einer  für  die  meisten  Fälle 
leichten,  zumal  die  Einführung  der  L  i  s  t  e  r  sehen  Antisepsis  und  später 
die  Asepsis  die  Furcht  vor  einer  etwaigen  Verletzung  des  Bauchfells 
zurücktreten  Hess  und  gegen  die  Gefahr  einer  Harninfiltration  die  durch 
Bruns  zuerst  geübte  Naht  der  Blase  nach  der  Operation  sich  ein- 
bürgerte. Da  die  Operation  einen  unvergleichlich  sicheren  und  klaren 
Einblick  in  das  Operationsfeld  erlaubt,  wurde  sie  von  vielen  Chirurgen 
neuerdings  bevorzugt.  Die  Mortalität  nach  der  Sectio  alta  ist  denn 
auch  im  Laufe  der  Zeit  wesentlich  eingeschränkt  worden. 

Die  ersten  Versuche,  die  Harnröhre  dem  Gesichtsinn  zugänglich 
zu  machen,  stammen  aus  dem  Beginn  des  neunzehnten  Jahrhunderts, 
wo  Bozzini,  ein  Arzt  aus  Frankfurt  a.  M.,  einen  zur  Untersuchung 
von  „Kanälen  und  Höhlen  des  menschlichen  animalischen  Körpers" 
eingerichteten  Apparat  konstruierte.  Ein  Bestandteil  desselben  eignete 
sich  z.  B.  zur  Untersuchung  der  hinter  dem  Gaumen  gelegenen  Teile, 
während  ein  anderer  passend  eingerichteter  Bestandteil  die  Unter- 
suchung der  Harnröhre  zum  Gegenstande  hatte.  Sein  Apparat,  der 
sogenannte  Lichtleiter,  fand  bald  überschwängliches  Lob,  bald  ab- 
fällige Beurteilung,  aber  wenig  praktische  Beachtung,  da  die  mecha- 

45* 


708  Georg  Korn. 

nisclien  und  physikalischen  Hilfsmittel  der  Untersuchung  den  Aerzten 
jener  Zeit  ungewohnt  und  wenig  sympathisch  waren.  Auch  brachte 
Bozzini  nur  spärliche  Mitteilungen  über  die  Eesultate  von  Unter- 
suchungen. 

Sein  Apparat  geriet  in  Vergessenheit,  so  dass  Sega  las  im 
Jahre  1826  ein  neues,  auf  anderen  Prinzipien  aufgebautes  Speculum 
urethro-cystique  konstruierte,  das  von  den  später  gebräuchlichen 
Apparaten  in  den  Grundziigen  wenig  abwich.  Seine  Publikation  ver- 
anlasste 1827  einen  Amerikaner,  John  Fisher,  zur  Bekanntgabe 
eines  ziemlich  komplizierten  Instruments,  das  zur  Beleuchtung  dunkler 
Eäume  dienen  sollte.  Später  (1840)  nahm  ein  englischer  Arzt, 
A  V  e  r  y ,  unabhängig  von  diesen  wenig  beachteten  Veröffentlichungen, 
die  Untersuchung  innerer  Organe  mittels  künstlicher  Beleuchtung 
zum  Ziel,  und  zwar  sowohl  für  den  Kehlkopf,  als  für  die  Harnröhre. 
Das  von  Avery  erzielte  Sehfeld  hatte  nur  einen  sehr  kleinen  Durch- 
messer, so  dass  die  Resultate  seines  Instruments  nur  sehr  mangelhaft 
gewesen  sein  können.  Im  übrigen  sind  in  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  nur  kleinere,  einfachere  Instrumente,  die  nur  die 
vordere  Hälfte  der  Urethra  sichtbar  machen  sollten,  zu  verzeichnen, 
so  von  Mal  herbe  (1842),  Espel  (1844).  Bloss  ßatier  (1843)  und 
Cazenave  (1846)  konstruierten  ein  sogenanntes  Speculum  urethrae, 
das  im  Wege  der  Durchleuchtung  der  Harnröhre  sichtbar  machen 
sollte. 

Alle  diese  Bestrebungen  auf  dem  Gebiete  der  Endoskopie  wurden 
bald  vergessen.  Erst  Desormeaux  schuf  hier  gründlich  Wandel. 
Im  Jahre  1853  legte  er  der  Academie  de  Medecine  in  Paris  sein 
Endoskop  vor  und  erhielt  er  für  diese  Leistung  den  Argenteuilpreis. 
Im  Jahre  1865  veröffentlichte  er  dann  eine  ausführliche  Arbeit  über 
die  Krankheiten  der  Harnröhre  und  Harnblase  mit  Rücksicht  auf 
ihre  Diagnose  und  Therapie  mit  Hilfe  des  Endoskops,  die  Aufsehen 
erregte.  Sein  Instrument  ermöglichte  ihm,  nicht  nur  die  Harnröhre 
und  Harnblase,  sondern  auch  verschiedene  andere  Kanäle  und  Höhlen 
genau  zu  demonstrieren.  Die  Methode  der  Endoskopie  ermöglichte 
zugleich  ein  gründlicheres  Studium  der  Krankheiten  der  Harnröhre 
und  zwar  sowohl  der  Tripperformen  alleine  als  auch  in  ihrem  Zu- 
sammenhange mit  der  Entstehung  der  Strikturen  u.  s.  w.  Eine  Reihe 
von  Aerzten  in  den  verschiedenen  Ländern  eignete  sich  nun  die 
endoskopische  Untersuchungsmethode  an  und  verbesserte  sie  teilweise. 
Eine  solche  Aenderung  veröffentlichte  1865  Cruise  in  Dublin, 
während  in  Deutschland  Fürstenheim  das  Endoskop  allgemein 
bekannt  machte  und  das  Desormeauxsche  Instrument  abänderte,  um 
eine  etwas  bessere  und  leichter  zu  handhabende  Beleuchtung  zu  ge- 
winnen. In  Amerika  konstruierte  Andrews  nach  dem  Apparat  von 
Desormeaux  ein  Endoskop,  bei  dem  Magnesiumlicht  zur  Anwendung 
kam.  Eine  Reihe  weiterer  Verbesserungen  betraf  teils  die  Wahl 
einer  besseren  Lichtquelle  (Gas-,  Petroleum-,  Magnesium-,  elektrisches 
Licht),  teils  eine  leichtere  Handhabung  des  Instruments  u.  s.  w. 

Inzwischen  aber  erachtete  man  vielfach  die  komplizierten  Mecha- 
nismen zur  Beleuchtung  der  Harnröhre  u.  s.  w.  für  überflüssig  und 
suchte  nach  einfachen  Vorrichtungen,  wie  bei  der  künstlichen  Be- 
leuchtung anderer  Organe.  Bereits  im  Jahre  1862  schlug  Haken 
den  einfachen  Reflektor  zur  Beleuchtung  seines  Dilatatorium  urethrae 
vor;  ebenso  nahmen  sich  Crouviard  und  Reder  die  Beleuchtungs- 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  709 

art  des  Laiyngoskops  zum  Muster.  1879  schlug  Fränkel  in  Berlin 
noch  die  Benutzung  des  mit  einem  Hohlspiegel  erzielten  verkleinerten 
Flammenbildes  zu  endoskopischen  Zwecken  vor. 

Seit  1872  bemühte  sich  J.  Grünfeld  in  Wien  um  die  verein- 
fachte endoskopische  Untersuchung  der  Harnröhre  und  Harnblase. 
Sein  Beleuchtungsapparat  bestand  in  dem  einfachen  in  der  Laryngo- 
skopie üblichen  Eeflektor;  ferner  verbesserte  er  die  endoskopischen 
Sonden.  Diese  einfachere  Methode  fand  bald  einen  grossen  Kreis  von 
Anhängern.  Später  strebten  Trouve  in  Paris  (1878),  Nitze  in  Wien 
(1879)  eine  bessere  Beleuchtung  mit  elektrischem  Lichte  an,  und  zwar 
nach  dem  Prinzipe  der  direkten  Beleuchtung  der  zu  untersuchenden 
Organe.  Unter  den  von  Trouve  zu  verschiedenen  Zwecken  kon- 
struierten Instrumenten  zur  Untersuchung  verschiedener  Organe 
(Polyskop)  befand  sich  auch  eines  zur  direkten  Beleuchtung  der 
Blase  (Cystoskop),  mit  dessen  Hilfe  die  beleuchtete  und  vergrösserte 
Schleimhautpartie  zu  sehen  war. 

Ein  Umschwung  in  der  ganzen  Frage  der  Besichtigung  des 
Blaseninnern  wurde  durch  Max  Nitze  angebahnt,  der  seine  von 
Leiter  hergestellten  Instrumente  in  der  Sitzung  der  Wiener  Gesell- 
schaft der  Aerzte  vom  9.  Mai  1879  demonstrierte.  Nitze  brach  mit 
allen  Traditionen,  führte  die  Lichtquelle  an  der  Spitze  eines  katheter- 
förmigen  Instrumentes  in  die  Blase  ein  und  erzielte  durch  einen  in 
der  Achse  des  Instrumentes  angebrachten  optischen  Apparat  eine 
Vergrösserung  des  Gesichtsfeldes.  Als  Lichtquelle  wählte  Nitze  ur- 
sprünglich einen,  durch  den  galvanischen  Strom  zur  Weissglut  er- 
hitzten Platindraht.  Um  die  Erwärmung  des  Apparates  zu  verhindern^ 
war  in  dem  Cystoskop  eine  Leitung  angebracht,  durch  die,  während 
die  Lampe  glühte,  ein  Strom  kalten  Wassers  geleitet  wurde.  Später 
verbesserte  Nitze  sein  Instrument  noch  wesentlich.  Als  Lichtquelle 
dient  ein  Mignonglühlämpchen  an  der  Spitze,  die  Wasserspülung  ist 
durch  die  geringe  Erhitzung  der  Flamme  überflüssig,  Verbesserungen 
am  optischen  Apparat  haben  das  Gesichtsfeld  wesentlich  erweitert. 
Für  den  Fall,  dass  die  Harnröhre  nicht  gut  passierbar  und  die  Blase 
wenig  dehnbar  ist,  konstruierte  Nitze  dann  noch  ein  Irrigations- 
kystoskop  mit  besonderen  Vorrichtungen. 

Durch  die  Kystoskopie  wurde  auch  die  Kathete risierung 
der  Harnleiter  zu  einer  klinisch  brauchbaren  Methode,  die  ohne 
vorgängige  Operation  zuerst  von  Pawlik  ausgeführt  wurde.  Der 
kystoskopische  Harnleiterkatheterismus  wurde  von  Brenner  1888  in- 
auguriert, namentlich  durch  Nitzes  und  C aspers  Arbeiten  gefördert, 
die  ein  konkav  gefenstertes  Kystoskop  hierbei  verwandten.  Die 
ersten  brauchbaren  photographischen  Bilder  der  Harnblase  lieferte 
R.  Kutner  (1891). 

Den  Ausgang  der  Studien  über  die  Blasentzündung  bildete 
die  Ergründung  der  ammoniakalischen  Zersetzung  des  Harnes,  die  als 
das  auffallendste  Zeichen  bestehender  Cystitis  frühzeitig  erkannt  wurde. 
Der  Chemismus  der  Harnzersetzung  stand  im  Mittelpunkte  des  Interesses. 
Von  Boerhave  (1721)  begonnen,  wurden  diese  Arbeiten  von  R o u e  1 1  e 
cadet,  Cruishank  fortgesetzt  und  von  Fourcroy  und  Vauquelin 
zu  einem  gewissen  Abschluss  gebracht,  als  sie  (1799)  den  Harnstoff 
entdeckten  und  den  Zerfall  dieses  Körpers  unter  Bildung  von  Ammoniak 
feststellten,  wenn  der  Harn  an  der  Luft  stehen  gelassen,  die  bekannten 
Veränderungen  einging. 


710  Georg  Korn. 

Von  Fourcroy  und  Vauquelin  bis  Liebig  und  Dumas  bescliäf- 
tig-ten  sich  dann  die  Chemiker  eifrig  mit  der  Erforschung  der  Ursachen 
der  ammoniakalischen  Harngärung.  Diese  Frage  fand  dann  im 
Jahre  1859  durch  Pasteurs  Werk  „Sur  les  generations  spontanees" 
eine  überraschende  Lösung.  Die  erhitzte  Luft  erwies  sich  als  voll- 
kommen indifferent,  ein  Kardinalversuch,  durch  den  die  Bedeutung  des 
Sauerstoffs  für  die  Harngäruug  vernichtet  war.  Dagegen  trat  die 
Zersetzung  an  demselben  Harne  ein,  wenn  ein  Asbeststückchen,  an 
welchem  gewöhnlicher  Staub  haftete,  in  die  Flüssigkeit  gebracht 
wurde.  Im  veränderten  Harne  gelang  es  Pasteur,  Mikroorganismen, 
Bakterien,  rosenkranzförmig  aneinander  gereihte  Körperchen  nach- 
zuweisen, die  als  das  organisierte  Ferment  der  Harngärung  bezeichnet 
wurden;  stets  ist  nach  Pasteur  die  Zersetzung  des  Harnstoffes  in 
kohlensaures  Ammon  an  die  Gegenwart  und  Entwicklung  dieser  Mikro- 
organismen geknüpft.  Es  zeigte  sich,  dass  zur  Fortpflanzung  der 
Keime  und  zur  Anregung  der  Fermentation  im  Harne  eine  entsprechend 
hohe  Temperatur  erforderlich  sei  und  dass  die  Keime  bei  zu  hohen 
Hitzegraden  absterben.  Bei  der  Blasenentzündung  werden  die  Bak- 
terien, die  erwiesenermassen  im  Staube,  wie  in  der  atmosphärischen 
Luft  vorhanden  waren,  durch  die  mangelhaft  gereinigten  Instrumente 
in  die  Blase  gebracht,  wo  sie  alsbald  die  Zersetzung  des  Harns 
anregen. 

Diese  Annahme  Pasteurs  fand  durch  eine  Beobachtung  Ludwig 
T  raub  es  bald  ihre  klinische  Bestätigung:  In  einem  Falle  von  Harn- 
verhaltung war  der  klare,  sauer  reagierende  Harn  nach  dem  Katheterismus 
im  Verlaufe  weniger  Tage  trübe,  eitrig  und  ammoniakalisch  geworden; 
es  fanden  sich  neben  Eiter  Vibrionen  als  Ursache  der  Hanitrübung. 
Mit  Rücksicht  auf  diese  Beobachtung  empfahl  Traube  (1864)  zur  Ver- 
hütung von  Blasenentzündung,  die  Katheder  vor  dem  Gebrauch  durch 
Einlegen  in  kochendes  Wasser  zu  sterilisieren. 

Später  wurden  dann  von  mehreren  Seiten  harnstoffzersetzende 
Mikroben  nachgewiesen.  Leube  und  Gras  er,  die  zuerst  die  Koch- 
sche  Methode  bei  ihren  Untersuchungen  anwendeten,  züchteten  aus 
Harn,  der  an  der  Luft  ammoniakalisch  geworden  war,  vier  Arten  mit 
Harnstoffen  zersetzende  Eigenschaften;  sie  wiederlegten  zugleich  die 
Theorie  von  Musculus;  nach  der  ein  unorganisiertes  lösliches  Fer- 
ment die  Ursache  der  Harngärung  sei. 

Eine  Anzahl  experimenteller  Arbeiten  schien  dann  Pasteurs  Ent- 
deckung zu  erschüttern.  Durch  mangelhafte  Tierversuche  und  falsch 
gedeutete  klinische  Beobachtungen  veranlasst,  kehrte  man  zu  den 
Ansichten  zurück,  die  das  Blut  oder  den  Eiter  im  Harn  als  Erreger 
der  Gärung  gelten  Hessen.  Charcot,  der  bei  spinalen  Blasen- 
lähmungen oft  unverhältnismässig  rasch  eitrig-ammoniakalischen  Harn 
auftreten  sah,  brachte  die  Erscheinungen  sogar  mit  trophischen  Störungen 
zusammen. 

Erst  die  bakteriologische  Periode  seit  Robert  Koch  brachte 
hier  Fortschritte.  Das  Plattenkulturverfahren  ermöglichte  die  Mikroben 
zu  isolieren  und  rein  zu  züchten;  ferner  gewann  man  die  Keime  nicht 
mehr  aus  dem  spontan  zersetzten,  sondern  aus  dem  Cystitisharn.  So 
fand  Guyon,  dass  die  einfache  Einbringung  von  Kulturen  nicht  ge- 
nügte, um  Entzündung  der  Blase  anzuregen.  Ferner  ergab  sich,  dass 
die  Harnwege  bei  einfacher,  experimentell  erzeugter  Retention  asep- 
tisch blieben,  dass  aber  die  Injektion  pyogener  Bakterien,  wenn  gleich- 


Verdaiiungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  711 

zeitig  Harnverhaltung  bewii'kt  wurde,  stets  von  Entzündung  der  Blase 
gefolgt  war. 

Rovsing,  der  1890  und  1898  seine  ausführliche  Arbeiten  ver- 
öifentlichte,  konnte  in  30  Fällen  von  Blasenentzündungen  aus  dem 
HaiTie  eine  Reihe  von  harnstoffzersetzenden  Mikrobenformen  rein  züchten. 
Er  erklärt  die  Bakterien  für  die  einzigen  und  wirklichen  Ursachen 
der  Entzündung  der  Blase;  die  Cj'stitismikroben  müssen  mit  dem 
Vermögen,  den  Harnstoff  zu  zersetzen,  die  Kraft,  Eiterung  zu  erregen, 
verbinden.  Zunächst  wird  der  Harn  zersetzt,  wodurch  ein  Reizzustand 
der  Blasenwand  hervorgerufen  wird.  Unter  den  so  geschaffenen  günstigen 
Bedingungen  können  die  Keime  an  der  Schleimhaut  dii*ekt  haften, 
wo  sie  entzündungserregend  wirken. 

Auch  der  Ursprung  der  Mikroben  und  die  Wege  der  Infektion 
studierte  Rovsing;  er  fand  in  der  gesunden  Harnröhre  eine  Reihe 
von  Keimen,  welche  er  für  die  Blase  als  pathogen  festgestellt  hatte. 
So  erklärte  sich  die  Thatsache,  dass  man  auch  bei  Anwendung  steriler 
Instrumente  die  Blase  infiziert  fand.  Abgesehen  von  dem  urethralen 
Wege  der  Infektion  deckte  er  die  Entstehung  der  Blasenentzündung 
durch  Fortpflanzung  eines  Entzündungsprozesses  aus  den  benachbarten 
Organen  auf  die  Blase  auf,  ferner  wies  er  auf  die  Niere  als  den 
Ursprung  der  Miki'oben  und  auf  die  durch  die  Blutbahn  vermittelte 
Infektion  des  Blutes  hin.  Zur  Erzeugung  eitriger  Cystitis  sei  die 
Fähigkeit  des  Organismus,  den  Harnstoä"  zu  spalten,  erforderlich.  Der 
Tuberkelbacilles  allein  erzeuge  die  Cystitis  ohne  Intervention  der 
Zersetzung  des  Harns.  Die  tuberkulöse  Cystitis  entstehe  entweder 
dui'ch  direkte  Verpflanzung  eines  tuberkulösen  Ulcerationsprozesses  in 
die  Blase  oder  durch  metastatische  Ablagerung  der  Tuberkelbacillen 
in  die  Schleimhaut. 

Krogius  (1890—94)  wies  dann  nach,  dass  viele  schon  früher 
beschriebene  Bakterienformen  mit  dem  Bacteriumcoli  commune 
identisch  waren.  So  war  in  einer  grossen  Zahl  von  Blasenentzündungen 
eine  Mikrobenform  als  Urheber  der  Infektion  bestimmt,  der  die  Fähig- 
keit, den  Harnstoff'  zu  zersetzen,  erwiesenermassen  mangelt.  Der  er- 
brachte Nachweis  von  dem  häufigen  Vorkommen  „saurer  Cystitis" 
stand  mit  der  Bedeutung  der  ammoniakalischen  Zersetzung  für  die 
Cj'stitis  in  Widerspruch.  Guyon  und  seine  Schule  betrachteten  die 
Zersetzung  des  Harns  in  Gegensatz  zu  Rovsing  als  ein  sekundäres, 
untergeordnetes  Symptom  der  Cystitis.  Die  weiteren  Arbeiten  (von 
Melchior  u.  a.)  schienen  mit  ihren  klinischen  und  experimentellen 
Erfahrungen  zu  Gunsten  der  französischen  Schule  zu  sprechen. 

Die  steinigen  Ablagerungen  im  Harn,  die  Harnsteine,  waren 
seit  alter  Zeit  den  Aerzten  als  auffallende  Krankheitserscheinung  be- 
kannt, auch  ihre  Symptomatologie,  ihre  Behandlung,  insbesondere  der 
Steinschnitt,  früh  ausgebildet.  Das  \^'issenschaftliclie  Verständnis  der 
Krankheit  und  die  Vervollkommnung  der  Behandlung  und  der  Dia- 
gnostik blieb  dem  neunzehnten  Jahrhundert  vorbehalten. 

Die  Struktur  der  Steine  dachte  man  sich  früher  aus  einer  grossen 
Anzahl  Einzelkrystallen  zusammengefügt.  Diese  Krj'stalle  wurden 
nach  einer  verbreiteten,  namentlich  von  Walter  und  Meckel 
von  Hemsbach  vertretenen  Anschauung  durch  eine  Art  Schleim, 
lierstammend  aus  dem  sogenannten  „steinbildenden  Katarrh"  als  Binde- 
mittel zusammengeschweisst. 

Erst   Robert   Ultzmann   beseitigte   solche  grobmechanischen 


712  Georg  Korn. 

Anschauungen.  Er  lehrte  durch  systematische  Anfertigung  dünner 
Schliffe,  wie  sie  in  der  Anatomie  für  das  Studium  von  Zahn  und 
Knochen  geübt  und  von  den  Mineralogen  bei  der  Untersuchung  der 
eigentlichen  Gesteine  mit  Erfolg  angewendet  wird,  die  Zusammen- 
setzung und  den  Aufbau  der  Konkremente  erkennen.  Dabei  zeigte 
sich  keineswegs  das  typische,  aus  den  Sedimenten  bekannte  Bild  der 
Krystalle.  Es  zeigten  sich  zwei  Liniensysteme,  ein  radiäres  und  ein 
konzentrisches,  z.  B.  bei  den  Oxalatsteinen. 

W.  Ebstein  löste  die  Konkremente  vorsichtig  auf  und  fand  nach 
Beseitigung  des  mineralischen  Anteils  zarte  Massen,  genau  die  ur- 
sprüngliche Form  des  Steins  beibehaltend,  die  man  einbetten  und 
schneiden  konnte,  und  die  wiederum  sich  als  konzentrisch  geschichtet 
ergaben.  Diese  übrigbleibenden  Massen  erwiesen  sich  als  eiweiss- 
artig;  er  nannte  sie  „organische  Substanz"  und  sah  in  ihnen  das  eigent- 
liche Gerüstmaterial,  das  die  mineralischen  Elemente  zum  Stein 
vereinigt. 

Es  zeigte  sich  also,  dass  ein  Absonderungsprodukt  der  Schleim- 
haut selber  notwendig  sei,  um  das  bindende  Gerüst  für  die  Steine 
zu  liefern.  Seinen  Ursprung  suchte  Ebstein  wesentlich  im  Epithel, 
das  eben  durch  die  Berührung  mit  dem  an  gelösten  Steinbildnern 
überreichen  Harn  nekrotisiert  wird,  sich  abstösst  und  nun  den  Grund- 
stock zur  Cementbildung  liefert.  Nicolai  er  bestätigte  später  diese 
Annahme  experimentell  durch  Erzeugung  der  Oxamidsteine  beim 
Hunde. 

Aehnliche  Verhältnisse  stellte  dann  Posner  an  anderen  Stein- 
bildungen fest.  Für  Gallensteine  wurde  diese  Aenlichkeit  durch 
Naunyns  Arbeiten  erwiesen.  Aber  es  wurde  auch  erwiesen,  dass 
dieselben  Gesetze  überall  im  Tierreich  wirken,  auch  da,  wo  es  sich 
um  normale  erstarrende  Produkte  handelt,  z.  B.  in  der  Schale  der 
Muscheln,  in  den  Otolithen  u.  s.  w.  Auch  für  die  Speichelsteine,  die 
Venensteine,  die  Prostatakonkretionen  Hess  sich  die  Analogie  fest- 
stellen. Endlich  gelang  es  auch  zu  zeigen,  dass  auch  bei  der  ein- 
fachen, nicht  zur  Steinbildung  führenden  Sedimentierung  im  Harn 
unter  Umständen  die  gleichen  Faktoren  wirksam  sind.  Zum  Aufbau 
eines  Steines  gehören  zwei  Faktoren,  eine  Abscheidung  einer  eiweiss- 
artigen  Gerüstsubstanz  und  ein  Ausfallen  eines  krystallinischen  Körpers. 
Letzterer  imprägniert  die  erstere,  er  versteinert  sie ;  nur  schwerlösliche 
Körper  machen  hiervon  eine  Ausnahme.  Als  drittes  Moment  ist  nötig, 
dass  die  Flüssigkeit  irgendwo  stagniert,  damit  die  kleinen  Körner 
Zeit  haben,  zu  Gries  oder  Steinchen  zu  wachsen.  Dieser  Punkt  ist 
namentlich  für  die  Therapie  von  grosser  Bedeutung.  Es  erklärt  sich 
so,  warum  „harnsaure  Diathese"  allein  keinen  Stein  macht,  aber  dazu 
führt,  wenn  das  nötige  Material  an  organischer  Substanz  geliefert 
wird,  wie  ein  Fremdkörper  in  jeder  Beziehung  —  durch  Erregung 
von  Nekrobiose,  durch  Darbietung  eines  Centrums  für  ausfallende 
Salze,  durch  Stagnation  innerhalb  des  Flüssigkeitsstromes  —  die 
günstigsten  Bedingungen  zur  Steinbildung  giebt,  wie  in  einer  Cystocele, 
wenn  ein  Katarrh  der  Schleimhaut  dazu  tritt,  die  Ausbildung  eines 
Steines  die  nahezu  unvermeidliche  Folge  wird. 

Die  Sonder  Untersuchung  der  Harnsteine  ist  schon  längst 
Gemeingut  der  Aerzte,  doch  hat  die  Steinsonde  im  Laufe  der  Zeit 
sehr  wesentliche  Verbesserungen  erfahren,  so  dass  der  Schnabel  alle 
Teile  der  Harnblase  gleichmässig  abtasten  kann.    Thompsons  silberne 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  713 

Sonde,  zugleich  als  Katheter  benutzbar,  erlaubte  die  Blase  in  ver- 
schiedenen Füllungszuständen  zu  untersuchen.  Den  grössten  Fortschritt 
aber  brachte  die  Einführung  der  Nitzeschen  Kystoskopie, 
welche  die  Blase  erhellte. 

Das  Beschauen  und  Untersuchen  des  L'rins  wurde  zwar  seit  uralten 
Zeiten  von  den  Aerzten  geübt,  doch  blieb  die  Kenntnis  der  Nieren- 
krankheiten  in  der  älteren  Medizin  und  noch  bis  in  unser  Jahr- 
hundert hinein  sehr  mangelhaft.  Die  antike  Medizin  kannte  nur  die 
Verwundungen  und  Eiterungen  der  Niere  und  die  Nierensteine;  auch 
wusste  man,  dass  Abnahme  der  Harnmenge  eine  Ursache  von  Wasser- 
sucht sei.  A et  ins  und  später  Avicenna  gaben  an,  dass  im  Ver- 
laufe von  Verhärtung  der  Nieren  Wassersucht  eintritt.  Spätere  Mit- 
teilungen über  einzelne  Fälle  von  Nierenerkrankungen,  die  sich  bei 
Schenk,  Bonet,  Morgagni,  J.  P.  Frank,  Portal  u.  a.  finden, 
trugen  zur  Bereicherung  der  Nierenpathologie  wenig  bei.  Nur  mehrten 
sich  die  Beobachtungen  über  das  Zusammentreffen  von  Wassersucht 
und  Veränderung  der  Nieren.  Aber  noch  Sau  vages  kannte  wohl 
eine  Anasarka  infolge  von  Blasensteinen,  aber  keinen  von  den  Nieren 
ausgehenden  Ascites.  Selbst  Cotugnos  wichtige  Entdeckung  (1770) 
einer  durch  Hitze  gerinnbaren  Substanz  (Eiweiss)  im  Harn  von  Wasser- 
süchtigen und  Diabetikern  hatte  zunächst  nur  den  Erfolg,  dass  man 
die  Wassersuchten  einteilte  in  solche  mit  und  ohne  Eiweiss  im  Urin 
(Cruikshank).  Ein  weiterer  Fortschritt  wurde  angebahnt  durch  den 
zuerst  von  Brande  („An  account  of  some  changes  from  disease  in  the 
composition  of  human  urine",  London  1807),  später  von  Scudamore 
(,,A  treatise  on  the  nature  of  gout" ,  London  1823)  gelieferten 
Nachweis,  dass  der  eiweisshaltige  Harn  auffallend  wenig  Harnstoff 
enthält. 

Eine  entscheidende  Wendung  führte  erst  E.  Bright,  Arzt  an 
Guys  Hospital  in  London,  herbei.  Nachdem  schon  im  Jahre  1823 
A 1  i  s  0  n  in  Edinburg  angegeben  hatte,  in  mehreren  Fällen  von  Wasser- 
sucht mit  Eiweissharn  harte,  höckerige  Nieren  gefunden  zu  haben, 
sprach  Bright  in  einer  Reihe  von  Abhandlungen,  von  denen  die  erste 
1827  („Reports  of  medical  cases"),  die  weiteren  in  den  dreissiger  und 
vierziger  Jahren  erschienen,  mit  Bestimmtheit  aus,  dass  viele  Wasser- 
suchten in  einer  Erkrankung  der  Nieren  ihren  Grund  haben,  die  sich 
durch  den  Eiweissgehalt  des  Urins  zu  erkennen  geben.  Der  Erforschung 
dieser  Nierenerkrankung  wurde  nun  seitens  der  Aerzte  ein  eifriges 
Interesse  gewidmet,  wobei  die  gleichzeitig  sich  schnell  entwickelnden 
mikroskopischen  und  chemischen  Untersuchungsmethoden  den  For- 
schungen zu  gute  kamen.  Die  Kenntnis  von  dem  feineren  Bau  der 
Nieren  und  ihrer  Funktion  erweiterte  sich  bald  in  früher  ungeahnter 
Weise  und  gab  der  Pathologie  eine  sichere  Grundlage. 

Zunächst  kam  dieser  Aufschwung  der  Nierenpathologie  der  Gruppe 
von  Nierenkrankheiten  zu  gute,  die  man  als  „Brightsche  Nierenkrank- 
heit" zusammenfasste  und  in  weiterem  Verlaufe  nieder  in  verschiedene 
Formen  zerlegte,  sodann  auch  den  anderen  Nierenleiden,  den  Ge- 
schwülsten, Lageveränderungen  u.  s.  w.  Die  früher  sehr  vernachlässigte 
Pathologie  der  Nieren  wurde  nun  eingehend  litterarisch  bearbeitet. 
Die  erste  grosse  Monographie  über  sämtliche  Nierenkrankheiten  schrieb 
P.  F.  0.  Ray  er  („Traite  des  maladies  des  reins",  Paris  1839 — 41). 
Seine  Nachfolger  waren  in  England  G.  Johnson:  ..On  the  diseases 
of  the  kidney",  London  1852,   in  Deutschland  Jul.  Vogel:  „Krank- 


714  Georg  Koni. 

heiten  der  harnbereitenden  Organe"  als  Bd.  VI  von  Virchows  Hand- 
buch der  speziellen  Pathologie,  Erlangen  1856—65,  dann  Rosenstein: 
„Die  Pathologie  und  Therapie  der  Nierenkrankheiten",  Berlin  1863.  Das 
letzte  Menschenalter  brachte  dann  eine  Fülle  von  Bearbeitern  dieser 
Speziallitteratur.  (Vgl.  Senator,  ,.Die  Erkrankungen  der  Nieren", 
Wien  1896.) 

Die  Nieren  Chirurgie  ist  erst  in  den  letzten  Jahrzehnten 
des  19.  Jahrhunderts  der  internen  Behandlung  zur  Seite  getreten  und 
namentlich  durch  Gustav  Simon,  Czerny,  Bardenhauer, 
J.  Israel,  Hahn  und  Küster  in  Deutschland  ausgebildet  worden! 
Die  Grundlage  dieser  Operationen  bildet  die  N  e  p  h  r  e  k  t  o  m  i  e.  Schon 
im  Jahre  1861  machte  der  Amerikaner  Wolcott  eine  Nephrektomie, 
nachdem  er  den  Leib  in  der  Annahme  einer  Lebercyste  eröffnet  hatte. 
Der  Verlauf  war  ungünstig.  Im  Jahre  1867  versuchte  Spencer 
Wells  die  Ausschälung  der  Niere  bei  einer  Frau,  deren  Operation  er 
unter  der  Voraussetzung,  es  mit  einer  Eierstockscyste  zu  thun  zu  haben, 
unternommen  hatte;  es  handelte  sich  jedoch  um  eine  Steinniere.  Der 
Eingriff  wurde  wegen  zu  erheblichen  Schwierigkeiten  abgebrochen, 
die  Frau  ging  zu  Grunde.  Auch  eine  Nephrektomie  von  Peaslee 
(1868)  bei  grosser  Nierengeschwulst,  die  gleichfalls  für  eine  Eierstocks- 
geschwulst gehalten  wurde,  verlief  unglücklich.  Erst  G.  Simon 
unternahm  1869  die  erste  wohlüberlegte,  gut  vorbereitete  und  be- 
absichtigte Ausschälung  der  Nieren,  die  denn  auch  erfolgreich  war. 
Anfangs  fand  Simon  wenig  Nachfolger;  noch  1885  nannte  Albert 
in  Wien  die  Nephrektomie  eine  „Verirrung  der  Zeit".  Mit  der  Zeit 
und  der  verbesserten  Methodik  mehrten  sich  die  Nephrektomien,  so 
dass  E.  Küster  1901  („Die  Nierenchirurgie  im  19.  Jahrhundert", 
Archiv  f.  klin.  Chirurgie,  Bd.  64)  für  die  letzten  10  Jahre  (1891 — 
1900)  550  Operationen  mit  88  Todesfällen  (16  %)  zusammen- 
stellte. Die  Chirurgie  konnte  die  Pathologie  der  Niere  wesentlich 
aufklären. 

Sehr  zu  gute  kam  der  Nierenchirurgie,  wie  der  gesamten  Be- 
handlung der  Nieren  die  verbesserten  diagnostischen  Hilfsmittel,  nament- 
lich die  Cystoskopie  und  der  Katheterismus  der  Harnleiter. 
Der  letztere  war  von  Simon  erdacht  und  zuerst  in  mühevoller  Methode 
angewandt,  von  Pawlick  weiter  entwickelt,  aber  immer  noch  aus- 
schliesslich für  das  weibliche  Geschlecht  anwendbar  gemacht;  erst 
durch  das  Prinzip  der  Beleuchtung  des  Blaseninnern  nach  Nitze 
gewann  er  eine  feste  Grundlage  und  eine  grosse  technische  Vervoll- 
kommnung. Ferner  traten  in  die  Diagnostik  der  Nierenveränderung 
um  die  Wende  des  19.  Jahrhunderts  zwei  Verfahren,  die  als  „funktio- 
nell e  D  ia  g  n  o  s  t  i  k"  bezeichnet  werden,  die  G  e  f  r  i  e  r  p  r  o  b  e  (K  r  y  o  - 
skopie)  und  die  Phloridzinmethode. 

Erstere,  von  Koranyi  in  Pest  (1897)  in  die  Praxis  eingeführt 
und  V.  Krümmel,  Casper  und  Ei  cht  er  empfohlen,  beruht  auf  der 
Thatsache,  dass  das  normale  menschliche  Blut  einen  Gefrierpunkt  von 
0,56** — 0,58*^  unter  dem  Gefrierpunkte  des  destillierten  Wassers  be- 
sitzt. Sinkt  der  Gefrierpunkt  darunter,  so  ist  ungenügende  Nieren- 
arbeit auf  beiden  Seiten  vorhanden.  Auch  für  den  Harn,  dessen 
Gefrierpunkt  normal  unter  dem  des  Blutes  liegt,  ist  diese  Bestimmung 
verwendbar.  Nähern  sich  die  Gefrierpunkte  beider  Flüssigkeiten  oder 
kehren  sie  sich  sogar  um,  so  wird  damit  bewiesen,  dass  die  Arbeit 
der   Nieren   ungenügend   ist,   dass  sie  ihre  Aufgabe,  die  osmotische 


Verdauungsapparat,  Harn-,  Blasen-  und  Geschlechtskrankheiten.  715 

Spannung  des  Nierenblutes  herabzusetzen,  nicht  zu  erfüllen  vermögen. 
Die  Verbindung-  des  Harnleiterkatheterismus  mit  der  Kryoskopie  oder, 
mit  anderen  Worten,  die  geforderte  Bestimmung  der  molekularen 
Konzentration  des  Harns  jeder  einzelnen  Niere  ist  deshalb  von 
grundlegender  Bedeutung  für  die  Prognose. 

Wesentlich  ergänzt  wird  die  funktionelle  Nierendiagnostik  durch 
die  Phloridzin probe.  Dieser  von  v.  Mering  entdeckte  Stoff 
hat  nach  Einbringung  in  die  Blutbahn  die  Fähigkeit,  eine  nur  etwa 
3  Stunden  dauernde  Zuckerabscheidung  durch  den  Harn  hervorzurufen ; 
die  Zuckerbüdung  findet  in  der  Niere  selbst  statt.  Die  Zuckeraus- 
scheidung nimmt  nun  in  geradem  Verhältnis  zu  der  Einschränkung 
des  absondernden  Nierengewebes  ab,  sie  kann  sogar  in  einer  oder  in 
beiden  Nieren  ganz  erlöschen.  Die  gesonderte  und  vergleichende 
Untersuchung  des  Urins  beider  Nieren  auf  ihren  Zuckergehalt  giebt 
daher  eine  Handhabe  für  die  Beurteilung  der  Leistungsfähigkeit  einer 
oder  auch  beider  Nieren;  der  Harnleiterkatheterismus  erweist  sich 
also  auch  hier  als  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel.  Das  Verfahren  ist 
ein  verhältnismässig  einfaches  und  war  deshalb  den  Chirurgen  um  so 
willkommener. 

Durch  die  Vervollkommnung  und  Sicherstellung  der  Diagnose 
nahm  auch  die  chirurgische  Behandlung  einen  wesentlich  anderen 
Charakter  an;  aus  dem  radikalen  Verfahren  der  ersten  zwei  Jahr- 
zehnte, die  ohne  grosse  Bedenken  die  vollständige  Beseitigung  der 
Niere  ins  Auge  fasste,  -uiirde  ein  streng  konservatives,  das  genauer 
erwägt  und  die  Ausrottung  des  Organs,  wenn  irgend  möglich,  durch 
andere  Methoden  ersetzt.  Zu  ihnen  gehören  die  Nephropexie,  die 
Nephrolithotomie,  die  Nephrotomie,  die  verschiedenen  Operationen  an 
den  Harnleitern,  endlich  die  teilweise  Nierenresektion.  Diese  Methoden 
haben  zu  einem  Stande  der  Dinge  geführt,  nach  dem  es  als  ein  Kunst- 
fehler bezeichnet  werden  muss,  wenn  auch  nur  ein  Teil  einer  Niere, 
der  noch  erhaltungs-  oder  erholungsfähig  ist,  durch  Nephrektomie  ge- 
opfert wird.  Im  übrigen  unterliegen  sowohl  Wandernieren,  wie  eitrige 
Prozesse,  Nierentuberkulose,  Steinniere,  Sackniere  und  Neubildungen 
dem  Eingreifen  des  Chirurgen,  das  hier  nur  andeutend  und  im  all- 
gemeinen erwähnt  werden  kann. 

Die  Sterilisier ung  der  Katheter  zum  Zweck  der  Ver- 
hütung von  Infektion  der  Blase  wurde  schon  von  Pasteur,  auf 
Grund  klinischer  Erfahrungen  von  Traube  (1864)  klar  angegeben. 
In  der  Aera  der  Antisepsis  wurde  jedoch  die  Frage  der  P^rzielung 
keimfreier  Instrumente  sehr  vernachlässigt.  Erst  seit  durch  Rovsing 
u.  a.  der  infektiöse  Charakter  aller  Blasenentzündungen  erschlossen 
wurde,  drängte  sich  der  modernen  bakteriologisch  gerichteten  For- 
schung die  Notwendigkeit,  aseptisch  zu  katheterisieren,  von  selbst  auf. 
Eine  Reihe  von  Autoren  (Albarran,  Alapy,  Kutner,  Delafosse, 
Grosglik)  erhoben  diese  Forderung  und  bildeten  die  Methodik  im 
einzelnen  aus. 

Die  zui-  Verwendung  kommenden  Instrumente  wurden  ursprünglich 
bloss  mechanisch  gereinigt  ocTer  mit  antiseptischen  Lösungen  in  Be- 
rührung gebracht,  ohne  dass  hierdurch  die  Gewähr  einer  sicheren 
Keimfreiheit  erzielt  wurde.  Nur  die  Sterilisation  der  Instrumente 
durch  die  Hitze  (kochendes  Wasser,  trockene  erhitzte  Luft  und 
strömende  Wasserdämpfe)  erwies  sich  als  völlige  Keirafreiheit  ver- 
bürgend.   Die  Sterilisation  im  strömenden  Dampf  wurde,  gleichwie  in 


716  Georg  Korn. 

der  gesamten  Chirurgie,  auch  zur  Sterilisierung  urologischer  Instru- 
mente in  der  jüngsten  Epoche  die  bevorzugte  Methode.  Kutner 
gab  (1892)  einen  Apparat  zum  einfachen  Sterilisieren  von  weichen 
Kathetern  an,  in  dem  der  Dampfstrom  sowohl  die  Aussenseite,  wie  die 
Lichtung  des  Katheters  bestreichen  muss.  Aehnliche  Apparate  stellten 
Alapy,  Grosglik,  Frank  u.  a.  her. 

Auch  für  die  Reinigung  der  Hände,  die  Reinigung  der  Harnröhre 
u.  s.  w.  bürgerten  sich  die  nachvielfachen  subtilen  experimentellen 
Untersuchungen  erprobten  Methoden  zur  Erzielung  möglichster  Keim- 
freiheit mit  grosser  Schnelligkeit  auch  in  der  Klinik  und  am  Kranken- 
bett ein.  Eine  historische  Uebersicht  über  diese  in  die  jüngste  Ver- 
gangenheit fallenden  Arbeiten  erübrigt  sich  hier  um  so  mehr,  als 
sie  im  wesentlichen  dem  Gebiete  der  allgemeinen  Chirurgie  an- 
gehören. 


Neuropathologie. 

Von 
Georg  Korn  (Berlin). 


Litteratur. 

W.  Erb,  lieber  die  neuere  Enticicklung  der  Nervetipathologie  und  ihre  Be- 
deutung für  den  medizinischen  Unterricht^  Leipzig  1880.  —  JJf.  2feuburger,  Die 
historische  Enticicklung  der  experimentellen  Gehirn-  und  RückenmarkspJiysiologie 
vor  Flourens,  Stuttgart  1897.  —  JP.  J.  3Iöbius,  Neurologische  Beiträge,  Heft  V, 
Leipzig  1898.  —  H.  Laehr,  Die  Litteratur  der  Psychiatrie,  Neurologie  und  Psycho- 
logie von  1459 — 1799.  3  Bände,  Berlin  1900.  —  Erb,  Handbuch  der  Elektro- 
therapie, 2.  Aufl.,  Leipzig  1886.  —  Forel,  Der  Hypnotismus  und  die  suggestive 
Psychotherapie,  4.  Auf..,  ^Stuttgart  1902.  —  C.  F.  Müller,  Handbuch  der  Neu- 
rasthenie, Leipzig  1833.  —  F.  Penzoldt  u.  A.  Stintzing,  Handbuch  der  Therapie 
innerer  Krankheiten,  Band  V,  2.  Auf..,  Jemi  1898.  —  Goldscheider  u.  Jacob, 
Handbuch  der  physikalischen  Tlierapie,  Leipzig  1901 — 1902.  —  E.  v.  Leyden, 
Die  Tabes  dorsuaiis,  3.  Auf.,  Wien  1901. 

Die  Neuropathologie  als  wissenschaftlich  fest  begründete 
Disziplin  gehört  erst  dem  neunzehnten  Jahrhundert  an.  Schon  die 
Kenntnisse  von  den  grösseren  Nerven  und  ihrer  Funktion  reichen 
nicht  allzuweit  zurück.  Erst  Sömmering  nahm  zuerst  die  jetzt 
bekannten  12  Himnervenpaare  in  der  richtigen  Ordnung  an.^  Der 
Sympathicus  wurde  zuerst  von  Willis  als  nicht  aus  dem  Vagus  ent- 
springend erkannt  und  von  Hufe  1  and  und  Bichat  als  besonderes 
Nervensystem  aufgestellt.  Der  Grund,  warum  erst  so  spät  die  exakte 
Wissenschaft  sich  der  Xervenheükunde  bemächtigte,  liegt  teils  in  dem 
tiefen  Stande  und  der  geringen  Berücksichtigung  der  Hilfswissen- 
schaften und  der  Technik  bis  ins  neunzehnte  Jahrhundert  hinein,  teils 
in  der  prinzipiellen  Abwehr  der  induktiven  Methode  und  der  experi- 
mentellen Detailarbeit  durch  die  wissenschaftlichen  Dogmatiker. 
Dennoch  ging  eine  Unterströmung  zur  experimentellen  Gehirn-  und 
Rückenmarksphysiologie,  wie  Neuburger  (1.  c.)  eingehend  nachgewiesen 
hat,  auch  durch  die  früheren  Jahrhunderte;  seit  der  Mitte  des  17.  Jahr- 
hunderts untersuchten  Männer  wie  Pourfour  du  Petit,  Moli- 
nelli,  A.  Louis,  Sabourant,  Chopart,  Legallois  u.  a.  experi- 
mentell den  Einfluss  des  Hirns   und  der  Nerven  auf  Herz,  Atmung, 


718  Georg  Korn. 

Verdauung,  Wärme  und  suchten  die  Funktionen  des  Hirns  zu  lokali- 
sieren. Ihren  Resultaten  gegenüber  bedeuteten  Ha  Hers  und  S  om- 
ni e  rings  autoritative  Veröffentlichungen  einen  Rückschritt.  Aber 
sie  blieben  vereinzelt,  zusammenhanglos,  von  der  systematisierenden 
und  spekulativen  Richtung  der  damaligen  Medizin  überflutet.  So 
konnte  Magendie,  der  mit  Flourens  die  Experimentalphysiologie 
neu  begründete,  aussprechen:  „La  medecine  est  une  science  ä  faire!" 

Lehren  wie  die  Malpighis  von  den  „Nervengeistern",  später 
Stahls  Animismus,  der  die  wissenschaftliche  Erforschung  der  Medizin 
als  überflüssig  betrachtete  und  die  Verwendung  mechanischer  und 
chemischer  Prinzipien  zur  Erklärung  organischer  Funktionen  streng 
verpönte,  die  verschiedenen  teilweise  phantastischen  Lehren  der 
Systematiker  des  17.  und  18.  Jahrhunderts,  von  denen  die  Annahme 
des  „Nervenfluidums"  noch  Sommer  in  gs  sehr  gewagte  Hypothesen 
beherrschte,  konnte  ebensowenig,  wie  später  die  Ausschreitungen  der 
Naturphilosophie  einer  nüchternen  Beobachtung  der  Thatsachen  günstig 
sein.  Wenigstens  leisteten  die  Anatomen,  wie  Willis,  Vieussens, 
Lancisi,  Malpighi,  Gasser  namentlich  im  17.  Jahrhundert 
manches  zur  besseren  Erkenntnis  des  Gehirns  und  Nervensystems. 
Selbst  Hallers  Arbeiten  über  die  Sensibilität  und  Irritabilität 
förderten  mehr  die  philosophischen  Spekulationen  der  Aerzte  über 
Lebenskraft  und  Lebensgeister  als  positiv-experimentelle  Beobach- 
tungen und  Untersuchungen.  Auf  Haller  beriefen  sich  dann  eine  Reihe 
Gruppen;  zunächst  stellte  William  Cullen  (1712 — 1790)  seine  Theorie 
auf,  die  alle  Lebenserscheinungen  auf  den  Einfluss  der  Nerven,  der 
„Nerventhätigkeit"  zurückführte.  Bei  fast  allen  Krankheiten  ist 
Krampf  oder  Schwäche  im  Gehirn ;  die  Schwäche  erzeugt  Fieber,  der 
Krampf  Entzündungen.  Selbst  die  Gicht  entsteht  durch  eine  Gehirn- 
affektion. Die  zweite  Gruppe  führte  John  Brown  (1735 — 1788)  mit 
dem  Prinzip  der  Reizbarkeit  und  seiner  „Erregungstheorie".  Krank- 
heiten treten  auf,  wenn  die  Erregbarkeit  zu  sehr  vermindert  oder  er- 
höht ist,  erstere  sind  asthenische,  letztere  sthenische  Krankheiten. 
Die  dritte  Gruppe  bildeten  die  Anhänger  des  Animismus,  der  „Lebens- 
kraft". Die  Vermittlungsorgane  zwischen  Körper  und  Seele  sind  die 
Nerven,  deren  raschere  oder  langsamere  Schwingungen  den  „Tonus" 
gestalten.  Stahl,  auf  dessen  Lehren  im  Grunde  dieser  „Vitalismus" 
zurückging,  war  übrigens  mit  seiner  symptomatischen  Behandlung  der 
Geisteskrankheiten  doch  seiner  Zeit  vorausgeeilt. 

Solche  Theorien  waren  nicht  geeignet,  zur  unbefangenen  Würdigung 
der  wirklichen  Lebens-  und  Krankheitserscheinungen  beizutragen.  Erst 
das  Erwachen  des  modernen  naturwissenschaftlichen  Geistes  im  Ver- 
laufe des  neunzehnten  Jahrhunderts,  der  Zug  zum  Exakten,  der  neue 
Methoden  und  technische  Hilfsmittel  ersann,  um  eine  wissenschaft- 
liche Fragestellung  zu  ermöglichen,  die  wachsende  Anhäufung  von 
wertvollem  Material  in  den  Hilfswissenschaften  der  Medizin,  ins- 
besondere der  Physiologie,  die  Fortschritte  in  den  medizinischen 
Nachbardisziplinen,  mit  denen  die  Neuropathologie  in  mannigfachen 
und  innigen  Wechselbeziehungen  steht,  schufen  nach  und  nach  die 
heutige  Nervenheilkunde. 

Von  den  Vorläufern  der  modernen  Hirnphysiologie  und  Neuro- 
pathologie verdient  der  vielverkannte  F.  J.  Gall  besonders  hervor- 
gehoben zu  werden.  Er  eröffnete  1796  seine  Vorlesungen  zu  Wien, 
durch   die   er   der  Vorläufer    der  modernen   Hirnlokalisation    wurde. 


Neuropathologie.  719 

Indem  er  an  die  alte  Theorie  der  Lokalisation  der  Seelenvermögen 
anknüpfte,  folgerte  er  ans  seinen  Beobachtungen,  dass  die  geistigen 
Centren  im  Gehirn  lokal  begrenzt  seien  und  sich  durch  grössere 
Wölbungen  des  Schädels  an  einzelnen  Stellen  seiner  Oberfläche  er- 
kennen lassen.  Seine  Aufstellung  und  Verteilung  der  Seelenvermögen 
und  seine  Annahme,  dass  sie  sich  durch  Merkmale  an  der  Oberfläche 
des  Schädels  äussern,  war  willkürlich.  Aber  sein  System  enthielt  die 
grosse  Wahrheit,  dass  in  den  Gehirnwindungen  das  materielle  Substrat 
der  Geistesthätigkeiten  liege  und  stellte  die  Bedeutung  der  Gehirn- 
oberfläche für  das  geistige  Leben  klar;  seine  Lokalisation  der  Sprache 
in  den  Yorderlappen  behielt  bleibenden  Wert.  Gall  war  der  erste, 
der  die  Gehirnrinde  ausschliesslich  für  die  psychischen  Thätigkeiten 
in  Anspruch  nahm  und  der  Medullarsubstanz  den  Eang  eines  Leitungs-, 
eines  Projektionssysteras  zuerkannte.  Ferner  erwarb  er  sich  grosse 
Verdienste  durch  seine  Anregungen  auf  den  Gebieten  der  Hirnanatomie 
(Nachweis  des  faserigen  Baues  der  Medullarsubstanz,  Dekussation  u.  s.  w.), 
Hirnphysiologie  i  Sprachcentrum  im  Stirnlappen,  Kranioskopie,  Kriminal- 
anthropologie u.  s.  w.) 

Die  Fundamente,  auf  denen  sich  die  moderne  Neuropathologie 
aufbaut,  waren  die  grossen  Entdeckungen  von  Charles  Bell  und 
Marshall  Hall.  Im  Jahre  1811  machte  Charles  Bell  die  schon 
von  Galen  geahnte  anatomische  Verschiedenheit  der  motorischen  und 
sensiblen  Nerven  zu  einer  wissenschaftlichen  Thatsache,  indem  er  den 
Nachweis  lieferte,  dass  die  ersteren  aus  den  vorderen,  die  letzteren 
aus  den  hinteren  Rückenmarkswurzeln  entspringen.  Magendie  und 
Johannes  Müller  bestätigten  und  ergänzten  Beils  Gesetz  durch 
überzeugende  Versuche.  Daran  schloss  sich  die  (bereits  von  Carte- 
sius  angedeutete  und  von  Prochaska  ausgesprochene)  Lehre  von 
den  Reflexbewegungen,  die  Marshall  Hall  1833  durch  seine  Be- 
obachtungen wissenschaftlich  begründete  und  Johannes  Müller  in 
einzelnen  Punkten  berichtigte  und  in  klarer  Form  darstellte. 

Weitere  Anregungen  brachte  der  Aufschwung  der  Physiologie 
und  der  anatomischen  Forschung  seit  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts. 
Am  motorischen  Nerven  und  am  Muskel  wurden  die  bedeutungsvollen 
Untersuchungen  ausgeführt,  welche  zur  Erkennung  der  elektrophysio- 
logischen  Gesetze  geführt  haben,  die  auch  für  die  Nervenpathologie 
fruchbar  wurden.  Das  Rückenmark,  das  früher  nur  für  eine  einfache 
Zusammensetzung  peripherer  Nervenbahnen  galt,  erschien  nun  in 
wichtiger  und  relativ  selbständiger  Rolle.  Die  Physiologie  der  Sinnes- 
organe wurde  gründlich  ausgebaut,  und  allmählich  wurden  auch  die 
Funktionen  des  Grosshirns  zum  Gegenstand  experimenteller  Unter- 
suchungen gemacht.  Vielfach  förderten  auch  die  Nervenpathologie 
die  physiologische  Forschung.  Hitzig  und  Fritsch,  Ferrier, 
Munk  und  Goltz  stellten  die  Hirnlokalisation,  die  von  Flourens' 
Entdeckung  des  Sprachcentrums  (1837)  an  weiter  verfolgt  wurden, 
auf  wissenschaftlich  sichere  Grundlage  und  in  den  Dienst  der 
Diagnostik.  Die  Anwendung  von  Helm  hol  tz'  Augenspiegel,  die 
Lehre  vom  Hirndruck  und  die  Fortschritte  der  modernen  Chirurgie 
(H  0  r  s  1  e  y  und  v.  Bergmann),  die  unter  dem  Schutz  der  Antiseptik 
und  Aseptik  die  Eröffnung  des  Schädels  und  die  Freilegung  des  Ge- 
hirns wagen  konnte,  förderten  die  Hirndiagnostik,  die  sich  immer 
mehr  verfeinerte.  Die  experimentelle  Pathologie,  welche  zuerst  Kuss- 
maul und  Jenner  in  ihrer  Arbeit  über  das  Wesen  der  fallsüchtigen 


720  Georg  Korn. 

Zuckungen  in  den  Dienst  der  Klinik  stellten,  und  die  pathologische 
Anatomie  boten  mit  ihren  verfeinerten  Untersuchungsmethoden  der 
Nervenpathologie  eine  Fülle  von  Material,  insbesondere  für  die  Patho- 
logie des  Rückenmarks  und  die  sicherste  Basis  für  weitere  Schlüsse 
und  diagnostische  Fortschritte.  Der  feinere  Bau  des  Gehirns  und 
Rückenmarks,  der  seit  B.  Still  in  gs  bahnbrechenden  Untersuchungen 
und  Methoden  in  seinen  wichtigsten  Grundlagen  festgestellt  war, 
wurde  nun  mit  Hilfe  der  entwicklungsgeschichtlichen  Methode  weiter 
durchforscht  und  bot  auch  der  Pathologie  viele  neue  Aufschlüsse. 

Die  bedeutendsten  Fortschritte  auf  diesem  Gebiete  folgten  aber 
erst  der  Einführung  der  mikroskopischen  Schnitt-  und  Färbemethoden. 
Gerlachs  Karminfärbung,  die  lange  Zeit  die  vorherrschende  blieb, 
färbte  die  Glia  und  den  Achsencylinder,  Weigerts  Hämatoxylin- 
Kupferlack- Methode  stellte  die  Markscheiden  dar,  Golgi  und  Ramon 
y  Cajal  führten  die  Chromsilberfärbung  für  die  Zellen  und  ihre  Aus- 
läufer ein,  Nissls  Anilinfärbung  eröffnete  den  Einblick  in  die  Struktur 
der  Ganglienzellen  und  Ehrlich  entdeckte  die  Methylenblaufärbung 
der  lebenden  Nervensubstanz.  Weigert  gab  dann  eine  Gliafärbung 
an.  Mar  Chi  färbte  durch  Osmiumsäure  die  frischen  Zerfallsprodukte 
des  degenerierenden  Nervenmarks.  Die  Stillingsche  Schnittmethode 
wurde  durch  Meynerts  Methode  der  Abfaserung  wirksam  ergänzt. 
Das  Verständnis  des  komplizierten  Aufbaues  des  Centralorgans  bei 
den  Säugetieren  und  Menschen  wurde  erleichtert  durch  den  gewonnenen 
Einblick  in  die  sehr  einfachen  morphologischen  Verhältnisse  des 
Centralorgans  bei  den  niederen  Tieren  und  ihre  Verfolgung  in  der 
Tierreihe  aufwärts. 

Die  Fortschritte  in  der  Technik  ermöglichten  schliesslich  die 
Feststellung  (W  a  1  d  e  y  e  r  1891),  dass  das  Nervensystem  aus  einzelnen 
sich  immer  wiederholenden  Einheiten  von  Neuronen  aufbaut,  deren 
jede  aus  Nervenzelle,  Achsencylinder  und  Aufsplitterung  besteht. 
Wieweit  die  hieran  anknüpfende  Neurontheorie  die  Pathologie  und 
Therapie  des  Nervensystems  beeinflussen  wird,  bleibt  der  Entscheidung 
der  Zukunft  vorbehalten. 

Dazu  kam  noch  die  zunehmende  Häufigkeit  der  Nervenleiden, 
wie  sie  der  Kampf  ums  Dasein,  die  Anhäufung  der  Massen  in  den 
Grossstädten,  die  Jagd  nach  Erwerb  und  die  sozialen  Verhältnisse 
der  Neuzeit  hervorriefen.  Zunächst  wurden  die  peripheren  Er- 
krankungen, Neuralgien,  Lähmungen  und  Atrophien  durchforscht,  dann 
die  centralen  Erkrankungen,  auf  die  man  manche  für  peripher  ge- 
haltene bei  wachsender  Erkenntnis  zurückführte.  Dann  lernte  man 
die  Erkrankungen  des  Rückenmarks  schärfer  erkennen,  schliesslich 
die  Erkrankungen  des  Gehirns  und  endlich  brachte  man  auch  Licht 
in  jene  vielgestaltigen,  proteusartigen  Krankheitsbilder  der  Nerven- 
schwäche und  Erschöpfung,  Hysterie,  Nervosität,  Hypochondrie.  Eine 
grosse  Zahl  neuer  Krankheitsformen  konnte  dann  abgegrenzt  werden. 
Alle  Kulturnationen,  insbesondere  aber  französische  und  deutsche 
Forscher,  nahmen  an  diesen  Fortschritten  der  Neuropathologie  helfend 
teil,  deren  erste  Spuren  sich  etwa  um  die  Mitte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  zeigten. 

Die  neuere  deutsche  Nervenpathologie  knüpft  an  den  Namen 
M.  H.  Rombergs  an  (1795—1873).  Gestützt  und  angeregt  durch 
die  grossen  Arbeiten  von  Charles  Bell  und  Abercrombie, 
Marshall  Hall  und  Magendie,  gefördert  durch  die   Nähe  von 


Neuropathologie.  721 

Johannes  Müller,  erwarb  er  durch  seine  nüchterne  Beobachtung 
und  klare  Beurteilung  der  Nervenkrankheiten,  durch  seine  reiche 
Erfahrung  und  sein  glänzendes  Darstellungstalent  sich  ein  ausser- 
ordentliches Ansehen  als  Nervenpatholog.  Sein  „Lehrbuch  der  Nerven- 
krankheiten'- (1840 — 46)  giebt  eine  treffliche  Darstellung  des  haupt- 
sächlich durch  seine  Arbeiten  erreichten  Standes  der  Nervenpathologie 
in  den  vierziger  und  fünfziger  Jahren  und  behielt  dauernden  Wert 
durch  eine  Fülle  seiner  Beobachtungen  und  durch  die  strenge  Methode 
der  klinischen  Forschung,  ßomberg  hat  zuerst  in  Deutschland  in 
umfassender  Weise  die  Ergebnisse  der  Physiologie  in  der  Nerven- 
pathologie verwertet  und  zur  Feststellung  der  Diagnosen  benutzt;  er 
kann  nach  Erb  mit  Recht  als  der  Begründer  der  deutschen  Nerven- 
pathologie angesehen  werden.  An  seine  Verdienste  um  die  Tabes 
erinnert  das  „Rombergsche  Symptom";  er  wurde  u.  a.  auch  der  Be- 
gründer der  Lehre  von  der  Neuralgia  ciliaris.  Von  seinem  Wirken, 
das  allerdings  glücklich  mit  bedeutenden  Leistungen  französischer 
und  englischer  Forscher  zusammenfiel,  datiert  ein  erneutes  und  tieferes 
Interesse  an  den  Nervenkrankheiten,  das  sich  in  zahlreichen  wissen- 
schaftlichen Arbeiten  und  in  der  eifrigen  Diskussion  neuropathologischer 
Probleme  bekundete. 

Mächtiger  noch  wirkte  Rombergs  Nachfolger  in  Berlin,  Wilhelm 
Griesinger  (1817 — 1868)  auf  die  wissenschaftliche  und  akademische 
Stellung  der  Nervenpathologie  ein.  Er  verfocht  und  verwirklichte  den 
Gedanken,  dass  die  Psychiatrie  nichts  anderes  sei  als  ein  Teil  der 
Nervenpathologie,  dass  beide  untrennbar  zusammengehörten,  und  nur 
volles  Verständnis  der  einen  eine  gedeihliche  wissenschaftliche  Arbeit 
der  anderen  ermögliche.  Er  forderte  und  erwirkte,  dass  die  Psychiatrie 
an  den  Universitäten  nicht  bloss  theoretisch,  sondern  in  erster  Reihe 
praktisch,  in  einer  Klinik  gelehrt  werde.  Ebenso  aber  hat  er  zuerst 
in  Deutschland  die  Errichtung  einer  eigenenKlinik  für  Nerven- 
krankheiten ins  Werk  gesetzt.  Er  vermochte  die  grosse  Aufgabe 
zu  lösen,  beide  Kliniken  mit  glänzendem  Erfolge  zu  leiten,  in  beiden 
Zweigen  bahnbrechend  und  tonangebend  zu  wirken.  Er  begründete 
in  Berlin  die  medizinische  psychologische  Gesellschaft  und  noch  in 
seinem  Todesjahr  rief  er  das  „Archiv  für  Psychiatrie  und  Nerven- 
krankheiten" ins  Leben. 

Um  den  Aufschwung  der  Neuropathologie  in  der  zweiten  Hälfte 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  haben  sich  ferner  in  erster  Reihe  zwei 
französische  Forscher  verdient  gemacht,  G.  B.  Duchenne  (de 
B  0  u  1 0  g  n  e ,  1806— 1875 )  und  J.  M.  C  h  a  reo  t  (1825—1893).  Duchenne, 
dessen  bahnbrechendes  Wirken  für  die  Elektrotherapie  weiter  unten 
gewürdigt  wird,  hat  ohne  jede  offizielle  Stellung  als  Lehrer  oder 
Hospitalarzt  sein  reiches  Beobachtungsmaterial  gewonnen.  Von  den 
Krankheiten  des  Nervensystems,  die  er  zuerst  klinisch  abgegrenzt  hat, 
sind  hervorzuheben:  die  progressive  Muskelatrophie  (sog.  „Tj-pus 
Duchenne- Aran"),  die  „Paralysie  glossolabiolaryngee"  (Glossopharyn- 
golabial-Paralyse,  progressive  Bulbärparalyse,  Duchennesche  Lähmung) 
und  die  von  ihm  benannte  „Paralysie  pseudohypertrophique"  oder 
„niyosclerosique"  (in  Deutschland  häufiger  als  Pseudohypertrophie  der 
Muskeln  bezeichnet).  Auch  die  Entdeckung  der  „Paralysie  atrophique 
graisseuse  de  l'enfance"  und  der  „Ataxie  locomotrice  progressive" 
wird  ihm  vielfach  in  Frankreich  zugeschrieben.  Er  teilt  jedoch  dies 
Verdienst  mit  deutschen  Forschern;  beide  Krankheiten  waren  schon 

Haadbnch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  46 


722  Georg  Korn. 

früher  in  Deutschland  beschrieben  worden,  jene  als  „essentielle  Kinder- 
lähmung" von  Heine,  diese  unter  dem  bekannteren  Namen  „Tabes 
dorsualis"  von  Romberg  u.  a.  Immerhin  hat  erst  Duchenne  bei 
letzterer  Krankheit  das  wesentliche  Symptom  ,. Ataxie"  ins  rechte 
Licht  gesetzt  und  eine  Reihe  weiterer  wertvoller  Feststellungen  ge- 
macht. Ferner  erwies  sich  die  von  ihm  aufgestellte  Krankheitsgruppe 
der  „Paralysie  generale  spinale"  oder  „Paralysie  generale  spinale 
anterieure  subaigue"  weiterhin  als  ein  fruchtbares  Feld  für  Aufstellung 
und  Abgrenzung  neuer  klinischer  Krankheitsbilder,  zu  denen  ins- 
besondere die  „subkutane  und  chronische  atrophische  Spinallähmung 
der  Erwachsenen"  und  die  „amyotrophische  Lateralsklerose"  Charcots 
gehören.  Weiter  erwarb  sich  Duchenne  ein  grosses  Verdienst,  indem 
er  die  von  ihm  ausgebildete  Methode  isolierter  elektrischer  Erregung 
der  einzelnen  Skelettmuskeln  zur  funktionellen  Prüfung  derselben  und 
zu  genauer  Bestimmung  ihrer  vereinzelten  oder  kombinierten  Wirkung 
unter  bestimmten  Verhältnissen,  Stellungen  u.  s.  w.  benutzte. 

Auf  Duchennes  Vorarbeiten  fusste  Jean  Martin  Charcot, 
wie  er  selbst  dankbar  anerkannt  hat;  zugleich  aber  war  er  wohl 
vertraut  mit  den  Ergebnissen  der  gleichzeitigen  deutschen  Forschung, 
denen  man  in  Frankreich  bis  dahin  wenig  Beachtung  geschenkt  hatte. 
Seit  1862  gehörte  seine  Wirksamkeit  dem  grossen  Pariser  Frauen- 
krankenhause  der  Salpetriere,  das  ihm  eine  reiche  Fundgrube  für 
seine  Studien  insbesondere  über  funktionelle  Nervenkrankheiten  bot. 
Von  1872 — 1882  bekleidete  er  zunächst  den  Lehrstuhl  der  patho- 
logischen Anatomie  an  der  Pariser  medizinischen  Fakultät,  bis  seine 
hervorragenden  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Nervenpathologie  die 
Regierung  veranlassten,  eigens  für  ihn  eine  neue  Professur  für  Klinik 
der  Nervenkrankheiten  an  der  Salpetriere  zu  schaffen,  die  er  1882 
antrat  und  bis  zu  seinem  Tode  (1893)  verwaltete.  Seine  Abteilung 
war  reich  für  Forschungs-  und  Unterrichtszwecke  ausgestattet,  ein 
Museum,  Laboratorien,  eigene  photographische  Ateliers,  grossartige 
Einrichtungen  für  Elektrotherapie  u.  s.  w.  gaben  den  Hintergrund  ab 
für  Charcots  glänzende  Lehrthätigkeit,  die  Hunderte  von  in-  und  aus- 
ländischen Aerzten  regelmässig  in  der  Salpetriere  versammelte.  Ausser 
seiner  Schülerschar  sorgten  für  die  Verbreitung  seiner  Lehren  drei 
unter  seiner  Aegide  begründete  und  von  ihm  mitredigierte  Zeit- 
schriften: „Archives  de  Physiologie  normale  et  pathologique"  (seit 
1868),  „Archives  de  neurologie"  (seit  1880),  „Revue  mensuelle  de 
medecine  et  de  Chirurgie"  (seit  1877,  als  „Revue  de  medecine'*  seit 
1878).  Von  seinen  grösseren  Werken  sind  iDesonders  einflussreich  ge- 
worden die  „Legons  sur  les  maladies  du  Systeme  nerveux  faites  ä  la 
Salpetriere"  (Paris  1874),  die  „Localisations  dans  les  maladies  du 
cerveau  et  de  la  moelle  epiniere"  (1876—80),  die  „Iconographie  photo- 
graphique  de  la  Salpetriere"  (service  de  M.  Charcot,  1876 — 1880)  und 
die  „Etudes  cliniques  sur  l'hysteroepilepsie  ou  grande  hysterie"  (1881). 
Seine  gesammelten  Werke  wurden  nach  seinem  Tode  in  einer  statt- 
lichen Reihe  von  Bänden  herausgegeben. 

Die  meisten  wichtigeren  Spezialgebiete  der  Nervenpathologie  haben 
durch  Charcots  Arbeiten  Erweiterungen,  Umgestaltungen,  Bereiche- 
rungen und  Anregungen  empfangen.  Auf  einigen  Gebieten,  insbesondere 
auf  den  der  sog.  funktionellen  Erkrankungen  wirkte  er  bahnbrechend. 
So  ist  das  Krankheitsbild  der  Hysterie  seit  ihm  klinisch  ein  ganz 
anderes  geworden;  seine  Arbeiten  eröffneten  überall  neue  Gesichts- 


Nexrropathologle.  723 

punkte  und  Ausblicke;  die  hysterische  Hemianästhesie  und  Ovarie, 
Hystero-Epilepsie,  hysterische  Katalepsie  und  Lethargie  u.  s.  w.  sind 
Erscheinungen,  die  durch  Charcot  den  Aerzten  bekannt  geworden  sind. 
Die  Burqsche  Metalloskopie  und  Metallotherapie  benutzten  er  und 
seine  Schüler  zu  zahlreichen  und  aufschlussreichen  Untersuchungen. 
Wesentliche  Fortschritte  brachten  auch  seine  Forschungen  über  herd- 
weise und  disseminierte  Sklerose.  Paralysis  agitans.  Tabes  dorsalis 
und  die  von  Charcot  zuerst  beschriebene  sogenannte  Tabes  spasmodica 
(symmetrische  und  amyotrophische  Seitenstrangsklerose) ,  „Charcots 
Joint  disease".  Weniger  glücklich  war  er  und  die  Schule  der  Salpetriere 
in  ihrem  Bestreben,  den  Erscheinungen  des  Hypnotismus  eine 
klinische  Formulierung  zu  geben.  Der  Kampf  der  Pariser  Salpetriere 
mit  der  Nancyer  „Suggestions''-Scliule  (Liebeaul t.  Bernheim) 
endete  mit  dem  Siege  der  letzteren.  Da  der  Hj'pnotismus,  resp.  die 
Suggestion  sich  neuerdings  in  der  Therapie  der  Nerv^enkrankheiten 
einen  Platz  als  Heilmittel  errungen  hat,  ist  hier  ein  geschichtlicher 
Ueberblick  über  diese  Faktoren  am  Platze. 

Die  Thatsachen,  welche  dem  Hypnotismus  zu  Grunde  liegen,  sind 
seit  Jahrtausenden  bekannt.  Die  indischen  Jogins  und  andere  Sekten 
benutzten  seit  uralter  Zeit  das  anhaltende  Starren  nach  einem  Punkte 
(dem  Nabel,  der  Nasenspitze  u.  s.  w.),  um  sich  in  Zustände  der  Ver- 
zückung, Weltentrücktheit  und  Bewegungslosigkeit  zu  versetzen.  Die 
religiösen  Uebungen  der  Taskodrugiten,  die  stundenlang  den  Zeige- 
finger an  die  Nase  hielten,  der  Omphalopsychiker  vom  Berge  Athos, 
die  Verzückung  junger  katholischer  Beterinnen  durch  unablässiges 
Anstarren  von  Heiligenbildern  zur  „Abtötung  gegen  die  Welt",  manche 
Erscheinungen  im  5littelalter  bei  Gefolterten  und  „Hexen"  sind  auf 
die  Erscheinungen  der  Hypnose  leicht  zurückzuführen.  In  den  Vorder- 
grund des  wissenschaftlichen  Interesses  traten  sie  jedoch  eret  durch 
A.  Mesmer  und  seinen  „tierischen  Magnetismus"  am  Ende 
des  achtzehnten  Jahrhunderts. 

Zweifellos  hat  Mesmer  (1734 — 1815)  richtige  Beobachtungen 
falsch  gedeutet  und  mit  unklaren,  phantastischen  Theorien  vermengt; 
ein  bewusster  Betrüger  ist  er  schwerlich  gewesen.  Die  Keime  von 
Mesmers  Lehre  sind  in  den  Emanationslehren  der  Kabbala  und  des 
Neuplatonismus  zu  suchen;  Paracelsus  legte  dem  Magneten  magische 
Kräfte  bei.  Magisch-magnetische  Träumereien  traten  auch  später  auf. 
Von  der  Heilkraft  der  Magnete  ausgehend,  erklärte  er  bald  die  mag- 
netische Kraft  für  eine  allgemeine  Eigenschaft  aller  Körper  und  das 
magnetische  „Fluidum"  für  das  die  ganze  Schöpfung  verknüpfende 
Band.  Er  fand,  dass  sogar  sein  blosser,  auf  die  Kranken  gerichteter 
Wille  (die  heutige  Suggestion)  sich  heilkräftig  erwies.  Durch  Mani- 
pulationen, wie  Anfassen,  Streichen,  Ansehen,  die  Mesmer  nach  alten 
Vorbildern,  aber  unmethodisch  anw^andte,  führte  er  zweifellos  echte 
Hypnosen  herbei.  Mesmer  trat  1775  mit  seiner  Theorie  hervor  und 
fand  namentlich  in  Paris  zahlreiche  Anhänger.  Dort  wurde  1784  eine 
amtliche  Prüfung  durch  zwei  Kommissionen  von  Mitgliedern  der 
Societe  de  medecine  einerseits,  der  Akademie  der  Wissenschaften  und 
der  medizinischen  Fakultät  andrerseits  (unter  ihnen  Guillotin,  Leroy, 
Bailly,  Lavoisier  und  Jussieu)  vorgenommen,  deren  Bericht  in  kritisch- 
wissenschaftlicher, klarer  Form  die  gewonnenen  Heilerfolge  auf  die 
Macht  der  Einbildung  zurückführte.  Die  französische  Revolution  machte 
dann  Mesmers  Wirksamkeit  in  Paris  ein  Ende.    Der  tierische  Magne- 

46* 


724  Georg-  Korn. 

tismus  bewahrte  eine  zahlreiche  Anhängerschaft,  auch  Aerzte,  wie 
Reil,  Heim,  Hufe  1  and  interessierten  sich  für  ihn,  in  Berlin  wurde 
die  Ernennung  von  C.  C.  Wolfart  von  seinen  Gönnern  gegen  den 
AVillen  der  Fakultät  durchgesetzt  (1817).  Aber  mehr  und  mehr  geriet 
der  Mesmerismus  in  die  Hände  von  Laien  und  Charlatans  und  die 
Lehre  vom  tierischen  Magnetismus  war  schon  in  den  dreissiger 
Jahren  des  neunzehnten  Jahrhunderts  bei  den  Aerzten  in  Missachtung 
geraten. 

Da  fand  im  Jahre  1841  James  Braid  in  Manchester,  dass  die 
Hauptsache  am  tierischen  Magnetismus,  die  Anwesenheit  eines  Magneti- 
seurs,  überflüssig  ist,  und  blosses  Starren  genügt,  um  Zustände,  wie 
sie  die  Mesmeristen  beobachten,  herbeizuführen.  Er  machte  die  Ent- 
deckung, dass  bei  einzelnen  Personen  nach  längerer  Betrachtung  eines 
glänzenden  Gegenstandes,  oder  durch  mannigfache  Manipulationen, 
Anwehen  von  Luft,  Einwirkung  von  Gehörseindrücken,  kurz,  durch 
jedes  beliebige  Verfahren,  durch  welches  die  Aufmerksamkeit  auf 
einen  Punkt  konzentriert  wird,  ein  eigentümlicher,  auf  nervöser  Affektion 
beruhender  Schlaf  hervorgerufen  werden  kann  und  dass  dieses  Ver- 
fahren unter  Umständen  sich  auch  als  Heilmittel  empfehle.  Er  be- 
zeichnete diesen  Zustand  als  „Neurypnology"  oder  „Hypno tismus" 
und  überzeugte  sich  dann  später,  dass  dabei  dieselljen  Erscheinungen 
zu  Tage  traten,  die  bei  dem  Mesmerismus  beobachtet  worden  waren. 
Er  betonte  mit  aller  Entschiedenheit,  dass  diese  Erscheinung  lediglich 
auf  einer  eigentümlichen  subjektiven  Stimmung  beruhe,  in  die  das 
Individuum  durch  nervöse  Erregung,  herbeigeführt  durch  Konzen- 
tration des  Geistes  auf  einen  Gedanken  oder  Gedankengang,  versetzt 
werde  oder  sich  selbst  versetze,  keineswegs  aber  auf  irgend  welchen 
äusseren  Einflüssen  der  Aerzte.  Zur  Erklärung  dieses  nervösen  Schlafes 
bedürfe  es  daher  durchaus  nicht  der  Annahme  animal-magnetischer 
oder  bioelektrischer  Phantasien.    („Neurypnology"  1843.) 

B  r  a  i  d  s  Beobachtungen  wurden  durch  englische  Aerzte  in  Kalkutta 
(1848)  und  italienische  Versuche  (1859)  bestätigt,  aber  erst  im  Todes- 
jahr Braids,  1860,  wurde  durch  Broca  und  Azam  der  Braidismus 
als  ein  wichtiger  Fortschritt  erkannt  und  der  Akademie  der  Wissen- 
schaften in  Paris  davon  Mitteilung  gemacht.  Trotzdem  blieben  diese 
Erscheinungen  bis  zum  Ende  der  siebziger  Jahre  ziemlich  unbeachtet ; 
indessen  wurden  bereits  1875  Braids  Ansichten  durch  Charles 
Eichet  in  Paris  in  seiner  Untersuchung  „Du  sonnambulisme  provoque", 
ohne  dass  er  seinen  Vorgänger  kannte,  bestätigt.  Wichtiger  noch 
wurde  für  die  Folgezeit  das  1866  erschienene  Werk  von  Liebeault 
„Du  sommeil  et  des  etats  analogues". 

In  Deutschland  beschrieb  1872  Czermak  hypnotische  Unter- 
suchungen an  Tieren.  Aber  erst  das  Auftreten  des  gewerbsmässigen 
dänischen  Hypnotiseurs  Hansen  1879  in  öffentlichen  Schaustellungen, 
vor  dem  übrigens  bereits  in  England  und  Amerika  verschiedene 
Personen  das  Hypnotisieren  geschäftsmässig  ausgenutzt  hatten,  regte 
zu  weiteren  Untersuchungen  an.  Heidenhain, Berger, Grützner 
und  Preyer,  der  1881  Braids  Arbeit  ins  Deutsche  übersetzte,  dann 
Benedikt,  Eulenbnrg,  Obersteiner,  Freud,  vor  allem  aber 
Forel,  ferner  Moll,  Schrenck-Notzing,  Bleuler,  Wette r - 
Strand,  Hack-Tucke,  Vogt,  van  Eneden,  van  Eenterghem 
Hammond,  Delboeufu.  a.  beteiligten  sich  in  den  achtziger  Jahren 
an  der  wissenschaftlichen  Untersuchung  der  hypnotischen  Erscheinungen. 


Neuropathologie.  725 

Inzwischen  hatte  Bernheim  in  Nancy  auf  Liebeaults  Werk 
namentlich  durch  sein  1884  erschienenes  Buch:  „De  la  Suggestion  et 
de  ses  applications  ä  la  therapeutique"  aufmerksam  gemacht  und  in 
Gemeinschaft  mit  anderen  Professoren  i'der  ..Schule  von  Xancy  i,  wie 
Beaunis  und  Liegeois  die  Suggestionstherapie  begründet,  deren 
Grundzüge  noch  zur  Zeit  für  die  suggestive  Behandlung  oder  Psycho- 
therapie bei  nervösen  Erkrankungen  massgebend  sind.  Wie  bereits 
hervorgehoben  wurde,  unterschied  sich  die  Nancyer  Lehre  in  wesent- 
lichen Zügen  von  der  „Schule  der  Salpetriere",  die  Charcot.  Riebet 
und  Kicher  in  den  achtziger  Jahren  begründeten.  Letztere  kannte 
einen  kleinen  und  grossen  Hypnotismus:  der  grosse  kann  nur  bei 
solchen  Individuen  erzeugt  werden,  die  an  grande  hj'sterie  leiden,  der 
kleine  entspricht  der  Hypnose  der  Nancyer  Schule.  Beide  Zustände 
verhalten  sich  zu  einander,  wie  die  grosse  hysterische  Attaque  zu  den 
alltäglichen  hysterischen  Anfällen.  Der  grosse  Hypnotismus  zeigt« 
drei  Phasen,  den  kataleptischen.  lethargischen  und  somnambulen  Zu- 
stand. Diese  an  gi'ossenteils  hysterischem  Material  gewonnen  und  daher 
wohl  vielfach  suggerierten  Beobachtungen  erwiesen  sich  bei  der  Nach- 
prüfung durch  andere  Forscher  als  unhaltbar.  Die  einfach  auf  der 
Wirkung  der  Suggestion  aufgebaute  Theorie  und  Therapie  der  Nancyer 
Schule  fand  dagegen  Aufnahme  und  Ausbau  durch  die  Nervenärzte 
aller  Kulturnationen;  ihrer  therapeutischen  Anwendung  leisteten  ins- 
besondere Forel,  van  Eneden,  Wetterst r and  u.  a.  Vorschub. 
Als  ein  wichtiger  Zweig  der  Psychotherapie  hat  sie  sich  behauptet, 
nachdem  ihre  Ueberschätzung  als  therapeutisches  Allheilmittel  und  ihr 
]\Iissbrauch  in  den  Händen  unkritischer  Laien  oder  erwerbsgieriger 
Pfuscher  zu  Wunderkui-en  allmählich  eingedämmt  ist. 

Von  den  sonstigen  Klinikern,  welche  in  der  zweiten  Hälfte  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  die  Nervenpathologie  förderten,  werden  die 
meisten  bei  dem  folgenden  historischen  üeberblick  über  eine  Anzahl  von 
Nervenleiden  genannt  werden.  Neben  Fried  reich  und  Westphal 
ist  Kussmaul  (f  1902)  wegen  seiner  Arbeiten  über  die  Epilepsie 
und  die  Störungen  der  Sprache,  E.  v.  L  e  y  d  e  n  als  bahnbrechend  auf  dem 
Gebiete  der  Eückenmarksleiden.  der  Ernätrungstherapie  und  der  physi- 
kalisch-diätetischen Hilfsmittel,  W.  Erb,  Nothnagel,  v.  Ziemssen 
u.  a.  hervorzuheben,  die  zum  Teil  auch  bei  der  geschichtlichen  Dar- 
stellung der  Elektrotherapie  zu  nennen  sind.  Sehr  wichtig  wurde  die 
Erweiterung  unserer  Kenntnisse  von  der  Syphilis  des  Centrainer ven- 
systems.  wie  sie  durch  die  Ai'beiten  Westphals  und  seiner  Schüler, 
Rumpfs  und  Heubners  ermöglicht  und  stark  gefördert  wurden, 
und  die  auch  therapeutisch  von  grosser  Bedeutung  war. 

Sehr  erhebliche  Fortschritte  brachte  der  Nervenpathologie  im 
Laufe  der  fünfziger  und  sechziger  Jahre  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
die  Entwicklung  und  der  Ausbau  einer  therapeutischen  Spezialität, 
der  Elektrotherapie.  Die  Verwertung  dieser  mächtigen  physi- 
kalischen Kraft  erregte  erst  damals  wieder  nach  längerer  Pause  die 
Aufmerksamkeit  der  ärztlichen  Kreise.  Bei  ihrer  Wichtigkeit  für  die 
Neuropathologie  verdient  ihre  Entwicklung  eine  etwas  eingehendere 
geschichtliche  Darstellung. 

Einzelne  Erscheinungen  der  tierischen  Elektrizität  waren  sclion 
im  Altertum  bekannt;  Aristoteles  kennt  bereits  die  elektrischen 
Schläge  des  Zitterrochens,  die  nach  Dioscorides  und  Scribonius 
L  arg  US  bei  Kopfschmerzen,  nach  Plinius  bei  Milzkrankheiten  zu 


726  Georg  Koru. 

Heilzwecken  verwendet  wurden.  Man  Hess  die  Schläge  gegen  den 
leidenden  Teil  erfolgen  und  führte  ihre  Wirkung  auf  Muskelkraft 
zurück.  Erst  der  Holländer  Müsse henbroek  vermutete  eine  elek- 
trische Erscheinung  in  diesen  Phänomenen,  die  man  dann  auch  am 
Zitteraal  und  Zitterwels  kennen  lernte,  und  Shaw  und  Hunter  be- 
stätigten diese  Annahme.  Aber  erst  Galvanis  berühmtes  zufälliges 
Experiment  am  Froschschenkel  (in  Bologna,  September  1786)  brachte 
die  zielbew^usste  Anwendung  der  Elektrizität  zu  Heilzwecken. 

Nachdem  Galvani  seine  Lehre  von  der  tierischen  Elektrizität 
Volta  gegenüber  experimentell  bewiesen  hatte  (indem  er  ohne  Be- 
teiligung von  Metallen  durch  Berührung  tierischer  Teile  elektrische 
Ströme,  die  Muskelzuckungen  hervorriefen,  gebildet  hatte),  erwuchs 
ihm  zunächst  in  Alexander  von  Humboldt  ein  mächtiger  Ge- 
nosse, In  seiner  Schrift  „Versuche  über  die  gereizte  Muskel-  und 
Nervenfaser  u.  s.  w."  (1797)  bestätigte  er  auf  Grund  eigener  Versuche 
Galvanis  Entdeckung  und  betonte:  „Diese  Vorstellungsart  eröifnet 
der  Nerven -Physiologie  und  -Pathologie  ein  neues  Feld  der  Unter- 
suchung." Das  galvanische  Fluidum  sei  „das  wichtigste  Agens  in 
dem  chemischen  Prozesse  der  Vitalität".  A.  v.  Humboldt  regte  denn 
auch  zahlreiche  Versuche  über  die  Heilkraft  der  Elektrizität  an.  An 
sich  selbst  hatte  er  ihre  Wirkung  auf  Wundflächen  versucht  und 
vermutete,  dass  „der  Metallreiz  in  Augenkrankheiten,  Paralyse  der 
Extremitäten  und  gichtischen  Uebeln  Heilung  zu  versprechen 
scheine".  Er  veranlasste  Loder  in  Jena,  K  J.  Grapengiesser 
in  Berlin  („Versuche,  den  Galvanismus  zur  Heilung  einiger  Krank- 
heiten anzuwenden",  Berlin  1804)  und  andere  zu  therapeutischen  Ver- 
suchen, die  teilweise  günstigen  Erfolg  bei  Taubheit,  Lähmungen  u.  s.  w. 
hatten.  Auch  die  Erfindung  der  Voltaschen  Säule  (1800)  gab  Aerzten, 
wie  Sömmering,  J.  W.  Ritter,  Pfaff,  Hufeland,  Reil, 
Bisch  off  weitere  Anregung,  die  Heilkraft  des  Galvanismus  am 
Menschen  zu  erproben.  Uebrigens  hatte  schon  nach  Erfindung  der 
Leydener  Flasche  C.  G.  Kratzenstein  in  Kopenhagen  (1745)  die 
Anwendung  des  elektrischen  Funkens  bei  Lähmungen  der  Extremi- 
täten versucht  und  empfohlen ,  nach  ihm  u.  a.  De  H  a  e  n  und 
J.  G.  Schaeffer,  während  A.  v.  Hall  er  sich  skeptisch  aussprach. 
Die  Anhänger  der  Lehre  Browns  begrüssten  in  der  Elektrizität  ein 
willkommenes  Heilmittel  bei  der  Behandlung  „asthenischer"  Krank- 
heiten. 

Trotz  vieler  enthusiastischen  Anpreisungen  und  zweifelloser  Er- 
folge folgte  jedoch  bereits  in  den  letzten  Jahren  des  ersten,  noch 
mehr  im  zweiten  und  dritten  Jahrzehnt  des  vorigen  Jahrhunderts 
eine  starke  Ernüchterung  und  eine  allgemeine  Abwendung  von  dem 
neuen  Heilmittel.  Es  war  zum  Teil  in  unberufene  Hände  geraten, 
wurde  von  Charlatanen  gleich  dem  Mesmerismus  ausgebeutet.  Auch 
die  Schwerfälligkeit,  Kostspieligkeit  und  schwierige  Instandhaltung 
der  damaligen  Apparate  und  die  mangelhafte  Kenntnis  der  nervösen 
Krank heits Vorgänge  trug  zu  dem  Misserfolg  bei. 

Eine  neue  Epoche,  die  der  modernen  Elektrotherapie,  be- 
ginnt mit  Faradays  Entdeckung  der  Induktionselektrizität  (1831), 
die  durch  Oersteds  Nachweis  der  magnetischen  Wirkung  elektrischer 
Ströme  ein  Jahrzehnt  zuvor  vorbereitet  wurde.  An  sie  schloss  sich 
die  von  Clark e  erfundene  Konstruktion  des  Rotationsapparates,  den 
Magen  die  und  nach  ihm  Mateucci  gegen  Lähmungen  mit  PMolg 


Neuropathologie.  727 

verwandten.  Jetzt  wurde  zunächst  der  Weg  der  methodisch-wissen- 
schaftlichen Therapie  technisch  geebnet  durch  die  ermöglichte  Her- 
stellung handlicherer  und  wirksamerer  Rotations-  und  Induktions- 
apparate. Der  Begiiinder  der  modernen  Elektrotherapie  und  Elektro- 
diagnostik  wurde  der  auch  sonst  um  die  Neuropathologie  hochverdiente 
französische  Arzt  (er  blieb  einfacher  Arzt  bis  an  seinen  Tod  1875) 
Duchenne  de  Boulogne.  Zu  seinen  Untersuchungen  und  For- 
schungen, mit  deren  Veröffentlichung  er  1847  begann,  bediente  er  sich 
eines  zweckmässig  konstruierten  volta-elektrischen  Induktionsapparates. 
Im  Gegensatz  zu  der  früheren  planlosen  Anwendung  des  elektrischen 
Stroms  begründete  er  die  Methode  der  Lokalisierung  des  elektrischen 
Stroms,  indem  er  den  wichtigen  Nachweis  führte,  dass  man  den 
faradischen  Strom  auf  bestimmte  unter  der  Haut  bis  zu  einer  gewissen 
Tiefe,  gelegene  Teile  lokalisieren  könne,  w^enn  man  die  Stromgeber 
(Elektroden)  mit  feuchten  Leitern  umgäbe,  und  oberhalb  des  zu 
reizenden  Organs  kräftig  auf  die  Haut  aufsetze.  Er  wies  ferner  nach, 
<lass  man  die  Muskeln  von  bestimmten  Hautstellen  aus  (points  d'election) 
durch  direkte  Elektrisation  zu  ganz  besonders  kräftigen  Zusammen- 
ziehungen bringen  könne.  Ueber  Heilerfolge  bei  Lähmungen  und 
Neuralgien  konnte  Duchenne  bald  berichten,  und  seine  verfeinerte 
Diagnostik  gestaltete  die  Anschauungen  von  dem  Wesen  der  Nerven- 
krankheiten allmählich  um.  Die  Ergebnisse  seiner  unermüdlichen 
Forschungen  fasste  er  zunächst  in  einem  epochemachenden  Werke 
„De  l'electrisation  localisee  et  de  son  application  ä  la  pathologie  et  ä 
la  therapeutique"  zusammen  (1855),  an  das  sich  dann  noch  eine  An- 
zahl weiterer  Veröffentlichungen  reihte. 

In  Deutschland  war  es  zunächst  Robert  Remak  in  Berlin,  der 
die  neue  wissenschaftlich-methodische  Elektrotherapie  begründen  half, 
anfänglich  in  scharfer  Polemik  mit  Duchenne.  Er  wies  (1855)  nach, 
dass  die  Erregungspunkte  nichts  anderes  als  die  Eintrittsstellen  der 
motorischen  Nerven  in  die  Muskelmasse  seien,  und  dass  es  überhaupt 
zweckmässiger  sei,  den  zugehörigen  Nervenzweig  zu  reizen  als  die 
Muskelbündel  selbst.  Die  letztere  Methode  wurde  als  direkte,  die 
erstere  als  die  indirekte  Muskelfaradisation  bezeichnet.  Angeregt 
durch  diese  Arbeiten,  unternahm  W.  Ziemssen  (1857)  Untersuchungen 
über  die  Anwendung  der  Elektrizität  in  der  Medizin  und  erbrachte 
auf  anatomisch-physiologischer  Grundlage  den  Nachweis,  dass  es  sich 
bei  der  elektrischen  Reizung  der  Muskeln  nicht  immer  um  die  Ein- 
trittsstellen der  Nerven  in  die  Muskeln,  sondern  um  alle  die  Punkte 
handle,  an  denen  der  motorische  Nerv  ausserhalb  oder  innerhalb 
des  Muskels  oberflächlich  genug  gelegen  sei,  um  vom  elektrischen 
Strome  erreicht  zu  werden.  Ziemssens  „motorische  Punkte"  wurden 
bald  Gemeingut  der  Aerzte  und  behaupteten  ihren  Platz  in  der 
Elektrodiagnostik. 

Weiteren  Anstoss  zur  Ausbildung  der  Elektrotherapie  gaben  die 
Ergebnisse  der  physiologischen  Forschung  der  fünfziger  Jahre,  ins- 
besondere die  glänzenden  Arbeiten  E.  Du  Bois-Reymonds  über 
tierische  Elektrizität  und  E.  Pflügers  Zuckungsgesetz  und  seine 
sonstigen  nervenphysiologischen  Forschungen.  An  sie  knüpft  sich  die 
Wiedereinführung  des  galvanischen  Stromes  in  die  Elektrotherapie. 
Infolge  der  glänzenden  Resultate,  welche  mit  dem  faradischen  Strome 
auf  dem  Gebiete  der  ^Muskel-  und  Nervenkrankheiten  erzielt  wurden, 
geriet  der  galvanische  Strom  für  einige  Zeit  gänzlich  in  Vergessen- 


728  Georg  Korn. 

heit,  bis  E.  Remak  (1858)  aufs  neue  die  hervorragende  therapeutische 
Bedeutung  des  Galvanismus  hervorhob,  die  Ausbildung  rationeller 
Untersuchungs-  und  Behandlungsmethoden  anbahnte  und  dadurch  auch 
dem  galvanischen  Strome  die  ihm  gebührende  Stellung  in  der  Therapie 
verschaffte.  Sein  Hinweis  auf  die  elektrolytische  Wirksamkeit  des 
galvanischen  (konstanten)  Stroms  bei  Entzündungen,  Geschwülsten,  und 
auf  den  Wert  der  Elektrizität  als  diagnostisches  Hilfsmittel  bei 
Nervenkrankheiten  half  den  Wirkungskreis  der  Elektrotherapie  erheb- 
lich erweitern  („Galvanotherapie  der  Nerven-  und  Muskelkrankheiten" 
1858).  Der  faradische  oder  induzierte  Strom  wurde  in  der  Folge  vor- 
zugsweise zur  Erregung  der  peripheren  Nerven  und  der  Muskeln,  der 
galvanische  (konstante)  dagegen  namentlich  zur  Erregung  der  tiefer 
und  geschützter  gelegenen  Centralorgane,  des  Gehirns,  des  Eückenmarks 
und  der  Sinnesorgane,  angewandt.  (Auf  die  Heilwirkung  der  Elek- 
trizität bei  Anwendung  des  elektromagnetischen  Apparats  hatte 
bereits  1843  Robert  Froriep  als  erster  in  Deutschland  aufmerksam 
gemacht,  blieb  jedoch  damals  ganz  unbeachtet.) 

Auch  in  den  folgenden  Jahrzehnten  wurde  auf  dem  Gebiet  der 
Elektrodiagnostik  und  Elektrotherapie  eifrig  und  mit  Erfolg  weiter- 
gearbeitet. Brenner  begründete  die  polare  Untersuchungsmethode, 
M.  Benedikt  schrieb  eine  Elektrotherapie  im  Anschluss  an Remaksche 
Lehren,  die  neue  Anregungen  brachte,  Erb  und  v.  Ziemssen  bauten 
die  von  Baierlacher  angebahnte  Lehre  von  der  Entartungsreaktion 
aus,  physikalischen  und  klinischen  Studien  von  Ziemssen  folgten  eine 
Reihe  von  Forschungen,  mit  denen  die  Namen  von  Moritz  Meyer^ 
Schulz,  Hitzig,  Seelig müller,  Eulenburg,  Bernhardt^ 
Jolly,  Vig-ouroux  u.  a.  verknüpft  sind.  Namentlich  die  siebziger 
und  achtziger  Jahre  waren  eine  Blütezeit  der  Elektrotherapie  unter 
dem  Einfluss  namentlich  von  W.  Erbs  Arbeiten  und  seines  grossen 
„Handbuchs  der  Elektrotherapie".  Das  Ende  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts sah  noch  grosse  technische  Fortschritte  der  Elektrotherapie : 
die  Einführung  der  absoluten  Strommessung,  die  Wiederaufnahme  der 
Anwendung  Franklinscher  Ströme,  die  Einführung  des  hydroelektrischen 
Bades  und  die  stetige  Vervollkommnung  der  elektrotherapeutischen 
Apparate.  Dagegen  wurden  die  wissenschaftlichen  Grundlagen  der 
Elektrotherapie  seit  1887  vielfach  skeptisch  betrachtet.  Damals 
brachte  M  ö  b  i  u  s  die  Frage,  wieweit  die  Wirkung  der  Elektrotherapie 
auf  Suggestion  beruhe,  zur  Sprache,  die  dann  u.  a.  1891  auf  dem 
Elektrotherapeutenkongress  eingehend  behandelt  wurde.  Auf  ein 
Fünftel  schätzte  dort  A.  Eulenburg,  auf  vier  Fünftel  Mob  ins  die 
Wirkung  der  Suggestion.  Die  Mehrheit  blieb  jedoch  der  Fahne  der 
Elektrotherapie  treu,  die  nach  wie  vor  als  ein  durch  Erfahrung  er- 
probtes Hilfsmittel  in  der  Behandlung  der  Nervenkrankheiten  gilt 
und  beibehalten  wird,  selbst  wenn  vielfach  psychische  Einflüsse  bei 
den  Heilerfolgen  mitwirken. 

Wie  sehr  die  Neuropathologie  der  Gegenwart  auf  den  wissen- 
schaftlichen Errungenschaften  der  letzten  Menschenalter  beruht,  zeigt 
ein  kurzer  Ueberblick  über  einige  der  markantesten  Nervenleiden 
deutlich. 

Die  Tabesdorsalis  (Hinterstrangsklerose),  deren  Erscheinungen 
gelegentlich  schon  in  der  antiken  Litteratur  angedeutet  wurden, 
wurde  in  den  dreissiger  Jahren  des  neunzehnten  Jahrhunderts  von 
H  u  t  i  n  und  M  o  n  o  d  zuerst  anatomisch  geschildert  und  C  r  u  v  e  i  1  h  i  e  r 


Neuropathologie.  729 

gab  neben  den  anatomischen  Feststellungen  auch  klare  Krankheits- 
schilderungen. In  Deutschland  lieferte  W.  Hörn  die  erste  Be- 
schreibung (1827).  dem  Romberg  mit  einer  Darstellung  folgte,  die 
schon  alle  wesentlichen  Symptome  enthält  und  das  Krankheitsbild 
scharf  abgrenzt.  Die  Arbeit  von  Steinthal  fasste  1844  das  Wissen 
seiner  Zeit  anschaulich  zusammen;  ihm  folgten  Wunderlich  und 
als  mikroskopische  Anatomen  Rokitansky  und  Türck.  So  war  in 
Deutschland  diese  Krankheit  bereits  von  vielen  Seiten  durchforscht, 
als  Duchenne  sie  1858  unter  dem  Namen  Ataxie  locomotrice  pro- 
gressive neu  entdeckte  und  beschrieb.  Seitdem  ist  diese  Krankheit, 
deren  Name  „Tabes  dorsalis"  von  Romberg  stammt,  Gegenstand 
eifriger  Forschung  geworden,  die  in  Franki-eich  namentlich  an 
Trousseaus,  in  Deutschland  an  Friedreichs,  Leydens  und 
Westphals  Arbeiten  anknüpft.  Von  den  Symptomen  entdeckte 
Westphal  das  Kniephänomen,  das  Fehlen  der  Patellarreflexe, 
Friedreich  den  ataktischen  Nystagmus,  Charcot  und  Delamarre 
die  crises  gastriques.  Als  Ursache  der  Krankheit  wurden  vielfach 
sexuelle  Exzesse,  von  Charcot  eine  heredite  nerveuse,  von  Leyden 
und  Goldscheider  die  Erkältung,  von  E  ding  er  die  Ueber- 
anstrengung  in  den  Vordergrund  gestellt,  bis  1876  der  Pariser 
Kliniker  Alfred  Fournier  die  Syphilistrage  aufrollte.  Er  fand, 
dass  nur  etwa  10  7o  der  Tabeskranken  in  ihrem  Vorleben  nicht 
syphilitisch  infiziert  gewesen  waren,  während  es  unter  gesunden 
Männern  nach  seiner  Berechnung  mindestens  80%  sind.  Erb  und 
eine  gi'osse  Anzahl  von  Klinikern  schlössen  sich  ihm  in  der  An- 
schuldigung der  Syphilis  als  wichtigsten  oder  sogar  einzigen  Ursache 
an,  während  Leyden  und  auch  Virchow  auf  ihrem  abwehrenden 
Standpunkt  verharrten.  Die  Therapie  hat  in  der  ganzen  Zeit  durch- 
greifende Erfolge  nicht  zeitigen  können.  Thermalsoolen  wie  Oeyn- 
hausen und  Nauheim  traten  an  die  Stelle  der  früher  empfohlenen 
Thermalbäder,  Erb  empfahl  Kaltwasserkur  neben  der  Elektrotherapie, 
die  schon  Remak  mit  Galvanisation,  Rumpf  mit  allgemeiner  fara- 
discher Pinselung  anwandte.  Die  Suspensionsmethode  des  Russen 
Motschutkowski,  in  den  achtziger  Jahren  nach  Frankreich  im- 
portiert, wurde  bald  verlassen,  dagegen  die  kompensatorische  Uebungs- 
therapie  nach  F renke  1  durch  Leyden  u.  a.  zur  Besserung  der 
lästigen  ataktischen  Störungen  mit  Erfolg  herangezogen. 

Die  spastische  Spinallähmung,  bei  der  der  sklerotische 
Prozess  die  Seitenstränge  ergreift,  ist  1875  zuerst  von  Erb  geschildert 
und  von  Charcot  unter  dem  Namen  Tabes  dorsal  spasmodique  be- 
schrieben worden.  Die  Untersuchungen  von  Flechsig  und  Pick 
stellten  dann  fest,  dass  es  sich  hier  um  eine  primäre  Affektion  handelt, 
nicht  um  die  von  Westphal  beobachtete  Kombination  mit  der 
Hinterstrangsklerose.  Sie  hat  grosse  Aehnlichkeit  mit  der  von 
Charcot  beschriebenen  aniyotrophischen  Lateralsklerose. 

Brown-Sequard  hat  1 863  eine  Krankheit  beschrieben,  bei  der 
sich  langsam  eine  halbseitige  motorische  Lähmung  entwickelt,  die 
auch  eine  durch  Sinken  der  Bluttemperatur  auf  der  kranken  Seite 
sich  äussernde  vasomotorische  Lähmung  zeigt.  Das  Muskelgefühl  ist 
herabgesetzt,  die  Haut  hyperästhetisch.  Die  gesunde  Seite  ist  bis 
zur  Höhe  der  Erkrankung  anästhetisch.  Die  Ursache  ist  meist  eine 
äussere   Verletzung   des  Rückenmarks.     Die  Krankheit   erhielt   den 


730  Georg  Korn. 

Namen  „Brown-Sequardsche  Halbseitenläsion"  und  wurde 
bald  Gegenstand  einer  grösseren  Litteratur. 

Die  akute  Spinallähmung  der  Kinder  (Poliomyelitis 
anterior  acuta)  wurde  zuerst  1840  von  J.  v.  Heine  beschrieben,  nach- 
dem schon  im  Anfange  des  Jahrhunderts  sich  einzelne  Autoren  mit 
der  Krankheit  beschäftigt,  aber  die  Symptome  nicht  in  ihrer  Zusammen- 
gehörigkeit erkannt  hatten.  Unter  den  späteren  Beobachtern  steht 
Duchenne  obenan,  der  mit  Heine  eine  Veränderung  der  grauen 
Substanz  des  Rückenmarkes  annahm,  die  Cornil  (1863)  zuerst  sah 
und  Prevost  und  Lock  hart  Clarke  in  die  grauen  Vordersäulen 
verlegten.  Spätere  Untersuchungen  bestätigten  diese  Beobachtung 
und  M.  Meyer  wies  nach,  dass  nicht  nur  Kinder,  wie  man  bis  dahin 
annahm,  sondern  auch  Erwachsene  die  Krankheit  bekommen  können. 
Die  pathologische  Anatomie  ergab  eine  akute  Entzündung  der  vorderen 
grauen  Substanz. 

Schon  1849  beschrieb  Duchenne  die  Poliomyelitis  anterior 
subacuta  et  chronica,  die  chronische  Form  der  eben  erwähnten 
Krankheit.  Unter  den  Ursachen  stellte  Eemak  und  nach  ihm 
Vulpian  die  chronische  Bleivergiftung  obenan.  J.  Mason  erzeugte 
auf  experimentellem  Wege  die  genannten  Lähmungen  dadurch,  dass 
er  Frösche  in  Bleilösungen  setzte.  Die  pathologisch-anatomische  Unter- 
suchung durch  AVebber,  Ketly  und  Dejerine  ergab  eine  Degene- 
ration der  grossen  Ganglienzellen  in  den  Vordersäulen. 

Nach  Landry,  der  sie  1859  beschrieb,  führt  die  schwere 
„P  a  r  a  1  y  s  i  e  a  s  c  e  n  d  a  n  t  e  a  i  g  u  e"  ihren  Namen.  Kussmaul,  der 
gleichfalls  schon  1859  solche  Fälle  schilderte,  fand  gleich  Landry 
keine  Veränderungen  im  Centralorgan,  so  wenig  wie  Olli  vi  er,  der 
durch  den  Namen  „Rückenmarkshyperämie"  eine  theoretische  Er- 
klärung geben  wollte.  Auch  Westphal  fand  keine  anatomische 
Ursache,  er  dachte  deshalb  an  eine  Intoxikationslähmung. 

Der  Name  der  Myelitis  stammt  von  Harless  und  Klohss 
(1814 und  1 820).  Nach  ihnen  erkannten  0 1 1  i  v i e r  und  Abercrombie 
den  Erweichungsvorgang,  Türck  die  sekundären  Degenerationen.  Mit 
dem  Aufschwung  der  Pathologie  und  Histologie  in  den  sechziger 
Jahren  wurde  auch  die  Myelitis  immer  genauer  erforscht,  so  durch 
Brown-Sequard,  Oppolzer  und  Fromm  an  n  und  später  durch 
Charcots  Schule  und  deutsche  Forscher  unter  Westphals  und 
Friedreichs  Führung.  Als  pathologischer  Befund  ergab  sich  eine 
akute  oder  schleichende  Entzündung  und  darauffolgende  Erreichung 
der  Rückenmarkssubstanz.  Man  lernte  eine  centrale  Myelitis,  eine 
Myelitis  transversa  und  nach  Westphal  eine  Myelitis  acuta  dis- 
seminata unterscheiden.  Dujardin-Beaumetz  stellte  noch  eine 
Myelitis  hyperplastica  auf,  bei  welcher  die  Symptome  der  Erweichung 
fehlen. 

Die  multiple  Sklerose  wurde  zum  erstenmal  von  Cruveil- 
hier  (1842)  beschrieben  und  1855  von  Türck  klinisch  geschildert. 
Sie  ist  eine  Abart  der  chronischen  Myelitis,  aber  durch  die  Gruppierung 
der  Symptome  von  ihr  scharf  geschieden.  Frerichs  veröffentlichte 
1849  seine  berühmt  gewordene  Studie,  1856  folgte  Valentin  er, 
dann  Zenker,  Leyden  und  Rindfleisch  und  die  Veröffent- 
lichungen Charcots  und  seiner  Schule,  denen  in  Deutschland  be- 
sonders Westphals  Arbeiten  parallel  gingen. 

Die  B  u  1  b  ä  r  p  a  r  a  1  y  s  e ,  die  sich  als  eine  auf  die  Medulla  oblongata 


Neuropathologie.  731 

beseliränkte  Myelitis  darstellt,  wurde  in  ihrer  akuten  Form,  ins- 
besondere durch  Leyden  erforscht;  die  chronische  Form,  die  man 
nach  dem  Vorgange  von  Wachsmuth  auch  chronische  progressive 
Biilbäi-paralyse  nennt,  erfuhr  zuerst  durch  Duchenne  eine  klare 
klinische  Schilderung.  Er  unterschied  sie  von  der  progi^essiven 
Muskelatrophie,  indem  er  diese  als  Atrophie  ohne  Lähmung,  erstere 
als  Lähmung  ohne  Atrophie  bezeichnete.  Bär  winke  1  verlegte  1850 
den  Sitz  des  Leidens  an  das  verlängerte  Mark  und  Wachsmuth 
bestimmte  den  Sitz  im  Bulbus  meduUae.  Die  Franzosen  schlössen 
sich  dieser  Ansicht  an  und  Kussmaul  schlug  den  Xamen  ..pro- 
gressive Bulbärkernlähmung-'  vor.  Er  verstand  darunter  eine 
fortschreitende  Atrophie  und  Lähmung  der  vom  Bulbus  innervierten 
Muskeln  der  Zunge,  der  Lippen,  des  Gaumens,  des  Eachens  und 
Kehlkopfes,  wobei  die  Sprache,  das  Kauen  und  Schlingen  langsam 
gestört  werden. 

Von  den  vasomotorisch-trophischen  Neurosen  wurde  das  unter 
dem  Xamen  ..Basedowsche  Krankheit"  in  Deutschland  bezeichnete 
Leiden  zuerst  von  Robert  James  Graves  beschrieben,  nach  dem 
man  auch  -sielfach  die  Krankheit  benannte.  Schon  früher  (1825)  hatte 
Barry  allerdings  Fälle  ähnlicher  Art  beschrieben,  aber  nicht  deutlich 
abgegi'enzt.  Die  genaue  Kenntnis  der  drei  Symptome,  die  Lebert 
zu  der  Bezeichnung  ..Tachycardia  strumosa  exophthalmica"  ver- 
anlassten, rührt  aber  in  Deutschland  von  Karl  A.  v.  Basedow  her. 
der  in  Caspers  "Wochenschrift  1840  den  ..Exophthalmus  durch  Hyper- 
trophie des  Zellgewebes  in  der  Angenhöhle"  genau  schilderte  und 
dadurch  Anlass  gab,  dass  später  die  Krankheit  seinen  Xamen 
erhielt. 

Die  fortschreitende  Muskelatrophie  beschreibt  schon 
1745  van  Swieten  bei  Gelegenheit  einer  Schilderung  der  Blei- 
lähmung. Später  wurde  sie  von  John  A.  Aber  crom  bie  studiert, 
namentlich  aber  von  Romberg,  der  zuerst  die  progressive  Muskel- 
atri»phie  auf  eine  Degeneration  des  Rückenmarks  zurückführte.  Später  be- 
hauptete Aron  eine  rein  fettige  Entartung  des  Muskels,  während 
Cruveilhier  diese  zugab,  aber  auf  eine  Atrophie  der  vorderen 
Spinalnervenwurzeln  zurücktührte.  Die  myopathische  Theorie  von 
Friedreich,  der  sich  gegen  den  centralen  Ursprung  des  Leidens 
aussprach,  konnte  die  neuropathische  Theorie,  für  die  namentlich 
Charcot  eintrat,  nicht  verdrängen.  —  Das  Krankheitsbild  der 
Pseudohypertrophie  der  Muskeln  präzisierte  zuerst  Duchenne 
(1861).  nachdem  schon  Rinecker  einen  hierher  gehörigen  Fall  be- 
schrieben hatte. 

Die  Gesichtsatrophie  wurde  zuerst  von  Barry  (1825)  be- 
schrieben; Romberg  hielt  sie  für  eine  primäre  Trophoneurose, 
Lande  für  eine  genuine  Atrophie  des  Fettzellgewebes.  Die  späteren 
Autoren  nahmen  meist  den  neurotischen  Ursprung  an  und  erklärten 
sie  durch  Störungen  am  Halssympathicus  oder  am  Ganglion  Gasseri.  — 
Der  Name  der  ..Angina  pectoris"  kommt  zum  ersten  Male  in 
William  Heberdens  Arbeit  „Letter  concerning  angina  pectoiis" 
(1785 1  vor.  Der  ebenso  verbreitete  Name  „Stenocardie"  rührt  von 
Brera  (1810)  her.  Die  verschiedensten  Theorien  wurden  für  diese 
Anfälle  aufgestellt,  bis  1866  Lance reaux  auf  die  Beteiligung  des 
Plexus  cardiacus  hinwies,  nachdem  schon  1863  Cohen  die  Angina 
pectoris  den  vasomotorischen  Neurosen  zugezählt  hatte.     Landois 


732  Georg  Korn. 

gab  dann  1868  die  mangelnde  physiologische  Erklärung  und  unter- 
schied eine  reflektorische  und  eine  vasomotorische  Form. 

Von  den  funktionellen  Erkrankungen  ist  die  Neurasthenie 
erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  zum  Gegenstand  besonderer  Auf- 
merksamkeit geworden.  Bekannt  waren  ihre  Erscheinungen  sicherlich 
früher  schon,  aber  man  reihte  sie  unter  die  Bezeichnungen  „Hypo- 
chondrie" ,  besonders  im  achtzehnten  Jahrhundert ,  oder  „Spinalirri- 
tation", wie  sie  namentlich  Stilling  schilderte,  ein;  auch  als  „vapeurs" 
wurden  in  Frankreich  ähnliche  Erscheinungen  registriert.  Im  Jahre 
1851  gebrauchte  Sandras  zum  ersten  Male  den  Ausdruck  „etat 
nerveux",  den  später  B  o  u  c  h  u  t  durch  den  Namen  „nervosisme"  ersetzte. 
1860  erschien  Bouchuts  Buch:  „Du  nervosisme  aigu  ou  chronique 
et  des  maladies  nerveuses",  das  viele  neue  Aufschlüsse  gab.  Bouchut 
schilderte  unter  dem  Namen  Nervosisme  eine  Reihe  abnormer  Lebens- 
erscheinungen, die  man  in  der  Regel  noch  nicht  als  eigentliche  Krank- 
heiten ansieht  und  bisher  zur  Hypochondrie,  Hysterie  oder  zu  den 
Psychosen  gerechnet  oder  als  Symptome  bestimmter  Organerkrankungen 
angesehen  hatte.  Er  erklärte  die  Nervosität  für  ein  selbständiges 
Leiden,  das  nicht  auf  organischen  Veränderungen  des  Centralnerven- 
systems  beruht,  sondern  lediglich  eine  funktionelle  Affektion  darstellt, 
die  akut  oder  chronisch  auftreten  kann.  Den  Namen  „Neurasthenie" 
für  das  Krankheitsbild  der  Nervenschwäche  fand  1869  George  M. 
B.  Beard;  er  behandelte  Sj^mptome,  Pathologie  und  Therapie  dieser 
verbreitetsten  aller  Kulturkrankheiten  in  zahlreichen  Arbeiten.  Die 
Litteratur  der  Neurasthenie  wuchs  bald  ins  Ungeheure.  J  o  1 1  y  leugnete 
die  Existenz  der  Neurasthenie  überhaupt,  Gerhardt  zählte  sie  zu 
den  Angioneurosen,  Erb  hob  die  Verwandtschaft  der  Spinalirritation 
beim  Weibe  mit  der  Neurasthenie  beim  Manne  hervor  und  führte  sie 
beide  auf  Ernährungsstörungen  des  Rückenmarks  zurück.  In  der 
Therapie  trat  neben  der  medikamentösen  Behandlung  (Brompräparate 
u.  s.  w.)  bald  die  Hydrotherapie  und  Elektrotherapie  in  den  Vorder- 
grund, dann  namentlich  die  von  dem  Amerikaner  Weir-Mitchell 
gemeinsam  mit  Play  fair  angegebene  Diätotherapie,  die  sog.  Mast- 
kur, die  durch  Ruhe  in  Gemeinschaft  mit  Ueberernährung  günstig 
einzuwirken  sucht. 

Streift  schon  die  Neurasthenie  nicht  selten  an  das  Gebiet  der 
Psychiatrie,  so  noch  mehr  die  Hysterie  und  die  Epilepsie.  Die 
Studien  der  Psychiater,  namentlich  der  pathologisch-anatomische  Aus- 
bau der  Psychiatrie  in  den  letzten  Jahrzehnten  kamen  deshalb  auf 
dem  Gebiete  dieser  Krankheiten  auch  der  Neurologie  zu  gute,  die  viel- 
fach von  den  Psychiatern  in  einer  Art  Personalunion  gepflegt  wurde. 
Bei  der  Hysterie  schwankt  die  Entscheidung,  ob  hier  eine  Psychose 
oder  Neurose  vorliegt,  hin  und  her;  die  schweren  Fälle,  die  namentlich 
in  Frankreich  zur  Beobachtung  kommen,  grenzen  jedenfalls  an  die 
reinen  Psychosen.  Während  die  Hysterie,  wie  schon  ihr  Name  andeutet^ 
auf  sexuelle  Ursachen  zurückgeführt  wurde  und  als  Heilmittel  hyste- 
rischen Mädchen  das  Heiraten  empfohlen  wurde,  wies  namentlich 
Charcot  schwere  psychische  Störungen  als  wesentlich  nach.  Wie 
bereits  oben  angedeutet  wurde,  hat  Charcot  einen  wesentlichen  Teil 
seiner  Lebensarbeit  der  Hysterie  gewidmet;  seit  dem  Jahre  1870, 
wo  ihm  der  Zufall  die  früher  anderweit  untergebrachten  Hysterischen 
zugeführt  hatte,  schuf  er  zunächst  eine  zuverlässige  Symptomatologie 
in  der  Schilderung  des  Anfalls,  der  Stigmata,  der  Zufälle,  erkannte 


Neuropatliologie.  733 

die  Ausdehnung  der  Hysterie  auf  Männer  und  Kinder,  wies  zahlreiche 
scheinbar  organische  Erkrankungen  als  traumatische  oder  toxische 
Hysterie  nach  und  erhellte  das  Wesen  der  Hysterie,  indem  er  die 
Entstehung  der  hysterischen  Symptome  durch  psychische  Vorgänge 
feststellte.  Ferner  prüfte  er  die  ästheseogenen  Mittel  und  studierte 
die  grosse  Rolle  der  Hysterie  in  der  Geschichte  und  der  Kunst.  Nach 
ihm  gingen  namentlich  Strümpell,  Jolly,  Oppenheim  und 
Möbius  auf  Charcots  Wegen  weiter;  letzterer  gab  als  Definition: 
„Hysterisch  sind  alle  diejenigen  krankhaften  Veränderungen  des  Körpers, 
welche  durch  Vorstellungen  bedingt  sind." 

Auch  das  Krankheitsbild  der  Epilepsie  erfuhr  in  der  zweiten 
Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  im  wesentlichen  durch  Psychiater 
seine  wissenschaftliche  Abgrenzung.  Man  erkannte,  dass  nicht  allein 
die  Krampfanfälle  als  epileptisch  zu  bezeichnen  sind,  sondern  vielfach 
rein  psychische  Symptome  ohne  Ki'ämpfe  vorhanden  sind.  Man  trennte 
die  reine,  genuine  Epilepsie  von  denjenigen  ..sjnnp tomatischen  Krämpfen- 
ab,  bei  denen  diese  durch  bestimmte  Gehirnkraukheiten  bestimmt  sind. 
H.  Jackson  zeigte,  dass  bei  einer  Reihe  von  konvulsivischen  Krämpfen 
eine  Verletzung  der  Gehirnrinde  oder  ein  Druck,  der  auf  sie  ausgeübt 
wird,  ätiologisch  von  Bedeutung  sind  („Jacksonsche  Epilepsie").  Ausser 
den  Psychiatern  haben  sich  namentlich  Tenner  und  Kussmaul 
in  berühmten  experimentellen  Arbeiten  über  das  Wesen  der  fall- 
süchtigen Zuckungen  und  Nothnagel  um  die  Lehre  von  der  Epilepsie 
verdient  gemacht. 

Die  Hypochondrie,  die  gleich  der  Epilepsie  (dem  abergläubisch 
verehrten  ..morbus  sacer"  der  Alten)  schon  im  Altertum  bekannt  war 
und  deren  erste  Beschreibung  Hippokrates  lieferte,  wurde  jedoch 
erst  seit  dem  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  als  eine  Erkrankung 
aufgefasst,  deren  Sitz  im  Gehirn  oder  im  Nervensystem  zu  suchen  ist. 
Jolly  widmete  ihr  in  jüngster  Zeit  eine  eingehende  Monographie; 
er  definiert  sie  als  eine  Form  der  traurigen  Verstimmung,  in  der  die 
Aufmerksamkeit  des  Kranken  anhaltend  oder  vorwiegend  auf  die  Zu- 
stände des  eigenen  Körpers  und  Geistes  gerichtet  ist.  —  Ein  neues 
Krankheitsbild  gab  gegen  Ende  des  19.  Jahrhunderts  die  trau- 
matische Neurose,  die  vonCharcot  und  Westphal  zuerst  be- 
schrieben, von  Oppenheim  benannt  wurde,  und  um  deren  wirkliche 
Existenz  ein  heftiger  wissenschaftlicher  Kampf  sich  entspann,  an  dem 
sich  namentlich  S  e  e  1  i  g  m  ü  1 1  e  r  beteiligte.  Sie  gewann  besondere  Be- 
deutung durch  ihre  grosse  Rolle  bei  Entschädigungsansprüchen  in- 
folge der  modernen  Arbeitergesetzgebung.  Schon  vorher  hatte  John 
ErichsendieRailway-spine  beschrieben,  nach  ihm iu Deutschland 
Rigler. 

Auch  die  Schüttellähmung,  Paralysis  agitans,  wurde  erst  im 
19.  Jahrhundert  entdeckt  und  zwar  von  Parkinson  (1819); 
Romberg,  Trousseau  und  namentlich  Charcot  bauten  ihre 
Pathologie  weiter  aus.  —  Erst  seit  1873  ist  die  Athetosis  be- 
kannt geworden,  die  der  Amerikaner.  W.  A.  Hammond  zuerst 
beschrieb. 

Die  Lehre  von  der  Neuritis  ist  erst  im  letzten  Menschenalter 
durch  das  Ineinandergreifen  der  klinischen,  experimentellen  und 
pathologisch-anatomisclien  Forschung,  wesentlich  auch  nach  Vervoll- 
kommnung   der    histologischen    Untersuchuugsmethoden    ausgestattet 


734  Georg-  Korn. 

worden.  Die  Kenntnis  der  Polyneuritis  ist  eine  Errungenschaft» 
der  letzten  beiden  Jahrzehnte. 

Früher  kannte  man  nur  die  durch  äussere  Verwundung  ver- 
anlasste Nervenentzündung,  die  jedoch  auch  erst  seit  1863,  wo  im 
amerikanischen  Bürgerkriege  unter  der  Leitung  von  Weir  Mitchell^ 
Morehouse  und  Keen  ein  Speziallazarett  für  Nervenverletzungen 
errichtet  wurde,  genauer  studiert  wurde.  Durch  Mitchell  wurde 
1874  die  Frage  der  traumatischen  Neuritis  zu  einem  gewissen  Ab- 
schluss  gebracht'  Vorher  waren  viel  mehr  die  vermeintlichen  Folge- 
erscheinungen der  traumatischen  Neuritis  berücksichtigt  worden,  unter 
denen  Trismus  und  Tetanus  am  meisten  gefürchtet  waren.  Die  Lehre 
von  den  neuritischen  Lähmungen  begründete  1860  E.  Remak; 
einen  weiteren  Fortschritt  in  der  Erkenntnis  brachte  die  experimentelle 
Erforschung  der  von  Duchenne  seit  1847  bei  peripherischen  Lähmungen 
gefundenen  Aufhebung  der  Muskelerregbarkeit  für  den  induzierten^ 
und  der  von  Baierlacher  1859  entdeckten,  später  so  genannten 
Entartungsreaktion  für  den  galvanischen  Strom,  Es  waren  die  x\rbeiteii 
von  Erb,  Ziemssen  und  Weiss,  die  1868  diese  wertvollen  Auf- 
schlüsse brachten.  Dann  beherrschte  die  Lehre  von  der  Poliomyelitis 
bis  1880  die  Situation,  bis  Leyden  in  diesem  Jahre  und  in  den 
folgenden  die  Poliomyelitis  auf  ein  sehr  bescheidenes  Gebiet  zurück- 
drängte und  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  auf  multiple  Neuritis  zurück- 
führte und  die  Mehrzahl  der  Neurologen  ihm  beistimmte.  Die  Blei- 
lähmung, diphtherische  Lähmungen  (P.  Meyers  Arbeit  1881),  die 
japanische  Kakke  (Baelz  und  Sehe  übe  1882)  wurden  nun  auf 
Polyneuritis  zurückgeführt,  für  deren  Aetiologie  Möli  (1884)  den 
chronischen  Alkoholismus  als  wichtiges  Moment  hervorhob.  D  e  j  e  r  i  n  e 
ermittelte  1883,  dass  A  t  a  x  i  e  lediglich  durch  neuritische  Veränderungen 
der  sensiblen  Nerven  begründet  sein  kann  (Neurotabes  peripherica). 
1888  hob  E.  V.  Leyden  hervor,  dass  die  Polyneuritis  als  eine  Gruppe 
von  Krankheiten  anzusehen  sei.  (Aufsteigende  Landrysche  Paralyse^ 
die  infektiösen  multiplen  atrophischen  Paralysen,  Bleilähmung,  Arsenik- 
lähmung, diphtherische  Lähmungen,  akute  Ataxien  u.  s.  w.)  In  den 
letzten  Jahren  wurden  dann  wieder  die  spinalen  Veränderungen  in 
ihren  Abhängigkeitsverhältnissen  zu  den  peripherischen  mehr  unter- 
sucht, wozu  die  sehr  verfeinerten  Untersuchungsmethoden  die 
Mittelgaben;  eine  prinzipielle  Bedeutung  gewann  die  Neurontheorie. 
(Vergl.  E.  Remak  und  E.  Fla  tau,  Neuritis  und  Polyneuritis, 
Wien  1899.) 

Auch  mehrere  ganz  moderne  Heilmethoden  stellten  sich  neuer- 
dings in  den  Dienst  der  Nerventherapie,  so  die  Bakteriologie,  wie  sie 
Robert  Koch  inaugurierte,  durch  die  Bereitung  des  Antitoxins 
(Behring)  gegen  Tetanus,  die  Paste  urschen  Schutzimpfungen 
durch  die  Bekämpfung  der  Lyssa,  endlich  die  Organtherapie  durch 
Darreichung  der  Schilddrüsenpräparate  beim  Myxödem.  Weitere 
Versuche,  die  Organtherapie  auf  Nerven-  und  Rückenmarkskrankheiten 
auszudehnen  (auch  das  Spermin  von  Brown-Sequard  geh  orte 
in  gewissem  Sinne  hierher)  sind  von  verschiedenen  Seiten  gemacht 
worden,  ohne  bisher  sichere  Ergebnisse  zu  haben.  —  Eine  reiche 
Auswahl  von  Nervenmitteln  brachte  die  moderne  Chemie. 

Daneben  sind  alle  jene  vielfachen  Hilfsmittel  der  Therapie,  wie 
sie  unter  dem  Namen  der  diätetisch-physikalischen  Heil- 
methoden zusammengefasst  und  immer  mehr  ausgebeutet  werden^ 


Neuropathologie.  735 

auch  den  Nervenleidenden  erscUossen  worden.  Zalikeiche  offene  Heil- 
anstalten wenden  sie,  insbesondere  die  durch  Winternitz  u.  a. 
wissenschaftlich  ausgebaute  Hydrotherapie,  systematisch  an.  besonders 
bei  funktionellen  Neurosen.  Auch  für  unbemittelte  Nervenkranke 
sind  neuerdings,  auf  Mob  ins'  Anregung,  Heilanstalten  begründet 
worden.  Zugleich  ist  die  Anleitung  und  Gelegenheit  zu  nützlicher 
körperlicher  Arbeit  in  das  Programm  solcher  Anstalten  als  nützliches 
Heilmittel  aufgenommen  worden  (G  r  o  h  m  a  n  n ,  F  o  re  1).  Die  Personal- 
union zwischen  Psychiatrie  und  Neuropathologie,  die  in  den  Flitter- 
wochen der  modernen  Nervenheilkunde  die  Regel  war,  ist  bei  dem 
wachsenden  Umfange  der  Zwillingsschwestern  einer  Arbeitsteilung 
zwischen  den  Psychopathologen  und  den  eigentlichen  Neuropatho- 
logen  gewichen,  wenn  sie  auch  eine  Reihe  Grenzgebiete  gemeinsam 
haben. 

Stark  interessiert  ist  schliesslich  die  Nervenheilkunde  an  dem 
Erfolg  der  immer  stärker  anschwellenden  Bewegung  zur  Bekämpfung 
des  Alkoholismus  einerseits,  der  Syphilis  und  der  Geschlechts- 
krankheiten andrerseits,  die  als  Ursachen  in  der  Neuropathologie  eine 
umfassende  und  verhängnisvolle  Rolle  spielen. 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten. 

Von 
Tictor  Fossel  (Graz). 


Einleitung. 
Litteratur. 

(A^^sser  den  bekannten  Werken  von  Sprengel,  Hecker,  Häser,  Hirsch, 
Crriesinger,  Schnurrer,  Lersch):  Fracastoro,  De  contagione  et  contagiosis 
morbis  .  .  .,  1550.  —  Lancisi,  De  noxiis  pallidum  effluviis,  1716.  —  Boissier  de 
Sauvage,  Nosologia  methodica,  1763.  —  Crrant,  Beob.  üb.  d.  Natur  .  .  .  der  Fieber, 
1775.  A.  d.  Engl.  —  Sydenhain,  Werke.  Deutsch  v.  Mastallier,  1786.  —  Lepecq 
de  la  Cloture,  Anleitg.  f.  Aerzte,  epid.  Krankheiten  zu  beobachten,  1788.  —  D'An- 
trechau,  Merhv.  Nachrichten  .  .  .  v.  d.  Pest  in  Toulon,  1794.  —  Finel,  Philosoph. 
Nosographie,  1800.  ■ —  Ozanatn,  Allgeni.  u.  besond.  Geschichte  d.  epid.  Krank- 
heiten, 1820.  —  Fodere,  Legons  sur  les  epidemies  .  .  .  4  Bde.,  1822 — 24.  —  Marx, 
Origines  contagii,  1824.  —  Huxham,  Opera,  1829.  —  Ehrenberg,  Die  Infusions- 
thicrchen  als  vollkommene  Organismen,  1832.  —  Schönlein,  Allgem.  u.  spec.  Patho- 
logie, 1839.  —  Henle,  Pathol.  Untersuchungen,  1840.  —  Canstatt,  Hdb.  d.  med. 
Klinik  IL  Bd.  1847.  —  Bürenspr^ung,  lieber  Volkskrankheiten,  1851.  —  lAeher- 
mneister,  lieber  d.  llrsaclien  d.  Volkskrankheiten,  1865.  —  Corradi,  Annali  dellc 
epidemie,  VII  vol.  1876 — 92.  —  Löffler,  Vorlesungen  üb.  d.  gesch.  Entwicklung  d. 
Lehre  von  den  Bacterien,  1887.  —  CreigJiton,  History  of  the  epidemies  in 
Britain  .  .  .  2  voll.  1891 — 94.  —  Behring,  Gesammelte  Abhandlungen,  1893.  — 
Behring,  Die  Bekämpfg.  d.  Infectionskrankheiten,  1894.  —  Behring,  Die  In- 
fectionskrankheiten  im  Lichte  d.  modern.  Forschg.,  D.  m.  Wochsch.  1894.  —  Pusch- 
■niann,  Die  Gesch.  d.  Lehre  v.  d.  Ansteckung,  Wien.  med.  Wochsch.  1895.  — 
CrTuber,  Pasteur's  Lebensiverk  .  .  .  Wien.  Min.  Woch.  1895.  —  Peypers,  lln 
ancien  pseudo-precurseur  de  Pasteur,  Janus  I,  1896—97.  —  Gottstein,  Allgem. 
Epidemiologie,  1898.  —  Weichselbauni,  Epidemiologie,  1899.  —  Cttrschniann, 
Hungernöthe  im  Mittelalter,  1900.  —  Niedner,  Die  Kriegsepidemien  des  19.  Jahrdt. 
u.  ihre  Bekämx)fimg,  1903.  (Bezüglich  der  ausführlichen  Literaturangaben,  denen 
hier  kein  Platz  offen  stehen  konnte,  vergl.  u.  a.  insbes.  H.  Iläser,  Lehrb.  d.  Gesch. 
d.  Medicin  und  d.  epid.  Krankheiten,  III.  Bearbeitg.,  HL  Bd.  1882,  iind  A.  Hirsch, 
Handb.  d.  hist.-geogr.  Pathologie,  2.  Au^.,  L  und  IIL  Bd.  1881—1886.) 

Die  grossen  Seuchen  der  Vergangenlieit,  so  tiefeingreifend  in  die 
Schicksale  der  Völker,  umfassen  zugleich  die  lehrreichsten  Blätter  in 
der  Geschichte  der  Heilkunde.  Die  Schärfe  der  ärztlichen  Erkenntnis 
und  Beobachtung,  die  Nutzanwendung  herrschender  Theorien,  die 
Autorität  der  medizinischen  Schulen  erlangt  während  der  Herrschaft 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  737 

gewaltiger  Volkskrankheiten  die  ihnen  gebührende  Geltung  im  Gefüge 
des  öffentlichen  Lebens.  Die  Geschichte  der  Epidemien  lehrt,  weit 
mehr,  als  es  die  reichsten  Schriftdenkmale  jemals  wiederzugeben  im 
Stande  gewesen  sind,  den  nachkommenden  Geschlechtern  in  lapidaren 
Zügen  Wert  und  Unwert  ärztlicher  Doktrinen  und  lässt  uns  ihre 
Rückwirkung  auf  die  Interessensphäre  der  Allgemeinheit  prüfend  und 
abwägend  vergleichen.  Zu  allen  Zeiten,  von  den  Anfangen  der  Heil- 
kunde im  mythischen  Zeitalter  bis  zur  jüngsten  Vergangenheit,  tritt 
in  der  Auffassung  und  in  der  Lehre  von  den  Epidemien  die  Grenze 
menschlicher  Einsicht  in  die  Xaturvorgänge  überhaupt  am  greifbarsten 
zu  Tage.  Wie  von  dem  schwankenden,  wechselvollen  Verständnis  der 
Ursachen  eines  plötzlich  hereinbrechenden  Erkrankens  und  Sterbens 
der  breitesten  Volksraassen  gibt  die  Seuchengeschichte  ein  unparteiisches 
Zeugnis  von  der  Ohnmacht  oder  den  Erfolgen  ärztlicher  Weisheit  und 
Thätigkeit.  Denn  weit  über  die  Erkrankung  des  Einzelnen  hinaus 
waren  die  grossen  Wanderzüge  einer  Seuche  allezeit  der  scharfe  Prüf- 
stein, um  zu  ermessen,  wie  tief  die  ärztliche  Erkenntnis  in  das  Wesen 
der  Volkskrankheit  gedrungen  und  wie  weit  die  Heilkunde  befähigt 
gewesen  war,  die  unheilvollen  Verheerungen  des  Todes  von  der  Ge- 
samtheit abzuwenden. 

Naturgemäss  spiegelt  sich  in  den  Epidemien  eines  jeden  Zeitalters 
die  Summe  des  medizinischen  Wissens  und  Könnens  wieder:  in  ihrer 
geschichtlichen  Darstellung  nimmt  die  herrschende  Voi-stellung  von  den 
ätiologischen  Faktoren,  die  dominierende  Krankheitslehre  und  die  gegen 
Seuchengefahr  ins  Werk  gesetzte  private  und  öffentliche  Hygiene  den 
ihr  geziemenden  Platz  ein.  So  geringwertige  und  unfruchtbare  Pflege 
die  Epidemiographie  durch  lange  Zeitabschnitte  der  medizinisch-his- 
torischen Geschichtsschreibung  erfahren  hat,  so  lässt  sich  doch  nicht 
verkennen,  dass  vom  16.  Jahrhundert  an,  in  welchem  ein  freierer  Geist 
auf  dem  medizinischen  Arbeitsgebiete  sich  zu  rühren  begonnen  hatte, 
epidemiologische  Berichte  an  das  Tageslicht  treten  und,  wenn  auch 
nui'  stückweise,  die  Kenntnisse  der  Zeitgenossen  bereichern  und  ver- 
tiefen. Andererseits  ist  zu  gewissen  Zeiten  wiederum  mit  voller  Klar- 
heit zu  ersehen,  wie  die  mit  elementarer  Gewalt  über  Länder  und 
Völker  anstürmenden  Seuchen  die  Aufmerksamkeit  und  den  Scharfsinn 
der  Aerzte  in  lebhaftere  Bewegung  gesetzt  und  auf  die  im  Autoritäts- 
glauben befangene  Heilkunde  im  allgemeinen  energischen  und  heil- 
samen Impuls  geübt  haben.  So  hat  die  grosse  Verbreitung  der 
Syphilis  am  Ausgang  des  Mittelalters,  die  Seuchennot  des  Fleckfiebers 
und  des  Englischen  Schweisses  im  Zeitalter  der  Reformation  zum 
guten  Teil  die  Unfehlbarkeit  der  galenischen  Doktrinen  erschüttert. 
Auch  im  abgelaufenen  Jahrhundert  war  es  trotz  aller  Schrecknisse 
dem  ersten  europäischen  Zuge  der  Cholera  zu  danken,  dass  vor  allem 
in  der  deutschen  Medizin,  die  sich  in  naturphilosophischen  Grübeleien 
und  unerquicklichen  Spekulationen  völlig  verloren  hatte,  eine  wohl- 
thätige  Ernüchterung  Platz  griff  und  an  die  Stelle  gefälschter  Kom- 
mentierungen der  Naturgesetze  das  vorurteilsfreie  Studium  reeller 
Vorgänge  allmählich  wieder  sich  einzubürgern  begann.  Die  grossen 
Epidemien  erwiesen  sich  zu  allen  Zeiten  als  strenge  Lehrmeister,  die 
die  Schwächen  und  Verirrangen  der  medizinischen  Traditionen  der 
Zeit  aufgedeckt,  der  Forschung  neue  Gesichtspunkte  eröffnet  und  dem 
ärztlichen  Stande  Beobachtungen  geboten  haben,  alte  Erfahrungen  und 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  47 


738  Victor  Fossel. 

neue  Beobachtimg-sobjekte  miteinander  zu  verknüpfen  und  im  Sinne 
geläuterter  Anschauungen  auszunützen. 

Doch  nicht  bloss  ein  medizinisches,  auch  ein  allgemeines  kultur- 
historisches Interesse  nehmen  die  grossen,  gewaltigen  Seuchenzüge  der 
Vergangenheit  in  Anspruch.  Die  Verwüstungen,  die  im  Gefolge  von 
Epidemien  über  ganze  Länder  und  Völkerschaften  sich  ausgedehnt, 
die  ungezählte  Menschenleben  vernichtet,  blühende  Ansiedlungen  ent- 
völkert, Wohlstand  und  Besitz  zerstört  haben,  sind  oft  genug  der 
Menschheit  zu  härterer  Bedrängnis  geworden,  als  sie  die  blutigsten 
Kriege,  schwere  Hungersnöte  oder  die  durch  elementare  Katastrophen 
bewirkte  Schädigungen  und  Verluste  herbeizuführen  im  stände  waren. 
Die  durch  lange  Zeiträume  sich  hinziehenden  und  nicht  selten  mit 
erifeuerter  Bösartigkeit  nach  kurzer  Pause  wiederkehrenden  Seuchen- 
plagen der  Vergangenheit,  mit  dem  ganzen  Kulturleben  eines  Volkes 
zusammenhängend,  waren  von  verhängnisvollen  Erschütterungen  des 
geistigen  und  materiellen  Wohles  der  Nationen  begleitet.  Sie  haben 
die  Kampfbereitschaft  grosser  Heeresmassen  empfindlich  geschwächt, 
der  Kulturentwicklung  ganzer  Völker  zersetzenden  Nachteil  gebracht 
und  selbst  die  Lebenskraft  einzelner  Staatengebilde  auf  lange  hinaus 
gelähmt  oder  deren  Machtbestand  dauernd  untergraben.  Wie  Athen 
und  seine  politische  Selbständigkeit  nach  der  grausamen  Pest  zur  Zeit 
des  peloponnesischen  Krieges  sich  nicht  mehr  zur  früheren  Blüte  erholen 
konnte,  so  waren  die  unaufhörlichen  Seuchen,  die  das  sinkende  Kömer- 
reich heimgesucht,  neben  anderen  Ursachen  mitbeteiligt  an  dem  Nieder- 
gange seiner  weltgebietenden  Herrschaft.  Welche  gewaltige  Wand- 
lungen hat  nicht  die  grösste  Weltseuche,  der  schwarze  Tod  des 
14.  Jahrhunderts  auf  den  Geist  der  Menschen  ausgeübt,  Besitzstand 
und  soziale  Verhältnisse  vom  Grund  aus  verschoben? 

Wenn  wir  an  der  Hand  der  historischen  Kenntnisse  Rückschau 
halten  über  die  Vorstellungen,  die  den  Seuchen  in  den  einzelnen  Zeit- 
abschnitten zu  Grunde  gelegt  wurden,  so  begegnen  wir  in  den  urältesten 
Perioden  der  Völker  dem  Glauben  an  die  übernatürlichen  Ursachen 
der  Volkskrankheiten.  Die  ursprüngliche,  noch  heutzutage  bei  rohen 
Naturvölkern  herrschende  Auffassung  der  Krankheit  als  eines  Werkes 
böser  Mitmenschen  oder  feindseliger  Dämonen  wird  in  höherer  Kultur- 
stufe von  der  Ueberzeugung  verdrängt,  dass  die  Götter  die  Seuchen 
über  die  Menschheit  verhängen,  um  sie  für  begangene  oder  vermeint- 
liche Missethat  zu  strafen.  Wie  das  Leiden  des  Einzelnen,  wird  die 
Seuche  dem  Zorne  der  Gottheit  zugeschrieben,  die  wieder  nur  durch 
Gebet  und  Opfer  besänftigt  werden  kann.  Im  trojanischen  Krieg  ist 
es  Apollon,  der  das  Sterben  der  Menschen  und  Tiere  gewollt  hat, 
bei  den  Römern  sendet  der  Kriegsgott  Mars  die  mörderischen  Krank- 
heiten der  Menge  und  im  alten  Testamente  züchtigt  Gott  der  Herr 
das  auserwählte  Volk  mit  Pestplagen  aller  Art. 

Im  Gegensatze  zu  der  Vorstellung  des  überirdischen  Ursprungs 
der  Seuchen  trat  die  hellenische  Heilkunde  der  Annahme,  dass  die 
epidemischen  Krankheiten  auf  natürlichen  Ursachen  beruhen,  schon 
um  einiges  näher.  Ungewöhnliche  Naturereignisse,  vulkanische  Aus- 
brüche, Ueberflutungen  oder  abnorme  Dünste  des  Luftkreises  werden 
als  seuchenerzeugend  betrachtet.  Hippokrates,  in  dessen  Schriften 
das  ünerklärbare  in  der  Krankheitsätiologie  in  dem  bekannten  Worte 
,,To  d-elov^^  zusammengefasst  erscheimt,  erklärt  andererseits  die  Ent- 
stehung der  Volkskrankheiten  durch  eine  Reihe  physikalischer  Faktoren, 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  739 

unter  denen  die  Luft,  der  Boden,  die  Jahreszeiten  und  besondere  klima- 
tische Verhältnisse  genannt  sind.  Die  im  Corpus  Hippokraticum 
niedergelegten  Lehren  von  den  Einflüssen  der  Witterung  im  allge- 
meinen, von  der  Jahreszeit,  der  Windrichtung,  der  Luftbeschaffenheit 
und  anderen  Ursachen  auf  die  Entwicklung  der  Krankheiten  sind 
mehr  der  Ausdruck  unbestimmter  ßückwirkungen  der  Atmosphäre  und 
ihres  wechselnden  Verhaltens  auf  die  jeweilig  herrschenden  oder  einem 
gewissen  Zeitabschnitte  angehörigen  Ki-ankheitsformen  überhaupt.  In 
diesem  Sinne  wurde  der  Begriff  der  Krankheitskonstitution  verstanden, 
von  Späteren  aber  willkürlich  ausgelegt  und  missdeutet.  Die  strengere 
Auffassung  der  Epidemien  als  Infektionskrankheiten  ist  in  den  hippo- 
kratischen  Schriften  wie  im  ganzen  Altertum  völlig  unklar;  bei  den 
griechischen  Autoren  finden  sich  nur  spärliche  und  schwankende  De- 
finitionen jener  Merkmale,  die  uns  ein  schärfer  umgrenztes  Bild  von 
dieser  oder  jener  Volksseuche  wieder  erkennen  lassen.  Galen s 
vielcitierter  Ausspruch:  „Wenn  eine  Krankheit  viele  Menschen  befällt, 
so  ist  sie  epidemisch;  wenn  sie  auch  viele  von  ihnen  tötet,  so  ist  es 
die  Pest"',  darf  als  Kardinalsatz  der  hellenischen  Krankheitslehre 
hingestellt  werden,  dessen  dominierende  Geltung  bis  in  die  neuere 
Zeit  sich  erhalten  hatte. 

Wie  bei  den  Griechen  und  Römern  die  Krankheiten  als  Störungen 
des  gesamten  Organismus  zusammengefasst  und  nur  in  geringem  Masse 
nach  den  einzelnen  charakteristischen  Symptomen  beschrieben  er- 
scheinen, so  dürftig  sind  die  Belege,  die  für  die  Kenntnis  oder  Nach- 
forschung der  ätiologischen  Momente  in  der  antiken  Heilkunde  Auf- 
schluss  geben.  Doch  fehlt  es  nicht  an  Beispielen,  die  bezeugen,  wie 
die  Voraussetzung  gemeinsamer  Ursachen  bei  Volkskrankheiten  den 
Beobachtern  sich  aufgedrängt  und  die  Begriffe  des  Kontagiums  und 
Miasma  ins  Leben  gerufen  hatte.  Die  in  der  Atmosphäre  und  ihren 
Verunreinigungen  gelegenen  Schädlichkeiten  spielen  in  der  Lehre  von 
dem  miasmatischen  Ursprünge  der  Seuchen  die  Hauptrolle,  die  Luft 
wird  zum  Bildungsherd  oder  Vermittler  der  krankmachenden  Agentien. 
Wie  Hippokrates,  so  führt  Galen  zum  Unterschied  von  den 
sporadischen  Krankheiten  die  Epidemien  auf  die  Einwirkung  der 
Atmosphäre  zurück;  beide  lehren,  dass  an  der  Entwicklung  der  epi- 
demischen Krankheiten  nicht  die  Diät,  sondern  die  Luft  als  Haupt- 
übel beteiligt  sei,  ja  Hippokrates  bezeichnet  im  allgemeinen  die 
mit  ungesunden  Unreinigkeiten  geschwängerte  Luft  (Miasma)  als  die 
Quelle  der  Seuchen.  Neben  den  Emanationen  stehender  Gewässer  und 
Sümpfe  wurden  Ueberschwemmungen ,  Verwesungsdünste  der  unbe- 
erdigten  Leichen  von  Menschen  und  Thieren  als  Brutstätten  von 
Epidemien  angesehen.  Die  gesundheitlichen  Gefahren  eines  verdorbenen 
Wassers,  die  hygienischen  Nachteile  eines  von  Fäulnisstoffen  impräg- 
nierten Bodens  und  der  Zusammenhang  dieser  Gebrechen  mit  der 
Entwicklung  und  Ausbreitung  von  Seuchen  in  volkreichen  Städten 
war  bei  den  Römern  dem  vollsten  Verständnis  begegnet  und  die 
grossartigen  Assanierungswerke,  die  sie  geschaffen,  erregen  noch  heute 
unser  Erstaunen. 

Begreiflicherweise  war  es  den  Aerzten  des  Altertums  schon  früh- 
zeitig klar  geworden,  welchen  mächtigen  Faktor  der  menschliche  Ver- 
kehr bei  Entstehung  und  Verschleppung  epidemischer  Krankheiten 
bildet.  Schon  D  i  o  d  o  r  erklärte  als  Hauptursache  der  attischen  Seuche 
die  Ueberfüllung  der  Stadt  Athen  mit  von  allen  Seiten  zusammen- 

47* 


740  Victor  Fossel. 

strömenden  Volksmassen  und  die  dadurch  bewirkte  Luftverderbnis. 
Thukydides  hingegen,  die  gleiche  Ansicht  teilend,  fügt  bei,  die 
Seuche  sei  von  vielen  auf  eine  Vergiftung  der  Brunnen  zurückgeführt 
worden.  Die  enge  Verbindung  von  Krieg  und  Pestilenz  war  den 
Griechen  eine  geläufige  Tatsache.  Auch  die  erhöhte  Gefahr  der  An- 
steckung für  jene  Personen,  die  zur  Zeit  einer  Seuche  mit  Kranken 
umgehen,  entging  nicht  dem  Blicke  der  Beobachter  und  die  Aus- 
dünstung der  Kranken  galt  für  den  hauptsächlichsten  Weg  der  In- 
fektion. Die  Anfänge  der  parasitären  Theorien  von  den  Infektions- 
krankheiten bei  den  Eömern  werden  an  späterer  Stelle  gestreift  werden. 

Während  des  ganzen  Mittelalters  kam  die  Seuchenlehre  nicht  über 
die  Grenze  hinaus,  die  in  den  Schriften  des  Altertums  vorgezeichnet 
gelegen  war.  Der  blinde  Autoritätsglaube  zog  der  Prüfung  und  Wür- 
digung von  Tatsachen  die  engsten  Schranken,  obgleich  kaum  eine 
Periode  der  Geschichte  von  so  zahlreichen,  mörderischen  und  oft  un- 
entwirrbaren Seuchenzügen  erfüllt  gewesen  war,  wie  gerade  dieses 
Zeitalter.  Nur  in  geringen  Abweichungen  von  den  galenischen  Dogmen 
traten  bei  den  arabischen  Aerzten  selbständige  Meinungen  hervor.  Mit 
den  weitgehendsten  Erklärungen  kommentierten  sie  die  Humoral- 
pathologie,  wie  sie  in  den  Werken  des  grossen  Arztes  von  Pergamos 
überliefert  worden  war,  die  Fäulnis  des  Blutes,  die  „verborgenen  Qua- 
litäten" beherrschten  mit  souveräner  Macht  die  ganze  Lehre  von  den 
epidemischen  Krankheiten.  Selbst  die  berühmt  gewordene  Trennung 
der  akuten  Exantheme,  die  Eh az es  (850 — 930)  den  Hauptformen  nach 
in  Pocken  und  Masern  unterschieden  hatte,  stützte  sich  in  der  Aetio- 
logie  auf  die  Verderbnis  der  Säfte,  er  schrieb  die  Variola  dem  Auf- 
brausen des  Menstrualblutes  während  des  kindlichen  Uterinlebens,  die 
Morbillen  den  Aenderungen  der  Galle  zu.  Wenn  Avicenna  (f  um 
1037)  die  bemerkenswerte  Ansicht  ausspricht,  es  nehmen  bei  anstecken- 
den Krankheiten  gewisse  von  Kranken  herrührende  Krankheitsprodukte 
den  Weg  in  das  Trinkwasser  oder  den  Boden  und  wenn  er  demnach 
in  letzteren  die  wichtigste  Quelle  der  Vervielfältigung  solcher  dele- 
tärer  Krankheitsstoffe  erblickt,  so  haben  wir  darin  vortreffliche  Ge- 
danken anzuerkennen,  deren  Verwertung  jedoch  gänzlich  unbeachtet 
gelassen  blieb. 

In  der  als  „Schwarzer  Tod"  benannten  Pestpandemie  des  14.  Jahr- 
hunderts trat  auf  dem  Boden  der  strengen  Gläubigkeit  und  gestützt 
von  dem  kirchlichen  Geiste,  der  alle  Naturerkenntnis  durchzog,  die  alte 
Vorstellung  von  der  himmlischen  Sendung  der  Seuche  und  dem  Straf- 
gerichte Gottes  über  die  sündige  Menschheit  mit  erneuerter  IJeber- 
zeugung  in  das  Bewusstsein  der  Völker.  Astralische  Einflüsse,  tellu- 
rische Umwälzungen  wurden  als  pestbringend  gefürchtet,  eine  im 
massenhaften  Absterben  des  Pflanzenwuchses  und  der  Tierwelt  sich 
kundgebende  allgemeine  Fäulnis  galt  nach  dem  Glauben  der  Aerzte 
und  Laien  als  sicherer  Vorbote  der  Pest.  Dabei  war  man  aber  eifrig 
bemüht,  die  Wege  der  Infektion,  die  offenkundig  allen  einleuchtete,  zu 
ergründen.  Nur  wenige  zweifelten  an  der  Ansteckung  von  Person  zu 
Person,  mochte  man  darunter  einen  giftigen  Pesthauch  verstehen  oder 
die  unmittelbare  Berührung  der  Kranken,  ihrer  Kleider  oder  Habselig- 
keiten als  Vermittler  obenan  stellen.  Wo  aber  in  so  vielen,  un erklär- 
baren Vorkommnissen  der  Faden  der  Krankheitsübertragung,  die  Ver- 
schleppung und  sprungweise  Verpflanzung  der  Seuche  nicht  verfolgt 
werden  konnte,  oder  wo  sich  deren  Ausbruch  scheinbar  an  ungewöhn- 


Geschichte  der  epidemischeu  Krankheiten.  741 

liehe  Naturereignisse,  abnorme  Wetterstände  u.  dgl.  angereiht  hatte, 
galt  es  für  ausgemacht,  es  müsse  eine  besondere  pestilentielle  Kon- 
stitution vorwalten,  die  allen  lebenden  Wesen  verderblich  sei  und  durch 
die  von  ihi*  ei-zeugte  Fäulnis  das  allgemeine  Erkranken  vorbereite 
und  bedinge.  Gleichzeitig  und  im  Zusammenhange  mit  dieser  Hypo- 
these kam  die  uralte  Yoi-stellung  von  der  autochthonen  Entstehung 
der  Pest  wieder  zu  Ansehen  und  Geltung,  um  bis  auf  unsere  Tage 
herab  von  Aerzten  und  Nichtärzten  verteidigt  zu  werden.  Schon  wäh- 
rend der  Herrschaft  des  Schwarzen  Todes  schieden  sich  die  Anhänger 
und  Gegner  der  direkten  Seuchenübertragung  durch  den  persönlichen 
Verkehr  in  die  beiden  Hauptlager  der  Kontagionisten  und  Antikon- 
tagionisten.  deren  Widerstreit  bis  zui'  jüngsten  Vergangenheit  die 
Seuchengeschichte  durchflochten  hat. 

Erst  das  16.  Jahrhundert  brachte  in  die  Auffassung  der  epidemi- 
schen Krankheiten  einigen  Fortschritt.  Die  schärfere  Beobachtung 
der  einzelnen  Formen  der  Seuchen,  die  man  bisher  unter  dem  Namen 
der  „Pest"  zusammengeworfen  hatte,  führte  wenigstens  zur  Erkenntnis, 
dass  es  Epidemien  von  verschiedenem  Charakter  gäbe,  dass  die  ihnen 
zu  Grunde  liegenden  Krankheitsformen  nach  Erscheinung,  Verlauf  und 
Bösartigkeit  nicht  überall  und  jedesmal  übereinstimmen.  Von  der 
eigentlichen  Bubonenpest  wurden  nach  dem  Vorbilde  Fracastoro's 
(1483 — 1553)  die  pestilentiellen  oder  malignen  Fieber  abgetrennt,  doch 
letztere  mehr  als  gi-aduelle  Abarten  und  nicht  immer  als  differente 
Krankheiten  an  sich  verstanden.  Von  der  Grundanschauung  aus- 
gehend, dass  sich  je  nach  den  örtlichen  oder  zeitlichen  Verhältnissen 
die  müdere  Form  in  die  schwerere  umzusetzen  vermag,  wurde  der 
Lehre  von  der  Transmutatio  morborum  Thür  und  Thor  geöffnet  und 
damit  bis  tief  in  das  19.  Jahrhundert  hinein  ein  verhängnisvoUer 
Fehler  in  der  Darstellung  der  Epidemien  fortgeschleppt.  Immerhin 
war  es  ein  kleiner  Gewinn,  dass  man  in  den  epidemiographischen  Ar- 
beiten jener  Zeit  begonnen  hatte,  den  Begleiterscheinungen  der 
Seuchen  erhöhtes  Augenmerk  zuzuwenden  und  den  Gelegenheits- 
ursachen ihrer  Verbreitung  einigermassen  nachzuforschen.  Elend,  Nah- 
rungsmangel, hygienische  Missstände  im  allgemeinen  werden  in  den 
Beschreibungen  der  damaligen  Epidemien  besser  gewürdigt,  die  be- 
.sonderen  accidentellen  Umstände  des  Ausbruches  und  der  Ausbreitung 
ansteckender  Krankheiten,  wie  Kriegszüge,  Lagerleben  bei  den  pest- 
artigen Fiebern  eingehender  berücksichtigt;  doch  war  es  mehr  ein 
theoretisches  Interesse,  das  man  dem  Gegenstand  entgegenbrachte, 
die  praktischen  Fragen  blieben  unerörtert,  es  fehlte  noch  an  Einsicht 
und  Verständnis. 

Während  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  blieb  die  Epi- 
demiologie in  ihren  Hauptzügen  unverändert  erhalten  und  nur  soweit, 
als  die  Krankheitslehre  an  sich  Aufschluss  über  das  Wesen  und 
die  Erscheinungen  der  Volksseuchen  zu  geben  im  stände  war.  fanden 
sich  die  Aerzte  auch  hierin  bereit,  neben  den  galenischen  Doktrinen 
von  der  Fäulnis  des  Blutes  den  chemiatrischen  Ideen  und  mechanischen 
Hypothesen  des  Zeitalters  willige  Gefolgschaft  zu  leisten. 

Einen  gewaltigen  Umschwung  erfuhr  die  Lehre  von  den  epide- 
mischen Krankheiten  durch  die  bahnbrechenden  Grundsätze,  die 
Sydenham  (1624 — 1689)  in  der  Seuchenlehre  mit  der  Ausbildung 
des  Begriifes  der  epidemischen  Konstitution  aufgestellt  hatte. 
Nach  ihm  sind  die  Epidemien  nicht  wie  andere,  wenn  auch  verbreitete 


742  Victor  Fossel. 

Krankheiten  bloss  von  der  Witterung  und  den  Jahreszeiten  abhängig- 
(C  0  n  s  t  i  t  u  t  i  0  a  n  n  u  a) ,  sondern  ausserdem  bedingt  durch  unbekannte 
tellurische  Ursachen,  oder  wie  er  sagt,  durch  „eine  verborgene,  uner- 
klärbare Aenderung  in  den  Eingeweiden  der  Erde  selbst"  (Consti- 
tutio  epidemica).  Die  epidemische  Konstitution,  gekennzeichnet 
durch  die  Herrschaft  einer  bestimmten  Volkskrankheit,  drückt  allen 
anderen,  auch  interkurrierenden  Krankheiten  ihren  eigenartigen 
Charakter  auf  und  wirkt  auf  sie  mit  so  dominierender  Macht,  dass 
selbst  gleichzeitig  vorhandene  epidemische  Krankheiten  einer  anderen 
Gattung  das  Gepräge  der  Hauptseuche  annehmen.  Die  Jahreszeiten 
üben  auf  die  epidemischen  Krankheiten  nur  insofern  Einfluss,  als  sie 
ihrer  Natur  nach  sich  als  Frühlings-  oder  Herbstkrankheiten  mani- 
festieren; die  Hauptseuche  tritt  immer  im  Herbst  hervor.  Jede  epi- 
demische Konstitution  ist  von  einem  ihr  eigentümlich  zukommenden 
Fieber  begleitet  (Febris  stationaria),  dessen  Typus  in  allen  zur 
Zeit  grassierenden  Krankheiten  zu  Tage  kommt,  also  zum  herrschenden 
Fieber  wird  und  dessen  Grundzüge  selbst  in  heterogenen  Krankheiten, 
die  ja  nur  als  Abarten  der  Hauptkrankheit  der  epidemischen  Kon- 
stitution erscheinen,  wiederkehren.  Unter  diesem  Gesichtspunkte 
werden  die  örtlichen  Aifektionen  gewisser  Krankheitsformen,  wie  bei- 
spielsweise Exantheme,  Bubonen,  dysenterische  Stuhlgänge  und  dergl. 
nur  als  Symptome  des  regierenden  Fiebers  aufgefasst  oder  als  kritische 
Ablagerungen  oder  Ausscheidungen  der  Materia  peccans  angesehen. 
Wenn  auch  die  einzelnen  epidemischen  Konstitutionen  an  sich  Varia- 
tionen darbieten,  zuweilen  ganz  anomal  verlaufen  oder  mit  einer 
zweiten  Konstitution  gemengt  auftreten  können,  so  herrscht  doch 
innerhalb  der  jeweiligen  Konstitution  in  allen  Krankheiten  eine  Kon- 
formität der  Fieber-  und  anderer  Erscheinungen,  die  in  ihrem  Ge- 
samtbilde zusammengehören  und  von  jenem  anderer  Konstitutionen 
wesentlich  differieren.  Epidemische  Konstitutionen  und  deren  Grund- 
krankheiten wiederholen  sich  in  bestimmter  Eeihenfolge,  sie  treten 
aber  auch  modifiziert  auf,  andere  hingegen  verschwinden  temporär 
oder  treten  für  immer  zurück,  indes  neue  Formen  entstehen  und  zur 
Ausbildung  gelangen  können, 

Sydenham,  der  mit  seinen  auf  hippokratischen  Prinzipien  be- 
ruhenden Grundanschauungen  in  der  Pathologie  und  Therapie  den 
Namen  eines  medizinischen  Eeformators  erworben  hat,  eröffnete  auch 
in  der  Epidemienlehre  eine  geschichtlich  bedeutsame  Epoche,  Sein 
Geist  durchwehte  das  ganze  18.  Jahrhundert  und  das  von  ihm  pro- 
klamierte Kausalverhältnis  von  Seuche  und  Krankheitskonstitution 
wurde  zum  Gemeingut  ärztlicher  Generationen.  Die  epidemiologischen 
Lehren  des  grossen  englischen  Arztes  mit  ihrer  mystischen  Krank- 
heitsätiologie  wurden  gläubig  aufgenommen  und  befriedigten  gerade, 
weil  sie  von  einem  Naturgeheimnis  ihren  Ausgang  ableiteten,  den 
geistigen  Geschmack  und  die  Weltanschauung  der  Zeitgenossen ;  dazu 
kam,  dass  Sydenham,  ohne  ein  System  zu  beabsichtigen,  eine  ab- 
geschlossene Erklärung  der  Ursachen  und  Wandlungen  der  Seuchen- 
species  an  die  Hand  gab,  deren  vermeintliche  Abhängigkeit  von 
höheren  Potenzen  sich  unschwer  in  die  medizinischen  Systeme  ein- 
fügen Hess,  die  während  des  17,  und  18,  Jahrhunderts  einander  abge- 
löst hatten. 

Aetiologische  Forschungen  lagen  der  Krankheitslehre  jener  Zeit 
im   allgemeinen  mehr  ferne;   die   Krankheitskonstitutionen    leisteten 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  743 

dem  Glauben  an  den  miasmatisclien  Ursprung  der  Epidemien  den 
denkbar  weitest  gehenden  Vorschub.  Dennoch  wäre  es  verfehlt,  an- 
zunehmen, als  hätten  sich  die  manifesten  Beweise  des  direkten  und 
indirekten  Kontagiums  der  Forschung  entzogen.  Keineswegs!  Es 
wird  sich  bei  Besprechung  der  historischen  Pathologie  der  einzelnen 
Seuchen  Gelegenheit  ergeben,  auf  die  klaren,  gesunden  Vorstellungen 
zurückzukommen,  die  in  den  JVIeinungen  damaliger  Aerzte  über  die 
Ansteckungsmodalitäten  und  -Gefahren  vieler  Volkskrankheiten  ihren 
beredten  Ausdruck  gefunden  haben.  Dem  von  Sydenham  ausge- 
sprochenen Gedanken,  dass  die  Körperflüssigkeiten  infolge  giftiger, 
kontagiöser  Agentien  infiziert  werden  können,  und  letztere  dann  spe- 
zifische, essentielle  Krankheitserscheinungen  hervorzurufen  im  stände 
sind,  lag  eine  geniale  Ahnung  unserer  heutigen  Anschauungen  zu 
Grunde.  Ebenso  drückt  sich  in  den  Ausführungen,  mit  denen  er  die 
Heilkraft  der  Chinarinde  rühmend  begleitet,  die  prophetische  Erkennt- 
nis spezifischer  Heilmittel  unverkennbar  aus.  Was  aber  am  Ausgange 
des  17.  und  im  Verlaufe  des  ganzen  18.  Jahrhunderts  der  Theorie  des 
Kontagiums  und  Miasmas  den  Eang  abläuft,  ist  die  von  Sydenham 
mit  neuen,  verführerischen  Argumenten  gestützte  Doktrin  der  Trans- 
mutatio  morborum,  die  einseitige  Auffassung  des  Fiebers  in  akuten 
Krankheiten,  in  denen  sich  Entzündung  und  Fieber  zur  Hauptsache 
erheben  und  endlich  die  von  vielen  Gelehrten  unternommene  aprio- 
ristische  Klassifizierung  der  Krankheiten  im  allgemeinen.  Mit  dem 
Bestreben,  pathologische  Prozesse  lediglich  nach  den  Gesichtspunkten 
der  Fieberlehre  in  willkürlich  abgegrenzte  Gruppen  und  Unterarten 
zu  verteilen,  verfiel  man  in  den  Fehler,  auch  für  die  Volksseuchen 
die  nähere  oder  entferntere  Verwandtschaft  dogmatisch  festzustellen 
und  sie  damit  ihrer  spezifischen  Eigentümlichkeit  oft  völlig  zu  ent- 
kleiden. Je  nach  dem  Standpunkte  der  nosologischen  Systeme  bezog 
man  die  Krankheitsursachen  auf  Fäulnis  und  Zersetzung,  auf  Ver- 
derbnis der  Lebensgeister  oder  auf  die  Umänderung  der  Kardinalsäfte. 
Die  ..Schärfen"  des  Blutes,  der  Galle  und  des  Schleimes  wurden  bald 
zur  Signatur  vieler  infektiöser  Krankheiten  und  mit  dem  neuen  Namen 
änderten  sich  nicht  selten  die  Begrifi'e  von  deren  Wesen  und  beson- 
derem Charakter.  Schon  allein  die  Tatsache,  die  Malaria  als  unterste 
Stufe  der  Fieber  anzusehen  und  aus  ihnen  die  schwereren  Species  der 
petechialen,  pestiformen  Krankheiten,  ja  selbst  die  Pest  hervorgehen 
zu  lassen,  schliesst  für  die  historische  Deutung  vieler  Epidemien  un- 
lösbare Schwierigkeiten  und  Rätsel  in  sich.  Zu  den  intermittierenden, 
remittierenden  Fiebern  traten  die  putriden,  malignen  und  pestilen- 
tiellen  Formen;  nunmehr  gesellten  sich  zu  ihnen  die  katarrhalischen, 
die  Schleim-  und  Gallenfieber,  die  wiederum  je  nach  der  Influenz  der 
regierenden  Krankheitskonstitution  noch  mit  dem  Beisatze  ihrer 
„faulichten'",  inflammatorischen,  biliösen,  gastrischen,  skorbutischen  u.  a. 
Eigenschaften  gekennzeichnet  sind.  Auf  der  anderen  Seite  suchte 
man  die  augenfälligsten  Symptome  in  der  Nomenklatur  der  Krank- 
heiten zu  versinnbildlichen  und  verschaffte  damit  beispielsweise  den 
erysipelatösen  Anginen,  den  mesenteriellen  und  intestinalen  Fiebern, 
der  Febris  lenta,  comatosa,  nervosa  einen  gesicherten  Platz  in  der 
Pathologie.  Als  Sauvages  (1706 — 1767)  in  der  zweiten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  den  Versuch  eines  Klassifikationssystems  unternahm 
und  die  akuten  Krankheiten  nur  nach  dem  Massstab  des  Fieberver- 
hältnisses bestimmen  wollte,  kam  in  die  Lehre  von  den  Seuchen  neue 


744  Victor  Fossel. 

Schwankung  und  Verwirrung,  die  noch  mehr  an  Umfang  sich  ver- 
grösserte,  nachdem  Cullen  (1712—1790),  Brown  (1715—1788)  und 
deren  Nachfolger  ihre  neuropathologischen  Ideen  in  der  Medizin  inau- 
guriert und  die  sthenischen  und  asthenischen  Fieber  als  Typen  der 
Infektionskrankheiten  hingestellt  hatten. 

Glücklicherweise  traten  vor  dem  Lichte,  das  über  die  Entwick- 
lung und  den  Aufschwung  der  Heilkunde  während  des  ganzen  18.  Jahr- 
hunderts ausgebreitet  gelegen  war,  die  Schwächen  und  Irrtümer,  die 
den  Systemen  und  Schuldoktrinen  angehaftet,  in  den  Hintergrund. 
Der  mächtige  Fortschritt,  den  die  gesamten  Disziplinen  des  medizi- 
nischen Wissensgebietes  erfuhren,  die  gründliche  Pflege,  die  den  theo- 
retischen wie  den  praktischen  Fächern  zuteil  geworden  war,  übte 
auch  auf  die  Lehre  von  den  epidemischen  Krankheiten  einen  heil- 
samen, reformatorischen  Einfluss.  Nach  allen  Eichtungen  speichern 
sich  neue  Kenntnisse  und  Erfahrungen  auf,  Resultate  von  bleibendem 
Wert  bereichern  den  Gesichtskreis  der  Aerzte  und  das  lebendige  In- 
teresse, das  während  des  ganzen  Säkulums,  in  Kriegs-  und  in  Friedens- 
zeiten an  die  grossen,  immer  wiederkehrenden  Seuchen  geknüpft  ist, 
wird  durch  den  regen  Austausch  der  Grundsätze  und  Meinungen  ge- 
fördert und  in  Fluss  gebracht.  Eine  an  Umfang  und  Inhalt  gleich 
anwachsende  Litteratur,  die  rüstige  Arbeit  gelehrter  Gesellschaften 
bemächtigt  sich  zahlreicher  Fragen,  die  auf  Gang,  Ausbreitung,  Ver- 
lauf und  Bekämpfung  der  Epidemien  Bezug  haben,  und  überliefert 
dort,  wo  die  Ergrüudung  der  Ursachen  und  Erscheinungen  vor  den 
Schranken  der  Erkenntnis  ihre  temporäre  Grenze  findet,  den  kommenden 
Generationen  wertvolle  Anhaltspunkte  zu  weiterer  Untersuchung.  Die 
Geschichtschreibung  muss  das  Zeitalter  der  Aufklärung  zu  den  frucht- 
barsten Perioden  der  Epidemiographie  zählen.  Die  innige  Verbindung 
von  Theorie  und  Praxis  hatte  trotz  aller  vorhin  angedeuteten  Fehler- 
quellen die  Mediziner  befähigt,  nächstliegende  Thatsachen  schärfer  zu 
beobachten,  besser  unterrichtet  an  die  Aufgaben  des  ärztlichen  Han- 
delns heranzutreten  und  meist  dann  erst  die  Zuflucht  zu  den  Systemen 
und  ihren  Dogmen  zu  ergreifen  oder  theoretischen  Spekulationen  nach- 
zuhängen, wenn  es  galt,  eigene  Erfahrungen  mit  dem  vollen  Gepränge 
der  Gelehrsamkeit  wirksam  ins  Treifen  zu  führen. 

Von  Sydenham  an  beginnend,  dem  seine  Landsleute  Willis 
(1622—1675),  Morton  (t  1698),  gleichzeitig  E a m a z z i n i  (1633—1714) 
in  Padua,  Dieme rbroeck  (1609 — 1674)  in  Utrecht  u.  a.  Männer 
würdig  zur  Seite  gestanden  waren,  hat  die  Epidemiologie  andauernd 
den  Weg  des  Fortschrittes  betreten.  Die  Schule  des  grossen  B  o  e  r  - 
haave  (1668 — 1738)  in  Leyden  und  die  im  Geiste  seines  Lehrers 
von  van  Swieten  (1700 — 1772)  begründete  Wiener  Schule  nahmen 
an  dem  Ausbau  der  Seuchenlehre  rührigen  Anteil.  Eine  kaum  über- 
sehbare Menge  epidemiographischer  Arbeiten  aus  allen  Ländern  be- 
zeugt selbt  an  minderwertigen  Produkten  den  Ernst  und  guten  Willen, 
den  die  damaligen  Aerzte  auf  das  Studium  und  die  Schilderung  der 
Epidemien  verwendet  haben.  Gediegene  Schriften  von  tiefem  Gehalt 
und  von  mehr  als  historischem  Interesse  stammen  aus  jener  Zeit  und 
es  möge  genügen  auf  die  vortreiflichen  Berichte  hinzudeuten,  die 
Lancisi  (1654—1720),  Huxham  (1694—1768),  Pringle  (1707 
—1782)  u.  a.  m.  veröffentlicht  haben.  Die  unaufhörlichen  Züge  der 
typhösen  Seuchen,  die  ungeschwächte  Herrschaft  der  Variola  und  der 
anderen  akuten  Exantheme,  die  Ausbreitung  der  Euhr,  die  schweren 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  745 

Ausbrüche  der  Pest  die  Yerwüstungen  der  Diphtherie,  kurzum  die 
herrschenden  Epidemien  aller  Art  beschäftigten  den  Geist  der  Zeit- 
genossen im  hohen  Masse.  Die  Versuche,  die  Störungen  des  Organis- 
mus an  der  Leiche  aufzudecken  und  die  Anfänge  der  pathologischen 
Anatomie  der  Erforschung  infektiöser  Prozesse  nutzbar  zu  machen, 
waren  freilich  unzureichend  und  haben  selbst  dort,  wo  sie  positive 
Aufschlüsse,  wie  beispielsweise  für  den  Abdominaltyphus  zu  ver- 
sprechen schienen,  nicht  die  gebührende  Beachtung  gefunden.  Weit 
aber  über  allen  Leistungen,  die  im  18.  Jahrhundert  das  Gebiet  der 
epidemischen  Krankheiten  umfassen,  steht  am  Ausgange  dieses  Säku- 
lums  die  grösste  und  segensreichste  Entdeckung  in  der  Medizin,  die 
Einführung  der  Yaccination  durch  W.  Jenner  (1749 — 1823). 

Die  Grundanschauuungen,  die  an  der  Wende  des  18.  Jahrhundert- 
über  die  Natur  und  Verbreitung  der  Volkskrankheiten  herrschend  ge- 
wesen wareo,  lassen  in  den  folgenden  Dezennien  nur  geringe  Abt 
weichung  und  Wandlung  verspüren.  Die  Heilkunde  jener  Zeit,  mit 
ihren  Unterströmungen  und  üebergängen,  obgleich  durch  wertvolle 
Ausgestaltung  einzelner  rein  theoretischer  wie  praktischer  Disziplinen 
ausgezeichnet,  umschliesst  für  die  Pathologie  im  engeren  Sinne  eine 
unergiebige  Periode.  Die  Krankheitslehre  war  zu  einem  wüsten  Ge- 
dränge einander  bekämpfender  Lehrmeinungen  und  theoretischer  Spe- 
kulationen geworden,  aus  welchem  nur  wenige  reelle  Forschungen 
hervorgegangen  sind.  Es  war  die  Zeit  der  Ausläufe  des  Brownianis- 
mus.  der  in  Rasori's  (1762 — 1837)  kontrastimulierender  Methode  und 
in  Röschlaubs  (1768 — 1835)  Erregungstheorie  neue  Formen  ge- 
funden und  grossen  Anhang  gewonnen  hatte ;  es  war  die  Zeit,  wo  der 
Vitalismus  der  Schule  von  Montpellier  die  ganze  Xaturanschauung 
von  dem  Leben  des  Organismus  auf  höchst  einseitigen  Voraussetzungen 
zu  konstruieren  suchte,  und  endlich  die  traurige  Zeit,  in  welcher  die 
Naturphilosophie  wie  ein  unheimlicher  Alp  auf  der  deutschen  Medizin 
gelastet  und  mit  ihren  abenteuerlichen  Ideen,  ihren  bizaren  Ana- 
logien und  Allegorien  ein  Menschenalter  hindurch  den  Geist  der 
Aerzte  auf  falschen  Wegen  herumgeführt  hat.  Man  mühte  sich  da- 
mals ab,  nach  äusserlichen  Merkmalen  oder  nach  scheinbar  zusammen- 
gehörigen Symptomen  Krankheitsbilder  und  Krankheiten  zu  dedu- 
zieren, ohne  sich  um  die  Aetiologie  zu  kümmern.  Die  sogenannten 
Ontologien,  wonach  die  Krankheiten  als  selbständige,  abgeschlossene, 
dem  Organismus  aufgepfropfte  Wesen  erklärt  wurden,  kamen  wieder 
in  Aufschwung  und  damit  neue,  willkürliche  Gruppierungen  auch  in 
die  Lehre  von  den  Infektionskrankheiten,  unter  denen  schon  die 
„essentiellen  Fieber"  genug  Verwirrung  angerichtet  hatten.  Es  liegt 
jedoch  unserer  Aufgabe  ferne,  hier  auf  die  Entwicklung  und  Läute- 
rung der  Krankheitslehre  während  des  19.  Jahrhunderts  einzugehen 
oder  die  Einflüsse  charakterisieren  zu  wollen,  die  die  Ausbildung 
der  pathologischen  Anatomie  im  Zusammenhange  mit  der  schärferen 
klinischen  Beobachtung  auf  die  Vervollkommnung  der  Forschungs- 
methoden und  damit  auf  die  Erweiterung  der  ältlichen  Kenntnisse 
genommen  hat. 

So  geringwertig  bis  zu  den  fünfziger  Jahren  die  epidemiologischen 
Fortschritte  im  allgemeinen  sich  ausnehmen,  weil  der  Glaube  an  die 
Allmacht  des  Genius  epidemicus,  an  die  autochthone  Entstehung  und 
Umwandlung  der  Seuchen  nur  wenig  an  Anhängern  eingebüsst  hatte, 
fallen  doch  in   diese  Periode  Arbeiten,  die  geschichtliche  Merksteine 


746  Victor  Fossel. 

für  alle  Zeiten  bilden.  Bretonneau's  (1771 — 1862)  Studien  über 
die  Diphtherie,  die  von  französischen  und  englischen  Aerzten  ge- 
lieferten Untersuchungen  über  die  Natur  und  Differenzierung  der 
typhösen  Krankheiten  waren  Leistungen,  die  freilich  nicht  so  bald  die 
allgemeine  Anerkennung  fanden,  aber  von  denen  aus  eine  strengere 
Auffassung  anderer  Infektionskrankheiten  in  genere  datierte  und  im 
Zusammenhalte  mit  den  Umwälzungen,  die  die  moderne  Medizin  vor- 
bereitet hatten,  zugleich  die  Grundlagen  der  heutigen  Epidemiologie 
geschaffen  haben.  Jahrzehntelang  beherrschten  noch  die  mit  doktri- 
närer Schulweisheit  interpretierten  Begriffe  des  Kontagiums  und 
Miasmas  den  ärztlichen  Gesichtskreis;  je  nachdem  die  direkte  In- 
fektion offen  zu  Tage  lag  oder  die  Ursache  einer  Epidemie  auf  un- 
definierbare, von  aussen  stammende  krankmachende  Einflüsse  zurück- 
geführt wurde,  unterschied  man  kontagiöse  und  miasmatische  Krank- 
heiten, liess  aber  dort,  wo  die  ätiologischen  Faktoren  sich  vorderhand 
als  unerforschlich  erwiesen,  Uebergänge  und  Verbindungen  der  beiden 
Kategorien  zu. 

Die  Speziflzität  der  ansteckenden  Krankheiten  wurde  jedoch  be- 
reits um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  erkannt  und  gewürdigt.  Ins- 
besondere ist  es  Henle  (1809 — 1885),  der  in  seinen  „Pathologischen 
Untersuchungen"  schon  im  Jahre  1840  mit  prophetischem  Blick  ver- 
kündet hat,  dass  kontagiöse  und  miasmatische  Krankheitsprozesse  aut 
der  Einwanderung  spezifisch  wirkender,  organischer  Krankheitskeime 
in  den  tierischen  und  menschlichen  Leib  beruhen,  eine  Lehre,  die 
jedoch  bei  den  Zeitgenossen  nur  wenig  Anklang  finden  sollte. 

Weit  grösseren  Beifall  errang  zur  Zeit  die  Vorstellung,  es  handle 
sich  bei  den  ansteckenden  Krankheiten  um  einen  der  Gärung  ana- 
logen Vorgang,  womit  zugleich  die  Frage  der  Eeproduktion  des 
Krankheitsstoffes  in  oder  ausser  dem  tierischen  Organismus  gewisser- 
massen  eine  befriedigende  Lösung  fand.  Und  doch  vermochten  die 
chemischen  Erklärungsversuche  nicht  über  die  Thatsache  hinweg  zu 
helfen,  dass  ursprünglich  gemeinsame  Ursachen  spezifischer  Natur  vor- 
handen sein  müssen,  um  die  gleichartigen,  charakteristischen  Krank- 
heitserscheinungen hervorzurufen,  und  somit  der  Schwerpunkt  der 
Forschung  auf  die  Erschliessung  der  ätiologischen  Faktoren,  der  spe- 
zifischen Ursachen  zu  richten  sei.  Einen  neuen  Abschnitt  in  der  Lehre 
von  den  Seuchen  eröffnete  Pettenkof er  (1819—1901)  mit  seinen  im 
Jahre  1854  begonnenen  Studien  über  die  Verbreitungs weise  der  Cholera, 
denen  er  in  der  nächsten  Folgezeit  seine  Forschungen  über  die  ört- 
liche und  zeitliche  Entwicklung  des  Abdominaltyplius  folgen  liess. 
Wenngleich  auch  Pettenkofers  sorgfältige  Beweisführungen  in 
erster  Linie  die  Abhängigkeit  der  beiden  Infektionskrankheiten  von 
bestimmten  Bodenverhältnissen  zum  Ziele  hatten  und  er  der  Annahme 
eines  zur  Verbeitung  der  genannten  Krankheiten  notwendigen,  beson- 
deren Krankheitskeimes  nur  einen  sekundären  Wert  beizulegen  bemüht 
war,  so  gebührt  ihm  doch  vor  allem  die  Anerkennung,  die  noch  in 
den  dreissiger  Jahren  in  voller  Blüte  gestandene  autochthonische  Lehre 
von  den  Volkskrankheiten  beseitigt  und  überhaupt  die  Wege  und 
Methoden  aufgeschlossen  zu  haben,  wie  Epidemien  zu  beobachten  und 
alle  in  Betracht  kommenden  Faktoren,  die  von  ihm  so  vielfach  be- 
tonten „epidemiologischen  Thatsachen"  in  die  Forschung  einzubeziehen 
seien. 

Die  Pathologie  der  letzten  Jahrzehnte,  auf  dem  Boden  exakter 


Geschichte  der  epidemischen  Kraukheiten.  747 

üntersuchungsmethoden  fortschreitend,  hat  durch  Entdeckung  und 
experimentelle  Xachweisung"  pathogener  Mikroorganismen  für  eine 
grössere  Zahl  von  epidemischen  Krankheiten  neue  Gesichtspunkte  er- 
öffnet. Sie  hat  mit  dem  Nachweise  spezifischer  Krankheitsursachen 
den  Begi'iff  der  Infektionskrankheit  vom  Grund  auf  festgelegt  und 
nach  allen  Eichtungen  wesentlich  erweitert.  Doch  wir  enthalten  uns, 
wo  im  Augenblick  noch  so  viele  Fragen,  die  die  Epidemiologie  be- 
rühren, ungelöst  der  Prüfung  und  Entscheidung  harren,  jeder  weiteren 
Besprechung  der  Bestrebungen  der  Gegenwart.  Indem  die  geschicht- 
liche Entwicklung  der  Lehre  von  den  belebten  Krankheitskeimen  in 
einem  besonderen  Abschnitte  des  vorliegenden  Werkes,  jenem  von  der 
Geschichte  der  Bakteriologie  bearbeitet  erscheint,  wollen  wir  hier  an- 
hangsweise nur  auf  die  wichtigsten  Merksteine  hinweisen,  um  an  ihnen 
die  langsam  fortschreitende  Erkenntnis  der  Krankheitserreger  organischer 
Natur  in  kurzem  Rückblick  darzulegen. 

Das  Contagium  vivum  s.  animatum  fand  schon  im  Alter- 
tum seine  Vertreter.  Die  im  1.  Jahrhundert  v.  Chr.  in  Eom  lebenden 
Schriftsteller  Varro  und  Columella  führten  die  schädlichen  Wir- 
kungen der  Sumpfluft  auf  kleinste,  in  den  Sümpfen  vorhandene,  un- 
sichtbare Tierchen  zurück,  die  durch  die  Luft  eingeatmet  im  mensch- 
lichen Körper  die  schwersten  Erkrankuugen  erzeugen  können.  Mehr 
als  ein  Jahrtausend  sollte  aber  vorübergehen,  bis  die  Idee,  es  liegen 
den  Volkskrankheiten  belebte  Keime  zu  Grunde,  wieder  zum  Ausdruck 
gelangte.  A.Kirch  er  behauptete  im  Jahre  1658,  dass  alle  faulenden 
Materien  von  einer  zahllosen  Brut  von  Würmern  wimmeln,  die  zwar 
dem  unbewaffneten  Auge  nicht  erkennbar,  aber  mit  dem  Mikroskope 
wahrnehmbar  seien,  wie  er  sich  selbst  von  der  Existenz  solcher  Tiere 
im  Blute  und  Buboneneit er  Pestkranker  überzeugt  habe.  Leeuwen- 
hoek  hat  im  Jahre  1675  mit  Hilfe  verbesserter  Mikroskope  die 
Aufgusstierchen  entdeckt  und  später  im  Speichel,  im  Zahnschleim  und 
Darminhalt  verschiedener  Tiere  minimale  Gebilde  nachgewiesen,  die 
sich  bewegten,  eine  stäbchenförmige,  fadenförmige,  rundliche  oder 
schraubenähnliche  Gestalt  besassen,  ohne  dass  deren  Entdecker  sich 
über  ihre  Bedeutung  Rechenschaft  geben  konnte.  Viele  Gelehrte  des 
damaligen  Zeitalters  griffen  mit  Lebhaftigkeit  diesen  Fund  auf,  Lan- 
cisi  kam  auf  Varros  Vorstellung  von  den  Sumpftierchen  zurück, 
Vallisnieri,  Goiffon  und  Lebecq  nahmen  im  Laufe  der  ersten 
Dezennien  des  18.  Jahrhunderts  an,  dass  die  Pest,  die  1720 — 1722 
in  der  Provence  geherrscht,  aus  unsichtbaren  Würmchen  ihren  Anfang 
genommen  habe.  Während  Linne  (1707—1778)  mit  allzu  lebhafter 
Phantasie  den  verschiedenartigsten  Krankheiten  organisierte  Keime 
unterschieben  wollte,  sprach  1762  der  Wiener  Arzt  Plencicz  die 
Ueberzeugung  aus,  es  liege  im  Contagium  ein  „principium  quoddam 
seminale  verminosum"  vor,  wie  auch  die  Bildung  von  Gährung  und 
Fäulnis  auf  der  Anwesenheit  solcher  Animalcula,  deren  Eier  und  Ex- 
cremente  beruhe.  Doch  bald  verlor  die  Lehre  von  den  belebten 
Krankheitserregern  den  Boden,  sie  fiel  dem  Spotte  der  Aei7:te  anheim 
und  blieb  als  eine  angeblich  wunderliche  Hypothese  lange  hindurch 
unbeachtet  und  vergessen. 

Ei-st  vom  4.  Dezennium  des  19.  Jahrhunderts  an,  als  Ehren berg 
im  Jahre  1838  von  neuem  die  Infusionstierchen  demonstriert  und 
weiterhin  die  Gärungstheorie  Schwanns  (1810 — 1882)  die  allgemeine 
Anerkennung  gefunden  hatte,  drängte  sich  wieder  der  Gedanke  vor 


748  Victor  Fossel. 

dass  analog  der  Gärung  auch  Krankheiten  durch  kleinste  Lebewesen 
erzeugt  werden.  Diese  Annahme  erhielt  noch  kräftigere  Unterlage, 
als  Bassi  1837  den  Beweis  erbrachte,  dass  die  unter  dem  Namen 
Muscardine  bekannte  Erkrankung  der  Seidenraupen  durch  einen  Pilz 
verursacht  werde,  als  Schönlein  (1793 — 1864)  den  nach  ihm  be- 
nannten Favuspilz  gefunden,  Stannius  1835  die  Krätzmilbe  wieder 
entdeckt  hatte  und  andere  Parasiten  als  Ursachen  bestimmter  All- 
gemein- und  Lokalleiden  erkannt  worden  waren.  Henle  ist,  wie 
schon  angedeutet,  im  Jahre  1840  mit  bewundernswertem  Scharfsinn 
dafür  eingetreten,  dass  das  Kontagium  ansteckender  Krankheiten 
pflanzlicher  oder  tierischer  Natur  sein  müsse,  dass  aber  erst  dann  an 
einen  kausalen  Zusammenhang  solcher  Gebilde  mit  den  kontagiösen 
Krankheiten  zu  denken  sei,  wenn  es  gelänge,  diese  Organismen  kon- 
stant nachzuweisen,  zu  isolieren  und  auf  ihre  spezifische  Wirkung  zu 
prüfen. 

Von  nun  an  entfaltete  sich  ein  rühriges  Bestreben  in  der  Er- 
forschung niederster  Organismen,  von  welchen  man  pathogene  Eigen- 
schaften abzuleiten  suchte.  Wie  gross  war  doch  die  Eeihe  der  Ex- 
perimente im  Zeiträume  1840 — 1870,  die  auf  die  Auffindung  von 
Cholerakeimen  gerichtet  waren!  Wenngleich  diese  Bemühungen  vor- 
läufig erfolglos  blieben,  so  hatte  die  „Pathologia  animata"  immerhin  auf 
dem  Gebiete  anderer  Infektionskrankheiten  positive  Resultate  aufzu- 
weisen. Pollenderund  Brau  eil  lieferten  (1849)  den  Nachweis  der 
charakteristischen  Milzbrandstäbchen,  während  Davaine  (1850)  durch 
seine  Impfversuche  mit  milzbrandhaltigem  Blute  klarlegte,  dass  diese 
Stäbchen  die  Träger  des  Milzbrandvirus  seien.  Von  grosser  Trag- 
weite auf  die  Förderung  ähnlicher  Untersuchungen  waren  Paste urs 
(1822 — 1895)  epochemachende  Studien  über  die  spezifischen  En^eger 
der  verschiedenen  Gärungen.  Pasteur  hat  ausserdem  sich  hohe  Ver- 
dienste um  die  Erkenntnis  der  Infektionskrankheiten  erworben,  indem 
er  für  das  Milzbrand  virus  im  Jahre  1877  mittels  Fortzüchtung  der  Rein- 
culturen  deren  pathogene  Constanz  festgestellt  und  auf  diesem  Wege 
eine  Reihe  von  Mikroben  in  der  Pathologie  als  Krankheitserreger  ein- 
wandfrei dargelegt,  späterhin  bekanntlich  an  den  grossen  Fragen  der 
Abschwächung  der  Virulenz,  der  Immunisierung  und  der  Schutzimpfung 
hervorragenden  Anteil  genommen  hatte.  Aus  der  von  dem  berühmten 
französischen  Forscher  entwickelten  Keimtheorie  zunächst  schöpfte 
L  i  s  t  e  r  1867  die  fruchtbare  Idee,  die  Entstehung  der  Wundkrankheiten 
in  dem  Zutritt  äusserer,  krankmachender  Keime  zu  suchen  und  darauf 
seine  geniale  Wundbehandlungsmethode  aufzubauen.  Die  von  Botanikern, 
wie  Hallier,  Cohn,  Naegeli  u.  a.  in  Angriff  genommene  Be- 
arbeitung der  Natur  der  Formen,  Eigenschaften  und  Unterschiede  der 
pflanzlichen  Mikrooganismen,  die  daraus  gezogenen  medizinischen  Kon- 
sequenzen, die  grundlegenden  Aufklärungen,  welche  die  Aetiologie  der 
Infektionskrankheiten  in  eine  ganz  geänderte  Beleuchtung  rückten, 
lassen  sich  hier  nicht  einmal  andeutungsweise  wiedergeben. 

Es  bedurfte  zahlreicher,  mühevoller  Versuche,  verbesserter  und  in 
den  optischen  Mitteln  vervollständigter  Prüfungsmethoden,  um  die 
Bakteriologie  zu  jener  Stufe  zu  erheben,  die  sie  unter  den  medizinischen 
Hilfswissenschaften  heute  einnimmt.  Wie  begreiflich,  fehlte  es  nicht 
an  Missgrilfen,  an  negativen  Resultaten  und  unüberwindlich  scheinen- 
den Schwierigkeiten,  die  vorerst  aus  dem  Weg  zu  räumen  waren. 
Welchen  Aufwand  an  kritischer  Ueberlegung  zog  nicht  die  Ergründung 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  749 

der  EiTeger  der  accidentellen  Wundkrankheiten  nach  sich,  wie  schwer 
fiel  es,  die  pathogenen  Bakterien  von  anderen,  unschädlichen  Arten 
auszuscheiden,  die  infizierende  Wirkung  bestimmter  Miki'oorganismen 
an  und  für  sich  von  dem  durch  ihre  Einwanderung  im  Organismus 
hervorgerufenen  Intoxikationsprozesse  zu  trennen?  Im  raschen  Schritte 
jedoch  folgten  die  positiven  Ergebnisse  in  der  Mikrobiologie.  An 
die  Entdeckung  der  Rekurrensspirillen  durch  Obermeyer  im  Jahre 
1873  reihten  sich  die  wichtigen  Aufschlüsse,  welche  Koch  im  Jahre 
1876  über  den  Milzbrandbazillus  und  dessen  genetischen  Zusammenhang 
mit  dieser  Krankheit  publizierte.  Diese  sowie  die  zwei  Jahre  später 
von  demselben  Forscher  gelieferten  „Untersuchungen  über  die  Aetiologie 
der  Wundinfektionskrankheiten"  erwiesen  sich  als  fundamentale  Leis- 
tungen, nicht  nur  bewundernswert  wegen  ihres  wissenschaftlichen 
Wertes,  sondern  zugleich  bahnbrechend  durch  die  Einführung  des  Tier- 
versuches, exakter  Kultur-  und  Untersuchungsmethoden  und  mikro- 
skopischer wie  technischer  Neuerungen.  Mit  Benutzung  dei-selben 
gelang  es,  für  eine  Eeihe  von  Infektionskrankheiten  die  pathogenen 
Mikroorganismen  aufzudecken.  So  hat  Xeisser  (1879)  bei  der  viru- 
lenten Gonnorrhoe,  Laveran  bei  der  Malaria,  Hansen  bei  der  Lepra, 
Eberth  und  Gaff ky  beim  Typhoid  (1880;84),  Schütz  und  Löff  1er 
beim  Rotz  (1882),  Koch  bei  der  Tuberkulose  (1882)  und  der  Cholera 
(1883),  Löff  1er  bei  der  Diphtherie  (1884),  Frank el  bei  der  in- 
fektiösen Pneumonie  (1886),  Pfeiffer  bei  der  Influenza  (1892),  Kita - 
sato  und  Ter  sin  bei  der  Bubonenpest  (1896),  Weichselbaumund 
J  a  e  g  e  r  (1899)  bei ,  der  epidemischen  Genickstarre  die  spezifischen 
Krankheitskeime  entdeckt  und  beschrieben. 

Die  Fortschritte  der  Bakteriologie  haben  unsere  Kenntnis  von 
den  Infektionskrankheiten  vollständig  umgestaltet,  die  Wege  der  Ver- 
breitung der  Epidemien  zum  grossen  Teil  unserem  Vei-ständnis  näher 
gebracht  und  die  Prophylaxe  und  Bekämpfung  der  Yolkskrankheiten 
auf  neue,  zweckmässige  und  gesicherte  Prinzipien  gestellt.  Die  von 
Koch  und  Pasteur  geschafienen  Grundlagen,  die  zahlreichen  Ar- 
beiten, die  aus  den  Schulen  der  beiden  Meister  hervorgegangen  sind, 
haben  auch  für  die  Therapie  der  Infektionskrankheiten  unermesslichen 
Gewinn  und  Vorteil  abgeworfen.  Mit  der  Vervollkommnung  der  Im- 
munisierungsverfahrens, der  Durchbildung  der  gegen  einzelne  Krank- 
heiten erfolgreich  angewendeten  Schutzimpfungen  und  mit  den  durch- 
schlagenden Resultaten  der  Serumtherapie  wurde  eine  neue  Epoche 
der  Heilkunst  erschlossen  und  schon  heute  darf  mit  Stolz  gesagt  werden: 
ihre  Leistungen  haben  der  Menschheit  den  grössten  Segen  gebracht. 


I.  Beulenpest. 
Litteratur. 

MercHrialis,  De  peste,  1577.  —  Kircher,  Scrutinium  j^estts.  1671.  — 
Sorbfiit,  Consilium  .  . .  de  peste,  1079.  —  l>i€merbroeck.  De  peste  libri  IV, 
1685.  —  LebenwalfU,  Arzneybuch,  1695.  —  3Iiiratorif  Del  govemo  della  peste, 
1714.  —  Werloschnig  et  Zoick,  Histm-ia  pestis  .  .  .  1708—1713,  1715.  — 
Crruner,  Morborum  antiquitates,  1774.  —  Rüssel,  Abhandlung  von  d.  Pest,  1792. 
—  Chenot,  Hinterlassene  Schriften  üb.  d.  Anstalten  bei  d.  Pest,  1798.  —  Schraud, 
Gesch.  (I.  Pest  in  Sirmien  in  d.  Jahren  1795196,  1801.  —  Uesgeneties,  Histoire 
medicale  de  Varmie  d'orient,  1802.  —  Wolmar,  Abhandig.  üb.  d.  Pest,  1827.  — 
iMrinser,  Die  Pest  des  Orients,  1837.  —  Czetyrhin,  Die  Pest  in  d.  niss.  Armee 


750  Victor  Fossel. 

im  J.  M28,  1837.  —  Bonlard,  Ueb.  d.  Orient.  Pest,  1840.  ~~  Gi'ohvmnn,  Das 
Pestcontagium  in  Aegypten,  1844.  —  Brauner,  Die  Krankheiten  den  Orients,  1847. 
—  Landsbergy  Ueb.  d.  in  Attika  z.  Zeit  d.  pelopon.  Krieges  herrschd.  Pest,  Janus 
N.  F.  Bd.  II,  1853.  ■ —  Müller,  Ibmilkhatibs  Bericht  über  die  Pest.  Sitzb.  d.  k. 
Akad.  zu  München,  1863.  —  Hecker,  Die  grossen  Volkskrankheiten  des  Mittel- 
alters, herausg.  v.  A.  Hirsch,  1865.  —  Tholozan,  Histoire  de  la  jjeste  b^ibonique 
en  Mesopotamie,  Campt,  rend.  78,  8,  1874.  —  Idefn,  Histoire  chronolog.  et  geogr. 
de  la  peste  au  Caucase,  en  Armenie  et  dans  VAnatolie  dans  la  j^remiere  moiie  du 
19  siede,  Gaz.  med.  de  Paris  1875,  No.  32 — 37.  —  Idem,  La  peste  en  1876,  Campt, 
rend.  82,  1876,  la  peste  en  1877,  ebenda  85,  1877.  —  Ident,  Les  trois  dernieres 
epidemies  de  peste  du  Caucase,  Compt.  rend.  89,  1879.  —  Idem,  La  peste  dans  les 
temps  modernes,  Compt.  rend.  90,  1880.  —  Idem,  Carte  des  localisations  de  la 
peste  en  Perse,  en  liussie  et  en  Turquie  de  1856  ä  1886,  Bull,  de  VAcad.  de  med. 
No.  37,  1887.  —  Idem,  Invasions  .  .  .  de  la  peste  .  .  .  depuis  1835,  Compt.  rend. 
105,  1887.  —  Peinlich,  Gesch.  d.  Pest  in  Steiermark,  1877178.  —  deutsch, 
Wien.  med.  Bl.  No.  11  u.  12,  1879.  —  Adler,  Die  Pest  in  Bagdad,  Allg.  m.  Zeitg., 
1877  und  1879.  — •  Kremer,  lieber  die  grossen  Seuchen  des  Orients  .  .  .  nach  arab. 
Quellen,  Sitzb.  d.  Wien.  Akad.  d.  Wissensch.  math.-naturw.  Kl.  Bd.  96,  1880.  — 
Höninger^  Der  schtvarze  Tod  in  Deutschland,  1881.  —  Lechner,  Das  grosse 
Sterben  in  Deutschld.  in  d.  Jahren  1348—1351,  1884.  —  Lammert,  Geschichte  d. 
Seuchen  .  .  .  zur  Zeit  des  30jährg.  Krieges,  1890.  —  Di^asche,  Die  neueste  Pest- 
ära, Wien.  m.  W.  No.  11  u.  16,  1887.  —  Mittheilunqen  d.  deutsch.  Pestcommission, 
D.  m.  W.  No.  17—32,  1897.  —  Wilm,  Ueb.  d.  Pestepidemie  in  Hongkong  i.  J.  1896, 
Hyg.  Bundsch.  No.  5  u.  6,  1897.  —  Koch,  Ueb.  d.  Verbreitg.  d.  Bubonenpest,  D. 
m.  W.  No.  28,  1898.  —  Albrecht  und  Ghon,  Ueb.  die  Beulenpest  in  Bombay 
i.  J.  1897,  Denksch.  d.  k.  Akad.  d.  Wissensch.,  Wien  1898.  —  Hankin,  Annal.  de 
VInst.  Pasteur,  No.  11,  1898.  —  Kobert,  Ueb.  d.  Pest  des  Thukydides,  Janus  IV, 
1898.  —  Stekoidis,  Janus  IV,  1897,  III,  1898,  IV,  1898.  —  Simond,  La  jn-o- 
pagation  de  la  peste,  Annal.  de  VInst.  Pasteur  No.  10,  1898.  —  Ebstein,  Die  Pest 
des  Thukydides,  1899.  —  Netter,  La  peste  pendant  les  dernieres  annees,  1899.  — • 
Bericht  üb.  d.  Thätigk.  d.  zur  Erforschg.  d.  Pest  1897  nach  Indien  entsandten  Cam- 
mission, Arb.  a.  d.  k.  Gesundheitsamte,  Bd.  16,  1899.  —  Zupitza,  Die  Ergebnisse 
der  Pest-Expedition  nach  Kisiba,  Zeitsch.  f.  Hyg.  Bd.  32,  1899.  —  Scheube,  Die 
Krankheiten  der  warm.  Länder,  IL  Aufl.  1900.  —  Ebstein,  Janus  VII,  Heft  1 
und  3,  1902.  —  Veröffentlichungen  des  kais.  Gesundheitsamtes.  —  Das  Oesterr. 
Sanitätswesen. 

In  den  Ueberlieferungen  der  Völker  des  Altertums  wird  vieler 
Seuchen  Erwähnung-  gethan,  mit  denen  die  erzürnte  Gottheit  das 
Menschengeschlecht  heimgesucht.  Düstere  Naturereignisse  gingen  meist 
den  Ausbrüchen  der  Epidemien  voraus  und  häufig  kündigten,  wie  nach- 
träglich gemeldet  wird,  Misswachs,  Verderbnis  alles  pflanzlichen  Lebens, 
Erkrankung  und  Tod  der  Tierwelt  an,  dass  dem  Volke  das  Verhängnis 
eines  allgemeinen  Sterbens  bevorstand.  Die  mosaischen  Bücher,  die 
hellenischen  und  römischen  Autoren  erzählen  von  Seuchen,  die  in  vor- 
historischer Zeit  plötzlich  über  friedliche  Völkerschaften  oder  kampf- 
bereite Heere  hereingebrochen  und  von  entsetzlichen  Verwüstungen 
unter  allen  Lebenden  begleitet  gewesen  seien.  Worin  aber  die  Krank- 
heit bestand,  unter  welchen  Formen  Tausende  von  Menschenleben  er- 
griffen und  vernichtet  worden  sind,  darüber  ist  nur  spärliche  und  un- 
klare Kunde  auf  uns  gekommen.  Mj'^thus  und  Dichtung  verschleiern 
das  Bild  bis  zur  vollständigen  Unkenntlichkeit  und  wo  selbst  an  der 
Thatsache  weitverbreiteter  Epidemien  kaum  gezweifelt  werden  kann, 
vermag  die  Geschichtschreibung  nicht  zu  enträtseln,  wie  ihre  Er- 
scheinungen zu  deuten,  unter  welchen  pathologischen  Prozesen  sie  nach 
unserer  heutigen  Erkenntnis  zusammenzufassen  sind.  Sie  alle  werden 
in  den  Schriften  des  Altertums  und  bis  über  das  Mittelalter  hinaus 
kurzweg  als  „Seuche"  aufgezählt  oder  unter  dem  Namen  der  Pest 
{loif.tbg,  koif.tiüörjg  vöoog,  pestiS;  pestilentia)  genannt,  ohne  dass  es  der 
historischen  Forschung  bisher  gelungen  wäre,  aus  diesem  Kollektiv- 


Geschichte  der  epidemischen  Ejankheiten.  751 

begriffe  auch  niu'  annähernd  die  hauptsächlichsten  Merkmale  und 
unterschiede  der  einzelnen  Krankheitsspecies  festzustellen.  Selbst  die 
Schriften  der  Hippokratiker  geben  hierüber  keinen  Aufschluss;  die 
wenigen  Stellen,  die  von  „Bubonen  in  schweren,  fieberhaften  Ki-ank- 
heiten"  handeln,  werden  von  namhaften  Historikern  als  zu  ungenügend 
erkannt,  um  daraus  den  Schluss  auf  die  Schilderung  der  Beulenpest 
zu  gestatten.  Ebensowenig  verwertbar  erscheinen  —  wie  schon  hier 
bemerkt  werden  mag  —  die  bei  Aretäus  und  Galen  vorfindlichen 
und  an  Hippokrates  sich  anschliessenden  Bemerkungen  über  die 
Pest,  während  Rufus  mit  grösserer  Bestimmtheit  die  wesentlichsten 
Symptome  der  Bubonenpest  als  charakteristisch  hervorhebt  und  ihres 
epidemischen  Vorkommens  in  Lybien,  Aegypten  und  Syrien  gedenkt. 

Die  grosse  Schwierigkeit  in  der  Auslegung  verheerender  Volks- 
seuchen tritt  uns  sogleich  entgegen,  wenn  wir  uns  der  grossen  atti- 
schen Seuche,  der  als  Pest  des  Thukydides  berühmt  ge- 
wordenen Epidemie  zuwenden ,  die  im  Zeiträume  430 — 425  v.  Chr. 
während  des  peloponnesischen  Krieges  in  Athen  und  Attika  gewütet 
hat.  Nach  der  klassischen  Schilderung,  die  uns  Thukydides  hinter- 
lassen hat,  der  Augenzeuge  der  Epidemie  gewesen  und  von  ihr  er- 
griffen worden  war,  brach  die  Seuche  in  der  von  flüchtendem  Land- 
volke überfüllten  Stadt  plötzlich  aus,  nachdem  sie  im  Piräus,  der 
Hafenstadt  Athens,  ihren  Anfang  genommen  hatte.  Dass  sie  aus  einem 
anderen  Lande  eingeschleppt  worden  sei,  ist  um  so  naheliegender  an- 
zunehmen, da  Thukydides  berichtet,  die  Seuche  habe  sich  vordem 
in  Aegypten  und  einem  grossen  Teil  von  Vorderasien  verbreitet.  In 
zwei  aufeinander  folgenden  Jahren  überfiel  sie  die  Bevölkerung  Athens, 
jedesmal  von  Massenerkrankungen  und  exorbitanter  Sterblichkeit  ge- 
folgt und  kehrte  nach  1^.,  jähriger  Pause  zum  dritten  Male  zurück. 
Etwa  ein  Drittel  der  Bewohner  der  Stadt  war  ihr  erlegen.  Unver- 
mutet erfasste  die  Krankheit  die  Leute,  eine  brennende  Hitze  des 
Kopfes,  Entzündung  der  Augen,  blutrote  Verfärbung  des  Schlundes 
und  übelriechender  Atem  waren  durchwegs  die  ersten  Erscheinungen. 
Alsbald  gesellte  sich  Heiserkeit,  Husten,  Singultus  und  galliges  Er- 
brechen hinzu,  es  folgte  massige  Rötung  und  livide  Färbung  der  Haut, 
die  sich  „mit  kleinen  Bläschen  und  Schwären"  bedeckte.  Am  uner- 
träglichsten wurde  den  Kranken  die  innere  Hitze,  so  dass  sich  viele 
derselben,  um  die  Qualen  des  Dui-stes  zu  löschen,  in  die  Cisternen 
stürzten.  Der  Tod  trat  meist  infolge  der  inneren  Hitze  am  7.  oder 
9.  Tage  ein,  diejenigen  aber,  welche  diese  Frist  überdauerten,  ver- 
fielen der  Schwäche,  indem  sich  Verschwärungen  des  Unterleibes  und 
Durchfall  einstellten.  Hatten  die  Kranken  auch  dieses  Stadium  über- 
wunden, so  wurden  die  Schamteile,  die  Spitzen  der  Hände  und  Füsse 
von  der  Krankheit  ergriffen,  viele  von  ihnen  kamen,  dieser  Teile  be- 
raubt, davon,  andere  aber  trugen  den  Verlust  der  Augen,  wieder 
andere  eine  vollständige  Einbusse  des  Gedächtnisses  davon.  Jede  der 
üblichen  Krankheiten  ging  in  die  Seuche  über,  der  alle  erlagen,  die 
mit  den  Infizierten  verkehrt  hatten.  Wer  die  Krankheit  einmal 
überstanden,  blieb  wenigstens  vor  den  todbringenden  Folgen  einer 
zweiten  Erkrankung  verschont. 

Die  Natur  der  von  Thukydides  geschilderten  Seuche,  deren 
Hauptmerkmale  hier  nur  in  wenigen  Schlagworten  wiedergegeben 
werden  konnten,  ist  seit  langem  das  vielumstrittene  Objekt  der  histo- 
risch-pathologischen Forschung,  an  der  sich  Aerzte  ebenso  lebhaft  Avie 


752  Victor  Fossel. 

Philologen  beteiligt  haben.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  die  für 
lind  wider  die  Bestimmung  der  Krankheit  erbrachten  Argumente 
näher  einzugehen.  Die  Litteratur,  die  die  Behandlung  der  Frage  ge- 
zeitigt hat,  ist  heute  schon  eine  reichhaltige,  ohne  eine  befriedigende 
Lösung  herbeigeführt  zu  haben.  Während  einzelne  Schriftsteller  die 
attische  Seuche  als  Beulenpest  ansprechen  wollen,  vermissen  die  Gegner 
dieser  Anschauung  in  der  thukydideischen  Zeichnung  die  charakte- 
ristischen Symptome  der  Bubonenpest,  mit  welcher  auch  überdies  der 
Verlauf,  der  Eintritt  des  lethalen  Endes,  die  Nachkrankheiten  und 
andere  Momente  nicht  übereinstimmen.  Mit  einer  gewissen  Berech- 
tigung haben  Forscher  wie  Willan,  Krause,  Littre  u.a.m.  aus 
dem  Vorhandensein  des  Exanthems  auf  Blattern  geschlossen,  während 
z.  B.  Daremberg  eine  mit  schwerem  Typhus  komplizierte  Pocken- 
epidemie annimmt.  Die  einen  suchten  die  Krankheit  als  Gelbfieber, 
epidemische  Genickstarre,  Scharlach  oder  Influenza  zu  interpretieren; 
andere  hingegen  —  und  zwar  in  grosser  Zahl  —  bemühten  sich  mit 
einem  nicht  zu  verkennenden  Aufwände  von  Scharfsinn  und  Gewandt- 
heit aus  dem  Gesamtbilde  der  Krankheit  den  Nachweis  zu  liefern, 
dass  es  sich  um  keine  andere  Infektionskrankheit,  als  um  den  Typhus 
exanthematicus  gehandelt  haben  könne.  Heck  er  erklärt  sie  für 
eine  „untergegangene"  Typhusform,  Häser  als  typhusartiges  Uebel, 
Hirsch  dagegen  für  ein  Gemisch  verschiedenartiger  Krankheiten, 
unter  denen  die  Anteilnahme  der  Pest  möglich  gewesen,  aber  nicht 
bewiesen  sei.  Kobert  hat  die  geistvolle  und  vielfach  bestrickende 
Hypothehe  aufgestellt,  dass  die  Pest  des  Thukydides  eine  Epidemie 
von  Pocken  bei  einer  an  latentem  Ergotismus  leidenden  Bevölkerung 
gewesen  sei.  Ob  und  inwieweit  diese  oder  eine  der  vorerwähnten 
Deutungen  der  Wahrheit  nahekommt,  ist  heute  noch  eine  unlösbare 
Frage.  Schon  aus  der  Verschiedenartigkeit  der  unternommenen  Er- 
klärungsversuche, aus  dem  weiten  Spielräume  der  aufgestellten  Mei- 
nungen und  Kommentare  allein  erhellt  die  Schwierigkeit  des  Nach- 
weises der  Natur  dieser  Seuche,  deren  Bestimmung  gleichwie  bei 
anderen  Epidemien  der  Vergangenheit,  wie  jüngst  Ebstein  zuge- 
standen, an  der  Unzulänglichkeit  der  auf  uns  gekommenen  Nach- 
richten, wie  an  den  Grenzen  unseres  eigenen  Erkenntnisvermögens 
ihre  Schranke  findet. 

Die  unter  den  grossen  Seuchen  der  folgenden  Zeit  hervorragende 
Pest  des  Anton  in  (165 — 189  n.  Chr.),  welcher  Galen  als  Augen- 
zeuge mehrfach  in  seinen  Schriften  gedenkt,  jedoch  darüber  nur  un- 
zusammenhängende Bemerkungen  hinterlassen  hat,  kann  keineswegs 
strikte  zu  den  Epidemien  der  Beulenpest  gezählt  werden.  Aus  den 
asiatischen  Provinzen  durch  die  Heere  nach  Rom  und  ganz  Europa 
verschleppt,  hat  die  Seuche  in  furchtbarer  Weise  an  der  Entvölkerung 
des  römischen  Reiches  mitgewirkt.  Ihre  mörderische  Kontagiosität 
wird  von  den  Zeitgenossen  einstimmig  bestätigt,  ja  Galen  ist  ge- 
neigt, diese  Epidemie  der  attischen  Seuche  nahezustellen.  Die  vor- 
wiegendsten Symptome  waren  pustulöse  Exantheme,  eingeleitet  oder 
gefolgt  von  heftigen  Durchfällen,  die  fast  immer  zum  lethalen  Ende 
führten.  Fraglich  bleibt  es,  ob  das  Exanthem  als  Variola  aufgefasst 
und  die  Darmerscheinungen  auf  Ruhr  bezogen  werden  dürfen,  denn  uns 
mangeln  ausreichende  Anhaltspunkte  für  die  Beurteilung  des  Wesens 
der  Krankheit,  oder  besser  gesagt,  der  etwa  konkurrierenden  ver- 
schiedenartigen Krankheitsprozesse. 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  753 

Die  Unsicherheit,  welche  selbst  der  von  dem  gi'ossen  Pergame- 
nischen  Arzte  erhaltene  Epidemiebericht  der  Forschung  bereitet,  wlyö. 
um  so  grösser  und  begreiflicher,  wenn  uns  über  eine  Seuche  der  Vor- 
zeit nur  Aufzeichnungen  von  Laienhand  vorliegen.  Es  ist  dies  die 
im  3.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  durch  15  Jahre  (251 — 266 
n.  Chr.j  über  die  ganze  damals  bekannte  Erde  verbreitete  Seuche, 
welche  nach  ihrem  Hauptdarsteller,  dem  Bischof  von  Karthago,  die 
Pest  des  Cyprian  genannt  wird.  Ihre  Verheerungen,  die  mit  den 
ersten  Vorstössen  der  Völkerwanderung  einhergingen  und  mit  dem 
Beginne  der  Christenverfolgungen  zusammentrafen,  waren  grauenvolle ; 
ganze  Städte  und  Landstriche  wurden  entvölkert,  wiederholt  kehrte 
die  Seuche  in  die  verödeten  Gegenden  und  Plätze  zurück,  das 
Menschengeschlecht  schien  dem  Aussterben  nahe  zu  sein.  Die  Krank- 
heit manifestierte  sich  nach  den  Angaben  der  Zeitgenossen  unter 
heftigen  Durchfällen,  Erbrechen,  Entzündung  der  Augen  und  der 
Schlundorgane,  bei  vielen  &anken  stellte  sich  brandige  Zerstörung 
oder  Lähmung  der  Extremitäten  ein,  andere  wurden  von  Blindheit 
oder  Taubheit  befallen.  Unmöglich  ist  es,  hierin  ein  bestimmtes 
Krankheitsbild  zu  erkennen,  am  wenigsten  die  eigentliche  Beulenpest 
daraus  abzuleiten.  War  es  überhaupt  eine  dem  ganzen  Zeiträume 
gemeinsame,  einheitliche  Krankheitsform  oder  müssen  wir  nicht  \iel- 
mehr  ein  Gemisch  mehrerer  Infektionskrankheiten  annehmen  und 
darauf  verzichten,  sie  nach  unseren  heutigen  Begriffen  näher  be- 
zeichnen zu  wollen?  Eine  voUe  Einsicht  in  -das  Wesen  der  genannten 
Seuchen  fehlt  uns  dermalen  und  mit  ihren  Lücken  hat  die  Geschicht- 
schreibung zu  rechnen. 

Ebenso  ungenau  lauten  die  Nachrichten  über  gi'osse,  todbringende 
Epidemien  der  nächstfolgenden  Jahi'hunderte.  Nur  eine  der  schwersten 
Seuchen,  die  durch  die  Länge  ihrer  Dauer  und.  die  furchtbaren  Zer- 
störungen eine  traurige  Berühmtheit  erlangt  hat,  tritt  aus  dem  Dunkel 
der  Ereignisse  schärfer  hervor:  Die  Pest  des  Justinian,  531 — 580 
n.  Chr.  Ihr  gingen,  wie  die  Chronisten  berichten,  ungewöhnliche 
Naturerscheinungen  voraus,  Erdbeben  von  erschreckender  Wirkung  ver- 
nichteten in  jener  Periode  viele  volkreiche  Städte  und  Länder,  Ueber- 
schwemmungen  und  Hungersnot  waren  die  Begleiter  des  grossen 
Sterbens,  das  über  ein  halbes  Jahrhundert  hindurch,  wie  Prokopius 
als  Augenzeuge  erzählt,  den  Erdkreis  durchschritt,  alle  ergriff  ohne 
Unterschied  des  Geschlechtes  und  Alters.  Schon  im  J.  531  brach  die 
Krankheit  in  der  byzantinischen  Hauptstadt  aus  und  blieb  vorerst 
auf  einen  verhältnismässig  kleinen  Umkreis  beschränkt.  Von  neuem 
erhob  sie  sich  542  in  Pelusium,  verbreitete  sich  über  Nordafrika,  Klein- 
asien und  seine  Nachbarländer  und  durchzog  im  raschen  Laufe  die 
weiten  Gebiete  des  ost-  und  weströmischen  Reiches  bis  in  das  ,,Land 
der  Barbaren".  Zeitweilig  stille  stehend,  fand  sie  doch  nirgends 
eine  Schranke  und  selbst  in  Stätten,  wo  die  Todesernte  an  den  tausenden 
von  Opfern  schon  gesättigt  schien,  riss  urplötzlich  und  mit  unge- 
schwächter Bösartigkeit  die  Seuche  wieder  ein,  stets  von  den  Küsten- 
gegenden in  das  Binnenland  fortschreitend.  Viele  erlagen,  wie  vom 
Blitz  getroffen,  im  ersten  Ansturm  der  Krankheit;  dasselbe  Geschick 
ereilte  jene,  deren  Haut  sich  rasch  mit  schwarzen  Pusteln  bedeckt 
oder  wo  unversehens  Blutbrechen  den  kräftigen  Körper  befallen  hatte. 
Andere,  bei  denen  sich  dumpfer  Kopfschmerz,  Blutunterlaufung  der 
Augen,  Schwellung  des  Gesichtes  und  Entzündung  des  Schlundes  ein- 

Uandbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  48 


754  Victor  Fossel. 

gestellt,  starben  oft  am  ersten  Tage.  Jene  wiederum,  bei  denen 
Durchfall  und  Beulen  zugleich  aufgetreten,  wurden  schon  am  2.  oder 
3.  Tage  dahingerafft,  nur  wenige  genasen,  deren  Bubonen  sich  er- 
weicht und  in  Eiterung  ausgereift  hatten.  Die  Sterblichkeit  war  eine 
erschreckende,  sie  stieg  beispielsweise  in  Konstantinopel  zur  Zeit  der 
höchsten  Not  auf  5000  und  sogar  10000  Todesfälle  an  einem  Tage^ 
es  fehlten  bald  die  Plätze  zur  Beerdigung  der  Leichen,  die  man  end- 
lich in  das  Meer  zu  versenken  gezwungen  war.  Die  Nachwirkungen 
dieser  Seuche  waren  unerm essliche;  sie  haben  wesentlich  beigetragen 
zur  Umwälzung  des  ganzen  staatlichen  Lebens  und  zum  Niedergang 
des  byzantinischen  Reiches,  von  dessen  Bewohnern  mehr  als  die 
Hälfte  vom  Tode  weggerafft  worden  war. 

Die  wertvollen  Berichte,  die  uns  Prokopius,  Evagrius  und 
Agathias  hinterlassen  haben,  schildern  die  eminente  Kontagiosität 
der  Krankheit,  ihre  Gesamterscheinungen  und  Varietäten,  den  Aus- 
bruch und  Verlauf  des  Uebels  samt  allen  seinen  Komplikationen  mit 
einer  Treue  und  Gewissenhaftigkeit,  so  dass  wir  darin  bis  in  die 
Einzelheiten  das  vollständige  Bild  der  Bubonenpest  wiederzuerkennen 
im  stände  sind.  Mögen  immerhin  andere  Infektionskrankheiten,  wie 
etwa  die  Blattern  in  dieser  langwährenden  Epidemienreihe  an  dem 
Verderben  der  Völker  mitgewirkt  haben,  den  Hauptanteil  nahm  daran 
die  Pest,  wie  auch  die  Zeitgenossen  sie  als  „Pestis  bubonum", 
„clades  glandularia"  oder  „morbus  inguinarius"  bezeichnen. 
Bei  den  ärztlichen  Schriftstellern  jenes  und  der  folgenden  Jahr- 
hunderte suchen  wir  vergeblich  nach  eigenen  Beobachtungen  über 
die  Pest.  Sie  gedenken  ihrer  ebensowenig,  wie  anderer  Volkskrank- 
heiten. Auf  Laienberichte  allein  ist  hier  die  medizinische  Geschicht- 
schreibung angewiesen,  sie  entbehrt  daher  der  all  ernötigsten  Grund- 
lage, um  über  die  Epidemien  vom  6.  bis  zum  14.  Jahrhundert  ein 
halbwegs  gesichertes  Urteil  schöpfen  zu  können.  Die  Chronisten  ver- 
säumen allerdings  nicht,  in  der  Aufzählung  der  Begebenheiten  auch 
heftiger  Seuchenausbrüche  zu  erwähnen  und  solche  gemeinhin  als 
„Pest"  zu  bezeichnen.  Sie  legen  das  Hauptgewicht  ihrer  Erzählung 
auf  die  Verluste  an  Menschenleben,  deren  Zahlen  oft  nur  auf  unge- 
nauen, oberflächlichen  Schätzungen  beruhen.  Ueberdies  geht  aus 
vielen  solchen  Berichten  hervor,  wie  die  Darstellung  einer  Epidemie 
schon  darum  ins  Ungemessene  gesteigert  wird,  um  das  Interesse  an 
den  Vorkommnissen  zu  erhöhen  und  dem  Aufruhr  der  Natur,  der  dem 
Sterben  stets  voranzugehen  pflegte,  gebührenden  Platz  zu  schaffen. 
Bei  der  Gleichförmigkeit  chronistischer  Seuchenberichte  aus  jener  Zeit 
müssen  wir  von  weiteren  historischen  Nachrichten  Umgang  nehmen 
und  auf  die  allgemeine  Thatsache  hinweisen,  dass  die  Jahrhunderte 
von  mörderischen  Epidemien  erfüllt  waren,  deren  Natur  aber  nur 
schwer  sich  näher  bestimmen  lässt. 

Erst  mit  dem  14.  Jahrhundert  tritt  unsere  Kenntnis  über  den 
Charakter  und  die  Verbreitung  der  Seuchen  in  ein  neues,  helleres 
Stadium.  Die  grosse  Pandemie  der  Bubonenpest,  die  unter  dem  Namen 
des  „Schwarzen  Todes"  zu  den  schwersten  Schicksalschlägen  der 
Menschheit  zählt  und  durch  die  Verwüstungen  unter  den  Bewohnern 
des  damals  bekannten  Erdkreises  eines  der  düstersten  Blätter  der 
Weltgeschichte  ausfüllt,  bildet  auch  im  geistigen  und  kulturellen 
Leben  der  Völker  einen  denkwürdigen  und  entscheidenden  Abschnitt 
der  Entwicklung.     Millionen   von   Opfern   hat  diese  Seuche   binnen 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  755 

weniger  Jahre  gefordert,  ganze  Ländergebiete  in  menschenarme  Ein- 
öden verwandelt  und  die  Gemüter  mit  beispiellosem  Entsetzen  und 
Schrecken  erfüllt.  Die  furchtbaren  Drangsale,  die  das  „grosse  Sterben" 
über  alle  Länder  und  Schichten  der  menschlichen  Gesellschaft  ge- 
bracht, gingen  gleichzeitig  mit  tiefgreifenden  Erschütterungen  einher, 
die  die  Verhältnisse  der  Einzelnen  wie  die  Ordnung  des  gesamten 
bürgerlichen  und  staatlichen  Gemeinwesens  lockerten  und  lösten. 

Den  zahlreichen  Nachrichten  der  Laien  des  14.  Säkulums  stehen 
nur  wenige  ärztliche  Berichte  entgegen;  die  darin  enthaltenen  Auf- 
zeichnungen gemnnen  aber  um  so  erheblicher  an  Wert,  weil  sie  von 
Augenzeugen  herrühren,  die  inmitten  des  Seuchenelends  ihren  ärzt- 
lichen Beruf  ausgeübt  und  demnach  eigene  Erfahrungen  uns  hinter- 
lassen haben.  Unter  diesen  Schriften  nehmen  jene  der  beiden  päpst- 
lichen Leibärzte  Guy  von  Chauliac  und  Chalin  de  Yinario, 
Beobachter  der  Pest  in  Avignon,  das  meiste  Interesse  in  Anspruch; 
ihnen  zunächst  kommen  die  Mitteilungen  des  zur  Zeit  des  Schwarzen 
Todes  in  Oberitalien  thätigen  Arztes  Dionysius  Colle,  des  damals 
in  Avignon  lebenden  Belgiers  Simon  von  Covino  und  mehrerer 
spanischer  Aerzte,  wie  Ibnulkhatib  u.  a.  m.  Unter  den  nichtärzt- 
lichen Schriftstellern  stammen  die  wichtigsten  Angaben  von  dem 
1344—46  im  Orient  weilenden  italienischen  Eechtsgelehrten  Gabriel 
de  Mussis,  dem  kaiserlichen  Berichterstatter  Kantakuzenes, 
dem  Historiographen  Nicephorus  in  Konstantinopel,  während  wir 
die  ergreifenden  Schilderungen  Boccacios  und  Petrarcas  als  die 
bekanntesten  Schriften  aus  der  Fülle  der  im  Abendlande  aufge- 
speicherten Dokumente  über  die  grösste  Pest  von  ungefähr  heraus- 
greifen. 

Wie  ärztliche  und  Laienberichte  übereinstimmend  melden,  war 
es  überall  dieselbe  Krankheit,  die  echte  Beulenpest,  die  in  allen 
ihren  Formen  und  Varietäten  zur  Erscheinung  gelangt  war.  Besonders 
häufig  trat  sie  als  Lungenpest  auf  und  war  an  einzelnen  Seuchenherden 
oder  während  bestimmter  Epidemieperioden,  z.  ß.  bei  ihrem  ersten  Aus- 
bruche in  Avignon,  die  alleinig  herrschende  Krankheit.  Bei  solchen 
Kranken  kam  es  meist  nicht  zur  Entwicklung  der  Bubonen,  sie  starben 
schon  innerhalb  12 — 24  Stunden.  Einmütig  bezeichnen  Aerzte  wie 
Laien  den  Bluthusten  als  ein  gefahrvolles  Symptom  und  die  ,.Peri- 
pneumonia  pestilentialis"  als  die  schwerste  Form  der  Seuche.  Bei 
anderen  Befallenen  bildeten  sich  unter  gelinde  einsetzenden  oder 
stürmisch  verlaufenden  Prodromen  die  charakteristischen  Schwellungen 
der  Inguinal-  und  Axillardrüsen,  nicht  selten  auch  solche  im  übrigen 
Lymphapparate  mit  und  ohne  den  legitimen  Pestefflorescenzen,  Pete- 
chien, Blasen,  striemenförmigen  x\usschlägen ,  Hautblutungen,  Kar- 
bunkeln. Die  Mehrzahl  der  unter  diesen  Symptomen  Erkrankten 
starb  gewöhnlich  am  3.  oder  5.  Tage.  Endlich  erwähnen  die  Bericht- 
erstatter der  in  jeder  Pestepidemie  vorkommenden  Fälle  von  blitz- 
artiger Infektion,  wo  der  plötzliche  Tod  jedwede  Entwicklung  der 
Krankheit  abschnitt.  Es  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  das  viel- 
gestaltige Krankheitsbild,  wie  es  der  Beulenpest  eigentümlich  ist  und 
auch  zur  Zeit  des  Schwarzen  Todes  beobachtet  wurde,  näher  zu  be- 
leuchten. Die  volle  Gleichheit  der  Pest  des  14.  Jahrhunderts  mit  jener 
der  Gegenwart  enthebt  uns  der  Verpflichtung,  auf  die  lange  hindurch 
erörterten  Bedenken  und  Zweifel  einzugehen,  die  gegen  die  Identität 
der    in    Rede    stehenden    Weltseuche    mit    den    Pestausbrüchen    des 

48* 


756  Victor  Fossel. 

19.  Jalirlmuderts  erhoben  worden  sind.  Die  frühere  medizinische  Ge- 
schichtschreibung war  vielfach  bemüht,  für  die  Entstehung  des 
Schwarzen  Todes  eine  Reihe  von  aussergewöhnlichen  Naturereignissen 
namhaft  zu  machen,  neptunische  und  vulkanische  Revolutionen  als 
drohende  Vorboten  der  Seuche  hinzustellen,  meteorologische  Aende- 
rungen  und  andere  Erscheinungen  im  „Leben  des  Erdorganismus"  als 
vorbereitende  Ursachen  des  Ausbruches  und  der  enormen  Verbreitung 
der  Krankheit  erklärend  heranzuziehen.  Unsere  heutigen  Kenntnisse 
von  der  Aetiologie  der  Volkskrankheiten  widersprechen  diesen  An- 
nahmen schon  im  voraus  und  lassen  es  schwer  begreiflich  erscheinen, 
in  welchem  kausalen  Zusammenhang  derartige  Phänomene  mit  dem 
Gange  der  grossen  Epidemie  gebracht  werden  können.  Zudem  stützen 
sich,  wie  Honig  er  nachgewiesen  hat,  die  bis  ins  Fabelhafte  über- 
triebenen Nachrichten  von  dem  die  Seuche  einleitenden  „Aufruhr  der 
Natur"  durchwegs  nur  auf  spätere,  unsichere  und  immer  wieder  von 
neuem  kopierte  Erzählungen,  während  die  moderne  historische  Forschung 
in  den  Geschichtsquellen  des  Mittelalters  keinen  einzigen  beglaubigten 
Beleg  für  das  Vorkommen  solcher  abnormer  Naturvorgänge  zu  eruieren 
vermocht  hat. 

Ueber  den  Ursprung  und  die  erste  Ausbreitung  des  Schwarzen 
Todes  stehen  uns  nur  lückenhafte  und  einander  vielfach  widersprechende 
Ueberlieferungen  zu  Gebote.  Die  Zeitgenossen  nennen  einstimmig 
den  Osten  Asiens  den  Ausgangspunkt  der  Seuche,  der  Mehrzahl  nach 
bezeichnen  sie  das  Land  „Katai"  d.  i.  China  als  ihre  Wiege,  während 
Fracastoro  in  seinem  1584  erschienenen,  berühmt  gewordenen  Ge- 
dichte über  die  Syphilis  die  grosse  Wanderpest  des  14.  Jahrhunderts 
an  den  Ufern  des  Ganges  entstehen  lässt.  Die  Anfänge  des  „grossen 
Sterbens"  entbehren  genauer  Angaben  und  werden  bei  der  Unklarheit, 
mit  welcher  die  Chronisten  über  ferne  Länder  unterrichtet  waren, 
ganz  verschieden  bestimmt.  Soviel  steht  fest,  dass  wir  den  Ausgang 
des  Schwarzen  Todes  nach  dem  Innern  des  asiatischen  Festlandes  zu 
verlegen  haben,  von  wo  aus  die  Seuche  nach  Indien  und  anderen  Ge- 
bieten des  Kontinents  übergriff  und  auf  mehrfachem  Wege  nach  dem 
Westen  vordrang.  Nach  chinesischen  Litteraturquellen  hat  man  die 
ersten  Verheerungen  der  Pest  in  diesem  Lande  auf  die  Jahre  1333 — 1334 
zurückdatiert,  ohne  dafür  sichere  Beweise  erbracht  zu  haben.  Andere 
Zeitgenossen,  wie  Gabriel  de  Mussis  sprechen  von  dem  Vordringen 
der  Krankheit  im  Jahre  1346  nach  der  Krim,  wo  sie  durch  kriege- 
rische Ereignisse  und  zahlreiche  Flüchtlinge  nach  anderen  Ländern 
verschleppt  worden  sein  sollte.  Jedenfalls  zählten  die  an  den  Ufern 
des  Schwarzen  Meeres  sesshaften  Völkerstämme  zu  den  frühesten 
Opfern  des  Schwarzen  Todes,  der  nach  den  Aufzeichnungen  der  Ge- 
währsmänner im  gleichen  Jahre  über  einen  grossen  Teil  von  Asien 
und  seine  Nachbarländer  Verbreitung  gefunden  hatte.  Es  liegt  nahe 
zu  vermuten,  dass  auch  damals  die  asiatische  Seuche  die  Hauptver- 
kehrswege des  mittelalterlichen  Handels  einhielt,  von  denen  die  eine 
Route  über  die  Krim  und  das  Schwarze  Meer  nach  Konstantinopel,  die 
zweite  durch  Herat  nach  den  Ufern  des  Kaspischen  Meeres,  nach 
Kleinarmenien  und  Kleinasien  und  endlich  der  dritte  Weg  durch 
Mesopotamien  nach  Arabien  und  Aegypten  führte.  Ende  1346  und 
Anfang  1347  war  bereits  Vorderasien,  Aegji^ten  und  der  grösste  Teil 
von  Südeuropa  durchseucht.  Von  den  Gestaden  des  Aegäischen  Meeres 
schritt  die  Krankheit  nach  den  Küstenstädten  und  Inseln  des  mittel- 


Greschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  757 

ländischen  Seebeckens  fort  und  ergriff  im  Laufe  des  Jahres  1347  mit 
erschreckender  Wut  die  volkreichen  Seestädte  in  Sizilien.  Italien.  Dal- 
matien  und  Südfrankreich.  Es  wird  ausdrücklich  berichtet  und  von 
Gabriel  de  Mussis  durch  eine  Episode  seiner  eigenen  Heimkehr 
veranschaulicht,  wie  gesunde  Flüchtlinge  den  Pestkeim  vermittelt 
haben  und  wie  aus  verseuchten  Gegenden  stammende  Waren  zum 
Träger  der  bösartigsten  Ansteckung  geworden  sind. 

Von  Genua.  Marseille  u.  a.  Hafenorten  aus  bahnte  sich  die  Seuche 
den  Weg  in  das  innere  Land;  sie  drang  nach  Spanien  vor  und  hatte 
bis  zur  Mitte  des  Jahres  1348  über  ganz  Italien  und  den  grössten 
Teil  von  Frankreich  ihre  Herrschaft  erstreckt.  Von  hier  nach  den 
Niederlanden  übergreifend,  erschien  sie  auf  dem  Seewege  im  August 
desselben  Jahres  in  England,  während  Irland  und  Schottland  erst  in 
den  beiden  darauffolgenden  Jahren  zum  Schauplatze  ihrer  Verheerungen 
ausersehen  wurden.  Schon  im  Sommer  1348  zog  die  Pest  von  Ober- 
italien aus  nach  Tirol  und  Baj'ern,  wenige  Monate  später  nach 
Kärnthen,  Steiermark  und  sandte,  möglicherweise  auch  von  Ungarn 
aus,  ihre  Vorposten  bis  Böhmen  und  Mähren.  Noch  vor  Jahresschluss 
wurden  die  Schweiz  und  Süddeutschland,  zumeist  von  der  Westseite 
her  befallen,  während  das  Jahr  1349  die  schwerste  Pestzeit  für  Europa 
und  insbesondere  für  Deutschland  bildete.  Am  Rhein  wie  an  der 
Donau,  in  Schwaben,  Thüringen,  dem  Elsass  und  allen  übrigen  Gauen 
des  Eeiches  verbreitete  sich  die  Krankheit,  sie  riss  in  Ungarn  und 
Polen  ein,  um  hier  wie  anderwärts  nicht  vor  Jahi-esfrist  zu  ver- 
schwinden. In  der  zweiten  Hälfte  dieses  Pestjahres  zeigte  sich  die 
Seuche  in  Schweden,  Norwegen,  Jütland  und  Dänemark,  wohin  sie 
durch  den  lebhaften  Schiffahrtsverkehr  aus  England  gelangt  war. 
Auf  dem  Seewege  kam  sie  auch  bis  nach  Grönland.  Von  Norden  und 
Süden  zugleich  wurden  die  niederdeutschen  Gebiete  ergriffen,  von  wo 
aus  die  Seuche  1350  nach  den  Ostseeprovinzen  sich  fortpflanzte,  erst 
in  den  beiden  nächsten  Jahren  die  weiten  Landstriche  des  russischen 
Eeiches  durchwanderte,  um  endlich  1353  an  den  Ufern  des  Schwarzen 
Meeres,  ihrer  ursprünglichen  Ausgangspforte,  zu  erlöschen. 

Dies  in  knappen  Umrissen  der  Gang  des  Schwarzen  Todes,  dessen 
Ausbrüche  in  einzelnen  Ländern  und  Städten  nicht  immer  und  überall 
genau  festzustellen,  ja  für  eine  grössere  Zahl  von  Orten  und 
Landschaften  des  europäischen  Kontinents  in  vollständiges  Dunkel 
gehüllt  sind.  Selbst  dort,  wo  Zeitangaben  vorliegen,  ist  es  oft  zweifel- 
haft, ob  dieselben  auf  die  ersten  Sterbefälle,  auf  die  Höhe  der  Lokal- 
epidemien oder  deren  Nachschübe  zu  beziehen  sind.  Denn  nicht  im 
raschen  Fluge  zieht  die  Krankheit  ihre  Bahnen,  nur  auf  dem  Seewege 
schreitet  sie  verhältnismässig  rasch  dahin,  auf  dem  Festlande  hält  sie 
mit  der  Schnelligkeit  der  Verkehrsmittel  gleichen  Schritt,  überfällt 
sprungweise  die  Gebiete,  verschont  zeitweilig  oder  gänzlich  weite 
Strecken  und  umzingelt  die  Wohnsitze  der  Menschen  sachte  vor- 
dringend, ,.non  simul  et  semel,  sed  successive",  wie  ein  Chronist 
bezeugt. 

Die  Verluste,  welche  der  Schwarze  Tod  herbeigeführt,  waren  un- 
geheure. Nach  verlässlichen  Aufzeichnungen  wurden  in  vielen  Städten 
die  Hälfte  der  Bevölkerung,  in  anderen  zwei  Dritteile  und  darüber 
von  der  Seuche  hinweggerafft,  ungezählte  Orte  gänzlich  entvölkert. 
Es  fehlt  uns  trotz  der  vielfach  bekannt  gewordenen  Zahl  der  Sterbe- 
fälle jegliche  Handhabe  für  die  Feststellung  der  relativen  Sterblichkeit, 


758  Victor  Fossel. 

SO  dass  wir  nur  aus  den  absoluten  Ziflfern  ein  annäherndes  Bild  von 
der  Bösartigkeit  der  Krankheit  zu  gewinnen  vermögen.  Hecker 
hat  nach  ungefährer  Schätzung  für  Europa  die  Gesamtsumme  der 
Opfer  des  Schwarzen  Todes  auf  ein  Viertel  der  damaligen  Bevölkerung, 
also  auf  25  Millionen  berechnet,  eine  Annahme,  die  von  der  einen 
Seite  als  zu  hoch,  von  der  anderen  als  zu  niedrig  gegriffen  bestritten 
wird,  im  grossen  und  ganzen  aber  einen  Massstab  für  den  Umfang 
der  Menschenverluste  bilden  mag. 

Die  sittlichen  und  wirtschaftlichen  Folgen  der  Seuche  können 
hier  nur  angedeutet  werden.  Schon  allein  die  rapide  Entvölkerung 
war  von  tiefeinschneidender  Wirkung  auf  alle  sozialen  Verhältnisse. 
Besitz  und  Eigentum  verschob  sich  urplötzlich,  der  Kirche  als  der 
Vermittlerin  des  göttlichen  Erbarmens  in  diesen  Zeiten  der  Eeue 
und  Zerknirschung  fielen  unermessliche  Reichtümer  zu,  andererseits 
gelangte  die  unbemittelte  Schar  des  Volkes  über  Nacht  zu  einem 
Erbe,  das  rasch  vergeudet  vom  neuen  die  Gier  nach  herrenlosem  Gute 
reizte.  Alle  Zucht  und  Ordnung  geriet  dabei  ins  Wanken,  Arbeit  und 
bürgerlicher  Erwerb  wurde  gering  geachtet,  es  gebrach  an  Kräften 
zum  Betriebe  des  Handwerkes,  zur  Bestellung  von  Haus  und  Feld. 
Die  Verteuerung  der  Produkte  ging  mit  einer  Verschlechterung  der 
Münze  einher,  die  Steigerung  der  Preise  und  die  unerschwingliche 
Höhe  der  Arbeitslöhne  führte  z.  B.  in  England  zu  einer  gänzlichen 
Reform  des  Land-  und  Ackerbaues. 

Unter  den  Bewegungen,  die  den  Gang  des  Schwarzen  Todes  be- 
gleiten, ist  endlich  der  Judenverfolgungen  und  der  Geisslerfahrten 
kurz  zu  gedenken.  Beide  Erscheinungen  von  Land  zu  Land  sich  er- 
neuernd, sind  der  Ausdruck  der  ungeheueren  Aufregung,  die  sich  der 
Gemüter  bemächtigt  hatte.  Von  dem  uralten,  noch  heute  lebendigen 
Wahne  erfüllt,  die  Pest  von  einer  Vergiftung  der  Brunnen  abzuleiten, 
richtet  sich  vorerst  die  Wut  des  Volkes  gegen  Reiche  und  Vornehme, 
alsbald  aber  gegen  die  Juden,  die  als  Urheber  dieses  Frevels  bezichtigt 
und  mit  unmenschlicher  Grausamkeit  verfolgt  und  vernichtet  werden. 
Zu  gleicher  Zeit  drängen  sich  dieselben  Volksmassen  zu  den  Scharen 
der  Geissler,  die  durch  Reue  und  Busse  das  von  Gott  über  die  Mensch- 
heit verhängte  Strafgericht  zu  mildern  und  zu  bannen  suchen.  Jede 
dieser  Richtungen  schwillt  aber  im  Laufe  der  Zeit  zu  einer  tief- 
greifenden sozialen  Gärung  an.  die  immer  weitere  Kreise  erfassend, 
den  Kampf  gegen  die  Besitzenden,  gegen  den  Staat  und  die  Kirche 
hervorkehrt  und  ihrer  kulturhistorischen  Bedeutung  nach  erst  in 
jüngster  Zeit  von  der  Geschichtsforschung  im  rechten  Lichte  gekenn- 
zeichnet wurde.  Heute  wissen  wir,  dass  Judenmord  und  Geisseifahrt 
nicht  als  Folgewirkungen  der  Pest,  sondern  vielmehr  als  Vorläufer 
derselben  an  vielen  Orten  zu  Tage  getreten  sind. 

Inmitten  der  Verwilderung,  die  mit  der  Seuche  eingerissen  war, 
fehlt  es  nicht  an  ungezählten  Beweisen  der  Nächstenliebe  und  Opfer- 
willigkeit. Rühmend  gedenken  die  Chronisten  des  edelmütigen  Wirkens 
der  Geistlichkeit  und  des  ärztlichen  Standes.  Die  Berufstreue  der 
Aerzte  ragt  auch  in  jener  Zeit  leuchtend  hervor  und  was  ihrer  Kunst 
versagt  geblieben,  waren  sie  mit  wenigen  Ausnahmen  durch  Un- 
erschrockenheit  und  Aufopferung  zu  ersetzen  bemüht.  In  den  Vor- 
stellungen des  Zeitalters  befangen,  haben  sie  in  widriger  Konjunktion 
der  Planeten  die  Wurzel  des  Uebels  gesucht  und  nach  den  Lehren 
Galens  und  der  Araber  die  faulige  Verderbnis  der  Luft  und  die  Auf- 


Geschichte  der  epidemischen  Kranhheiten.  759 

nähme  des  hierdurch  erzeugten  Pestgiftes  in  den  menschlichen  Orga- 
nismus als  nächste  Ursache  der  Seuche  angesehen.  Das  von  der 
Pariser  Fakultät  im  Oktober  1348  abgegebene  Gutachten  vertritt  in 
breiter  Form  diesen  Standpunkt,  erhebt  sich  aber  in  seiner  Nutz- 
anwendung nicht  über  allgemeine  diätetische  Ratschläge.  Hingegen 
yerschliessen  Chauliac,  Chalin  u.  a.  aufgeklärte  Aerzte  keineswegs 
ihren  Blick  vor  der  ,.neuen  und  unerhörten  Krankheit"',  sie  suchen 
deren  Wesen,  Erscheinungen  und  Verlauf  nach  dem  Stande  damaligen 
Wissens  zu  ergründen  und  gelangen  übereinstimmend  zu  der  für  jene 
Zeit  bemerkenswerten  Erkenntnis  von  der  unfehlbaren  Kontagiosität 
der  Pestilenz.  Sie  sind  überzeugt,  dass  durch  direkte  Berührung  In- 
fizierter, durch  den  Verkehr  mit  den  aus  gesunden  und  verpesteten 
Orten  angekommenen  Personen,  durch  Wohnräume,  Kleider  und  Hab- 
seligkeiten Erkrankter  und  Verstorbener  die  Ansteckung  vermittelt 
werde,  ohne  jedoch  daraus  mehr  als  die  subtilen  Wege  der  Verbreitung 
des  Giftes  abzuleiten.  In  der  Nosologie  war  die  Fäulnis  des  Blutes  die 
Hauptsache,  aus  ihr  entsprangen  Fieber,  Schwäche,  Bluthusten,  Beulen 
und  alle  übrigen  Prozesse.  In  diesem  Sinne  bewegte  sich  auch  die 
Therapie.  Fäulniswidrige  und  herzstärkende  Arzneimittel  stehen 
obenan,  Blutentziehungen  werden  zur  Ableitung  der  korrumpierten 
Säfte  im  Uebermasse  angewendet,  jedoch  schon  von  Colle  und 
Chalin  wegen  ihrer  Gefährlichkeit  verworfen.  Die  chirurgische 
Hilfeleistung  beschränkte  sich  meist  auf  möglichst  frühzeitige  Er- 
öffnung der  Drüsen  Schwellungen  mittels  des  Messers  und  des  Glüh- 
eisens. Oeffentliche  Massnahmen  zur  Abwehr  der  Pest  gelangten  zur 
Zeit  des  Schwarzen  Todes  —  wenn  wir  von  den  Reinigungsfeuern  auf 
den  Plätzen  der  Städte  oder  den  wegen  üeberfüllung  der  Kirchhöfe  not- 
wendig gewordenen  besonderen  Pestfriedhöfen  absehen,  in  vereinzelten, 
unzulänglichen  Vorkehrungen  zur  Ausführung.  Nur  Mailand  hatte 
1348  durch  strenge  Schliessung  der  Stadtthore  vorübergehend  die 
Seuche  von  seinen  Mauern  abgehalten,  an  anderen  Orten  erwies  sich 
eine   ähnliche   Unterbrechung   des   Verkehrs  als   völlig   wirkungslos. 

Es  ist  für  die  Geschichte  der  Pest  von  untergeordneter  Bedeutung, 
den  Abschluss  des  Schwarzen  Todes  auf  das  Jahr  1353  anzusetzen 
oder  aber  seine  Herrschaft  bis  gegen  Ende  des  14.  Jahrhunderts  gelten 
zu  lassen.  Wenn  wir  der  ersteren  Auffassung  folgen,  lassen  wü'  es 
dahin  gestellt  sein,  zu  untersuchen,  ob  und  welche  Pestepidemien  in 
Europa  vom  Jahre  1353  an  als  direkte  und  im  kausalen  Zusammen- 
hange stehende  Nachschübe  des  „grossen  Sterbens"  anzusehen  sind. 
Sicherlich  war  eine  grosse  Zahl  damaliger  „Pesten",  worüber  Augen- 
zeugen berichten,  das  gleiche  Uebel,  wie  vordem;  andererseits  nennen 
Chronisten  und  Aerzte  die  späteren  Epidemien  die  ..zweite  Pest", 
welche  weder  in  ihren  Erscheinungen  noch  in  ihrer  Bösartigkeit  von 
jenen  der  grossen  Weltseuche  verschieden  sich  gestaltet  hat. 

Das  15.  Jahrhundert  ist  gleichfalls  eine  an  Pestepidemien 
reiche  Epoche  in  der  Geschichte  der  Krankheit.  In  allen  europäischen 
Staaten,  und,  soweit  die  Nachrichten  reichen,  auch  im  Oriente,  treten 
schwere  Epidemien  auf,  die  in  ihrer  Mortalität  an  vielen  Orten  den 
Schrecknissen  des  Schwarzen  Todes  gleichkommen.  Besonders  harte 
Pestjahre  waren  für  Deutschland  1449,  1460—1463,  1473  und  1482 
bis  1483.  Die  seither  gewonnenen  Erfahrungen  fanden  bei  der  steten 
Wiederkehr  der  Seuche  insoferne  die  kräftigste  Bestätigung,  als  sich 
immer  mehr  die  Ueberzeugung  von  der  Kontagiosität  des  Uebels  Bahn 


760  Victor  Fossel. 

brach.  Die  unter  den  verschiedenartigsten  Verhältnissen  und  lokal 
divergierenden  Umständen  gemachten  Beobachtungen  der  Krankheit 
und  ihrer  Verbreitung  hellten  langsam  den  örtlichen  und  zeitlichen 
Zusammenhang  der  einzelnen  Pestausbrüche  auf.  Sie  bestärkten  Aerzte 
wie  Laien  in  dem  Bestreben,  die  oifenkundige  Gefahr  der  Ansteckung, 
die  aus  dem  Verkehre  zwischen  verseuchten  und  bedrohten  Gegenden 
entsprungen  war,  durch  Beschränkung  oder  Aufhebung  der  Kommuni- 
kationen abzuwenden  und  die  Einschleppung  der  Seuchen  durch  Ab- 
sperrungsmassregeln zu  verhindern.  Italien,  bisher  als  Eingangspforte 
am  schwersten  betrolfen,  ging  in  solcher  Abwehr  mutig  voran.  So 
wird  berichtet,  dass  der  Rat  von  Ragusa  schon  1375  die  ersten  Kon- 
tumazvorschriften gegen  die  Pest  erlassen,  ebenso  die  Stadt  Reggio 
in  Modena  (nicht  in  Kalabrien,  wie  Häser  berichtet)  zu  gleicher  Zeit 
die  strenge  Isolierung  Infizierter  verfügt  und  1383  pestverdächtigen 
Reisenden  den  Zutritt  bei  Todesstrafe  verboten  hatte.  Diesem  Bei- 
spiele folgten  andere  Städte,  zumal  die  Hafenplätze  des  Mittelmeeres 
und  der  adriatischen  Küste,  deren  Handelsverbindungen  mit  dem 
Oriente  eine  erhöhte  Vorsicht  erheischten,  deren  vitales  Interesse 
dazu  drängte,  sich  nach  Möglichkeit  der  Seuche  zu  erwehren  und  die 
ersten  sanitätspolizeilichen  Einrichtungen  ins  Werk  zu  setzen.  So  war 
es  Venedig,  das  im  Jahre  1485  einen  eigenen  Gesundheitsrat  als 
Seuchenbehörde  einsetzte,  ungefähr  zu  derselben  Zeit  auf  den  nahe- 
gelegenen Inseln  die  ersten  Pestlazarette  zur  Unterkunft  verdächtiger 
Fremdlinge  errichtete,  zur  Aufnahme  Pestkranker  in  der  Stadt  ein 
besonderes  Hospital  bestimmte  und  ausserdem  die  Anordnung  traf, 
Genesene  und  die  mit  solchen  in  Verkehr  getretene  Personen  auf  einer 
eigenen  Insel,  in  dem  sogenannten  neuen  Lazarette,  durch  40  Tage 
zurückzubehalten.  In  diesen  Anlangen  lagen  die  fruchtbaren  Keime 
der  für  die  Pestabwehr  so  wichtig  gewordenen  Quarantäneeinrichtungen 
am  Mittelmeere,  aus  denen  sich  hier  wie  in  den  Binnenländern  neben 
der  Schaffung  eigener  Pestlazarette  ein  ganzes  System  von  pestpolizei- 
lichen Vorbauungs-  und  Tilgungsmassregeln  allmählich  entwickelt  hat. 

Am  Ausgange  des  Mittelalters  stand  trotz  aller  in  der  zweiten 
Hälfte  des  14.  und  während  des  15.  Jahrhunderts  vorübergegangenen 
Epidemien  in  Wesenheit  die  Pestlehre  noch  auf  der  Stufe,  welche 
das  ärztliche  Wissen  zur  Zeit  des  Schwarzen  Todes  einnahm.  Mit 
Ausnahme  der  Erkenntnis  der  Kontagiosität  der  Krankheit,  deren 
praktische  Verwertung  für  die  öffentliche  Wohlfahrt  nicht  hoch  genug 
zu  veranschlagen  Avar,  blieben  die  medizinischen  Fortschritte  nur  dürf- 
tige. Noch  stand  der  Glaube  an  die  Wirkung  astralischer  Einflüsse 
auf  die  Erzeugung  des  Pestgiftes  in  un geschwächtem  Ansehen,  noch 
bewegten  sich  die  Meinungen  der  Aerzte  in  blinder  Anhänglichkeit  an 
die  Lehren  Galens  und  Avicennas,  in  breiten,  gleichförmigen  Er- 
örterungen behandelten  die  Schriftsteller  das  alte  Thema  von  der  aus 
verborgenen  Ursachen  entsprungenen  Fäulnis.  Die  aus  diesem  ätio- 
logischen Momente  ausschliesslich  abgeleiteten  putriden  Fieber,  als  deren 
bösartigste  Form  die  Pestilenz  galt,  beschäftigten  naturgemäss  in  her- 
vorragendem Masse  die  medizinische  Spekulation,  indes  die  Therapie 
noch  keine  Abweichung  von  den  Vorschriften  der  Araber  ver- 
spüren Hess. 

Eine  unverkennbare  Wandlung  in  der  Lehre  von  den  Seuchen 
und  der  Pest  im  besonderen  erbrachte  das  16.  Jahrhundert,  mit 
welchem  wir  überhaupt  den  Aufschwung  der  Heilkunde  zu  begrüssen 


r 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  761 

gewohnt  sind.  Die  Pestepidemien  dieses  Zeitraumes,  an  Häufigkeit 
gewiss  gegen  das  vorangegangene  Säkulum  zurücktretend,  umfassten 
dennocli  eine  fortlaufende  Kette  von  Ausbrüchen,  die  in  gewissen 
Perioden  den  Charakter  einer  allgemeinen  Ausbreitung  angenommen 
haben.  So  bildete  Deutschland,  Holland,  Frankreich  und  Italien  schon 
innerhalb  der  ersten  zwei  Dezennien  den  Boden  ausgedehnter  Ver- 
heerungen, denen  sich  in  den  folgenden  Jahrzehnten  ein  nicht  minder 
stüimisches  Auftreten  der  Pest  zur  Seite  stellt.  Insbesondere  nimmt 
vom  Jahre  1550  an  die  Krankheit  an  epidemischer  Ausdehnung  zu 
und  ihre  nach  kurzen  Intervallen  stets  wiederkehrenden  und  heftigen 
Nachschübe  in  Italien,  Spanien  und  den  Niederlanden  bieten  den 
Aerzten  reiche  Gelegenheit  zu  Beobachtungen  und  Vergleichen.  Das 
Zusammentreffen  neuer  epidemischer  Krankheiten,  wie  des  Englischen 
Schweisses  und  der  Lustseuche  war  für  das  Studium  der  Seuchen  ein 
kräftiger  Ansporn  und  eröffnete  zugleich  die  Bahn  selbständiger  Unter- 
suchung. Namentlich  erweiterte  sich  in  der  Pestlehre  des  16.  Jahr- 
hunderts der  Begriff  des  Kontagiums  und  die  Unterscheidung  der  An- 
steckungswege, welche  naturgemäss  zu  einer  Sonderung  der  verschie- 
denen, bisher  keineswegs  in  ihrer  Eigenart  genügend  erkannten  Formen 
der  kontagiösen  Krankheiten  geführt  hat.  So  hat  Hieronymus 
Fracastoro  aus  Verona  1546  zuerst  die  Anschauung  von  einer  durch 
Berührung,  durch  Träger  und  die  Luft  d.  i.  auf  Entfernung  bewirkten 
Ansteckung  ausgesprochen  („contactu,  per  fomitem  et  quae  ad  distans 
fiat"),  und  diesen  Modalitäten  die  Entfaltung  bestimmter  Krankheits- 
keime (seminaria)  zu  Grunde  gelegt,  die  immer  weitere  Generationen 
erzeugen  und,  auf  andere  Körper  übertragbar,  die  Infektion  vermitteln. 
Immer  müssen  die  Keime  dieselben  sein,  die  gleiche  Kraft  besitzen, 
denn  die  gleiche  Ursache  ruft  auch  das  gleiche  Kontagium  hervor. 
Von  diesen  bemerkenswerten  Voraussetzungen  ausgehend,  gelangt 
Fracastoro  zur  Differenzierung  der  wahren  Pest  (febris  vere 
pestifera)  von  dem  pestartigen  Fieber  (febris  pestilens),  dessen  stets 
unter  Fäulnisbildung  einhergehende  Erscheinungen  er  wieder  auf  be- 
stimmte Grundursachen  und  auf  die  Entwicklung  besonderer  Keime 
zurückleitet. 

Es  wird  sich  bei  der  Besprechung  des  Fleckfiebers  Gelegenheit 
ergeben,  auf  die  scharfsinnigen  Gedanken  Fracastoros  zurückzu- 
kommen, der  mit  Recht  der  bedeutendste  Epidemiologe  seiner  Zeit  ge- 
nannt wird.  Ihm  zunächst  kommen  seine  Landsleute  AI  es sandro 
Massaria  und  Victor  de  Bonagent ibus,  die  an  den  ver- 
schiedenen Arten  der  Pestkrankheit  die  wichtige  Thatsache  demon- 
strieren, dass  das  Uebel  niemals  von  selbst,  noch  aus  einem  Verderbnis 
der  Luft  entstehe,  sondern  immer  durch  Verschleppung  seine  Ver- 
breitung finde.  Im  gleichen  Sinne  sprachen  sich  Forestus,  In- 
grassia  Boccangelino,  Prosper  Alpinus  u.a.m.  aus,  die  als 
sogenannte  Kontagionisten  und  als  Männer  des  Fortschrittes,  wie  dies 
für  alle  Stadien  der  Entwicklung  der  Wissenschaft  zutrifft,  von  den 
Gegnern  auf  das  heftigste  bekämpft  wurden.  Für  die  Gruppe  der 
Antikontagionisten  war  das  Dogma  der  Alten  allein  massgebend,  und 
sie  fand  eine  willige  Unterstützung  an  der  Schar  jener  Aerzte,  die 
den  Ideen  der  Neuplatoniker  ergeben,  aus  dem  geträumten  Zusammen- 
hange überirdischer,  geheimnisvoller  Kräfte  mit  den  dunkeln  Vor- 
gängen in  der  organischen  Welt  von  neuem  eine  Begründung  der 
Krankheitslehre  abzuleiten  sich  bemüht  hatte. 


762  Victor  Fossel.  i 

Aus  dem  Streite  der  Meinungen,  deren  Stärke  allerdings  mehr 
auf  theoretischer  Seite  gelegen  war,  ging  zunächst  die  Aufstellung 
der  „wahren,  echten  Pest"  neben  den  pestilentiellen  Fiebern  hervor, 
ohne  jedoch  sichere  Kennzeichen  für  die  Diagnose  und  Nosologie  fest- 
zustellen. Als  Arten  einer  und  derselben  Krankheit,  kam  ihnen  nur 
ein  gradueller  Unterschied  zu,  der  entweder  in  der  Malignität  an  sich, 
oder  in  ätiologischen  Ursachen  gesucht  wurde.  Nur  die  Pest  habe 
ihren  Ursprung  in  der  Luft,  die  bösartigen  Fieber  verpflanzen  sich 
durch  die  Nahrung  und  das  Trinkwasser.  Während  unter  den  auf- 
fälligsten lokalen  Erscheinungen  die  Bubonen  der  Pest,  die  Petechien 
den  pestartigen  Fiebern  als  charakteristische  Symptome  zuerkannt 
wurden,  wollten  andere  Aerzte  darin  gemeinsame  Merkmale  erblicken, 
von  deren  Vorwalten  und  Letalitätsgrade  es  abhinge,  ob  und  welche 
Pestform  vorlag.  In  dem  Bestreben,  den  Zwiespalt  zu  lösen,  verstand 
man  sich  dazu,  den  Uebergang  der  einen  Form  in  die  andere  zuzu- 
gestehen und  die  Verbreitung  der  Epidemien  bald  dem  „Kontagium", 
bald  einer  Undefinierten  Summe  von  Bedingungen  zuzuschreiben,  die 
in  der  Folgezeit  als  „epidemische  Konstitution"  den  weitesten  Spiel- 
raum geboten  und  den  Kontagionisten  wie  ihren  Wiedersachern  Rech- 
nung getragen  hat. 

Entsprechend  der  fortschreitenden  Auffassung  der  Verteidiger  der 
direkten  Ansteckung,  erfuhren  die  prophylaktischen  Schutzmittel  eine 
Erweiterung  und  Verschärfung.  Zu  oberst  stand  freilich  das  alte 
Mahn  wort,  die  Kontagion  zu  fliehen  in  ungeschwächtem  Ansehen. 
„Mox,  longe  tarde,  cede,  recede,  redi"  war  das  Leitmotiv  für  alle, 
die  die  Scholle  verlassen  konnten.  Immerhin  gewann  die  Therapie 
durch  die  bessere  Einsicht  der  Mehrheit  der  Aerzte  an  Vereinfachung. 
Diätetisches  Verhalten  und  reine  Luft  wurden  als  das  beste  Mittel 
zur  Verhütung  und  Behandlung  empfohlen,  hingegen  die  üblichen 
Purganzen,  Präservative  und  der  Aderlass  vielfach  als  schädlich  er- 
kannt. Andererseits  waren  die  Aerzte  des  16.  Jahrhunderts  mehr 
denn  je  von  der  Vi^irksamkeit  der  Gegengifte  bei  Bekämpfung  der 
Pest  überzeugt  und  ermüdeten  nicht,  in  ihren  Schriften  mit  allen 
"Waff"en  ihren  Standpunkt  zu  vertreten.  Theriak  und  Mithridat  standen 
als  Antidota  obenan,  Kampher,  armenischer  Bolus,  Bezoar  und  Edel- 
steine hatten  als  gift-  und  fäulniswidrige  Mittel  noch  nicht  an  An- 
sehen eingebüsst  und  die  Zahl  der  Amulette  vermehrte  sich  durch  die 
Anhängsel  von  Tieren,  Pflanzen  und  Mineralien,  denen  der  Aberglaube 
des  Zeitalters  neuen  Wert  verlieh. 

An  Bösartigkeit  und  Ausdehnung  standen  die  Pestepidemien  des 
17.  Jahrhunderts  jenen  der  vorangegangenen  Perioden  keinesfalls 
nach.  Während  der  ersten  zwei  Drittel  des  Säkulum  bildete  nahezu 
der  ganze  europäische  Länderkreis  den  Schauplatz  ihrer  wiederholten 
Verheerungen.  Schon  in  den  ersten  Jahren  wurde  Russland,  in  den 
Jahren  1603 — 1613  Deutschland,  die  Schweiz,  Frankreich,  die  Nieder- 
lande und  England  ergriffen  und  die  Centren  der  Bevölkerung  immer 
wieder  von  neuem  durch  Nachschübe  der  Pest  befallen.  Italien,  das 
im  Süden  schon  1620  schwer  unter  dem  Uebel  zu  leiden  hatte,  wurde 
von  demselben  in  den  Jahren  1629 — 1631  in  seiner  nördlichen  Hälfte 
mit  furchtbarer  Härte  betroffen.  Die  Drangsale  der  Mailänder  Pest 
des  Jahres  1630  haben  bekanntlich  Manzoni  den  Stoff  zu  einem  er- 
greifenden Gemälde  geboten.  Wie  die  Lombardei  wurden  auch  die 
angrenzenden  Staaten  Ober-  und  Mittelitaliens  zu  einem  Pestherde 


Geschichte  des  epidemischen  Ki-ankheiten.  763 

ausersehen,  für  dessen  Umkreis  Corradi  die  Verluste  an  Menschen- 
leben innerhalb  der  Jahre  1630  und  1631  auf  mehr  als  eine  Million 
berechnet  hat.  Wenige  Jahre  später  ist  es  Frankreich  und  Holland, 
wo  inmitten  kriegerischer  Ereignisse  die  Pest  und  andere  Lager- 
seuchen grosse  Verheerungen  nach  sich  zogen.  Welchen  Anteil  der 
Pest  unter  den  mörderischen  Epidemien  zufällt,  die  während  des 
30jährigen  unheilvollen  Krieges  über  Deutschland  hereingebrochen 
waren,  lässt  sich  trotz  Lammer ts  sorgfältiger  Schilderung  der 
Seuchenot  dieser  Zeit  heute  nur  schwer  ermessen,  Jahr  für  Jahr 
haben  uns  die  Chroniken  Aufzeichnungen  hinterlassen  von  dem  Elend 
und  Verderben,  welches  Pestilenz  und  andere  Volkskrankheiten  über 
das  von  der  Kriegsfurie  verwüstete  Eeich  gebracht,  doch  nur  spärlich 
fliessen  die  Quellen,  die  uns  näheren  Aufschluss  über  die  Natur  dieser 
Seuchen  geben  würden. 

Zu  einer  pandemischen  Verbreitung  erhob  sich  die  Pest  um  die 
Mitte  des  17.  Jahrhunderts.  Von  Frankreich  und  Spanien  grilf  sie 
nach  Italien  über,  wo  sie  über  ein  Jahrzehnt  lang  nicht  zum  Stillstand 
gelangte  und  u.  a.  in  Neapel,  Rom  und  Genua  1656 — 1657  von  einer 
entsetzlichen  Sterblichkeit  begleitet  war.  Gleichzeitig  war  sie  von 
der  Türkei  und  Russland  aus  nach  dem  Westen  vorgedrungen  und 
über  Dänemark  und  Deutschland  nach  Holland  und  weiter  nach  Eng- 
land gewandert.  In  London,  das  schon  1603  und  1625  die  Schrecken 
der  Pest  erfahren  hatte,  wütete  die  Seuche  das  ganze  Jahr  1665  hin- 
durch und  forderte  noch  im  folgenden  Jahre  ihre  Opfer,  deren  Ge- 
samtzahl mehr  als  70000  Tote  betrug.  Dieses  als  die  „gi-osse  Pest" 
vom  Volke  bezeichnete  Sterben  war  jedoch  glücklicherweise  der  Ab- 
schluss  der  Pestausbrüche  in  Britannien.  Auch  auf  weiten  Gebieten 
des  Festlandes  vollzog  sich  von  dieser  Zeit  an  ein  Rückgang  der  Pest, 
die  in  einzelnen  Ländern  von  nun  an  vollständig  erlosch,  in  anderen 
nur  noch  vorübergehende  lokale  Ausbrüche  im  Gefolge  hatte.  So 
blieben  Schweden,  Dänemark  und  Italien  schon  vom  Jahre  1657  an 
von  epidemischen  Pestseuchen  befreit,  Holland,  die  Niederlande. 
Belgien,  Frankreich  (ausschliesslich  der  Epidemie  im  Jahre  1720  im 
Süden  des  Landes),  die  Schweiz  und  das  westliche  Deutschland 
zählten  die  letzten  Pestjahre  im  Zeiträume  1667 — 1669.  auch  in  Spanien 
erreichte  die  Pest  mit  der  Periode  1677 — 1681  ihr  Ende. 

Während  der  Westen  unseres  Kontinents  schon  grösstenteils  von 
den  Schrecknissen  der  Seuche  erlöst  war,  fand  sie  im  Jahre  1675 
neuerlich  den  Eingang  vom  Osten  her,  wohin  sie  aus  Asien  und  Nord- 
afrika zugleich  verschleppt  worden  war.  Die  europäische  Türkei. 
Ungarn,  Polen,  Oesterreich  und  ein  grosser  Teil  von  Deutschland 
bildeten  den  Boden,  auf  welchem  die  Pest  verheerend  fortschritt  und 
ihre  Herrschaft  bis  zum  Jahre  1683  erstreckte.  Es  schien,  als  hätte 
auch  auf  diesem  Zuge  die  Seuche  nichts  an  ihrer  Kraft  eingebüsst, 
denn  erschreckend  lauten  die  Berichte  über  die  Höhe  der  Menschen- 
verluste. So  wurden  1679  in  Wien  annähernd  80000  Menschen  da- 
hingerafft, ungefähr  die  gleiche  Anzahl  Einwohner  verlor  Prag  im 
Jahre  1681.  in  vielen  deutschen  Städten  wurde  mehr  als  ein  Drittel 
der  Bevölkerung  die  Beute  des  Todes. 

Wenn  auch  die  andauernde  Pestnot  den  Aerzten  aller  Länder  ein 
reiches  Feld  der  Beobachtung  bot,  so  ist  dennoch  der  Litteratur  des 
17.  Jahrhunderts  nur  eine  geringe  Klärung  und  Förderung  der  medi- 
zinischen Anschauungen  zu  entnehmen.    Nach  wie  vor  standen  sich 


764  Victor  Fossel. 

Kontagionisten  und  An tikont agionisten  im  Kampfe  der  Meinungen 
gegenüber;  der  Streit  um  das  Kontagium,  in  zahllosen  gelehrten 
Schriften  von  neuem  erörtert,  war  nicht  darnach  beschaffen,  nüchternen 
Erwägungen  Raum  zu  gönnen.  Der  Wesenheit  nach  blieb  die  Pest- 
lehre weit  über  die  Mitte  des  Jahrhunderts  hinaus  unverändert  stehen 
und  erhielt  nur  durch  die  Ideen  der  Jatrochemiker  einen  neuen,  aber 
unfruchtbaren  Zuwachs  an  Erklärungsversuchen  des  Krankheits- 
prozesses. Eine  nicht  zu  verkennende  Schwierigkeit  lag  für  die  da- 
maligen Aerzte  zweifellos  in  dem  gehäuften  gleichzeitigen  Vorkommen 
der  Pest  und  der  „pestilenti eilen  Fieber",  aus  welchem  Dilemma 
wiederum  der  Glaube  an  die  Entwicklung  schwerer  Pestformen  aus 
milderen  ,,Fiebern"  neue  Nahrung  zog.  Die  von  Athanasius 
Kirche r  in  dunklen  Vorstellungen  geahnte  Lehre,  minimale,  nur  dem 
bewaffneten  Auge  sichtbare  Lebewesen  als  Keime  der  Ansteckung 
aufzufassen,  scheiterte  naturgemäss  an  der  Unzulänglichkeit  der 
Forschungsmittel  und  wurde,  so  sehr  sie  auch  den  Kontagionisten 
kräftige  Stütze  lieh,  vor  allem  im  Sinne  der  souveränen  Fäulnistheorie 
lebhaft  ausgemünzt.  Die  Pestschriften  des  Jahrhunderts  sind  von 
einer  gewissen  Eintönigkeit  nicht  frei  zu  sprechen,  namentlich  jener 
Aerzte,  welche  den  Galenischen  Traditionen  blind  ergeben  waren.  Die 
Konziliatoren,  wie  Dieme rbroek,  dessen  im  Jahre  1646  erschie- 
nenes Werk  das  grösste  Ansehen  unter  den  Zeitgenossen  gefunden 
hatte,  leisteten  mehr  der  Befestigung  hergebrachter  nosologischer  und 
therapeutischer  Doktrinen,  nicht  aber  dem  Fortschritte  einen  Dienst. 
Nur  vorsichtig  pflichten  sie  den  Verteidigern  der  Kontagiosität  bei, 
welche  jedoch  durch  die  Energie  ihrer  Beweisführung  und  —  was 
selbst  dem  starren  Zweifler  nicht  entgehen  konnte  —  durch  die 
alltäglich  wiederkehrenden  Thatsachen  immer  weiteren  Boden  für  die 
praktische  Verwirklichung  ihrer  Ziele  fanden.  Welchen  tiefeingreifenden 
Einfluss  endlich  Sydenham  auf  die  Lehre  von  den  epidemischen 
Krankheiten  geübt  hat,  wurde  schon  in  den  einleitenden  Worten  zu 
skizzieren  versucht.  Wie  sein  Lehrgebäude  über  ein  volles  Jahr- 
hundert der  Heilkunde  zur  Richtschnur  geworden  ist,  so  blieben  auch 
seine  Grundanschauungen  über  die  Aetiologie,  das  Wesen  und  die 
Behandlung  der  Volksseuchen  dominierend  für  das  medizinische 
Zeitalter. 

Während  sich  die  Pest  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts  vor- 
wiegend auf  den  Osten  Europas  zurückgezogen  hatte,  gelangte  sie 
dennoch  darüber  hinaus  auf  unserem  Kontinent  zu  vereinzelten, 
explosiven  Ausbrüchen.  Schon  am  Beginne  des  Säkulums  waren  Kon- 
stantinopel, die  europäische  Türkei  und  ihre  Nachbarländer  der  Sitz, 
ausgedehnter  Epidemien  der  Beulenpest,  die  in  den  Jahren  1707 — 1714 
in  Russland,  Polen,  in  den  Ostseeprovinzen,  Norddeutschland  ihre  Nach- 
schübe zeitigte  und  auf  exponierte  Küstenstädte  von  Dänemark  und 
Schweden  übergriff'.  Ueberall  war  die  Seuche  in  voller  Bösartigkeit 
aufgetreten  und  an  vielen  Orten  von  anderen  kontagiösen  Krankheiten 
begleitet.  So  zählte  u.  a.  1710  Kopenhagen  20000,  Stockholm  40000 
Opfer  der  Pest.  Vom  Jahre  1709  an  zog  sie  sich  nach  Ungarn  und 
Oesterreich,  kam  hier  jedoch  erst  im  Jahre  1713  zur  epidemischen 
Entwicklung  und  hielt  noch  im  folgenden  Jahre  ihre  Herrschaft  auf- 
recht. Wien,  Prag,  die  Sudetten-  und  Alpenländer  litten  schwer  unter 
diesem  Seuchenzuge,  mit  welchem  aber  endlich  im  Jahre  1714  die 
Pest  von  der  deutschen  Erde  verschwand.    Länger  erhielt  sie  sich  in 


Greschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  765 

Ungarn,  Siebenbürgen.  Polen,  in  der  Ukraine  und  den  Donauländern, 
wohin  sie  im  Jahre  1714  neuerlich  aus  der  Türkei  importiert  und 
durch  kriegerische  Bewegungen  weiter  verstreut  worden  war.  Ebenso 
wiederholte  sich,  wie  wir  vorgreifend  schon  hier  bemerken  wollen, 
infolge  der  fortdauernden  Türkenkriege  die  Verbreitung  der  Seuche 
innerhalb  der  Jahre  1738 — 1745  auf  dem  vorerwähnten  Ländergebiete 
und  dessen  Nachbarschaft,  ohne  jedoch  die  deutsche  Grenze  zu  über- 
schreiten. 

Eine  denkwürdige  Episode  in  der  Geschichte  der  Beulenpest 
bildet  ihr  Auftreten  in  Südfrankreich  in  den  Jahren  1720 — 1722. 
Durch  ein  am  25.  Mai  1720  aus  Syrien  angekommenes  Fahrzeug  in 
Marseille  eingeschleppt,  fand  sie  in  dieser  Stadt  in  kürzester  Zeit  eine 
rapide  Ausbreitung  und  raffte  binnen  15  Monaten  40000.  nach  anderer 
Angabe  64000  Menschen  dahin.  Zur  Zeit  der  Akme  belief  sich  an 
einzelnen  Tagen  die  Zahl  der  Pesttodesfälle  auf  1000  und  wiederholt 
ereignete  es  sich,  dass  ebensoviele  Leichen  ungeborgen  auf  der  Strasse 
lagen,  deren  Beseitigung  nui'  mit  Hilfe  von  Galeerensklaven  bewältigt 
werden  konnte.  Bald  nach  ihrem  Auflodern  in  Marseille  brach  die 
Pest  in  den  meisten  Städten  der  Provence  aus,  in  denen  sie  ebenso 
wie  in  den  Landbezirken  während  der  nächsten  zwei  Jahre  fürchter- 
liche Ernte  hielt.  Ueberwältigt  von  den  Schrecknissen  des  allgemeinen 
Sterbens,  griff  mau  zu  den  schärfsten  Massregeln  und  war  angesichts 
der  offenkundigen  Einschleppung  bemüht,  aus  dem  jeweils  glücklichen 
Erfolge  der  ins  Werk  gesetzten  Absperrung  des  menschlichen  Ver- 
kehres und  der  Vertilgung  verdächtiger  Waren,  Kleider  u.  s.  w.  neue 
Argumente  für  die  Durchführung  einer  strengen  Pestpolizei  zu  er- 
bringen. Hierzu  bot  nach  zwei  Jahrzehnten  die  Erfahrung,  die  man 
aus  dem  gänzlich  isoliert  gebliebenen  Pestausbruche  in  Messina  ge- 
zogen, neuen  Anlass.  Die  Stadt,  seit  1624  von  der  Pest  verschont, 
wurde  im  Jahre  1743  wie  vordem  Marseille  durch  ein  infiziertes  Schiff 
von  der  Seuche  betroffen  und  verlor  innerhalb  weniger  Monate 
30000  Einwohner.  Nur  die  strengste  Absperrung  gegen  die  schwer 
geprüfte  Stadt  verhütete  ein  weiteres  Umsichgreifen  des  Uebels. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  verengert  sich  das 
Herrschaftsgebiet  der  Beulenpest  im  Südosten  Europas  auf  ein  noch 
mehr  beschränktes  Territorium,  für  welches  die  Türkei  mit  einer  ge- 
wissen Gleichförmigkeit  als  die  Pforte  der  Invasionen  sich  verfolgen 
lässt.  So  wurden  in  den  Jahren  1755—1757  Siebenbürgen,  1770 — 1772 
während  des  russisch-türkischen  Krieges  die  Moldau  und  Walachei,  Klein- 
russland und  Podolien,  darauf  wieder  Siebenbürgen,  ferner  Polen  und 
Russland  von  der  Seuche  ergriffen.  In  Moskau,  wo  die  Epidemie  im 
Sommer  1771  den  Höhepunkt  erreicht  hatte,  wui'den  nicht  weniger  als 
52000  Opfer  der  Pest  gezählt.  Weiterhin  entwickelt  sie  sich  infolge 
von  Einschleppungen  1783  in  Dalmatien,  1786  abermals  in  Sieben- 
bürgen, 1795  in  Syrmien.  1798  in  Volhynien, 

Ueber  die  epidemische  Ausbreitung  der  Pest  ausserhalb  unseres 
Kontinents  in  diesem  Zeiträume  liegen  nur  unvollständige  Berichte 
vor.  Aus  ihnen  ist  zu  entnehmen,  dass  Aegypten  —  bis  zur  Mitte 
des  19.  Jahrhunderts  als  beständiger  Pestherd  geltend  —  nach  kurzen 
Intermissionen  immer  von  neuem  der  Schauplatz  verheerender  Aus- 
brüche der  Krankheit  war  und  diese  wiederholt  nach  der  Nordküste 
Afrikas  Eingang  fand.  Nicht  weniger  zahlreiche  Pestepideraien  ent- 
fallen auf  den  asiatischen  Boden,  insbesondere  auf  Syrien,  die  Klein- 


766  Victor  Fossel. 

asiatische  Küste  und  die  ihr  vorgelagerten  Inseln.  Der  Ausbruch  der 
Seuche  in  Aleppo  im  Jahre  1761  hat  durch  die  sorgfältige  Darstellung 
R  u  s  s  e  1  s  ein  allgemeines  Interesse  erweckt.  Mesopotamien  wurde  um 
das  Jahr  1773  von  der  Pest  schwer  heimgesucht.  In  Persien  herrschte 
die  Seuche,  wie  Tholozan  berichtet,  in  den  Jahren  1725—1726, 
1757—1758,  1760-1761,  1773—1774,  1797—1798,  meist  im  Nord- 
westen des  Reiches  beginnend  und  nach  Süden  allmählich  vorrückend. 

Je  mehr  sich  die  räumliche  Einschränkung  der  Pest  im  Laufe  der 
18.  Jahrhunderts  vollzogen  hatte,  desto  schärfer  trat  sie  dem  Blicke 
der  Beobachter  entgegen  und  umso  durchsichtiger  wurden  die  bisher 
unaufgeklärt  gebliebenen  Wege  ihrer  Verbreitung.  Wenn  auch  die 
Aufmerksamkeit  der  Aerzte  sich  ihrem  Wesen  zugewendet  hatte,  so 
gelang  es  nur  langsam,  in  der  Nosologie  und  Epidemiologie  bessere 
Begriffe  festzustellen  und  damit  die  hergebrachten  Einseitigkeiten  und 
Fehlerquellen  in  der  Pestlehre  zu  beseitigen.  Noch  standen  sich  am 
Ende  dieser  Periode  die  Anwälte  und  Zweifler  an  der  Kontagiosität 
des  Hebels  unversöhnt  gegenüber,  die  traditionelle  Auffassung,  als  sei 
die  Pest  nur  die  schwerste  Form  und  die  bösartigste  Steigerung  der 
verschiedenen  Gattungen  der  „Fieber"  beherrschte  in  voller  Gewalt 
die  ärztlichen  Schulen.  Aus  dieser  Konfundierung  allein  ergaben  sich 
die  unheilvollen  Irrtümer,  die  schweren  Konsequenzen,  die  insbesondere 
in  den  Anfangsstadien  der  Seuche  Aerzte  und  Behörden  zu  den 
schlimmsten  Missgriffen  verleiteten.  Doch  lässt  sich  nicht  verkennen, 
dass  mit  der  genaueren  Verfolgung  einzelner  Ausbrüche,  ihres  zeit- 
lichen und  örtlichen  Ganges  die  epidemiologischen  Berichte  an  Wert 
gewonnen  und  der  staatlichen  Fürsorge  auf  dem  Gebiete  der  öffent- 
lichen Gesundheitspflege  einen  gewichtigen  Dienst  geleistet  haben. 
Die  Kontagionisten,  die  schon  seit  der  letzten  Pestkatastrophe  in  der 
Provence  eindringlicher  denn  je  zuvor  die  Gefahren  der  Ansteckung 
nachgewiesen,  errangen  über  ihre  Gegner  entschiedenen  Vorsprung  und 
drängten  diese  immer  mehr  in  die  Stellung  der  Defensive.  Wir  müssen 
uns  hier  begnügen,  auf  Männer  wie  Muratori,  Kanold,  Mead, 
Chenot,  Howard  und  Rüssel  hinzuweisen,  die  an  der  Hand  der 
Thatsachen  die  vorbauende  Bekämpfung  und  energische  Abwehr  der 
Beulenpest  mit  kritischer  Schärfe  gelehrt,  jedoch  bei  der  Ungunst  der 
Zeitverhältnisse  nicht  immer  und  überall  für  die  Verwirklichung  ihrer 
Ratschläge  Gehör  gefunden  haben. 

Ueberblicken  wir  den  Gang  der  Pest  im  19.  Jahrhundert,  so 
haben  wir  vorerst  nachzutragen,  dass  sie  noch  am  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts in  Aegypten  und  den  Berberstaaten  erschienen  war.  Gleich- 
zeitig herrschte  sie  vom  Jahre  1798  bis  gegen  das  Jahr  1818  in  Kau- 
kasien,  1800—1801  in  Mesopotamien  und  Syrien.  Angeblich  durch 
französische  Truppen  wurde  die  Seuche  von  den  Ufern  des  Nils  nach 
Konstantinopel  eingeschleppt,  wo  sie  in  den  Jahren  1802  und  1803 
mit  voller  Heftigkeit  sich  behauptete.  Fünf  Jahre  darauf,  wahr- 
scheinlich mit  dem  kaukasischen  Seuchenherde  im  Zusammenhange 
stehend,  überfiel  sie  abermals  die  türkische  Hauptstadt  inmitten  der 
Wintermonate.  Auf  den  gleichen  Ursprung  darf  die  Invasion  der 
Pest  zurückgeführt  werden,  die  1807  über  das  russische  Gouvernement 
Astrachan,  1808  über  Saratow  sich  ausgedehnt  hatte.  Vom  Jahre 
1811  an  nahm  die  Krankheit  einen  neuen  Anlauf,  um  in  Aegypten 
wie  im  südöstlichen  Europa  ihre  Schrecken  zu  verbreiten.  Wiederum 
p,      vermittelte  ihr  die  europäische  Türkei  den  Weg  nach  den  Nachbar- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  767 

ländern  nnd  wie  Konstantinopel  wurden  im  Jahre  1812  Odessa, 
Podolien.  die  Krim,  Walachei  und  Siebenbürgen  auf  das  schwerste 
betrofien.  Auch  in  den  folgenden  Jahren  drang  die  Pest  in  Europa 
vor;  sie  suchte  1813  Bukarest  in  einem  heftigen  Ansturm  auf,  dem 
mehr  als  ein  Drittel  der  Bevölkerung  zum  Opfer  fiel.  In  Bosnien, 
welches  schon  durch  eine  vorangegangene  Hungersnot  auf  das  härteste 
mitgenommen  worden  war,  erlag  die  Hälfte  der  Bewohner  der  Seuche, 
die  sodann  in  den  Jahren  1814 — 1815  nach  den  Balkaninseln  zog  und 
in  der  österreichischen  Militärgrenze  wie  in  Dalmatien  Fuss  fasste. 
Innerhalb  dieses  Zeitraums  dauerte  die  Pest  in  Aegypten  fort,  sie 
verbreitete  sich  von  Alexandrien  nach  Malta,  wo  im  Jahre  1813  un- 
gefähr 6000  Menschen  umkamen  und  richtete  1815  in  Kairo  entsetz- 
liche Verwüstungen  an. 

Mit  dem  Yorstosse  der  Pest  nach  der  dalmatinischen  Küste  hing 
zweifellos  der  isoliert  gebliebene  Ausbruch  in  Apulien  zusammen,  der 
in  dem  Städtchen  Noja  im  Jahi^e  1815 — 1816  sich  ereignet  und  in  der 
Seuchengeschichte  durch  die  Strenge  der  gegen  die  Infektion  gerich- 
teten Massregeln  eine  gewisse  Berühmtheit  erlangt  hatte.  Eine  weit 
eingehendere  Herrschaft  gewann  die  Krankheit  in  den  Jahren  1816 
bis  1820  in  Konstantinopel,  an  der  arabischen  und  nordafrikanischen 
Küste.  Von  letzterer  wurde  sie  1820  nach  den  Balearischen  Inseln 
verschleppt  und  insbesondere  auf  Mallorka  zu  einer  schweren  Geissei 
der  Bevölkerung. 

Wenden  wir  uns,  in  der  Chronologie  der  Pest  fortfahrend,  vorerst 
dem  europäischen  Festlande  zu.  so  haben  wir  gegen  Ende  des  3.  De- 
zenniums des  erneuerten  Umsichgreifens  der  Seuche  in  Griechenland 
und  der  Türkei  zu  gedenken.  Wiederum  waren  es  kriegerische  Er- 
eignisse, welche  im  Jahre  1828  der  Verschleppung  der  Krankheit  aus 
Aegypten  nach  der  seit  langem  pestfreien  griechischen  Halbinsel  Vor- 
schub leisteten.  Gleichzeitig  trat  sie  in  den  Donau-Fürstentümern 
unter  den  russischen  Truppen  in  heftiger  Weise  auf,  unter  denen  sie 
in  Gemeinschaft  mit  anderen  Seuchen  noch  im  Jahre  1829  furchtbare 
Verwüstungen  bewirkte.  Lange  Zeit  hindurch  wurde  das  Vorkommen 
der  Pest  in  Abrede  gestellt  und  für  „Typhöses  Wechselfieber"  erklärt, 
bis  endlich  vor  der  Wucht  der  Thatsachen  die  Wahrheit  nicht  mehr 
zu  verbergen  war.  Inmitten  der  desparatesten  Gesundheitsverhält- 
nisse, unter  denen  die  Soldaten  wie  die  Civilbevölkerung  zu  leiden 
hatte,  entwickelte  sich  der  Hauptherd  der  Pest  in  Adrianopel,  von 
diesem  aus  entsprangen  Lokalepidemien  in  Kronstadt  und  in  Odessa, 
ohne  jedoch  weiter  um  sich  gegrifi'en  zu  haben.  Neuerliche  Pest- 
ausbrüche auf  europäischem  Boden  ereigneten  sich  in  den  Jahren  1834. 
1836,  1837  und  1839,  hauptsächlich  in  der  Türkei.  Nur  im  Jahre  1837, 
wo  innerhalb  weniger  Monate  die  Pest  in  Konstantinopel  20000—30000 
Opfer  forderte,  erschien  sie  gleichzeitig  in  Odessa  und  auf  der 
griechischen  Insel  Porös,  um  aber  binnen  kurzem  daselbst  zu  er- 
löschen. Seit  dem  letzten  Auftreten  der  Pest  in  Konstantinopel  im 
Jahre  1841  ist  die  europäische  Türkei  bis  zur  Gegenwart  von  einer 
Epidemie  dieser  Seuche  verschont  geblieben. 

Auf  afrikanischem  Boden  war  seit  altersher  Aegypten  ein  bevor- 
zugter Pestherd.  Auch  die  Ereignisse  seit  dem  Jahre  1820  schienen 
diese  Thatsache  in  Niederägypten  zu  bestätigen.  Seit  dem  Altertum, 
wie  Ruf  US  bezeugt,  galt  das  untere  und  mittlere  Nilland  als  die 
eigentliche  Ursprungsstätte  der  Pest.    Von  Prosper  Alpinus  an 


768  Victor  Fossel. 

bis  zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  waren  die  Aerzte  darin  einig,  alle 
Züge  der  Seuche  auf  Aegypten  und  Syrien  zurückzuführen.  Die  mit 
der  französischen  Invasion  an  der  Wende  des  18.  Jahrhunderts  zu- 
sammenfallenden und  seitdem  an  Ort  und  Stelle  fortgesetzten  medi- 
zinischen Studien  und  Beobachtungen  über  die  Krankheit  liehen  der 
Theorie  von  der  autochthonen  Entwicklung  der  Pest  in  Aegypten 
neue  Stützen.  Man  säumte  nicht  zur  Befestigung  dieser  Lehre  die 
klimatischen,  die  Boden-  und  Bewässerungsverhältnisse  des  Landes, 
die  durch  eine  mangelhafte  Leichenbestattung  angeblich  bedingte 
Fäulnis  und  Reproduktion  des  Pestgiftes  ätiologisch  zu  verwerten. 
Im  Zusammenhange  mit  der  traditionellen  Herrschaft  der  Pest  in 
Aegypten  waren  gerade  ihre  wiederholten  Ausbrüche  während  des 
Zeitraumes  von  1820 — 1844,  ungeachtet  der  lebhaften  Widersprüche 
von  gegnerischer  Seite  danach  angethan,  die  Annahme  einer  ende- 
mischen Lokalisation  der  Krankheit  zu  bekräftigen.  Nicht  weniger 
als  zehnmal  trat  hier  die  Pest  innerhalb  des  genannten  Zeitabschnittes 
auf  und  erreichte  in  mehreren  Jahren  eine  grössere  Extensität  sowie 
eine  längere  Dauer  der  einzelnen  Epidemieperioden.  Räumlich  blieb 
sie  nahezu  ausschliesslich  auf  das  Unterland  beschränkt  und  drang 
mit  Ausnahme  ihres  begrenzten  Aufflackerns  in  Algier  und  Tripolis 
im  Jahre  1837  längs  des  Mittelmeerufers  nicht  weiter  gegen  die  west- 
liche Nachbarschaft  vor.  Mit  dem  Jahre  1844  fand  jedoch  die  epi- 
demische Verbreitung  der  Pest  in  Aegypten  ihr  vorläufiges  Ende  bis 
zur  Gegenwart  herab  und  mit  dieser  geschichtlichen  Thatsache  hat 
auch  die  Lehre  von  der  Heimat  der  Krankheit  im  Pharaonenlande 
den  wesentlichsten  Halt  verloren. 

Von  hervorragender  Bedeutung  für  die  historische  Pathologie  der 
Beulenpest  sind  die  Nachrichten,  welche  über  das  Vorkommen  der 
Krankheit  auf  dem  asiatischen  Festlande  im  Laufe  des  19.  Jahr- 
hundert bekannt  geworden  sind.  Die  Geschichte  der  asiatischen  Seuche 
nimmt  trotz  der  anfänglich  dürftigen  und  bisher  noch  lückenhaften 
Berichte  ein  besonderes  Interesse  in  Anspruch;  sie  hat  das  Dunkel, 
das  vordem  über  die  östliche  Grenze  der  Pestzone  geherrscht,  nicht 
nur  aufgeklärt,  sondern  auch  die  Vorstellungen  von  dem  Geltungs- 
gebiete der  Krankheit  grundlegend  umgestaltet.  Mit  der  Erweiterung 
dieses  epidemiologischen  Gesichtskreises  wurde  auch  der  Blick  auf 
jene  lange  Zeit  hindurch  unerforscht  gebliebener  Länderkomplexe  ge- 
lenkt, in  denen  wir  bei  aller  Mangelhaftigkeit  unserer  Kenntnisse  von 
der  Vergangenheit  uralte  Sitze  der  Bubonenpest  vermuten  dürfen. 
Zudem  setzen  uns  die  in  neuerer  Zeit  auf  asiatischer  Erde  gewonnenen 
Aufschlüsse  über  die  Formen  und  das  Verhalten  der  Seuche  in  den 
Stand,  gewisse  Schlussfolgerungen  abzuleiten,  welche  sowohl  die  An- 
nahme einer  seit  den  ältesten  Epochen  der  Geschichte  ununterbrochenen 
Kontinuität  der  Krankheit,  wie  die  volle  Kongruenz  der  Gründzüge 
des  durch  Zeit  und  Raum  unverändert  gebliebenen  Bildes  der  Pest 
als  gesichert  hinstellen. 

üeberblicken  wir  zunächst  den  Zeitraum  vom  Jahre  1820  bis  zur 
Mitte  des  Jahrhunderts,  so  ist  in  Vorderasien  nahezu  gleichzeitig  mit 
dem  Auftreten  der  Pest  in  Aegypten  während  der  Jahre  1820 — 1843 
eine  Kette  von  Ausbrüchen  derselben  in  Syrien,  Kleinasien  und  Armenien 
zu  verzeichnen  und  deren  temporäres  Erscheinen  in  levantinischen 
Hafenstädten  beobachtet  worden.  Doch  mit  dem  Jahre  1843  war 
auch  auf  diesem  Gebiete  die  Seuche   erloschen.    In  Arabien  war  sie 


I 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  769 

seit  1815  nur  einmal,  und  zwar  im  Jahre  1832  an  der  Küste  in  bös- 
artiger Weise  aufgetreten,  drang  selbst  in  das  Innere  des  Landes  vor, 
ohne  aber  Mekka,  den  verhängnisvollen  Propagationsherd  der  Volks- 
krankheiten, berührt  zu  haben.  Auch  in  Mesopotamien  und  im  nord- 
westlichen Persien  beschränkt  sie  sich,  wenn  auch  verderbnisvoll  ge- 
worden, auf  eine  vom  Jahre  1828 — 1835  reichende  epidemische  Aus- 
breitung, mit  welcher  1828—1830  die  Epidemie  in  Kaukasien  gleichzeitig 
einherging.  Im  letzteren  Lande  rekrudeszierte  die  Seuche  in  weiterem 
Umfange  in  den  Jahren  1840 — 1843. 

Ueber  die  Herrschaft  der  Beulenpest  in  Indien,  welcher  moha- 
medanische  Geschichtsschreiber  schon  im  16.  und  17.  Jahrhundert  ge- 
denken, stammen  die  ersten  verwertbaren  Nachrichten  aus  dem  Jahre 
1815.  Ihre  Verheerungen  nahmen  auf  der  Insel  Katch  den  Anfang, 
griffen  in  den  folgenden  Jahren  auf  die  Provinzen  Gudscherat,  Sindh, 
Katjawar,  weiterhin  auf  die  angrenzenden  britischen  Besitzungen,  auf 
die  Distrikte  Buriad  und  Dollerad  über  und  fanden  ei-st  1821  in  Ahme- 
dabad  ein  Ende.  Vom  Jahre  1823  an  besitzen  wir  Kunde  von  einer, 
sicherlich  schon  seit  langer  Zeit  in  Nordindien  endemischen,  als 
„Mahamari"  oder  ,,Phutkiya  Eog"*  bezeichneten  Krankheit,  welche  die 
englisch-ostindischen  Aerzte  identisch  mit  der  wahren  Beulenpest  er- 
klären. Hir  Sitz  ist  das  im  Südwesen  des  Himalaya  gelegene  hohe 
Gebirgsland  der  Provinzen  Garhwal  und  Kumaun,  in  denen  von  jener 
Zeit  an  bis  zur  jüngsten  Gegenwart  eine  nur  von  kurzen  Pausen 
unterbrochene  Reihe  von  Pestausbrüchen  bekannt  geworden  ist.  Damit 
standen  vermutlich  die  von  Hirsch  erwähnten  Epidemien  der  legi- 
timen Beulenpest  in  den  Provinzen  Delhi  und  ßohilcand  1828 — 1829 
ebenso  im  Zusammenhange  wie  die  1836  vom  Handelsplatze  Pali  aus- 
gegangene, als  „Pali- Pest"  genannte  Epidemie,  welche  zwei  Jahre 
hindurch  vornehmlich  die  ßadschputana-Staaten  sowie  die  Staaten 
;Marwar  und  Merwar  schwer  heimgesucht  und  welche  die  frühere 
medizinische  Geschichtsschreibung  als  eine  besondere,  eigenartige 
Spezies  unter  dem  Namen  der  „indischen  Pest"'  irrtümlich  von 
der  Hauptseuche  differenziert  hatte. 

Ganz  ungenaue  Angaben  liegen  über  die  anfängliche  Verbreitung 
der  Pest  innerhalb  des  chinesischen  Reiches  vor.  Nur  dunkle  Tradi- 
tionen bezeichnen  die  Berglandschaften  der  Provinz  Jünnan  als  einen 
endemischen  Herd  der  Krankheit,  die  dort  unter  der  volkstümlichen 
Benennung  ,.Yangt-zu"  ungefähr  seit  dem  Jahre  1844  bekannt  ge- 
worden und  nach  Manson  durch  eine  den  jedesmaligen  Ausbrüchen 
vorangehende  Rattenpest  und  ein  seuchenartiges  Absterben  der  Haus- 
tiere charakterisiert  gewesen  ist.  Ob  die  Heimat  der  chinesischen 
Pest,  wie  Koch  annimmt,  nach  Thibet  zu  verlegen  sei,  gründet  sich 
mehr  auf  hypothetische  Schlüsse,  als  auf  Thatsachen,  doch  sprechen 
neuere  Forschungsergebnisse  immer  deutlicher  zu  Gunsten  dieser 
Annahme. 

Von  der  Mitte  des  Jahrhunderts  angefangen,  datiert  mit  dem  Er- 
scheinen der  Pest  an  der  Nordküste  von  Afrika,  mit  den  fortgesetzten 
Ausbrüchen  der  Krankheit  auf  dem  asiatischen  Kontinent  und  ihrem 
Auftreten  auf  europäischen  Boden,  an  den  Ufern  der  Wolga  die  neuere 
Periode  der  Geschichte  dieser  Seuche. 

In  Afrika  war  es  die  an  der  Nordküste  des  Landes  gelegene 
türkische  Provinz  Tripolis  und  deren  Hafenstadt  Benghasi,  die  in  den 
Jahren  1856 — 1857,  1858 — 1859  in  schwerer  Weise  von  der  Pest  be- 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  id 


770  Victor  Fossel. 

fallen  worden  war,  die  dann  noch  einmal  im  Jahre  1874  auf  diesem 
Platze  sich  erhoben  und  landeinwärts  fortschreitend  die  spärliche  Be- 
völkerung des  Hochplateaus  vom  Cyrenaika  grausam  betroffen  hatte. 
Auf  welchen  Wege  die  Bubonenpest  nach  der  tripolitanischen  Küste 
eingeschleppt  worden  war,  ist  bis  vor  kurzem  un ermittelt  geblieben. 
Erst  in  allerjüngster  Zeit  haben  Koch  und  Zupitza  anlässlich  der 
in  Kisiba,  im  Nordwesten  von  Deutsch-Ostafrika  gepflogenen  Studien 
über  die  unter  dem  Namen  „Rubwunga"  dort  seit  dem  Jahre  1890 
grassierenden  Beulenpest  festgestellt,  dass  dieselbe  seit  unvordenklichen 
Zeiten  in  Uganda  endemisch  sei.  Beglaubigten  Nachrichten  zufolge 
werde  die  Krankheit  durch  Sklaventransporte  nach  weit  entfernten 
Gegenden  verpflanzt  und  es  sei  demnach  mehr  als  wahrscheinlich,  den 
Ursprung  früherer  Pestepidemien  in  Aegypten  sowohl,  wie  jener  er- 
wähnten Ausbrüche  in  Tripolis  auf  diesen  Herd  im  Innern  Afrikas 
zurückzuführen. 

Einen  bedeutsamen  Schauplatz  der  Pest  in  dem  uns  beschäftigen- 
den Zeitabschnitte  bilden  Arabien,  Mesopotamien  und  Persien.  Was 
zunächst  die  arabische  Halbinsel  anlangt,  war  hier  die  Seuche  zum 
letzten  Male  im  Jahre  1832  erschienen.  Im  Jahre  1853  zeigte  sie  sich 
in  dem  Berglande  von  Assir  an  der  Westküste  des  Landes  und  ver- 
breitete sich  hier  in  grösseren  Dimensionen.  Von  neuem  nahm  die 
Pest  im  Jahre  1874  in  Assir  ihren  Ausgang,  überzog  das  arabische 
Binnenland,  wütete  daselbst  unter  den  sesshaften  Volksstämmen,  ohne 
jedoch  Mekka  berührt  zu  haben.  Neuere  Ausbrüche  der  Krankheit  in 
Assir,  welche  hier  sich  eingenistet  zu  haben  schien,  fallen  in  die 
Jahre  1879,  1889,  1890,  1892—1893  und  1895.  Die  in  Djeddah,  dem 
an  der  arabischen  Westküste  gelegenen  und  für  den  mohamedanischen 
Pilgerverkehr  so  überaus  wichtigen  Hafenorte,  in  den  Jahren  1897 
bis  1899  aufgetretenen  Pesterkrankungen  hängen,  soweit  die  Nach- 
forschungen ergeben  haben,  nicht  mit  dem  endemischen  Herde  in  Assir 
zusammen,  sondern  wurden  durch  den  maritimen  Verkehr  aus  gleich- 
zeitig verseuchten  Gegenden  des  asiatischen  Ostens  eingeschleppt. 

Mesopotamien,  seit  dem  Jahre  1835  durch  zwei  Dezennien  von  der 
Pest  verschont,  erfuhr  im  Jahre  1856  eine  neue  Invasion  der  Seuche 
die  vornehmlich  in  der  Provinz  Bagdad  (Alt-Babylonien,  Irak-Arabi) 
sich  verbreitete.  Von  neuem  erhob  sie  sich  im  Jahre  1867  und  ge- 
staltete sich  zu  einer  mörderischen  Epidemie,  die  hauptsächlich  die  am 
rechten  Ufer  des  Euphrat  gelegene  Ebene  von  Hidijeh  befiel.  Ohne 
in  den  darauffolgenden  Jahren  zu  erlöschen,  nistete  sie  sich  in  unge- 
zählten Ansiedelungen  ein,  exacerbierte  daselbst  oftmals  in  foudroy- 
anten  Erkrankungsfällen  und  wurde  mittels  der  landesüblichen  Leichen- 
transporte nach  weiten  Entfernungen  übertragen.  Immer  mächtiger 
war  die  Krankheit  im  Lande  angewachsen,  die  im  Jahre  1873  als 
Epidemie  den  grössten  Teil  Mesopotamiens  überzog,  nach  der  persi- 
schen Provinz  Chusistan  übergriff,  im  Westen  bis  zur  Syrischen  Wüste, 
im  Süden  bis  Divianah  vordrang,  und  fünf  volle  Jahre  nicht  zum  Still- 
stand kam.  Diese  als  „grosse  babylonische  Pest"  bezeichnete  Epi- 
demie, die  in  Dagarra  und  Affij  in  ihrer  Akme  dem  ganzen  Bilde  des 
Schwarzen  Todes  vergleichbar  war  und  zahlreiche  Dörfer  gänzlich  ent- 
völkert hatte,  forderte  ungeheuere  Opfer,  deren  Höhe  jedoch  nicht 
einmal  für  die  Stadt  Bagdad,  wo  sie  1874—1876  gewütet,  annähernd 
sich  ermitteln  liess.  Anfänglich  von  den  Aerzten  für  „Intermittens 
bubonica  remittensque"  gehalten  oder  als  „Typhus  loimoides  non  con- 


r 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  771 

tagiosus"  ausgelegt,  wurde  die  Seuche  ihrem  eigentlichen  Wesen  nach 
ei-st  erkannt,  bis  die  rapide  Sterblichkeit  und  die  Häutigkeit  der  unter 
den  Erscheinungen  der  Pestpneumonie  lethal  verlaufenden  Fälle  den 
Blick  der  Beobachter  geschärft  hatte. 

An  diese  bis  in  das  Jahr  1878  hinüber  reichende  Epidemie  in 
Mesopotamien,  die  mit  den  gleichzeitigen  und  heftigen  Ausbrüchen  der 
Seuche  in  Persien  gewiss  in  ursächlichen  Zusammenhang  zu  bringen 
ist,  schloss  sich  der  Zeitfolge  nach  die  denkwürdige  Invasion  der  Pest 
im  russischen  Gouvernement  Astrachan.  Wie  von  dem  verspätet  ein- 
getroffeneu europäischen  Kommissionen  nachträglich  festgestellt  werden 
konnte,  war  die  Krankheit  im  Herbst  1878  in  die  am  unteren  Laufe 
der  Wolga  gelegene  Ortschaft  Wetljanka  eingeschleppt  worden,  griff 
unter  den  Dorfbewohnern  um  sich  und  erreichte,  nachdem  etwa  ein 
Fünftel  der  Bevölkerung  ihr  erlegen  war,  um  die  Mitte  Januar  1879 
spurlos  ein  Ende,  während  die  Verluste  in  mehreren  gleichzeitig  in- 
fizierten Nachbardörfern  nur  geringe  waren.  Die  Frage,  ob  diese  Auf- 
sehen erregende  Lokalepidemie  mit  den  Yfanderungen  der  Pest  in 
Mesepotamien  und  Persien  im  Konnex  gestanden  war,  entzog  sich  da- 
mals der  Nachforschung,  wird  aber  heute,  wo  einigermassen  das  Dunkel 
über  die  Wege  der  Krankheitsverbreitung  erhellt  ist,  kaum  anders  als 
im  bejahenden  Sinne  beantwortet  werden  können. 

Auch  nach  Ablauf  des  Jahres  1879  war  die  Pest  in  Mesopotamien 
ebensowenig  wie  in  Persien  zur  Ruhe  gekommen.  Ton  den  kurdischen 
Bergen,  welche  Tholozan  als  Ursprungsstätte  der  mesopotamischen 
Pestausbrüche  angesehen  wissen  will,  von  Kurdistan  bis  hinab  in  die 
vom  Euphrat  und  Tigris  durchströmte  Ebene  zog  sich  die  Seuche  fort, 
entwickelte  sich  1880—1881  in  Bagdad  zu  einer  schweren  Epidemie, 
deren  Ausläufer  noch  drei  Jahre  lang  andauerten,  während  im  übrigen 
Lande  erst  mit  dem  Jahre  1886  ein  entschiedener  Nachlass  zu  ver- 
zeichnen war.  Leber  die  im  Jahre  1892  in  Bagdad,  Kut,  Nasrie  und 
Bassora  aufgetretene  Beulenpest  konnten  wir  nichts  näheres  ermitteln. 

In  Persien  war  die  Krankheit  seit  dem  Jahre  1835  erloschen.  Sie 
zeigte  sich  erst  wieder  1863  im  persischen  Kurdistan,  tauchte  1867  in 
der  Provinz  Chusistan  und  deren  Hauptstadt  Schuster  in  stärkerer 
Weise  auf,  wohin  sie  durch  Pilgerkarawanen  aus  Mesopotamien  ver- 
schleppt worden  war.  Ende  1870  \mräe  das  westliche  Grenzgebiet 
von  Kurdistan  verseucht  und  eine  grosse  Zahl  von  Dörfern  völlig  ent- 
völkert. Dem  im  Jahre  1876  in  der  Provinz  Chorassan  erfolgten 
Pestausbruche  reihte  sich  im  folgenden  Jahre  eine  über  die  am  Süd- 
ufer des  Kaspischen  Meeres  gelegenen  Provinzen  Aberbeidschan  und 
Gilan  ausgedehnte  Epidemie  an.  Ueber  Chorassan  fortschreitend,  be- 
wegte sich  der  Seuchenzug  zunächst  in  der  Richtung  gegen  die  Stadt 
Rescht,  weiterhin  gegen  Osten  über  Herat  nach  Afghanistan,  während 
die  Krankheit,  die  gleichzeitig  im  Westen  Persiens  aufgetreten  war, 
hier  noch  im  Jahre  1878  anhielt.  Schon  1880  entwickelte  sich  die 
Bubonenpest  im  persischen  Kurdistan  und  in  der  Provinz  Chorassan 
von  neuem  an  mehreren  Plätzen,  wanderte,  ohne  grössere  Dimensionen 
anzunehmen,  1881  —  1883  auf  diesem  Gebiete  umher  und  erhob  sich 
erst  1884  in  Luristan,  1885  in  der  Umgebung  von  Hamadan,  1886  in 
Asterabad  und  1887  in  Mesched  zu  epidemischer  Gestalt.  Mit  letzteren 
Infektionscentren  dürfen  wir  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  die  im 
Zeiträume  1884 — 1886  unter  den  russischen  Besatzungstruppen  der 
Zitadelle   von   Merv  sowie   die  1887   in  Tauris   aufgetretenen  Pest- 

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772  Victor  Fossel. 

erkrankungen  in  ursächliche  Verbindung  bringen.  Innerhalb  der  Jahre 
1889 — 1891  war  das  Vorkommen  der  Krankheit  im  persischen  Reiche 
auf  engere  Kreise  beschränkt.  Hingegen  erfolgte  1892  ihr  neuerlicher 
Ausbruch  in  Asterabad,  wohin  sie  aus  der  mesopotamischen  Totenstadt 
Kerbela  verschleppt  worden  sein  soll;  von  dem  genannten  Herde  griff 
sie  nach  Turkestan  über  und  raffte  in  Askabad  binnen  sechs  Tagen 
von  den  30000  Einwohnern  1303  hinweg.  Ebenso  plötzlich,  wie  die 
Seuche  erschienen,  war  sie  wiederum  verschwunden. 

Bemerkenswert  erscheinen  die  von  europäischen  Aerzten  des 
Landes,  wie  Tholozan,  Adler,  Bertoletti  mitgeteilten  Be- 
obachtungen, wonach  die  Pest  in  milderer  Form  und  durch  längere 
Zeit  auf  einzelne  Dörfer  oder  nur  auf  bestimmte  Behausungen  begrenzt 
blieb,  nach  wechselnden  Intervallen  daselbst  wieder  zum  Vorschein 
kam,  um  dann  oft  plötzlich  an  weit  von  einander  gelegenen  Sitzen 
aufzuflammen  und  zu  einer  förmlichen  Epidemie  sich  zu  gestalten. 
Einstimmig  werden  die  Pilger-  und  Handelswege  als  bevorzugte  Pest- 
routen bezeichnet  und  die  grossen  Totenkarawanen,  die  alljährlich 
tausende  von  Leichen  nach  den  geheiligten  Grabstätten  der  Schiiten, 
Kerbela  und  Nedjef  in  Mesopotamien  sowie  nach  Mesched  in  Persien 
befördern,  als  gefahrvolle  Vermittler  der  Seuchenzerstreuung  be- 
schuldigt. 

In  Vorderindien  war  die  Pest  seit  den  fünfziger  Jahren  in  mehr 
oder  weniger  ausgedehnten  Ausbrüchen  vorwiegend  in  Garhwal  und 
Kumaun  aufgetreten  und  wiederholt  nach  dem  Pandschab  und  nach 
der  Provinz  Delhi  gelangt.  Hier  im  Nordwesten  Hindostans  knüpft 
sich  die  Propagation  der  Pest,  analog  der  Cholera,  hauptsächlich  an 
die  Wege  des  Karawanen-  und  Pilger  verkehr  es.  Auch  mag,  wie 
Hank  in  angibt,  der  Umstand  wesentlich  zur  Verstreuung  des  Krank- 
heitskeimes beitragen,  dass  die  Bewohner  von  Garhwal  und  Kumaun 
ihre  Dörfer  verlassen,  wenn  die  Seuche  durch  ein  massenhaftes  Eatten- 
sterben  sich  anmeldet. 

Die  an  der  Küste  Vorderindiens  in  den  letzten  Jahren  bekannt 
gewordenen  Pestepidemien  hängen  mit  den  gleichzeitigen  Zügen  der 
Seuche  in  China  so  eng  zusammen,  dass  es  der  Uebersicht  halber  an- 
gemessen erscheint,  dieselben  unter  einem  zu  besprechen.  Welche 
Pestereignisse  sich  in  der  Provinz  Jünnan,  dem  Stammsitze  des  Uebels, 
in  den  letzten  Dezennien  abgespielt  haben  mögen,  ist  bisher  nicht  in 
die  Oeffentlichkeit  gedrungen.  Schwere  Epidemien  sollen  hier  1871 — 
1873  und  1879  gewütet  haben.  Vom  Jahre  1893  an  griff  die  Beulen- 
pest nach  der  chinesischen  Provinz  Kouang-Si  über,  erschien  nach 
Süden  sich  wendend,  in  Pakoi,  um  weniges  später,  den  Handelstrassen 
in  östlicher  Eichtung  folgend,  in  Kanton,  wo  1894  eine  beträchtliche 
Epidemie  den  Anfang  nahm  und  erst  zwei  Jahre  darauf  erlosch. 
Dem  Kantonflusse  entlang  schritt  die  Seuche  1894  an  der  südchine- 
sischen Küste  fort  und  setzte  sich  in  Amoy,  Swatow,  sodann  auf  den 
Inseln  Formosa,  Hainan  und  Hongkong  fest.  Die  Epidemie  auf  Hong- 
kong, unter  welcher  die  Hauptstadt  Viktoria  schwer  zu  leiden  hatte, 
bildet  in  der  Geschichte  der  Krankheit  einen  wichtigen  Abschnitt, 
denn  sie  bot  Gelegenheit,  dass  Kitasato  und  Y ersin  voneinander  un- 
abhängig daselbst  im  Jahre  1894  den  spezifischen  Mikroorganismus 
der  Pest  entdeckt  und  damit  die  neue  Pestlehre  begründet  haben. 
Auf  Hongkong  rekrudeszierte  die  Seuche  in  den  nächsten  zwei  Jahren, 
sie  fand  1895  Eingang  in  Makao  und  wurde  im  August  1896  nach 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  773 

Bombay  verschleppt,  ohne  dass  festzustellen  war,  ob  die  Infektion  auf 
dem  Seewege  von  China  aus  oder  durch  Pilger  aus  Nordindien  dahin 
gekommen  war.  In  der  Stadt  Bombay  sowohl,  wie  in  der  gleich- 
namigen Präsidentschaft,  besonders  in  Kurrachee,  Pooua  u.  a.  0.  ge- 
wann die  Seuche  einen  bedeutenden  Umfang.  Wenn  auch  im  Sommer 
1897  ein  erheblicher  Xachlass  zu  verzeichnen  war,  so  erfolgte  doch 
binnen  wenigen  Monaten  ein  gewaltiger  Nachschub  der  Epidemie,  die 
auf  dem  ganzen  Gebiete  in  diesem  und  dem  folgenden  Jahre  anhielt 
und  nach  dem  Hinterlande,  nach  dem  Dekan,  Pandschab  und  den 
Nordwestprovinzen  vordrang,  sowie  1898  in  Calcutta  Einkehr  hielt. 
In  der  Präsidentschaft  Bombay  zogen  sich  die  Ausläufer  der  Pest  bis 
in  das  Jahr  1899  hinüber.  Nach  S  i  m  o  n  d  betrug  in  der  Stadt  Bombay 
vom  August  1896  bis  August  1898  die  Zahl  der  Opfer  32000.  In 
den  verseuchten  hindostauischen  Landesteilen  wurde  innerhalb  dieser 
Periode  die  Höhe  der  durch  die  Pest  herbeigeführten  Todesfälle  auf 
ungefähr  eine  Viertelmillion  berechnet.  Die  Epidemie  in  Bombay,  mit 
dem  ganzen  Aufgebote  moderner  Forschungsmethoden  von  den  aus 
Deutschland,  Oesterreich  und  Russland  im  Jahre  1897  dahin  entsendeten 
ärztlichen  Kommissionen  beobachtet,  wurde  bekanntlich  zum  Ausgangs- 
punkte bahnbrechender  Aufschlüsse  über  die  Nosologie  und  patholo- 
gische Anatomie  der  Beulenpest,  deren  nähere  Beleuchtung  jedoch  heute 
noch  nicht  den  Gegenstand  geschichtlicher  Besprechung  bilden  kann. 

Wie  in  Ostindien  war  in  China  die  Seuche  in  den  Jahren  1898 — 
1899  auf  vielen  Plätzen,  u.  a.  in  Kanton,  Hongkong,  Amoy,  Formosa 
neuerlich  erschienen.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  ihre  seit  dem 
Jahre  1896  konstatierte  Verschleppung  nach  weitentlegenen  Punkten 
der  Erde.  So  gelangte  sie  nach  Madagaskar,  Mauritius,  Südafrika, 
den  Philippinen,  Sandwichinseln,  Australien,  Djeddah,  Alexandrien, 
nach  einzelnen  europäischen  und  südamerikanischen  Häfen.  Wenn  an 
allen  diesen,  zweifellos  durch  den  maritimen  Verkehr  infizierten  Plätzen 
die  Pest  nicht  zu  bedrohlichen  Epidemien  sich  steigerte,  so  hatte  sie 
doch  in  Oporto  während  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1899  eine 
grössere  Intensität  gewonnen  und  unter  305  Erkrankungen  110  Todes- 
falle zur  Folge  gehabt. 

In  das  Jahr  1898  fielen  endlich  die  Ausbrüche  der  Pest  in  der 
Mongolei  und  in  der  in  Zentralasien  gelegenen  russischen  Besitzung 
Samarkand.  Auf  ersterem  Gebiete  wurde  nach  Matignon  die  Krank- 
heit im  Distrikte  Atchinski  seit  dem  Jahre  1888  beobachtet  und  1898 
in  weiterem  Umfange  herrschend  konstatiert.  In  Samarkand  be- 
schränkte sich  1898  die  Seuche  auf  das  Dorf  Anzob,  woliin  sie  an- 
geblich aus  Turkestan  importiert  worden  war. 


n.  Fleckfieber. 
Litteratur. 

F'racastoro,  I.  c.  1550.  —  Huland,  De  perniciosae  luis  ungaricae  . . .  trac- 
tatus,  1600.  —  Willis,  Opera,  1681.  —  Monro,  Beschreibung  d.  Krankheiten  der 
brit.  Feldlazarethen  1761—63,  1766.  —  Pringle,  Beobachtungen  üb.  d.  Krankheiten 
der  Armeen,  1772.  —  Grant,  Xeue  Beob.  üb.  d.  ansteckd.  faul.  .  .  .  Catarrhalfieber, 
1778.  —  le  Brun,  Neues  System  üb.  die  faulen  .  .  .  Intestinalfieber,  1792.  — 
Ilecker,  Ueber  die  Nerven-  und  Faulfieber,  1810.  —  Hartinann,  Theorie  des  an- 
steckenden Typhus,  1812.  —  JitisoH,  Storia  dclla  febre  petechiale  di  Genova,  1812.  — 


774  Victor  Fossel. 

Larrey f  Memoires,  IV  vol.  1812—17.  —  Hörn,  Erfahrungen  üb.  d.  ansteckd. 
Nerven-  und  Lazarethfieber,  1814.  —  Htifeland,  lieber  die  Kriegspest,  1814.  — 
Hildenbrandf  lieber  den  ansteckd.  Typhus,  1815.  —  l*feufer,  Beiträge  z.  Gesch. 
des  Petechialfiebers,  18S1.  —  Hecker,  Gesch.  der  neueren  Heilkunde,  1839.  — 
Suchanek,  Typhusepidemien  in  Schlesien,  Prag.  Vierteljahrsch.,  21.  Bd.  ff.,  1349. 

—  üieche,  Der  Kriegs-  und  Friedentyphus  in  d.  Armeen,  1850.  —  Pastinuer, 
lieber  die  ansteckd.  Typhus,  1859.  —  3IurcMson,  Die  typhoiden  Krankheiten, 
deutsch  V.  Zülzer,  1867.  —  Kannyn,  Bericht  üb.  d.  exanthem.  Typhus  in  Ost- 
preussen,  Berl.  Min.  Wochsch.  Seite  237  ff.,  1868.  —  Virchoiv,  Heber  den  Hunger- 
typhus und  einige  verwandte  Krankheiten.    In  Gesammelt.  Ahhandlgn.,  I.  Bd.,  1879. 

—  Uetterodt  von  Scharfenherg,  Zur  Geschichte  der  Heilkunde,  1875.  —  Herr- 
mann, Die  Flecktyphus-Epidemie  in  Petersburg  1874J75,  Petersb.  m.  W.  No.  16 
ti.  17,  1876.  —  Pistor,  Die  Flecktyphus-Epidemie  in  Oberschlesien  1876\77,  Viertel- 
jsch.  f.  ger.  Med.  N.  F.  29.  Bd ,  1878.  —  Virchoiv,  Kriegstyphus  und  Ruhr,  Virch. 
Arch.  52.  Bd.  1871.  —  Michaelis,  Der  exanth.  Typhus  in  d.  russ.  Armee  .  . . 
1877178,  Gest.  militärärztl.  Zeitsch.  1882.  —  Simon,  Der  Flecktyphus  in  s.  hyg. 
n.  sanitätspol.  Beziehung,  D.  Vierteljsch.  f.  öff.  Gesundhpifl.  III.  Heft,  1888.  — 
Györy,  Morbus  hungaricus,  1901.  —  Ebstein,  Die  Krankheiten  im,  Feldzuge  gegen 
Russland  (1812),  1902. 

Die  geringe  Beaclitung  exanthematischer  Krankheitsprozesse  hat 
dem  Fleckfieber  während  des  g'anzen  Altertums  und  Mittelalters  keine 
umgrenzte  Stellung  in  der  Reihe  der  damals  bekannt  gewordenen 
Krankheitsformen  eingeräumt.  Die  Schwierigkeit,  das  Fleckfieber  in 
der  älteren  Geschichte  der  Volkskrankheiten  auszuscheiden,  wird  zur 
Unmöglichkeit,  wenn  man  seine  Aehnlichkeit  und  Verwandtschaft  mit 
anderen  Infektionskrankheiten  in  Betracht  zieht,  die  selbst  bis  in  die 
neuere  Zeit  zur  Verwechslung  des  exanthematischen  Typhus  z.  B.  mit 
der  Bubonenpest,  mit  dem  Abdomin altyphus  nicht  etwa  bloss  in  iso- 
lierten Fällen,  sondern  auch  bei  gehäuftem  Vorkommen  bis  zur  voll- 
ständigen Täuschung  über  den  Charakter  der  Anfangsstadien  einer 
Epidemie  geführt  hat. 

Dieser  Grund  vermochte  über  die  Versuche  nicht  hinwegzuhelfen, 
das  Alter  des  Fleckfiebers  aus  den  Schriften  der  Alten  annähernd 
bestimmen  zu  wollen.  Es  widerspricht  unserer  modernen  Auffassung, 
lediglich  aus  der  vagen  Bezeichnung  eines  einzelnen  Symptoms  die 
ganze  spezifische  Krankheitsform  gleichsam  rekonstruieren  zu  wollen. 
Demnach  kann  die  in  den  Schriften  der  Hippokratiker  vorkommende, 
als  „Ti)(jpog"  (Rauch)  benannte  Umnebelung  der  Sinne  oder  die  darunter 
verstandene  Neigung  zum  Stupor  nicht  beweiskräftig  genug  erscheinen, 
um  in  solchen  mit  derartiger  Erscheinung  komplizierten  Fällen  das 
Fleckfieber  sicher  erkennen  zu  wollen.  Abgesehen  von  der  durch 
äussere  Momente  bedingten  Konfundierung  älterer  Epidemieberichte, 
ist  das  obzwar  häufige  und  charakteristische  Auftreten  des  Fleck- 
typhus inmitten  von  Kriegen,  Hungersnöten  und  anderen  Kalamitäten 
noch  immer  nicht  massgebend  genug,  um  daraus  feste,  jedoch  historisch 
nicht  motivierte  Rückschlüsse  auf  die  Verbreitung  der  Krankheit  in 
früherer  Zeit  abzuleiten,  obgleich  die  Vermutung  keineswegs  von  der 
Hand  zu  weisen  ist,  dass  in  vielen  Seuchen  der  Vergangenheit  dem 
Fleckfieber  wahrscheinlich  auch  in  dem  Gemenge  von  Infektions- 
krankheiten ein  gewisser  und  vielleicht  beträchtlicher  Anteil  zuge- 
kommen sein  mag.  Erst  mit  dem  XVI.  Jahrhundert  tritt  der  Typhus 
exanthematicus  aus  dem  Dunkel,  das  er  bisher  in  der  Pathologie  über- 
haupt und  in  seiner  steten  Vermengung  mit  der  Bubonenpest  im  be- 
sonderen eingenommen  hatte,  klarer  hervor.  Es  ist  das  grösste  Ver- 
dienst des  Veroneser  Arztes,  Hieronymus  Fracastoro  in  seinem 
klassischen  Buche   „De  contagione  et  contagiosis  morbis" 


I 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  775 

die  erste  und  sichere  Schilderung  des  Flecktyphus  niedergelegt  zu 
haben.  Er  unterschied  unter  der  Gruppe  der  „contagiösen  Fieber'^ 
die  wahre  Pest  von  den  nicht  pestilentiellen  Fiebern  und  stellte 
zwischen  beide  Kategorien  eine  besondere  Art  als:  ,. lenticulae, 
vel  puncticulae  aut  peticulae",  welche  Fieberform,  obwohl 
sie  den  ärztlichen  Vorfahren  nicht  unbekannt  geblieben,  zum  ersten- 
mal in  Italien  in  den  Jahren  1505  und  1528  aufgetreten  und  aus 
Cvpern  und  seinen  benachbarten  Inseln  eingeschleppt  worden  sei. 
Unter  genauer  Beobachtung  des  gesamten  Krankheitsprozesses,  unter 
anschaulicher  Darstellung  der  wesentlichsten  Symptome  und  strenger 
Differenzierung  derselben  von  der  Pest  (Febris  vere  pestilens)  betont 
F  r  a  c  a  s  1 0  r  0  den  Zusammenhang  der  Seuche  mit  Misswachs,  Hunger 
und  Krieg,  ihre  Kontagiosität  und  Verbreitung  aus  Italien  nach  an- 
deren Ländern  durch  Infizierte.  Charakteristisch  war  für  die  Be- 
zeichnung, welche  Fracastoro  der  Krankheit  gegeben,  deren  eigen- 
tümlicher, roter  und  flohstichähnlicher  Ausschlag.  Wenngleich  bei 
diesem  Autor  die  Nosologie  des  Fleckfiebers  mit  voller  Deutlichkeit 
abgehandelt  und  ausdrücklich  hervorgehoben  wird,  dass  dasselbe  nicht 
die  wahre  Pest,  wohl  aber  „an  der  Schwelle  derselben"  stehend  sei  und 
auch  in  der  Heftigkeit  der  Ansteckung  gegen  letztere  zurücktrete,  so 
vermag  sich  Fracastoro  von  der  Galenischen  Lehre  der  verborgenen 
Ursachen  und  der  Fäulnis  des  Blutes  nicht  zu  befreien  und  erklärt  als 
die  vornehmste  Ursache  der  Krankheit  eine  ..Infektion  der  Luft", 
welche  ihrer  fauligen  Beschaffenheit  nach  auch  das  kritische  Exanthem 
produziere,  dessen  rasche  Entwicklung  sogar  als  ein  günstiges  Heil- 
bestreben der  Natur  angesehen  werden  müsse.  Im  gleichen  Sinne  und 
kaum  von  der  herrschenden  Pestlehre  abweichend  beurteilen  andere 
hervorragende  Aerzte  des  16.  Jahrhunderts  die  „neue  Krankheit"  die 
ihrer  Analogie  wegen  bald  mit  dem  Namen  ..Petechialfieber*'  oder 
„Pestilenzfieber"  in  specie  belegt,  jedoch  noch  lange  hinaus  nicht 
strenge  genug  von  der  Drüsenpest  geschieden,  vielmehr  als  eine  mil- 
dere Abart  derselben  angesehen  oder  den  sogenannten  malignen 
Fiebern  zugezählt  wird. 

Das  16.  Jahrhundert  bot  reichliche  Gelegenheit  zur  Beobachtung 
des  exanthematischen  Typhus,  besonders  während  seines  ersten  Auf- 
tretens in  den  südlichen  Ländern  Europas.  Der  Epidemie  vom  Jahre 
1505  in  Italien,  welcher  schon  Fracastoro  gedenkt,  folgte  im  Zeit- 
räume von  1524 — 1530  eine  über  die  ganze  Halbinsel  sich  erstreckende 
Seuche,  welche  zwar  gleichzeitig  neben  der  wahren  Pest  einherschritt, 
doch  zum  grossen  Teile  in  der  Herrschaft  des  Flecktyphus  bestand. 
Insbesondere  war  es  das  französische  Kriegsheer,  das  im  Jahre  1528 
während  der  Belagerung  Neapels  furchtbar  darunter  zu  leiden  und 
an  30000  Soldaten  an  diesem  Lagerfieber  verloren  hatte.  Ebenso 
wurde  Italien  noch  in  den  folgenden  Dezennien  von  der  Krankheit 
in  wiederholten  Lokalausbrüchen  heimgesucht.  In  Spanien,  wo  schon 
im  Jahre  1489  bei  der  Belagerung  von  Granada  die  Truppen  Ferdinand  L 
durch  eine  angeblich  durch  Truppen  aus  Cypern  eingeschleppte  und 
kaum  anders  als  Petechialtyphus  zu  deutende  Seuche  in  harte  Be- 
drängnis geraten  und  ihr  im  ganzen  17000  Mann  erlegen  Avaren, 
grassierte  die  gleiche  Krankheit  in  der  eisten  Hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts in  vehementem  Masse.  Sie  wurde  ,,Tabardillo"  oder 
„Pintas"  (wegen  der  roten  Flecken  der  Haut)  genannt  und  von  den 
spanischen   Aerzten    in    wertvollen    Schilderungen    beschriebe!-      In 


776  Victor  Fossel. 

Frankreich  gewann,  vielleicht  im  Zusammenhange  mit  den  unglück- 
lichen Kriegsereignissen  vor  Neapel,  der  Flecktyphus  schon  im  Jahre 
1528  eine  rasche  Verbreitung  und  erhielt  aus  der  Thatsache,  dass  er 
gerade  jungen  kräftigen  Männern  der  vornehmeren  Gesellschafts- 
klassen gefahrvoll  geworden  war,  den  Namen  „Trousse-gallant". 
Nach  Angabe  damaliger  Geschichtsschreiber  hat  sich  von  1528  an 
die  Krankheit  auf  französischem  Boden  nicht  mehr  gänzlich  verloren 
und  in  den  Jahren  1545 — 1546  zu  einer  über  ganz  Frankreich,  Savoyen 
und  Spanien  verbreiteten  Epidemie  erhoben. 

Auch  in  Deutschland  fällt  das  erste  epidemische  Vorkommen  des 
„Fleckfiebers"  in  das  Jahr  1528,  nachdem  es  durch  Landesknechte 
aus  Italien  nach  dem  Harz  und  anderen  mitteldeutschen  Landschaften 
eingeschleppt  worden  war.  So  häufig  auch  der  exanthematische  Typhus 
im  Gefolge  von  Kriegszügen  neben  Pest,  Kuhr  u.  a.  Lagerseuchen 
schon  in  diesem  Zeitabschnitte  sich  geltend  gemacht  und  vielfache 
Verwechslung  mit  anderen  Volkskran kheiten  erfahren  hatte,  so  haben 
doch  deutsche  Aerzte  wie  Vochs,  Kepser  u.  a.  seine  Eigenform 
damals  gebührend  gewürdigt  und  ihn  als  „Febris  puncticularis"  oder 
als  „caeca  et  notha  pestilentia"  von  der  „Pestis  legitima"  unter- 
schieden. Frühzeitig  wird  in  Deutschland  die  vulgäre  Bezeichnung 
des  Leidens  als  „Hauptkrankheit"  oder  „Haupt weh"  allgemein 
angenommen  und  geradewegs  zur  charakterischen  Volksbenennung 
erwählt. 

Zu  einer  allgemeinen  Ausdehnung  über  ganz  Europa  gelangte 
der  Flecktyphus  in  der  2.  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts.  Zunächst  ist 
Frankreich  der  Schauplatz  seines  Auftretens;  die  denkwürdige  Lager- 
seuche, die  im  Heere  Carl  V.  vor  Metz  im  Jahre  1552  grassiert  und 
dem  grossen  Chirurgen  A.  Pare  ein  weites  Feld  seiner  Thätigkeit 
eröffnet  hatte,  wurde  zum  Ausgangspunkte  einer  über  das  Land  fort- 
schreitenden Fleckfieberepidemie.  Wieder  erfuhr  die  Krankheit  im 
Jahre  1557  die  ausgedehnteste  Verbreitung  in  der  Gegend  von  Poitiers, 
Angouleme  u.  a.  0.,  deren  Einzelheiten  Coytard  beschrieben  hat; 
die  Kriegsseuchen  in  den  Belagerungsarmeen  vor  Ha  vre  1563,  vor 
La  Eochelle  1583  waren  schwere  Ausbrüche  des  Flecktyphus.  Nicht 
weniger  hat  sich  in  den  Niederlanden  1572 — 1573  zur  Zeit  des 
spanischen  Feldzuges  unter  den  Einheimischen  wie  unter  den  fremden 
Truppen  an  vielen  Orten  die  Krankheit  in  bösartiger  Weise  fühlbar 
gemacht,  während  Spanien  selbst  seit  1557  durch  volle  15  Jahre  also 
bis  zum  Jahre  1572  von  einer  zusammenhängenden  Kette  von  Lokal- 
ausbrüchen des  „Tabardillos"  heimgesucht  wurde. 

Eine  besondere  historische  Bedeutung  hat  von  jeher  jene 
mörderische  Seuche  in  Anspruch  genommen,  welche  zum  ersten  Male 
im  Jahre  1542  in  Ungarn  unter  dem  gegen  die  Türken  kämpfenden 
deutschen  Reichsheere  beobachtet  und  als  „Ungarische  Krank- 
heit" (Morbus  hungaricus)  bezeichnet  worden  war.  Ihr  neuerliches 
Auftreten  im  Jahre  1566  unter  den  Kriegsvölkern  Maximilian  IL, 
namentlich  bei  der  Belagerung  von  Komorn  und  Raab,  bot  dem 
Kaiserl.  Feldarzte  Jordanus  Anlass,  ein  getreues  Bild  desselben 
aufzuzeichnen,  woraus  die  Uebereinstimmung  der  „ungarischen  Haupt- 
krankheit" mit  dem  exanthematischen  Typhus  zur  vollen  Evidenz 
hervorgeht.  Als  die  wichtigsten  Symptome  führt  Jordanus  auf: 
Intensiven  Kopfschmerz  bis  zu  Delirien  sich  steigernd,  unerträglichen 
Magemdruck  (deshalb  der  Name  „Herzbräune"),   unlöschbaren  Durst, 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  777 

Petechien.  Durchfälle,  nicht  selten  Vereiterung  der  Parotiden  und 
Gangrän  der  Extremitäten. 

Mit  Jordanus  übereinstimmend,  erklärt  u.  a.  Ruland  nach 
eigenen  Beobachtungen  die  Identität  des  .Morbus  hungaricus"  mit 
der  „Febris  petechialis".  Auffälligerweise  soll  die  Seuche  die  Ungarn 
und  Türken  nahezu  verschont,  dafür  die  aus  den  verschiedensten 
Nationen  zusammengewürfelten  Söldnerscharen  der  Reichstruppen  auf 
das  heftigste  befallen  haben.  Sie  waren  es  auch,  die  nach  Beendigung 
des  Feldzuges  entlassen  und  heimkehrend,  den  Keim  der  Infektion 
nach  Wien,  über  Deutschland,  Holland  und  Italien  verstreut  hatten. 
Wie  Györy  in  überzeugender  Weise  darlegt,  war  die  ..Lues  pan- 
nonica"  nichts  anderes,  als  der  exanthematische  Typhus,  keine  Mischung 
verschiedener  Infektionsformen  und  an  der  Seuche  die  Malaria  einzig 
nur  als  prädisponierender  Faktor  beteiligt. 

Eine  geschichtlich  bemerkenswerte  Form  der  Verbreitung  zeigte 
das  Fleckfieber  in  England,  wo  die  Krankheit  schon  frühzeitig  als 
„Schiffs-  und  Kerkerfieber"  zur  Beobachtung  gekommen  war.  Ihr 
Auftreten  in  elenden,  überfüllten  Gefängnissen,  die  rasche  Infektion, 
welche  die  Insassen  der  Kerkerräume  auf  Richter,  Geschworene  und 
andere  Personen  übertragen  hatten,  ist  in  der  Geschichte  unter  dem 
Namen  der  „schwarzen  Assisen"  bekannt  geworden.  Der  erste  dieser 
Ausbrüche  ereignete  sich  1522  in  Cambridge,  wo  ein  grosser  Teil  der 
Mitglieder  des  Gerichtshofes  dem  „Gaoi  fever"  zum  Opfer  fiel.  Die 
zweite  Infektion  knüpfte  sich  an  die  berüchtigten  Oxforder  Assisen 
vom  5.  und  6.  Juli  1577,  wo  an  diesen  Tagen  selbst  mehrere  an 
Ketten  geschmiedete  Gefangene  dem  Fleckfieber,  wenige  Tage  darauf 
einzelne  Gerichtsbeamte  dem  als  „Febris  ardens"  bezeichneten  Uebel 
erlagen,  und  weiterhin  unter  der  Bevölkerung  der  Stadt  und  ihrer 
nächsten  Umgebung  innerhalb  eines  Monates  510  Personen,  ausschliess- 
lich männlichen  Geschlechtes  weggeraift  wurden.  Ein  neuerlicher 
Ausbruch  erfolgte  im  Jahre  1586  während  der  Assisen  in  Exeter,  wo 
die  Seuche  angeblich  durch  portugiesische  Matrosen  in  die  Gefängnisse 
eingeschleppt  und  den  englischen  Häftlingen  mitgeteilt  worden  sein 
soll.  Auch  hier  fielen  vorerst  Richter  und  Beamte  und  erst  nach 
Verlauf  von  zwei  Wochen  viele  Bewohner  der  Stadt  und  der  Land- 
schaft der  Krankheit  zum  Opfer. 

Die  zahlreichen  Lagerepidemien,  welche  den  kriegerischen  Er- 
eignissen in  Deutschland  im  Laufe  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts gefolgt  waren,  entziehen  sich  bei  dem  Dunkel  der  gleich- 
zeitig nebeneinander  herrschenden  Volkskrankheiten  einer  schärferen 
Trennung,  denn  Pest  und  pestilentielle  Fieber  wurden  nur  ausnahms- 
weise auseinander  gehalten.  Hingegen  liegen  über  gi'össere  Fleck- 
fieberepidemien innerhalb  der  letzten  Dezennien  dieses  Säculums  sorg- 
fältige Beschreibungen  aus  Italien  vor.  Aus  ihnen  gewinnen  wir 
allerdings  einen  Einblick  in  die  langsam  fortschreitende  Erkenntnis 
des  Wesens  des  Petechialfiebers,  keineswegs  lässt  sich  aber  den 
damaligen  Schriften  entnehmen,  dass  die  dagegen  geübte  Therapie 
irgendwie  von  dem  schablonenhaften  Missbrauche  des  Aderlasses  und 
der  gegen  die  Bubonenpest  gerichteten  giftwidrigen  oder  herzstärken- 
den Arzneimittel  abgewichen  wäre. 

Zur  vollen  Höhe  der  Bösartigkeit  erhob  sich  der  exanthematische 
Typhus  im  17.  Jahrhundert,  dessen  Geschichte,  ausgefüllt  von  un- 
aufhörlichen Kriegen   und  Hungersnöten   in  allen  Ländern  Europas, 


778  Victor  Fossel. 

zugleich  eine  der  traurigsten  Perioden  des  menschlichen  Elends  und 
der  Seuchenplage  in  sich  schliesst.  Speziell  die  Verwüstungen,  die 
von  der  Kriegsfurie  über  alle  Teile  des  Kontinents  getragen  wurden, 
sind  ausnahmslos  von  den  schwersten  Epidemien  begleitet  und  die 
„Kriegspest"  eine  stehende  Erscheinung  inmitten  der  Drangsale,  die 
den  Völkern  beschieden  waren.  Schwer  fällt  es  jedoch,  bei  dem 
Mangel  brauchbarer  medizinischer  Berichte  genaueren  Aufschluss  zu 
erhalten  über  die  einzelnen  Krankheitsformen,  aus  denen  sich  die 
von  den  Zeitgenossen  geschilderten  Lagerseuchen  zusammengesetzt 
haben  mögen.  Neben  der  Beulenpest,  die  in  ihrer  In-  und  Extensität 
kaum  gegen  frühere  Geschichtsabschnitte  zurückwich,  sind  es  Malaria, 
Ruhr  und  Skorbut,  die  —  soweit  ärztliche  Nachrichten  vorliegen  — 
zeitlich  und  örtlich  zusaramentreifen  und  eine  halbwegs  übersicht- 
liche Trennung  der  verschiedenen,  in  einander  greifenden  Infektions- 
krankheiten vereiteln.  Ganz  besonders  wird  die  epidemiographische 
Bearbeitung  des  Petechialtyphus  erschwert  durch  die  in  allen  ärzt- 
lichen Schriften  eingebürgerte  Grundanschauung,  dass  diese  Krank- 
heit, obgleich  in  ihren  wichtigsten  Merkmalen  nosologisch  gekenn- 
zeichnet, als  mildere  Abart  der  Pest  angesprochen  und  gleichsam 
zu  einem  Durchgangsprozess  erklärt  wird,  welchen  „die  Fieber"  je 
nach  äusseren  Verhältnissen  oder  nach  unbekannten  inneren  Ursachen 
annehmen,  um  sich  von  den  gelinden  Varietäten  bis  zur  malignen  und 
endlich  bis  zur  wahren  Pestform  zu  entwickeln. 

Gleichwohl  tritt  aus  dem  Gewirre  der  Kriegsseuchen  der  exan- 
thematische  Typhus  nicht  selten  in  deutlicher  Gestalt  hervor,  so  dass 
wenigstens  für  einzelne  Epidemien  deren  Charakter  sich  verfolgen 
lässt.  So  kam  in  den  ersten  Jahren  des  17,  Jahrhunderts  das  Fleck- 
fieber in  Spanien  in  epidemischen  Zügen  von  und  gewann  im  Jahre 
1606  eine  derartige  Verbreitung,  dass  der  Volksmund  dasselbe  als 
„afio  de  los  tabardillos"  bezeichnet  hat.  Auch  Russland  wurde  wäh- 
rend der  in  den  Jahren  1606—1613  sich  hinziehenden  Kämpfe  mit 
Schweden  und  Polen  von  der  Pest  und  pestilentiellen  Fiebern  schwer 
betroffen.  Am  schwersten  aber  litt  Deutschland  im  Verlaufe  des 
30  jährigen  Krieges.  Es  gab  keinen  Heereskörper,  dem  nicht  mörde- 
rische Seuchen  gefolgt  waren  und  unter  den  namhaft  gewordenen  Volks- 
krankheiten unter  deren  Wut  die  Reihen  der  Krieger  mehr  als  durch 
Waffengewalt  gelichtet  worden  waren,  wird  überall  die  Pest  und  das 
pestilentische  Fieber  (die  „ungarische  oder  hitzige  Kopfkrankheit")  an 
erster  Stelle  genannt.  Es  liegt  unserer  Aufgabe  ferne,  den  Gang  und 
die  Verbreitung  der  Krankheit  im  Deutschen  Reich  auch  nur  an- 
nähernd für  die  Dauer  des  langen  und  entsetzlichen  Krieges  erzählen 
zu  wollen.  Nach  Lammert,  der  die  Seuchenchronik  des  30 jährigen 
Krieges  für  die  deutschen  Länder  aufgezeichnet,  wiederholen  sich 
Jahr  für  Jahr  und  auf  allen  Gebieten,  die  der  Krieg  überzogen  hatte, 
die  furchtbaren  „Sterbensläufte"  zu  denen  die  Truppen  aus  aller 
Herren  Länder  ein  ebenso  hohes  Kontingent  beitrugen  wie  die  von  den 
schlimmsten  Drangsalen  bedrohten  Bewohner  der  Städte   und  Dörfer. 

Nicht  um  vieles  besser  stand  es  in  Frankreich,  wo  gleichfalls  die 
erste  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  hindurch  Pest,  pestartige  Krank- 
heiten und  „böse  Ruhren"  nicht  zum  Stillstand  gelangten  und  in 
vielen  Städten  oft  mehr  als  die  Hälfte  der  Einwohner  innerhalb  einer 
Epidemieperiode  dahin  rafften.  Hier  wie  in  den  Niederlanden  heftete 
sich  der  Ausbruch  der  Seuchen  (die  „mansfeldische  Seuche")  an  die 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  779 

Durchzüge  fremder  und  einheimischer  Soldaten,  an  die  Belagerungen 
befestigter  Plätze  und  an  die  durch  Hungersnot  und  Ueberfiillung 
der  Städte  wie  der  Kriegslager  geschaffenen  Missstände.  Auch  Ober- 
italien wurde  im  3.  und  5.  Dezennium  dieses  Jahrhunderts  von  schweren 
Epidemien  heimgesucht,  an  denen  die  Pest  und  ..kontagiöse  Fieber" 
weitaus  den  grössten  Anteil  hatten.  Dem  gleichen  Geschicke  unterlag 
England  zur  Zeit  der  Bürgerkriege,  wo  namentlich  das  Fleckfieber  im 
Jahre  1643  nach  den  Angaben  Willis  eine  aussergewöhnliche  Sterb- 
lichkeit zur  Folge  hatte. 

In  der  2.  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  erschien  zunächst  der  exan- 
thematische  Typhus  in  Frankreich,  verbreitete  sich  1651  in  Poitou, 
1652  und  1666  in  Burgund  und  nahm  insbesondere  in  den  letzten 
Jahrzehnten  unter  den  Armeen,  die  Ludwig  Xr\'.  teils  als  Gegner 
teils  als  Verbündeter  nahezu  mit  allen  europäischen  Staaten  in  Be- 
rührung gebracht  hatte,  den  pandemischen  Charakter  einer  ..Kriegs- 
pest" an.  So  kam  es,  dass  in  diesem  Zeitabschnitte  der  Petechial- 
typhus das  ganze  Festland  abwechselnd  überflutete,  in  Deutschland, 
Ungarn,  Dänemark  und  Schweden  ebenso  seine  Herde  schuf,  wie  in 
einzelnen  Teilen  der  italienischen  Halbinsel  und  Grossbritanniens.  In 
England  speziell  suchten  Willis,  Whitmore  u.  a.  Autoren  das 
epidemische  Fleckfieber  als  ..Synochus  putridus"  oder  „Febris  ano- 
malis"  nach  vielfachen  Beobachtungen  von  der  Bubonenpest  zu  unter- 
scheiden. 

Verfolgen  wir  nunmehr  die  Geschichte  des  exanthematischen 
Typhus  im  18.  Jahrhundert,  so  tritt  uns  die  Krankheit  als  eine  kon- 
tinuierliche Plage  des  europäischen  Kontinents  entgegen.  Gleichzeitig 
begegnen  wir  seiner  nur  durch  kurze  Zwischenpausen  unterbrochenen 
HeiTSchaft  auf  dem  britischen  Inseli'eiche.  Trotz  der  Häufigkeit  der 
Krankheit  war  die  Mehrzahl  der  damaligen  Aerzte  über  ihre  Xatur 
und  Aetiologie  keineswegs  zu  geklärteren  Auffassungen  gekommen. 
Die  vortrefflichen  Schilderungen,  die  Huxham.  Pringle,  Grant 
u.  a.  Männer  dem  epidemischen  Vorkommen  und  Verhalten  des  üebels 
verliehen,  blieben  vorderhand  ohne  nachhaltigen  Einfluss.  Von  den 
meisten  zeitgenössischen  Schriftstellern  wird  das  Fleckfieber  nur 
dürftig  als  spezifische  Volkskrankheit  betont,  sondern  unter  dem 
Dogma  der  besonderen  jeweiligen  Krankheitskonstitution  als  Mittel- 
glied zwischen  den  gutartigen  und  bösartigen  Fiebern  eingereiht. 

Schon  am  Beginne  des  18.  Jahrhunderts  zogen  die  vorerwähnten 
Ausbrüche  der  Krankheit  in  allen  Staaten  Europas  vielfache 
Nachschübe  nach  sich.  Die  Lagerfieber,  welche  im  Verlaufe  des 
spanischen  Erbfolgekrieges  und  des  grossen  nordischen  Krieges  gras- 
sierten und  grösstenteils  dem  Flecktyphus  angehört  haben  mögen, 
trugen  wesentlich  zur  Entwicklung  der  Seuche  im  weitesten  Umkreise 
bei.  Irland,  der  berüchtigste  Herd  des  Uebels,  hat  in  den  Jahren 
1708—1709,  1717—1721,  1728—1731  neben  elenden  Ernten  schwere 
Typhusepidemien  erlitten,  die  noch  im  weiteren  Verlaufe  der  1.  Hälfte 
des  Säkulums  sich  in  heftiger  AVeise  wiederholten.  In  den  Jahren 
1740 — 1741  sind  im  Lande  allein  rund  80000  Menschenleben  dem 
Hunger-  und  Fleckfieber  zum  Opfer  gefallen.  In  mehreren  dieser 
Typhusperioden  hat  das  Uebel  nach  England  und  Schottland  über- 
gegriffen und  mit  den  schwersten  Verlusten  die  Bevölkerung  heim- 
gesucht. In  dieser  Periode  erneuerte  sich  das  düstere  Schauspiel  der 
^schwarzen  Assisen"  in  England,  so  1730  in  Taunton,  1742  in  Laun- 


780  Victor  Fossel. 

ceston  und  1750  zu  Old  Bailey  (London),  wo  jedesmal  von  den  Ge- 
fangenen die  Krankheit  auf  Eichter  und  Geschworne  übertragen  worden 
war.  Weit  häufiger  noch  wurde  im  18.  Jahrhundert  der  Flecktyphus 
als  sogen.  Schilfsfieber  beobachtet  und  mit  gutem  Grunde  die  insalubre 
Einrichtung  der  Fahrzeuge,  Ueberfüllung  und  schlechte  Ernährung 
als  prädisponierende  Ursache  namhaft  gemacht. 

An  allen  Kriegszügen,  die  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
Europa  mit  dem  Getöse  der  Waö'en  erfüllten,  nahm  nebst  anderen 
verheerenden  Krankheiten  der  Flecktyphus  als  Begleiter  hervorragenden 
Anteil.  So  finden  wir  ihn  während  der  Jahre  1733—34  weitverbreitet 
in  Polen  und  Ostdeutschland,  fast  zu  gleicher  Zeit  heftig  entwickelt 
unter  den  französischen  Truppen  am  Rhein  und  in  Italien,  ebenso  im 
Zeiträume  von  1740—1748,  innerhalb  welcher  Jahre  der  österreichische 
Erbfolgekrieg  seinen  Schauplatz  über  ganz  Mitteleuropa  erstreckte 
und  die  Veranlassung  geboten  hatte,  dass  die  gefurchtesten  Lager- 
seuchen jener  Zeit,  Fleckfieber  und  Euhr  die  weiteste  Ausdehnung 
und  gefahrvollste  Steigerung  erlangten.  In  Prag  allein  waren  zur 
Zeit  der  Belagerung  im  Jahre  1742  nicht  weniger  als  30000  Soldaten 
dem  „Faulfieber"  erlegen,  eine  Mortalität,  die  allerdings  durch  die 
beispiellose  Therapie  der  französischen  Aerzte ,  durch  den  scheuss- 
lichen  Missbrauch  der  Aderlässe,  der  Brech-  und  Abführmittel  haupt- 
sächlich herbeigeführt  worden  war.  Während  der  an  diese  Kriegs- 
ereignisse sich  anschliessenden  Feldzüge  der  englischen  Armee  in 
Deutschland,  Flandern  und  Brabant  hatte  Pringle  1742 — 1748  reiche 
Gelegenheit,  den  Kriegstyphus  zu  beobachten  und  dessen  Identität 
mit  dem  Hospital-,  Kerker-  und  Schiffsfieber  aufzudecken.  Er  erkannte 
die  mit  Entbehrungen  aller  Art  einhergehende  Ueberfüllung,  Luft- 
verderbnis und  faulige  Ausdünstung  beengter  Räumlichkeiten  als 
wichtigste  Quelle  des  Uebels.  Die  grauenvollen  Zustände  der  da- 
maligen Spitäler,  ihr  Schmutz  und  die  Zusammen  häuf ung  von  den 
verschiedenartigsten  Kranken,  die  meist  zu  3 — 4  Personen,  darunter 
mit  Sterbenden  oder  Rekonvaleszenten  eine  gemeinsame  Liegerstatt 
inne  hatten,  erklären  es  zur  Genüge,  wie  das  gefürchtete  Hospital- 
fieber zum  ständigen  Gast  der  Krankenhäuser  und  Lazarette  werden 
konnte. 

Von  neuem  gewann  der  exanthematische  Typhus  an  Boden,  als 
der  siebenjährige  Krieg  ausbrach  und  gegen  Ende  desselben  gleich- 
zeitig England  und  Spanien  in  feindselige  Verwicklungen  geraten 
waren.  Vom  Jahre  1757  an  verbreiteten  sich  zunächst  in  Oesterreich 
und  Deutschland  andauernde  Kriegsseuchen,  unter  denen  das  Fleck- 
fieber, die  Dysenterie  und  der  Abdominal typhus  vornehmlich  in  die 
Erscheinung  traten.  Aus  den  medizinischen  Berichten  der  Zeitgenossen, 
wie  Hasenöhrl,  Grimm,  Monro  u.  a.  geht  hervor,  dass  das 
Petechialfieber  von  einfachen  Formen  bis  zum  vollen  Bilde  der  Pest 
vorkam  und  die  Kontagiosität  vieler  als  „gut-  oder  bösartige  Faul- 
fieber" bezeichneten  Erkrankungen  gerade  in  Spitälern  sich  zeigte. 
Wie  Deutschland  wurde  1760 — 1761  Frankreich  und  1763  die  pyre- 
näische  Halbinsel  von  Ruhr  und  Faulfiebern  schwer  betroffen,  die  sich 
dann  im  Zeiträume  1763 — 1769  über  ganz  Italien  verbreiteten. 
Sicherlich  gehörten  viele  dieser  Epidemien,  die  abwechselnd  die 
italischen  Länder  von  den  Alpen  bis  zur  Insel  Sizilien  überzogen 
hatten,  dem  Typhus  exanthematicus  und  zwar  in  Gestalt  der  schwersten 
Hungerseuche  an;  jedoch  wird,  wie  an  späterer  Stelle  gezeigt  werden 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  781 

soll,  ein  grosser  Anteil  der  „epidemischen  Fieber"  dem  Abdominal- 
typhns  zugeschrieben  werden  müssen.  Bei  dem  Mangel  schärferer 
Krankheitsbeschreibungen  der  damals  so  häufig  beobachteten  und 
epidemisch  vorkommenden  ,. Gallenfieber"  und  „Schleimfieber",  die 
überdies  noch  als  mit  Frieselausschlag  kombinierte  „Wurmfieber"  in 
der  Litteratur  genannt  erscheinen,  bleibt  es  fraglich,  welcher  Infektions- 
krankheit sie  beizuzählen  sind.  Auch  die  ..katarrhalisch  bösartigen 
Fieber"  jener  Zeit  werden  zum  Teil  hierher  zu  rechnen  sein. 

Dieselbe  Unsicherheit  trübt  vielfach  das  Urteil,  wenn  wir  die 
gi-osse  Seuchenperiode  der  letzten  drei  Dezennien  des  iS.  Jahrhunderts 
in  eine  historische  Uebersicht  zusammenfassen.  Heck  er  hat  in 
seiner  Darstellung  der  „Volkskrankheiten  von  1769 — 1772"  ein  er- 
schöpfendes Bild  der  vielgestaltigen  Seuchenzüge  entworfen,  die  in 
jener  Zeit  über  die  bewohnte  Erde  sich  verbreitet  hatten.  Speziell 
für  Mitteleuropa  gedenkt  er  in  ausführlicher  Weise  der  unter  der 
Gruppe  der  „Faulfieber"  zusammengefassten  Epidemien,  in  denen  das 
Fleckfieber  mit  allen  seinen  Begleiterscheinungen  einen  hervorragenden 
Platz  einnimmt.  Den  trostlosen  Zuständen,  welche  Krieg  und  Hungers- 
not in  den  meisten  der  befallenen  Länder  vorbereiteten,  folgten 
überall  die  „einfachen  Faulfieber",  die  „malignen,  putriden  Fieber", 
welche  Heck  er  als  wahren  Petechialtyphus  auffasst,  dessen  Natur 
er  aber  von  dem  anscheinend  identischen  ..Hungerfieber"  differenziert 
wissen  will.  Welche  Rolle  etwa  hierbei  das  Rückfallfieber  gespielt 
haben  mag,  ist  eine  ofiene  Frage.  Die  grossen  Epidemien  des  Fleck- 
typhus jener  Zeit  führten  dazu,  das  gehäufte  Vorkommen  dieser 
Krankheit  mit  allgemeinen  sozialen  und  alimentären  Missständen  in 
gewisse  enge,  um  nicht  zu  sagen,  kausale  Beziehungen  zu  bringen. 
So  kam  es,  dass  die  Engländer  vom  Jahre  1765  an,  um  welche  Zeit 
eine  industrielle  Revolution  im  Lande  einsetzte,  das  Fleckfieber 
schlechtweg  als  „industrial  typhus"  bezeichnet  haben. 

Innerhalb  der  letzten  drei  Jahrzehnte  des  18.  Jahrhunderts  nahm 
der  Flecktyphus  von  Russland  aus,  wo  er  seit  1767  ununterbrochen 
geherrscht  hatte,  den  Weg  nach  Westen  zu  weiterer  epidemischer 
Verbreitung.  Zunächst  gelangte  er  nach  den  Ostseeländern,  nach 
Dänemark  (durch  dänische  Kriegsschiffe  gleichzeitig  nach  Minorka 
importiert),  nach  Skandina\ien,  Polen,  Ungarn  und  nach  den  Donau- 
ländem.  Eine  zweite  Invasion  führte  zui-  Ausbreitung  der  Seuche  im 
nördlichen  und  östlichen  Deutschland,  in  Böhmen  und  Mähren,  wo 
dieselbe  neben  anderen  Volkski-ankheiten  und  einer  denkwüi-digen. 
folgenschweren  Teuerung  aller  Lebensmittel  in  den  Jahren  1770 
und  1771  die  Bevölkerung  in  die  bitterste  Notlage  versetzte.  Während 
Süddeutschland  um  vieles  weniger  unter  der  Krankheit  zu  leiden 
hatte,  zog  das  Faulfieber  und  die  als  „Alpenstich"  bekannt  gewordene 
epidemische  Pneumonie  im  Jahre  1771  in  der  Schweiz  mit  Ausnahme 
der  westlichen  Landesteile  die  grösste  Sterblichkeit  nach  sich. 
Ebenso  bildeten  sich  gleichzeitig  in  den  Niederlanden,  in  Frankreich 
und  Oberitalien  gefahrvolle  Herde  des  exanthematischen  Typhus. 
Hieran  schlössen  sich  1764 — 1787  die  auf  der  pyrenäischen  Halbinsel 
weitverbreiteten  Fieber,  deren  Natur  zwar  ungewiss  ist,  welche  aber 
„unter  dem  blendenden  Namen  der  Tertianae  subintrantes  eine  halbe 
Million  Menschen  hinwegrafften". 

Es  Ist  hier  nicht  am  Platze,  in  die  von  der  Wiener  Schule  aus- 
gehende und  namentlich  von  St  oll  propagierte  Lehre  der  Umwand- 


782  Victor  Fossel. 

lung  der  „biliösen"  Krankheitskonstitution  in  die  „putride"  Form 
uns  näher  einzulassen,  von  der  Sprengel  bemerkt,  sie  habe  sich 
unter  mancherlei  Masken  versteckt.  Doch  können  wir  die  Tatsache 
nicht  übersehen,  dass  die  epidemiographischen  Nachrichten  aus  den 
beiden  letzten  Dezennien  des  18,  Jahrhunderts,  insbesondere  jene  der 
deutschen  Aerzte  von  dieser  Doktrin  erfüllt  und  in  therapeutischer 
Eichtung  vollends  beherrscht  sind.  Der  Streit  um  die  Vorzüge  der 
antiphlogistischen  Behandlungsweise,  um  den  Nutzen  der  von  d  e  H  a  e  n 
widerratenen  und  von  St  oll  lebhaft  empfohlenen  Brechmittel  in  der 
Bekämpfung  der  Gallenfieber  nimmt  nahezu  das  ganze  Interesse  der 
Autoren  in  Anspruch,  wobei  sinngemäss  der  Erkenntnis  des  von  allen 
gesuchten  „Wesens"  der  Fieber  kein  Vorteil  erwuchs,  vielmehr  die 
schon  vordem  unklare  Bestimmung  der  wahren  Natur  der  Infektions- 
krankheiten noch  mehr  darunter  Schaden  nahm.  Es  ist  geradezu 
eine  Unmöglichkeit,  den  aus  jener  Zeit  stammenden  Berichten,  in 
denen  die  biliösen,  putriden,  Schleim-  und  Gallenfieber  durcheinander 
geworfen  erscheinen,  halbwegs  einige  Deutung  zu  geben.  Noch 
schlimmer  gestaltete  sich  diese,  der  Theorie  zu  liebe  in  Aufschwung 
gebrachte  Wirrnis,  als  man  anfing,  die  Fieberlehre  mit  den  Dogmen 
der  Irritabilitätslehre  zu  verknüpfen  und  neben  den  zur  Genüge  vor- 
handenen Formen  noch  die  „asthenischen,  adynamischen  und  Nerven- 
fieber" aufzustellen. 

Trotz  alledem  ist  in  der  Geschichte  der  Krankheiten,  die  im 
letzten  Abschnitte  des  18.  Jahrhunderts  in  zahlreichen  Epidemien  über 
alle  Staaten  unseres  Kontinents  sich  dahinwälzten ,  der  Flecktyphus 
so  prädominierend,  dass  allein  schon  die  beglaubigten  Mitteilungen 
hinreichen,  uns  über  sein  massenhaftes  Vorkommen  zu  unterrichten. 
Wiederum  hängt  sich  der  exanthematische  Typhus  an  die  Kriegs- 
züge jener  Periode,  sowie  an  die  Umwälzungen,  welche  die  franzö- 
sische Revolution  für  ganz  Europa  nach  sich  gezogen  hatte.  So 
herrschte  das  Fleckfieber  1788 — 1789  in  heftiger  Weise  unter  den 
Land-  und  Seetruppen  Schwedens,  im  Jahre  1793  und  1794  in  einem 
grossen  Teile  Frankreichs,  wo  die  Hafenstädte  Brest  und  Toulon 
besonders  schwer  betroifen  wurden.  Von  Frankreich  aus  fand  die 
Verschleppung  der  Krankheit  nach  Deutschland  und  Holland  statt, 
und  gewann  insbesondere  auf  der  apenninischen  Halbinsel,  auf  welcher 
die  Seuche  schon  seit  einem  Jahrzehnte  nicht  erloschen  war,  von 
neuem  eine  furchtbare  Ausdehnung.  Die  mörderische  Typhusepidemie 
die  anlässlich  der  Belagerung  von  Mantua  im  Jahre  1796  und  1797 
unter  der  österreichischen  Besatzung,  wie  unter  den  französischen 
Belagerungstruppen  gewütet  hatte,  wurde  zum  Ausgang  von  schweren 
Epidemiezügen,  die  über  Oberitalien,  Südfrankreich  und  Spanien  sich 
in  der  Folgezeit  verbreiteten.  Eine  heftige  Katastrophe  unter  den 
Kriegsseuchen  jener  Tage  bildete  der  von  Rasori  beschriebene  Aus- 
bruch des  Fleckfiebers  in  den  Jahren  1799  und  1800  während  der 
Belagerung  der  Stadt  Genua,  wo  innerhalb  sechs  Monaten  14600 
Menschen  der  Krankheit  erlegen  waren.  Endlich  ist  in  den  letzten 
Jahren  des  zur  Neige  gehenden  Säkulums  in  Grossbritannien  und  vor 
allem  in  Irland  das  Fleckfieber  in  schwerer  Form  wieder  zur  Erscheinung 
gekommen  und  erst  mit  dem  Jahre  1802  zum  Stillstand  gelangt.  Die 
massenhafte  Ausdehnung  der  Krankheit  hat,  wie  Murchison  be- 
richtet, Veranlassung  geboten,  im  ganzen  Lande  zahlreiche  Spezial- 
hospitäler  für  den  Typhus  zu  errichten. 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  783 

Im  unmittelbaren  Zusammenhange  mit  den  am  Schlüsse  des 
18.  Jalirhunderts  über  ganz  Europa  verbreiteten  Epidemien  erhob 
das  Fleckfieber  von  neuem  sein  Haupt,  als  die  napoleonischen  Kriegs- 
züge den  Kontinent  zu  einem  ungeheuren  Watfenplatz  umwandelten. 
Mit  ihnen  gewann  der  Flecktyphus  den  Charakter  der  gi'össten  und 
fürchterlichsten  Kriegspest  des  Jahrhunderts.  Im  Süden  ^ne  im  Norden 
Europas  waren  ungezählte  Herde  der  Seuche  vorhanden:  die  Feld- 
lazarette und  die  in  der  Not  des  Augenblicks  zur  Unterkunft  kranker 
und  verwundeter  Soldaten  umgestalteten  Behausungen  wurden  ver- 
hängnisvolle Brutnester  des  exanthematischen  Typhus,  dessen  Aus- 
breitung unaufhaltsam  in  den  vom  Kriege  betroffenen  Ländern  um 
sich  griff,  dann  aber  infolge  des  Verkehrs  selbst  in  jene  Gebiete  ge- 
tragen wurde,  die  unter  den  Bedrängnissen  der  Durchmärsche  oder 
der  Kantonnierungen  von  Truppen  nicht  unmittelbar  zu  leiden  hatten. 
Am  schlimmsten  gestaltete  sich  das  Elend  in  den  Ländern,  wo  die 
Heeresmassen  vor  oder  nach  entscheidenden  Schlachten  zusammen- 
gedrängt waren  und  die  trostlosesten  Verhältnisse  der  Verpflegung 
und  Bequartierung  an  sich  schon  Not  und  Krankheit  heraufbeschworen 
hatten.  So  wurden  in  den  Jahren  1805  und  1806  die  schweren  Tage 
von  Austerlitz  und  Jena  zu  neuen  Etappen  der  Lagerkrankheiten, 
die  von  Freund  und  Feind  nach  den  verschiedensten  Eichtungen  weiter 
fortgepflanzt,  überall  den  fruchtbarsten  Boden  fanden.  Wie  Deutsch- 
land litt  auch  Oesterreich  furchtbar  unter  dieser  Seuche.  Böhmen 
allein  wies  im  Jahre  1806  rund  24  000  Todesfälle  an  Flecktyphus  auf. 
Nicht  weniger  war  Frankreich  in  jener  Zeit  an  vielen  Orten  von  den 
heftigsten  Typhus-Epidemien  heimgesucht,  die  1807  und  1809  von 
neuem  hier  überall  aufloderten  und  im  letztgenannten  Jahre  mit  den 
Kriegsereignissen  in  Spanien  noch  weitere  Ausdehnung  erlangten. 

Zu  seiner  höchsten  Entwicklung  kam  der  „Kriegstyphus"  in  den 
Jahren  1812  und  1813  während  des  denkwürdigen  Feldzuges  der 
-grossen"  französischen  Armee  gegen  Eussland.  Zu  den  Entbehrungen 
und  Strapazen,  denen  die  Truppen  namentlich  nach  ihrem  Eintritte 
in  Eussland  ausgesetzt  waren,  gesellten  sich  alsbald  in  verheerendster 
Weise  „Nervenfieber-  und  Euhr  und  nahmen  binnen  wenigen  Monaten 
derart  überhand,  dass  von  einzelnen  Korps  infolge  der  Krankheiten 
und  Verwundungen  nur  ein  Drittel  im  kampffähigen  Stande  erhalten 
blieb.  Nach  dem  Gefechte  von  Ostrowo  (25.  Juli  1812)  betrug  —  um 
nur  ein  Beispiel  anzuführen  —  die  Zahl  der  Kranken  80000  Mann. 
Die  Hospitäler,  unzureichend  und  von  der  traui'igsten  Beschaffenheit, 
überfüllt  und  von  den  allern ot wendigsten  Behelfen  der  Krankenpflege 
entblösst,  wurden  selbst  den  leichtblessierten  oder  maroden  Soldaten 
zum  Fluch,  denn  hier  herrschte  das  Fleckfieber  und  der  Hospitalbrand, 
von  denen  nur  wenige  befreit  blieben.  Noch  furchtbarer  aber  stieg  die 
Not,  als  die  Armee  den  verhängnisvollen  Eückzug  antrat.  Tausende 
von  Soldaten  starben  binnen  wenigen  Tagen  dahin,  ihre  Leichen  be- 
deckten die  Heeresstrassen,  und  niemand  wusste,  welchen  Anteil 
Hunger,  Kälte  oder  Krankheit  an  dieser  grauenvollen  Todesernte  ge- 
nommen hatte.  Neben  der  Dysenterie  war  es  der  Typhus,  sowohl  die 
exanthematische  wie  die  abdominelle  Form,  die  den  rückkehrenden 
Kontingenten  der  französischen  Armee  auf  dem  Fasse  folgte.  Von 
den  in  Wilna  in  Gefangenschaft  geratenen  30000  Franzosen  waren  im 
Dezember  1812  und  Januar  1813  nicht  weniger  als  25000  der  Seuche 
erlegen,  von  welcher  auch  die  Bevölkerung  dieser  Stadt  und  anderer 


784  Victor  Fossel. 

Plätze  schwer  ergriffen  wurde.  Wie  die  Kontingente  der  „grande 
armee"  unterlagen  die  russischen  Truppen  dem  Verderbnis  der  Seuchen, 
auch  unter  ihnen  raffte  das  „Nervenfieber"  tausende  von  Menschen- 
leben dahin.  Nicht  weniger  hatten  Deutschland  und  seine  Nachbar- 
länder unter  der  Ausbreitung  des  Typhuskeimes  zu  leiden  und  die 
Jahre  1813  und  1814  umfassen  das  Höhenstadium  des  Fleckfiebers  auf 
dem  ganzen  Kontinent.  Es  gab  kaum  eine  Stadt,  einen  Marktflecken 
oder  Weiler,  in  denen  nicht  die  Krankheit  Eingang  gefunden  und  oft 
bis  zu  mörderischer  Sterblichkeit  sich  entwickelt  hätte.  Am  furchtbarsten 
kam  sie  in  belagerten  Plätzen  wie  Saragossa,  Torgau,  Mainz  u.  a.  0, 
vor,  obgleich  hier  ebenso  der  Ileotyphus  seine  Herrschaft  inauguriert 
hatte.  In  Torgau  starben  binnen  4  Monaten  20000  Menschen,  die 
gleiche  exorbitante  Mortalität  wurde  in  Mainz  beobachtet.  In  Danzig 
erlagen  in  demselben  Jahre  zwei  Dritteile  der  französischen  Truppen 
und  etwa  ein  Viertteil  der  ansässigen  Bevölkerung.  Aehnliche  An- 
gaben liegen  aus  vielen  anderen  Orten  vor. 

Obschon  die  Krankheit  im  Zeiträume  von  1800 — 1815  nahezu 
überall  sich  eingenistet  hatte  und  die  ärztliche  Beobachtung  und  Er- 
fahrung hinlänglich  mit  ihr  vertraut  geworden  war,  so  erkennen  wir 
in  damaligen  medizinischen  Schriften  nur  eine  geringe  Förderung  der 
Kenntnisse  über  die  Stellung  und  Bedeutung  des  Flecktyphus  unter 
den  Volkskrankheiten.  Vor  allem  war  noch  die  Grundanschauung  in 
voller  Geltung,  dass  Euhr  und  „Nervenfieber"  Modifikationen  des 
gleichen  Krankheitsprozesses  seien,  der  je  nach  örtlichen  oder  indi- 
viduellen Verhältnissen  und  Bedingungen,  insbesondere  aber  abhängig 
von  dem  geheimnisvollen  Einflüsse  des  „Genius  epidemicus"  in  dieser 
oder  jener  Species  zum  Ausdruck  kam.  Dazu  trat  die  schwerwiegende 
Thatsache,  dass  das  „Nervenfieber"  einen  generellen  Begriff  darstellte, 
unter  welchem  verschiedene  Krankheitsformen,  zunächst  der  exan- 
thematische-  und  Abdominaltyphus  verstanden  wurden.  Selbst  die 
von  einzelnen  damaligen  Beobachtern  überlieferten  Sektionsergebnisse 
gestatten  nicht  immer  sichere  Rückschlüsse ;  sie  sind  oft  in  den  vagen 
Kunstausdrücken  jener  Zeit  abgefasst,  die  für  die  heutige  Krankheits- 
lehre keinen  oder  nur  zweifelhaften  Aufschluss  ergeben.  Nur  nach 
äusserlichen  Merkmalen,  am  wenigsten  mit  Zuhilfenahme  pathologisch- 
anatomischer Befunde,  unterschied  man  die  petechiale  oder  akute 
Form  von  dem  „schleichenden"  Nervenfieber,  zu  welchem  letzteren 
wiederum  von  Vielen  die  Dysenterie  hinzugerechnet  wurde.  Schon 
aus  dieser  Auffassung  allein  konnte  die  ärztliche  Welt  zu  keiner  halb- 
wegs klaren  Erkenntnis  der  Spezifität  der  Krankheit  gelangen.  Wenn 
Hartmann  in  seinem  klassischen  Bilde  des  „ansteckenden  Typhus" 
mit  voller  Ueberzeugung  für  die  spezifische  Natur  desselben  eintrat, 
ihn  „für  eine  Fieberkrankheit  eigener  Art,  sowie  z.  B.  die  Pocken- 
krankheit" erklärt  und  von  den  Nerven-  und  Faulfiebern  unterschieden 
wissen  will,  so  war  die  Beweisführung  des  scharfsinnigen  Forschers 
unter  dem  Drucke  des  herrschenden  Doktrinarismus  und  einer  künst- 
lichen Klassifizierung  der  typhösen  Fieberformen  nicht  kräftig  genug, 
um  bei  seinen  Zeitgenossen  eine  kritische  Sichtung  der  verworrenen 
Meinungen  herbeizuführen.  Gerade  die  deutschen  Aerzte  huldigten 
den  Anschauungen  der  Erregungstheorie  in  zügellosem  Ausmasse  und 
selbst  besonnene  Männer  vermochten  sich  dem  Schwergewichte  der 
naturphilosophischen  Strömung,  unter  welcher  bekanntlich  die  nüch- 
terne  vorurteilsfreie   Krankheitsbeobachtung   stark   zu   Schaden   ge- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  785 

kommen  war,  nicht  zu  entziehen.  Obgleich  es  nicht  an  theoretischen 
Erklärungsversuchen  mangelte  und  beispielsweise  Xarkus  und  einige 
englische  Aerzte  auf  den  Gedanken  gerieten,  den  ansteckenden  Typhus 
lediglich  als  eine  Gehirnentzündung  hinzustellen,  so  blieb  doch  vorder- 
hand die  herkömmliche  Lehre  von  den  ..Xervenfiebern"  aufrecht  er- 
halten. Nicht  um  -vieles  besser  stand  es  im  allgemeinen  um  die  The- 
rapie, am  schlimmsten  um  die  Prophylaxis.  Die  Infektionsgefahr 
wurde  allerdings  von  den  einsichtsvollen  Aerzten  anerkannt,  aber  die 
Drangsale  der  Zeit  und  gewiss  auch  die  unsicheren  Vorstellungen  von 
der  Wirksamkeit  hygienischer  Massnahmen  Hessen  irgendwelche  sani- 
tätspolizeiliche Vorkehrungen  nur  zu  ohnmächtigen  Erfolgen  kommen. 
In  der  Therapie  standen  die  Erregungsmittel  in  unerschütterlichem 
Ansehen.  Opium,  Kampher  und  Alkohol  wm-den  in  unglaublichen 
Mengen  an  Typhuskranke  verschwendet,  denselben  auch  je  nach  den 
Grundsätzen  der  Schule  Brech-  und  Abführmittel  in  bedenklichen  Gaben 
verabreicht  oder  wo  man  ein  antiphlogistisches  Eegime  für  geraten 
fand,  die  stärksten  Aderlässe  zu  teil.  Nur  wenige  Aerzte  huldigten 
einem  exspectativen  Verfahren  und  legten  auf  die  Salubrität  des 
Krankenzimmers  das  Hauptgewicht  ihrer  Anordnungen. 

Verfolgen  wir  die  weitere  Geschichte  des  Flecktyphus,  so  tritt 
uns  die  auffällige  Thatsache  entgegen,  dass  derselbe  in  Europa  vom 
Jahre  1815  an  meist  nur  in  vereinzelten  Ausbrüchen  von  geringer 
territorialer  Ausdehnung  sich  zeigte  und  erst  mit  dem  Jahre  1846  in 
grösseren  epidemischen  Zügen  wiederkehrte.  Eine  Ausnahme  hiervon 
bildeten  Grossbritannien  und  Italien.  Für  das  britische  Inselreich,  wo 
sich  eine  Typhusepidemie  im  Zeiträume  1816 — 1819  entwickelte,  war 
neuerlich  Irland  der  Herd,  von  welchem  1618  die  Krankheit  ausging 
und  nach  England  und  Schottland  in  den  nächsten  Jahren  verbreitet 
wurde.  Die  Zahl  der  Kranken  soll  sich  auf  800000,  nach  anderer 
Berechnung  sogar  auf  Vj^  Millionen  belaufen  haben.  "Wie  einstimmig 
von  englischen  Beobachtern  konstatiert  ist,  war  jedoch  in  dieser 
Epidemie  das  Eückfallfieber  weitaus  die  vorherrschende  Erkrankungs- 
form, die  auch  in  der  ungewöhnlich  milden  Mortalität  ihre  Bestätigung 
fand.  Die  Ausbrüche  des  Fleckfiebers  in  den  Jahren  1821 — 22, 
1826—28,  mehr  auf  Irland  und  Schottland  beschränkt,  waren  gleich- 
falls mit  dem  rekurrierenden  Typhus  vergesellschaftet,  während 
letzterer  in  der  nächsten  grösseren  Epidemie  des  Typhus,  im  Jahre 
1836—38  vollständig  verschwunden  war. 

Italien  wurde  in  den  Jahren  1816 — 1818  ebenfalls  vom  Fleck- 
typhus ergriffen,  der  mit  ausserordentlicher  Heftigkeit  über  die  ganze 
Halbinsel  und  Sizilien  eine  geradezu  pandemische  Verbreitung  erlangte. 
Die  zahlreichen  Epidemien  der  folgenden  Jahrzehnte,  welcher  auf 
italischem  Boden  vorgekommen  waren,  erstreckten  sich  auf  einzelne 
Provinzen,  Bezirke  und  Städte. 

Sodann  ist  der  oftmaligen  Ausbreitung  der  Seuche  in  einzelnen 
Städten  und  Gouvernements  von  Russland,  Polen,  sowie  in  den  Ostsee- 
provinzen zu  gedenken,  deren  Quelle  Hirsch  mit  Recht  im  russischen 
Reiche  gelegen  nennt  und  dasselbe  gleich  Irland  als  einen  endemischen 
Typhusherd  auf  europäischem  Boden  bezeichnet.  Speziell  für  das  öst- 
liche Deutschland,  für  Galizien  und  Ungarn  war  von  jeher  die 
Nachbarschaft  Russlands  zum  verhängnisvollen  Vermittler  der  Typhus- 
seuche geworden,  die  hier  sowie  in  Böhmen,  Niederösterreich  und 
Wien  auch  in  der  Periode  1820 — 1846  wiederholt  in  lokalen  Epidemien 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  50 


786  Victor  Fossel. 

erschienen  war.  Sie  alle  aber  blieben  zurück  gegen  die  Verbreitung, 
welche  das  Fleckfieber  in  den  Jahren  1847  und  1848  in  Oberschlesien 
erlangt  hat.  Virchow  hat  die  elenden  sozialen  und  hygienischen 
Zustände,  die  Lebensgewohnheiten  der  dortigen  Bevölkerung  als  Augen- 
zeuge der  Epidemie  geschildert  und  mit  summarischer  Kürze  als 
„grauenhaft  jammervolle"  bezeichnet.  Wirtschaftliche  Kalamitäten, 
Misswachs  und  Hungersnot,  eine  weitverbreitete  Dysenterie  sollen  dem 
Fleckfieber  vorangegangen  sein.  Dasselbe,  von  vereinzelten  Rekurrens- 
Erkrankungen  begleitet,  fand  binnen  kurzer  Zeit  nahezu  in  ganz 
Oberschlesien  seine  Ausbreitung;  in  einzelnen  Kreisen  stieg  die  Er- 
krankungs-  und  Sterbeziffer  auf  eine  ungewöhnliche  Höhe  empor  und 
die  Gesamtzahl  der  in  der  Provinz  durch  Hunger  und  Krankheiten 
hinweggerafften  Menschen  betrug  20000.  In  einer  nur  um  weniges 
geringeren  Intensität  grassierte  in  den  Jahren  1846 — 1849  das  Fleck- 
fieber in  Galizien,  Böhmen  und  Oesterreich-Schlesien.  Sein  gleich- 
zeitiges Auflodern  in  Belgien,  zumal  in  den  Provinzen  Ost-  und  West- 
flandern ging  mit  tief  eingreif  enden  kommerziellen  Störungen,  Aus- 
ständen und  Brotlosigkeit  der  arbeitenden  Bevölkerung  einher. 

In  diesem  Zeiträume  wurde  Irland  neuerlich  von  einer  überaus 
schweren  Epidemie  des  Fleckfiebers  betroffen.  Wie  in  früheren.  Seuchen- 
perioden hatte  ein  allgemeiner  Notstand  der  Krankheit  gleichsam  Vor- 
schub geleistet,  die  im  Jahre  1846  mit  unerhörter  Ausdehnung  in 
irischen  Städten  beginnend,  1847  nach  England  und  Schottland  sich 
fortpflanzte  und  in  diesem  Jahre  überall  den  höchsten  Stand  erreichte. 
In  Irland  allein  war  über  eine  Million  Menschen  am  Typhus  erkrankt, 
(nach  Murchison  vorwiegend  in  exan thematischer,  doch  auch  in  ab- 
domineller Form  und  als  Recurrens  vorkommend).  England  zählte 
mehr  als  300000  Typhusfälle,  am  meisten  Liverpool  mit  10000  daran 
Verstorbenen.  Von  den  75000  Iren,  welche  im  Jahre  1847  ihre 
Heimat  verliessen  und  nach  Kanada  sich  einschifften,  starben  10000 
unterwegs  oder  bald  nach  ihrer  Ankunft  auf  dem  amerikanischen 
Festlande  als  Opfer  der  Seuche. 

Sehen  wir  von  kleineren  Lokalepidemien  des  Fleckfiebers  während 
der  folgenden  Zeitperiode  ab,  so  haben  wir  seines  bedeutenden  Auf- 
tretens während  des  Krimkrieges  in  den  Jahren  1854 — 1856  zu  ge- 
denken. Schon  zu  Beginn  der  Feindseligkeiten  hatten  Cholera  und 
Skorbut  unter  den  kämpfenden  Heeren  beträchtliche  Verwüstungen  an- 
gerichtet, überdies  das  Fleckfieber  in  der  russischen  Armee  schon  so 
weiten  Umfang  angenommen,  dass  deren  Kontingente  empfindlich  unter 
der  Seuche  zu  leiden  hatten.  Im  Jahre  1855  nahm,  nachdem  gleich- 
zeitig die  Cholera  ihre  Nachschübe  ausgesendet,  der  Flecktyphus  von 
neuem  zu.  Anfänglich  waren  es  die  englischen  Truppen,  die  in  be- 
sonders ungünstigen  Lagerplätzen  und  bei  unzureichender  Verpflegung 
den  härtesten  Bedrängnissen  ausgesetzt,  dem  Typhus  zum  Opfer  fielen. 
Als  aber  die  hygienischen  Verhältnisse  der  Briten  wesentliche  Ver- 
besserungen erfuhren,  trat  der  Abdominaltyphus  und  das  Fleckfieber 
in  ihren  Lagerstellen  und  Spitälern  auffallend  rasch  zurück,  um  dafür 
die  französische  und  russische  Armee  um  so  schwerer  und  hartnäckiger 
heimzusuchen.  Insbesondere  im  Winter  1855/56  hatten  die  Franzosen 
unter  den  traurigsten  Missständen  zu  leiden.  Sie  zählten  im  Februar 
1856  schon  19648  Erkrankungen  mit  2460  Todesfällen  auf  der  Krim, 
in  Konstantinopel  20088  Kranke  mit  2527  Toten.  Neben  zahlreichen 
Fällen  von  Typhus  abdominalis  und  recurrens  dominierte  jedoch  das 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  787 

Fleckfieber  während  dieser  traui'igen  Winterepidemie  und  raffte  über 
10000  Mann  des  französischen  Heeres  dahin.  Es  konnte  nicht  ver- 
mieden werden,  dass  die  Seuche  vom  Ej'iegsschauplatze  weiterhin  ver- 
schleppt wurde  und  zu  lokalisierten  Ausbrüchen  in  Frankreich,  Eng- 
land und  im  Innern  des  russischen  Reiches  den  Anlass  bot.  Ob  die 
gleichzeitig  in  Oberschlesien,  in  mehreren  Kronländern  Oesterreichs 
und  in  Wien  beobachteten  Fleckfieberepidemien  mit  dem  Auftreten 
der  Krankheit  auf  der  Halbinsel  Krim  in  unmittelbarem  Zusammen- 
hange gestanden  waren,  ist  nicht  sicher  nachzuweisen;  nach  früheren 
und  späteren  Erfahrungen  darf  hier  die  direkte  Infektion  aus  Euss- 
land,  Eussisch-Polen  und  Galizien  mit  grosser  Wahi-scheinlichkeit  in 
Anschlag  gebracht  werden. 

Im  Zeiträume  1860—1870  begegnen  wir  dem  epidemischen  Fleck- 
fieber vorerst  1861  auf  dem  italienischen  Kriegsschauplatze,  in  den 
Jahren  1862—1866  in  Grossbritannien  und  Irland,  1863  in  Nord- 
amerika, 1866 — 1868  in  St.  Petersburg,  den  Ostseeprovinzen,  in  Ost- 
und  Westpreussen.  In  den  beiden  zuletzt  genannten  Provinzen  brach, 
wie  Xaunyn  und  Passauer  berichten,  die  Epidemie  im  Jahre  1866 
während  des  Bahnbaues  aus,  wo  Tausende  von  Arbeitern,  unter  den 
desparatesten  Verhältnissen  zusammengedrängt,  vom  Abdominaltyphus 
und  dem  Fleckfieber  ergriffen  wurden.  Letztere  Seuche,  noch  1867 
heftig  andauernd,  fand  von  diesem  Herde  aus  ihre  Verschleppung  nach 
Berlin,  Breslau  und  anderen  deutschen  Städten.  'Mit  diesen  heftigen 
Exacerbationen  der  Krankheit  —  es  starben  beispielsweise  in  den 
Jahren  1867 — 1868  in  Finnland  allein  59588  Bewohner  am  Fleck- 
typhus —  stand  dessen  Ausbreitung  in  vielen  Gegenden  Skandinaviens 
in  dem  Zeiträume  1865 — 1871  in  Verbindung.  —  In  das  Jahr  1868 
fiel  die  grosse  Fleckfieberepidemie,  welche  in  Algier  und  Tunis  furcht- 
bar unter  den  Einwohnern  gehaust  hatte. 

Auch  im  folgenden  Dezennium  rekrudeszierte  das  Fleckfieber  in 
vielen  Landstrichen  und  Städten,  in  denen  es  wenige  Jahi-e  vorher 
Eingang  und  Verbreitung  gefunden  hatte.  So  wucherte  die  Seuche 
im  östlichen  Deutschland  fort;  sie  zog  seit  1869  in  BerUn  erhebliche 
Nachschübe  nach  sich  und  war  1868  und  1871  in  Wien,  1867  und 
1869  in  Prag  epidemisch  aufgetreten.  Eine  bedeutende  Steigemng 
erfuhr  die  Krankheitsverbreitung  im  europäischen  Russland  und  in 
Sibirien.  Nach  dem  Zeugnisse  Hermanns  erhob  sich  der  Fleck- 
typhus, der  in  St.  Petersburg  seit  einem  Jahrzehnte  nicht  erloschen 
war,  im  Jahre  1874  zu  einer  beträchtlichen  Epidemie.  Neben  zahl- 
reichen Erkrankungsfällen  an  Rekurrensfieber  dominierte  der  Petechial- 
typhus in  der  russischen  Hauptstadt  bis  tief  in  das  Jahr  1875  hinein, 
während  daselbst  in  der  Epidemie  der  Jahre  1879  und  1880  das  Rück- 
fallfieber das  entschiedene  Uebergewicht  erlangt^, 

In  Norddeutschland  nahm  das  Fleckfieber  im  Jahre  1873  in  Berlin 
den  Charakter  einer  epidemischen  Verbreitung  an  und  explodierte  an 
vielen  anderen  Orte  in  zahlreichen  sporadischen  Erkrankungen.  Prag 
wies  in  den  Jahren  1874  und  1876,  Wien  im  Jahre  1875  ein  stärkeres 
Anschwellen  der  Krankheit  auf  Zu  einer  epidemischen  Höhe  ge- 
staltete sie  sich  innerhalb  der  Jahre  1876  und  1877  in  Oberschlesien, 
wo  gleichzeitig  zahlreiche  Fälle  von  Rekurrensfieber  zur  Beobachtung 
gelangt  waren.  Insbesondere  hatten  die  Kreise  Beuthen,  Kattowitz 
und  Pless  schwer  darunter  zu  leiden.  Im  Regierungsbezirke  Oppeln 
belief  sich  während  dieser  Periode  die  Zahl  der  Erkrankungen  an 

50* 


788  Victor  Fossel. 

exanthematischem  Typhus  auf  6091,  jene  der  Sterbefälle  auf  644. 
Guttstadt  hat  für  den  Zeitraum  1877—1882  die  Summe  der  in 
preussischen  Spitälern  aufgenommenen  Fleckfieberkranken  auf  10600 
berechnet. 

Während  im  grossen  Kriege,  den  Deutschland  mit  Frankreich  in 
den  Jahren  1870 — 1871  geführt,  das  Fleckfieber  einzig  und  allein  auf 
die  Bewohnerschaft  der  belagerten  Festung  Metz  beschränkt  geblieben 
war,  entfaltete  dasselbe  seine  volle,  an  die  grausigen  Bilder  der  Kriegs- 
und Lagerseuchen  gemahnende  Bösartigkeit  in  den  Jahren  1877  und 
1878  auf  dem  Schauplatze  des  russisch-türkischen  Feldzuges.  Vor  allem 
wurde  die  russische  Armee  auf  das  härteste  von  der  Krankheit  be- 
troffen; mehr  als  100000  Erkrankungen  und  gegen  50000  Todesfalle 
kamen,  wie  Michaelis  berichtet,  auf  Rechnung  des  exanthematischen 
Typhus.  Die  elenden  Quartiere,  der  Mangel  jedweder  Isolierung  der 
Kranken,  die  steten  Marschbewegungen  der  infizierten  Truppen- 
abteilungen trugen  wesentlich  zur  Ausbreitung  der  Krankheit  bei,  die 
gleichzeitig  vielen  Aerzten  und  Pflegepersonen  verhängnisvoll  ge- 
worden w^ar. 

Mit  Beginn  der  achtziger  Jahre  war  ein  erheblicher  Rückgang 
des  epidemischen  Fleckfiebers  eingetreten.  Lokale  Ausbrüche  hingegen 
ereigneten  sich  in  ziemlicher  Stärke  in  verschiedenen  Städten,  so  1880 
in  Dublin,  1881—1882  in  Riga,  1880—1882  im  östlichen  Deutschland, 
wo  es  namentlich  in  Königsberg  zu  grösserer  Ausdehnung  gekommen 
war.  Auch  die  Periode  1893 — 1894  schloss  eine  grössere,  räumliche 
Ausdehnung  der  Seuche  in  Ost-  und  Westpreussen  in  sich.  Für  das 
östliche  Deutschland  und  für  Oesterreich-Ungarn  ist  zu  allen  Zeiten 
die  endemische  Herrschaft  der  Krankheit  in  Russland,  Russisch-Polen 
und  in  Galizien  gefahrvoll  geworden.  Immer  zwingender  weisen  die 
in  den  letzten  Dezennien  gemachten  Erfahrungen  darauf  hin,  spora- 
dische Fleckfieberfälle,  wie  solche  in  Herbergen,  Massenquartieren, 
Arresten  vorkommen,  auf  eine  Einschleppung  durch  Vagabunden  oder 
Obdachlose,  die  irgendwie  mit  verseuchten  Lokalitäten  oder  infizierten 
Personen  in  Berührung  gestanden  waren,  zurückzuführen.  Für  Irland 
steht  diese  Thatsache,  die  allerdings  während  der  letzten  beiden  Jahr- 
zehnte erheblich  an  Aktualität  abgenommen  hat,  nach  dem  Zeug^jisse 
der  Geschichte  fest;  nicht  weniger  deutlich  erweist  sich  für  Mittel- 
europa Russland  und  Galizien  als  Ausgangspforte  der  Krankheit. 
Wenn  für  die  Länder  des  Zarenreiches  nur  spärliche  Angaben  vor- 
liegen, so  sprechen  die  Ausweise  der  in  Galizien  behördlich  gemeldeten 
Flecktyphuserkrankungen,  deren  Zahl  alljährlich  3000 — 6000  beträgt, 
beredt  genug  für  die  Annahme  eines  konstanten  Seuchenherdes  in 
diesem  Lande. 


III.  Rückfallfieber. 
Litteratur. 

Engel,  Oest.  med.  Jahrb.  1846.  —  Ztielzer,  Die  Epidemie  d.  recurr.  Typhus 
zu  St.  Petersburg  1864 — 1865 — 1867.  —  Meissner,  Ueber  Febris  recurrens,  Schmidt 
Jahrb.  Bd.  126  ff.,  1865  ff.  —  Griesinger,  l.  c.  —  Herrmann  u.  Küttner,  Die 
Febris  recurrens  in  St.  Petersburg,  1865.  —  Mnrchison,  l.  c.  —  Ohernieier, 
Ueber  das  rückkehrende  Fieber,  Virch.  Arch.  47.  Bd.  1869.  —  Pribrain  w. 
Mobitschelc,  Studien  üb.  Febr.  recurr.,  Prag.  Vierteljsch.  II.  Bd.  1869.  —  Lebert, 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  789 

Äeüologie  und  Statistik  d.  RückfaUfiebers,  D.  Arch.  f.  kl.  Med.  VII.  Bd.  1870.  — 
fTessen,  Zur  Aetiologie  u.  neueren  Geschichte  d.  Febr.  recurr.,  1872.  —  Reit- 
linger,  lieber  Geschichte  .  .  .  des  Recurr ensfiebers,  1874.  —  Lebert,  in  Ziemssen 
Hdb.  d.  sp.  Path.  u.  Therapie,  I.  Bd.  1874.  —  lÄtten,  Die  Recurrens-Epidemie  in 
Breslau  im  Jahre  1872173,  D.  Arch.  f.  Min.  Med.  XIII.  Bd.  1874.  —  Wyss,  Das 
Rückfallfieber,  in  Gerhardts  Hdb.  d.  Kinderkrankh.  IL  Bd.  1877.  —  Warschauer, 
Allg.  Wien.  med.  Zeitg.  No.  44,  1878.  —  Friedrich,  Das  Atiftreten  der  Febr. 
recurr.  in  Deutschland,  D.  Arch.  f.  kl.  M.  25.  Bd.  1880.  —  Heschede,  Die  Re- 
currens-Epidemie V.  J  1879  u.  1880  in  Königsberg,  Virchow  Arch.  87.  Bd.  1882.  — 
Guttstadtf  Flecktyphus  und  Rückfalltyjyhiis  in  Preussen,  D.  m.  W.  No.  39,  1882. 
—  JRossbach,  Das  Rückfallfieber,  Ziemssen's  Hdb.  III.  Aufi..  1886.  —  Loetven- 
thal.  Die  Recurrens-Epidemie  in  Moskau  i.  J.  1894,  D.  Arch.  f.  kl.  Med.  57.  Bd. 
1896.  —  Egfjebrecht,  Febris  recurrens,  NothnageVs  Hdb.  d.  sp.  Path.  u.  Therap. 
in.  Bd.  2.  Theil  1902. 

Die  als  ßückfallfieber  bezeichnete  Infektionskrankheit,  deren 
Natur  durch  die  Spirochäta  Obermeieri  sowie  durch  den  typischen 
Verlauf  der  Fieberbewegungen  und  deren  Wiederkehr  charakterisiert 
ist,  tritt  geschichtlich  erst  im  18.  Jahrhundert  deutlicher  aus  den 
Epidemieberichten  hervor.  Es  wurde  von  dem  schottischen  Arzte 
Spittal  (1844)  versucht,  die  von  Hippokrates  im  I.  Buche  der 
Epidemien  geschilderten  Fieber  auf  Thasos  als  Relapsing  fever  zu 
deuten,  womit  jedoch  nur  eine  hypothetische  Auslegung  erreicht,  in 
Wirklichkeit  die  Annahme  als  weit  wahrscheinlicher  bekräftigt  wurde, 
dass  es  sich  dabei  um  schwere  Formen  des  remittierenden  Malaria- 
fieber gehandelt  habe.  Das  häufige  Vorkommen  des  Typhus  recurrens 
neben  der  epidemischen  Ausbreitung  des  Flecktyphus  gestattet  den 
Schluss,  dass  die  Krankheit  zweifelsohne  in  früheren  Jahrhunderten 
nicht  weniger  zahlreich  als  im  19.  Jahrhundert  aufgetreten,  aber  in 
ihrer  Eigenart  nicht  genug  gewürdigt,  sondern  mit  anderen  Krank- 
heitsprozessen, wie  Flecktyphus,  Malaria  oder  mit  Rückfällen  im  Ab- 
dominaltyphus verwechselt  worden  ist.  Die  ersten  verlässlichen  An- 
gaben stammen  von  dem  irischen  Arzte  Rutty  aus  dem  Jahre  1739, 
wo  derselbe  das  eigentümliche  Verhalten  des  Fiebers  in  Dublin  zum 
erstenmal  zu  beobachten  Gelegenheit  fand  und  auch  im  Jahre  1741 
wieder  von  ausgesprochenen  Fällen  des  Fleckfiebers  strenge  auszu- 
sondern in  die  Lage  kam.  Nach  ihm  hat  Huxham  in  England  die 
gleichen  Wahrnehmungen  gemacht,  während  am  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts Stark  für  Schottland,  Bark  er  und  Cheyne  für  Irland 
die  Ausbreitung  des  RückfaUfiebers  in  der  Armenbevölkerung  unter 
dem  gebräuchlichen  Namen  „Febricula"  beschrieben  haben. 

Die  an  anderer  Stelle  erwähnte  Epidemie  des  Flecktyphus,  welche 
in  der  Periode  1817 — 1819  auf  ganz  Britannien  sich  erstreckt  hatte, 
war  mit  der  gleichzeitigen  Herrschaft  des  Rekurrens  verbunden,  ohne 
dass  man  bei  dem  Umstände,  als  beide  Krankheiten  als  Modifikationen 
eines  und  desselben  Grundleidens  galten,  die  parallele  Ausdehnung 
zweier  Volkskrankheiten  im  Sinne  unserer  modernen  Diagnostik  ver- 
folgt hat.  Nur  soviel  lässt  sich  nach  Murchison  aus  den  Zahlen- 
berichten der  Hospitäler  entnehmen,  dass  am  Beginne  der  Epidemie 
der  rekurrierende,  am  Schlüsse  derselben  der  exanthematische  Typhus 
bei  weiten  prävalierte.  Das  letztere  Verhältnis  konnte  man  wieder 
in  der  irischen  und  schottischen  Epidemie  der  Jahre  1826  — 1827 
beobachten,  in  welcher  die  strengere  Scheidung  beider  Krankheits- 
formen durchgeführt  und  namentlich  die  ungleich  geringere  Lethalität 
des  RückfaUfiebers  unzweifelhaft  nachgewiesen  worden  war.  Auch 
die  unter  dem  Namen  des  biliösen  Typlioids  heute  anerkannte  schwere 


790  Victor  Fossel. 

Abart  des  Relapsing  fever  g-elangte  während  dieser  Epidemie  zur  Er- 
scheinung, fand  aber  nicht  als  solche,  sondern  bei  den  Berichterstattern 
Graves  und  O'Brien  als  Gelbfieber  seine  Deutung  und  Erklärung. 
Wie  Creighton  sagt,  war  die  Landstreicherei  der  Hauptweg,  auf 
dem  sich  die  Seuche,  zugleich  mit  Dysenterie  einhergehend,  im  Lande 
verbreitet  und  zwischen  den  grossen  Epidemien  der  folgenden  Jahre 
hingezogen  hat. 

Die  nächsten  Nachrichten  über  den  rekurrierenden  Typhus  stammen 
aus  Eussland,  wo  man  sein  Vorkommen  1833  in  Odessa  zuerst  beob- 
achtet hat.  Noch  schärfer  wurde  die  Krankheit  während  ihres  epide- 
mischen Auftretens  im  Winter  1840—1841  in  Moskau  verfolgt  und 
in  ihrer  einfachen  wie  in  der  biliösen  Form  von  Hermann,  Pelikan 
und  Levestamm  beschrieben.  » 

Im  Jahre  1842  gewann  die  Febris  recurrens  im  britischen  Insel- 
reiche neuen  Boden,  indem  sie  von  Irland  ausgehend  in  enormer  Ver- 
breitung nach  Schottland  übergrifi;  hier  wie  in  dem  schwächer  be- 
fallenen England  über  den  gleichzeitig  herrschenden  Flecktyphus  bei 
weiten  überwog  und  erst  gegen  Ende  der  Epidemie  1844  durch  die 
rascher  ansteigende  Anzahl  Fleckfieberkranker  überholt  worden  war. 
In  der  Stadt  Glasgow  stieg  während  der  Epidemie  des  Jahres  1843 
die  Zahl  der  Rekurrenskranken  auf  32000.  Ein  neuer  Ausbruch  in 
Grossbritannien  und  Irland  fiel  in  das  Jahr  1847,  wo  der  exanthema- 
tische  und  rekurrierende  Typhus  gemeinschaftlich  zu  epidemischer 
Ausdehnung  kamen  und  die  beiden  folgenden  Jahre  hindurch  in  un- 
gewöhnlicher In-  und  Extensität  sich  behaupteten.  Besonders  hart 
wurde  die  irische  Bevölkerung  betroffen  und  von  den  beiden  Volks- 
krankheiten nicht  minder,  wie  von  Ruhr  und  Skorbut  auf  das  ärgste 
mitgenommen.  Nach  Kennedy  zählte  man  in  Dublin  während  der 
Jahre  1847  und  1848  allein  40000  Rekurrensfälle.  Die  Not  trieb  die 
Einwohner  Irlands  zu  Massenauswanderungen  und  mit  ihnen  ge- 
langte das  Rückfallfieber  nach  Nordamerika,  wo  es  1848  von  New  York 
aus  rasche  Verschleppung  fand. 

In  Deutschland  bot  die  oberschlesische  Epidemie  des  Fleckfiebers 
1847 — 1848  zugleich  die  erste  Gelegenheit,  die  gemeinsame  Verstreuung 
des  exanthematischen  und  Rückfalltyphus  zu  beobachten.  Soviel  den 
damaligen  Berichten  zu  entnehmen  ist,  beschränkte  sich  die  ärztliche 
Forschung  nur  auf  allgemeine  epidemiologische  Studien,  ohne  in  eine 
Sichtung  der  speziellen  Formen  eingegangen  zu  sein.  Weiter  zurück 
reichen  die  Spuren  der  Krankheit  im  Osten  Oesterreich  -  Ungarns. 
Engel  hatte  schon  seit  1831  in  der  Bukowina  alljährlich  zur  Winters- 
zeit Gelegenheit  gehabt,  ein  unter  der  ärmeren  Bevölkerung  zu  Tage 
tretendes  „epidemisches  Nervenfieber",  durch  ausgeprägte  Rückfälle 
und  grosse  Kontagiosität  charakterisiert,  zu  verfolgen.  In  der  Nach- 
barprovinz Galizien  wurde  gleichfalls  1832  das  Rekurrensfieber  zuerst 
schärfer  von  ähnlichen  Erkrankungen  gesondert,  nachdem  es  im  Lande 
zahlreich  aufgetreten  und  namentlich  in  den  Gefängnissen  von  Krakau 
als  biliöser  Typhoid  epidemisch  zur  Erscheinung  gekommen  war.  Wie 
Warschauer  berichtet,  war  in  Krakau  seit  dem  Jahre  1843  das 
epidemisch  grassierende  Fleckfieber  eingerissen,  das  1847  seine  Akme 
erreicht  und  neben  welchen  man  zahlreiche,  damals  nicht  genau  de- 
finierte, durch  Rückfälle  gekennzeichnete  Krankheitsfälle  beobachtet 
hatte.  Die  anfänglich  mit  dem  Namen  einer  Febris  gastrica- 
biliosa  bezeichneten  Erkrankungen  stellten  sich  in  der  Folgezeit 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  791 

als  völlig  identisch  mit  dem  einfachen  und  biliösem  RekuiTensfieber 
heraus. 

Diese  Gemeinschaft  des  Vorkommens  des  exanthematischen  und 
rekurrierenden  Tj^dIius  und  die  besonderen  Eigentümlichkeiten  und 
Abweichungen  in  den  Bildern  beider  Krankheiten  hatten  schon 
frühzeitig  die  ärztliche  Forschung  beschäftigt  und  irische,  englische 
wie  russische  Beobachter  zur  Sonderstellung  des  Relapsing-Fever  in 
der  Krankheitslehre  hingeführt.  Vor  allem  hat  Jenner  1850  die 
Differenzialdiagnose  der  Krankheit  festgestellt,  ihre  Trennung  vom 
recidivierenden  Fleckfieber  einerseits,  von  der  Malaria  andererseits 
und  deren  epidemiologisches  Verhalten  mit  Genauigkeit  hervor- 
gehoben. Ihm  zunächst  kam  Griesinger,  der  1857  in  seiner 
klassischen  Arbeit  die  von  ihm  zuerst  1851  in  Aegypten  beobachteten 
Fälle  der  „Febris  recurrens"  und  des  ,.biliösen  Typhoid" 
als  Formen  einer  und  derselben  Krankheit  bezeichnet  und  die  Litte- 
ratur  der  Infektionskrankheiten  mit  einer  der  wertvollsten  Schilde- 
rungen bereichert  hatte. 

Während  das  Eückfallfieber  im  Laufe  des  sechsten  Dezenniums 
in  den  Seuchenberichten  auf  dem  Kontinente  völlig  zurückgetreten,  nur 
im  Jahre  1851  vorübergehend  in  London  und  Glasgow  erschienen  und 
auf  dem  Schauplatze  des  Krimkrieges  unter  den  Belagerungstruppen 
vor  Sebastopol.  zuerst  in  der  englischen,  dann  in  der  französischen 
Armee  zum  Ausbruch  gelangt  war,  nahm  es  vom  Jahre  1863  an 
seinen  neuerlichen  Ausgang  von  Russland,  um  sich  nunmehr  in  längerer 
Dauer  auf  der  Höhe  mehr  oder  weniger  ausgedehnter  Lokalepidemien 
zu  erhalten.  Schon  1863  w^urde  die  Krankheit  in  Odessa  beobachtet, 
entwickelte  sich  hier  im  folgenden  Jahre  zu  einer  Epidemie,  sie 
wurde  im  Sommer  1864  sporadisch  vorkommend  in  St.  Petersburg 
nachgewiesen,  wo  in  der  Folgezeit  zahlreiche  Nachschübe  sich  ein- 
stellten, so  dass  gegen  Ende  des  Jahres  neben  dem  gleichzeitig 
herrschenden  Fleckfieber  der  Recurrens  zur  prädominierenden  Seuche 
geworden  war.  Nach  Hermann  und  Kernig  wurden  1864 — 1866 
in  das  Obuschoffsche  Hospital  7128  Rekurrenskranke  aufgenommen, 
wovon  11.9  "„  mit  Tod  abgingen.  Hierbei  fehlte  es  keineswegs  an 
ziemlich  zahlreichen  Erkrankungsfällen,  die  sich  als  Mischformen 
beider  Infektionskrankheiten  manifestierten.  Während  der  Jahre  1865 
und  1866  erhielt  sich  das  Rückfallfieber  sowohl  in  seiner  einfachen 
Form  wie  in  der  Gestalt  des  biliösen  Typhoids  in  der  russischen 
Hauptstadt,  wie  im  Gouvernement  Petersburg.  Die  Epidemie  hat  an 
Hermann  und  Küttner,  anBotkin,  Zuelzer  u.  a.  sowohl  nach 
der  epidemiologischen  wie  nach  der  pathologischen  Richtung  vortreff- 
liche Darsteller  gefunden.  Zu  derselben  Zeit  grassierte  die  Febris 
recurrens  in  mehreren  Gouvernements  des  europäischen  Russlands 
und  in  Sibirien,  an  vielen  Orten  später  rekrudeszierend.  Nahezu 
überall  blieb  die  Seuche  auf  die  ärmeren  Volksklassen  eingeschränkt, 
ging  meist  aus  einer  Gruppe  von  Haus-  und  Strassenepidemien  zu 
weiterer  Ausbreitung  über  und,  wo  ihre  zeitliche  und  örtliche  Be- 
wegung schärferer  Aufmerksamkeit  begegnete,  konnte  nachgewiesen 
werden,  dass  sie  eine  hochgradige  Kontagiosität  und  besondere  Vor- 
liebe zeigte,  sich  in  jenen  menschlichen  Wohnsitzen  einzunisten,  in 
denen  Schmutz,  Elend,  Ueberfüllung  und  andere  Bedingungen  der  In- 
salubrität  vorhanden  waren.  Die  überwiegende  Zahl  der  Beobachter 
stimmte  darin  überein,  dass  das  Rückfallfieber  wie  das  Fleckfieber 


792  Victor  Fossel. 

an  soziale  Missstände  sich  anzuschliessen  pflegt;  im  Gegensatze  zu 
Murchison  hatten  jedoch  neuere  Autoren  hervorgehoben,  dass  der 
Nahrungsmangel  an  sich,  auch  selbst  in  seiner  Ausgestaltung  zu  all- 
gemeiner Hungersnot  in  vielen,  genau  verfolgten  Epidemien  keine 
prädisponierende  Eolle  gespielt  hat  und  demnach  die  eingebürgerte 
Bezeichnung  des  Leidens  als  „Typhus  famelicus"  einer  ätiologisch 
begründeten  Stütze  entbehrte. 

Wie  im  Innern  des  russischen  Reiches  entwickelte  sich  das  Rück- 
fallfieber vom  Jahre  1865  an  in  Livland,  Finnland,  Russisch-Polen 
und  Galizien  zu  Epidemien,  griif  1868  auf  eine  Reihe  norddeutscher 
Städte  über,  wie  Königsberg,  Stettin,  Greifswald  und  Berlin,  wo  es 
nahezu  ausnahmslos  auf  bestimmte  Herbergen  und  die  Wohnungen  der 
fluktuierenden  Bevölkerung  beschränkt  geblieben  war.  Im  Laufe  des 
Jahres  verbreitete  sich  die  Seuche  im  Osten  Deutschlands,  in  Mittel- 
deutschland, namentlich  in  der  Provinz  und  im  Königreiche  Sachsen. 
Zu  einer  grösseren  Verbreitung  kam  die  Krankheit  im  gleichen  Jahre 
in  Tarnopol  und  Prag,  wo  sie  mit  dem  stärker  hervorgetretenen 
Fleckfieber  koinzidierte,  während  sie  in  der  Breslauer  Epidemie  1868 — 
1869  unmittelbar  nach  Ablauf  der  Fleckfieberepidemie  einsetzte  und 
auffälliger  Weise  von  denselben  unsauberen  Quartieren  ihren  Ausgang 
nahm,  in  denen  kurz  vorher  der  Petechialtyphus  herrschend  gewesen 
war.  In  Breslau,  Berlin  und  Magdeburg  erhielt  sich  die  Epidemie  bis 
zum  Frühjahr  1869. 

Die  in  den  genannten  Städten  und  Ländern  über  die  Provenienz 
des  Rückfallfiebers  gewonnenen  Erfahrungen  Hessen  keinen  Zweifel 
aufkommen,  dass  es  aus  Russland  seinen  Weg  nach  dem  westlichen 
Europa  genommen  habe.  Desgleichen  wurde  in  Grossbritannien  die 
Krankheit,  die  daselbst  seit  dem  Jahre  1855  nicht  wieder  vorgekommen 
war,  durch  polnische  Juden  im  Jahre  1868  zunächst  nach  London  ein- 
geschleppt und  gewann  hier  in  den  von  zahlreichen  Iren  bewohnten 
Armenvierteln  eine  beträchtliche  Ausdehnung.  Auch  in  anderen 
Städten  des  britischen  Inselreiches  kam  das  Rückfallfieber  zu  epi- 
demischen Ausbrüchen,  so  1869  in  Manchester,  1870  in  Liverpool,  Edin- 
burg  und  Glasgow,  von  welchen  Centren  aus  seine  Verschleppung 
durch  irische  Auswanderer  nach  Newyork  und  Philadelphia  stattfand. 
In  Grossbritannien  trat  erst  im  Jahre  1873  ein  Rückgang  der  Morbi- 
dität ein. 

Eine  neuerliche  Invasion  der  Febris  recurrens  befiel  einzelne 
Städte  des  nördlichen  Deutschland,  wie  Greifs wald,  Posen,  Stettin  und 
Berlin  innerhalb  der  Jahre  1871 — 1873,  ohne  aber  eine  epidemische 
Gestaltung  anzunehmen.  Nur  Breslau  wurde  im  Winter  1872  auf 
1873  härter  betroffen;  nach  Litten  etablierte  sich  hier  in  466  Fällen 
die  Krankheit  in  einer  fortlaufenden  Kette  von  Stubenepidemien  oder 
trat  vorwiegend  in  den  Asylen  für  Obdachlose  auf. 

In  der  Geschichte  des  Rückfallfiebers  bildet  das  Jahr  1873  einen 
bemerkenswerten  Abschnitt,  denn  es  brachte  die  denkwürdige  Ent- 
deckung Obermeier's,  der  zuerst  den  spezifischen  Mikroorganismus 
dieser  Krankheit,  die  nach  ihm  benannte  Spirochäte,  im  Blute  und  in 
den  Organen  der  vom  Relapsing  Fever  Befallenen  nachwies.  Wie 
zahlreiche  Kontroiversuche  dargethan  haben,  wurde  der  Krankheits- 
erreger in  keinem  Falle  echter  Rekurrenserkrankung  vermisst,  anderer- 
seits konnten  einzig  nur  in  einem  solchen  die  genannten  Mikroben 
aufgefunden  werden.    Heydenreich  und  Moczutkowsky  haben 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  793 

später  die  Spii'ochäte  Obermeiers  im  Blute  der  an  biliösem  Typhoid 
Erkrankten  aufgedeckt  und  damit  die  schon  von  Griesinger  klinisch 
festgestellte  Indentität  beider  Formen  sowie  deren  einheitliche  Aetio- 
logie  über  jeden  Einwand  erhoben. 

Seit  dem  Jahre  1873  war  das  Rekurrensfieber  in  Europa  in  ver- 
hältnismässig geringerem  Umfange  hervorgetreten  und  selbst  dort,  wo 
es  in  epidemischer  Expansion  zur  Erscheinung  gelangt  war.  von  einer 
gegen  frühere  Perioden  kleineren  Erkrankungsziffer  begleitet.  In 
seiner  einfachen  sowie  in  der  biliösen  Form  entwickelte  sich  die 
Seuche  innerhalb  der  Jahre  1873 — 1876  in  Odessa  zu  einer  neuerlichen 
Epidemie;  1875  trat  sie  in  Krakau  sporadisch,  hingegen  1877 — 1878 
in  stärkerem  Masse  auf;  insbesondere  bildeten  hier  Logierhäuser  wie 
Arreste  ihren  Sitz  und  einer  im  Spitale  ausgebrochenen  Hausepidemie 
waren  auch  Aerzte  und  Wartepersonen  nicht  entgangen.  Im  Jahre 
1876  kam  die  Krankheit  in  Böhmen  in  weiterer  Verbreitung  vor, 
namentlich  zählte  Prag  eine  grosse  Zahl  von  RekuiTenskranken,  In 
Riga  war  seit  dem  Jahre  1865  das  Rückfallfieber  niemals  erloschen 
und  exarcerbierte  im  Jahre  1875  nicht  unbeträchtlich;  ähnlich  verhielt 
es  sich  in  Helsingsfors.  wo  nach  den  Epidemiejahren  1867 — 1868  nur 
vereinzelte  Fälle  sich  ereigneten,  hingegen  1876  deren  rasche  Zu- 
nahme und  lokale  Ausbreitung  zu  konstatieren  war. 

Soweit  ärztliche  Nachrichten  Aufschluss  geben,  ist  die  Krankheit 
1878  im  russischen  Reiche  weitverbreitet  gewesen;  damit  darf  deren 
Aufflackern  in  Finnland  und  auf  vielen  norddeutschen  Plätzen  während 
des  Zeitraumes  1878 — 1880  gewiss  in  ursächlichen  Zusammenhang  ge- 
bracht werden.  Auf  die  gleiche  Ursprungsquelle  weist  das  Rückfall- 
fieber und  das  biliöse  Typhoid  hin,  welches  während  des  "Winters 
1877 — 1878  auf  dem  russisch-türkisciien  Kriegsschauplatze  unter  den 
russischen  Truppen  epidemisch  aufgetreten  war  und  auf  die  bulgarische 
Bevölkerung  übergegiiffen  hatte.  Ein  stärkeres  Ueberwiegen  des 
Rückfallfiebers  unter  den  Volkskrankheiten  wurde  in  den  Jahren  1879 
und  1880  auf  deutschem  Boden  beobachtet.  Im  Herbst  1878  in 
Breslau  einsetzend  und  nach  Oberschlesien  ausstrahlend,  griff  die 
Krankheit  während  des  darauffolgenden  Winters  im  ganzen  nördlichen 
Deutschland  epidemisch  um  sich,  trat  im  Sommer  1879  an  den  meisten 
Herden  zui'ück,  um  dann  im  Winter  1879 — 1880  im  Norden  wie  im 
Süden  des  Reiches  von  neuem  in  zahlreichen  Lokalepidemien  sich 
wiederum  einzustellen.  Im  Zeiträume  1883—1888  kam  das  RekuiTens- 
fieber  in  Deutschland  nur  in  massigem  Umfange  vor.  Die  zuletzt 
bekannt  gewordenen  Recnrrensepidemien  auf  europäischem  Boden  sind 
jene  in  St.  Petersburg  in  den  Jahren  1885 — 1886  und  1894,  in  Moskau 
gleichfalls  1894,  wo  die  Seuche  seit  12  Jahren  nicht  mehr  in  grösserem 
Umfange  hervorgetreten  war. 

Wenn  wir  von  den  unsicheren  Mitteilungen  über  das  Vorkommen 
des  Rekurrensfiebers  in  den  Mittelmeerländem  absehen,  wo  ins- 
besondere in  Aegypten,  Nubien,  Abessynien  und  Algier  das  biliöse 
Typhoid  zahlreich  beobachtet,  nicht  weniger  häufig  aber  auch  mit 
remittierender  Malaria  oder  Typhusrecidiven  verwechselt  worden  war, 
so  haben  wir  kurz  des  Rückfallfiebers  in  Indien  zu  gedenken,  welches 
Land  analog  dem  russischen  Reiche  und  Irland  als  ein  beständiger 
Herd  der  Krankheit  angesehen  werden  kann.  Nach  Lyons  reichen 
die  ersten  Spuren  der  Febris  recurrens  in  Indien  bis  zum  Jahre  1810 
zurück;  als  weitere  Epidemiejahre  sind  1819,  1824  und  1828  bekannt 


794  Victor  Fossel. 

geworden.  Das  Eelapsing  fever,  in  früherer  Zeit  meist  für  Inter- 
mittens  oder  ,,typhöses  Fieber"  schlechtweg  gehalten  und  erst  seit 
1856  auch  innerhalb  Indiens  in  seiner  Eigenart  erkannt,  gelangte 
seither  an  vielen  Plätzen  des  Pandschab,  in  Bengalen  und  in  den  nord- 
westlichen Provinzen  des  Landes,  namentlich  während  der  Jahre 
1863—1868,  1876—1877  vorwiegend  in  der  Form  des  biliösen  Typhoids 
epidemisch  zur  Beobachtung.  Vorwiegend  vermittelten  die  Gefäng- 
nisse die  Verbreitung  der  Seuche.  Mit  ihrem  Vorkommen  in  Hindostan 
hing  die  durch  Kulitransporte  veranlasste  Verschleppung  der  Krank- 
heit auf  dem  Seewege  zusammen,  wie  eine  solche  1865  von  Calcutta 
nach  Reunion,  1867  von  Bombay  nach  Mauritius  erfolgt  und  auf 
beiden  Inseln  von  schweren  Ausbrüchen  der  Krankheit  begleitet  war. 
Gleich  Indien  wurde  China  in  den  Jahren  1864 — 1865  vom  Rückfall- 
fieber und  gemeinsam  vom  Fleckfieber  schwer  heimgesucht;  nament- 
lich in  Peking,  Hongkong  und  anderen  Hauptorten  des  Reiches  war 
das  biliöse  Typhoid  unter  dem  Bilde  des  Gelbfiebers  erschienen.  End- 
lich ist  noch  zu  erwähnen,  dass  die  Febris  recurrens  1854 — 1856  in 
grosser  Heftigkeit  in  Peru  geheiTscht,  als  „Pest  der  Cor dil leren" 
bezeichnet,  geradezu  ausschliesslich  auf  die  Höhenlagen  über  5000  Fuss 
sich  beschränkt  und  weiterhin  die  Bergdistrikte  von  Chile  und  Bolivia 
durchseucht  hat. 


IV.  Abdominaltyphus. 
Litteratur. 

Hasenörl,  Historia  med.  morbi  epidemici  . . .  1760.  —  Boissier  de  Sau- 
vage, l.  c.  —  Sarcone,  Geschichte  der  Krankheiten  in  Neapel  i.  Jahre  1764, 
1770.  —  ßöderer  et  Wagler,  Tractatus  de  morbo  mticoso,  1783.  —  Petit  et 
Serres,  Traite  de  la  fievre  enter o-mesenterique,  1814.  —  Bretoneau,  De  la 
Dothinenterite,  Ärch.  general.  1826.  —  Willis,  l.  c.  —  Huxhani,  l.  c.  —  Baglivi, 
Opera,  1827.  —  Louis,  Recherches  anatomiques  .  .  .  1829.  —  Eiseninann,  Die 
Krankheitsfamilie  Typhus^  1835.  —  Choniel,  lieber  das  Typhusfieber,  1835.  — 
Cless,  Gesch.  d.  Schleimfieber-Epidemie  1783—1836,  1837.  —  Gaultier  de  Claubry, 
Recherches  sur  les  analogies  et  les  differences  entre  le  typhus  et  la  fievre  typhoide, 
1838.  —  Sauer,  Der  Typhus  in  vier  Cardinalformen,  1841.  — .  Seitz,  Der 
Typhus  .  .  .  in  Bayern,  1847.  —  Jenner,  On  the  identity  .  .  .  of  typhus,  1850.  — 
Buhl,  Ein  Beitrag  z.  Aetiol.  d.  Typhus,  Zeitsch.  f.  Biol.  I.  Bd.  1865.  —  Murchison, 
l.  c.  —  Griesinger,  l.  c.  —  Pettenkofer,  Ueb.  d.  Schwankungen  d.  Typhus- 
Sterblichkeit  in  München  von  1850—1867,  Zeitsch.  f.  Biol-  1868.  —  Pettenkofer, 
Zur  Aetiologie  des  Typhus,  1872.  —  Woodward,  Typho-Malaria-Fever,  1876.  — 
Virchow,  Kriegstyphus  und  Ruhr,  l.  c.  1871.  —  Weichselbauni,  l.  c.  —  Cursch- 
niann,  Der  Unterleibstyphus,  Nothnagel  Hdb.  d.  sp.  P.  ii.  Th.  III.  Bd.  1900. 

Die  schon  bei  Besprechung  des  Flecktyphus  erwähnten  Schwierig- 
keiten der  sicheren  Deutung  und  Nachweisung  wiederholen  sich  noch 
in  weit  erhöhterem  Grade,  wenn  man  daran  gehen  wollte,  den  Ileo- 
typhus  aus  den  Schriften  der  alten  Griechen  und  ihrer  unmittelbaren 
Nachfolger  herauszufinden.  Ob  die  von  den  Hippokratikern  be- 
schriebenen Krankheiten:  Phrenitis,  Kausos  und  Koma  als  Typhus 
abdominalis  aufgefasst  werden  dürfen,  wurde  schon  von  Littre  und 
H  ä  s  e  r  als  unbegründet  hingestellt  und  die  Zugehörigkeit  der  an  sich 
schwankenden  Krankheitsbilder  zu  den  schweren  Formen  der  Ma- 
laria als  weit  näher  liegend  hervorgehoben.  Die  gleiche  Unklarheit 
waltet  über  den  Hemitritaeus  Galens,  welche  Fieberart  von  späteren 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  795 

Autoren,  namentlich  in  jenen  Fällen,  welche  den  sogenannten  biliösen 
Charakter  darboten,  auf  Ileotyphus  bezogen  wurden.  Es  liegt  kein 
halbwegs  verlässliches  Kriterium  vor,  um  dieser  Auslegung  eine  Stütze 
zu  verleihen,  obgleich  es  selbstverständlich  nicht  von  der  Hand  zu 
weisen  ist.  das  Vorkommen  der  Krankheit  im  Altertum  und  Mittel- 
alter zuzugestehen.  Die  Geschichte  des  Abdominaltyphus  oder  des 
Typhoids  ergibt  erst  mit  dem  17.  Jahrhundert  einige  wenn  auch  vor- 
sichtig zu  verwertende  Spuren  in  den  ärztlichen  Schriften,  die  aber 
noch  lange  hinaus,  wie  wir  zeigen  werden,  mehr  den  Charakter  äusser- 
licher  Vermutungen  an  sich  tragen  und  nicht  einmal  dort  die  strengere 
und  schärfere  Abgrenzung  des  Krankheitsbildes  im  modernen  Sinne 
gestatten,  wo  dessen  ärztliche  Beobachtung  mit  dem  Nachweise  gröberer 
anatomischer  Läsionen  sich  deckt,  die  bestenfalls  mit  der  Lokalisation 
des  typhösen  Prozesses  auf  der  üarmschleimhaut  in  einen  gewissen 
Einklang  gebracht  werden  könnten.  Unter  diesen  Voraussetzungen 
fällt  es  daher  nicht  leicht,  in  den  Schilderungen  der  Autoren  des  17. 
und  18.  Jahrhunderts  absolut  verlässliche  Angaben  über  den  Ileo- 
typhus in  grösserer  Zahl  aufzuspüren;  andererseits  begegnen  wir  bei 
denselben  immerhin  einer  Reihe  von  Belegstellen,  die  die  Entwicklung 
des  sporadischen  und  epidemischen  Typhoids  immerhin  über  die  Grenze 
der  Wahrscheinlichkeit  erheben.  Ob  die  von  Spieghel,  Bartho- 
linus  u.  a.  mitgeteilten  Fälle  von  unregelmässig  remittierenden  Fiebern 
mit  Diarrhoe,  empfindlichem  Abdomen,  Schlaflosigkeit  oder  Lethargie 
sowie  post  mortem  aufgedeckter  Entzündung  und  Sphacelus  des  Dünn- 
und  Dickdarms  hierher  zu  rechnen  sind,  möge  unentschieden  bleiben. 
Mehr  Aehnlichkeit  mit  dem  Typhoid  darf  jene  Krankheit  beanspruchen, 
die  Willis  als  „Febris  putrida  maligna"  von  der  Febris  pestilens. 
also  dem  Flecktyphus  unterschied,  die  sich  durch  längere  Dauer, 
Mangel  eines  Exanthems,  öftere  Neigung  zu  lokalen  Komplikationen 
differenzierte  und  an  der  Leiche  durch  eine  der  Variola  gleichkommende 
Bildung  von  Pusteln  und  Geschwüren  auf  der  Schleimhaut  des  Dünn- 
darms charakterisierte.  Auch  die  von  demselben  Schriftsteller  be- 
schriebene ,.Febris  lenta"  mit  der  dabei  beobachteten  Neigung  der 
Mesenterialdrüsen  zur  Entzündung  und  Infiltration  scheint  hierher  zu 
gehören.  Bei  Sydenham,  der  einer  mit  mehreren  Symptomen  des 
abdominellen  Typhus  zusammenfallenden  Abart  des  Pestilenzfiebers  er- 
wähnt, mangelt  allerdings  die  Angabe  eines  Leichenbefundes.  Letzterei- 
wird  aber  in  ziemlich  deutlicher  Form  angedeutet  von  Baglivi,  der 
dem  römischen  Hemitritaeus  wegen  der  Darmerscheinungen  und  der 
Schwellung  der  Mesenterialdrüsen  direkt  als  „Febris  mesenterica"  be- 
zeichnet und  auf  die  Steigerung  der  Malariawirkung  zurückführt.  In 
gleichem  Sinne  legt  Lancisi  die  bei  Obduktion  von  Fieberkranken 
öfter  wahrgenommenen  Geschwüre  und  Perforationen  des  Darms  aus, 
leitet  aber  letztere  Erscheinungen  von  vorhandenen  Eingeweidewürmern 
ab.  Andererseits  gedenkt  Lancisi  gewisser  Lagerseuchen,  deren 
Ursprung  er  auf  Kloaken-  und  Latrinenmiasmen  zurückführt.  End- 
lich erwähnt  F.  Hoff  mann  eine  vom  Petechialfieber  differente  Krank- 
heit, die  1699  und  1728  in  Halle  epidemisch  vorkam,  im  Leben  durch 
schmerzhaftes  Abdomen,  Diarrhoe,  an  der  Leiche  durch  Verschwärung 
des  Darmes  manifestiert  war.  Er  gab  derselben  den  Namen  ^Febris 
petechizans  vel  spuria". 

Die  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  von  Strother 
und  Gil Christ  in  England  und  Schottland  veröffentlichten  Berichte 


796  Victor  Fossel. 

Über  Epidemien  des  „Slow  fever"  oder  des  „schleichenden  Nerven- 
flebers"  entsprechen  nach  ihrem  symptomatischen  Gepräge  dem  Ab- 
dominaltyphus, eine  Annahme,  die  durch  den  erstgenannten  Gewährs- 
mann um  so  näher  gebracht  wird,  als  er  unter  den  Begleit- 
erscheinungen die  Entzündung  und  Geschwürsbildung  in  den  Ge- 
därmen, sowie  die  Volumszunahme  der  Milz  und  Leber  an  den  Leichen 
der  Verstorbenen  als  charakteristischen  Befund  erkannt  hat.  Von  be- 
sonderem Interesse  ist  die  Zeichnung  des  schleichenden  Nervenflebers, 
welches  Huxham  1737  in  Plymouth  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte. 
Er  hielt  in  der  Darstellung  der  Fieber  eine  scharfe  Grenze  zwischen 
den  schleichenden  nervösen  Fiebern  und  den  putriden  malignen  Pete- 
chialfiebern  ein,  er  hob  die  grossen  Unterschiede  und  die  daraus  er- 
wachsenen diagnostischen  Irrtümer  hervor  und  wies  der  „Nervosa 
lenta"  schon  ihres  abweichenden  Verlaufes  wegen  eine  besondere 
Aetiologie  zu.  Wenn  anatomische  Beweise  den  damaligen  Beobachtern 
noch  nicht  die  volle  Gewähr  bei  Aufstellung  differenter  Formen  der 
in  Rede  stehenden  Fieber  geboten  haben,  so  erhellt  doch  aus  ihren 
Aufzeichnungen,  dass  sie  die  Krankheitsbilder  voneinander  getrennt 
und  aus  dem  sorgfältigen  Studium  des  ganzen  Verlaufes  die  einzelnen 
Momente  des  Erkrankungsprozesses  nach  dem  Stande  ihres  anatomi- 
schen Wissens  betrachtet  haben.  Wie  Huxham  hat  auch  sein  eng- 
lischer Landsmann  Manningham  die  von  dem  Petechialtyphus  ab- 
weichende Form  der  Febricula  oder  „little  fever"  gut  gekennzeichnet 
und  ihre  Identität  mit  dem  heutigen  Ileotyphus  voraus  erkannt. 

Die  von  England  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  ausgehende 
kritische  Sichtung  der  petechialen  Typhusformen  in  Gestalt  des  Kerker-, 
Hospital-  und  Schiffsfiebers  von  den  mehr  und  mehr  gewürdigten  „In- 
testinalfiebern",  sowie  die  Aufmerksamkeit  auf  die  augenfälligsten 
Unterschiede  beider  Krankheiten  wurde  zunächst  in  Deutschland  teil- 
weise fortgesetzt.  So  hat  Riedel  die  „Darmfieber"  (in  Erfurt  1748) 
unter  Angabe  von  —  freilich  nicht  einwurfsfreien  —  Leichenbefunden 
als  besondere,  von  spezifischen  Ursachen  bedingte  Prozesse  aufgefasst. 
Der  zwischen  Pringle  und  de  Haen  geführte  Streit  über  die  Be- 
handlung der  Fieber  durch  Aderlässe  ergab  die  bemerkenswerte 
Thatsache,  dass  die  von  dem  berühmten  Wiener  Kliniker  als  „Febris 
miliaria"  bezeichnete  Form  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  nichts  mit  dem 
von  Pringle  behandelten  Petechialfieber  zu  thun  hatte,  sondern 
dem  Typhus  abdominalis  weit  näher  gestanden  zu  haben  schien. 

Die  von  Röderer  und  Wagler  in  den  Jahren  1757 — 1762  in 
Göttingen  beobachteten  Epidemien  gaben  Anlass  zu  der  von  den  beiden 
Aerzten  im  Jahre  1760  veröffentlichten  Schrift  von  der  Schleimkrank- 
heit, „de  morbo  mucoso".  Die  berühmt  gewordene  Abhandlung  sucht 
im  Sinne  der  von  Sydenham  gelehrten  Abstammung  der  ver- 
schiedenen Volkskrankheiten  aus  einem  und  demselben  Grundleiden 
die  innigste  Verwandtschaft  der  Malaria,  der  Ruhr  und  des  Schleim- 
fiebers und  ihre  wechselweisen  Uebergänge  festzustellen.  Der  Morbus 
mucosus  wird  nach  seiner  schleichenden  und  akuten  Form  gezeichnet 
und  zwar,  was  dem  Berichte  höheren  Wert  verleiht,  auf  Grundlage 
von  Sektionsbefunden.  Als  die  wichtigsten  Erscheinungen  an  der 
Leiche  werden  Entzündungen  der  Darmschleimhaut,  Schwellung  der 
Follikel,  dysenterische  Ulceration  des  Dickdarms,  Vergrösserung  der 
Milz  und  pneumonische  Veränderungen  der  Lungen  aufgezählt.  Mit 
Recht  haben  namhafte  Historiker  in  einzelnen  dieser  Autopsien  das 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  797 

leibhaftige  Bild  des  lleotyphus  wiedei-zuerkenuen  geglaubt,  während 
sie  in  anderen  Obduktionsergebnissen  kaum  eine  Uebereinstimmung 
mit  demselben  finden  konnten. 

Dass  der  Abdominaltyphus  in  den  zahlreichen  Epidemien,  die 
während  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  insbesondere  1764 
— 1769  auf  der  apenninischen  Halbinsel  geheiTscht  hatten,  einen  nicht 
unwesentlichen  Anteil  genommen  hat,  wird  durch  die  Schiiften  von 
S  a  r  c  0  n  6  und  C  o  t  u  g  n  o  über  die  Seuche  von  Neapel  ziemlich  ausser 
Frage  gestellt.  Ebenso  finden  sich  bei  Morgagni  sichere  Angaben 
über  die  anatomischen  Veränderungen,  die  dem  lleotyphus  als  cha- 
rakteristische Merkmale  zukommen.  —  Unter  den  zahlreich  be- 
schriebenen Faulfiebern,  Schleim-  und  Gallenfiebern  der  letzten  De- 
zennien des  18.  Jahrhunderts  wird  zweifelsohne  dem  Abdominaltyphus 
ein  beträchtliches  Kontingent  zuzuweisen  sein,  ohne  dass  wir  aber 
liinsichtlich  seiner  Existenz  reelle  Nachweise  in  grösserem  Umfange 
erbringen  könnten.  Aus  vielen  Epidemieberichten  jener  Zeit  darf 
der  Wahrscheinlichkeitsschluss  gezogen  werden,  dass  eine  grosse 
Zahl  der  ,, Nervenfieber"  mit  intestinalen  Lokalisationen  verbunden, 
jedoch  von  den  ,.putriden.  kontinuierlichen  Fiebern"  der  Wesenheit 
nach  verschieden  war. 

Für  die  geschichtliche  Darstellung  wäre  es  vergebliche  Muhe, 
innerhalb  der  grandiosen  Seuchenzüge,  die  den  Zeitraum  1770 — 1815 
umfassen,  die  Ausbrüche  der  heute  als  Bauchtyphus  bezeichneten 
Krankheit  festzustellen.  Sie  haben  sich  den  Berichten  der  Zeitge- 
nossen gänzlich  entzogen  und  unter  den  vielsagenden  Namen  der 
Nervenfieber,  der  biliösen,  gastrischen  und  Schleimfieber,  des  Synochus 
und  anderer  Erkrankungen  versteckt  oder  wurden  schlechtweg  der 
Dysenterie  zugeschoben. 

Die  melu-  auf  symptomatische  und  empirische  Beobachtung  sich 
stützende  Differenzierung  der  ,.schleichenden  nervösen  Fieber"  von 
dem  malignen  Fieber,  wie  solches  bei  seinem  zahlreichen  Auftreten 
in  Gefängnissen,  Armeen  u.  s.  w.  bekannt  geworden  war,  empfing 
allmählich  ihre  Ergänzung  durch  die  von  der  französischen  Schule 
angebahnte  Entwicklung  der  pathologischen  Anatomie.  Schon  im 
Jahre  1804  lenkte  Prost  in  Paris  die  Aufmerksamkeit  darauf,  wie 
häufig  nach  mucösem  und  adynamischem  Fieber  an  der  Leiche  der 
Darm  entzündet  und  ulceriert  sich  vorfand.  Im  ähnlichen  Sinne  be- 
zog Broussais  diese  Darmerscheinungen  auf  die  von  ihm  unge- 
bührlich in  den  Vordergrund  gestellte  ..Gastro-Enterite".  Brous- 
sais, der  das  Fieber  nur  als  Symptom  einer  lokalen  Entzündung 
betrachtete,  gelangte  in  seinem  Ideengange  naturgemäss  dazu,  der 
Blutentziehung  im  lleotyphus  das  grösste  Lob  zu  spenden,  dem  aus- 
giebigsten Aderlass  das  Wort  zu  reden.  Schärfer  verfolgten  Petit 
und  Serres  in  ihrer  1813  veröffentlichten  Arbeit  über  die  „Fievre 
mesenterique"  die  anatomischen  Erscheinungen,  die  in  vielen  Merk- 
malen mit  jenen  des  Typhoids  zusammenfallen.  Nach  ihrer  Anschauung 
ist  die  Entzündung  und  Schwellung  der  Darmschleimhaut  und  der 
Drüsen  eruptiver  Natur,  analog  der  Entwicklung  der  Variola  auf  der 
Hautdecke  und  je  nach  dem  Grade  ihrer  Ausbreitung  die  Ursache 
des  milderen  oder  heftigeren  Fiebers.  Die  von  beiden  Autoren  betonte 
Spezifität  der  Krankheit,  deren  Zustandekommen  sie  mit  der  Wirkung 
eines  einverleibten  Giftes  treffend  vergleichen,  sowie  die  daraus  ab- 
geleiteten Ratschläge  in  der  Therapie  waren  ein  glücklicher  Fort- 


798  Victor  Fossel. 

schritt  in  der  Typhuslehre,  in  welcher  freilich  die  Auslegung  des 
intestinalen  Befundes  als  einer  Art  inneren  Exanthems,  wie  solche 
von  den  Zeitgenossen  in  Frankreich  mehrfach  versucht  worden  war,  noch 
zurückstand.  Selbst  Breton neau,  welcher  1826  eine  Typhusepidemie 
in  Tours  beobachtet  und  hierbei  zahlreiche  Autopsien  vorgenommen 
hatte,  huldigte  der  gleichen  Auffassung  der  Krankheit  als  eines 
exanthemalischen  Leidens,  das  er  mit  den  Namen  „D  o  t  h  i  e  n  e  n  t  e  r  i  t  e" 
belegte.  Er  wies  darauf  hin,  dass  der  von  anderen  Darmerkrankungen 
verschiedene  Prozess  sich  in  den  Drüsen  des  Ileums  manifestiere,  je- 
doch dieser  örtlichen  Affektion  kein  bestimmtes  Verhältnis  zu  dem 
Gesamtverlaufe  der  Krankheit  zukomme.  Weit  präziser  umgrenzte 
1829  Louis  die  Stellung  der  vom  ihm  benannten  „Fievre  typhoide" 
in  anatomischer  wie  nosologischer  Richtung  unter  den  bekannten 
Fieberformen  und  ihre  Trennung  von  der  Gastroenteritis.  Dennoch 
haben  die  französischen  Autoren  an  dem  Glauben  festgehalten,  dass 
alle  typhösen  Erkrankungen  auf  pathologischen  Veränderungen  des 
Intestinaltraktes  beruhen  und  darüber  die  Unterschiede  des  Abdo- 
minaltyphus von  dem  seit  1815  in  Frankreich  immer  seltener  ge- 
wordenen Flecktyphus  übersehen.  Die  englischen  Aerzte  hingegen, 
welchen,  wie  schon  erwähnt,  in  den  ersten  3  Dezennien  des  Jahr- 
hunderts reichliche  Gelegenheit  geboten  war,  beide  Formen  des 
Typhus,  die  auffällige  Verschiedenheit  der  Kontagiosität  unter  denselben 
wie  nicht  minder  die  charakteristischen  Darmerscheinungen  des  Ileo- 
typhus  kennen  zu  lernen,  vermochten  letztere  in  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Typhusleichen  nicht  nachzuweisen,  nachdem  sie  es  hier 
vorwiegend  mit  dem  Typhus  exanthematicus  zu  thun  hatten.  Sowie 
in  Frankreich  und  England  blieben  auch  in  Deutschland  trotz  der 
von  Hildenbrand,  P  omni  er,  Bischoff,  Heusinger  u.  a.  ver- 
öffentlichten Arbeiten  über  den  sporadischen,  „nicht  kontagiösen 
Typhus"  und  sein  abweichendes  Verhalten  von  dem  „ansteckenden 
Typhus"  die  Anschauungen  der  Aerzte  ungeklärt.  Selbst  die  bahn- 
brechenden Aufschlüsse,  welche  Schönlein  1839  dazu  geführt  hatten, 
die  Krankheit  unter  dem  Namen  des  „Abdominal-  oder  Ganglientyphus" 
noch  strenger,  als  dies  seine  Vorgänger  gethan,  als  eine  besondere  Form 
zu  kennzeichnen,  waren  nicht  im  stände,  die  medizinischen  Vorstellungen 
von  der  Zusammengehörigkeit  der  typhösen  Fieber  umzustimmen. 

Wie  Eisen  mann,  haben  andere  Autoren  eine  ganze  „Krank- 
heitsfamilie Typhus"  konstruiert  und  darin  die  heterogensten  Er- 
krankungsformen untergebracht.  Sowie  man  von  einem  Pneumotyphus, 
Puerperaltyphus,  Cerebraltyplms  sprach,  wurden  verschiedene  Krank- 
heiten, die  früher  „maligne",  später  „adynamische"  Messen,  nunmehr 
als  „typhöse"  bezeichnet  und  damit  die  Auffassung  des  Typhus  als 
eines  generellen  Prozesses  noch  weiter  in  der  allgemeinen  Konfun- 
dierung  befestigt.  Dazu  kam,  dass  seit  Sydenhams  Tagen  die 
Hauptlehre  noch  aufrecht  stand,  wie  nach  dem  Genius  epidemicus 
leichte  Erkrankungsformen  in  schwere  übergehen  und  sonach  die 
mannigfachen  Infektionskrankheiten  „typhösen  Charakter"  annehmen 
konnten.  Die  Vielgestaltigkeit  des  Krankheitsbildes  im  Typhus 
drängte  vor  allem  die  Aerzte  zur  Aufstellung  der  verschiedenen 
Arten  des  Typhus. 

Ohne  in  die  Einzelheiten  der  in  allen  Ländern  seit  dem  Jahre  1830 
fortgesetzten  Studien  über  die  Natur  des  Ileotyphus  einzugehen  oder 
die  seither  zahlreich  bekannt  gewordenen  Lokalepidemien  aufzuzählen, 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  799 

beschränken  wir  uns  daran  zu  erinnern,  dass  die  Krankheit  unzählige- 
male  in  Städten,  in  umschriebenen  Landdistrikten,  in  Garnisonen  oder 
geschlossenen  Anstalten  zu  epidemischer  oder  endemischer  Entwicklung 
gekommen  ist.  Gerade  in  Mitteleuropa  trat  seit  dem  dritten  De- 
zennium mit  dem  Zurückweichen  des  Fleckfiebers  die  Vorherrschaft 
des  Abdominaltyphus  zu  Tage,  eine  Thatsache,  die  andererseits  die 
schärfere  Erkenntnis  der  Natur  der  Krankheit  zur  Folge  hatte. 
Wenn  in  jener  Zeit  vielfach  behauptet  worden  war,  das  Typhoid 
sei  eine  neue  Krankheit,  so  lag  hierfür  nicht  die  geringste  Be- 
rechtigung vor. 

Den  wichtigsten  Schritt  in  der  Lehre  von  den  bisher  noch  nicht 
strenge  voneinander  gesonderten  Typhusformen  unternahmen  1836 
und  1837  Gerhard  und  Pennock  in  Philadelphia.  Beiden  For- 
schern gebührt  das  Verdienst,  die  wesentlichen  Unterschiede  des 
exanthematischen  und  des  abdominellen  Typhus  nach  der  Kontagio- 
sität,  dem  anatomischen  Befunde  und  der  ganzen  Symptomenreihe  bis 
zur  Divergenz  der  Petechien  und  der  Roseola  aufgedeckt  zu  haben. 
Im  gleichen  Sinne,  nur  noch  genauer,  hob  der  englische  Arzt  Stewart 
1840  die  Unterschiede  des  Typhoid  und  des  Fleckfiebers  hervor  und 
erfuhr  die  Genugthuung,  dass  Louis  in  der  1841  erschienenen  2.  Aus- 
gabe seiner  Schrift  über  die  „Fievre  typhoide"  für  die  Xichtidentität 
der  beiden  Krankheiten  eingetreten  war.  Nach-  wie  vordem  ist  aber 
dieser  Lehrsatz  vielfachen  Einwendungen  begegnet,  und  von  den  Ver- 
fechtern der  Identität,  unter  denen  wir  für  das  Dezennium  1840 — 
1850  den  Engländer  Davidson,  Gaultier  de  Claubry  in  Frank- 
reich und  Lindwurm  in  Deutschland  nennen  wollen,  lebhaft  be- 
stritten worden.  Den  schlagendsten  Beweis  für  die  Richtigkeit  der 
von  Gerhard  und  Stewart  vertretenen  Anschauungen  erbrachten 
die  Untersuchungen,  welche  Jenner  in  London  1849—1851  über  die 
völlige  Verschiedenheit  des  abdominellen  und  exanthematischen  Typhus 
durch  sorgfältige  Prüfung  aller  in  Betracht  kommenden  Momente  an- 
stellte und  in  dem  Satze  zusammenfasste ,  dass  beide  Formen  ebenso 
voneinander  abweichen,  wie  zwei  Exantheme,  weil  das  spezifische 
Krankheitsgift  immer  wieder  nur  dieselbe  Krankheit  erzeugen  könne. 
Die  daran  geknüpften  Beobachtungen  englischer,  amerikanischer  und 
französischer  Aerzte  sammelten  weiteres  Material  für  das  tiefere 
Verständnis  dieser  Frage.  Einen  der  gewichtigsten  Beiträge  zu 
deren  Lösung  haben  die  gleichzeitig  im  Krimkriege  gewonnenen 
Erfahrungen  geleistet  und  wesentlich  klarlegende  Beweise  für  die 
Dualität  des  Typhoids  und  des  FlecktAT)hus  geliefert. 

Der  Kreis  der  Anhänger  der  Theorie  von  der  Identität  der  zwei 
Typhusformen  begann  sich  langsam  zu  lichten.  Denn  die  Fortschritte 
der  pathologischen  Anatomie  mehrten  sich  in  rascher  Folge  und 
stellten  immer  klarer  die  Abweichungen  des  Leichenbefundes  in  beiden 
Formen  fest.  Epidemiographische  und  klinische  Erfahrungen  trugen 
weiterhin  bei,  das  Verständnis  für  die  spezifische  Eigenart  der  nur 
dem  Namen  nach  zusammenhängenden  Krankheiten  zu  vertiefen. 
Insbesondere  haben  sich  Murchison  in  England  und  Griesinger 
in  Deutschland  ein  wesentliches  Verdienst  erworben,  indem  sie  die 
völlige  Differenz  des  Ileotyphus  vom  FlecktjT)hus  ül3erzeugend  dar- 
legten. 

Das  zeitliche  und  örtliche  Auftreten  des  Typhoids  im  Verlaufe 
des  19.  Jahrhunderts  zu  verfolgen,  würde  den  uns  zugemessenen  Raum 


800  Victor  Fossel. 

weit  Übersteigen.  Kaum  eine  Stadt  oder  ein  Landstrich  war  von  der 
Krankheit  freigeblieben,  sie  trat  in  Europa  wie  anderen  Erdteilen  an 
zahlreichen  Stellen  auf.  Auch  als  Kriegsseuche  war  der  Abdominal- 
typhus wiederholt  zur  Herrschaft  gekommen.  Seiner  Ausbrüche  zur 
Zeit  der  Napoleonschen  Feldzüge  im  ersten  und  zweiten  Dezennium 
des  Säkulums  wurde  an  anderer  Stelle  gedacht.  In  neuerer  Zeit  war 
es  der  nordamerikanische  Sezessionskrieg  und  der  deutsch-französische 
Krieg,  in  denen  das  Typhoid  bedeutende  Ausdehnung  erfahren  hat. 
Auf  dem  erstgenannten  Kriegsschauplatze  zählte  man  57368  Er- 
krankungen und  27  056  Todesfälle,  in  den  Kriegsjahren  1870 — 1871 
betrug  auf  deutscher  Seite  allein»  die  Zahl  der  Typhuserkrankungen 
73  396,  jene  der  Todesfälle  8789,  gleich  60  Prozent  der  Gesamt- 
mortalität. Die  in  allen  Ländern  gemachten  Beobachtungen  über  das 
endemische  und  epidemische  Auftreten  der  Erkrankungen  gingen 
gleichzeitig  mit  ätiologischen  Forschungen  einher,  die  wegen  ihres 
Zusammenhanges  mit  der  vorerwähnten  Wandlung  der  Anschauungen 
über  die  Natur  des  Ileotyphus  auch  vom  historischen  Standpunkte  eine 
kurze  Besprechung  verdienen.  Schon  im  2.  und  3.  Dezennium  des 
19.  Jahrhunderts,  gleichzeitig  mit  dem  Streite  über  die  abweichenden 
Formen  des  exanthematischen  und  abdominellen  Typhus,  begegnet  man 
der  lebhaften  Erörterung  der  Unterschiede  in  der  Kontagiosität  beider 
Krankheiten.  Während  die  meisten  französischen  Forscher  die  An- 
steckung in  Abrede  gestellt  und  den  enterischen  Typhus,  wo  dieser 
überhaupt  als  solcher  anerkannt  wurde,  als  ein  spezielles  Akklimatisations- 
fieber hingestellt  hatten,  traten  andere,  wie  Bretonneau,Gendron 
entschieden  für  die  kontagiöse  Natur  der  Krankheit  ein,  indes 
Piedvache  und  Trousseau  dieser  Frage  gegenüber  mehr  eine 
vermittelnde  Stellung  einnehmen  zu  müssen  glaubten  und  die  autoch- 
thone  Entstehung  ebenfalls  gelten  lassen  wollten.  Die  Meinungen  der 
Aerzte  blieben  lange  hindurch  geteilt  und  selbst  der  Erfahrungs- 
thatsache,  dass  im  Gegensatze  zum  Fleckfieber  eine  direkte  Ueber- 
tragung  des  enterischen  Typhus  von  Person  zu  Person  nicht  bestehe, 
^vurden  die  vielfach  beobachteten  Fälle  von  Haus-  und  Spitalinfek- 
tionen entgegengehalten  und  für  die  Lehre  von  der  unmittelbaren 
Ansteckung  herangezogen.  Indes  die  Gegner  ihre  Anschauungen 
weiter  verfochten,  war  man  bemüht,  die  Quelle  der  Ansteckung  zu 
ermitteln.  Wieder  griff  man  zu  der  alten  Fäulnistheorie  zurück, 
wonach  die  Zersetzung  organischer  Materien  an  sich  und  die  daraus 
abgeleiteten  Emanationen  die  Entstehung  des  Ileotyphus  veranlassen 
sollten.  Murchison,  der  hervorragendste  Forscher  in  der  Typhus- 
lehre, war  einer  der  ersten,  der  hinwies,  wie  bei  Dysenterie  und 
Cholera  auch  beim  enterischen  Typhus  die  Fäces  „das  hauptsächlichste, 
wenn  nicht  das  einzige  Medium  der  Mitteilbarkeit  sind."  Er  nahm 
an,  dass  aus  der  Fäulnis  der  menschlichen  Defekte  an  sich,  also  ohne 
Zuthun  eines  Kranken,  das  spezifische  Typhoidgift  infolge  fäkaler 
Fermentation  sich  entwickle,  dass  sich  dasselbe,  aus  Kloaken  und 
Senkgruben  stammend,  auf  dem  Wege  der  Luft,  des  Wassers,  der 
Nahrungsmittel  u.  a.  Vermittler  sich  verbreite;  er  belegte  daher,  um 
schon  äusserlich  seine  Doktrin  zum  Ausdruck  zu  bringen,  den  Ileo- 
typhus mit  dem  Namen:  „pythogenic  fever".  Dem  gegenüber  haben 
vornehmlich  Budd  und  Gietl  gleichzeitig  im  Zeiträume  von  1856 
— 1860  hervorgehoben,  dass  das  Gift  des  Typhoids  unmittelbar  aus 
dem  Körper  eines  Infizierten  herrühre,  weil  es  in  demselben  und  nicht 


Geschichte  der  epidemischen  Kraukheiteu.  801 

ausserhalb  des  erkrankten  Individuums  gebildet  und  demnach  als 
spezifisches  Virus  im  Darm  und  in  den  Stuhlgängen  des  Menschen 
reproduziert,  nicht  aber  spontan  unter  dem  Einflüsse  einer  beliebigen 
Fäulnis  ei*zeugt  werde.  Mit  diesen  Argumenten,  welche  Budd  in 
scharfsinniger  Weise  weiter  verfolgt  und  gerade  die  leichter  zu  über- 
sehenden Untersuchungsergebnisse  über  das  Vorkommen  und  die  Ver- 
breitung der  Krankheit  in  ländlichen  Distrikten  berücksichtigt  hatte, 
war  der  "wichtigste  Schritt  gethan.  um  die  Spezifität  des  Typhus- 
keimes in  den  Vordergrund  der  Diskussion  zu  stellen  und  in  prak- 
tischer Richtung  die  Aufmerksamkeit  darauf  zu  lenken,  dass  der  ab- 
dominelle Typhus  niemals  autochthon  entstehe,  sondern  immer  durch 
einen  erkrankten  Menschen  nach  einer  bestimmten  Oertlichkeit  ein- 
geschleppt werden  müsse,  um  hier  weiter  Kontagiosität  zu  bewü-ken. 
Aber  gerade  die  AVege  der  Ansteckung,  an  deren  Thatsächlichkeit 
wohl  nur  wenige  noch  Zweifel  hegten,  sollten  in  der  nächsten  Folge- 
zeit zu  den  lebhaftesten  Erörterungen  Anlass  bieten.  So  sehr  man 
der  alten  Hypothese  des  miasmatischen  Ursprunges  vieler  Volkskrank- 
heiten zuliebe  bestrebt  war.  in  den  wechselnden  Verhältnissen  des 
Klimas,  der  Jahreszeiten,  der  Witterung  und  der  atmosphärischen 
Niederschläge  das  Für  und  "Wider  in  der  Ergründung  ätiolgischer 
Einflüsse  nachzuweisen,  so  drängte  trotz  vieler  Fehlschlüsse  immer 
mehr  die  Fülle  der  Erfahrungen  und  Beobachtungen  zu  der  Er- 
kenntnis, dass  gewisse,  wenn  auch  bisher  noch  unaufgedeckte  Ur- 
sachen lokaler  Natur  mit  im  Spiele  sein  müssen,  um  die  Fortdauer 
^ies  Typhusgiftes,  seine  Weiterverbreitung  und  Uebertragbarkeit  gleich 
am  zu  erhalten.  Davon  hat  die  sogenannte  lokalistische  Theorie 
ihren  Ausgang  genommen  und  in  der  berühmt  gewordenen  Lehre  von 
Buhl  und  Pettenkofer  ihre  geistvolle  Ausgestaltung  erreicht.  Beide 
Münchener  Gelehi'te  erkannten  in  den  Wechselbeziehungen  zwischen 
den  Schwankungen  des  Grundwassers  und  den  Einflüssen  der  Jahres- 
zeiten und  der  Genese  des  Abdominaltyphus  einen  gesetzmässigen 
Kausalnexus,  nach  welchem  mit  dem  Steigen  des  Grundwassers  die 
Typhusfrequenz  abnehmen,  umgekehrt  mit  dem  Fallen  des  Grund- 
wasser unter  gleichzeitiger  Mitwirkung  der  zeitlichen  und  örtlichen 
Disposition  der  spezifische  Typhuskeim  sich  entwickeln  und  nach 
seiner  Ausreifung  mehr  durch  die  Luft  als  durch  das  Wasser,  sonach 
auf  dem  Wege  einer  Giftemanation  dem  menschlichen  Organismus 
einverleibt  werden  sollte.  Die  ..Grundwassertheorie",  deren 
Licht-  und  Schattenseiten  zu  den  interessantesten  Kapiteln  der  Ge- 
schichte der  neueren  Gesundheitspflege  gerechnet  und  dieser  über- 
lassen werden  muss,  hat  vor  allem,  wenn  auch  in  einseitiger  Weise, 
die  Koincidenz  des  Bodens  und  seiner  etwaigen  ,.Siechhaftigkeit"  in 
neuerliche  Verhandlung  gezogen.  Der  ,,inverse  Parallelismus  von 
Typhusfrequenz  und  Grundwasserstand"  war  zunächst  der  Anlass, 
dass  die  Aufmerksamkeit  der  Forscher  den  näheren  Bedingungen  der 
Abhängigkeit  des  Typhus  abdominalis  von  lokalen  Ursachen  sich 
erneuert  zugewendet  und  auch  auf  die  Eruierung  eines  unbedingt  in 
Anschlag  zu  bringenden  spezifischen  Agens  erstreckt  hat.  Ohne  hier 
in  die  Einzelheiten  der  in  den  letzten  Dezennien  geleisteten  Arbeiten 
einzugehen,  sei  hervorgehoben,  dass  es  Eber th  im  Jahre  1880  ge- 
lungen war,  den  spezifischen  Bacillus  des  Ueotj'phus  nachzuweisen, 
dessen  nähere  Natur  und  biologisches  Verhalten  Gaffky  späterhin 
in  glänzender  Weise  festgestellt  hat. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  51 


802  Victor  Fossel. 

Im  engsten  Zusammenhange  mit  der  Ausgestaltung  der  biologischen 
Kenntnisse  über  den  Krankheitserreger  des  Abdominaltyphus  stand  die 
sorgfältige  kritische  Prüfung  der  lokalen  Beziehungen  zur  sporadischen 
endemischen  oder  epidemischen  Entwicklung  der  Krankheit.  Die  Lehre 
vom  Einflüsse  des  Grundwassers  auf  die  Genese  des  Abdominaltyphus 
galt  von  ihrem  Anbeginne  nur  als  ein  Gesetz  von  beschränkter  Gel- 
tung; von  gegnerischer  Seite  energisch  bestritten  und  weiterhin  in 
seinen  Hauptstützen  schwankend  geworden,  stand  es  gleichwohl  bei 
vielen  in  ungeschwächtem  Ansehen.  Es  bedurfte  längerer  Zeit  und 
mühevoller  Arbeit,  um  die  ätiologischen  Grundlinien  für  die  Entstehung 
und  Weiterverbreitung  des  Typhoids  und  verwandter  Infektions- 
krankheiten mit  den  gleichzeitig  errungenen  Fortschritten  der  Bak- 
teriologie in  dauernden  Einklang  zu  bringen.  Gerade  vom  historischen 
Standpunkte  ist  es  beachtenswert,  wie  die  Grundwassertheorie  den  Im- 
puls gegeben  hatte,  die  anfänglich  hypothetischen  Einflüsse  des  Bodens 
und  seiner  Wasserschwankungen  in  der  Praxis  damit  zu  demonstrieren, 
dass  nicht  so  sehr  das  Grundwasser  und  sein  Verhalten,  sondern  das 
Trinkwasser  und  seine  Verunreinigung  mit  speziflschen  Typhuskeimen 
der  Propagation  der  Krankheit  den  wesentlichsten  Vorschub  leiste. 

Mit  dieser  Wandlung  der  Anschauungen,  die  sich  auf,  die  aller- 
orten zu  Tage  tretende  Abnahme  der  Typhusfrequenz  infolge  der  Ein- 
führung geordneter  Wasserversorgungsverhältnisse  zu  stützen  ver- 
mochte, kam  thatsächlich  die  schon  vor  Dezennien  von  Budd  u.  a. 
vertretene  Lehre  siegreich  zum  Durchbruch.  Denn  was  schon  damals 
behauptet  worden  war,  erhielt  nunmehr  durch  die  hygienischen 
Leistungen  im  grossen  Stile  seine  Bestätigung,  nämlich  dass  zwischen 
dem  im  Körper  des  Typhuskranken  gebildeten  Keime,  seiner  Lebens- 
fähigkeit und  Fortpflanzung  ausserhalb  des  kranken  Organismus  ein 
kausaler  Zusammenhang  bestehe,  und  sonach  die  Dejekte  des  Kranken 
die  hauptsächliche  Infektionsquelle  bilden.  In  erdrückender  Fülle 
haben  die  an  ungezählten  Orten  angestellten  Untersuchungen  er- 
wiesen, dass  auf  dem  Wege  des  Grundwassers  und  des  Bodens  die 
spezifischen  Typhuskeime  dem  Trinkwasser  zugeführt  und  zum  Aus- 
gang neuer  Infektionen  werden  können.  Die  Nahrungsmittel,  ins- 
besondere die  Milch  spielen  gegenüber  dem  Trinkwasser  als  Krank- 
heitsvermittler naturgemäss  nur  eine  sekundäre  Eolle.  Diese  von  der 
Mehrheit  der  deutschen  Kliniker  alsbald  mit  kritischer  Beweiskraft 
vertretene  Lehre  hat  unsere  Kenntnis  von  den  Ursachen  und  der 
Verbreitung  des  Abdominaltyphus  durchdrungen  und  in  den  seither 
gewonnenen  glänzenden  Eesultaten  der  Vorbeugung  und  Bekämpfung 
der  Krankheit  ihre  volle  Bestätigung  und  Verwirklichung  gefunden. 


V.  Cholera  asiatica. 
LItteratur. 

Liclitenstädt,  Die  asiat.  Cholera  in  Russland  in  d.  J.  1829 — 1830,  1831.  — 
Harless,  Die  indische  Cholera,  1831.  —  Loder,  Cholera,  1831.  —  Janiesoit, 
Bericht  üb.  d.  Choleraseuche  in  Bengalen  1817 — 1819,  1832.  —  ParTiin,  Cholera. 
1836.  —  Hergt,  Geschichte  d.  beiden  Ch.-Epidemien  in  Südfrankreich  in  d.  ./. 
1884—1835,  1838.  —  Lehert,  Vorträge  über  Cholera,  1854.  —  Pettenhofer,  Unter- 
suchungen u.  Beobachtungen  üb.  d.  Verbreitungsart  d.  Ch.,  1855.  —  Dräsche,  Die 
epidem.  Cholera,  1860.  —  Petteiikofer,   lieber  die  Verbreittmgsart  d.  Ch.,  Zeitsch. 


Geschichte  jäer  epidemischen  Krankheiten.  803 

/'.  Biol.  I.  Bd.  1865.  —  Jlacjifterson,  Die  Cholera  in  ihrer  Heimath,  1867.  — 
The  epidemie  Cholera  of  1873  in  the  United  States,  1875.  —  Macnaniara,  History 
of  asiatic  cholera,  1876.  —  Virchow,  Gesammelte  Abhandlungen,  1879.  —  Die 
Berliner  Cholera-Conferenz.  Eef\  in  Berl.  kl.  Woch.  1884:85.  —  Pettenkofer,  Zum 
gegenic.  Stand  der  Cholerafrage,  Ärch.  f.  Hyg.  Bd.  4 — 7,_  1886,87.  —  Proust  et 
Ballet,  Häuser,  Babes,  Gruber,  Verhandig.  d.  VI.  internat.  Congr.  f.  Hyg.  zu 
Wien,  Heft  18,  1887.  —  Koch  und  Gaffky,  Bericht  .  .  .  der  Ch.-Commission  in 
Aegypten  und  Indien,  Arb.  aus  d.  k.  Gesundheitsamte,  III.  Bd.  1887.  —  Hiieppe, 
Berl.  kl.  W.  Xo.  9 — 12,  1887.  —  Fayrer,  Geschichte  und  Epidemiologie  der  Ch., 
1889.  —  Knüppel,  Die  Erfahrungen  der  engl.-ostend.  Aerzte  betreffs  der  Ch.- 
Aetiologie,  bes.  seit  d.  J.  1883,  Zeitsch.  f.  Hyg.  Bd.  X,  1891.  —  Garcia  da  Orto, 
Coloquios  dos  sitnples  e  drogas  da  India,  T.  I,  Lisboa  1891.  —  Dräsche,  Schluss- 
betrachtungen z.  d.  gegenic.  Stande  u.  Gange  der  Ch.,  Wien.  m.  W.  Xo.  43144,  1892. 
—  Flügge,  Die  Vei-breitungsiceise  .  .  .  der  Ch.  Zeitsch.  f.  Hyg.  Bd.  14,  1893.  — 
Petri,  Choleracurs,  1893.  —  Koch,  Die  Ch.  in  Deutschland  tcährd.  d.  Winters 
1892193,  Zeitsch.  f.  Hyg.  Ed.  15.  1893.  —  Gaffky,  Die  Ch.  in  Hamburg.  Arb.  aus 
d.  k.  Gesundheitsatnte  Bd.  X  1896.  —  Die  Cholera  im  Deutschen  Beiche  im  Herbste 
1892  und  Winter  1892)93,  ibid.  Bd.  X  1896.  —  Wutzdorff  u.  A.,  Das  Auftreten 
d.  Ch.  im  Deutsch.  Reich  tcährd.  d.  Jahres  1893.  ibid.  Bd.  XI 1895.  —  Kubier 
ii.  A.,  Das  Auftret.  d.  Ch.  im  D.  B.  im  Jahre  1894,  ibid.  Bd.  XII  1896.  — 
Liebermeister,  Cholera  asiatica  et  nostras,  Xothnagel  Hdb.  d.  sp.  P.  u.  Th. 
IV.  Bd.  1.  Th.  1896.  —  Veröffentl.  d.  kais.  Gesundheitsamtes.  —  Oesterr.  Sanitäts- 
icesen. 

Das  ausgedehnte  Tiefland  der  indischen  Provinz  Bengalen,  vom 
Gangesdelta  durchschnitten,  im  Osten  vom  Brahmaputrastrome,  im 
Westen  vom  Hughlifluss  begrenzt  und  vom  Meere  nordwärts  bis  zum 
Fuss  des  Himalaya  reichend,  bildet  die  Heimat  der  asiatischen  Cholera. 
Hier  behauptet  sie  Jahr  für  Jahr  ihre  endemische  Herrschaft,  von 
hier  hat  sie  unzähligemale  ihren  Ausgang  in  das  übrige  Indien,  nach 
den  ausserindischen  Gebieten  Asiens  und  nach  den  anderen  Erdteilen 
genommen. 

üeber  das  Vorkommen  der  Cholera  in  Hindostan  finden  sich 
schon  Angaben  in  den  medizinischen  Sanskritwerken,  ebenso  werden 
choleraartige  Seuchen  in  Asien  während  des  Mittelalters  von  arabischen 
Schriftstellern  erwähnt;  beide  Quellen  erweisen  sich  aber  unzuver- 
lässig und  gestatten  nur  Vermutungen  über  den  eigentlichen  Charakter 
der  Krankheit,  die  ebenso  gut  für  Cholera  nostras  oder  für  Dysenterie 
hingenommen  werden  könnte.  Die  ersten  Nachrichten  über  die  asia- 
tische Cholera,  von  Europäern  geschildert,  stammen  aus  dem  Jahre 
1503.  wo  Gaspar  Correa  sie  im  Umkreise  von  Calicut  herrschend 
erwähnt  und  1543  in  Goa  beobachtet  hat.  Die  nächsten  Mitteilungen 
rühren  von  Garcia  da  Orto  her,  der  die  Cholera  1563  in  Goa  be- 
schrieb und  sie  als  eine  längst  bekannte,  mit  dem  Namen  ,.Mordeshin" 
oder  „hachhaiza"  bezeichnete  Seuche  hinstellte.  Aus  dem  17.  Jahr- 
hundert liegen  die  Berichte  des  holländischen  Arztes  Bontius  vor, 
der  die  Krankheit  1629  auf  Java  gesehen,  ferner  einzelne  Aufzeich- 
nungen aus  den  Jahren  1638,  1676  und  1689.  Von  nun  an  bis  zur 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts  fehlen  nähere  Belege  über  die  Ver- 
breitung der  indischen  Cholera,  erst  vom  Jahre  1756  an  wird  ihrer 
wiederum  gedacht.  In  diesem  Jahre  grassierte  sie  in  Madras  und 
entwickelte  sich,  wie  Macpherson  bezeugt,  in  den  folgenden  De- 
zennien zu  heftigen  Epidemien  in  mehreren  Gebieten  Hindostans. 
Genaue  Daten  besitzen  wir  über  ihre  Verwüstungen  in  den  Jahren 
1768 — 1771  in  der  Umgebung  von  Pondichery,  wo  sie  nach  Sonnerat 
60000  Opfer  gefordert  haben  soll.  Die  nächsten  Epidemien  betrafen 
1775—1780  die  Koromandelküste.  1781  Kalkutta,  1782  ^ladras,  1783 
den  Pilgerort  Hurdwar,  wo  binnen  weniger  Tage  20000  ]i[enschen 

51* 


804  Victor  Fossel. 

ihr  erlegen  sein  sollen.  Gegen  Ende  des  18.  und  am  Beginne  des 
19.  Jahrhunderts  scheint,  soweit  hierfür  historische  Kunde  auf  uns 
gekommen  ist,  die  Cholera  seltener  in  Ostindien  aufgetreten  zu  sein; 
in  Bengalen  wurden  die  Jahre  1804,  1811  und  1813  als  Epidemie- 
perioden bemerkenswert,  während  ausserhalb  Hindostan  der  Ausbruch 
der  Cholera  1790  und  1804  auf  Ceylon  bekannt  geworden  ist.  Das 
Jahr  1817  bildet  in  der  Geschichte  der  Cholera  einen  bedeutungs- 
vollen Abschnitt,  denn  mit  ihm  tritt  die  Seuche  über  die  engeren 
Grenzen  ihres  endemischen  Sitzes  hinaus;  sie  dringt  nunmehr  im 
Laufe  der  Zeiten  nach  dem  asiatischen  Kontinent  und  seinem  Insel- 
reiche, nach  den  anderen  Weltteilen  vor  und  verbreitet  mit  ihren 
grossen,  pandemischen  Zügen  Furcht  und  Schrecken  über  den  grössten 
Teil  der  bewohnten  Erde. 

Es  empfiehlt  sich  der  üebersichtlichkeit  halber  die  Epidemien 
der  asiatischen  Cholera  auch  im  folgenden  Geschichtsabrisse  nach 
ihren  Perioden  zu  besprechen. 

Erste  Periode  1817—1823. 

Schon  im  Jahre  1816  machten  sich  in  Bengalen,  speziell  in 
Kalkutta  choleraverdächtige  Erkrankungs-  und  Sterbefälle  bemerkbar, 
ohne  jedoch  epidemischen  Charakter  angenommen  oder  sonstwie  Auf- 
sehen erregt  zu  haben.  Erst  mit  Frühjahr  1817  verbreitete  sich  die 
Seuche  über  eine  grössere  Zahl  von  Städten  Bengalen s,  bis  sie  im 
Herbst  auf  ihrer  Wanderung  Jessore  erreicht  und  hier  zuerst  das 
Augenmerk  der  Behörden  auf  sich  gelenkt  hatte.  In  rascher  Auf- 
einanderfolge drang  die  Krankheit  längs  der  beiden  Hauptarme  des 
Ganges  nach  Kalkutta  bis  zur  südöstlichen  Küste  vor,  gelangte  nach 
Nellore,  Madras  und  den  Bandelkhandstaaten ,  wo  die  englischen 
Truppen  unter  ihrer  Herrschaft  enorme  Verluste  erlitten.  Nach 
kurzem  Nachlasse,  der  mit  den  Wintermonaten  zusammenfiel,  erhob 
die  Cholera  im  März  1818  von  neuem  an  den  meisten  der  bisher  be- 
fallenen Plätze  ihr  Haupt,  zog  nach  dem  Norden  und  Nordwesten  der 
indischen  Halbinsel,  in  bergigen  Distrikten  ebenso  wütend,  wie  in  der 
Ebene,  wälzte  sich  gleichzeitig  längs  der  Ost-  und  Westküste  in 
das  Innere  des  Landes,  so  dass  während  des  Jahres  1818  nahezu 
ganz  Vorderindien  zum  Schauplatz  der  nicht  selten  sprungweise  fort- 
schreitenden Epidemie  geworden  war.  Schon  vor  Schluss  dieses  Jahres 
w^ar  die  Krankheit  nach  Ceylon  übergetreten  und  im  folgenden  Jahre 
über  die  ganze  Insel  verbreitet. 

Im  Jahre  1819  setzte  die  Seuche,  wiederum  in  Bengalen  be- 
ginnend, ihre  Wanderungen  nach  Norden  in  die  Provinz  Nepal,  von 
hier  in  östlicher  Richtung  nach  Burma  fort  und  drang  weiter  durch 
Slam  und  die  Halbinsel  Malakka  bis  Singapure  an  der  Südspitze  von 
Hinterindien  vor.  Indessen  hatte  sie  schon  im  Mai  1819  auf  Sumatra 
festen  Fuss  gefasst  und  von  Ceylon  aus  durch  den  Schiffsverkehr  auf 
Mauritius  und  Reunion  Eingang  gefunden,  von  wo  sie  im  folgenden 
Jahre  nach  der  Küste  von  Zanzibar  verschleppt  wurde. 

Im  Jahre  1820  hatte  neuerdings  Bengalen,  sowie  die  Provinz  Sindh 
und  Pandschab  schwer  unter  der  Krankheit  zu  leiden,  welche  zu 
gleicher  Zeit  auf  Java,  Borneo  und  anderen  Sunda-Inseln  eine  Aus- 
dehnung gewann,  die  durch  volle  drei  Jahre  an  Intensität  nicht  nach- 
gelassen und  ungeheuere  Opfer  an  Menschenleben  gefordert  hat.  Ebenso 
wurden  die  Molukken  und  Philippinen  betroffen,  zahlreiche  Städte  des 


5 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  805 

südlichen  Chinas  befallen,  von  denen  aus  durch  zwei  Jahre  eine  mör- 
derische Epidemie  über  das  ganze  Eeich  der  Mitte  sich  verbreitete 
und  1822  auf  Japan  übergriff. 

Mit  dem  Jahre  1821  nahm  die  Cholera  nicht  nur  auf  indischen 
Boden  ihren  ungeschwächten  Fortgang,  sondern  fand  von  Bombay 
aus  den  Weg  nach  Maskat  an  der  Ostküste  Arabiens,  von  wo  sie 
längs  derselben  nach  Mesopotamien  und  den  persischen  Golf  über- 
schreitend in  das  innere  Land  vordrang.  Während  sie  im  Nordwesten 
dem  Euphrat  und  Tigris  entlang  über  Bagdad  bis  zur  Grenze  der 
syrischen  Wüste  sich  entfaltet  hatte,  folgte  sie  im  Herbste  1821  von 
Bagdad  aus  persischen  Truppen  in  die  nordwestlichen  Teile  Persiens, 
dessen  nordöstliche  Provinzen  übrigens  schon  vordem  durch  Kara- 
wanenzüge verseucht  worden  waren. 

Nach  kurzem  winterlichen  Stillstand  trat  die  Seuche  mit  Früh- 
jahr 1822  in  diesem  Gebiete  Vorderasiens  von  neuem  auf.  Sie  kam, 
über  Mosul  hinziehend,  nach  Kurdistan,  auf  dem  Wege  gegen  Westen 
über  Diarbekir  und  ürfa  nach  Syrien  bis  Aleppo,  und  verbreitete  sich 
in  Persien  über  Tabris  in  den  am  Südgestade  des  kaspischen  Meeres 
gelegenen  Provinzen  Gilan  und  Mazenderan.  Wiederum  erlosch  im 
Winter  1822 — 23  die  Krankheit,  um  im  Frühling  1823  sowohl  in 
westlicher  wie  in  nördlicher  Richtung  neuen  Boden  zu  gewinnen.  In 
Syrien  war  sie  über  Antiochia  und  Laodicea  nach  Palästina  und 
Damaskus  vorgerückt,  in  Persien  überschritt  sie  die  Grenzen  des 
Reiches,  etablierte  sich  auf  russischem  Boden  in  Transkaukasien, 
nistete  sich  in  Tiflis  und  Baku  ein,  Murde  späterhin  auf  dem  Schiffs- 
wege sogar  bis  Astrachan  importiert,  fand  jedoch  glücklicherweise  mit 
Eintritt  des  Winters  ein  baldiges  Ende.  Vom  Beginne  des  Jahres  1824 
blieb  durch  einen  Zeitraum  von  vier  Jahren  die  Cholera  auf  ihre 
engere  Heimat  beschränkt. 

Zweite  Periode  1826—1837. 

Von  Bengalen  aus  nahm  im  Jahre  1826  die  Cholera  zunächst  den 
Ufern  des  Ganges  entlang  den  Weg  nach  dem  Pandschab,  überall 
von  grossen  Verwüstungen  begleitet.  Von  Labore,  wo  sie  den  Mittel- 
punkt einer  weitgehenden  Epidemie  gebildet,  fand  sie  1827  in  nord- 
westlicher Richtung,  den  Karawanenstrassen  folgend,  Eingang  in 
Afghanistan  und  verbreitete  sich  über  Kabul  und  Balkh  nach  Bochara 
und  Turkestan.  Im  nächsten  Jahre  drang  sie  von  Chiwa  ostwärts 
in  das  Land  der  Kirgisen  vor,  sprang  sodann  nach  dem  russischen 
Gouvernement  Orenburg  über,  erschien  am  26.  August  1829  plötzlich 
in  der  Stadt  Orenburg,  überdauerte  hier  wie  im  ganzen  Gouvernement 
den  Winter  1829 — 30  und  nahm  erst  im  Laufe  des  letztgenannten 
Jahres  ein  Ende. 

Im  Jahre  1829  trat  die  Cholera  wieder  in  Persien  auf.  wo  sie 
seit  dem  Jahre  1823  nicht  die  geringsten  Spuren  zurückgelassen  hatte, 
ergriff  die  Städte  Teheran  und  Tauris,  erlosch  aber  während  des 
Winters  und  drang  erst  1830  nordwärts  über  Tiflis  und  längs  der 
Westküste  des  kasi)ischen  Meeres  nach  Astrachan  vor.  Fast  gleich- 
zeitig war  hierher  aucli  die  Seuche  über  Orenburg  gelangt  und  die 
vereinigten  Züge  verbreiteten  sich  jetzt  im  Stromgebiete  der  Wolga, 
des  Ural  und  des  Don  über  das  russische  Reicli.  Noch  im  Laufe  des 
Jahres  1830  wurde  ein  grosses  Gebiet  desselben  von  der  Cholera 
überzogen,  sie  war  im  Norden  bis  Penn,  im  Nordwesten   bis  Now- 


806  Victor  Fossel. 

gorod,  im  Westen  bis  Kiew,  Podolieii  und  Vollijnien,  im  Süden  bis 
zur  Krim,  Ukraine  und  nach  Odessa  gelangt.  Trotz  aller  Absperrungs- 
massregeln war  sie  Ende  September  in  Moskau  zum  Ausbruch  ge- 
kommen, hielt  hier  ebenso  wie  im  übrigen  Russland  den  ganzen 
Winter  1830 — 31  hindurch  in  heftiger  Weise  au,  um  im  Frühjahr  da- 
rauf ihre  Wanderungen  fortzusetzen. 

Bevor  wir  dem  ferneren  Zuge  der  Cholera  in  Eussland  uns  zu- 
wenden, haben  wir  des  gleichzeitigen  Vordringens  der  Seuche  in 
Vorderasien  zu  gedenken.  Schon  im  Jahre  1830  war  sie  aus  Persien 
auf  den  alten  Handelswegen  westwärts  nach  Mesopotamien  und  Arabien 
gekommen,  trat  1831  in  Syrien,  Palästina  und  Arabien  besonders 
unter  den  Pilgerscharen  in  Mekka  und  Medina  mit  grosser  Bösartig- 
keit auf.  Bald  darauf,  über  Suez  fortschreitend,  zeigte  sie  sich  in 
Aegypten,  wütete  in  Kairo  mit  solcher  Heftigkeit,  so  dass  ihr  in  den 
ersten  Monaten  30000  Menschen  zum  Opfer  gefallen  waren.  Sie 
pflanzte  sich  den  Nil  aufwärts  bis  Theben,  stromabwärts  nach 
Alexandrien  fort,  überzog  das  ganze  Nildelta  und  soll  durch  Pilgerzüge 
bis  nach  Tunis  verschleppt  worden  sein. 

Auf  russischem  Boden  war  die  Cholera  mit  Frühjahr  1831  von 
neuem  in  vielen  der  schon  1830  infizierten  Gouvernements  zum  Aus- 
bruche gelaugt;  zu  gleicher  Zeit  verbreitete  sie  sich  unaufhaltsam 
gegen  Westen  in  den  Gebieten  von  Grodno  und  Wilna,  nordwestwärts 
über  Kurland,  Livland,  Esthland  und  Finnland,  im  Norden  in  den 
Gouvernements  Orel  und  Archangel,  und  hielt  Mitte  Juni  in  Peters- 
burg ihren  Einzug.  Für  die  Weiterentwicklung  der  Seuche  in  Polen 
und  ihre  Verschleppung  nach  Mitteleuropa  waren  die  damals  herr- 
schenden Wirren  des  russisch-polnischen  Krieges  von  folgenschwerer 
Bedeutung.  Schon  Ende  1830  war  die  „asiatische  Brechruhr"  in  den 
östlichen  Kreisen  Galiziens  vorübergehend  aufgetaucht,  nahm  bald 
darauf  an  Umfang  beträchtlich  zu  und  gewann  mit  Frühjahr  1831 
eine  weitere  Ausdehnung  über  Russisch-Polen,  nicht  nur  unter  den 
einander  gegenüber  stehenden  Truppen  des  Czaren  und  der  polnischen 
Revolutionsarmee,  sondern  auch  unter  der  Civilbevölkerung.  Nachdem 
die  Krankheit  nach  Warschau  eingedrungen  und  infolge  des  Ueber- 
trittes  der  polnischen  Kontingente  über  die  österreichische  und 
preussische  Grenze  denselben  dahin  gefolgt  war,  wurde  hier  ein 
Seuchenherd  geschaffen,  gegen  dessen  Ausbreitung  die  ins  Trefien  ge- 
führten Absperrungsmassregeln  sich  als  völlig  ohnmächtig  erweisen 
sollten.  Die  Cholera  schritt  nun  in  dreifacher  Richtung  nach  dem 
Westen  vor.  Von  Galizien,  wo  insbesondere  Brody,  Lemberg  und 
Krakau  schwer  zu  leiden  hatten,  war  sie  im  Sommer  nach  Ungarn, 
Schlesien  und  Niederösterreich  gelangt,  verursachte  geringe  Ausbrüche 
in  Steiermark  und  Oberösterreich,  ergriif  Mitte  August  Wien  und  im 
Herbste  Böhmen  und  Mähren.  Gleichzeitig  mit  der  Invasion  in  Ungarn 
erschien  sie,  von  Bessarabien  aus  vordringend,  in  der  Moldau  und 
Walachei,  in  Bulgarien  und  Rumelien  und  fand  von  Galacz  aus,  dem 
Seeverkehre  folgend,  den  Weg  nach  Konstantinopel,  späterhin  nach 
Smyrna  und  anderen  Küstenstädten  Kleinasiens.  Die  zweite  Route, 
welche  die  Cholera  von  Polen  gegen  Westen  einschlug,  führte  über 
den  von  der  preussischen  Regierung  bei  der  Grenzstadt  Kaiisch  auf- 
gestellten Sperrkordon  hinweg  nach  den  Provinzen  Posen  und  Schlesien, 
und  nordwärts  dem  Stromgebiete  der  Oder  folgend  nach  der  Mark 
Brandenburg  und  Pommern.    Bevor  aber  noch  die  ersten  Erkrankungs- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  807 

fälle  längs  der  polnisch-preussischen  Grenze  aufgetreten  waren,  zeigte 
sich  die  Seuche  schon  im  Mai  in  Danzig,  wohin  sie  dui'ch  russische 
Ki'iegsschiffe  aus  den  Ostseeprovinzen  eingeschleppt  worden  war.  Von 
da  nahm  sie  den  Weg  über  Königsberg  nach  den  Regierungsbezirken 
Köslin  und  Gumbiunen.  Hier  im  Nordosten  Deutschlands  vereinigten 
sich  die  beiden  Cholei'azüge .  um  sich  nach  dem  Westen  fortzusetzen, 
ohne  jedoch  in  den  ergriffenen  Gebieten  mit  Ausnahme  der  Städte 
Stettin,  Frankfurt  a.  0.,  Küstrin,  Potsdam,  Berlin  eine  grössere  Ver- 
breitung erlangt  zu  haben.  Den  gleichen  milden  Charakter  bot  im 
allgemeinen  die  Epidemie  welle ,  welche  sich  west-  und  nordwärts  von 
der  Elbe  über  Xiederdeutschland  fortzog,  die  nur  an  wenigen  Plätzen 
wie  Magdeburg,  Lüneburg.  Hamburg  u.  a.  eine  grössere  Sterblichkeit 
hervorrief,  hingegen  an  ausgedehnten  Landstrecken  spurlos  vorüber- 
gegangen war. 

Von  Hamburg  aus  wurde  Ende  Oktober  1831  die  Cholera  durch 
ein  Schiff  nach  der  an  der  Ostküste  Englands  gelegenen  Hafenstadt 
Sunderland  verschleppt  und  verbreitete  sich  noch  vor  Jahresschluss 
über  die  schottische  Grenze,  um  dann  im  Frühjahr  1832  vorwiegend 
den  Hauptwegen  des  Land-  und  Seeverkehres  folgend,  jedoch  die 
Berglandschaften  fast  ganz  verschonend,  das  ganze  Inselreich  heimzu- 
suchen. Von  Grossbritannien  übersetzte  die  Seuche,  wie  dies  auch 
später  in  den  Jahren  1849  und  1853  der  Fall  war,  den  Kanal,  er- 
schien Mitte  März  1832  zu  gleicher  Zeit  in  Calais  und  Paris,  über- 
flutete in  den  beiden  nächsten  Monaten  Xordfrankreich ,  im  Juni  die 
südlichen  Departements  und  Hess  nur  die  gebirgigen  Distrikte  im 
Osten  und  Süden  des  Landes  völlig  verschont.  Mit  der  Expansion 
der  Cholera  auf  französischen  Boden  hing  unmittelbar  ihr  Auftreten 
in  Belgien  zusammen.  Hier  war  sie  anfangs  Mai  in  der  an  Frank- 
reich angrenzenden  Provinz  Hainaut  ausgebrochen  und  weiter  in  das 
Innere  des  Königreiches  und  nach  Luxemburg  vorgedrungen.  Ende 
Juni  erschien  sie  in  den  Niederlanden,  blieb  jedoch  in  epidemischer 
Gestalt  während  dieses  und  des  darauffolgenden  Jahi-es  vorzugsweise 
auf  die  Provinzen  Xordbrabant.  Nord-  und  Südholland.  Friesland, 
Groningen  und  Drenthe  beschränkt.  Damit  standen  auch  die  in  der 
preussischen  Rheinprovinz  wähi-end  der  genannten  beiden  Jahre  ge- 
bildeten Krankheitsherde  in  Verbindung.  Indessen  war  die  Cholera 
im  östlichen  Deutschland  und  in  Oesterreich  im  Laufe  des  Jahres  1832 
von  neuem  erwacht,  rief  in  Wien  und  Berlin  kürzer  dauernde,  aber 
bösartige  Nachschübe  hervor  und  kehrte  ebenso  in  den  Regierungs- 
bezirken Oppeln  und  Breslau  für  einige  Zeit  zurück. 

Für  die  Geschichte  der  Cholera  im  Jahre  1832  ist  ihre  Ver- 
schleppung nach  der  westlichen  Hemisphäre  von  Bedeutung  geworden. 
Durch  irische  Auswanderer,  welche  im  April  Dublin  verlassen  hatten, 
wurde  die  Krankheit  anfangs  Juni  nach  Canada  importiert,  von  wo 
sie  sich  mit  Schnelligkeit  und  Heftigkeit  über  Quebeck  und  Montreal 
nach  dem  grössten  Teil  von  Ober-  und  üntercanada.  nordwärts  dem 
Hudson  entlang  und  in  südlicher  Richtung  nach  den  Vereinigten 
Staaten  verbreitete.  Bald  waren  Newj'ork.  Philadelphia  und  die 
ganze  Ostküste  ergriffen,  im  August  Maryland  und  Virginien,  im 
September  Kentuckj',  sodann  Ohio,  Indiana  und  Illinois.  Noch  im 
November  entwickelte  sich  in  Neworleans  eine  Epidemie,  die  an  den 
Ufern  des  Mississippi  fortwandemd,  sich  über  einen  grossen  Teil  der 
Südstaaten,  im  Frühling  1833  über  die  mittleren  Staaten  erstreckte 


808  Victor  Fossel. 

und  im  Westen  die  Felsengebirge  überschreitend  bis  zu  den  Gestaden 
des  Stillen  Ozeans  ihre  Verheerungen  ausdehnte.  Annähernd  zu 
gleicher  Zeit  (Juni  1833)  wurde  sowohl  die  Küste  wie  das  Hoch- 
plateau von  Mexiko  von  der  Seuche  befallen,  die  auch  auf  der  Insel 
Cuba  erschienen  war  und  wiederum  zwei  Jahre  später  auf  letzterem 
Eiland  wie  an  der  Küste  von  Guayana  sich  gezeigt  hatte. 

In  Mitteleuropa  war  die  Cholera  während  des  Jahres  1833  in 
mehreren  Ländern,  wie  in  Ungarn,  im  Norden  Frankreichs  und  in 
Belgien  neuerlich  aufgetaucht,  ohne  aber  ihre  frühere  Heftigkeit  ent- 
faltet zu  haben.  Einen  bisher  unberührten  Boden  eroberte  sie  sich 
auf  der  pyrenäischen  Halbinsel,  wo  sie  anfangs  Jänner  1833  durch 
ein  aus  England  kommendes  Schilf  nach  dem  Hafen  Isao  de  Foz  an 
der  Westküste  von  Portugal  gebracht,  sich  in  mehreren  Städten  dieses 
Landes  entwickelte,  nach  Spanien  übergriff  und  sich  hier  zunächst 
in  den  westlichen  und  südlichen  Landschaften  festsetzte.  Noch  weitere 
Kreise  zog  die  Epidemie  im  folgenden  Jahre,  indem  sie  die  östlichen 
und  nördlichen  Gebiete  von  Spanien  befiel  und  gegen  Ende  1834 
nach  Marseille  und  der  Provence  vorrückte,  um  im  März  1835  auch 
das  übrige  Südfrankreich,  Piemont  und  späterhin  einen  Teil  von  Nord- 
italien bis  Toscana  heimzusuchen.  Im  Jahre  1836  recrudeszierte  die 
Seuche  nicht  nur  in  den  meisten  der  bisher  ergriffenen  Teile  Italiens, 
sondern  wanderte  über  die  apenninische  Halbinsel  weiter  bis  Neapel 
und  kam  1837  nach  Sicilien  und  der  Insel  Malta.  Während  ihres 
Ganges  längst  der  Poebene  sandte  sie  1836  ihre  Strahlen  nach  der 
südlichen  Schweiz  aus  und  gelangte  nach  Tirol  und  Bayern,  1837  nach 
Istrien,  Dalmatien,  nordwärts  nach  Oesterreich-LTngarn  bis  Galizien 
und  nach  mehreren  norddeutschen  Provinzen. 

Auf  aussereuropäischem  Gebieten  war  die  Cholera  während  dieser 
Pandemie  1830  in  China,  1831  in  Japan  und,  wie  schon  erwähnt,  in 
Aegypten  zum  Ausbruch  gekommen.  Vom  Jahre  1834  an  erschien  sie 
neuerlich  in  Aegypten,  wanderte  an  der  Nordküste  Afrikas  fort,  drang 
hier  bis  tief  in  das  Innere  des  Landes  ein  und  nahm  gleichzeitig  den 
Weg  nach  der  ostafrikanischen  Küste  sowie  nach  dem  Sudan,  wo  sie 
gleichwie  in  den  anderen  Erdteilen  mit  dem  Winter  1837 — 1838  ein 
Ende  fand. 

Dritte  Periode  1846— 186L 

Während  die  Cholera  im  Dezennium  1830—1840  in  Ostindien 
mit  ungeschwächter  Heftigkeit  anhielt,  war  sie  in  den  Jahren  1840 
und  1841  nach  Hinterindien  und  China,  1842  nach  dem  nördlichen 
Hindostan,  1844  nach  Afghanistan,  Turkestan  und  dem  östlichen 
Persien  vorgedrungen  und  im  Jahre  1846  im  ganzen  persischen  Reiche 
zum  Ausbruch  gekommen.  Gleichzeitig  setzte  sie  sich  nordwärts  über 
Kaukasien,  Armenien  bis  zur  Küste  des  Kaspischen  Meeres  fort,  wan- 
derte in  südlicher  Eichtung  über  die  Nachbargebiete  des  persischen 
Golfes  weiter  nach  Arabien  und  Mesopotamien  und  erhielt  in  den  ge- 
nannten Teilen  Vorderasiens  durch  volle  zw^ei  Jahre  ihre  Herrschaft. 

Vom  Frühjahr  1847  an  richtete  sich  der  Zug  der  Seuche  zunächst 
nach  dem  Süden  des  europäischen  Russland  und  nach  Sibirien,  ge- 
langte innerhalb  der  nächsten  Monate  einerseits  bis  Petersburg  und 
Archangel,  andererseits  bis  Tobolks.  Zu  derselben  Zeit  schlug  sie  den 
Weg  nach  Westen  ein,  rückte  an  die  Ufer  des  Schwarzen  Meeres  vor, 
wo    sie    im   Herbste   Trapezunt,    dann    Konstantinopel    ergriff    und 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  809 

Über  ein  Jahr  lang-  nicht  zum  Stillstand  g-elang'te.  —  Im  Jahre  1848 
fand  die  Cholera,  die  sich  über  das  ganze  russische  Reich  ausgebreitet 
hatte,  in  den  Ostseeprovinzen.  in  Podolien,  Wolhynien  und  Polen 
Eingang  und  erschien  an  zahlreichen  Plätzen  der  europäischen  und 
der  asiatischen  Türkei.  Mit  ihrer  Ausdehnung  in  Kleinasien  erfolgte 
während  des  Sommers  der  Ausbruch  der  Krankheit  in  Aegypten. 
Tunis.  Algerien  und  Marokko,  in  welchen  Ländern  sie  sich  nahezu 
drei  Jahre  lang  behauptete. 

Vom  Westufer  des  Schwarzen  Meeres  aus  hatte  die  Seuche  ihre 
Verstösse  neuerlich  nicht  bloss  nach  der  Türkei  gerichtet,  sondern 
auch  die  Donaufürstentümer  und  Ungarn  erreicht.  In  diesem  Jahre 
hatte  sie  auf  Malta  und  der  gi'iechischen  Insel  Schiatos  nur  geringe 
Entwicklung  zu  erlangen  vermocht,  hingegen  hier  wie  im  übrigen 
Griechenland  erst  im  Jahre  1850  sich  zur  vollen  Intensität  erhoben. 
Nachdem  die  Cholera  schon  um  die  Mitte  des  Jahres  1848  teils  in  Ungarn 
vornehmlich  auf  dem  Kriegsschauplatze,  teils  in  Galizien  festen  Fuss  ge- 
fasst  hatte,  schlug  sie  gleichzeitig  und  anscheinend  von  Russland  aus- 
gehend auf  ihrer  westlichen  "Wanderung  den  Weg  nach  Xorddeutsch- 
land  ein,  zunächst  nach  Pommern,  der  Mark  und  der  Provinz  Sachsen, 
zog  dem  Stromgebiete  der  Elbe  entlang  nach  Nordwesten,  um  Hamburg, 
Bremen,  Hannover  und  Braunschweig  zu  überfallen;  später  trat  sie 
in  Posen,  Ost-  und  Westpreussen  und  Schlesien  auf.  Dieselben  Gebiete 
wurden  auch  im  Jahre  1849  von  der  Cholera  schwer  heimgesucht,  die 
dann  auch  nach  den  Rheinlanden  übergegrilfen  hatte.  Indessen  hatte 
noch  im  Herbste  1848  die  Krankheit  die  Niederlande  und  Belgien  erreicht 
und  war  durch  Schiffe  importiert  in  England,  Schottland  und  Irland 
an  zahlreichen  Plätzen  zum  Ausbruch  gekommen.  In  Grossbritannien 
wie  in  Holland  und  Belgien  setzte  die  Epidemie  mit  dem  folgenden 
Frühjahr  neuerdings  ein  und  erhielt  sich  in  diesen  Ländern  das 
ganze  Jahr  1849  hindurch.  In  das  Jahr  1849  fallt  ein  erneuerter 
Ausbruch  der  Cholera  in  Indien,  die  sich  in  den  nächsten  zwei  Jahren 
über  einen  grossen  Teil  der  vorderindischen  Gebiete  in  heftigster 
Weise  verbreitete.  In  Europa  war  sie  ausser  den  schon  genannten 
Ländern  in  Oesterreich  und  zwar  in  Galizien,  Ungarn,  Wien,  Prag, 
Böhmen,  Mähren,  Krain  und  Istrien  aufgetreten,  so\sie  den  Bewegungen 
der  österreichischen  Truppen  im  Königreich  Venetien  gefolgt  Auch 
Frankreich  wurde  an  seiner  Nordküste  von  der  Seuche  befallen,  die 
im  Laufe  des  Jahres  über  das  ganze  Land  fortschritt.  Noch  im  De- 
zember 1848  erschien  die  Cholera,  durch  Emigranten  verschleppt  im 
Hafen  von  Newyork  und  Neworleans,  wanderte  noch  vor  Jahresschluss 
dem  Mississippi  entlang  über  einen  Teil  der  Oststaaten  vorwärts,  fand 
in  Texas  Eingang  und  erfuhr  dann  1848  und  1850  die  weiteste,  bis 
San  Franzisco  reichende  Verbreitung  über  ganz  Nordamerika,  das 
noch  bis  zum  Jahre  1852  unter  einer  Reihe  von  mehr  weniger  be- 
grenzten Epidemien  zu  leiden  hatte.  Mexiko,  Panama  und  Neugranada 
wurden  1849  auf  dem  Land-  und  Seewege  infiziert,  indes  die  Antillen 
erst  im  Zeiträume  1850  bis  1854  von  der  Cholera  in  furchtbarer  Weise 
heimgesucht  wurden. 

Während  im  Laufe  des  Jahres  1850  die  Cholera  auf  dem  euro- 
päischen Festlande  in  einzelnen  norddeutschen  Städten,  ausserdem  in 
Polen,  Schlesien,  Böhmen  und  Niederösten-eich,  speziell  in  Wien  und 
Prag  epidemisch  zum  Ausbruch  gekommen  war,  erreichte  sie,  abge- 
sehen von  den  wenigen  und  milde  verlaufenen  Lokalepidemien  in  den 


810  Victor  Fossel. 

skandinavischen  Ländern  innerhalb  der  Jahre  1848  und  1849,  erst 
1850  eine  grössere  Ausdehnung  in  Schweden,  ohne  jedoch  ihre  volle 
Bösartigkeit  zu  manifestieren.  Im  übrigen  Europa,  wie  in  Afrika 
war  sie  mit  Schluss  des  Jahres  1850  zum  Stillstand  gekommen  und 
nur  auf  den  Kanarischen  Inseln  zum  erstenmale  erschienen. 

Doch  nicht  lange  währte  diese  Ruhepause.  Schon  im  Jahre  1852 
trat  die  Cholera,  die  seit  drei  Jahren  in  Indien  weit  über  ihre  engere 
Heimat  hinaus  gedrungen  war,  von  neuem  ihren  Rundgang  über  einen 
grossen  Teil  der  Erde  an.  In  Asien  ergriff  sie  frühzeitig  die  Sunda- 
inseln,  Persien  und  Mesopotamien,  wendete  sich  wiederum  dem  Nord- 
osten zu  und  überzog  Transkaukasien  und  die  Nachbargegenden  des 
Kaspischen  Meeres.  Eigentümlich  erschien  das  gleichzeitige  Auf- 
flackern der  Seuche  in  Polen,  ohne  dass  damals  zwischen  dem  Westen 
und  Süden  des  russischen  Reiches  der  Zusammenhang  einer  Epidemie 
nachgewiesen  werden  konnte.  Von  Polen  aus  wurden  die  westlichen 
Gebiete  des  Zarenreiches  und  die  preussischen  Provinzen  Posen, 
Schlesien,  Ost-  und  Westpreussen,  die  Mark  und  Pommern  infiziert. 
Während  des  Jahres  1853  erhielt  sich  die  Cholera  auf  voller  epide- 
mischer Höhe  in  Mittelasien  und  im  russischen  Reich,  um  hier  nach 
vielfach  wechselnder  räumlicher  und  zeitlicher  Bewegung  in  ihrer 
Heftigkeit  erst  im  Jahre  1862  zu  erlöschen.  Deutschland  hatte  im 
Jahre  1853  vorzugsweise  in  seinen  nördlichen  Landstrichen  unter  der 
Herrschaft  der  Krankheit  zu  leiden,  wo  sie  auch  in  den  Jahren  1855 
und  1859  zu  epidemischer  Entwicklung  kam.  Vom  Gestade  der  Ostsee 
war  1853  die  Cholera  in  die  skandinavischen  Länder  vorgedrungen 
und  hatte  nicht  nur  in  diesem  Jahre  Dänemark,  Schweden  und  Nor- 
wegen schwer  betroffen,  sondern  auch  wie  in  Russland  und  Preussen 
in  den  folgenden  Jahren  1855,  1857  und  1859  an  zahlreichen  Plätzen 
ihre  Verheerungen  wiederholt.  Auch  Grossbritannien  wurde  im  Früh- 
sommer 1853  durch  Schiffe  aus  deutschen  Häfen  infiziert.  Die  in 
London  wie  in  vielen  anderen  Hauptorten  des  Inselreiches  hervor- 
gerufenen Epidemien  überdauerten  den  ganzen  Winter  und  nahmen 
erst  mit  Schluss  des  Jahres  1854  ein  Ende.  Zu  gleicher  Zeit  wie  in 
England  trat  die  Cholera  in  den  Niederlanden,  in  Belgien  und  Frank- 
reich auf,  um  in  diesen  Ländern,  wie  wir  sehen  werden,  sich  noch 
jahrelang  in  bedrohlicher  Intensität  zu  erhalten.  Das  Jahr  1853 
wurde  auch  dem  Süden  Europas  verhängnisvoll,  nachdem  die  Cholera 
im  spanischen  Hafen  von  Vigo  importiert,  über  den  Westen  des  König- 
reiches sich  verbreitet  und  hier  ein  Centrum  ihrer  Herrschaft  ge- 
schaffen hatte.  Eine  weitere  Invasion  der  Seuche  fiel  im  Jahre 
1853  auf  den  amerikanischen  Kontinent,  wo  die  Unionsstaaten  und 
Mexiko  teils  durch  europäische  Einwanderer,  teils  durch  Verschleppung 
der  auf  Westindien  grassierenden  Krankheit  befallen  worden  sind. 

Mit  erneuerter  Wut  setzte  die  Cholera  im  Jahre  1854  ihre  Wan- 
derungen fort  und  entfaltete  in  vielen  der  bereits  ergriffenen  Länder 
ihre  ganze  Bösartigkeit.  In  Russland,  Skandinavien,  Grossbritannien, 
Holland  und  Belgien  dauerte  ihre  Herrschaft  an ;  in  Frankreich  wurde 
Paris  zum  Mittelpunkt  einer  fast  das  ganze  Land  umspannenden  Epi- 
demie, die  von  dem  hart  bedrängten  Marseille  aus  nach  der  spani- 
schen Küste  verschleppt,  rasch  über  die  ganze  pyrenäische  Halbinsel 
Verbreitung  gewann.  Wie  in  Frankreich  gelangte  auch  in  Spanien 
und  Portugal  die  Seuche  erst  im  Jahre  1856  zum  Ablauf.  Von  Süden 
Frankreichs  griff  sie  nach  der  Schweiz  und  Oberitalien  hinüber  und 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  811 

nahm  von  mehreren  zuerst  infizierten  Häfen  den  'Weg  in  das  Innere 
des  Landes.  Savoyen.  die  Lombardei.  Venetien,  ganz  Mittel-  und 
Unteritalien  sowie  Sicilien  litten  furchtbar  unter  den  Drangsalen  der 
epidemischen  Brechruhr,  deren  Dauer  sich  auf  dem  gi^össten  Teil  der 
apeninischen  Halbinsel  bis  zum  Ende  des  Jahres  1856  fortzog. 

Von  besonderer  Bedeutung  wurde  das  Cholerajahr  1854  für  Süd- 
deutschland; hier  war  in  den  westlichen  Gebietsteilen  die  Krankheit 
zwar  nur  in  kleineren  Herden  aufgetreten,  hingegen  in  München  rasch 
zu  voller  Entwicklung  gekommen  und  für  die  Bevölkerung  der  bayeri- 
schen Hauptstadt  wie  für  jene  des  Landes  verhängnisvoll  geworden. 
In  Oesterreich-üngarn,  das  sowohl  von  Bayern  her  wie  vom  Südosten 
des  Reiches  verseucht  worden  war,  hatten  während  des  Jahres  1854 
nur  einige  Städte,  wie  Wien  und  Budapest  unter  einer  stärkeren 
Cholerasterblichkeit  zu  leiden.  Um  so  heftiger  schw^oll  im  Jahre  1855 
die  Seuche  zu  einer  nahezu  über  den  ganzen  Kaiserstaat  sich  aus- 
dehnenden Epidemie  an,  die  gleichzeitig  von  Oberitalien  aus  neue  Ver- 
stärkungen erfahren  und  erst  mit  Jahresschluss  ein  Ende  genommen 
hatte.  Nicht  um  vieles  weniger  entfaltete  die  Cholera  ihre  Schrecken 
im  Jahre  1854  auf  dem  Kriegsschauplatze  an  den  Ufern  des  Schwarzen 
Meeres;  sie  verbreitete  sich  anfänglich  unter  den  Truppen  der  West- 
mächte, sodann  auf  russischen  und  türkischen  Boden,  zog  ihre  Kreise 
im  Osten  über  Kleinasien,  im  Westen  über  die  Donaufürstentümer, 
drang  südwärts  nach  Griechenland  vor  und  erlosch  auf  dem  ganzen 
Länderkomplexe  erst  mit  Ende  1855. 

Ausserhalb  des  europäischen  Kontinents  war  die  Cholera  im  Jahre 

1854,  abgesehen  von  Ostindien,  in  Persien,  Arabien,  China  und  Japan 
von  neuem  aufgetreten  und  gleichfalls  auf  einem  weiten  Ländergebiete 
des  amerikanischen  Festlandes  mit  ungewöhnlicher  Bösartigkeit  zum 
Ausbruch  gelangt.    Aehnliche  Wanderzüge  zeigte  die  Seuche  im  Jahre 

1855,  die  von  Vorderasien  und  Arabien  nach  Aegypten  und  längs  der 
Nordküste  Afrikas  bis  Marokko  und  in  das  Innere  des  Landes  nach 
Abessinien  und  Nubien  voi'drang  und  zum  ersten  Male  die  Westküste 
Afrikas  und  zwar  die  Inseln  Fogo  und  Madeii'a  ergrifi". 

In  Europa  war  es  vorwiegend  dessen  südliche  Hälfte,  auf  welcher 
die  Cholera  im  Laufe  des  Jahres  1855  ihre  Verwüstungen  fortgesetzt 
hatte.  Aber  auch  ßussland  und  seine  Nachbargebiete  wurden,  wie 
teilweise  schon  erwähnt,  von  neuen  Epidemien  heimgesucht,  so  dass 
das  Zarenreich,  die  Ufer  des  Schwarzen  Meeres,  die  Donaufürsten- 
tümer.  die  Balkanstaaten,  Griechenland,  Italien  und  Oesterreich-Ungam 
den  zusammenhängenden  Schauplatz  der  Seuche  in  jenem  Jahre  dar- 
stellen. Mit  Ausnahme  der  damals  andauernden  Herrschaft  der  Krank- 
heit auf  der  iberischen  Halbinsel  blieb  das  westliche  Europa  mehr  ver- 
schont, nur  Holland  und  die  Schweiz  wiesen  stärkere  Ausbrüche  auf, 
die  ebenso  im  Norden  von  Deutschland  und  in  den  skandinavischen 
Ländern  sich  zur  Höhe  weitgedehnter  Epidemien  erhoben  hatten. 

Auf  der  westlichen  Hemisphäre,  wo  —  wie  bemerkt  —  schon  ein 
Jahr  zuvor  die  Cholera  ein  grosses  Territorium  erobert  und  nahezu 
die  meisten  Unionsstaaten,  Neugranada  und  Columbia  in  Südamerika 
erfasst  hatte,  erschien  sie  1855  in  Venezuela  und  in  Brasilien,  dem 
Stromgebiete  des  Amazonenflusses  tief  in  das  Land  folgend  und  zahl- 
reiche Küstenstädte  ergreifend,  ohne  im  darauffolgenden  Jalu-e  aus 
dem  Lande  zu  verschwinden. 

Ueberblicken  wir  endlich  den  letzten  Abschnitt  dieser  Pandemie 


812  Victor  Fossel. 

der  von  dem  Zeiträume  1856 — 1863  begrenzt  wird,  so  begegnen  wir 
einer  Reihe  neuerlicher  und  mörderischer  Ausbrüche  der  Cholera  zu- 
nächst in  ihrer  Heimat,  sodann  im  ganzen  Hindostan,  in  China,  Japan, 
auf  der  Halbinsel  Korea  und  den  Philippinen.  Die  ganze  siebenjährige 
Periode  hindurch  gelangte  sie  ebensowenig  in  Mittel-  und  Vorderasien 
zur  Ruhe.  Sie  wanderte  1856  von  Arabien  ausgehend  an  der  Ost- 
küste Afrika  fort  nach  Abessinien,  schritt  in  den  folgenden  Jahren 
nach  dem  Somalilande  und  Zanzibar  weiter,  erschien  auf  den  Inseln 
Mauritius,  Madagascar,  den  Comoren  und  auf  Reunion.  Von  Aegypten 
verbreitete  sich  1856 — 59  die  Seuche  längs  der  afrikanischen  Nord- 
küste über  Tripolis,  Tunis,  Algier  und  Marokko.  Mit  Zähigkeit  be- 
hauptete sie  sich  noch  im  Jahre  1856  in  Centralamerika ,  indes  sie  in 
Brasilien  und  anderen  Gebietsteilen  Südamerikas  nur  zeitweilig  und 
auf  einzelne  Plätze  eingeengt  geblieben  war.  In  Europa  waren,  wenn 
man  von  der  ununterbrochenen  Seuchendauer  in  Russland  und  Spanien 
absieht,  die  Cholera-Jahre  1856 — 1858  nur  für  die  skandinavischen 
Länder  und  einzelne  norddeutsche  Städte  von  Bedeutung.  Hingegen 
erfuhr  die  Seuche  gleichzeitig  mit  ihrem  Anwachsen  in  Asien  und 
ihrer  raschen  Steigerung  innerhalb  des  russischen  Reiches  im  Jahre 
1859  plötzlich  eine  neuerliche  Expansion.  Im  ursächlichen  Zusammen- 
hang mit  derselben  standen  die  schweren  Lokalepidemien  in  den  Ost- 
seeprovinzen, in  Schweden,  Norwegen,  auf  zahlreichen  Plätzen  des 
nördlichen  und  nordwestlichen  Deutschlands,  sowie  in  den  Nieder- 
landen und  in  Belgien. 

Vierte  Periode  1863—1875. 

Die  Cholera,  die  schon  in  den  Jahren  1860 — 1862  weit  über  ihre 
bengalische  Heimat  hinausgetreten  war,  verbreitete  sich  1863  über 
ganz  Vorderindien  und  Ceylon  und  schritt  in  den  beiden  folgenden 
Jahren  nach  Osten  fort,  um  den  indischen  Archipel,  China  und  Japan 
mit  mörderischen  Epidemien  zu  überziehen.  Ihr  Vorstoss  nach  Westen 
erfolgte  aber  diesmal  nicht  auf  dem  alten  Landwege  der  Karawanen, 
sondern  auf  dem  Seewege  des  persischen  Golfes  und  des  roten  Meeres. 
Zu  Beginn  des  Jahres  1865  gelangte  die  Seuche  von  der  Küste  von 
Bombay  durch  ein  mit  Kranken  beladenes  Fahrzeug  nach  der  im 
westlichen  Arabien  gelegenen  Landschaft  Yemen  und  von  hier  nach 
dem  heiligen  Mekka,  wo  sie  anfangs  Mai  unter  den  versammelten 
100000  Pilgern  furchtbare  Ernte  hielt  und  von  ungezählten  Flücht- 
lingen nach  allen  Richtungen  verstreut  wurde.  So  kam  es,  dass  dies- 
mal die  Cholera  nicht  auf  ihren  alten  Pfaden  über  Mittel  und  A'order- 
asien  nach  Südrussland  und  weiter  nach  Europa  den  Weg  nahm, 
sondern  vom  Mittelmeere  aus  in  allerkürzester  Frist  an  den  südlichen 
Ufern  unseres  Kontinents  Fuss  fasste  und  in  die  Binnenländer  ein- 
drang. Von  Mekka  aus  erschien  sie  mit  den  ersten  zurückkehrenden 
Pilgern  in  Suez  und  Alexandrien,  griif  in  Unter-  und  Oberägypten 
um  sich,  indessen  sie  mohamedanische  Wallfahrer  von  Arabien  aus 
nach  Mesopotamien,  Syrien,  Palästina  und  Centralasien  importiert 
hatten.  Bald  nach  ihrem  Ausbruche  in  Alexandrien  trat  die  Seuche, 
durch  den  Schiffsverkehr  vermittelt,  in  Konstantinopel.  Malta,  Marseille, 
Ancona,  Valencia  u.  a.  0.  auf,  ergriff  von  diesen  Einbruchstationen 
aus  die  Türkei  und  deren  Hinterländer,  Südfrankreich,  Spanien,  Italien 
und  wanderte  vom  Schwarzen  Meere  nach  Russland,  Armenien  und 
Kaukasien   landeinwärts.    Während  in  den  genannten  Gebieten   die 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  813 

Cholera  ein  beträchtliches  Feld  eroberte,  erschien  sie  noch  im  Herbste 
1865  an  einigen  Plätzen  in  England  und  Belgien.  OesteiTeich  wurde 
1865  nur  von  kleinen  Epidemien  in  Fiume  und  Triest  befallen,  hin- 
gegen die  Kranklieit  in  Deutschland  durch  direkt  aus  Odessa  ange- 
kommene Eeisende  nach  Altenburg  und  von  hier  nach  mehi-eren 
Städten  des  Königreichs  Sachsen  übertragen.  Um  so  heftiger  wütete 
im  Kiiegsjahre  1866  die  Cholera  in  Oesterreich  und  Deutschland.  In 
OesteiTeich  kam  die  Seuche  zuerst  in  der  Bukowina  zum  Ausbruch, 
überzog  dann  Ungarn,  Böhmen,  Mähren,  Xiederösterreich  und  forderte 
unter  den  Truppen  wie  unter  der  Civilbevölkerung  eine  ungeheuere 
Zahl  von  Opfern.  So  erlagen  in  Böhmen  30000,  in  Mähren  nahezu 
50000.  in  Xiederösterreich  10  000,  in  Ungarn  30  000,  in  der  ganzen 
Monarchie  165292  Menschen  der  Cholera.  In  Deutschland  war  die 
Cholera  zuerst  aus  Luxemburg  nach  der  Bheinpronnz  und  nach  "West- 
falen gelangt,  um  weniger  später  an  der  Ostseeküste  aufgetreten  und 
an  zahlreichen  Orten  des  norddeutschen  Gebietes,  u.  a.  in  Hamburg, 
Berlin,  den  Provinzen  Preussen,  Posen,  Schlesien,  Sachsen,  im  König- 
reiche Sachsen,  in  Mecklenburg  und  Oldenburg  ausgebrochen.  Preussen 
allein  zählte  in  dieser  Epidemie  114683  Todesfälle  an  Cholera.  In 
den  bayerischen  Kreisen  Unterfranken,  Aschaffenburg,  Schwaben  und 
Xeuburg  trat  sie  epidemisch  auf,  sie  blieb  hingegen  im  übrigen  Süd- 
deutschland nur  auf  einzelne  bayerische  Kreise  und  Städte  der  west- 
lichen Gegenden  beschränkt.  Aber  auch  in  den  anderen  Ländern 
Eiu'opas  war  1866  eines  der  schwersten  Cholerajahre.  Das  osmanische 
Reich,  die  Donaufürstentümer,  Montenegro  und  vor  aUem  das  euro- 
päische Eussland  hatten  schwere  und  ausgedehnte  Epidemien  zu  über- 
stehen. Von  den  skandinavischen  Ländern  wurde  nur  Schweden 
stärker  betroffen,  Grossbritannien  nur  an  einzelnen  Plätzen  heim- 
gesucht: dagegen  herrschte  die  Cholera  epidemisch  in  Belgien,  den 
Xiederlanden,  in  Frankreich,  Spanien  und  Italien. 

Die  grosse  Verbreitung,  die  die  Cholera  im  Laufe  des  Jahres  1865 
in  den  aussereuropäischen  Ländern  gefunden,  schuf  Seuchencentren. 
von  denen  aus  im  Jahre  1866  die  Krankheit  ungeschwächt  ihren 
Fortgang  nahm.  Auf  dem  asiatischen  Festlande  riss  sie  zunächst 
in  dem  von  zwei  Millionen  von  Pilgern  besuchten  indischen  Wall- 
fahrtsorte Hui'dwar  ein  und  überzog  von  hier  aus  neuerdings  Central- 
und  Vorderasien.  In  Afrika  war  schon  1865  die  Cholera  vom 
Golf  von  Aden  her  nach  der  Ostküste  übergesetzt,  hatte  Abyssinien, 
die  Somali-  und  Gallaländer  ergriffen,  um  in  den  folgenden  Jahren 
noch  tiefer  in  das  Innere  des  dunklen  Weltteiles  einzudringen  und 
andererseits  Zanzibar,  Mozambique,  Madagaskar  und  Mauritius  zu  in- 
fizieren. An  der  Xordküste  wurde  Algier  und  Marokko  gleichfalls 
schon  1865  verseucht,  doch  fielen  die  heftigsten  Ausbrüche  der  Cholera 
in  diesen  Ländern,  wie  in  Tunis  auf  die  Periode  1867 — 1868  und 
verbreiteten  sich  1868  - 1869  zum  ersten  Male  über  Senegarabien. 

Von  gleicher  Wichtigkeit  erscheinen  in  diesem  Zeiträume  die 
Epidemiezüge  der  Cholera  auf  der  westlichen  Hemisphäre.  Angeblich 
von  Marseille  aus,  nach  anderer  Quelle  von  Bordeaux  kommend,  wurde 
im  Herbst  1865  die  Krankheit  nach  Guadeloupe  eingeschleppt,  grifi 
auf  mehrere  benachbarte  Inseln  über  und  entwickelte  sich  in  den  nächsten 
Jahren  auf  S.  Domingo,  Cuba  und  S.  Thomas  zu  heftigen  Epidemien. 
Auf  dem  Festlande  von  Amerika  kam,  von  sporadischen  Erkrankungen 
unter  Einwanderern  im  Jahre  1865  abgesehen,  die  Cholera  eret  vom 


814  Victor  Fossel. 

Jahre  1866  an  wieder  durch  europäische  Emigrantenschiffe  importiert, 
zu  weiter  Ausdehnung.  Von  Newyork  und  Neworleans  ausgehend, 
wanderte  sie  nach  Pennsylvanien  und  längs  der  Ostküste  fort,  drang 
von  Neworleans,  dem  Stromgebiete  des  Missisippi  folgend,  nach  Illinois, 
Jowa  fasste  an  einzelnen  Hafenplätzen  der  Südküste  und  auf  central- 
amerikanischem  Boden  in  Nicaragua  und  Honduras  festen  Fuss.  Nach 
einer  winterlichen  Abnahme  verbreitete  sich  die  Seuche  1867  über 
einen  grossen  Teil  der  westlichen  Unionsstaaten  und  über  Texas. 

Mit  ihrem  Vorstoss,  den  die  Cholera  im  Jahre  1866  nach  den 
amerikanischen  Kontinent  unternommen  hatte,  hing  auch  ihr  plötz- 
liches Auftreten  im  April  dieses  Jahres  in  den  Rio  de  la  Plata-Staaten 
zusammen,  wo  sie  durch  Truppenzüge  rasche  Ausdehnung  erfuhr  und 
im  folgenden  Jahre  von  neuem  ausbrach.  Sie  überzog  die  Land- 
schaften und  Städte  längs  des  Paranaflusses  bis  Buenos-Ayres,  suchte 
mehrere  Provinzen  Brasiliens  heim,  wo  sie  überall  noch  während  des 
Jahres  1868  fortwucherte.  Im  letztgenannten  Jahre  überfiel  sie  das 
bisher  verschont  gebliebene  Montevideo  und  wanderte  1869  nach 
einigen  Landschaften  der  argentinischen  Republik,  nach  Bolivia  und 
Peru.    Mit  Ende  1869  war  die  Seuche  in  Südamerika  erloschen. 

Wenden  wir  uns  wieder  nach  Europa  zurück,  so  haben  wir  für 
das  Jahr  1867  in  vielen  der  schon  vordem  befallenen  Länder  über 
heftige  Recrudeszenzen  der  Seuche  zu  berichten.  Vor  allem  war  es 
Oesterreich-Ungarn,  das  in  Dalmatien,  Ungarn  und  Galizien  neuerliche 
Choleraepidemien  zu  dulden  hatte.  Auch  in  Albanien,  Montenegro 
und  in  der  Herzegowina  hielt  die  Krankheit  unvermindert  an.  Russ- 
land blieb  diesmal  in  seiner  Choleramorbidität  gegen  frühere  Jahre 
zurück,  hingegen  wurde  Polen  von  neuem  erfasst  und  hatte  Tausende 
von  Menschenleben  an  der  Seuche  verloren.  Deutschland  wies  in  seinen 
östlichen  Gebietsteilen  nur  massige  Epidemien  von  beschränkten 
Umfange  auf,  dafür  war  die  Cholera,  die  den  Winter  1866 — 1867  in 
der  Rheinprovinz  und  in  Westphalen  überdauert  hatte,  hier  wieder 
hervorgetreten  und  in  einzelnen  Städten  von  einer  exzessiven  Sterblich- 
keit begleitet  gewesen.  Nicht  weniger  heftig  waren  die  Nachschübe 
der  Krankheit  in  Belgien  und  Holland,  die  jedoch  räumlich  auf  engen 
Grenzen  eingedämmt  geblieben  waren.  x\m  schwersten  wurde  im 
Jahre  1867  Italien  und  zwar  in  allen  seinen  Provinzen  von  der  Cholera 
heimgesucht.  Die  Zahl  der  Opfer  hatte  man  annähernd  auf  130000 
Menschen  geschätzt.  In  Frankreich,  der  Schweiz  und  in  Gross- 
britannien endlich  erlangte  die  Seuche  nur  eine  territorial  beschränkte 
Verbreitung. 

Mit  dem  Jahre  1868  war  in  Europa  ein  vollständiges  Erlöschen 
der  Cholera  eingetreten,  deren  Spur  nur  in  vereinzelten  Krank- 
heitsherden in  Russland  zu  Tage  getreten.  Ebenso  blieb  vom 
Jahre  1869  an  in  den  anderen  Weltteilen  die  Seuche  nur  auf  ver- 
hältnismässig geringe  Gebiete  zurückgedrängt.  Doch  nur  ein  kurzer 
Zeitraum  war  es,  der  diese  Ruhepause  umfasste.  Schon  im  Jahre  1871 
wird  die  Cholera  zur  abermaligen  Landplage  für  Europa  wie  für  die 
Mehrzahl  der  anderen  Erdtheile,  denn  auch  die  nächsten  beiden  Jahre 
sind  ausgefüllt  von  einem  pandemischen  Seuchenzuge,  der  lebhaft  an 
die  Verheerungen  der  Krankheit  innerhalb  des  4.  und  6.  Dezenniums 
gemahnte. 

Zunächst  ist  daran  zu  erinnern,  dass  die  Cholera  seit  dem 
Jahre  1865  ohne   nachweisbare  Unterbrechungen   in   Persien  fortge- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  815 

dauert  und  nameutlich  1870  in  Teheran  wie  im  Süden  des  Reiches 
gewütet  hatte.  Von  hier  verbreitete  sie  sich  1871  über  die  Ostküste 
Arabiens,  über  Mesopotamien  und,  durch  Karawanen  verschleppt,  nach 
dem  westlichen  Arabien,  wo  sie  bald  Medina  und  Mekka  erreichend, 
längs  der  Küste  des  Hedschas  fortschritt.  Obgleich  die  Cholera  im 
Jahre  1872  in  Persien  wie  in  Mekka  von  neuem  ausgebrochen  war, 
fand  dennoch  in  diesen  Ländern  bald  ihr  gänzlicher  Xachlass  statt. 
Nur  brachte  das  Jahr  1875  das  ganz  vereinzelt  gebliebene  Aufflackern 
der  Cholera  in  Syrien.  Andererseits  aber  hing  1872  mit  diesen 
Mittelpunkten  der  Seuche  ihre  Ausdehnung  über  Turkestan  und 
Buchara  zusammen,  gleichzeitig  rückte  sie,  wahrscheinlich  von  Arabien 
stammend,  nach  Xubien  vor,  wo  sie  bis  zum  Jahresschluss  in  heftigem 
Masse  anhielt. 

Auf  europäischen  Boden  blieb  inzwischen  Russland  niemals  ganz 
von  der  Cholera  befreit.  Sie  war  zwar  1868  nur  auf  einzelne  Städte 
und  Distrikte  eingedämmt,  nahm  jedoch  schon  1869  von  weiteren 
Landschaften  Besitz,  verbreitete  sich  1870  über  37  Gouvernements 
und  entwickelte  sich  nach  einem  kurzen  Winterschlummer  in  den 
ersten  Monaten  des  Jahres  1871  zu  einer  der  schwersten  Epidemien 
im  ganzen  Reiche,  dessen  centrale  Teile  am  empfindlichsten  darunter 
zu  tragen  hatten.  Weniger  ausgedehnt,  doch  nahezu  von  gleicher 
Mortalität  war  innerhalb  der  russischen  Grenzen  die  Epidemie  des 
Jahres  1872,  die  insbesondere  die  südlichen  und  westlichen  Gouverne- 
ments betroifen  hatte.  Im  Laufe  des  Jahres  1873  trat  allerdings  die 
Seuche  im  Czarenreiche  in  den  meisten  Gubernien  zurück,  nur  in  Polen 
kam  sie  zu  abermaliger,  heftiger  Entwicklung  und  erhielt  sich  liier 
auf  voller  Höhe  bis  Ende  1874. 

Wie  in  früheren  Zeitabschnitten  wurde  auch  diesmal  der  Aus- 
bruch der  Cholera  in  Russland  zum  Verhängnis  für  das  übrige  Europa. 
Von  Vorderasien  und  zugleich  von  Südrussland  aus  verbreitete  sich 
die  Seuche  im  Jahre  1871  in  der  Türkei  und  den  Donaufürstentümern, 
erhob  sich  in  Koustantinopel  zu  epidemischer  Gestalt,  grilf  1872  nach 
der  Südküste  des  Schwarzen  Meeres  über  und  gewann,  gegen  Westen 
vordringend,  besonders  in  Rumänien  an  Ausdehnung,  wo  sie  noch  im 
folgenden  Jahre  andauerte  und  nach  Bulgarien  und  dem  Balkan  weiter 
sich  fortsetzte,  jedoch  Ende  1873  erlosch.  Von  Polen  drang  1872  die 
Cholera  nach  Galizien,  österr.  Schlesien,  Mähren,  Böhmen  und  Ungarn 
vor.  Sie  nahm  in  diesen  Ländern  während  des  Jahres  1873,  be- 
sonders in  Ungarn  grosse  Dimensionen  an,  infizierte  Wien  und  wurde 
in  südlicher  Richtung  nach  Slavonien  und  Dalmatien  verschleppt.  In 
Ungarn  allein  betrug  innerhalb  der  Jahre  1872—1873  die  Zahl  der 
Cholera-Todesfälle  190000.  Erst  mit  Schluss  des  Jahres  1873  war 
die  Krankheit  in  Oesterreich-Ungarn  zum  Stillstand  gekommen. 

Deutschland  wurde  1871  von  Russland  her  von  der  Krankheit 
heimgesucht.  Sie  war  in  Ost-  und  Westpreussen  zuerst  aufgetreten, 
später  in  mehreren  Städten  Norddeutschlands  zu  massigem  Umfange 
gediehen,  überall  aber  vor  Jahresschluss  erloschen.  Im  Jahre  1872 
kam  sie  auf  deutschen  Boden  nur  in  sporadischer  Form  zur  Beoachtung, 
hingegen  im  Jahre  1873  um  so  heftiger  zur  Entwicklung.  Nicht  nur 
auf  dem  grössten  Teile  des  preussischen  Gebietes,  auch  in  Dresden 
und  Hamburg  steigerte  sie  sich  zu  bösartigen  Epidemien,  auch  Bayern, 
und  vornehmlich  seine  Hauptstadt  München  wurden  in  schwerer  Weise 
heimgesucht.    Während  am  Schlüsse  des  Jahres  die  meisten  deutschen 


816  Victor  Fossel. 

Gegenden  von  der  Cholera  befreit  erschienen,  setzte  sie  1 874  in  Bayern 
und  Oberschlesien  von  neuem  ein  und  erhielt  sich  namentlich  in  letzterer 
Provinz  bis  zum  Herbst  dieses  Jahres. 

Das  südliche  Europa  blieb  wie  der  Norden  in  den  Jahren  1871 — 
1873  von  der  Cholera  nahezu  gänzlich  verschont,  Schweden  und  Nor- 
wegen allein  hatten  einzelne  Lokalausbrüche  zu  überstehen.  Im  Westen 
des  Kontinents  war  sie  1873  nur  in  einigen  französischen  Departements 
zu  epidemischer  Höhe  angewachsen,  jedoch  vor  Eintritt  des  Winters 
wiederum  verschwunden. 

Nordamerika  wurde  1871  abermals  durch  deutsche  Auswanderer 
von  der  Seuche  infiziert,  die  sich  jedoch  diesmal  nur  auf  einen  ge- 
ringen Ausbruch  in  Halifax  während  des  Monates  November  redu- 
zierte. Um  so  schwerer  gestaltete  sich  im  Jahre  1873  die  durch 
Einschleppung  bewirkte  Epidemie  von  Neworleans,  die  analog  dem 
Zuge  des  Jahres  1866  im  weiten  Umkreise  über  die  dem  Flussgebiete 
des  Mississippi  nahe  gelegenen  Unionsstaaten  ausstrahlte. 

Endlich  ist  der  ununterbrochenen  Herrschaft  zu  gedenken,  die  die 
Cholera  in  der  Periode  1865 — 1875  in  Indien  behauptet  hat.  AVenn- 
gleich  die  Seuche  hier  niemals  erloschen  war  und  alljährlich  Tausende 
und  Tausende  von  Opfern  gefordert  hatte,  so  dehnten  sich  doch  in 
ausnehmender  Heftigkeit  während  des  genannten  Dezenniums  ihre 
Seuchenherde  über  das  ganze  Land  aus.  Insbesondere  sind  es  die 
Jahre  1866,  1869—1870,  1872-1873  und  1875,  in  denen  die  Cholera 
in  ganz  Vorderindien  den  Charakter  einer  Pandemie  angenommen  und 
selbst  in  diesem  an  beträchtliche  Erkrankungs-  und  Sterbeziffern 
gewöhnten  Gebiete  durch  eine  erschreckend  hohe  Mortalität  gewaltiges 
Aufsehen  erregt  hat. 

Fünfte   Periode  1883—1895. 

Ueber  die  Grenzen  Indiens  hinaus  war  die  Cholera  im  Zeiträume 
1875 — 1881  nirgends  zu  einem  bemerkenswerten  heftigeren  Ausbruch 
gekommen  und  nur  1877—1878  und  1881—1882  unter  den  Mekka- 
pilgern im  Hedschas  im  vorübergehenden  Explosionen  aufgetreten. 
Mit  dem  Jahre  1881  nahm  sie  jedoch  ihre  Wanderzüge  wiederum  auf, 
setzte  ihren  Fuss  vorerst  nach  Slam,  1882  nach  Japan,  China  und 
den  Sundainseln.  Ein  Jahr  später,  als  die  Krankheit  mit  erneuerter 
Bösartigkeit  in  Indien  sowohl  im  Innern  des  Landes  wie  an  den 
Küsten  sich  verbreitet  hatte,  wendete  sie  ihren  Lauf  nach  Westen. 
Ihre  Invasion  in  Aegypten,  wohin  sie  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
durch  indische  Fahrzeuge  auf  dem  Wege  über  Port  Said  verschleppt 
worden  war,  nahm  am  22.  Juli  1883  in  Damiette  den  Anfang.  Rasch 
drang  sie  im  Nildelta  vor,  ergriff  u.  a.  Alexandrien,  Kairo  und  zog 
den  Nil  aufwärts  bis  Esne.  Obschon  sie  überall  nur  kurze  Zeit 
hindurch  andauerte,  war  dennoch  die  Zahl  der  von  ihr  dahingerafften 
Opfer  eine  aussergewöhnlich  hohe.  An  und  für  sich  wäre  dieser 
Choleraausbruch  in  Aegypten  in  der  Geschichte  der  Seuche  ohne  be- 
sondere Bedeutung  geblieben.  Und  doch  bildet  er  in  der  Epidemio- 
logie einen  denkwürdigen  Merkstein,  denn  von  ihm  aus  nahm  die 
moderne  Choleraforschung  ihren  Anfang.  Im  Anschluss  an  die  von 
einer  französischen  Expedition  gepflogenen  Studien  eröffnete  hier  die 
deutsche  Kommission  unter  R.  Koch  ihre  bahnbrechenden  Arbeiten, 
die,  im  gleichen  Jahre  in  Calcutta  und  Bombay  fortgesetzt,  dazu 
geführt   haben,   dass  Koch   auf  Grund   sorgfältig   angestellter   Be- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  817 

obachtimgen  die  Natur  des  Krankheitserregers  festzustellen  ver- 
mocht hat. 

Verfolgen  "v^ir  den  weiteren  Verlauf  der  Seuche,  so  begegnen  wir 
im  Jahre  1884  ihrem  plötzlichen  Erscheinen  in  Toulon,  alsbald  in 
Marseille,  wohin  sie  durch  Truppentransportschiffe  verschleppt  worden 
war.  In  rascher  Aufeinanderfolge  verpflanzte  sich  die  Seuche  im 
Süden  Frankreichs,  sandte  vorerst  einzelne  Vorläufer  nach  Paris  und 
erweiterte  ihre  Kreise  im  übrigen  Lande.  Bis  zur  Mitte  August 
hatte  sie  in  15  Departements  Eingang  gefunden.  Durch  massenhafte 
Flüchtlinge  aus  den  Häfen  Südfrankreichs  wurde  Oberitalien  infiziert 
und  namentlich  Spezzia  von  einer  heftigen  Epidemie  ergriffen.  Bald 
darauf  erschien  sie  in  Neapel,  befiel  hier  hauptsächlich  die  schon  im 
Jahre  1873  heimgesuchten  tiefer  gelegenen  Stadtteile  und  raffte  binnen 
kurzem  7152  Einwohner  dahin.  Wenngleich  die  Krankheit  auf  ita- 
lienischem Boden  im  Oktober  erloschen  war,  so  nahm  sie  in  West- 
europa ihren  ungestörten  Fortgang.  Im  Spätherbst  wurden  die  spa- 
nischen Provinzen  Alicante  und  Catalonien,  gleichzeitig  Nordfrankreich, 
Paris  und  Genf  befallen.  Mit  Ausnahme  der  französischen  Hauptstadt, 
deren  Cholera-Erkrankungsziffer  während  des  Monates  November  auf 
1980  in  der  Stadt  und  auf  84  in  den  Vororten  sich  belief  war  die 
Krankheit  in  massigen  Grenzen  geblieben.  Mit  Jahresschluss  fand 
nahezu  überall  ein  vollständiger  Nachlass  statt,  der  freilich  in  ein- 
zelnen Gebieten  nur  von  kurzer  Dauer  war. 

Abgesehen  von  den  lokalisiert  gebliebenen  Rekrudescenzen  in 
Toulon.  Marseille  und  einigen  Orten  der  Bretagne,  trat  die  Cholera 
mit  Frühjahr  1885  von  neuem  und  in  stürmischer  Weise  in  Spanien 
auf.  verbreitete  sich,  von  den  Provinzen  Valencia  und  Murcia  aus- 
gehend, über  das  ganze  Land  und  behauptete  sich  am  Schlüsse  des 
Jahres  noch  in  voller  Heftigkeit  in  den  Provinzen  Kadiz  und  Sala- 
manca.  Man  hat  die  Zahl  der  Erkrankungen  in  Spanien  während 
des  Jahres  1885  auf  rund  339000,  jene  der  Todesfälle  auf  120000 
geschätzt.  Am  härtesten  wurde  die  Provinz  Saragossa  betroffen, 
denn  hier  stieg  die  Choleramorbidität  auf  9,1 "  o  der  Bevölkerung.  — 
Während  der  Sommermonate  war  die  Seuche  auf  dem  Boden  von 
Frankreich  erschienen,  in  Marseille,  Toulon  und  den  benachbarten  De- 
partements aufgetreten,  im  Monate  November  in  die  Bretagne  ein- 
gedrungen, jedoch  in  diesem  Landesteile  zumeist  auf  die  Hafenstadt 
Brest  und  deren  Umgebung  beschränkt  geblieben. 

OberitaHen  hat  1885  der  Seuche  abermals  seinen  Tribut  gezahlt, 
der  aber  gegen  die  Verluste  des  Vorjahres  nicht  unerheblich  sich  ver- 
minderte. Nur  auf  der  Insel  Sizilien  gewann  die  Krankheit  in  den 
Herbstmonaten  eine  epidemische  Gestaltung,  besonders  in  der  Stadt 
Palermo  und  der  gleichnamigen  Provinz.  Die  Zahl  der  Opfer,  welche 
die  Cholera  während  des  Jahres  1885  im  ganzen  Königreiche  Italien 
gefordert  hatte,  betrug  26000.  Ebenso  schwer  hatte  Italien  in  den 
beiden  nächstfolgenden  Jahren  unter  der  Cholera  zu  leiden.  Schon  im 
April  1886  zeigte  sie  sich  in  Brindisi  und  gleichzeitig  in  Venetien, 
erlangte  von  hier  aus  sowohl  in  Norden  wie  im  Süden  des  König- 
reiches eine  Ausdehnung,  deren  Akme  auf  den  Monat  August  fiel  und 
deren  Niedergang  erst  gegen  Mitte  Oktober  zu  konstatieren  war.  Im 
März  1887  erwachte  sie  neuerlich  in  Sicilien,  setzte  in  Calabrien  auf 
das  Festland  über  und  etablierte  auf  dessen  südlicher  Hälfte  ihre 
epidemische  Herrschaft,  unter  welcher  sie  sich  besonders  in  die  Stadt 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  52 


818  Victor  Fossel. 

und  Umgebung  von  Neapel  hartnäckig  eingenistet  hatte.  Erst  im 
Herbste  1887  war  die  seit  4  Jahren  über  Italien  verbreitete  Invasion 
der  Cholera  zum  Abschluss  gekommen. 

Im  Anschlüsse  an  die  oberitalienische  Choleraepidemie  erfolgte 
im  Juni  1886  die  Einschleppung  der  Krankheit  in  Triest;  die  hier 
bis  zum  Ausgang  des  Jahres  in  massiger  Höhe  epidemisierte.  jedoch 
im  unmittelbaren  Gefolge  eine  grössere  Eeihe  von  Erkrankungen  und 
Todesiällen  in  den  benachbarten  Kronländern  Istrien,  Görz  und 
Gradiska,  Krain  und  Dalmatien  verursacht  hatte.  Nahezu  gleich- 
zeitig mit  Triest  wurde  die  Hafenstadt  Fiume  infiziert  und  bald 
darauf  die  Seuche  nach  Kroatien  und  in  das  Innere  von  Ungarn 
übertragen,  wo  sie  von  Raab,  Budapest  und  Szegedin  ausstrahlend, 
nach  verhältnismässig  mildem  Verlaufe  Ende  Januar  1887  erlosch. 
Im  übrigen  Europa  beschränkte  sich  die  Cholera  im  Jahre  1886  auf 
einzelne  lokale  Ausbrüche  in  Spanien  und  in  der  Bretagne. 

Im  Jahre  1887  entwickelte  sich  die  Cholera,  wie  schon  ange- 
deutet, auf  der  apenninischen  Halbinsel,  und  zwar  vorwiegend  in  den 
Provinzen  Sicilien,  Calabrien,  Neapel  und  in  Rom  zu  schweren  Epi- 
demien.   Gleichzeitig  war  sie  auch  auf  Malta  zum  Ausbruch  gekommen. 

Ausserhalb  Europas  hat  die  Seuche  im  Jahre  1886  in  Japan  auf 
das  heftigste  gewütet;  von  155000  Erkrankten  waren  ihr  109  000 
erlegen.  Nicht  um  vieles  geringer  waren  ihre  gleichzeitigen  Ver- 
wüstungen auf  der  Halbinsel  Korea.  Auf  der  westlichen  Hemisphäre 
wurde  die  Cholera  im  November  1886  durch  ein  aus  Genua  an- 
gekommenes Schifi"  in   Buenos  Ayres  eingeschleppt,   verbreitete  sich 

1887  nach  Uruguay,  der  argentinischen  Republik,  Paraguay  und  er- 
schien zum  erstenmal  in  Chile,  ohne  aber  über  Santjago  hinauszu- 
greifen. Im  Laufe  des  Jahres  1888  dauerten  die  Verheerungen  der 
Krankheit  in  Südamerika  fort,  die  am  längsten  und  schwersten  über 
Argentinien  hereingebrochen  war.  — 

In  Europa  war  mit  dem  Jahre  1888  eine  Cholerapause  eingetreten, 
die  jedoch  nur  wenige  Jahre  anhielt. 

Sehen  wir  innerhalb  dieser  Zeitperiode  von  der  ununterbrochenen 
Herrschaft  der  Seuche  in  Indien  ab,  so  haben  wir  doch  für  das  Jahr 

1888  ihres  Ausbruches  auf  Manila  zu  gedenken,  an  welchen  sich  der 
Zeitfolge  nach  die  Epidemien  auf  den  Sundainseln,  den  Philippinen 
und  1889  jene  in  Persien  und  Mesopotamien  angereiht  haben.  In 
Vorderasien  war  jedoch  die  Cholera  nicht  bloss  auf  die  letztgenannten 
Länder  allein  beschränkt  geblieben,  sondern  auch  1890  in  Kleinasien, 
Syrien,  Arabien  und  in  Aegypten  ausgebrochen.  Für  die  Entwicklung 
und  weitere  Propagation  der  Krankheit  wurden  wiederum  die  unter 
den  insalubersten  Verhältnissen  abgehaltenen  Pilgerfeste  in  den  heiligen 
Stätten  von  Mekka  und  Medina  zu  gefahrvollen  Brennpunkten.  Eine 
im  Hedschas  eingerissene  Epidemie,  wahrscheinlich  durch  Landkara- 
wanen aus  Yemen  eingeschleppt,  raifte  in  kürzester  Zeit  über  4000 
Wallfahrer  dahin,  während  Hunderttausende  der  heimkehrenden  Mo- 
hamedaner  die  Krankheitskeime  nach  allen  Gegenden,  vorzugsweise 
nach  Arabien  und  seinen  Nachbarländern  verstreuten. 

Ueber  diese  Gebiete  hinaus  war  die  Cholera  1890  in  Ostasien, 
und  zwar  in  Japan  und  Shangai,  auf  afrikanischem  Boden  in  Aegypten 
Massaua,  Natal  und  in  der  Kapkolonie  aufgetreten.  Selbst  Europa 
wurde  im  Sommer  1890  neuerlich  durch  das  Aufflackern  der  Cholera 
in  Spanien  allarmiert,  nachdem  sie   durch  ein  vermutlich  aus  Odessa 


sl 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  819 

eingelaufenes  Schiff  in  Piieblo  de  Eugat  in  der  Pi'ovinz  Valencia  auf- 
getaucht war  und  bald  über  einen  grösseren  Teil  des  Landes  sich 
ausgebreitet  hatte. 

Während  des  Jahres  1891  herrschte  die  Cholera  ausschliesslich 
auf  dem  asiatischen  Festlande  und  auf  mehreren  dazu  gehörigen 
Inselgruppen.  Wie  in  Indien  die  Seuche  in  bedrohlicher  Weise  sich 
gesteigert  und  ausgedehnt  hatte,  so  war  sie  in  China  und  Japan 
gleichfalls  über  die  Grenzen  der  vorjährigen  Epidemie  emporgewachsen. 
Von  diesem  Herde  aus  wurden  Siara,  Ceylon,  Java,  Celebes  und  der 
sibirische  Hafenort  Wladiwostok  vei-seucht.  Unaufhaltsam  drang  die 
Cholera  zui'  gleichen  Zeit  im  mittleren  und  westlichen  Asien  vor, 
überzog  grössere  Gebiete  von  Afghanistan  und  Persien,  behauptete 
sich  in  Syrien.  Mesopotamien  und  trat  in  Anatolien  wie  im  Lande 
Temen  auf.  Wie  im  Vorjahre  durch  die  Sorglosigkeit  begünstigt,  mit 
welcher  der  Pilgerverkehr  namentlich  von  englischen  Schiffsunter- 
nehmungen gehandhabt  worden  war,  fand  die  Seuche  neuerlichen  Ein- 
gang im  Hedschas  und  forderte  unter  den  Besuchern  des  heiligen 
Siekka  zahlreiche  Opfer.  Von  den  in  diesem  Jahre  auf  dem  Seewege 
angekommenen  46953  Pilgern  sollen  nur  25553  aus  Mekka  zurück- 
gekehrt sein. 

Für  diesmal  war  die  Gefahr  einer  Verschleppung  der  Cholera, 
die  zunächst  den  östlichen  Gestaden  des  mittelländischen  Meeres  von 
Mekka  aus  gedroht  hatte,  glücklicherweise  ohne  Verwirklichung  vor- 
übergegangen. Dagegen  nahm,  wie  dies  schon  1867  und  1879  der 
Fall  gewesen,  die  Seuche  von  einem  anderen  Zentrum  des  mohameda- 
nischen  Pilgerverkehrs,  von  der  indischen  Kultiu'stätte  Hurdwar  aus- 
gehend, den  Weg  nach  dem  Westen  Asiens  und  nach  Europa.  Indien, 
das  seit  dem  Jahre  1889  unter  einer  exorbitanten  Cholerasterblichkeit 
zu  leiden  hatte,  wurde  im  Jahre  1892  in  allen  seinen  Teilen  von 
einem  der  heftigsten  Ausbrüche  der  Krankheit  ergriffen.  Von  der 
Gesamtbevölkerung  Ostindiens  waren  im  Laufe  des  Jahres  1892  nicht 
weniger  als  762  695  Menschen  der  Cholera  zum  Opfer  gefallen.  Unter 
den  im  Monate  März  in  Hurdwar  massenhaft  versammelten  Wall- 
fahrern war  die  Seuche  eingerissen  und  begann  nunmehr  ihre  mörde- 
rischen Verheerungen.  Tausende  von  Pilgern  waren  ihr  an  Ort  und 
Stelle  erlegen,  andere  tausende  verstreuten  den  Keim  der  ^Krankheit 
nach  allen  Eichtungen.  Insbesondere  die  Proräz  Pandschab  und  die 
westlichen  Nachbarländer  wurden  in  rascher  Aufeinanderfolge  ver- 
seucht. Schon  im  April  und  Mai  verbreitete  sich  die  Cholera  in  Af- 
ghanistan, Kaschmir,  in  Persien  (im  Jahre  1892  betrug  die  Zahl  der 
an  Cholera  Verstorbenen  in  Persien  64000)  bis  zu  den  L^fern  des 
Kaspischen  Meeres  und  in  das  transkaspische  Territorium,  drang  von 
Baku  nach  Tiflis,  Batum,  Asow  und  Odessa  vor,  gleichzeitig  über 
Astrachan  die  Wolga  aufwärts  in  das  innere  Eussland,  wo  die  grösseren 
Städte  die  Knotenpunkte  der  Seuchenausdehnung  gebildet  haben.  So 
war  die  Cholera  Mitte  Juli  zur  Zeit  der  Messe  nach  Nischni- Nowgorod 
und  nach  St.  Petersburg  gekommen,  hatte  alsbald  das  ganze  euro- 
päische Mittelrussland  sowie  ein  grosses  Gebiet  der  asiatischen  Eeichs- 
teile  überzogen,  war  Mitte  August  in  Kiew  und  im  Gouvernement 
Lublin,  Ende  August  in  Eiga,  mehi-ere  Wochen  später  in  Eussisch- 
Polen  aufgetreten  und  noch  bis  in  den  Herbst  hinein  überall  in 
voller  Zunahme  begi'iffen.  Bis  Ende  des  Jahres  betrug  in  Eussland 
die  Gesamtzalil  der  Erkrankungen  551473,  jene  der  Todesfälle  266200. 

ö2* 


820  Victor  Fossel. 

Dieser  ausgedehnte  Epidemieherd  Hess  mit  Recht  eine  Invasion  für 
Mitteleuropa  befürchten.  Weit  früher  jedoch,  als  dies  von  Osten  her 
der  Fall  war,  drohte  die  grösste  Gefahr  eines  Einbruches  der  Cholera 
von  Frankreich  her.  Schon  in  den  ersten  Tagen  des  Monats  April 
1892  wurde  die  Krankheit,  deren  Herkunft  unaufgeklärt  geblieben 
war,  im  Zuchthause  von  Nanterre,  einem  der  westlichen  Vororte  von 
Paris  und  bald  darauf  ihr  Fortglimmen  in  mehreren  abwärts  der 
Seine  gelegenen  Nachbarorten  konstatiert,  indes  Paris  selbst  erst  im 
Monat  Juli  infiziert  worden  war.  Um  dieselbe  Zeit  entwickelte  sich 
die  Cholera,  eingeschleppt  durch  einen  aus  Courbevoie  nächst  Paris 
stammenden  Krankheitsfall  in  Havre  zu  einem  grösseren  Herde,  trat 
im  August  und  September  in  verschiedenen  Hafenstädten  der  West- 
und  Südküste  des  Landes  zu  Tage  und  verursachte  bis  Mitte  Oktober 
in  20  Departements  eine  Mortalität  von  3184  Todesfällen.  Von  Havre 
wurde  Ende  Juli  die  Seuche  durch  einen  Dampfer  nach  Antwerpen 
importiert,  wo  sie  vor  allem  in  dieser  Stadt  eine  stärkere  Verbreitung 
fand,  hingegen  in  den  Provinzen  Limburg,  Namur,  Ostflandern,  Lüttich 
und  Luxemburg  weit  geringere  Dimensionen  annahm. 

Das  grösste  Aufsehen  erregte  der  plötzliche  Ausbruch  der  Cholera 
in  Hamburg-Altona,  wo  der  erste  Erkrankungsfall  am  16.  August  sich 
ereignete.  Trotz  sorgfältigster  Nachforschung  blieb  die  Quelle  der 
ersten  Infektion  unerraittelt.  Die  rapide  Zunahme  der  Krankheitsfälle 
hielt  bis  Ende  August  gleichmässig  im  ganzen  Staatsgebiete  von 
Hamburg  an,  milderte  sich  jedoch  —  geringe  Steigerungen  ausge- 
nommen —  vom  Anfang  des  Septembers  mit  jeder  folgenden  Woche, 
so  dass  vom  13.  Oktober  an  nur  mehr  vereinzelte  Nachzügler  der 
Epidemie  konstatiert  werden  konnten.  Auffallend  und  von  besonderer 
Wichtigkeit  für  die  Beurteilung  dieses  denkwürdigen  Ausbruches  war 
die  Thatsache,  dass  die  Seuche  in  explosionsartiger,  gleichzeitiger 
und  gleichförmig  schwerer  Weise  über  das  ganze  Weichbild  von  Ham- 
burg, einschliesslich  der  Vorstädte  und  Vororte  um  sich  gegriifen  hatte, 
indes  die  unmittelbar  angrenzende  Nachbarstadt  Altona  einer  un- 
verhältnismässig geringeren  und  nur  in  massigem  Tempo  zur  Aus- 
breitung gekommenen  Heimsuchung  ausgesetzt  geblieben  war.  Während 
auf  Hamburg  in  der  Zeit  vom  16.  August  bis  23.  Oktober  18000  Er- 
krankungen und  8200  Todesfälle  an  Cholera  entfielen  (auf  1000  Ew. 
14,  2)  waren  in  Altona  vom  19.  August  bis  Ende  Oktober  516  Per- 
sonen erkrankt  und  316  gestorben  (auf  1000  Ew.  2,1),  überdies  wiesen 
darunter  220  Erkrankungsfälle  auf  Hamburger  Ursprung  hin.  Diese 
gravierenden  Unterschiede  im  Gang  und  Verhalten  der  beiden  Nachbar- 
epidemien hat  R.  Koch  mit  voller  Bestimmtheit  auf  den  Einfluss  der 
der  Wasserversorgung  zurückgeführt,  die  in  Hamburg  in  der  Entnahme 
des  nur  mangelhaft  gereinigten  Eibwassers  bestand,  indes  Altona  weit 
günstigere  Einrichtungen  aufwies.  Aehnliche  bessere  Verhältnisse 
lagen  auch  im  benachbarten  Wandsbeck  vor,  wo  gleichfalls  die  Cholera 
nur  eine  kleine  Zahl  von  Opfern  gefordert  hat. 

Von  Hamburg  aus  erfolgte  eine  Reihe  von  Infektionen  im  Deut- 
schen Reiche;  andere  Seuchenherde  innerhalb  des  Reiches  zeigten  aber 
entschieden  auf  die  Einschleppung  der  Cholera  aus  den  westlichen 
oder  östlichen  Nachbarländern  hin.  Ausserhalb  Hamburg  wurden  im 
Deutschen  Reiche  während  der  Herbstepidemie  267  Ortschaften  von 
der  Cholera  infiziert  und  1639  Erkrankungen  mit  1255  Todesfällen 
gemeldet.    Hierbei  ergaben  die  Erhebungen,  dass  die  Verbreitung  der 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  821 

Krankheit  weniger  dem  Landwege,  sondern  weit  mehr  dem  Schiflfs- 
verkehre  auf  den  Wasserstrassen  gefolgt  war  und  sich  in  dieser  Weise 
zunächst  im  Stromgebiete  der  Elbe  in  Lauenburg  und  Boizenburg,  im 
Flussgebiete  der  Oder  in  dem  Aufflackern  der  Seuche  in  Stettin  ma- 
nifestierte. Viel  geringer  war  die  Anteilnahme  des  Rheingebiets  an 
der  Lokalisation  von  Choleraherden,  die  übrigens  auch  im  Weichsel- 
gebiete nur  vereinzelt  geblieben  waren.  Durch  den  Schiffsverkehr 
gelangte  Ende  August  die  Cholera  von  Hamburg  nach  den  Nieder- 
landen, gewann  zuerst  in  Rotterdam,  dann  in  Dordrecht  und  verschie- 
denen anderen  Städten  eine  jedoch  nur  beschränkte  Ausdehnung, 

In  Oesterreich  konzentrierte  sich  im  Jahre  1892  die  Cholera,  deren 
Herkunft  auf  eine  Importation  aus  Russland  schliessen  liess,  vor- 
wiegend auf  Galizien,  wo  in  der  Zeit  vom  8.  September  bis  31.  Oktober 
von  207  Erkrankten  119  der  Seuche  erlegen  waren.  Späterhin  trat 
sie  nur  in  sporadischen  Fällen  auf  und  war  Ende  Januar  1893  er- 
loschen. Gleichzeitig  war  sie  Ende  September  in  Budapest  erschienen, 
entwickelte  sich  hier  zu  epidemischer  Gestalt,  verbreitete  sich  zumeist 
der  Donau  und  ihren  Nebenflüssen  entlang  in  mehreren  Städten  des 
ungarischen  Tieflandes  und  griff  teilweise  mit  ihren  Ausläufern  nach 
Kroatien- Slavonien  hinüber.  Nachdem  mit  dem  Eintritt  des  Winters 
die  Cholera  fast  überall  erloschen  war,  begann  am  6.  Dezember  eine 
milde  verlaufende  Nachepidemie  in  Hamburg,  an  welche  sich  eine 
geringe  Winterepidemie  in  Altona  und  der  plötzliche  Ausbruch  der 
Krankheit  in  der  Irrenanstalt  Nietleben  bei  Halle  anreihten. 

Zu  Beginn  des  Jahi-es  1893  war  die  im  Vorjahre  über  den 
grössten  Teil  des  russischen  Reiches  ausgedehnte  Choleraepidemie  in 
vielen  Gebieten  noch  nicht  im  Schwinden.  Sie  herrschte  namentlich 
in  Podolien,  Bessarabien  und  in  den  südlichen  Gouvernements  des 
europäischen  Russlands  ohne  Unterlass,  nahm  ihre  Wanderungen  mit 
Frühjahr  von  neuem  auf  und  bedrohte  insbesondere  durch  ihre  Wieder- 
kehr in  den  westlichen  Verwaltungsbezirken  wie  in  Polen  die  zentralen 
Staaten  des  Kontinents.  Immerhin  war  aber  die  Seuche  diesmal  in 
Russland  beiweiten  milder  aufgetreten  als  im  Vorjahre,  obgleich  sie 
territorial  noch  einen  grösseren  Umfang  erreicht  hatte. 

In  Oesterreich  -  Ungarn  erfolgte  der  Wiederausbruch  der  über 
Winter  pausierenden  Seuche  mit  Anfang  des  Sommers  in  den  an  der 
oberen  Theiss  gelegenen  Komitaten  Ungarns.  Sie  verzweigte  sich 
einerseits  nach  Siebenbürgen,  andererseits  bis  über  das  rechte  Donau- 
ufer hinaus,  rief  in  einzelnen  Städten  stärkere  Lokalepidemien  hervor 
und  schritt  nach  Bosnien,  wo  sie  im  Kreise  Doljna-Tuzla  einen  ziem- 
lich schweren  Ausbruch  verursachte.  Gleichzeitig  mit  der  Invasion  in 
Ungarn  erschien  die  Cholera  wiederum  in  Galizien,  erreichte  hier  im 
August  und  September  ihren  Höhepunkt  und  nahm  erst  mit  Schluss 
des  Jahres  ein  Ende,  nachdem  von  1523  Erkrankten  896  gestorben 
waren. 

In  Frankreich,  wo  den  Winter  hindurch  eine  geringe,  aber  fort- 
laufende Kette  von  sporadischen  Cholerafällen  zur  Beobachtung  ge- 
langte, waren  im  Frühling  1893  neue  und  grössere  Krankheitsnach- 
schübe zu  verzeichnen,  und  zwar  in  den  Departements  Morbihan, 
Herault,  Finisterre,  in  der  Stadt  Nantes  und  an  mehreren  Hafenplätzen 
der  West-  und  Südküste.  Eine  mittelschwere  Zunahme  von  Cholera- 
fällen ereignete  sich  im  Sommer  in  Belgien,  speziell  in  Antwerpen, 
Ostflandern  und  Hennegau. 


822  Victor  Fossel. 

Das  Deutsche  Reich  blieb  im  Jahre  1893  gleichfalls  von  der 
Cholera  nicht  verschont,  obgleich  es  zur  Bildung  stärker  anschwellen- 
der Epidemien  nicht  gekommen  war.  Nur  in  den  Herbstmonaten  fand 
in  Hamburg,  Stettin  und  Umgebung,  endlich  in  Tilsit  in  Ostpreussen 
eine  Bildung  kleiner  lokaler  Herde  statt. 

In  den  südlichen  Ländern  Europas  war  die  Cholera  im  Sommer 
und  im  Herbst  1893  im  Königreiche  Italien  in  Piemont,  in  Neapel  und 
Palermo  vorübergehend  erschienen,  während  Spanien  nur  von  verein- 
zelten kleinen  Lokalisationen  der  Seuche  betroffen  wurde.  Eine 
grössere  Exacerbation  zeigte  die  Cholera  in  Rumänien  und  gegen 
Schluss  des  Jahres  in  Konstantinopel.  Ausserhalb  Europas,  und  ohne 
nähere  Bedach tnahme  auf  die  Fortdauer  der  Epidemien  in  Vorder- 
indien, entwickelte  sich  die  Cholera  in  Persien  und  Mesopotamien,  be- 
sonders in  Bagdad,  später  in  Basra  am  persischen  Golfe.  Wiederum 
kam  es  diesmal  unter  den  Pilgern  von  Mekka  zu  verheerenden  Massen- 
erkrankungen, die  durch  Verschleppung  zu  frischen  Krankheitsaus- 
brüchen in  Algier  und  Tunis  Anlass  gaben. 

Eine  teilweise  Aehnlichkeit  bot  der  Gang  und  die  Ausbreitung 
der  Cholera  im  Jahre  1894.  Auch  in  diesem  Jahre  war  die  Seuche 
im  russischen  Reiche,  während  des  Winters  kaum  zurückweichend,  mit 
Anfang  des  Frühlings  von  neuem  ausgebrochen,  griff  nach  Galizien 
über,  wo  sie  im  Flussgebiete  des  Dnjestr  und  der  Weichsel  epidemisch 
sich  einnistete  und  in  vielen  anderen  Bezirken  des  Landes  aufflackerte. 
Vom  7.  April  bis  Jahresschluss  zählte  man  in  Galizien  an  15000  Er- 
krankungen und  8200  Todesfälle  an  Cholera.  Ausserdem  waren  in 
der  Bukowina  mehr  als  600  Bewohner  der  Krankheit  erlegen.  —  In 
Frankreich  trat,  soweit  sich  die  Nachrichten  verfolgen  lassen,  die 
Cholera  in  den  ersten  Monaten  des  Jahres  im  Departement  Finisterre 
stärker  hervor,  ebenso  im  August  und  September  in  dem  der  belgi- 
schen Grenze  nächstgelegenen  Norddepartement,  wie  in  Paris  und 
Marseille.  Belgien  und  die  Niederlande  wiesen  kleinere  Sommer- 
epidemien auf,  die  nur  in  den  Provinzen  Lüttich,  Limburg  und  in  den 
atlantischen  Küstenstrichen  eine  stärkere  Krankheitsziffer  erreichten. 
Innerhalb  des  Deutschen  Reiches  blieb  die  Cholera  westwärts  der  Elbe 
nur  auf  vereinzelte  Fälle  beschränkt,  verursachte  aber  während  der 
Monate  September  und  Oktober  einige  territorial  eingeengte  und  ver- 
hältnismässig rasch  ablaufende  Ausbrüche  im  Regierungsbezirke  Oppeln 
wie  in  Ost-  und  Westpreussen.  In  der  europäischen  Türkei  wurden 
Adrianopel  und  Konstantinopel  von  der  Cholera  stärker  betroffen,  die 
auch  in  Kleinasien  mehrere  Städte  und  Landschaften  eroberte,  wo  sie 
noch  im  folgenden  Jahre  geraume  Zeit  anhielt. 

Während  des  Jahres  1895  hat  die  Seuche  innerhalb  der  europäi- 
schen Staaten  nur  im  westlichen  Russland  und  in  Galizien  Fuss  ge- 
fasst.  Von  Mekkapilgern  verschleppt,  war  sie  nach  Damiette  und 
Marokko  übertragen  worden.  In  Ostasien  hauste  sie  besonders  heftig 
in  Südchina  und  Japan.  Im  Jahre  1896  erneuerten  sich  die  Aus- 
brüche der  Krankheit  in  Aegypten,  ohne  jedoch  über  das  Nilland 
hinauszugreifen.  Die  nächstfolgenden  Jahre  hindurch  bis  zum  Schlüsse 
des  Jahrhunderts  war  die  Cholera  ausserhalb  ihres  engeren  indischen 
Heimatsgebietes  nirgends  zu  einer  bemerkenswerten  Erscheinung  ge- 
kommen. 

Ueberblicken  wir  den  in  seinen  hauptsächlichen  Zügen  dar- 
gestellten Gang  der  Cholera,  so  müssen  wir  dieselbe  nach  ihrer  Aus- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  823 

dehnung,  nach  der  Vehemenz  ihres  Auftretens  und  der  Höhe  der  ver- 
ursachten Menschenverluste  als  die  schwerste  Weltseuche  der  neueren 
Geschichte  bezeichnen.  Ihre  Verwüstungen  entziehen  sich  jedoch 
einer  ziffermässigen  Abschätzung  und  selbst  die  relative  Einbusse  an 
Menschenleben,  die  sie  den  einzelnen  Völkern  und  Staaten  bei  ilirem 
jedesmaligen  Umzüge  beigebracht,  lässt  sich  kaum  annähernd  be- 
rechnen. Die  Geschichte  der  Cholera  ergibt,  dass  sie  bei  jeder  neuer- 
lichen Wanderung  gewisse  Landstrecken  und  Verkehrswege  bevor- 
zugt, dabei  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  immer  weitere  Kreise 
gezogen  und  nahezu  die  ganze  bewohnte  Erde  berühi't  hat.  Nur 
wenige  Länder,  wie  Australien,  einzelne  Landstriche  von  Süd-  und 
Westafrika,  die  südlichsten  wie  die  nördlichsten  Teile  des  ameri- 
kanischen Kontinents,  Island,  die  schottischen  und  Faröer-Inseln, 
Lappland,  die  nördlichen  Gebiete  des  europäischen  und  asiatischen 
Russland  und  endlich  einzelne  Inseln  des  Stillen  Ozeans  sind  bisher 
von  ihrer  Invasion  verschont  geblieben.  Unter  den  von  der  Seuche 
heimgesuchten  Ländern  gab  es  aber  wiederum  einzelne  Strecken  und 
Gegenden,  die  des  mangelnden  Verkehres  oder  anderer  Ursachen  willen 
der  Krankheit  gänzlich  sich  entzogen,  ohne  dass  dieser  Schutz  in  einer 
bestimmten  Beschaffenheit  oder  Elevation  des  Bodens  begründet  ge- 
wesen wäre.  Ebenso  geht  aus  dem  Vergleiche  der  einzelnen  Wander- 
züge hervor,  dass  die  Cholera  niemals  und  an  keinem  Orte  ausserhalb 
ihrer  indischen  Heimat  autochthon  sich  zu  entwickeln  vermocht  hat, 
denn  die  hierfür  aufgestellten  Behauptungen  waren  lediglich  von 
oberflächlichen  Voraussetzungen  und  falschen  Schlussfolgerungen  aus- 
gegangen. 

Xaturgemäss  hat  die  Cholera  von  ihrem  ersten,  in  das  Jahr  1817 
fallenden  Bekanntwerden  den  Geist  denkender  Aerzte  mächtig  au- 
geregt, um  die  Ursachen  und  Verbreitungswege  derselben  zu  ergründen. 
Gerade  die  Cholera,  die  selbst  in  ihrer  Heimat  den  damaligen  Beob- 
achtern als  eine  völlig  neue,  rätselhafte  Seuche  erschienen  war,  hat 
ihre  ersten  Stürme  mit  äusserster  Bösartigkeit  in  Szene  gesetzt,  im 
Laufe  der  Zeit  aber  mit  ganz  verschiedenartiger  In-  und  Extensität 
die  einzelnen  Landschaften,  Städte  und  Ansiedelungen  heimgesucht. 
Nach  kürzerer  oder  längerer  Herrschaft  war  sie  auf  Jahre  hinaus 
wieder  verschwunden,  oder  aber  bei  dem  nächsten  Zuge  nicht  selten 
in  die  früheren  Sitze  zurückgekehrt;  andernteils  war  sie  über  die  vor- 
maligen Seuchenherde  sprungweise  hinweggeschritten,  um  sich  in 
nahegelegenen  oder  ferneren  Stellen  zum  erstenmal  einzunisten. 
Ueberall  trat  sie  mit  voller  Gleichartigkeit  auf,  von  denselben  Merk- 
malen und  Begleiterscheinungen  gefolgt.  Was  lag  demnach  näher,  als 
besondere  von  den  übrigen  Volkskrankheiten  abweichende  Seuchen- 
ursachen anzunehmen,  ihre  Weiterentwicklung  auf  eigentümliche,  mit- 
wirkende Aussen  Verhältnisse  zurückzuführen?  Die  anfänglich  in  Indien 
propagierte  Erklärung,  es  handle  sich  um  eine  Vergiftung  durch  ver- 
dorbenen Reis,  wurde  bald  als  hinfällig  aufgegeben.  Um  so  lebhafteren 
Beifall  errang  die  Annahme,  die  Krankheit,  die  in  Sumpfgegenden 
entsprungen  sei  und  häufig  den  Tiefebenen  wie  den  Flussthälern  ent- 
lang fortschreite,  müsse  in  bestimmten  organischen  Effluvien  bedingt 
sein  und  daher  auf  miasmatischem  Wege  ihre  Verbreitung  erlangen. 
Nicht  lange  hielt  jedoch  dieser  Glaube  Stand.  Die  in  darauffolgenden 
Epidemien  gemachten  Erfahrungen,  wonach  die  Seuche  unbekümmert 
um  Niederungen  oder  Hochgebirge  die  Völker  überfiel,   verhalf  der 


824  Victor  Fossel. 

Meinung  zum  Ueb ergewichte,  die  Cholera  sei  eine  eminent  kontagiöse 
Krankheit,  gegen  deren  Einschleppung  nicht  genug  schwere  Ab- 
sperrungsmassregeln ins  Werk  gesetzt  werden  konnten.  Schon  in  den 
Jahren  1829  und  1830,  als  die  Cholera  über  Russland  zum  erstenmal 
nach  dem  mittleren  Europa  vorgedrungen  war,  beeilten  sich  einzelne 
Regierungen,  die  schärfsten  Anordnungen  über  die  Grenzsperre  und 
Reinigung  verdächtiger  Menschen  und  Waren  zu  erlassen,  während 
andere  Staaten,  gestützt  auf  die  Nutzlosigkeit  aller  der  gegen  die 
erste  Invasion  der  Cholera  in  Russland  und  Preussen  geübten,  drako- 
nischen Verkehrsbeschränkungen  an  dem  miasmatischen  Ursprung  der 
Seuche  festhielten.  Getragen  von  der  noch  im  IV.  Dezennium  allge- 
mein geltenden  Lehre  der  Macht  des  „gastrisch-biliösen  Krankheits- 
charakters" neigte  die  Mehrzahl  der  damaligen  Aerzte  zur  Theorie 
des  Miasmas  hin,  zu  deren  Unterstützung  man  bereitwilligst  Witte- 
rungsverhältnisse und  sonstige  ungewöhnliche  Naturerscheinungen 
heranzog. 

Während  vom  ersten  Wanderzuge  der  Cholera  auf  europäischem 
Boden  die  ärztliche  AVeit  hinsichtlich  der  Natur  der  Krankheit  in 
Miasmatiker  und  Kontagionisten  gespalten  war,  lenkte  sich  unmittel- 
bar nach  den  ersten  europäischen  Epidemien  das  Augenmerk  der 
Forscher  auf  den  parasitären  Charakter  der  Seuche.  Man  fabelte  von 
„Choleratierchen",  die  vom  fernen  Osten  stammend,  das  Firmament 
verdunkelt  haben  sollten.  Später  gewann  die  Hypothese  von  einem 
„Choleragifte",  dessen  Wesenheit  aber  keiner  Definition  zugänglich 
war,  mehrfachen  Anklang.  Von  der  Voraussetzung  ausgehend,  dass 
Mikroorganismen  die  Träger  und  Vermittler  des  Ansteckungsstoffes 
seien,  war  der  Eifer  der  Pathologen  frühzeitig  darauf  gerichtet,  im 
Blute,  in  den  Se-  und  Exkreten  der  Kranken  sowie  in  den  Organen 
der  an  Cholera  Verstorbenen  den  vermutlichen  Krankheitskeira  zu 
entdecken.  Die  anfänglichen  Versuche,  die  sich  hauptsächlich  mit  der 
Auffindung  von  Organismen,  analog  den  Gärungspilzen,  befasst  hatten 
(Böhm  1838,  Brittan,  Swayne,  Pouchet  1849)  waren  ebenso 
erfolglos  ausgefallen  wie  die  nachmals  von  Pacini  (1854),  Klob, 
Thome  und  Hallier  (1867)  angestellten  Nachweise  der  vorgeblich 
dem  Choleradarme  eigentümlich  zukommenden  Formelemente,  in  welchen 
man  die  spezifischen  Cholerakeime  erblicken  wollte.  Gleich  unbe- 
friedigend blieben  die  Experimente  mit  künstlicher  Infektion  von 
Tieren,  denen  man  Blut,  Sekrete  und  namentlich  Ausleerungen  Cholera- 
kranker einverleibt  hatte.  (Magen die  1839,  J.  Meyer  1852, 
Lindsay  1854,  Thiersch  1856  u.  a.  m.) 

Während  diese  in  der  Kindheit  der  Bakteriologie  und  des  Tier- 
experiments gelegenen,  durch  die  Unvollkommenheit  der  Instrumente 
und  Fehlerquellen  der  Untersuchungsmethoden  bedingten  Vorarbeiten 
in  der  Aufdeckung  organisierter  Krankheitskeime  bald  als  Irrtümer 
erkannt  und  vorderhand  in  der  Lehre  von  der  Choleraätiologie  zurück- 
gestellt worden  waren,  blieb  die  Annahme  eines  spezifischen  Cholera- 
giftes, ohne  jedoch  dessen  Existenz  nachweisen  zu  können,  im  Vorder- 
grunde des  allgemeinen  Interesses.  Die  Tatsache,  dass  die  Krankheit 
durch  den  menschlichen  Verkehr,  insbesondere  durch  Cholerakranke 
selbst  ihre  Verbreitung  finde,  gewann  frühzeitig  die  Anerkennung 
vieler  Epidemiologen.  Daneben  drängte  sich  aber,  zumal  bei  der 
örtlich  und  zeitlich  höchst  wechselvollen,  und  selbst  innerhalb  eng 
begrenzter  menschlicher  Wohnplätze  ganz  ungleichartigen  Ausstreuung 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  825 

des  siipponierten  KranklieitsstofFes  die  Ueberzeugung  auf,  es  müsse 
letzterer  durch  bestimmte  lokale,  atmosphärische  und  tellurische  Ver- 
hältnisse seine  Vervielfältigung  erfahren.  Die  u.  a.  schon  1835  an- 
lässlich der  Epidemie  in  Südfrankreich  von  Hergt,  Rech  und 
Dubrueil  behauptete  Beeinflussung  des  Kontagiums  durch  lokale 
Verhältnisse  liess  die  Frage  offen,  ob  der  Luft,  dem  Boden  oder  dem 
Wasser  der  hauptsächlichste  Anteil  an  dem  Zustandekommen  einer 
Epidemie  zugeschrieben  werden  müsse.  Die  Engländer  Snow.  Budd 
(1849  u.  ff.)  bezeichneten  die  Atmosphäre,  den  Untergrund  und  das 
Trinkwasser  als  die  eigentlichen  Medien  des  Krankheitsgiftes,  welche 
Ansicht  insbesondere  im  Kreise  ihrer  Landsleute  viele  Anhänger  er- 
warb und  1851  in  Deutschland  an  Bärensprung  einen  beredten 
Vertreter  gewann.  Ja  Snow^  und  nach  ihm  Simon  beschuldigten 
nach  dem  Ergebnis  der  Untersuchungen  über  die  Londoner  Epidemien 
der  Jahre  1849  und  1854  dii^ekt  das  Trinkwasser  als  Hauptquelle  der 
Cholera  Verbreitung.  Hingegen  schrieben  1832  Boubee,  1849  Four- 
cault  nach  französischen  Beobachtungen  gewissen  geologischen  Eigen- 
schaften des  Bodens  und  seiner  Feuchtigkeit  einen  ausschlaggebenden 
Einfluss  auf  die  Ausbreitung  einer  Choleraepidemie  zu,  deren  Entwick- 
lung Farr  (18491  jedoch  lediglich  als  von  der  Elevation  eines  Ortes 
abhängig  hinstellen  wollte. 

Die  um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  diskutierten  Auschauungen 
über  die  Pathogenese  der  Cholera  traten  in  ein  neues,  bedeutsames 
Stadium,  als  Max  von  Pettenkofer  im  Jahre  1855  mit  seinen 
Studien  über  die  Verbreitungsart  der  Cholera  hervortrat.  Die  mit  be- 
wunderungsw'ürdigem  Scharfsinn  und  mit  fester  Ausdauer  verfochtenen 
Lehren  des  verdienstvollen  Hygienikers  sind  so  allgemein  bekannt,  dass 
wir  in  dieser  geschichtlichen  Skizze  nur  in  knappen  Andeutungen 
uns  auf  die  Pettenkofer 'sehen  Grundsätze  beschränken  wollen. 
Er  erkannte  in  der  Beschaffenheit  des  Bodens,  vor  allem  in  seinem 
physikalischen  Aggregatzustande,  in  der  hierdurch  bedingten  Porosität 
und  Durchfeuchtung  des  Untergrundes  wie  in  dessen  Imprägnierung 
mit  organischen  Stoffen  das  wichtigste  und  allein  entscheidende 
Moment  in  der  Verbreitung  der  Cholera.  Dieser  als  ,,örtliche  Dispo- 
sition" bezeichnete  Einfluss  der  Lokalität  schliesse  die  temporäre  oder 
dauernde  Immunität  vieler  Städte  oder  Stadtteile  in  sich,  während  in 
der  durch  die  Jahreszeiten,  durch  die  Witterungs-  und  Bodenverhält- 
nisse hervorgerufenen  verschiedenen  Durchfeuchtung  und  Durch- 
wännung  des  Untergrundes,  in  dem  wechselnden  Stande  des  Grund- 
wassers die  „zeitliche  Disposition**  gelegen  sei.  Der  menschliche  Ver- 
kehr vermittle  den  spezifischen  Cholerakeim,  zu  dessen  epidemischer 
Verbreitung  jedoch  die  disponierten  Bodenverhältnisse  als  unerläss- 
liche  Faktoren  in  Mitwirkung  zu  kommen  haben.  Ebenso  wie  die 
Cholera  nicht  unmittelbar  von  Kranken  auf  Gesunde  übertragbar  sei, 
ebenso  gering  sei  die  Vermittlung  des  Kontagiums  durch  das  Trink- 
wasser zu  veranschlagen,  das  vielmehr  durch  die  Atemluft  dem  mensch- 
lichen Körper  einverleibt  werde.  Hierbei  ging  Pettenkofer  von 
der  Grundanschauung  aus,  dass  der  Cholerakeim  an  sich  nicht  konta- 
giös  sei,  seine  Entwicklung  nur  ausserhalb  des  Menschenleibes  er- 
fahre, überhaupt  zu  seiner  Virulenz  des  günstigen  Bodens  bedürfe, 
um  sodann  im  infektionstüchtigen  Zustande  emporzusteigen  und  An- 
steckung zu  bewirken. 

Die  von  Pettenkofer  im  Laufe  der  Dezennien  festgehaltene 


826  Victor  Fossel. 

und  nur  in  wenigen  Beweisführungen  modifizierte  Lehre  von  der 
Aetiologie  und  Verbreitung  der  Cholera,  späterhin  als  ,, loka- 
listische  Lehre"  bezeichnet ,  fand  naturgemäss  ihre  Anhänger 
und  Gegner.  Die  „Bodentheorie"  wurde  für  die  Pathogenese  des 
Abdominaltyphus  und  der  Cholera  zum  Brennpunkt  der  Verhand- 
lungen und  der  Kämpfe. 

Im  Zeiträume  1855 — 1883,  dessen  Marksteine  einerseits  die  Stu- 
dien Pettenkofer's,  andererseits  die  bahnbrechenden  Arbeiten 
K  0  c  h '  s  bilden,  trat  immer  deutlicher  die  Annahme  eines  spezifischen, 
organisierten  Cholerakeimes  in  der  Aetiologie  der  Seuche  hervor.  Die 
Existenz  eines  solchen  Krankheitsträgers  wurde,  wenn  auch  als  eine 
noch  unbekannte  Grösse,  mit  einer  gewissen  Zuversicht  in  der  Cholera- 
frage in  Rechnung  gebracht.  Damit  im  kausalen  Zusammenhange 
stand  die  von  der  überwiegenden  Schar  der  Beobachter  festgehaltene 
Ansicht,  dass  das  infizierende  Cholera  -  Agens  in  den  Dejekten  des 
Kranken  enthalten  sei.  Während  die  eine  Partei  von  dem  suppo- 
nierten  Keime  die  unmittelbare  Ansteckung  ableitete,  negierte  Petten- 
kofer  diese  Voraussetzung  und  erblickte  in  der  Choleralokalität  das 
unbedingt  erforderliche  Zwischenglied  für  das  Zustandekommen  einer 
epidemischen  Ausbreitung.  Abweichend  von  der  Münchner  Schule  waren 
die  meisten  Forscher  darüber  einig,  dass  dem  menschlichen  Verkehre 
an  sich,  namentlich  den  Kranken,  deren  Wäsche  und  Effekten  u. s.w. 
nach  den  an  allen  Orten  und  zu  allen  Epidemiezeiten  gewonnenen  Er- 
fahrungen eine  ganz  besondere  Wichtigkeit  und  Bedeutung  zukomme. 
Das  erdrückende  Beweismateriale,  welches  die  konstant  wiederkehrende 
Verschleppung  der  Cholera  durch  den  Pilgerverkehr  in  Ostindien, 
Arabien  u.  a.  0.  an  die  Hand  gegeben  hatte,  musste  naturnotwendig 
die  Beziehungen  des  Verkehres  zur  Krankheitsausstreuung  in  die 
schärfste  Beleuchtung  rücken.  Nur  die  kleine  Fraktion  der  sogen. 
Autochthonisten,  als  deren  Wortführer  Cuningham  und  Guerin 
genannt  sein  mögen,  stellte  den  Einfluss  des  Verkehres  in  Abrede. 
Sie  leugneten  überhaupt  die  Hypothese  eines  spezifischen  Infektions- 
stofi'esj  dessen  mittelbare  oder  unmittelbare  Virulenzentwicklung,  son- 
dern verteidigten  den  Standpunkt,  dass  die  Cholera,  überall  als  Cholera 
nostras  vorkommend,  zeitweise  unter  unbekannten  atmosphärischen 
und  tellurischen  Einflüssen,  unter  einem  prädisponierenden  Genius 
epidemicus  und  unter  Mitwirkung  eines  durch  vorangehende  Zunahme 
der  Diarrhöen  sich  kundgebenden  Cholerakonstitution  zu  epidemischer 
Gestalt  sich  ausbilden  könne.  Die  bizarre  Theorie  Bryden's,  die 
Cholera  werde  aus  ihrem  endemischen  Gebiete  nicht  etwa  durch  den 
menschlichen  Verkehr,  sondern  durch  den  Monsun  wind  als  „Cholera- 
woge" weitergetragen,  hat  gebührendermassen  allseitige  Abfertigung 
erfahren. 

Der  schärfste  und  erbittertste  Streit  entbrannte  aber  innerhalb  der 
uns  beschäftigenden  Periode  über  die  Medien  der  Krankheitsverbreitung, 
über  die  Hilfsursachen  der  Cholera.  Waren  zu  jener  Zeit  die  Beob- 
achter noch  nicht  in  die  beiden  Hauptlager  der  Lokalisten  und  Kon- 
tagionisten  mit  ihrem  streng  umschriebenen  Glaubensbekenntnisse  ge- 
schieden, so  fallen  doch  schon  mit  dem  Beginne  dieses  Zeitabschnittes 
die  festen  Ansätze  zweier  Richtungen  zusammen,  die  wir  um  des  vor- 
nehmsten Streitobjektes  willen  füglich  als  die  Anhänger  der  Boden- 
theorie und  der  Trinkwassertheorie  bezeichnen  dürfen.  Wir  verweisen, 
dass  die   von  Pettenkofer  formulierten  Gesetze  der  Abhängigkeit 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  827 

der  Choleragenese  von  dem  wechselnden  Zustand  des  Bodens  während 
zahlreicher  Lokalepidemien  keineswegs  als  sicher  zutreffende  Beweise 
eine  Bestätigung  gefunden  haben,  dass  die  vielbesprochene  Immunität 
bestimmter  Städte  und  Stadtteile  keine  absolute  und  überdies  oft  in 
anderen  örtlichen  Verhältnissen  als  nur  in  der  Bodeubeschaffenheit  be- 
gründet gewesen  war.  Wie  gegen  die  örtliche  Disposition  mit  den 
zu  ihren  Gunsten  aufgestellten  Argumenten  wurden  gegen  die  all- 
gemeine Gültigkeit  der  zeitlichen  Disposition  gewichtige  Einwendungen 
erhoben.  Aus  den  in  Europa  und  Indien  gemachten  Beobachtungen 
wollte  man  nur  eine  beschränkte  Koincidenz  der  Cholerafrequenz  mit 
den  Jahi'eszeiten  und  den  durch  diese  verursachten  atmosphärischen 
Niederschlägen  zugestehen,  weiter  von  der  ßegelmässigkeit  zwischen 
dem  Ansteigen  der  Cholera  und  dem  Sinken  des  Grundwassers  be- 
trächtliche Abweichungen  erkannt  haben.  Nicht  weniger  lebhaft  be- 
stritt man  die  von  Pettenkofer  als  Hauptstütze  seiner  Grundsätze 
herangezogene  Seltenheiten  von  Cholera  auf  Seeschiffen  und  die  Ab- 
leugnung des  epidemischen  Vorkommens  der  Krankheit  auf  Schiffen 
überhaupt.  Die  bekannt  gewordenen  Beispiele  von  Schiffsepidemien 
waren  mindestens  geeignet,  die  volle  Stichhaltigkeit  der  behaupteten 
Thatsachen  in  Zweifel  zu  ziehen.  Der  gewichtigste  Einwurf  gegen 
die  exklusive  Abhängigkeit  der  Cholera  vom  Boden  und  Grundwasser 
wurde  aber  aus  der  grossen  Eeihe  von  Beobachtungen  abgeleitet, 
welche  in  einer  kaum  misszuverstehenden  Deutlichkeit  den  kausalen 
Zusammenhang  zwischen  der  Choleraverbreitung  und  dem  Trinkwasser 
erbrachten.  Wii'  erinnern  an  die  bereits  angedeuteten  Mitteilungen 
über  die  von  Snow  und  Simon  in  den  Jahren  1849  und  1854  in 
London  geschöpften  Erfahrungen  über  die  Ausbreitung  von  Cholera- 
epidemien im  Bereiche  bestimmter  Wasserleitungen,  eine  Kongruenz, 
welche  1866  für  London  neuerliche  Bestätigung  gefunden  hatte.  In 
einer  grossen  Zahl  von  Städten  und  Ortschaften  in  Deutschland,  Eng- 
land u.  a.  m.  trat  zu  Zeiten  von  Cholera  die  Ausdehnung  der  Krank- 
heit, bezw.  das  Verschontbleiben  ganzer  Gebiete  oder  einzelner  Teile 
je  nach  den  besonderen  lokalen  Einrichtungen  der  Wasserversorgung 
augenfällig  zu  Tage.  Eine  reiche  Zahl  eiuschlägiger  Beispiele  hatten 
indische  Aerzte  bekannt  gemacht  und  nachgewiesen,  wie  in  einzelnen 
Städten  oder  Anstalten  die  Anlage  klagloser  Quellenleitungen  einen 
rapiden  Abfall  der  Choleramorbidität  gezeigt  habe.  Allen  diesen  That- 
sachen aber  setzte  Pettenkofer  ein  starres  non  licet  entgegen, 
denn  er  schob  die  eklatanten  Folgen  der  verbesserten  Wasserver- 
sorgung lediglich  dem  Einflüsse  einer  geordneten  Kanalisierung  zu. 
Einen  neuen  Abschnitt  in  der  Geschichte  der  Lehre  von  der 
Cholera  bildet  die  Entdeckung  des  Kommabacillus,  welchen  R.  Koch 
durch  seine  1883  und  1884  in  Aegpten  und  in  Ostindien  angestellten 
Untersuchungen  als  den  spezifischen  Krankheitsen-eger  der  Cholera 
indica  aufgefunden  und  als  solchen  experimentell  festgestellt  hat. 
Trotz  der  erhobenen  Einwürfe  und  Zweifel,  trotz  der  Narahaftmachung 
ähnlicher,  aber  in  Wesenheit  völlig  differenter  Vibrionen  (Finkler- 
Prior,  Denecke,  Metschnikowu.  a.)  hat  die  ärztliche  Welt  den 
Koch'schen  Bacillus  als  den  eigentlichen  Krankheitskeim  der  Cholera 
anerkannt.  Sein  konstantes  Vorkommen  in  allen  Fällen  von  asiatischer 
Cholera  (im  Darm  und  den  Entleerungen  der  Kranken),  seine  An- 
wesenheit in  faulenden  und  fliessenden  Gewässern,  u.  a.  in  gewissen 
Tanks  nächst  Calcutta,  in  welche  erwiesenermassen  überall  eine  Ver- 


828  Victor  Fossel. 

unreinigung  durch  Choleradejekte  gelangt  war,  die  durch  absichtliche 
oder  zufällige  Einverleibung  von  Kommabacillen  bei  Tieren  und 
Menschen  zu  Tage  getretenen  charakteristischen  Leichenbefunde,  bezw. 
Krankheitssymptome  und  der  Nachweis  der  Koch' sehen  Cholera- 
vibrionen im  Darm  der  Versuchsobjekte  sichern  in  unwiderleglicher 
Weise  deren  fundamentale  Bedeutung  in  der  Choleragenese. 

Koch's  Entdeckung  hat  mit  einem  Schlage  die  Anschauungen 
der  Aerzte  in  neue  Richtungen  gelenkt  und  die  Diskussion  hervor- 
ragender Körperschaften  auf  das  lebhafteste  beschäftigt.  Die  Cholera- 
konferenzen in  Berlin  in  den  Jahren  1884  und  1885,  die  im  Jahre  1885 
durchgeführten  Verhandlungen  der  Pariser  Academie  de  Medecine,  die 
Cholerakonferenz  in  London  und  die  internationale  Sanitätskonferenz 
in  Rom  während  des  gleichen  Jahres  gaben  ein  glänzendes  Zeugnis 
von  der  Klärung  und  Wandlung  der  wissenschaftlichen  Auffassung 
über  die  Entstehung,  Verbreitung  und  Verhütung  der  Cholera.  Die 
seit  dem  Jahre  1883  beobachteten  Epidemien  in  und  ausserhalb 
Europa  vervollständigten,  soweit  dies  überhaupt  menschenmöglich  ge- 
wesen ist,  die  Grundanschauungen,  aus  denen  die  gegenwärtige  Lehre 
von  der  Cholera  sich  aufgebaut  hatte;  sie  boten  zugleich  das  prak- 
tische Versuchsfeld  im  grossen,  um  an  der  Hand  der  modernen 
Forschungen  auch  erfolgreiche  Stützpunkte  für  die  öffentliche  Ab- 
wehr der  verhängnisreichen  Seuche  zu  gewinnen. 


VI.  Ruhr. 
Litte  ratur. 

(Ausser  den  Schriften  von  Hippokrates,  Celsus,  Aretäus,  Caelius 
Aurelianus,  Alexander  von  Tralles):  Sennert,  Opera,  1641.  —  Fabric, 
Hildanus,  Opera,  1646.  —  Willis,  Opera,  1681.  —  Morton,  Opera,  1696.  — 
Degner,  Hist.  med.  de  dysenteria,  1750.  —  Zimmermann,  Von  der  Ruhr., 
1765.  —  Baidinger,  Von  d.  Krankheiten  d.  Armee,  1765.  —  Pringle,  l.  c.  1772. 

—  Cleghorn,  Beoh.  üb.  die  epid.  Krankh.  auf  Minorca,  1776.  —  Mursinnu, 
Beoh.  üb.  d.  Ruhr  %<,.  die  Faulfieber,  1780.  —  Sydenham,  l.  c.  1786.  —  Rollo, 
Neue  Bemer}cg.  üb.  d.  Ruhr,  1787.  —  Stoll,  Ratio  tnedendi.  Pars  III,  1788.  — 
van  Geuns,  Ueb.  d.  epid.  Ruhr,  1790.  —  Harless,  Antiquitates  dysenteriae, 
1801.  —  Hörn,  Versuch,  üb.  d.  Natur  und  Heilung  der  Ruhr,  1807.  —  Four- 
nier,  Art.  „Dysenterie''''  in  Dict.  d.  sc.  med.  Tom.  X,  1814.  —  Wunderlich,  Hdb. 
d.  sp.  P.  u.  Th.  III.  Theil  1846.  —  JBamberger,  in  Virchoiv's  Hdb.  d.  sp.  P.  u. 
Th.  Bd.  VI  1855.  —  Virchow,  Kriegstyphxis  und  Ruhr,  Archiv  52.  Bd.  1871.  — 
Heubner,  in  Ziemss.  Hdb.  d.  sp.  P.  u.  Th.  III.  Auf..  II.  Bd.  3.  Abth.  1886.  — 
Creighton,  l.  c  1891J94.  —  Kartulis,  in  Nothnagels  Hdb.  d.  sp.  P.  u.  Th. 
V.  Bd.  3.  Abth.  1896.  —  Scheube,  Die  Krankh.  d.  ivarm.  Länder,  IL  Aufl.  1900. 

—  Ebstein,  Ueb.  d.  Mittheilg.  v.  Jacob  Bontius  . .  .  Janus  VII  1902. 

Soweit  die  Schilderung  von  Krankheiten  bei  den  Schriftstellern 
des  Altertums  sich  verfolgen  lässt,  wird  die  Dysenterie  erwähnt  oder 
ein  Krankheitsprozess  beschrieben,  dessen  Symptome  mit  jenen  der 
Ruhr  nähere  oder  entferntere  Verwandtschaft  besitzen.  Schon  die  von 
den  Hippokratikern  stammende  Bezeichnung  „Dysenterie",  in  die 
Latinität  mit  dem  Ausdrucke  „Difficultates  intestinorum"  übertragen, 
weist  auf  die  Vielgestaltigkeit  des  Leidens  hin,  dessen  Ursache  je 
nach  der  Beschaffenheit  der  Darmausscheidungen  zunächst  in  dem  Vor- 
walten einer  der  Kardinalflüssigkeiten  des  Körpers  gesucht  wurde. 
Hippokrates  unterscheidet  Diarrhöen,  Tenesmus  und  Lienterie  von 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  829 

der  Eulir,  gedenkt  der  bei  letzterer  vorfndlichen  Verschwärungen  der 
durch  „Abschaben  des  Darmes"  und  durch  Blutungen  bewirkten  cha- 
rakteristischen Merkmale.  Ar  et  aus  giebt  eine  vortreffliche  Dar- 
stellung des  Krankheitsbildes  und  der  im  Dünn-  oder  Dickdarme 
lokalisierten  Geschwüre.  Nebst  ihm  hat  C  e  1  s  u  s  ( er  nennt  das  Leiden 
..tormina"),  Galenus,  vor  allem  Caelius  Aurelianus  die  Patho- 
logie. Alexander  von  T  r  a  1 1  e  s  die  Therapie  der  Krankheit  ge- 
würdigt. Die  von  letzteren  Autoren  gelehrte  Auffassung  der  Dysen- 
terie in  ihrer  ätiologischen  Abhängigkeit  von  den  vier  Humores  führte 
zur  Aufstellung  einer  katarrhalischen  (Schleim),  entzündlichen  ! Blut), 
biliösen  und  atrabiliösen  (exulcerierenden)  Ruhrform.  Es  war  damit 
allerdings  der  Verschiedenartigkeit  des  Prozesses  Rechnung  getragen, 
aber  zugleich  die  Konfundierung  genetisch  voneinander  getrennter 
Bauchflüsse  (rheumatismus  intestinorum  cum  ulcere.  fluxus  cruentus 
cum  tenesmo.  fluxus  dysentericus)  mit  anderen  Darmerkrankungen  in 
Uebung  gekommen. 

Die  Aufmerksamkeit  der  Aerzte  war  zu  allen  Zeiten  auf  das  Vor- 
kommen der  Ruhr  gerichtet ;  in  der  hellenischen  Heilkunde  ist  es  aber 
zumeist  nur  die  sporadische  und  endemische  Dysenterie,  welche  die 
Beachtung  der  Gewährsmänner  findet,  wählend  die  epidemische  Form 
weder  im  Altertum  noch  im  Mittelalter  nähere,  verlässliche  Aufzeich- 
nungen erkennen  lässt.  Ob  den  verschiedenen  Kriegsseuchen  jener 
Zeitperioden  auch  die  Ruhr  beizuzählen  ist,  darf  mit  aller  Wahrschein- 
lichkeit angenommen  werden,  denn  die  Geschichte  lehrt,  dass  die 
Krankheit  den  Heeren  der  Völker  seit  jeher  gefolgt  ist.  So  soll  bei- 
spielsweise das  persische  Heer,  das  im  Jahre  480  v.  Chr.  unter  Xerxes 
nach  Thessalien  und  Griechenland  gezogen  war,  unter  einer  epidemi- 
schen Dysenterie  schwer  gelitten  haben.  Unter  den  verschiedenen 
Krankheitsformen,  die  der  attischen  Pest  von  späteren  Historikem  zu 
Grunde  gelegt  wurden,  nahm  die  Ruhr  einen  heiworragenden  Platz  ein. 

Die  Chronisten  des  Mittelalters  haben  zahlreiche  Ruhrausbrüche 
gemeldet  über  welche  aber  nähere  Angaben  fehlen.  So  wird  von 
Ruhrepidemien  in  den  Jahren  534  und  538  in  Frankreich,  760  in  den 
nördlichen  Ländern  Europas,  820  unter  dem  deutschen  Heere  in 
Ungarn  berichtet,  späterhin  mederholter  über  grosse  Landstriche  ent- 
wickelter Dysenterieseuchen  gedacht  und  deren  Entstehung  auf  Miss- 
wachs, Teuerung.  Kriege  und  Hungersnöte  zurückgeführt.  Ob  es  sich 
hierbei  immer  um  die  eigentliche  Ruhr  oder  aber  um  andere  Volks- 
krankheiten gehandelt  hat,  entzieht  sich  bei  dem  Mangel  verlässlicher 
Nachrichten  jeder  Beurteilung.  Ei-st  vom  16.  Jahrhundert  an  datieren 
mehr  verwertbare  ärztliche  Aufzeichnungen,  die  der  Epidemiographie 
einigen  Einblick  gestatten.  Die  im  Jahre  1538  über  einen  grossen 
Teil  unseres  Kontinents  verbreitete  Ruhrpandemie  hat  u.  a.  an  Ferne  1 
einen  Augenzeugen  gefunden,  nach  dessen  Aussage  kaum  ein  Ort  von 
der  Seuche  verschont  geblieben  war.  England  wurde  in  den  Jahren 
1540—1541, 1557, 1580—1582, 1596—1598  von  epidemischer  Dysenterie 
ergiiffen,  ebenso  Deutschland  in  den  Jahren  1583,  1595 — 1596. 

Während  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  wird  die  epide- 
mischl  Ruhr  nur  in  vereinzelten  ärztlichen  Berichten  ausdrücklich  be- 
schrieben. Die  Autoren,  noch  vollständig  im  (reiste  der  Alten  befangen, 
betonen  nur  mit  geringem  Nachdruck  ihre  seuchenartige  Verbreitung, 
sie  fassen  die  Krankheit  mehr  nach  der  Symptomatologie  und  den  Ur- 
sachen der  Darmerscheinungen  auf  und  legen  das  Hauptgewicht  auf 


830  Victor  Fossel. 

die  Diätetik  und  Therapie  des  Leidens.  So  hat  Paschettus  in 
Genua  im  Jahre  1604  die  Ruhr  auf  Ansammlung  des  vom  Gehirn  ab- 
fliessenden,  salzigen  Schleimes,  auf  Verdickung  der  Galle  und  hier- 
durch bewirkte  Anätzung  der  Gedärme  zurückgeführt.  Le  Pois 
(Piso)  sah  die  Krankheitsursache  in  Störungen  der  Leberfunktionen, 
in  alimentären  Schädlichkeiten  und  Einflüssen  der  Sommerhitze,  ne- 
gierte aber  die  Kontagiosität  des  Leidens.  Andere  Beobachter  hin- 
gegen, wie  Fabricius  Hildanus,  wiesen  direkt  auf  die  Ansteckungs- 
fähigkeit des  Ruhrprozesses  hin.  Piso,  der  die  Krankheit  in  Brasilien 
zu  studieren  Gelegenheit  hatte,  war  der  erste,  der  im  Jahre  1648  die 
Ipecacuanha  als  Specificum  bei  Dysenterie  gepriesen  und  ihr  für  mehr 
als  zwei  Jahrhunderte  den  Ruf  als  „Ruhrwurzel"  verschafft  hat.  Seine 
Arbeit  über  die  Ruhr  ist  neben  jener  von  Jacob  Bontius  eine 
der  wertvollsten  Schilderungen  der  Dysenterie  der  warmen  Länder. 
Bontius  legte  seinem  Buche  die  Erfahrungen  zu  Grunde,  die  er  im 
Jahre  1628  während  einer  Ruhrepidemie  auf  Java  gesammelt  hatte. 

Es  ist  auffallend,  dass  bis  zu  diesem  Zeiträume  die  Dysenterie, 
wenn  auch  ihres  Vorkommens  bei  vielen  Schriftstellern  erwähnt  wird, 
dies  nur  im  Zusammenhange  mit  anderen  epidemischen  Krankheiten 
geschieht,  so  dass  man  anzunehmen  versucht  wird,  die  Aerzte  jener 
Zeit  erblickten  gleich  den  Alten  in  den  „Bauch Aussen"  vorwiegend 
Begleiterscheinungen  der  Pest,  des  Petechialfiebers,  ja  selbst  der 
Schlundbräune,  nicht  eine  Krankheit  sui  generis.  Unter  diesem  Ge- 
sichtspunkte lässt  sich  aus  den  Seuchenberichten  der  Zeit  die  Ruhr 
nur  unbestimmt  aus  dem  Gewirre  der  herrschenden  Infektionskrank- 
heiten abgrenzen.  In  dieser  Periode  w^erden  als  grössere  Ruhr- 
epidemien genannt:  1623—1625  in  Frankreich,  den  Niederlanden  und 
Deutschland,  1635  in  den  Niederlanden,  1649  in  Schweden,  1659  in 
der  Schweiz.  Lammert  gedenkt  in  seiner  wertwollen  Chronik  der 
Seuchen  während  des  dreissigjälirigen  Krieges  an  ungezählten  Stellen 
der  Herrschaft  der  Ruhr,  die  demnach  weit  häufiger  und  intensiver 
aufgetreten  sein  mag,  als  ärztliche  Beobachter  hiervon  Kunde  geben. 

Von  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  an  gewann  die  Lehre  von 
der  Ruhr  das  erhöhte  Augenmerk  der  ärztlichen  Kreise.  Insbesondere 
waren  es  die  Schriften  von  Sydenham,  Morton  und  Willis,  in 
denen  die  Erfahrungen  während  der  grossen  Ruhrepidemie,  welche 
England  in  den  Jahren  1668 — 1672  durchseucht  hatte,  niedergelegt 
und  den  Zeitgenossen  bekannt  gemacht  worden  waren.  Sydenham, 
dessen  bahnbrechender  Einfluss  auf  die  epidemiologischen  Anschauungen 
seiner  und  der  späteren  Zeit  schon  in  der  Einleitung  zu  dieser  Arbeit 
zu  kennzeichnen  versucht  wurde,  vertritt  auch  in  der  Lehre  von  der 
Dysenterie  den  Standpunkt,  dass  je  nach  der  Krankheitskonstitution 
aus  dem  „stehenden  Fieber"  verschiedene  Epidemien  ausgelöst  und 
sogar  differente  Formen  der  Ruhr  selbst  entwickelt  werden  können. 
So  lässt  Sydenham  die  Frage  ofi'en,  ob  die  endemische  Ruhr  der 
Irländer  mit  der  herrschenden  epidemischen  Ruhr  verwandt  sei  oder 
nicht;  er  unterscheidet  mit  AVillis  eine  blutige  und  unblutige  Ruhr 
und  nimmt  eine  Dysenterie  an,  bei  welcher  die  Darmentleerungen 
keine  pathologischen  Aenderungen  aufweisen.  Nach  seiner  Auffassung 
ist  die  gutartige  Diarrhöe  (cholera  morbus)  nur  graduell  von  der 
dysenterischen  Form  verschieden,  bei  der  es  nicht  immer  zur  Bildung 
von  Geschw'üren  im  Darme  kommen  müsse.  Wie  andere  akute  Krank- 
heiten entstehe   die  Ruhr  aus   einer  „Entzündung  des  Blutes",   aus 


Greschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  831 

welcher  eine  scharfe  und  hitzige  Materie  nach  den  Gedärmen  versetzt 
werde  und  hier  Entzündung,  ja  selbst  Gangrän  der  Schleimhaut  bilde. 
Sydenham  erklärt  die  Euhr  geradewegs  als  „das  auf  die  Gedärme 
gefallene  Fieber  der  Jahreszeit".  Als  wirksamste  Therapie  empfiehlt 
er  den  Aderlass.  leichte  Laxanzen  und  zur  Schmerzlinderung  das  noch 
heute  seinen  Namen  tragende  flüssige  Laudanum. 

Auch  Willis,  der  in  der  Rulu-  ein  endemisches  und  im  Herbst 
alljährlich  wiederkehrendes  Uebel  der  englischen  Hauptstadt  sieht, 
fühlt  sie  ätiologisch  auf  eine  „Intemperies  anni"  und  dadurch  be- 
wirkte Effervescenz  des  Blutes  zurück,  wodurch  anomale  Fieber  zu 
Stande  kommen,  deren  Krankheitsprodukte  in  den  Gedärmen  abge- 
lagert werden.  Die  Ruhr  und  verwandte  Darmerkrankungen  wurden 
in  jener  Zeit  in  den  Londoner  Sterberegistern  gemeinhin  unter  dem 
Kollektivbegriffe:  ..gripping  in  the  guts"  zusammengefasst ;  dem  ent- 
gegen stellt  Willis  den  wesentlichen  Unterechied  zwischen  Diarrhöe 
und  Dysenterie  fest  und  leugnet  die  herrschende  Anschauung,  wonach 
die  Ruhr  hauptsächlich  als  Folgeübel  des  Genusses  von  unreifem  Obst 
galt.  Nach  seiner  Meinung  sei  die  Ruhr,  die  auf  Schiffen,  Lager- 
plätzen und  in  Gefangnissen  häufig  beobachtet  werde,  im  allgemeinen 
nicht  kontagiös;  an  anderer  Stelle  nennt  er  sie  aber  ein  Leiden,  das 
zuweilen  wie  ein  pestilentisches  Fieber  den  Krankheitsstoff  durch 
Kontagium  auf  weite  Strecken  verbreite.  Morton  hingegen  erblickte 
in  der  Dysenterie  nur  eine  Abart  der  herrschenden  intermittierenden 
Fieber  und  pries  die  Chinarinde  als  das  hauptsächlich  wirksame 
Heilmittel. 

Ausser  dieser  vielbeschriebenen  Epidemie,  die  1668—1672  in 
London  und  ganz  Grossbritannien  grassierte  und  gleichzeitig  an  vielen 
Orten  Deutschlands  und  Frankreichs  sich  bemerkbar  machte,  wurde 
die  Ruhi"  neuerlich  in  der  Periode  1676 — 1679  in  den  genannten 
Ländern  sowie  in  Dänemark  und  Schweden,  im  Jahre  1684  als  eine 
allgemein  in  den  einzelnen  Ländern  Europas  verbreitete  Krankheit 
beobachtet. 

Weit  zahlreicher  sind  die  Nachrichten  über  das  epidemische  Vor- 
kommen der  Dysenterie  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts.  Neben  einer 
nicht  unbeträchtlichen  Reihe  von  Ruhrausbrüchen,  die  im  Zusammen- 
hange mit  ..exanthematischen  Fiebern"  genannt,  sich  schwer  als  eigent- 
liche und  selbständige  Epidemien  der  Krankheit  nachweisen  lassen, 
finden  wir  zunächst  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Säkulums  Epidemien, 
die  über  grössere  Gebiete  sich  gleichzeitig  erstreckt  haben.  So  be- 
gegnen wir  dem  heftigen  Auftreten  der  epidemischen  Ruhr  1702  in 
Cleve  und  Nymwegen,  1707 — 1709  in  einem  grossen  Gebiete  von 
Deutschland,  wo  auch  in  den  Jahren  1717-  1719  die  Krankheit,  vor 
allem  in  den  nördlichen  Landschaften  weithin  verbreitet  war.  Im 
Jahre  1719  sollen  in  Berlin  allein,  wo  allerdings  gleichzeitig  „exan- 
thematische  Fieber"  grassierten,  an  1578  Personen  an  der  Ruhr  ge- 
storben sein.  In  demselben  Zeiträume  herrschte  die  Dysenterie  epi- 
demisch in  Frankreich,  den  Niederlanden,  der  Schweiz,  in  Dänemark 
und  Russland.  Wenige  Jahre  später,  1725 — 1727  trat  sie  in  Italien, 
in  der  nördlichen  Schweiz,  in  Süddeutschland  auf  und  nahm  neben 
Malaria  und  „Exanthemen"'  einen  erheblichen  Anteil  an  der  Sterb- 
lichkeit in  Holland.  Durch  gemeinsames  Vorkommen  von  Ruhr  und 
Fleckfieber  war  in  den  Jahren  1728 — 1731  eine  in  Irland  herrschende 
Epidemie  gekennzeichnet. 


832  Victor  Fossel. 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Epidemie  des  Jahres  1736  in 
Holland,  wo  Degner  deren  Ausbruch  in  Nym wegen  beobachtet  hat. 
Obgleich  dieser  Autor  in  seiner  hierüber  niedergelegten  Schrift  noch 
vollständig  auf  der  Grundanschauung  sich  bewegt,  dass  Malaria  und 
Euhr  in  engster  Verwandtschaft  stehen,  obschon  er  mit  Vorliebe  die 
Ursache  des  dysenterischen  Prozesses  von  einer  „fauligen  Säfte- 
mischung" ableitet,  so  muss  dennoch  die  Arbeit  Degners  zu  den 
besten  Darstellungen  der  Krankheit  gerechnet  werden,  schon  deshalb, 
weil  er  mit  Treue  das  symptomatische  Bild  des  vielgestaltigen  Leidens 
wiedergiebt.  Mit  Anschaulichkeit  zeichnet  er  den  Gang  der  Epidemie 
in  Nymwegen,  ihre  Wanderung  von  Strasse  zu  Strasse,  wobei  das 
von  der  jüdischen  Bevölkerung  bewohnte,  völlig  abgeschlossene  Stadt- 
viertel von  der  Seuche  auffallend  verschont  geblieben  war.  Wie 
D  e  g  n  e  r  nachweist,  war  die  Ruhr  nach  der  Stadt  durch  eine  einzige 
erkrankte  Person  gekommen  und  im.  Verlaufe  der  Epidemie  durch 
Besuche  nach  entlegenen  Dörfern  überbracht  worden. 

Aus  dem  fünften  Dezennium  des  18.  Jahrhunderts  datieren  drei 
Arbeiten  über  die  Ruhr,  die  neue  Beiträge  zur  Kenntnis  des  Wesens 
und  der  Verbreitungsweise  der  Krankheit  lieferten.  Es  sind  dies  die 
von  John  Pringle  verfasste  Schrift  über  die  Krankheiten  der 
Armee,  die  von  Jakob  Grainger  dem  gleichen  Gegenstande  ge- 
Avidmete  Abhandlung  und  die  von  George  Cleghorn  aufgezeichneten 
Beobachtungen  über  die  Dysenterie  in  der  englischen  Flotte  vor 
Minorka.  Pringle,  der  die  englischen  Truppen  innerhalb  des  Zeit- 
raumes 1742 — 1748  auf  ihren  Zügen  in  den  Niederlanden  und  in 
Deutschland  begleitet  hatte,  fand  daselbst  reiche  Gelegenheit,  die  Ruhr 
nosologisch  und  epidemiologisch  zu  verfolgen  und  seine  Studien  durch 
Leicheneröifnungen  zu  vervollständigen.  Als  nach  der  Schlacht  bei 
Dettingen  (27.  Juni  1743)  die  Ruhr  im  englischen  Heere  ausgebrochen 
war,  erkrankten  nicht  weniger  als  1500  Soldaten  an  derselben,  unter 
denen  später  viele  vom  Fleckfieber  ergriffen  wurden,  vorwiegend  die 
in  Baracken  untergebrachte  Mannschaft.  Pringle  erklärt  die  Dysen- 
terie für  eine  selbständige  Krankheit,  die  nur  scheinbar  und  äusser- 
lich  mit  den  intermittierenden  und  remittierenden  Fiebern  als  „Herbst- 
krankheit" gemeinschaftliche  Züge  aufweise,  sich  aber  von  jenen 
wesentlich  durch  die  Ansteckungsfähigkeit  unterscheide.  Für  die  Be- 
gründung dieser  Annahme  bringt  er  scharfe  Beobachtungen  bei,  indem 
er  zeigt,  wie  die  Krankheit  in  Lagerplätze  von  einer  einzigen  Person 
eingeschleppt,  dann  allmählich  von  Zelt  zu  Zelt  weiterverbreitet,  nicht 
etwa  durch  die  Unreinigkeit  der  Luft,  sondern  vom  Menschen  zum 
Menschen  durch  Effluvien,  Kleider,  Betten,  Stroh  und  zumeist  durch 
die  Aborte  übertragen  werde.  Im  Gegensatze  zu  Sydenham's 
Lehre,  der  verschiedene  Ruhrarten  annahm,  stellte  Pringle  fest,  dass 
nur  eine  einzige  Form  der  Dysenterie  vorkomme,  einerlei  ob  in  kalten 
oder  warmen  Ländern,  eine  Behauptung,  mit  der  er  schon  seinen 
Zeitgenossen  gegenüber  sich  im  Widerspruch  befand,  und  die  auch  in 
der  späteren  Lehre  von  der  Ruhr  keine  Verteidigung  mehr  gewinnen 
konnte. 

Ausser  der  vorerwähnten  Epidemie  im  englischen  Heere  war  die 
Dysenterie  um  jene  Zeit  in  Europa  weitverbreitet  aufgetreten,  so  in 
den  Jahren  1739—1741  in  Mitteldeutschland,  Schweden  und  Irland, 
in  den  Jahren  1746—1749  pandemisch  über  ganz  Europa,  vom 
Jahre  1749—1753  in  den  nordamerikanischen  Kolonien  Englands. 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  833 

Amch  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  erschien  die 
Dysenterie  des  öfteren  als  Seuche  auf  unserem  Kontinent,  jedoch  in 
den  ärztlichen  Nachrichten  nicht  immer  und  überall  von  gleichzeitig 
herrschenden  „Fiebern"  strenger  gesondert.  Unter  den  Lagerkrank- 
heiten, die  während  des  siebenjährigen  Krieges  geherrscht  und  auch 
damals  ausserhalb  des  Kriegsschauplatzes  sich  entwickelt  haben,  kam 
der  Euhr  eine  hervorragende  Stelle  zu.  Sie  wird  aber  von  den  Zeit- 
genossen meisthin  mit  den  „Faulfiebem"  zusammengeworfen,  überdies 
nach  Boerhaave's  Ausspruch  als  ein  vielgestaltiger  Krankheits- 
prozess  angesehen,  an  dessen  Genese  die  Wechselfieber  vor  allem  be- 
teiligt waren.  Roederer,  dessen  Arbeit  über  den  „Morbus  mucosus" 
an  anderer  Stelle  gewürdigt  wurde,  nennt  die  Ruhr  kurzweg  ,.eine 
Tochter  des  Wechselfiebers".  In  ähnlichem  Sinne  fasst  Zimmer- 
mann, der  über  eine  in  den  Schweizerischen  Kantonen  Bern  und 
Thurgau  beobachtete  Epidemie  sein  wertvolles  Buch:  ..Von  der  Ruhr 
unter  dem  Volke  im  Jahre  1765"  geschrieben  hat,  die  Aetiologie  des 
Leidens  auf.  So  prägnant  und  originell  darin  die  Sjuiptomatologie 
des  Prozesses  dargestellt  wird,  so  bewegt  sich  dennoch  die  Lehre  von 
der  Krankheitsursache  im  herkömmlichen  Geleise.  Nach  Ansicht 
Zimmermann's  gehört  das  die  Ruhr  begleitende  Faulfieber  zum 
Wesen  der  Krankheit,  hervorgerufen  durch  eine  infolge  von  Temperatur- 
abnahme bewirkte  Unterdrückung  der  Hautausdünstung,  aus  welcher 
Fäulnis  der  Säfte  und  deren  Zufluss  zu  den  Gedärmen  entstehe. 

Eine  stärkere  Steigerung  der  epidemischen  Dysenterie  fiel  in  die 
letzten  Jahrzehnte  des  Jahrhunderts.  Sie  war  in  den  Jahren  1778 — 
1779  in  Frankreich  und  in  den  Niederlanden,  1781  in  Ostpreussen 
und  Litthauen,  1783  abermals  in  den  Niederlanden,  1785—1788  in 
Schweden  weit  verbreitet.  Schwere  Ruhrjahre  waren  1787  für  Italien, 
1790  für  Süddeutschland  und  die  Schweiz.  Unter  den  Kriegsseuchen 
jener  Periode  gewann  die  Ruhr  eine  ungewöhnliche  Ausdehnung  im 
Jahre  1792  unter  den  preussischen  Truppen  während  der  Campagne 
in  Frankreich.  In  den  Jahren  1793 — 1798  kam  die  Krankheit  in  den 
Nordamerikanischen  Staaten  zur  epidemischen  Entwicklung. 

Am  Schlüsse  des  Jahrhunderts  stand  in  der  Lekre  von  der  Ruhr 
deren  Koincidenz  mit  Malaria  noch  unerschüttert  in  Geltung;  einzelne 
Autoren ,  vrie  M  u  r  s  i  n  n  a ,  van  G  e  u  n  s  u.  a.  waren  bemüht ,  der 
Krankheit  einen  festen  Platz  unter  den  „gallichten  und  faulichten 
Fiebern"  einzuräumen.  St  oll  hinwiederum  brachte  die  alte  Vor- 
stellung in  Erinnerung,  die  Ursache  der  Dysenterie  lediglich  in  Ano- 
malien der  Galle  zu  suchen  und  erklärte  demgemäss  das  Leiden  als 
„Rheumatismus  der  Gedärme*'. 

Im  gleichen  Masse,  wie  das  Fleckfieber  und  das  Typhoid  erfuhr 
auch  die  Ruhr  in  den  durch  die  französische  Revolution  eingeleiteten 
Feldzügen  eine  beträchtliche  Ausdehnung  über  ganz  Europa.  Ueber- 
einstimmend  verlegen  die  Zeitgenossen  die  Akme  der  Pandemie  in 
das  Jahr  1811,  deren  Nachschübe  bis  zum  Jahre  1815  anhielten. 
Welchen  Anteil  die  Krankheit  an  den  gemeiuhin  als  ..Nervenfieber" 
bezeichneten  Kriegsseuchen  genommen,  welche  Quote  die  eigentliche 
Ruhr  unter  den  zahllossen  Erkrankungen  ,.an  Durchfallen"  erreicht 
und  wieviele  Dysenteriefälle  etwa  in  Wirklichkeit  dem  Abdominal- 
typhus oder  umgekehrt  angehört  haben  mochten,  ist  schwer  zu  sagen. 
Gleichwohl  steht  fest,  dass  die  Dysenterie  als  steter  Begleiter  den 
Truppen  aller  Kriegsmächte  gefolgt  war  und  insbesondere  unter  den 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  53 


834  Victor  Fossel. 

Angehörigen  der  „grossen  Armee"  während  ihres  unglückseligenJRück- 
zuges  aus  Eussland  mit  mörderischer  Heftigkeit  um  sich  gegriffen 
hatte.  Angesichts  der  elenden  Zustände,  denen  Gesunde  wie  Kranke 
ausgesetzt  waren,  konnte  es  nicht  vermieden  werden,  dass  die  Ruhr 
überall  in  militärischen  Quartieren  und  Lazaretten  sich  einnistete 
und  in  den  Garnisonen  aller  Länder  unaufhaltsam  auf  die  Zivil- 
bevölkerung übergriff. 

Nach  Beendigung  der  Befreiungskriege  trat  in  der  Entwicklung 
der  Euhrepidemien  innerhalb  der  meisten  europäischen  Staaten  ein 
längerer  Stillstand  ein.  Ausgenommen  war  hiervon  Irland,  wo  sie 
des  öfteren  aufgetreten  und  schon  in  den  Jahren  1817,  1821,  dann 
1824 — 1826  neben  typhösen  Seuchen  zu  einer  schweren  Landplage 
sich  gestaltete.  Auf  dem  Kontinent  wurde  in  den  Jahren  1824 — 1826 
Frankreich,  1826  — 1828  Norddeutschland  und  Böhmen  von  epidemischer 
Ruhr  heimgesucht,  die  während  des  letztgenannten  Zeitraumes  auch 
in  Schottland  und  Irland  aufgetreten  war.  Eine  heftige  Exacerbation 
gewann  die  Krankheit  in  den  Jahren  1834 — 1836  in  Frankreich,  in 
der  Schweiz,  in  Süd-  und  Westdeutschland.  Ebenso  nahm  sie  in  der 
Periode  1846—1848  einen  nahezu  pandemischen  Charakter  an  und 
gesellte  sich  in  einzelnen  Ländern  Europas  und  Nordamerikas  zu 
dem  gleichzeitig  herrschenden  Flecktyphus.  Ihren  Hauptsitz  haben 
das  nordwestliche  Rnssland,  die  Ostseeprovinzen,  Polen,  Ober- 
schlesien, Böhmen,  Belgien  und  Irland  gebildet.  In  letzterem  Lande 
schritt  die  Ruhr  neben  dem  Rückfallfleber  einher  und  behauptete 
sich  vorwiegend  in  Arbeiterquartieren  und  Gefängnissen.  In  den 
nördlichen  und  mittleren  Staaten  Nordamerikas  entwickelte  sich  eine 
ausgedehnte  Ruhrepidemie  in  den  Jahren  1847 — 1851,  die  an  den 
meisten  Orten  von  einer  aussergewöhnlich  hohen  Steigerung  der  Er- 
krankungs-  und  Sterbeziffer  begleitet  war.  Eine  weitverzweigte  Ruhr- 
seuche auf  europäischem  Boden  ereignete  sich  in  den  Jahren  1853 — 
1855  und  erstreckte  sich  über  Russland,  die  skandinavischen  Länder,  die 
Schweiz,  Süddeutschland  und  Frankreich.  Im  letztgenannten  Lande  er- 
folgte ihr  neuerlicher  Ausbruch  in  den  Jahren  1859 — 1860,  von  welchem 
nur  die  nördlichen  Departements  verschont  geblieben  waren.  In  Schweden 
verursachte  die  Dysenterie  im  Zeiträume  1858 — 1860  eine  Reihe  von 
Lokalepidemien,  denen  sich  zerstreute  Krankheitsherde  im  nor- 
wegischen Reiche  anreihten.  Als  Kriegs-  und  Lagerseuche  erschien 
die  Ruhr  1854 — 1856  auf  dem  Kriegsschauplatze  in  der  Krim,  1859 
in  Oberitalien,  1861 — 1864  in  ungeheuerer  Ausdehnung  und  in  schwerer 
Lethalität  während  des  nordamerikanischen  Sezessionskrieges,  während 
dessen  Verlaufes  nicht  weniger  als  725675  Erkrankungs-  und  11560 
Todesfälle  die  Dysenterie  verursacht  hat.  Ferner  trat  sie  1862 — 1867 
unter  den  französischen  Okkupationstruppen  in  Mexiko  auf,  während 
des  deutsch- französischen  Krieges  im  Jahre  1870 — 1871  in  der  deutschen 
Armee  mit  38  652  Erkrankungen  und  2380  Sterbefällen,  endlich  im 
Jahre  1878 — 1879  während  des  russisch-türkischen  Feldzuges. 

Ausser  den  Epidemien,  die  den  vorerwähnten  Kriegsereignissen 
gefolgt  waren,  hat  die  Dysenterie  seit  den  sechziger  Jahren  in  Europa 
erheblich  ihre  einstmalige  Herrschaft  verloren.  Nur  in  einzelnen 
Ländern,  vorwiegend  im  Süden  und  Südosten  unseres  Kontinents  hat 
sie  sich  als  immer  wiederkehrendes,  vielfach  endemisches  Uebel  be- 
hauptet, in  anderen  Gebieten  vorübergehende  Epidemien  verursacht, 
deren  Ausläufer  nicht  selten  über  mehrere  Jahre  sich  erstreckten. 


Die  epidemischen  Krankheiten.  835 

Die  Geschichte  der  Euhr  in  den  warmen  Ländern  liegt  unserer  Auf- 
gabe ferne. 

Innerhalb  der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  zeigte 
die  Lehre  von  der  Dysenterie  keine  nennenswerten  Fortschritte.  Die 
Vorstellungen  von  der  Malarianatur  der  Krankheit  blieben  lange  hin- 
durch aufi'echt:  daneben  wechselten,  je  nachdem  das  klinische  oder 
anatomische  Bild  mehr  oder  weniger  ins  Gewicht  fiel,  die  älteren 
Theorien  in  der  Gunst  der  Beobachter,  von  denen  der  eine  Teil  die 
Ruhr  als  Produkt  einer  krankhaft  veränderter  Gallensekretion,  der 
andere  Teil  als  Ablagerung  ditferenter  ..Fieber"  zu  erklären  suchte. 
So  wollten  beispielsweise  Eisenmann  und  Cannstatt  in  der 
Dysenterie  die  lokale  Manifestation  ganz  heterogener  Krankheits- 
prozesse erkennen  und  stellten  in  genetischer  Eichtung  eine  rheu- 
matische, typhöse,  gallige,  skorbutische  Ruhr  auf.  Noch  unbestimmter 
lauten  die  Aussprüche  über  die  Kontagiosität  der  Krankheit.  Die 
verdienstvollen  Arbeiten,  welche  Cruveilhier,  Rokitansky  und 
Virchow  über  die  Leichenbefunde  bei  der  Dysenterie  veröffentlicht 
haben,  wurden  zum  sicheren  Stützpunkt  für  die  anatomische  Erkenntnis 
des  Prozesses.  Weniger  abgeschlossen  erscheint  die  pathologisch- 
klinische Deutung  im  Rahmen  eines  festen,  einheitlichen  Krankheits- 
begriffes. Die  Frage,  ob  und  welche  Bedingungen  nach  Ort  und  Zeit 
auf  die  Entwicklung  und  Verbreitung  der  Ruhr  Einfluss  nehmen,  wird 
erst  dann  zur  Lösung  gelangen,  wenn  es  gelungen  sein  wird,  die  Ur- 
sache der  Dysenterie  aufzudecken,  an  deren  parasitären  Charakter 
wohl  kaum  mehr  zu  zweifeln  ist. 


VII.  Gelbfieber. 
Litteratur. 

Arejula,  Das  Gelbfieber,  1804.  —  Fournier  et  Vnidy,  Art.  ,.Fievre 
aune"  in  Dict.  d.  sc.  med.  Vol.  XV  1816.  —  Jloreau  de  Jones^  Monographie 
ist.  et  med.  de  la  fievre  ,jaune  des  ÄntiUes,  1820.  —  ßaUy,  Fran^ois  et  Pariset, 
Med.  Gesch.  d.  gelb.  Fiebers  .  .  .  1821  .  .  .  .in  Spanien,  Deutsch  1823.  —  Seider, 
Abhdl.  üb.  d.  G.F.,  1828.  —  Matthäi,  Untersuchungen  üb.  d.  G.F.,  1828.  —  La 
Roche,  Yellow  Fever,  Ref.  in  Schm.  Jhb.  91.  Bd.  1856.  —  Wucherer,  ibidem  96. 
u.  99.  Bd.  1857  ff.  —  Lallemant,  Das  gelbe  Fieber,  1857.  —  Schauensteiii,  Die 
G. F. -Epidemie  in  Lissabon  1857.  Zeitsch.  d.  Ges.  d.  Äerzte  in  Wien  1860.  — 
Heinemann,  Virchow's  Arch.  Bd.  39.  58,  78,  112.  Jahrg.  1867—1888.  —  JPett^n- 
kofer,  D.  Viertljsch.  f.  off.  G.  Pfl.  V.  Bd.  1873.  —  Brendel,  ibid.  IX.  Bd.  1877.  — 
lAebermeister,  Ziemssens  Hdb.  d.  sp.  P.  «.  Th.  II.  Bd.  1.  Th.  1886.  —  Stern- 
berg, Janns  I  1896197.  —  Scheube,  Die  Krankh.  d.  warm.  Länder,  II.  Aufl.  1900. 
—  JBrault,  Janus  V  1900.  —  Azevedo  Sodre  und  Couto,  Das  Gelbfieber, 
NothnageVs  Hdb.  d.  sp.  P.  u.  Th.  V.  Bd.  IV  2  190L 

Soweit  geschichtlich  beglaubigte  Nachrichten  auf  uns  gekommen 
sind,  sprechen  die  bekannt  gewordenen  Ausbrüche  des  Gelbfiebers, 
seine  geogi-aphische  Verbreitung  und  die  besonderen  klimatischen  Be- 
dingungen, unter  denen  seine  Herrschaft  sich  bisher  manifestiert  hat, 
für  die  Annahme,  die  Krankheit  als  eine  spezielle  Seuche  der  warmen 
Länder  anzusehen.  Die  Heimat  des  Gelbfiebers  wird  von  allen  For- 
schem nach  dem  westindischen  Archipel  verlegt,  wo  insbesondere  die 
grossen  Antillen  und  die  Küsten  des  mexikanischen  Golfes  als  ende- 
mische Herde  der  Krankheit  sich  im  Laufe  der  Zeiten  erwiesen  haben. 
Ausserhalb  dieses  Gebietes  ist  das  Gelbfieber  wiederholt  an  der  atlan- 

53* 


336  Victor  Fossel. 

tischen  Küste  von  Nordamerika,  an  der  Westküste  von  Afrika  und 
von  Europa  epidemisch  aufgetreten,  hat  sich  aber  erst  um  die  Mitte 
des  19.  Jahrhunderts  in  Brasilien  dauernd  eingenistet  und  weitere 
Länderstriche  des  südamerikanischen  Kontinents  erobert.  Wie  jedoch 
in  den  meisten,  über  die  engere  Heimat  des  Gelbfiebers  hinausreichen- 
den Epidemien  nachgewiesen  oder  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit 
vermutet  werden  konnte,  fand  hier  unzählige  Male  die  Einschleppung 
der  Seuche  aus  dem  endemischen  Gebiete  der  Antillen  statt,  so  dass 
die  von  einigen  Schriftstellern  aufgestellte  Behauptung,  das  Gelbfieber 
habe  seinen  ursprünglichen  Sitz  an  der  afrikanischen  Westküste  inne- 
gehabt und  sei  von  hier  aus  nach  den  Tropenländern  der  westlichen 
Hemisphäre  importiert  worden,  auf  eine  vage  Hypothese  zurückzu- 
führen ist.  Wenn  auch  unbestritten  die  Küste  von  Guinea  (Sierra 
Leone)  als  ein  endemischer  Herd  der  Krankheit  im  Laufe  des  19.  Jahr- 
hunderts den  Ausgangspunkt  für  deren  Verbreitung  an  dem  westafrika- 
nischen Meeresgestade  und  seinen  benachbarten  Inseln  gebildet  hat, 
so  ist  es  doch  weit  mehr  berechtigt,  die  Infektion  dieses  Landstriches 
von  den  Antillen  abzuleiten,  demnach  das  genannte  westafrikanische 
Gebiet  als  einen  sekundären  Herd  anzuerkennen. 

Unsere  historischen  Kenntnisse  über  das  Vorkommen  des  Gelb- 
fiebers überhaupt  reichen  nicht  über  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
hinaus.  Die  von  spanischen  und  französischen  Autoren,  zumeist  Laien, 
gebrachten  Nachrichten  über  die  Verheerungen,  die  die  Krankheit 
unter  den  mit  Columbus  1493  auf  St.  Domingo  gelandeten  Mann- 
schaften und  unter  europäischen  Ansiedlern  im  Laufe  des  16.  Jahr- 
hunderts angerichtet  haben  sollte,  entbehren  jeder  sicheren  ärztlichen 
Beschreibung  der  Natur  der  Epidemien  und  lassen  bei  dem  notorisch 
bösartigen  Charakter  der  in  Mittelamerika,  vornehmlich  auf  dessen 
Küstenstrichen  und  Flussniederungen  herrschenden  Malariafieber,  die 
erwiesenermassen  den  vordringenden  Fremdlingen  in  der  „Neuen  Welt" 
zum  Verderben  geworden  sind,  die  begründete  Voraussetzung  zu,  dass 
es  sich  hier  weit  eher  um  schwere  Formen  der  biliösen  remittierenden 
Fieber  gehandelt  habe,  mit  welchen  bekanntlich  auch  in  späterer  Zeit 
das  Gelbfieber  nicht  selten  verwechselt  worden  ist. 

Die  ersten,  sicher  beobachteten  Ausbrüche  des  Gelbfiebers  auf 
dem  amerikanischen  Weltteile  fallen  in  das  Jahr  1635,  von  welcher 
Zeit  an  eine  auf  der  westindischen  Insel  Guadeloupe  beginnende 
Epidemie  während  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  zu  ver- 
folgen ist,  die  von  kürzeren  oder  längeren  Intervallen  unterbrochen, 
über  die  grossen  und  kleinen  Antillen  sich  hinzog.  Insbesondere  ge- 
wann diese  Epidemiekette  in  den  Jahren  1693 — 1699  ganz  bedeutenden 
Umfang,  sie  strahlte  nach  einzelnen  Hafenplätzen  des  mexikanischen 
Golfes,  nach  verschiedenen  Handelsstädten  der  nordamerikanischen 
Ostküste  aus  und  drang  südwärts  bis  Venezuela.  In  Veracruz  war, 
wie  berichtet  wird,  bis  zum  Jahre  1699  das  Gelbfieber  völlig  unbe- 
kannt. Seither  ist  es  dort  endemisch  geworden,  hat  nach  anderen 
Punkten  der  Golfküste  häufig  den  Weg  gefunden  und  in  Alvarado, 
Tlacotäplam,  Laguna  und  Campeche  festen  Fuss  gefasst.  Die  von 
Azevedo  Sodre  und  Couto  berichtete  Gelbfieberepidemie,  die  sich 
in  den  Städten  Pernambuco,  Bahia  und  Olinda  1686  entwickelt  und 
dann  bis  1696  im  Lande  fortgedauert  hatte,  bietet  in  historischer 
Richtung  ein  besonderes  Interesse,  weil  nach  den  genannten  brasilia- 
nischen   Häfen    die    Krankheit    direkt    durch    ein    von    der    west- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  837 

afrikanisclien  Insel  S.  Thome  gekommenes  Fahrzeug  eingeschleppt 
worden  ist. 

Das  ganze  18.  Jahrhundert  hindurch  wiederholten  sich  die  Gelb- 
fieberepidemien in  Westindien  und  auf  dem  amerikanischen  Festlande. 
Als  schwere  Seuchenperioden  werden  die  Jahre  1745 — 1748,  1793  bis 
1799  bezeichnet,  namentlich  während  des  letzten  Zeitabschnittes 
wurden  zahlreiche  Städte  Nordamerikas,  sowohl  Küstenplätze  wie  An- 
siedelungen au  den  grossen  schiffbaren  Strömen  in  heftiger  Weise  von 
der  Seuche  heimgesucht.  Xewyork.  Boston,  Neworleans,  Bristol,  Bal- 
timore, Philadelphia  u.  a.  Centren  des  Verkehres  liatten  heftige  In- 
vasionen des  ..amerikanischen  Typhus"  zu  überstehen. 

Sehen  ^ir  von  der  isoliert  gebliebenen  Einschleppung  des  Gelb- 
fiebers im  Jahre  1740  auf  südamerikanischen  Boden,  in  Guajaquil.  ab, 
so  begegnen  -wir  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  dem  neuerlichen 
Auftreten  des  Gelbfiebers  an  der  Westküste  von  Afrika,  wo  im  Jahre 
1778  in  der  an  der  Ausmündung  des  Senegal  gelegenen  Küstenstadt 
St.  Louis  die  Krankheit  als  Epidemie  beobachtet  und  gleich  den  späteren 
Ausbrüchen  auf  eine  Einschleppung  aus  der  Sierra  Leone,  dem  be- 
rüchtigten Stammsitze  perniciöser  Fieber,  zurückgeführt  wurde.  Auch 
in  Europa  ereigneten  sich  während  des  18.  Jahrhunderts  wiederholte 
Ausbrüche  der  Seuche,  die  jedoch  auf  wenige  Hafenstädte  der  Süd  West- 
küste der  iberischen  Halbinsel  sich  beschränkt  hatten.  So  erfolgte  die 
erste  Einschleppung  des  Gelbfiebers  in  Spanien  im  Jahre  1700  nach 
Cadiz.  wo  dasselbe  auch  in  den  Jahren  1730—31.  1733 — 34,  1764  und 
1780  epidemisch  auftrat,  ohne  aber  über  die  Nachbarschaft  der  Stadt 
liinauszugreifen.  Lissabon  hatte  im  Jahre  1723,  Malaga  im  Jahre 
1741  unter  der  Krankheit  schwer  zu  leiden. 

Verfolgen  wir  den  zeitlichen  Gang  des  Gelbfiebers  innerhalb  der 
ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts,  so  finden  wir  zunächst  in  Mittel- 
und  Nordamerika  vom  Beginne  des  Säculums  an  eine  die  Jahre  1800 
bis  1805  erfüllende  Epidemie,  die  auf  den  grossen  Antillen  sowohl 
wie  an  der  Ostküste  von  Central-  und  Nordamerikas  sich  verbreitet 
hatte.  Ohne  in  die  einzelnen,  rasch  einander  folgenden  Ausbrüche 
des  Gelbfiebers  innerhalb  dieses  eigentlichen  Verbreitungsgebietes  ein- 
zugehen, begegnen  wir  wiederholten  pandemischen  Zügen  der  Seuche, 
die  in  den  Jahren  1819—20,  1837—1839  ganz  Westindien,  die  Golf- 
küste von  Südamerika,  die  mexikanische  Küste  und  viele  Städte  der 
nordamerikanischen  Unionsstaaten  ergriffen  hatte. 

Weniger  ausgedehnt  waren  in  diesem  Zeiträume  die  AVanderungen 
des  Gelbfiebers  auf  dem  südamerikanischen  Festlande.  Die  im  Jahre 
1842  erfolgte  Verschleppung  der  Krankheit  nach  Guajaquil  am  stillen 
Ocean  steht  ziemlich  vereinzelt  da.  Erst  mit  dem  Jahre  1849  ge- 
winnt die  Geschichte  des  Gelbfiebers  für  Südamerika  wiederum  Be- 
deutung, nachdem  das  Land  seit  dem  Jahre  1686,  also  fast  zwei  Jahr- 
hunderte hindurch  von  der  Seuche  verschont  geblieben  war.  Durch 
ein  von  Neworleans  angekommenes  Fahrzeug  wurde  Bahia  infiziert, 
die  rasch  anschwellende  Epidemie  griff  nach  Rio  de  Janeiro,  Per- 
nambuco,  in  den  nächsten  Jahren  nach  anderen  Küstenstädten  über 
und  verbreitete  sich  längs  der  Flussläufe  im  Innern  des  Landes. 

An  der  Westküste  von  Afrika  datiert  der  Wiederausbruch  des 
Gelbfiebers  vom  Jahre  1816,  wo  es  von  der  Sierra  Leone  wiederholt 
in  der  folgenden  Zeit  seinen  Ausgang  nehmend  nach  der  Kongoküste, 
nach   Ascension,    den    kanarischen   und    kapverdischen   Inseln   Ver- 


838  Victor  Fossel. 

schleppungen  erfuhr.  Ungewöhnlich  schwere  Epidemien  ereigneten 
sich  in  Senegambien  in  den  Jahren  1830  und  1837,  innerhalb  welcher 
nahezu  die  ganze  europäische  Einwohnerschaft  von  der  Krankheit 
dahingerafft  wurde. 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Geschichte  des  Gelbfiebers 
während  dieses  Zeitraumes  auf  europäischem  Boden.  Unmittelbar  am 
Beginne  des  Jahrhunderts  wurde  die  Seuche  aus  Charleston  in  Cadiz 
importiert  und  bis  zum  Jahre  1804  über  einen  grossen  Teil  der 
spanischen  Landschaften  Andalusien,  Granada,  Murcia,  Valencia,  Cata- 
lonien  und  nach  der  Insel  Majorka  verbreitet.  Die  Zahl  der  Opfer, 
die  sie  in  Spanien  gefordert  hatte,  schätzte  man  auf  53000  Menschen- 
leben. Mit  dieser  Epidemie  im  Zusammenhange  stand  der  1804  er- 
folgte Ausbruch  der  Krankheit  in  Livorno.  —  Von  neuem  zeigte  sich 
dieselbe  in  Spanien  1810,  griif  von  den  Seestädten  Cadiz,  Cartagena 
und  Gibraltar  in  das  nächstgelegene  Binnenland  über,  um  nach  winter- 
lichen Ruhepausen  erst  nach  dreijähriger  Dauer  zu  erlöschen.  —  Die 
nächste  Epidemie,  gleichfalls  durch  Bösartigkeit  und  Ausdehnung  be- 
merkbar, befiel  Spanien  in  den  Jahren  1819 — 1821,  um  welche  Zeit, 
wie  erwähnt,  das  Gelbfieber  auf  dem  westlichen  Kontinent  eine  pan- 
demische  Herrschaft  erlangt  hatte.  Wie  zwei  Dezennien  vorher 
wurden  auch  diesmal  die  südlichen  Provinzen  arg  heimgesucht;  der 
Ausbruch  der  Seuche  in  Barcelona,  die  hier  im  Herbst  1821  eine 
schreckenerregende  Höhe  erreichte,  zählt  neben  den  kurz  darauf 
folgenden  Gelbfieberepidemien  in  der  katalonischen  Binnenstadt  Tor- 
tosa  und  in  Palma,  dem  Hauptorte  der  Insel  Majorka  zu  den  schwersten 
Invasionen  in  Europa.  In  den  Jahren  1823  und  1828  blieb  die 
Krankheit  auf  den  Hafen  von  Los  Passages,  bezw.  auf  jenen  von 
Gibraltar  beschränkt. 

Nicht  weniger  zahlreichen  Epidemien  des  Gelbfiebers  begegnen 
wir  auf  der  westlichen  Hemisphäre  innerhalb  der  zweiten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts.  In  den  Jahren  1852—1853,  1855—1856,  1860, 
1867—1868,  1873,  1875,  1876—1878  nahm  dasselbe  den  Charakter 
einer  Pandemie  an.  Im  letztgenannten  Jahre  wurden  in  den  Ver- 
einigten Staaten  allein  132  Städte  davon  befallen  und  ungefähr 
16000  Personen  getötet.  Ausserhalb  dieser  Epidemiejahre,  zu  denen 
noch  die  bösartigen  Ausbrüche  des  Gelbfiebers  in  der  Havanna  1887 
und  1892  zu  rechnen  sind,  etablierte  sich  die  Krankheit  vorübergehend 
an  unzähligen  Orten  von  Westindien,  Mexiko,  den  nordamerikanischen 
Unionsstaaten,  in  deren  südlichen  Territorien  auch  in  den  Jahren 
1897 — 1899  die  Seuche  längs  der  Wasserstrassen  und  der  Eisenbahn- 
linien bis  tief  in  das  Innere  des  Landes  vordrang.  —  In  Südamerika 
erhob  sich  das  im  Jahre  1852  innerhalb  des  brasilianischen  Reiches 
scheinbar  zur  Ruhe  gekommene  Gelbfieber  nach  kurzer  Frist  von 
neuem,  gelangte  hier  zu  einer  weiten  Verbreitung,  fand  im  Jahre  1854 
in  Peru,  1857  in  den  Rio  la  Plata-Staaten  Eingang,  wo  die  Krankheit 
auch  innerhalb  der  nächsten  zwei  Jahrzehnte  öfter  beobachtet  wurde. 
Ein  heftiger  Ausbruch  des  Gelbfiebers  befiel  Buenos  Ayres  iiji 
Jahre  1871,  wo  in  der  Stadt  allein  14  000  Einwohner  der  Seuche  erlegen 
sind.  In  Brasilien  wurden  vorzugsweise  die  Hafenstädte  Bahia,  Rio  de 
Janeiro,  Pernambuco  und  Santos  vom  Gelbfieber  heimgesucht,  das  hier 
Jahre  hindurch  epidemisierte  und  seit  1869  niemals  gänzlich  ver- 
schwunden ist.  In  Rio  de  Janeiro  waren  die  Jahre  1880,  1883,  1886, 
1889,  1891  und  1894  von  heftigeren  Ausbrüchen  der  Krankheit  aus- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  839 

gefüllt,  die  1889  im  Staate  S.  Paulo  tief  in  das  Innere  des  Landes 
vorgedrungen  und  1892—1895  in  Santos  mit  einer  ungewöhnlich  hohen 
Sterblichkeit  verbunden  war. 

An  der  westafrikanischen  Küste  sind  Senegambien.  die  Sierra 
Leone,  die  Goldküste,  die  Congoküste,  Ascension,  die  Capverdischen 
und  Canarischen  Inseln  seit  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  wiederholt, 
namentlich  in  den  Jahren  1862,  1868,  1878,  1891  und  1895  vom  Gelb- 
fieber heimgesucht  worden.  Schon  der  zeitliche  Zusammenhang 
mehrerer  dieser  Ausbrüche  mit  dem  stärkeren  Anschwellen  der  Krank- 
heit auf  der  westlichen  Hemisphäre  lässt  die  Vermutung  französischer 
Aerzte,  die  Augenzeugen  der  Epidemien  in  St.  Louis  am  Senegal  ge- 
wesen sind,  als  gerechtfertigt  zu.  dass  es  sich  hierbei  um  Einschleppung 
des  Infektionskeimes  aus  Amerika  gehandelt  habe. 

Auf  europäischem  Boden  endlich  tritt  in  der  zweiten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  die  Epidemie,  die  im  Jahre  1857  Lissabon  befallen 
hatte,  als  einer  der  bekanntesten  Ausbrüche  in  der  Geschichte  des 
Gelbfiebers  auf  der  iberischen  Halbinsel  hervor.  Nach  Lyons  sollen 
schon  ein  Jahr  zuvor  in  der  portugiesischen  Hauptstadt  wie  in  Oporto 
verdächtige  Krankheitsfälle  sich  gezeigt  haben.  Die  schwere  Epidemie 
in  Lissabon  nahm  aber  erst  im  Juli  1857  ihren  Anfang,  blieb  mit 
Verschonung  der  Vorstädte  auf  die  eigentliche  Stadt  beschränkt  und 
erlosch,  nachdem  sie  19500  Erkrankungen  und  6859  Sterbefälle  ver- 
ursacht hatte,  mit  Eintritt  der  Winterzeit.  Wie  ausser  Zweifel  steht, 
wui^de  die  Krankheit  durch  den  Schiffsverkehr  aus  Amerika  einge- 
schleppt. Gleichzeitig  epidemisierte  dieselbe  in  Belam,  Olivaes  und 
Almada.  —  In  der  nächstfolgenden  Periode  wurde  das  Gelbfieber  in 
einzelnen  englischen  und  französischen  Häfen  durch  Kranke,  die  mit 
überseeischen  Fahrzeugen  dahin  gekommen  waren,  unter  der  unmittel- 
bar mit  dem  Hafendienste  beschäftigten  Einwohnerschaft  verbreitet, 
so  1851,  1864,  1865  in  Swansea,  1852,  1866  und  1867  in  Southampton, 
1856  in  Brest  und  1861  in  St.  Nazaire.  Zu  einer  bedrohlichen  Epi- 
demie erhob  sich  die  Krankheit  im  Jahre  1870  in  Barcelona,  wohin 
sie  aus  Westindien  überbracht,  zuerst  die  nächste  Umgebung  des 
Hafens,  sodann  die  Vorstadt  Barceloneta  und  endlich  die  innere  Stadt 
ergriffen  und  von  hier  aus  in  Alicante,  Valencia  und  auf  der  Insel 
Majorka  ihre  Fortsetzung  gefunden  hat.  —  Die  letzte,  mehr  beschränkt 
gebliebene  Epidemie  in  Spanien  betraf  Madrid  im  Jahre  1878,  be- 
merkenswert dadurch  geworden,  dass  aus  Cuba  zurückkehrende 
Truppen,  die  im  besten  Gesundheitszustande  angekommen  und  auch 
später  von  der  Seuche  frei  geblieben  waren,  mit  ihrer  Bagage  den 
Krankheitskeim  eingeschleppt  und  der  Bevölkerung  mitgeteilt  hatten. 

Ueberblicken  wir  die  in  gedrängter  Erzählung  dargelegten  Wande- 
rungen des  Gelbfiebers,  so  finden  vrir  dessen  Verbreitungsgebiet  auf 
dem  westlichen  Kontinent  vom  44"  39  N.Br.  (Halifax)  bis  zum 
34 "  54  S.Br.  (Montevideo),  in  der  alten  Welt  vom  51  ^  37  X.Br. 
(Swansea),  bis  zum  10*^  S.Br.  (Dondo  an  der  westafrikanischen  Küste, 
Provinz  Angola)  begrenzt,  lieber  diese  Zone  hinaus  ist  die  Krank- 
heit bisher  weder  in  Amerika,  Europa  oder  Afrika  vorgerückt,  in 
Asien  und  Australien  überhaupt  noch  niemals  beobachtet  worden. 
Wie  die  epidemiologischen  Erfahrungen  lehren,  bedarf  das  Gelbfieber 
zu  seiner  Entwicklung  und  weiteren  Verbreitung  eines  tropischen 
oder  subtropischen  Klimas;  sein  konstantes  Vorkommen  beschränkte 
sich  bisher  nur  auf  Gegenden,  deren  Wintertemperatur  nicht  unter 


840  Victor  Fossel. 

20**  sinkt,  und  seine  epidemische  Herrschaft,  die  an  grössere  Luft- 
feuchtigkeit und  Regenzeiten  geknüpft  erscheint,  erstreckte  sich  vor- 
wiegend auf  die  Sommer-  und  Herbstmonate,  während  die  kalte  Jahres- 
zeit sein  dauerndes  oder  aber  nur  sein  temporäres  Erlöschen  herbei- 
zuführen geeignet  ist.  Wenn  das  Gelbfieber  an  der  Meeresküste,  an 
den  Ufern  grosser  Flüsse  zu  erscheinen  pflegt,  so  darf  gleichzeitig 
gesagt  werden,  dass  es  in  der  Regel  die  Ebene  bevorzugt  und  nur 
ausnahmsweise  über  höhere  Bodenelevationen  sich  erhebt,  um  dort  in 
epidemischer  Form  zu  stände  zu  kommen. 

Wie  alle  bisher  ermittelten  Modalitäten  der  Ausbreitung  ergeben, 
ist  es  einzig  und  allein  der  Schiffsverkehr,  auf  dessen  Wegen  das 
Gelbfieber  seine  Verschleppung  gefunden  hat.  Wie  weiters  bekannt 
geworden,  ist  die  Krankheit  nicht  unmittelbar  von  Person  zu  Person 
ansteckend,  demnach  im  heutigen  Sinne  nicht  direkt  kontagiös,  wohl 
aber  ist  die  Entwicklung  des  Gelbfiebers,  mag  es  nun  auf  sporadische 
Fälle  eingeengt  bleiben  oder  als  verheerende  Volkskrankheit  sich  ent- 
falten, an  gewisse  örtliche  Bedingungen  angewiesen,  unter  denen 
Scheube  den  Boden  als  einen  vorzüglich  prädisponierenden  Faktor 
bezeichnet.  Hingegen  vermag  der  Krankheitskeim  auch  auf  Schiffen, 
die  mit  verseuchten  Häfen  oder  mit  infizierten  Fahrzeugen  in  Ver- 
bindung gestanden  sind,  zum  Ausbruch  zu  gelangen  und,  wie  zahl- 
reiche Vorkommnisse  Ijezeugen,  durch  Effekten,  Kleider,  Tier- 
häute u.  s.  w.  auf  weite  Entfernungen  übertragen  zu  werden,  um 
dann  unter  günstigen  Verhältnissen  die  Quelle  isolierter  oder  gehäufter 
Erkrankungen  zu  bilden.  Dass  auf  das  epidemische  Auftreten  des 
Gelbfiebers  ebenso  wie  auf  jenes  anderer  Infektionskrankheiten  Schmutz 
und  andere  hygienische  Missstände  im  hohen  Masse  fördernd  ein- 
wirken und  geradezu  in  vielen  schweren  Ausbrüchen  der  Krankheit 
sowohl  auf  Schiffen,  wie  in  Hafen-  und  Binnenstädten  zu  belastenden 
Hilfsursachen  geworden  sind,  hat  die  Geschichte  der  Seuche  unwider- 
leglich dargethau. 

Gedenken  wir  schliesslich  der  Stellung,  die  das  Gelbfieber  seit 
seinem  ersten,  sicheren  Bekanntwerden  in  der  Pathologie  eingenommen 
hat,  so  zeigt  sich  in  den  Beschreibungen  früherer  Zeit  nahezu  regel- 
mässig die  Krankheit  unter  die  „Sumpffieber"  eingereiht  und  als  bös- 
artigste Abart  der  remittierenden  Gallenfieber  aufgefasst.  Später  hat 
man  versucht,  nach  dem  Vorgange  von  Sau  vages  das  Gelbfieber 
als  Typhus  icterodes  den  typhösen  Seuchen  anzugliedern,  eine 
Systematisierung,  die  auch  noch  in  neuerer  Zeit  durch  Vortäuschung 
isolierter  Gelbfiebererkrankungen  unter  der  Diagnose  des  biliösen 
Thyphoids  und  umgekehrt  ihre  Reminiscenz  erfahren  hat.  Etwa  um 
die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  hat  der  eigenartige  Verlauf  und  der 
pathologisch-anatomische  Befund  des  Krankheitsprozesses  Anlass  ge- 
geben, das  Gelbfieber  sowohl  in  ätiologischer  wie  in  klinischer  Rich- 
tung als  eine  Krankheit  sui  generis  anzuerkennen  und  aus  der  ver- 
meintlich engen  Verwandtschaft  mit  Malaria  allmählich  loszulösen. 
Auch  die  mit  der  Erklärung  des  Gelbfiebers  als  einer  Sumpf-  und 
ßodenkrankheit  zusammenhängende  Ansicht,  dieselbe  nur  aus  der  Zer- 
setzung organischer  Materien  lediglich  entstehen  zu  lassen,  musste 
unter  dem  Gewichte  der  festgestellten  thatsächlichen  Aufschlüsse  über 
ihre  Verschleppung  und  Einnistung  in  Lokalitäten,  wo  solche  Vor- 
bedingungen gänzlich  mangelten,  aufgegeben  werden.  Wenn  wir  über 
den  jahrelangen,  hartnäckigen  Streit,  ob  das  Gelbfieber  den  konta- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  841 

giösen  oder  miasmatischen  Yolksseuclien  angehört,  schweigend  hinweg- 
gehen, so  haben  wir  vom  geschichtlichen  Standpunkte  um  so  mehr 
Grund  anzufügen,  dass  inmitten  der  langwendigen  Erörterungen  dieser 
Frage  immer  deutlicher  die  Anschauung  in  den  Vordergrund  des  ärzt- 
lichen Interesses  gerückt  war.  es  müsse  dem  Gelbfieber  gleichfalls  ein 
spezifischer  Krankheitskeim  zu  Grunde  liegen  und  an  dessen  Vor- 
handensein und  Reproduktion  die  Entwicklung  der  Seuche  gebunden 
sein.  Man  kam  freilich  lange  Zeit  nicht  überein,  ob  die  Träger  des 
supponierten  Krankheitsgiftes  tierischer  oder  pflanzlicher  Natur  seien, 
bis  die  Fortschritte  der  Bakteriologie  auch  für  die  Erforschung  des 
parasitären  Charakters  der  Krankheit  die  Wege  der  wissenschaftlichen 
Untersuchung  vorgezeichnet  haben.  Seither  war  eine  grosse  Zahl  von 
Aerzten  bemüht,  die  Miki'oben  des  Gelbfiebers  aufzufinden ;  wir  nennen 
unter  denen,  die  in  den  letzten  zwei  Dezennien  daran  hervorragenden 
Anteil  genommen  haben.  nurFinaly,  Freire,  Carmona  y  Valle, 
da  Lacerda,  Giebier.  Havelburg  und  Sternberg.  Die  Be- 
urteilung, ob  und  welche  Grundlagen  Sanarelli  mit  seinen  im 
Jahre  1896  begonnenen  wertvollen  Studien  über  den  Bacillus 
icteroides  für  die  Aetiologie  und  Pathogenese  des  Gelbfiebers  ge- 
schafi"en  hat,  liegt  ausserhalb  unserer  Aufgabe. 


Vni.  Blattern. 
Liüeratur. 

Morton,  Pyretologia,  1692.  —  Mead,  De  variolis  et  morhillis.  17 47.  — 
Dimsdalles,  Unterricht .  .  .  die  Kinderhlattern  einzupfropfen.  176S.  —  Contugno, 
De  sedibus  variolarum  syntagma,  1771.  —  Grüner,  Morbonim  antiquitales,  1774.  — 
Sarcone,  Von  den  Kinderpocken,  1782.  —  Sydenhani,  l.  c.  1786.  —  Hosen- 
stein,  Kinderkrankheiten,  1787.  —  Girtaner,  l.  c.  1794.  —  Junker,  Gemeinnütz. 
Vorschläge  tcider  die  Pockennoth.  1796.  —  Idem,  Archiv  d.  Aerzte  etc.,  1797.  — 
Jenner,  Disquisitio  de  cansis  et  e/fectibus  variolarum,  1799.  —  Pearson,  Unter- 
suchg.  üb.  d.  Gesch.  d.  Kuhpocken,  1800.  —  de  Carro,  Beob.  u.  Erfahrg.  üb.  d. 
Impfung,  1801.  —  Ferro,  lieber  d.  Xutzen  d.  Kuhpockenimpfung,  1802.  —  Sacco, 
Trattato  di  vaccinagione,  1809.  —  Lüders,  Versuche  e.  krit.  Geschichte  d.  Blattern- 
impfung, 1824.  —  Krause,  Veb.  d.  Alter  der  Menschenpocken.  1825.  —  Draut, 
Die  Geschichte  d.  Blatternimpfung,  1829.  —  Choulant,  Ediv.  Jenner.  In  d.  Zeit- 
genossen, 1829.  —  Beiter,  Beiträge  z.  richtg.  Beurtheilung  der  Kuhpocken,  1846.  — 
Eini^r,  Die  Blatternkrankheit,  1853.  —  Kussmaul,  Zwanzig  Briefe  .  .  .  1870.  — 
Curschmann,  Die  Pocken,  Ziemssen  Hdb.  d.  sp.  P.  u.  Th.  1874.  —  Hohn,  Handb. 
d.  Vaccination,  1875.  —  Vogt,  Für  nnd  wider  die  Kuhpockenimpfung,  1879.  — 
Becker,  Handb.  d.  Vaccinationslehre,  1879.  —  Wernher,  Das  erste  Auftreten  und 
d.  Verbreit.  d.  Blattern,  1882.  —  Pfeiffer,  Die  Impfung.  In  Gerhards  Hdb.  d. 
Kinderkh.  1887.  —  Gerstäcker,  Die  histor.  Entwickig.  d  Revaccination,  D. 
Viertel jsch.  f  off.  Gespfl.  20.  Bd.  1888.  —  Ortli,  Janus  V  1900.  —  Immer  mann, 
NothnageVs  Hdb.  d.  sp.  P.  u.  Th.  IV.  Bd.  1896.  —  Denkschrift  des  kais.  Ge- 
sundheitsamtes 1896.  —  Kubier,  Geschichte  der  Pocken  und  der  Impfung,  1901. 

Die  entsetzlichen  Verwüstungen,  die  unermessliche  Zahl  von  Ver- 
stümmelungen und  Todesfällen,  welche  die  Pocken  im  Laufe  der 
Zeiten  über  die  Menschheit  gebracht,  haben  schon  frühzeitig  die  me- 
dizinische Forschung  mit  der  Frage  nach  dem  Alter  und  der  Heimat 
derselben  beschäftigt.  Trotz  aller  Gelehrsamkeit  vermochte  aber  die 
historische  Pathologie  nicht  über  Vermutungen  und  Hypothesen  hinaus- 
zukommen, wenn  der  Streit  darüber  erhoben  worden  war,  ob  die 
Blatternkrankheit  im  Altertum  vorgekommen  und  von  den  Aerzten 


842  Victor  Fossel. 

gekannt  worden  sei.  Die  in  den  medizinischen  Schriften  der  Inder, 
zunächst  im  Ayur-Yeda  des  Susruta  zu  Gunsten  der  Pocken  ge- 
deuteten Angaben  boten  ebenso  geringen  Anhalt,  wie  jene  der  Hippo- 
kratischen  Schriften  oder  andere  aus  den  Werken  griechischer  und 
römischer  Autoren  herangezogene  Belege  für  die  Kenntnis  der  Seuche. 
Selbst  die  von  späteren  Aerzten  aufgebotenen  Untersuchungen  hielten 
einer  strengeren  Kritik  nicht  stand;  die  mit  allen  Mitteln  philolo- 
gischer und  medizinischer  Beweisführung  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
aufgewendete  Arbeit,  das  Alter  der  Pocken  in  der  Vorzeit  nachzu- 
weisen, ergab  ein  gleich  unbefriedigendes  Resultat,  wie  die  scharf- 
sinnigen dem  gleichen  Zwecke  gewidmeten  Bemühungen  der  Aerzte 
des  18.  Jahrhunderts,  unter  denen  Hahn  für  und  Werlhof  gegen 
die  Bekanntschaft  der  Griechen  mit  der  Variola  als  Wortführer  aiif- 
getreten  waren.  Bei  der  unsicheren  und  lückenhaften  Krankheits- 
beschreibung, welche  die  hellenischen  Meister  der  Pathologie  gerade 
den  lokalen  Symptomen  eines  Krankheitsprozesses  zuzuwenden  pflegten, 
fällt  es  überaus  schwierig,  in  ihren  Schilderungen  die  erforderliche 
Klarheit  von  der  Erkenntnis  und  Unterscheidung  exanthematischer 
Seuchenformen  aufzubringen.  So  ist  es  heute  noch  eine  umstrittene 
Frage  ob  die  von  Galen  beschriebene  Pest  des  Antonin,  die  Pest 
des  Justinian  im  6.  Jahrhundert  und  andere  mörderische  Epidemien 
der  ersten  Jahrhunderte  unserer  Zeitrechnung  der  Pockenkrankheit 
zuzuzählen  sind  oder  nicht. 

Ebenso  unfruchtbar  an  positiven  Ergebnissen  ist  die  Erörterung 
der  Frage  nach  der  Heimat  der  Krankheit  geblieben.  Hir  massen- 
haftes Vorkommen  auf  dem  afrikanischen  Kontinent  wurde  längst  für 
die  Annahme  verwertet,  als  ob  hier  der  Ursprungsherd  der  Pocken 
gelegen  gewesen  sei  und  sie  von  da  aus  nach  Asien  und  Europa  den 
Weg  genommen  hätten.  Dieser  lediglich  durch  neuere  Reiseberichte 
gestützten  Behauptung,  die  allerdings  im  Hinblicke  auf  die  unge- 
schwächte Fortdauer  schwerer  Blatternepidemien  unter  den  ,. Völkern 
des  dunklen  Erdteiles"  den  Schein  der  hohen  Wahrscheinlichkeit  für 
sich  gewonnen  hat,  stehen  glaubwürdige  Nachrichten  gegenüber, 
wonach  in  Asien  seit  grauer  Vorzeit  die  Pocken  heimisch  und  in  den 
ältesten  Schriftwerken  der  Chinesen  zwischen  dem  12.  und  13.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  als  Seuchenplage  aufgeführt  erscheinen.  In  Indien 
soll  nach  Moore  die  Pockenseuche  seit  unvordenklichen  Zeiten  ge- 
kannt, gegen  deren  Abwehr  eine  besondere  Pockengottheit  verehrt 
und  ein  eigener  Tempel  dienst  in  Uebung  gewesen  sein.  Die  moderne 
Sanskritforschung  hat  jedoch,  wie  Orth  berichtet,  diese  Angaben  als 
irrige  nachgewiesen. 

Gegen  die  unsicheren  und  sagenhaften  Nachrichten  der  Blattern 
im  Altertum  gewinnen  die  aus  dem  Mittelalter  stammenden  Auf- 
zeichnungen über  die  Herrschaft  dieser  Seuche  entschieden  an  Deut- 
lichkeit und  Verlässlichkeit.  Nach  arabischen  Schriftstellern ,  deren 
Erzählungen  freilich  nicht  der  märchenhaften  Ausschmückung  er- 
mangeln, soll  die  Krankheit  um  das  Jahr  571  n.  Chr.  im  sogenannten 
Elephantenkriege  das  abessynische  Heer  vor  Mekka  vernichtet  haben. 
Gleichzeitig  berichteten  Gregor  von  Tour  und  Marius  von 
Avenches  über  eine  in  den  Jahren  570  und  580  in  Frankreich 
und  Italien  grassierende  Seuche,  welcher  sie  die  Namen:  „Lues  cum 
vesicis",  „Pustulae",  „Morbus  dysentericus  cum  pusulis", 
„morbus  cum  profluvio  ventris  et  Variola"   beilegten  und 


! 


Geschichte  der  epidemischen  Ejankheiten.  843 

ausdriicklicli  von  der  Bubonenpest  (der  ^clades  inguinaria")  unter- 
schieden. Im  Volke  gab  man  der  Krankheit  den  Namen  ,.C orales" 
und  suchte  den  Ausschlag  durch  Schröpfköpfe.  Kantharidenumschläge 
zur  Entwicklung  zu  bringen.  Gregor  von  Tours  spricht  deutlich 
von  "weissen,  harten,  schmerzenden  Pusteln,  die  nach  erlangter  Eeife 
von  Eiter  erfüllt  waren  und  solchen  ausströmen  Hessen,  so  dass  die 
Kleider  schmerzhaft  am  Leibe  anklebten. 

Den  von  geistlichen  Chronisten  überlieferten,  wertvollen  Angaben 
steht  aus  dem  Abendlande  kein  Zeugnis  eines  zeitgenössischen  Arztes 
zur  Seite;  hingegen  gedenkt  der  im  7.  Jahrhundert  in  Alexandiien 
lebende  Arzt  Ahron  in  den  beiEhazes  angeführten  Stellen  des  ver 
loren  gegangenen  Originalschriftstückes  in  einer  klaren  Schilderimg 
der  Pockenerkrankung,  die  er  als  ein  in  den  Xilländern  endemisch  vor- 
kommendes Leiden  hinstellt.  Nach  ihm  führen  arabische  Autoren  die 
Blattern  als  eine  gewöhnliche  Krankheit,  zumal  der  Kinder,  auf.  Die 
berühmteste  Darstellung  der  Pocken  bildet  in  der  arabischen  Litteratui' 
die  von  Rhazes  im  10.  Jahrhundert  verfasste  Schrift  ,.de  variolis 
et  morbillis".  Er  unterscheidet  darin  die  als  ,.Dschedrij~  be- 
zeichneten Blattern  von  den  Masern  (..Hasbah")  an  vielen  Stellen, 
anderenteils  erscheint  eine  konsequente,  streng  geübte  nosologische 
Trennung  in  dem  Werke  nicht  durchgeführt.  Rhazes  erblickt  in 
der  Variola  eine  unvermeidliche  Krankheit,  der  kaum  ein  Sterblicher 
entgehe,  er  hält  sie  für  minder  gefahrvoll  als  die  Masern  und  will 
nur  in  den  Zufällen,  die  das  Auge  in  Mitleidenschaft  ziehen,  ernste 
Besorgnisse  gelten  lassen.  Die  Betonung  der  kontagiösen  Natur  der 
Variola  tritt  bei  ihm  auffälligerweise  in  den  Hintergrund,  denn 
Rhazes  sieht  in  ihr  einen  Gährungsprozess,  hervorgerufen  durch  die 
Verunreinigung  des  kindlichen  Organismus  infolge  des  in  den  ,. Poren 
des  Fleisches"  zurückgehaltenen  mütterlichen  Menstrualblutes.  Dieser 
wohlthätige  Reinigungsvorgang  ,.ex  impuritate  sanguinis  matris"  sei 
gleichsam  eine  Krise,  denn  das  kindliche  Blut  müsse  aufbrausen,  wie 
der  Saft  der  Früchte,  eine  Anschauung,  die  selbst  noch  im  XIX.  Jahr- 
hundert ihre  Vertreter  fand.  Die  Beschreibung,  welche  Rhazes  von 
dem  Exantheme  giebt.  ist  in  vielen  Stücken  zutreffend;  die  Therapie, 
welche  in  der  Anempfehlung  von  kühlenden  Getränken  anfanglich  in  der 
Verordnung  von  Dampfbädern  und  späterhin  von  öligen  Einreibungen 
und  Adstringentien  besteht,  erscheint  einfach  und  zweckmässig. 

Im  gleichen  Sinne  bespricht  Avicenna  die  Blattern  (und  Mor- 
billen).  zu  denen  noch  als  dritte  und  verwandte  Fonii  die  „Humak" 
oder  ..Blacciae"  gezählt  werden.  Es  fällt  schwer,  dieselben  nach 
unserer  heutigen  Terminologie  zu  deuten,  da  sie  ebenso  als  Masern 
Röthein,  Varicellen  oder  Friesel  angesprochen  werden  können. 

Die  während  des  Mittelalters  herrschenden  Anschauungen  der 
arabischen  und  arabistischen  Schriftsteller  bewegten  sich  ohne  Ab- 
weichung in  der  von  Rhazes  aufgestellten  Lehre  des  kongenitalen 
Ursprungs  der  Pocken.  Ihrer  Kontagiosität  wird,  nachdem  die  Krank- 
heit als  ein  natürlicher  und  selbstverständlicher  Vorgang  galt,  nur 
selten  Erwähnung  gethan,  obgleich  ausgedehnte  Blatternepidemien 
aus  jener  Zeit  sich  bei  den  Aerzten  des  Mittelalters  vielfach  aufge- 
zeichnet vorfinden.  Mit  grosser  Sorgfalt  wird  die  Prognose  der  Variola 
abgehandelt ;  der  unvollständige  Ausbruch  des  Exanthems,  oder  dessen 
massenhafte  Eruption  und  Konfluierung.  die  faulige  Beschaffenheit  der 
Pusteln,  deren  Uebergreifen  auf  einzelne  Organe,  wie  Augen.  Ohren, 


844  Victor  Fossel. 

Schlund,  Lungen  und  Darmkanal  galt  als  bedrohliche  Anzeichen.  Die 
Therapie  erhielt  sich  auf  dem  bereits  angedeuteten  rationellen  Regime 
der  Araber,  vornehmlich  suchte  man  mit  Hilfe  des  allgemein  beliebten 
Volksmittels  heisser  schweisstreibender  Getränke  und  übertriebener 
Einwickelungen  das  Leiden  zu  bekämpfen,  allerdings,  wie  die  Ge- 
schichte lehrt,  mit  nur  geringem  Erfolge.  Zur  Entleerung  voller 
Pusteln  bediente  man  sich  der  Eröffnung  mittels  Einstiche  oder  Ein- 
schnitte, zur  Verhütung  entstellender  Narben  wurde  eine  Auswahl 
diätetischer  und  kosmetischer  Mittel  in  Anwendung  gebracht. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdient  eine  Stelle  aus  dem  be- 
rühmten Regimen  Salernitanum,  aus  welcher  hervorgeht,  dass 
neben  der  Hintanhaltung  jeder  Gelegenheit  zur  Ansteckung  die  In- 
okulation der  Blattern  als  wirksames  Schutz-  und  Vorbauungsmittel 
angesehen  und  empfohlen  wurde. 

Es  kann  nicht  Zweck  dieser  Darstellung  sein,  die  Geschichte 
der  Pockenepidemien  nach  den  einzelnen  Zeitabschnitten  und  den  ver- 
schiedenen Länderstrichen  eingehender  zu  verfolgen.  Für  das  Mittel- 
alter wäre  es  vergebliche  Mühe,  genaue  Daten  zu  erbringen.  Die 
chronistischen  Nachrichten  lassen  meist  mit  grösserer  oder  geringerer 
Wahrscheinlichkeit  die  Annahme  zu,  dass  es  sich  bei  vielen  der  ge- 
meinhin als  „Pest"  bezeichneten  und  u.  a.  durch  Hautschwären  und 
nachträgliche  Erblindung  charakterisierten  Seuchen  um  Blattern- 
epidemien gehandelt  haben  konnte.  Vom  X.  Jahrhundert  an  mehren 
sich  aber  auffällig  die  Berichte  und  es  liegt  nahe,  die  in  der  folgenden 
Zeit  immer  weiter  um  sich  greifende  und  oft  mit  vehementer  Heftigkeit 
sich  manifestierende  Herrschaft  der  Variola  dem  zunehmenden  Ver- 
kehre, wie  er  insbesondere  während  der  Kreuzzüge  sich  entwickelt  hatte 
und  den  Massenwanderungen  der  „fahrenden  Leute"  zuzuschreiben. 
Kein  Landstrich  des  europäischen  Festlandes  blieb  von  Blatterseuchen 
verschont,  selbst  Island,  wohin  die  Krankheit  nachweislich  durch 
Schiffe  eingeschleppt  worden  war,  hatte  in  den  Jahren  1241,  1242, 
1257,  1258  und  in  späteren  Jahren  mörderische  Blatternepidemien  zu 
überstehen.  Ebenso  wurde  Grönland,  damals  eine  blühende  nor- 
mannische Kolonnie,  im  Beginne  des  XV.  Jahrhunderts  von  den  Pocken 
schwer  heimgesucht,  nahezu  entvölkert  und  fiel  für  Jahrhunderte 
hinaus  der  Vergessenheit  anheim.  In  ungeschwächter  Heftigkeit  zogen 
während  des  XVI.  und  XVII.  Jahrhunderts  die  Blattern  über  die 
Erde.  Die  europäischen  Aerzte  gedenken  im  Reformationszeitalter 
der  Krankheit  nur  vereinzelt,  weil  ihre  Alltäglichkeit  kaum  besondere 
Aufmerksamkeit  erheischte.  Umso  wichtiger  erscheint  die  Thatsache 
der  Verschleppung  der  Pocken  nach  Amerika,  wohin  sie  1507  durch 
die  Spanier  gebracht  worden  sind.  Die  Bevölkerung  der  westindischen 
Inseln,  bis  dahin  von  der  Seuche  verschont,  erlag  derselben  mit  jener 
furchtbaren  Lethalität,  die  von  jeher  das  erste  Auftreten  der  Krank- 
heit begleitet  und  ihre  hohe  Kontagiosität  unter  Naturvölkern  gekenn- 
zeichnet hat.  Dazu  kam  die  gleichzeitig  zunehmende  Negereinfuhr 
aus  Afrika,  die  bis  in  unser  Jahrhundert  hinein  oft  genug  den  Aus- 
brüchen von  Blatternepidemien  auf  der  westlichen  Hemisphäre  den 
verderblichsten  Vorschub  geleistet  hat.  So  sollen  1520  die  Pocken  durch 
einen  Negerknaben  nach  Mexiko  verpflanzt  worden  sein,  wo  ihnen 
binnen  kurzer  Zeit  S^j.y  Millionen  Menschen  zum  Opfer  fielen.  Von 
nun  an  wurde  die  Seuche  zum  ständigen  Gaste  des  neuen  Kontinents, 


i 


Geschichte  der  epidemischeu  Krankheiten.  845 

sie  hat  bis  heute  unter  den  Eingeborenen  Nord-  und  Südamerikas  in 
ungezählten  Zügen  gewütet. 

Für  die  Geschichte  der  Blattern  ist  es  bemerkenswert,  dass  um 
die  Wende  des  XV.  Jahrhunderts  in  den  Schriften  der  Laien  wie  der 
Aerzte  die  Syphilis,  la  grande  veröle,  die  man  für  eine  neue  aus 
dem  Süden  Europas  kommende  Pest  hielt,  mit  Variola  verwechselt 
oder  wenigstens  in  nahe  Beziehungen  gebracht  wurde.  Schon  früh- 
zeitig führte  die  Konfundierung  in  England  und  Frankreich  zur  Be- 
zeichnung der  Pocken  als  „small  pox"  und  ,,petite  veröle", 
während  in  Deutschland  sich  die  alten  Namen  „Blatter"  (ober- 
deutsch Blase),  ,.Pocke''  (niederdeutsch  Tasche,  Beutel)  und  ,.ür- 
schlechten"  (vom  altdeutschen  ursiaht,  Ausschlag)   erhalten  haben. 

Unter  den  zahh-eichen  Blatternseuchen  des  XVII.  Jahrhunderts 
ragt  die  Pandemie  des  Jahres  1614  hervor,  die  von  Asien  kommend 
über  Nordafrika  und  ganz  Europa  sich  erstreckt  hatte.  "Wenige  Jahre 
später  (1620)  drang  die  Krankheit  —  ob  zum  ersten  Male  bleibt  frag- 
lich —  nach  Sibirien  und  seinen  Nachbarländern  vor,  deren  Bevölkerung 
wie  einstens  jene  von  Grönland  dem  Aussterben  nahe  gebracht  worden 
war.  Immer  wieder  verheerten  die  Blattern  die  Staaten  Europas,  so 
dass  man  auf  ihre  sichere  A\'iederkehr  in  4  bis  7jährigen  Perioden  ge- 
fasst  war.  Eine  besonders  heftige  Epidemie  durchseuchte  im  Zeiträume 
von  1660—1669  in  wiederholten  Anstürmen  England,  welche  nicht  so 
sehr  wegen  ihrer  verhängnisvollen  Folgen,  sondern  deswegen  für  die 
historische  Pathologie  von  Bedeutung  geworden  ist,  weil  Sydenham 
daraus  seine  klassischen  Beobachtungen  geschöpft  und  von  nun  an 
die  Lehre  von  der  Variola  mit  seinen  rationellen  Grundsätzen,  na- 
mentlich in  therapeutischer  Richtung  befruchtet  hat. 

Ueber  die  Verbreitung  der  Blattern  innerhalb  der  ersten  Hälfte  des 
XVIII.  Jahrhunderts  liegen  nur  wenige  epidemiologische  Berichte  vor ; 
eine  genauere  "Würdigung  der  damaligen  Seuchengefahren  der  Variola 
lässt  sich  erst  von  der  Zeit  an  verfolgen,  als  die  Inokulation  dei-selben 
das  allgemeine  Interesse  in  Anspruch  zu  nehmen  begann.  Immerhin 
gebricht  es  nicht  an  einzelnen  wertvollen  Nachrichten,  aus  denen  wir 
ein  annäherndes  Bild  gewinnen  über  die  erschreckende  Herrschaft,  über 
die  Hartnäckigkeit  und  die  schweren  Verwüstungen,  welche  die  Pocken 
in  diesem  Jahrhundert  über  die  Menschheit  gebracht  haben.  Kein 
Jahrzehnt  verging,  ohne  dass  die  Seuche  nicht  in  jedem  Lande  mit 
äusserster  Heftigkeit  zum  Ausbruch  gelangt  und,  kaum  erloschen,  nach 
wenigen  Jahren  nieder  erschienen  wäre,  um  dann  unter  den  verschont 
Gebliebenen  und  unter  der  nachkommenden  Kinderwelt  von  neuem 
frische  Beute  sich  zu  holen.  Die  ..Pockennot"  des  XVIII.  Jahrhunderts 
hat  in  der  Geschichte  der  Seuchen  eine  traurige  Berühmtheit  erlangt; 
nicht  bloss  um  der  unermesslichen  Wohlthat  Jenners  willen,  die 
endlich  Erlösung  von  dem  Uebel  bewirkt  hatte,  bildet  sie  einen 
düsteren  Hintergrund,  sondern  an  sich  war  sie  drohend  genug  empor- 
gewachsen, um  die  volle  Aufmerksamkeit  der  Zeitgenossen  und  späterer 
Autoren  auf  sich  zu  lenken.  Die  trostlose  Eintönigkeit  der  gehäuften 
Ausbrüche  der  Pockenepidemien,  wie  sie  nach  allen  Ueberlieferungen 
keine  Periode  vordem  aufzuweisen  hatte,  mag  es  rechtfertigen,  wenn 
hier  nur  einzelne  geschichtliche  Daten  Platz  finden.  Schon  in  den 
ersten  zwei  Dezennien  fasste  die  Seuche  festen  Fuss  in  Italien,  Frank- 
reich und  Deutschland;  im  Jahre  1719  verbreitete  sich  eine  mörde- 
rische Blattern-Pandemie  über  ganz  Europa,  der  1723  eine  allgemeine 


846  Victor  Fossel. 

Seuche  in  allen  Weltteilen  gefolgt  war.  Die  folgenden  Jahrzehnte 
wurden  für  Europa  nicht  minder  zu  schweren  Blatternperioden,  ebenso 
wütete  die  Pockenseuche,  soweit  sich  die  Nachrichten  überblicken 
lassen,  in  den  übrigen  Teilen  der  Erde.  Die  Sterblichkeit  war  eine 
ungeheure  und  betrug  z.  B.  1754  in  Rom  binnen  wenigen  Monaten 
mehr  als  6000  Menschen.  Aber  alle  Nachrichten,  die  uns  in  den  zahl- 
reichen Dokumenten  der  Geschichte  über  die  Verwüstungen  der 
Blatternkrankheit  erhalten  sind,  bleiben  noch  immer  zurück  gegen  die 
grauenvolle  Lethalität,  mit  der  die  Pocken  seit  der  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts in  Ostindien  sich  verbreitet  und  im  Jahre  1770  zu  einer 
furchtbaren  Höhe  entwickelt  hatten.  Der  schwarze  Tod  raubte  Eu- 
ropa den  vierten  Teil  seiner  Bevölkerung  in  zwei  Jahren ;  hier  wurden 
—  wie  Heck  er  sagt  —  drei  Millionen  Menschen  auf  einem  kleinen 
Eaume  innerhalb  weniger  Monate  vernichtet! 

Während  andere  Seuchen  dem  einzelnen  Lande  oder  Volke  trotz 
der  heftigsten  Ausbrüche  gewisse  Intervalle  der  Ruhe  und  Erholung 
gönnen,  nahm  die  Blatternnot  in  der  II.  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts 
mit  jedem  Dezennium  immermehr  überhand,  um  endlich  im  Zeiträume 
1790 — 1800  ihren  Höhestand  zu  erreichen.  Die  ärztlichen  Schrift- 
steller verzeichnen  erschreckende  Zahlen  der  in  den  einzelnen  Epide- 
mien Erkrankten,  sie  geben  uns  auch  annähernd  ein  Bild  von  der 
Mortalität,  mit  welcher  die  Menschheit  in  dem  erwähnten  Zeiträume 
von  dieser  Seuche  dahingerafft  worden  war.  Es  fehlt  allerdings  an 
einem  Vergleiche  der  Blatterntodesfälle  am  Ausgange  des  18.  Säku- 
lums  mit  jenen  früherer  Geschichtsperioden.  Milde  JEpidemien  stehen 
jedoch  nur  vereinzelt  da,  die  Mehrzahl  verlief  unter  den  schwersten 
Erscheinungen,  mehr  als  die  Hälfte  der  Kranken  starb,  ja  vielfach 
wird  berichtet,  dass  kein  einziger  derselben  mit  dem  Leben  davon  ge- 
kommen war.  Naturgemäss  unterschieden  sich  die  Epidemien  der 
Variola  je  nach  Zeit  und  Ort  in  ihrer  Bösartigkeit.  Während  wir 
vor  dem  Jahre  1750  nur  einzelne  verlässliche  Angaben  über  die 
Statistik  der  Erkrankungen  und  Todesfälle  nach  den  einzelnen  Krank- 
heitsformen überhaupt  besitzen,  gewinnen  wir  von  diesem  Zeiträume 
angefangen  über  mehrere  Länder  und  Städte  ein  ganz  lehrreiches 
Bild  von  der  Ausdehnung  und  der  Malignität  damaliger  Pockenepi- 
demien. Der  Berliner  Pastor  Süssmilch,  der  Begründer  der  Be- 
völkerungsstatistik, hat  um  das  Jahr  1765  berechnet,  dass  im  18.  Jahr- 
hundert der  zwölfte  Teil  des  Menschengeschlechtes  an  den  Pocken  zu 
Grunde  ging,  ferner  nachgewiesen,  dass  in  einzelnen  deutschen  Ge- 
bieten je  nach  der  Intensität  der  Epidemien  der  zwölfte,  ja  oft  der 
sechste  Teil  aller  vorgekommenen  Todesfälle  durch  Pocken  verursacht 
wurde.  Juncker  in  Halle  schätzte  in  seinem  1796 — 1798  erschie- 
nenen „Archiv  der  Aerzte  und  Seelsorger  wider  die  Pockennot"  die 
jährliche  Sterbeziffer  an  Blattern  für  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
in  Deutschland  auf  70000,  für  ganz  Europa  auf  rund  400000  Todes- 
fälle. Nach  de  la  Condamine  starben  in  Frankreich  alljährlich 
etwa  30000  Menschen  an  den  Pocken  und  Rosenstein  hat  für 
Schweden  ausgemittelt ,  dass  in  den  Jahren  1749 — 1765  der  zehnte 
Teil  der  Geborenen  van  Variola  dahingerafft  worden  war.  Aus  den 
berühmt  gewordenen  schwedischen  Pocken- Todeslisten  ist  zu  ersehen, 
dass  in  den  Jahren  1774 — 1800  von  1000  Gestorbenen  79  auf  Variola 
entfielen;  nach  Creighton's  genauen  Zusammenstellungen  kamen 
innerhalb  des  Zeitraumes  1721—1780  in  London  durchschnittlich  auf 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  847 

1000  Todesfälle  73  bis  103  an  Pocken  verstorbene  Personen.  Aelin- 
liche  Verhältnisse  sind  für  andere  Städte  bekannt  geworden. 

Die  Pocken  waren  vor  Je nn er 's  Entdeckung-  die  gefurchteste 
Krankheit,  namentlich  für  die  Kinderwelt,  zu  gewissen  Zeiten  und  an 
einzelnen  Orten  war  ihr  nicht  selten  die  „ganze  Jugend''  erlegen. 
Nach  übereinstimmenden  Schätzungen  entging  kaum  der  zehnte  Teil 
der  Lebenden  der  Blatternkrankheit.  Kein  Stand  und  Rang  blieb 
von  ihr  verschont;  man  sah  in  ihr  eine  „unabwendbare  Schicksals- 
fügung*' und  ergab  sich,  wie  Sarcone  sagt,  in  den  Gedanken,  dass 
der  Keim  des  Uebels  dem  Menschen  vom  ersten  Augenblick  seines 
Lebens  an  in  die  Adern  gelegt  sei. 

So  sehr  man  bemüht  war,  der  scheusslichen  Krankheit  Einhalt 
zu  gebieten,  durch  Absperrung  von  Blatternkranken,  Räucherung  in- 
fizierter Wohnungen,  Vernichtung  von  verseuchten  Kleidungs-  und 
Wäschestücken,  der  Ansteckung  vorzubeugen,  der  P^ffekt  der  dagegen 
aufgebotenen  Massregeln  würde  bei  der  Vehemenz  und  örtlichen  Aus- 
dehnung der  Epidemien  selbst  für  eine  bessere  Sanitätspolizei,  als 
sie  das  18.  Jahrhundert  aufzuweisen  hatte,  unbesiegbare  Schwierig- 
keiten gebildet  haben.  Angesichts  des  fortdauernden  Blatternelends 
blieb  kein  Mittel  unversucht,  die  Ki-ankheit  von  dem  Einzelnen  wie 
von  der  Gesamtheit  abzuwenden  und  umso  verständlicher  wird  es, 
wenn  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts  die  künstliche  Einimpfung,  die 
Inokulation  der  Pocken  den  vornehmsten  Platz  unter  den  Präventiv- 
massregeln sich  erobert  hat. 

Die  Inokulation  der  Variola  reicht  in  ihren  Anfängen  in 
graue  Vorzeit  zurück.  Welchem  Volke  ihre  Erfindung  zuzuschreiben 
ist,  wird  kaum  zu  ergründen  sein ;  ihre  allgemeine  Verbreitung  unter 
den  Naturvölkern  der  Gegenwart  spricht  dafür,  dass  die  Volksmedizin 
so  vieler  räumlich  und  zeitlich  weit  voneinander  getrennter  Stämme 
hier  wie  in  anderen  Krankheiten  aus  der  gemeinsamen  Quelle,  der 
Beobachtung  und  Erfahrung  die  gleichen  Mittel  und  Wege  der  Ab- 
hilfe gewonnen  hat.  Die  uralte  Sitte  der  Blatternimpfung  in  Hin- 
dostan,  von  den  Braminen  mittels  Skarifikationen  geübt,  fand  in  China 
ihr  primitives  Gegenstück  in  der  Bekleidung  der  Kinder  mit  von 
Blatternstoff  imprägnierten  Hemdchen  oder  in  der  Tamponierung  der 
Nasenlöcher  mit  Pockenkrusten.  Das  „Blatterakaufen"  bestand  als 
alte  Sitte  sowohl  in  Xordafrika,  wie  in  Europa.  Nach  Creighton 
war  es  zu  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  in  Schottland  üblich,  die 
Kinder  zu  Pockenkranken  zu  legen  oder  ihnen  Pockenschorfe  in  die 
Haut  einzureiben.  Seit  undenklichen  Zeiten  wurde  bei  den  Völker- 
schaften Vorderasiens,  vor  allem  bei  den  um  die  Schönheit  ihrer 
Töchter  besorgten  Circassiern  und  Georgiern  in  ebenso  einfacher  als 
zweckmässiger  Weise  die  Inokulation  der  Blattern  mittels  der  Nadel 
vollführt  und  diesem  zumeist  von  heilkundigen  Weibern  geübten  Ver- 
fahren ein  sicherer  und  auffallend  günstiger  Erfolg  nachgerühmt. 
Von  hier  aus  fand  die  Inokulation  auf  ihrem  Wege  über  Thessalien 
am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  Eingang  in  Konstantinopel  und  insbe- 
sondere unter  den  dort  zahlreich  lebenden  Griechen  raschen  Anklang. 
Von  den  glücklichen  Erfolgen  der  Blatternimpfung  ermutigt,  entschloss 
sich  die  Gemahlin  des  englischen  Gesandten  in  Konstantinopel  Lady 
Worthley  Montague  1717  ihren  6jährigen  Sohn  und  nach  ihrer 
Rückkehr  in  die  Heimat  in  London  1721  ihre  Tochter  mit  echten  Pocken 
impfen  zu  lassen.    Der  günstige  Ausfall  dieses  Unternehmens  en-egte 


848  Victor  Fossel. 

Aufsehen,  nicht  nur  in  England,  sondern  in  der  ganzen  Welt.  Der 
Hof  und  die  vornehmste  Gesellschaft  Londons  folgte  dem  Beispiele  der 
edlen  Frau  und  inaugurierte  den  Beginn  der  ersten  Inokulationsperiode, 
die  jedoch  bei  dem  Widerstände,  auf  welchem  die  Blatternimpfung 
in  Frankreich  und  Deutschland  stiess,  auf  England  beschränkt  blieb. 
Doch  auch  hier  führten  die  vielen  lethal  verlaufenden  Fälle  von 
Impfvariola  zur  schärfsten,  namentlich  von  der  Geistlichkeit  ge- 
schürten Gegnerschaft  und  brachten  die  Operation,  die  überdies  roh 
und  unüberlegt  von  Aerzten  und  noch  mehr  von  habgierigen  Charla- 
tans  gehandhabt  vv^urde,  bald  in  Misskredit.  Im  Zeiträume  von 
1726 — 1746  kam  die  neue  Methode  zum  vollständigen  Stillstand  und 
Verfall.  In  Deutschland  war  es  vor  allen  de  Haen,  der  die  Ino- 
kulation mit  heftigster  Erbitterung  bekämpfte.  Nach  seiner  Be- 
hauptung sei  die  Impfung  gegen  Gottes  Gebot,  sie  schütze  nicht 
gegen  die  natürlichen  Pocken,  von  denen  der  Mensch  auch  zweimal 
befallen  werden  könne,  den  inokulierten  Blattern  seien  öfter  die  echten 
gefolgt,  mit  der  Variolation  werde  nur  das  Blatterngift  verbreitet  und 
fände  eine  Eeihe  von  anderen  Krankheitskeimen  Eingang  in  den 
menschlichen  Körper. 

Erst  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  erhoben  sich  aus  dem 
endlosen  Streite  beredte  Fürsprecher  der  Inokulation,  deren  klare  und 
überzeugende  Beweisführung  der  Sache  neuen  Anhang  gewann.  Die 
Schriften,  durch  welche  de  la  Condamine  in  Frankreich,  T i s s o t 
in  der  Schweiz  und  Hensler  auf  deutschem  Boden  die  Inokulation 
verteidigten  und  zu  allgemeiner  Durchführung  empfahlen,  leiteten  er- 
folgreich die  Bewegung  ein,  die  mit  G  a  1 1  i '  s  Auftreten  vom  Jahre  1760 
an  zur  zweiten  Periode,  zur  Blütezeit  der  Blatternimpfung,  geführt 
hat.  Angelo  Gatti,  Professor  in  Pisa,  lernte  im  Orient  die  soge- 
nannte griechische  Methode  der  Inokulation  kennen  und  ging  1760 
daran,  dieselbe  in  Paris  einzubürgern.  Die  glänzenden  Erfolge,  die 
er  daselbst  erzielte,  vor  allem  die  Ueberlegenheit  und  Sorgfalt  des 
Verfahrens,  die  strenge  Prüfung  und  Sichtung  der  bisherigen  Impf- 
technik, die  überdachte  Beherrschung  des  pathologischen  Experiments 
sichern  ihm  für  alle  Zeiten  den  Ruhm  eines  der  bedeutendsten  Aerzte 
des  18.  Jahrhunderts,  der  in  wirksamster  Weise  den  Boden  vorbe- 
reitete, auf  dem  nach  wenigen  Dezennien  die  grosse  Schöpfung  Jenners 
erstehen  sollte.  Gatti  war  es,  der  die  üblichen,  höchst  fehlerhaften, 
plumpen  und  gefahrvollen  Methoden  der  Inokulation  bekämpfte;  er 
verurteilte  die  bisher  allgemein  beliebte  Vorbereitungskur  durch  ent- 
leerende schwächende  Arzneimittel,  wollte  überhaupt  die  Variolation 
nur  auf  Gesunde  beschränkt  wissen  und  tadelte  die  qualvolle  und 
häufig  bedrohliche  Anwendung  der  zahlreichen  ausgedehnten  Haut- 
schnitte bei  der  Inokulation.  Er  brachte  die  bewährte  Form  der  Ein- 
stiche mittels  imprägnierter  Nadelspitze  zu  Ehren  und  riet  dringend 
dazu,  nicht  alten  und  aufbewahrten,  sondern  frischen  und  von  leichten 
Pockenfällen  stammenden  Blatterninhalt  zu  verwenden,  der  schon 
durch  mehrere  Individuen  weiter  verimpft  worden  war.  Mit  dem  In- 
stinkte des  feinen  Beobachters  hat  demnach  Gatti  die  uns  heute  ge- 
läufige Abschwächung  des  Blatternvirus  durch  fortgesetzte  Variolation 
vorausgeahnt. 

In  England  erwarben  sich  gleichzeitig  die  Brüder  Sutton  den 
Ruf  glücklicher  Inokulatoren ,  obgleich  sie  ihr  Verfahren  in  den 
Schleier  des  Geheimnisses  hüllten,  das  aber  in  Wirklichkeit  nur  in 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  849 

der  Xachahmung-  der  Gatt i "sehen  Methode  bestand  und  von  Dims- 
dale  später  vervollkommnet  wurde.  Neben  den  genannten  Männern 
machten  sich  Paul  Camper  in  Holland,  Hensler  in  Deutschland 
und  Rosenstein  in  Schweden  um  die  Einführung  der  Inokulation 
verdient.  Mit  Ausnahme  der  Schweiz  und  Italiens  fand  sie  jedoch 
nur  wenig  Anklang,  ja  selbst  in  Frankreich,  wo  man  trotz  der  Er- 
folge Gatti's  die  Inokulation  als  Quelle  der  Blatternkrankheit  und 
ihrer  Verschleppung  mit  Grund  beschuldigte,  legte  1763  das  Parlament 
gegen  die  Fortsetzung  der  Blatternimpfung  Verwakrung  ein. 

Der  verhältnismässig  geringe  Aufschwung,  welchen  die  Inokulation 
genommen,  fand  seine  Erklärung  in  den  nicht  wegzuleugnenden  Ge- 
fahren, von  denen  das  Leben  der  Operierten  bedroht  war.  Im  Mittel 
hatte  sich  das  Sterblichkeitsverhältnis  bei  der  Variolation  auf  1  :  300 
gestellt;  dazu  kam  aber  die  weitere  Thatsache,  dass  durch  die  In- 
okulation die  Krankheit  sporadisch  und  selbst  epidemisch  verbreitet 
und  demnach  die  Gegnerschaft,  die  sie  vom  Anfange  an  unter  Aerzten 
und  Laien  gefunden  hatte,  durch  die  gemachten  traurigen  Erfahrungen 
immer  von  neuem  bestärkt  wurde.  Mit  Jenner 's  genialer  Ent- 
deckung war  das  Los  über  die  Inokulation  gefallen,  sie  fristete  nur 
noch  in  England  ein  bescheidenes  Dasein,  bis  sie  1840  gesetzlich  ver- 
boten wurde.  Trotz  ihrer  Unvollkommenheit,  trotz  der  schweren  Be- 
denken, die  sich  der  allgemeinen  Anwendung  mit  Recht  gegenüber 
gestellt  haben,  war  die  Inokulation  der  erste  Versuch,  eine  mörderische 
Krankheit  durch  ihre  eigenen  Produkte  zu  bekämpfen.  Gegenüber 
dem  furchtbaren  Blatternelend  des  18.  Jahrhunderts  erschien  die  In- 
okulation, besonders  unter  den  nötigen  Kautelen  ausgeführt,  als  eine 
im  Einzelfalle  oft  erfolgreiche,  für  die  Gesamtheit  desto  bedenklichere 
Prophylaxis,  deren  Aufschwung  nur  aus  der  fortdauernden  Blattern- 
furcht erklärt  werden  kann.  Die  Variolation  bildet  aber  zugleich  die 
Vorstufe  zur  Vaccination  und  demnach  eine  denkwürdige  Epoche  in 
der  Geschichte  der  Variola. 

Wie  die  Inokulation,  wurzelte  auch  die  Vaccination  in  der 
Erfahrung  und  der  Beobachtung  des  Volkes.  Nach  glaubwürdigen 
Berichten  reicht  ihre  Kenntnis  in  das  alte  Indien  zurück.  A.  v.  Hum- 
boldt begegnete  ihr  1803  unter  den  Hirtenstämmen  der  mexikanischen 
Berge  als  einem  längst  bekannten  Schutzmittel  und  wie  persischen 
Nomadenstämmen  war  dem  Landvolke  in  England,  Deutschland  und 
Frankreich  die  Thatsache  geläufig,  dass  die  originären  Kuhpocken 
auf  Menschen  übertragbar  und  diese  dann  gegen  die  Blatternkrankheit 
geschützt  seien.  Ein  englischer  Pächter,  Benjamin  Jesty  impfte 
wahi'scheinlich  als  Erster  (1774)  die  Vaccine  auf  Frau  und  Söhne, 
wie  später  (1791)  der  Schulmeister  Plett  zu  Starkendorf  bei  Kiel  in 
gleicher  Absicht  und  mit  gleich  sicherem  Erfolge  an  den  Kindern 
seines  Gutsherrn  die  Impfung  mit  der  Pockenlymphe  von  Kühen  vor- 
nahm. Die  Aerzte  Sutton  und  Fewster  hatten  schon  1768  die 
traditionelle  Schutzkraft  solcher  Impfungen  gelegentlich  geprüft  und 
bestätigt  gefunden,  ohne  jedoch  die  Sache  weiter  zu  verfolgen.  Erst 
Edward  Jenner  (1749 — 1823),  dem  edlen  Arzte  von  Berkeley  in 
Gloucestershire,  dem  grossen  Wohlthäter  der  Menschheit,  gebührt  der 
Ruhm,  die  Schutzwirkung  der  Vaccine  durch  30  Jahre  mit  aller  Sorg- 
falt verfolgt,  durch  fortgesetzte,  exakte  Versuche  geprüft  und  auf  dem 
Wege  des  wissenschaftlichen  Experiments  zu  einer  der  bewunderungs- 
würdigsten Leistungen  der  Heilkunde  erhoben  zu  haben.    Ausgehend 

Handbnch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  54 


850  Victor  Fossel. 

von  der  Volkserfalirimg,  dass  die  zufällige  Uebertragung  der  Kuh- 
pocken  auf  den  Menschen  gegen  Variola  immunisiere,  blieb  Jenner 
keineswegs  bei  dieser  Thatsache  stehen;  er  war  es,  der  schon  am 
14.  Mai  1796  die  erste  Impfung  mit  humanisierter  Lymphe  erfolgreich 
vollzogen  und  in  den  beiden  folgenden  Jahren  seine  gewissenhaften 
Studien  dahin  erweitert  hat,  indem  er  durch  5  Generationen  hindurch 
das  Kuhpockenvirus  weiter  geimpft  und  durch  die  nachträgliche  und 
resultatlos  verlaufende  Variolation  den  sicheren  Beweis  der  Wirksam- 
keit des  Verfahrens  erbrachte.  Ihm  verdankt  die  Welt  die  Ent- 
deckung der  humanisierten  Lymphe,  durch  deren  Verwendung  die 
Kuhpockenimpfung  überhaupt  zum  Gemeingut  der  Völker  werden 
konnte. 

Im  Jahre  1798  publizierte  Jen n er  endlich  seine  Beobachtungen 
in  der  berühmten  Schrift:  „An  inguiri  intho  the  causes  and 
effects  of  the  Variolae  vaccinae",  der  er  in  den  beiden 
folgenden  Jahren  noch  zwei  weitere  ergänzende  Arbeiten  über  den 
Gegenstand  folgen  Hess.  Mit  einem  beispiellosen  Enthusiasmus  wurden 
diese  Veröffentlichungen  aufgenommen.  In  der  Heimat  des  Autors 
griffen  zunächst  P  e  a  r  s  o  n  und  W  o  o  d  v  i  1 1  e  die  Versuche  J  e  n  n  e  r '  s 
auf,  ihnen  schlössen  sich  in  allen  europäischen  Staaten  begeisterte 
Aerzte  an,  die  Jen  n  er 's  Gedanken  mit  aller  Thatkraft  zu  ver- 
wirklichen bestrebt  waren.  Ferro  und  deCarro  in  Oesterreich, 
Aubert  und  Husson  in  Frankreich,  Ball  hörn,  Stromeier, 
Sömering  u.  a.  in  Deutschland  waren  die  Apostel  der  neuen  Lehre. 
Ihren  Bemühungen  war  es  zu  danken,  dass  öffentliche  und  private 
Impfinstitute,  wie  in  London,  Wien,  Berlin  u.  a.  0.  geschaffen  wurden. 
Keiner  von  diesen  hervorragenden  Männern  vermochte  sich  aber  mit 
den  energischen  und  glänzenden  Erfolgen  zu  messen,  die  Luigi 
Sacco  in  Mailand  aufzuweisen  hatte,  dem  es  nicht  nur  gelang,  mit 
planmässiger  Durchführung  der  Vaccination  bedrohliche  Pocken- 
epidemien zu  unterdrücken,  sondern  der  auch  durch  seine  experi- 
mentellen Studien  über  die  Natur  der  Vaccine,  ihres  Verhältnisses  zu 
anderen  Tierpocken  und  deren  wechselseitiger  Schutzkraft  für  geraume 
Zeit  die  Grenzen  der  Erkenntnis  festgestellt  hat.  Seinen  Anregungen 
blieb  späterhin  Italien  getreu,  ja  die  Sorgfalt,  mit  welcher  alsbald  die 
dort  populär  gewordene  Schutzpockenimpfung  gepflegt  wurde,  führte 
hier  schon  am  Beginne  des  Jahrhunderts  zu  den  ersten  Versuchen  der 
animalen  Vaccination. 

In  den  übrigen  Ländern  Europas  fand  Jenner's  Schöpfung  an- 
fanglich den  wärmsten  Beifall.  Doch  schon  innerhalb  des  ersten  Jahr- 
zehntes erkaltete  der  erste  Feuereifer,  in  England  selbst  führte  der 
mit  der  Vaccination  getriebene  Missbrauch  rasch  zu  einer  ablehnen- 
den Haltung  der  Bevölkerung,  die  sogar  der  alten  Inokulation  teilweise 
den  Vorzug  einräumte,  so  dass  Jenner,  der  gefeierte  Mann  seines 
Volkes,  dem  wiederholt  die  reichsten  Belohnungen  und  Auszeichnungen 
des  Parlamentes  zuteil  geworden  waren,  den  Rückgang  und  Stillstand 
seines  Werkes  erleben  musste.  In  Frankreich,  Russland  und  den 
aussereuropäischen  Ländern  kam  die  Vaccination  keineswegs  zu  all- 
gemeiner Verbreitung;  Preussen  und  Oesterreich  begnügten  sich  mit 
der  Handhabung  des  indirekten  Impfzwanges,  nur  die  Schweiz,  Däne- 
mark, die  skandinavischen  Länder,  sowie  die  süddeutschen  Staaten, 
Kurhessen,  Nassau  und  Hannover  erkannten  in  der  Schutzpocken- 
impfung eine  für  jedermann  verbindliche  Pflicht  und  regelten  sonach 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  851 

die  obligatorische  Vaccination  innerhalb  der  ersten  zwei  Dezennien 
im  Wege  der  Gesetzgebung. 

So  siegreich  die  Vaccination  in  den  ersten  Jahren  ihres  Bestandes 
die  Teilnahme  und  Unterstützung  aller  Menschenfreunde  eroberte  und 
gegenüber  zahlreichen  Blatternepidemien  eine  offenkundige  Milderung 
der  Morbidität  und  Mortalität  bewirkte,  so  hat  gleichwohl  die  Er- 
fahrung gelehrt,  dass  die  Schutzkraft  der  einmaligen  Impfung  nicht 
für  das  ganze  Leben  der  Individuen  ausreiche.  In  dem  später  zu  er- 
wähnenden sogen,  englischen  Blaubuche  vom  Jahre  1857  wurde  die 
Pockensterblichkeit,  wie  sie  in  der  prä-  und  postvaccinalen  Periode 
sich  in  vielen  Ländern  herausgestellt  hatte,  übersichtlich  zusammen- 
gestellt. Der  Rückgang  der  Mortalität  an  Variola  war  überall  ein 
beträchtlicher,  in  vielen  Gebieten  geradezu  überraschender.  Aber 
Jenner's  Glaube,  dass  die  Vaccination  allen  Geimpften  unfehlbaren 
und  dauernden  Schutz  gewähre,  sollte  nicht  in  solchem  L'mfange  in 
Erfüllung  gehen.  Mehr  und  mehr  drängte  sich  der  ärztlichen  Welt 
die  Ueberzeugung  auf.  dass  Vaccinierte  nicht  selten  späterhin  von  der 
Variola  ergriffen  wurden  und  dass  sonach  der  Schutzpockenimpfung 
nur  eine  zeitliche  Dauerhaftigkeit  zukam.  Dabei  konnte  nach  den 
in  allen  Ländern  gemachten  Beobachtungen  nachgewiesen  werden,  wie 
die  Durchführung  der  Vaccination,  selbst  in  Staaten,  wo  sie  gesetz- 
lich geregelt  war,  nicht  mit  vollem  Ernste  gehandhabt  wurde,  ja  man 
lernte  einsehen,  dass  ein  beträchtlicher  Teil  angeblich  Geimpfter 
wegen  Xichthaftung  der  Vaccination  in  Wirklichkeit  den  Ungeimpften 
beigezählt  werden  musste.  Bei  der  Lässigkeit,  mit  der  sogar  impf- 
freundliche Regierungen  dem  immer  geräuschvoller  auftretenden  Ein- 
sprüche der  Impfgegner  gegenüber  sich  verhielten,  konnte  es  nicht 
fehlen,  dass  die  energische  öffentliche  Fürsorge  gegen  die  Pocken- 
abwehr erlahmte  und  die  Wohlthat  der  Vaccination  meist  nur  dem 
lokalen  Einflüsse  oder  dem  Belieben  des  Einzelnen  überlassen  blieb. 

Ueberblicken  wir  den  Gang  der  Blatternseuche  seit  dem  Anfang 
des  19.  Jahrhunderts,  so  war  mit  Unparteilichkeit  die  Thatsache  in 
allen  Ländern  zu  konstatieren,  dass  innerhalb  des  ersten  Dezenniums 
die  Erkrankungen  und  Sterbefalle  an  Variola  in  ganz  augenfälligen 
Dimensionen  sich  vermindert  hatten.  Dieser  glänzende  Erfolg,  welchen 
Jenner's  Entdeckung  aufwies,  verleitete  selbst  Aerzte  zu  der  vor- 
zeitigen Hoffnung,  dass  nunmehr  die  Blattern  ausgerottet  seien.  Trotz 
der  andauernden  Kriegszüge,  die  in  den  ersten  anderthalb  Jahi'zehnten 
ganz  Europa  zu  erdulden  hatte,  traten  Pockenepidemien  damals  nur 
selten  und  in  einer  Form  auf.  die  die  einstige  Bösartigkeit  der  Ki-ank- 
heit  fast  vergessen  liess.  Doch  schon  vom  Jahre  1813  an  war  sie  in 
vielen  Gegenden  Deutschlands  wieder  erschienen,  vom  Jahre  1816  an 
erlangte  sie  in  Frankreich,  Italien.  England  und  Schottland  eine  rasch 
zunehmende  Verbreitung  und  im  Jahre  1817  in  der  alten  wie  in  der 
neuen  Welt  eine  enorme  Ausdehnung.  Von  nun  an  recrudescierten  die 
Pocken  nach  kurzen  Zwischenpausen  in  den  verschiedenen  Ländern 
und  Städten,  an  einzelnen  Plätzen  mit  der  ganzen  Heftigkeit  des  alten 
Blattemelends,  wie  beispielsweise  1828  in  Marseille,  wo  mehr  als 
6000  Personen  der  Variola  erlagen. 

Hiebei  war  der  ärztlichen  Beobachtung  nicht  entgangen,  dass 
neben  der  schweren  Variola  eine  beträchtliche  Zahl  von  leichteren 
Erkrankungsformen  zu  Tage  trat,  eine  Erscheinung,  die  allerdings 
schon  in  der  prävaccinalen  Periode  konstatiert  worden  war,  nunmehr 

54* 


852  Victor  Tossel. 

aber  wegen  ihres  liäufigen  Vorkommens  bei  Vaccinierten  als  eine  Folge- 
wirkung  der  Kuhpockenimpfung  gedeutet  wurde.  Von  neuem  ent- 
brannte der  Streit  über  die  Schutzkraft  der  Vaccine,  über  den  Cha- 
rakter jener  als  besonderen  und  von  Variola  gänzlich  differenten  Ab- 
art angesehenen  blatternähnlichen  Krankheit,  von  der  sogar  bedeutende 
Aerzte;  im  guten  Glauben  an  die  infallible,  lebenslängliche  Schutz- 
kraft der  Vaccine,  annahmen,  dass  bei  deren  Bekämpfung  die  nur 
gegen  das  variolöse  Virus  wirksame  Kuhpockenimpfung  zweifelhaft, 
wenn  nicht  ganz  ohne  Nutzen  sei.  Und  um  noch  mehr  Verwirrung 
in  die  Sache  zu  bringen,  wies  man  der  neuen  Spezies  die  Stellung  an 
zwischen  der  Variola  und  den  Varicellen,  obgleich  man  letztere 
in  der  Pathologie  jener  Zeit  keineswegs  zu  den  Pocken  gerechnet 
hatte.  Erst  mit  Thomson,  der  1820  für  die  gemilderte  jedoch 
genetisch  mit  der  Variola  zusammenhängende  Blatternform  die  Be- 
zeichnung Varioloiden  gewählt  hatte,  schien  der  Kampf  beigelegt 
zu  sein,  obgleich  eine  Eeihe  hervorragender  Aerzte  Frankreichs  und 
Deutschlands  lebhaft  dagegen  Stellung  nahm  und  im  Laufe  der  Zeit 
dieser  Form  der  „modifizierten  oder  mitigierten  Blattern" 
die  Natur  der  Variola  vera  erst  dann  zugestand,  als  das  Experiment 
und  noch  weit  eindringlicher  die  Bösartigkeit  der  folgenden  Epidemien 
die  Ueberzeugung  befestigt  hatte,  dass  zwischen  den  echten  Blattern 
und  den  Varioloiden  in  Wesenheit  nur  ein  gradueller  Unterschied 
bestehe. 

Vom  Anfang  der  30  er  Jahre  an  konnte  in  den  meisten  Ländern 
Europas  die  Wiederkehr  der  Pockenseuche,  und  zwar  in  stärkeren 
Nachschüben  beobachtet  werden,  wenngleich  der  Segen  der  Impfung 
dort,  wo  er  gesetzlichen  Boden  gefunden,  unverkennbare  Geltung  er- 
rang. So  war  der  Beginn  dieser  Periode  durch  wiederholte  pan- 
demische  Züge  der  Blattern  durch  ganz  Europa  gekennzeichnet,  deren 
Höhe  auf  das  Jahr  1834  fiel ;  mit  ihnen  traten  gleichzeitig  verheerende 
Epidemien  in  Asien  wie  in  Nordamerika  auf,  die  u.  a.  im  Westen  der 
Vereinigten  Staaten  ganze  Indianerstämme  vernichteten.  Nicht  weniger 
schwer  wurde  unser  Kontinent  im  folgenden  Jahrzehnte  von  der 
Seuche  heimgesucht.  Ohne  Unterbrechung  zogen  sich  vom  Jahre  1 850 
an  die  Blattern  durch  alle  Teile  der  Welt  fort,  erreichten  in  den 
Jahren  1856 — 59  in  Russland,  woselbst  die  Vaccination  seit  Anfang 
des  Jahrhunderts  kaum  mehr  geübt  worden  war,  eine  Bösartigkeit, 
die  an  die  schlimmsten  Zeiten  des  vorigen  Säkulums  gemahnte.  Im 
darauffolgenden  Dezennium  erlosch  die  Variola  in  keinem  Lande 
Europas,  fast  jede  Stadt  wies  wiederholte  und  grössere  Epidemien  auf, 
selbst  Süddeutschland  mit  seinen  vortreiflichen  Impfgesetzen  vermochte 
sich  der  Einschleppung  und  Zerstreuung  der  Krankheit  nicht  zu  er- 
wehren. England,  Italien  und  Frankreich  litten  empfindlich  unter 
den  Blattern,  die  nach  geringem  Stillstande  immer  wieder  von  neuem 
zu  weit  verbreiteten  Verheerungen  anschwollen  und  jene  denkwürdige 
Pandemie  vorbereiteten,  die  während  des  deutsch-französischen  Krieges 
den  ganzen  Kontinent  und  die  anderen  Weltteile  mit  furchtbarer 
Elementargewalt  überfiutet  hat. 

Bevor  wir  dieser  traurigen  Epoche  näher  gedenken,  müssen  wir 
des  Verständnisses  halber  auf  das  Geschick  der  Vaccination  zurück- 
greifen, weil  nur  aus  ihrem  wechselvollen  Entwicklungsgange  die 
historische  Schilderung  der  Blatternkrankheit  im  mittleren  Dritteile 
des  Jahrhunderts  richtig  beurteilt  werden   kann.    Schon   im   dritten 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  853 

Jahrzehnte  nach  Jenner's  Entdeckung,  als  die  ärztliche  Welt  über 
Thomson's  Varioloiden  diskutierte,  begann  man  immer  lebhafter 
die  Frage  zu  erörtern,  ob  bei  Geimpften  die  Disposition  zur  Variola 
völlig  auszuschliessen  oder  nur  als  eine  zeitlich  begrenzte  anzunehmen 
sei.  Die  damals  herrschenden  Blatternepidemien  und  die  in  allen 
Ländern  gemachten  Beobachtungen,  wonach  unter  den  Erkrankten 
die  Zahl  der  Geimpften  immer  mehr  zunahm,  boten  hinreichende  Ge- 
legenheit, die  Lösung  dieses  zur  Zeit  noch  ungeklärten  Problemes  in 
Fluss  zu  bringen.  Vornehmlich  waren  es  die  deutschen  Aerzte 
AVolfers  und  Dornblüth,  die  neben  Gregory  in  England, 
Kobert  in  Frankreich,  Herder  in  St.  Petersburg  durch  sorgfältige 
Studien  am  Krankenbette  und  durch  Vornahme  der  schon  von  Jenner 
und  1806  von  Pearson  empfohlenen  Wiederimpfungen  die  Ange- 
legenheiten förderten.  Ihren  Bemühungen  war  zunächst  der  Xach- 
weis  gelungen,  dass  die  Vaccination  nach  Ablauf  einer  gewissen  Zeit- 
dauer an  Schutzkraft  einbüsse,  hingegen  nach  dieser  Frist  neuerlich 
volle  Empfänglichkeit  für  die  Vaccine  eintrete  und  unter  Umständen 
auch  für  Variola  sich  entwickle;  folgerichtig  sei  nach  Ablauf  des 
Impfschutzes  die  Immunisierung  des  Menschen  durch  eine  erneuerte 
Impfung  sicher  zu  stellen  und  demnach  die  Re vaccination  als 
eine  unerlässliche  Forderung  anzuerkennen.  So  leidenschaftlich  später- 
hin die  Impfgegner  die  Wiederimpfung  für  ihre  Zwecke  ausgebeutet 
und  als  schlagendes  Argument  für  die  Nutzlosigkeit  der  Vaccination 
überhaupt  in  den  Vordergrund  ihrer  Angriffe  gestellt  haben,  das  Re- 
vaccinationsverfahren  fand  alsbald  in  vielen  Ländern  Eingang  und 
den  gesetzlichen  Schutz  vieler  Eegierungen.  Voran  schritt  Württem- 
berg, das  schon  1829  die  obligatorische  Re  vaccination  in  seiner  Armee 
angeordnet  hatte,  welchem  Beispiele  in  rascher  Folge  die  anderen 
deutschen  Bundesstaaten  (mit  Ausnahme  Oesterreichs)  sich  anschlössen. 
Schweden  und  die  Mehrheit  der  übrigen  Staaten  Europas  führte  erst 
später  die  Wiederimpfung  als  Zwangsimpfung  der  Rekruten  im  Heere 
und  in  der  Flotte  ein. 

Auffällig  geringer  war  die  Sorge  um  das  Wohl  der  Civilbevölke- 
rung;  nur  Schweden,  Württemberg.  Bayern  und  Preussen  schrieben 
die  Wiederimpfung  vor,  ohne  jedoch  einen  Zwang  zu  üben.  Sonst 
hatte  die  Staatsgewalt  nirgends  ernste  Schritte  zur  Durchführung 
der  Revaccination  unternommen,  vielmehr  deren  Wohlthat  mehr  der 
privaten  Einsicht  überlassen.  Davon  konnte  aber  um  so  weniger 
in  jener  Zeit  die  Rede  sein,  weil  die  grosse  Menge  und  leider  auch 
viele  Aerzte  eines  sicheren  Urteiles  über  den  Nutzen  der  Impfung 
entbehrten.  Wiederum  war  es  England,  das  auch  hierin  die  ersten 
Impulse  gab  und  die  Frage  der  Impfung  in  einer  denkwürdigen  Form 
der  gesamten  ärztlichen  Welt  zur  Entscheidung  vorlegte.  Der  Ver- 
fall der  Vaccination  in  Grossbritannien,  der  1853  vom  Parlamente 
forcierte,  aber  schon  nach  Jahresfrist  im  Schosse  derselben  Körper- 
schaft bekämpfte  Impfzwang  bot  1855  dem  obersten  Gesundheitsrate 
in  London  Anlass,  über  die  Impffrage  und  ihre  wesentlichen  Haupt- 
postulate  die  Urteile  der  bedeutendsten  medizinischen  Gesellschaften 
und  der  angesehensten  ärztlichen  Fachmänner  der  ganzen  Welt  ein- 
zuholen. Nicht  weniger  als  502  Gutachten  bildeten  die  Antwort  auf 
diese  Umfrage,  viele  Regierungen  stellten  überdies  reichhaltige  sta- 
tistische Ausweise  über  die  bisherigen  Impfergebnisse  und  darauf 
zielende  wissenschaftliche  Arbeiten  zur  Verfügung.    Das  gesamte,  im- 


854  Victor  Fossel. 

posante  Aktenmaterial  wurde  von  John  Simon,  dem  würdigen  Re- 
ferenten der  genannten  Gesundheitsbehörde  in  einem  erschöpfenden 
Berichte  zusammengefasst  und  im  Mai  1857  dem  Parlament  vorgelegt. 
Das  berühmte  Englische  Blaubuch,  ein  monumentales  Werk  in 
der  Geschichte  der  Pockenkrankheit,  ergab  die  nahezu  überein- 
stimmende Anerkennung  des  hohen  Wertes  der  Kuhpockenimpfung 
und  deren  Unschädlichkeit,  während  die  Meinungen  der  Aerzte  in 
der  Frage  der  Uebertragbarkeit  der  Syphilis,  Skrophulose  und  anderer 
Krankheiten  durch  die  Vaccination  auseinander  gingen.  Der  unschätz- 
bare Gewinn  und  Erfolg  dieses  allgemeinen  Scrutiniums  war  zunächst 
der  einer  gründlichen  Klärung  und  Orientierung  in  der  Impftrage 
selbst,  bei  deren  Erörterung  jedoch  vorderhand  die  Vorteile  der  Re- 
vaccination  auffälligerweise  nicht  zu  näherer  Beratung  und  Formu- 
lierung gekommen  waren.  Positive  und  praktische  Resultate  fielen 
für  die  nächste  Zeit  nur  im  geringen  Masse  ab,  denn  selbst  in  Gross- 
britannien und  Irland,  wo  der  allgemeine  Impfzwang  in  den  60er 
Jahren  noch  erweiterte  gesetzliche  Grundlagen  erhielt,  blieb  die 
Durchführung  gegen  die  gutgemeinten  Absichten  zurück,  obgleich  die 
Abnahme  der  Pockensterblichkeit  unverkennbar  ihren  ziffernmässigen 
Ausdruck  in  den  Mortalitätstabellen  gefunden  hatte.  Auf  der. anderen 
Seite  gaben  aber  die  im  Blaubuche  niedergelegten  Verhandlungen  den 
Anstoss,  die  Frage  der  Impfsyphilis  von  neuem  aufzuwerfen  und  zu 
einem  Thema  zu  erheben,  um  welches  sich  der  erbitterste  Streit  der 
Impffreunde  und  Impfgegner  in  der  Folgezeit  bewegen  sollte.  Wenn 
auch  Gesundheitsschädigungen  durch  Uebertragung  der  Syphilis  und 
anderer  Krankheiten  seit  dem  Bestände  der  Vaccination  vorgekommen 
waren,  so  war  doch  nach  aller  Erfahrung  ein  solches  Erreignis  überaus 
selten  eingetreten  und  keineswegs  durch  solche  unglückliche,  verein- 
zelte Infektionsfälle  der  Ansturm  gerechtfertigt,  mit  welchem  die  Impf- 
feinde gegen  die  Segnungen  der  Vaccination  losbrachen,  indem  sie  in 
masslosester  Uebertreibung  die  Impfung  an  sich  als  gefahrvolle  Ver- 
mittlerin aller  erdenklichen  Krankheiten  zu  brandmarken  suchten. 
Immerhin  führte  die  lebhaft  bewegte  Debatte  über  die  Mängel  und 
Fehler  des  bisher  geübten  Impfverfahrens  selbst  in  den  Kreisen  ein- 
sichtsvoller Aerzte  zu  der  Erkenntnis,  dass  die  Provenienz  des  Impf- 
stoffes, seine  Beschaffenheit  und  die  dadurch  bedingte  Schutzkraft 
innerhalb  der  abgelaufenen  Jahrzehnte  bei  der  Handhabung  der  Vac- 
cination nicht  strenge  genug  berücksichtigt  worden  war.  Ohne  in 
die  Einzelheiten  der  über  die  Eigenschaften  der  tierischen  und  mensch- 
lichen Lymphe  seit  dem  Ende  des  vierten  Dezenniums  angestellten 
Beobachtungen  einzugehen,  unter  denen  die  Studien  Ceely 's, Reiter 's 
u.  a.  Männer  wesentlich  die  Klarstellung  des  Gegenstandes  vorberei- 
teten, mag  an  dieser  Stelle  erinnert  werden,  wie  aus  den  Verhand- 
lungen über  die  Fortpflanzung  der  Vaccine  allmählich  die  Frage  der 
animalen  Vaccination  emporgetaucht  war,  um  dann  nach  mehreren 
Dezennien  zur  allgemeinen  Anerkennung  zu  gelangen.  Die  Rück- 
übertragung humanisierter  Vaccine  auf  das  Tier  hatte  schon  1805 
Troja  in  Neapel  versucht,  dann  dessen  Landsmann  Galbiati  im 
Jahre  1810  wiederum  aufgenommen,  damit  aber  entschiedene  Ab- 
lehnung erfahren.  Erst  Negri  knüpfte  im  Jahre  1840  an  die  „nea- 
politanische Methode"  an,  impfte  von  Kalb  zu  Kalb  weiter  und  sah 
seine  Bemühungen,  auf  diesem  Wege  klaglosen  Impfstoff  in  aus- 
reichenden Mengen  zu  gewinnen,  vorderhand  nur  in  seinem  Wohnorte 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  855 

Neapel  belohnt.  Das  Ausland  verhielt  sich  gegen  sein  Verfahren  lange 
hindurch  skeptisch,  obschon  1864  Lannoix  in  Paris,  1865  Warlo- 
m  0  n  t  in  Brüssel  und  T  i  s  s  i  n  in  Berlin  N  e  g  r  i '  s  Methode  in  vollem 
Umfange  gewürdigt  und  "svarm  empfohlen  hatten. 

Kehren  wir  zu  unserer  historischen  Skizze  der  Blatternepidemien 
zurück.  Es  wurde  schon  angedeutet,  wie  hartnäckig  Westeuropa  in  den 
Jahren  1860 — 70  von  der  Variola  heimgesucht  worden  war.  Besonders 
war  es  Frankreich,  wo  sich  gegen  Ende  dieser  Periode  die  Pocken  im 
ganzen  Lande  verbreiteten  und  in  der  Hauptstadt  eine  immer  mehr  zu- 
nehmende Sterblichkeit  verursachten.  —  Mit  dem  Beginne  des  Jahres 
1870  stieg  die  Epidemie  sowohl  in  Paris  wie  in  zahlreichen  Departe- 
ments zu  bedrohlicher  Höhe  an  und  fand  überdies  bei  Ausbruch  des 
Krieges  in  der  mangelhaft  geimpften  Bevölkerung  und  namentlich  unter 
den  Truppen  selbst  den  günstigen  Boden  ihrer  Ausdehnung.  Mit  dem 
Transporte  französischer  Gefangener  gelangten  die  Blattern  nach 
Deutschland,  die  gleichzeitig  nach  Belgien,  Holland,  der  Schweiz  und 
Italien  verschleppt  worden  waren.  Von  nun  an  schritt  die  Seuche 
unaufhaltsam  nach  allen  Bichtungen  vorwärts  und  entwickelte  sich 
zu  einer  Pandemie.  die  ganz  Europa  überflutete,  in  Asien  wie  in 
Amerika  Einkehr  hielt  und  erst  im  Jahre  1875  ihre  Ende  erreichte. 

AVir  können  hier  nur  in  wenigen  Worten  die  allgemein  beob- 
achteten Thatsachen  andeuten,  die  aus  dieser  Seuchenperiode  resultiert 
und  vor  allem  die  Schutzkraft  der  Impfung  bestätigt  haben.  So  sehr 
auch  die  numerische  Höhe  der  Morbidität  und  der  Mortalität  in  vielen 
Lokalepidemien  der  Jahre  1870 — 1875  sich  beträchtlich  gesteigert  hatte, 
so  darf  doch  behauptet  werden,  dass  die  Erkrankungs-  und  Sterbe- 
ziöern  im  ganzen  weit  hinter  den  Blatternverheerungen  des  vorigen 
Jahrhunderts  zurückgeblieben  waren,  obgleich  die  Bösartigkeit  der 
Variola  an  sich  gegen  frühere  Zeiten  in  nichts  eine  Aenderung  aufwies. 
Die  Vaccination  und  deren  Vorteil  trat  in  der  Statistik  aller  Länder 
und  Städte,  die  zum  Schauplatz  der  Seuche  geworden  waren,  unwider- 
leglich zu  Tage.  Wo  die  Schutzimpfung  seit  Jahren  mit  Umsicht  und 
Strenge  geübt  wurde,  war  die  Blatternkrankheit  erheblich  geringer 
aufgetreten,  als  dort,  wo  die  Vaccination  und  Revaccination  nur  lässig 
durchgeführt  worden  war.  Nicht  nur  zeigte  es  sich,  dass  die  in  den 
einzelnen  Staaten  vorgeschriebene  Kinderimpfung  in  den  ersten  Alters- 
stufen eine  auffällige  Immunität  gegen  Variola  verliehen  hatte,  es 
konnte  auch  überall  der  Beweis  erbracht  werden,  dass  einmalig  ge- 
impfte Erwachsene  seltener  und  in  milderer  AA'eise  erkrankten  und 
dass  durch  Revaccination  geschützte  Personen  ein  noch  weit  geringeres 
Kontingent  zu  den  von  Variola  Befallenen  und  zwar  zu  den  leichteren 
Infektionsformen  gestellt  haben.  Wenn  aber  aus  dem  reichen  Materiale 
der  Beobachtungen  über  den  Anteil  von  Geimpften  und  Ungeimpften  an 
den  Epidemien  ein  schlagendes  Argument  verdient  hatte,  zu  Gunsten 
der  Schutzpocken  herangezogen  zu  werden,  so  war  es  der  Vergleich 
der  Erkrankungsziffer  und  der  Lethalität  der  Variola  unter  den 
Truppen  des  deutschen  Heeres  gegenüber  jenen  der  französischen  Armee. 
Auf  deutscher  Seite,  wo  seit  mehr  als  einem  Menschenalter  geordnete 
Revaccinationsverhältnisse  der  Seuchenfestigkeit  der  Soldaten  erheb- 
lichen Vorschub  geleistet  hatten,  sehen  wir  die  verhältnismässig  kleine 
Zahl  von  4991  Blatternkranken  mit  297  {=  5,97  "/o)  Todesfällen,  hin- 
gegen unter  dem  französischen  Militär,  das  nur  mangelhafte  Impf- 
zustände  aufwies,  einen  durch  die  Pocken  herbeigeführten  Gesamtverlust 


856  Victor  Fossel. 

von  23  400  Mann.  Ebenso  nachdrücklich  belehrten  die  Verj^leiche  der 
Blatternmortalität  in  der  dentschen  Civilbevölkeriing  und  unter  den 
Angehörigen  des  Heeres  in  den  Jahren  1870/71  über  den  ungeheuren 
Nutzen  und  Vorteil  geordneter  Impf  Verhältnisse. 

Das  junge  deutsche  Reich,  so  siegreich  aus  dem  grossen  Kriege 
hervorgegangen,  schritt  alsbald  zur  Schaffung  eines  Friedenswerkes, 
zur  Regelung  des  Impfwesens.  Mit  dem  deutschen  Impfgesetze  vom 
8.  April  1874  wurde  die  Impfung  und  Wiederimpfung  allgemein  ein- 
geführt und  damit  ein  leuchtendes  Beispiel  staatsmännischer  Fürsorge 
für  das  Gesundheitswohl  der  Bevölkerung  gegeben.  Unbeirrt  von  den 
lärmenden  Agitationen  der  Impfgegner  war  die  deutsche  Reichsregierung 
in  der  Folge  bemüht,  durch  Organisation  staatlicher  Anstalten  zur 
Gewinnung  animaler  Impflymphe,  durch  Vervollkommnung  der  Vacci- 
nationstechnik  die  Ausgestaltung  des  öffentlichen  Impfschutzes  ziel- 
bewusst  zu  fördern.  Seit  der  Wirksamkeit  dieser  Massnahmen  sind 
die  Pocken  in  Deutschland  fast  zu  einer  unbekannten  Krankheit  ge- 
worden; die  deutsche  Impfgesetzgebung  hat  aber  zugleich  den  Impuls 
gegeben,  dass  die  Mehrzahl  der  europäischen  Staaten  innerhalb  der 
letzten  Dezennien  der  Bekämpfung  der  Pockenkrankheit  erhöhte  Auf- 
merksamkeit zugewendet  und  erfolgreich  an  deren  Eindämmung  mit- 
geholfen hat.  Selbst  in  jenen  Ländern,  in  denen  die  Einführung  des 
Impfzwanges  noch  nicht  Gesetzeskraft  erhalten  hat,  wird  der  erfreulich 
zunehmende  Aufschwung  der  Volksimpfung  mit  jedem  Jahre  mehr  und 
mehr  durch  den  Rückgang  der  Erkrankungs-  und  Sterbeziffer  der 
Variola  auf  das  glänzendste  belohnt. 


IX.  Scharlach,  Masern  und  Röteln. 
Litteratur. 

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Hautkranliheiten,  1799 — 1806.  —  Struve,  Untersuchungen  üb.  d.  Scharlachkrank- 
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Hnochani,  l.  c.  1829.  —  Wendt,  Kinderkrankheiten,  1832.  —  Heckei;  Gesch.  d. 
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s.  Geschichte  und  Heilung,  1851.  —  Barthez  und  Hilliet,  Hdb.  d.  Kinderkrank- 
heiten, Deutsch  1856.  —  Fleischniann,  Beiträge  z.  Rötheinfrage.  Wien.  med. 
W.  No.  29—31  1871.  —  Thomas,  Ziemssen  Hdb.  IL  Bd.  1874.  —  Jilrgensen, 
ibid.  —  BaginsUy,  Krit.  Uebersicht  üb.  ...  acute  Exantheme,  Schmidt's  Jahrb. 
Bd.  175  1877.  —  Johannessen,  Die  epid.  Verbreitung  d.  Sch.-Fiebers  in  Noru-egen, 
1884.  —  Creighton,  l.  c.  1894.  —  Guniploivicz,  Casuistisches  und  Historisches 
üb.  Böthein,  Jahrb.  f.  Kinderheilkd.  32.  Bd.  1891. 

Wenn  wir  im  Anschlüsse  an  die  Geschichte  der  Blattern  die  his- 
torische Pathologie  der  übrigen  akuten  Exantheme  zusammenfassend 
vorführen,  so  sind  es  Zweckmässigkeitsgründe  und  vor  allem  geschicht- 
liche Erwägungen,  welche  es  gerechtfertigt  erscheinen  lassen,  die  bis 
zur  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  nicht  voneinander  unter- 
schiedenen exan thematischen  Krankheitsformen:  Masern,  Schar- 
lach und  Röteln  im  Zusammenhange  zu  besprechen.  Die  Geschichte 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  857 

der  Masern  und  des  Scharlachs  verliert  sich  im  Altertum  und  im 
früheren  Mittelalter  in  ein  völliges  Dunkel,  und  selbst  zur  Zeit,  als 
die  Variola  von  ihnen  in  gewissem  Sinne  ausgeschieden  und  in  ihrer 
besonderen  Stellung  unter  den  akuten  Exanthemen  auch  epidemio- 
graphisch  auf  den  ihr  zukommenden  eigenen  Platz  gestellt  zu  werden 
beginnt,  bleiben  die  Morbillen  und  die  Scarlatina  als  Undefinierte  und 
ineinander  übergehende  Formen  eines  neben  den  Blattern  gedachten 
febrilen  Hautausschlages  gänzlich  im  Hintergi-unde  der  Krankheitslehre 
sowie  der  Seuchenberichte.  Es  wäre  ein  unnützes  Bemühen,  aus  der 
schon  besprochenen  hochberühmten  Schrift  des  Rhazes  ..de  vari- 
olis  et  morbillis"  herausfinden  zu  wollen,  ob  hier  im  Gegensatze 
zu  den  Pocken  unter  „Morbilli"  die  Masern-  oder  aber  die  Scharlach- 
krankheit zu  verstehen  sei  und  ob  die  als  ..Hasbah"  den  Blattern 
(„Dschedrij")  verwandten  P^xantheme  die  eine  oder  andere  Form 
bedeuten.  Noch  schwieriger  ist  auf  die  Frage  Antwort  zu  geben,  wie 
die  dritte,  von  Rhazes  mit  dem  Namen  „Humak"  bezeichnete  Aus- 
schlagskrankheit im  heutigen  Sprachgebrauche  zu  determinieren  sein 
wird.  Dieses  von  den  Arabisten  auch  als  ..Blacciae"  aufgeführte 
Exanthem  kann  bei  der  Ungenauigkeit  der  Beschi-eibung  ebensogut 
für  Masern,  Röteln,  wie  für  Friesel  oder  Varicellen  angesprochen 
werden,  weil  überhaupt  in  den  Schriften  der  Araber  und  der  ihnen 
getreulich  folgenden  Arabisten  ein  strenger  Unterschied  zwischen  den 
einzelnen  akuten  Exanthemen  nicht  gemacht  wurde.  Es  darf  vielmehr 
behauptet  werden,  dass  bei  den  engen  Beziehungen,  die  zwischen 
den  ..Morbillen"  und  der  „Variola"  gedacht  wurden,  es  sich  nach 
arabischer  Lehre  mehr  um  Varietäten  einer  und  derselben  Grund- 
krankheit und  nicht  um  differente  Prozesse  gehandelt  habe.  Die 
gleiche  Unsicherheit  ist  in  den  Werken  der  mittelalterlichen  Autoren 
wahrzunehmen  und  viele  der  Schilderungen,  welche  die  Pathologie 
der  ..Morbilli"  zum  Gegenstand  haben,  scheinen  weit  mehr  dem  Bilde, 
Verlaufe  und  den  Folgeübeln  des  Scharlachs  als  jenen  der  Masern 
entnommen  zu  sein.  Es  begreift  sich  demnach,  wenn  die  VerwiiTung, 
die  aus  der  unvollkommenen  Unterscheidung  der  akuten  Ausschlags- 
formen entspringend  und  dem  konservativen  Zuge  der  damaligen  Heil- 
kunde entsprechend  von  Jahrliundert  zu  Jahrhundert  sich  fortschleppte, 
für  die  Geschichte  dieser  Krankheiten  nur  ein  negatives  Resultat  zu 
liefern  vermag  und  wir  daher  auf  nähere  Einsicht  in  das  Alter,  die 
epidemische  Verbreitung  und  ärztliche  Kenntnis  derselben  im  all- 
gemeinen wie  im  besonderen  zu  verzichten  haben  werden. 

Im  16.  Jahrhundert  blieb,  obgleich  einzelne  Seuchenberichte  un- 
gezwungen auf  das  epidemische  Vorherrschen  des  Scharlachs  bezogen 
werden  können,  die  Trennung  desselben  von  den  ,.Morbilli"  noch  un- 
vollzogen  und  wenn  Ingrassia  das  um  das  Jahr  1550  in  Neapel 
unter  dem  Namen  „Rossania"  oder  „Rossalia"  herrschende  Aus- 
schlagfieber zwischen  den  Pocken  einerseits  und  den  „Morbillen"  an- 
dererseits einreihte,  so  unterliess  er  dabei  nicht,  die  enge  Verwandt- 
schaft dieser  genannten  drei  Exantheme  anzuerkennen,  ohne  aber  daran 
wesentliche  Unterscheidungsmerkmale  zu  knüpfen.  Grössere  Deutlichkeit 
spricht  aus  der  Beschreibung,  die  Ballonius  über  eine  im  Jahre 
1574  in  Paris  beobachtete  Epidemie  von  ..Rubiola"  geliefert  und 
worin  er  eine  Reihe  charakteristischer  Symptome  des  Scharlachs  ge- 
zeichnet hat. 

Will  an,  Most,  Schnitzlein  u.  a.  Schriftsteller,   welche  der 


858  Victor  Fossel. 

historischen  Pathologie  der  akuten  Exantheme  eine  besondere  Auf- 
merksamkeit zugewendet  hatten,  wollten  in  den  einschlägigen  Schil- 
derungen von  Forestus,  Wierus  und  vor  allen  in  den  Nachrichten 
der  spanischen  und  italienischen  Aerzte  über  die  am  Ausgang  des  16. 
und  am  Beginne  des  17.  Jahrhunderts  in  Südeuropa  herrschenden 
Diphtherie-Epidemien  die  unzweifelhaften  Anzeichen  des  scarlatinösen 
Krankheitsprozesses,  verbunden  mit  der  Angina  maligna,  also  eine 
ausgeprägte  Scharlachdiphtherie  erkennen.  Der  Mangel  bestimmter, 
einwandsfreier  Beschreibungen  des  wichtigsten  Symptoms  des  Leidens, 
des  charakteristischen  Exanthems  wie  anderer  pathognomischer  Merk- 
male des  Scharlachs,  erhebt  aber  die  geschichtliche  Forschung  nicht 
über  Vermutungen  hinaus;  im  Gegenteile,  angesichts  der  Abwesenheit 
einer  genaueren  Würdigung  dieser  Kriterien  bei  der  als  „Garotillo" 
gemeinhin  genannten  Schlundbräune,  deren  Erscheinungen  bis  in  alle 
Einzelheiten  von  den  damaligen  Berichterstattern  in  geradezu  klassi- 
scher Weise  beobachtet  und  beschrieben  worden  sind,  muss  sich  weit 
eher  der  Zweifel  aufdrängen,  ob  hier  wirklich  die  epidemische  Scarla- 
tina  vorgelegen  war. 

Noch  in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  werden  Scharlach 
und  Masern  in  den  Schriften  der  Aerzte  zusammengeworfen  und  nebst 
dem  alten  Namen  der  „Morbilli"  im  weiteren  Sinne  als  Morbilli 
ignei,  Rubeolae,  Rossalia  erysipelata  oder  Erysipelas 
schlechtweg  aufgeführt.  Und  doch  besitzen  wir  aus  dieser  Zeit  die 
Angaben  zweier  deutscher  Aerzte,  Döring  und  Senner t,  die  den 
Scharlach  in  seinen  wesentlichen  Merkmalen  erkannt  und  gezeichnet 
haben.  Während  Döring  die  Krankheit  noch  den  Morbillen  beige- 
sellte, stellte  Sennert  die  Unterschiede  des  von  ihm  1619  in  Witten- 
berg beobachteten  epidemisch  grassierenden  Exanthems  von  jenem  der 
Variola  und  der  Morbillen  auf;  und  dennoch  wusste  Sennert,  der 
nach  seinem  eigenen  Geständnis  dem  ihm  neuartig  erschienenen  Aus- 
schlagfieber keinen  passenden  Namen  zu  geben  vermochte,  nicht  anders 
sich  zu  helfen,  als  dasselbe  für  eine  modifizierte  Form  der  „Morbilli" 
zu  erklären.  Er  schildert  die  Krankheit,  die  ihm  mit  dem  von 
Forestus  als  Purpura  et  rubores  oder  von  Ingrassia  als 
Rosalia  benannten  Uebel  am  meisten  Aehnlichkeit  zu  haben  scheint, 
nach  naturgetreuer  Beobachtung  in  ihren  eigenartigen  Erscheinungen, 
hebt  u.  a,  die  Abschuppung  in  der  Rekonvaleszenz,  die  wassersüchtigen 
Anschwellungen  treffend  hervor  und  erklärt,  dass  er  die  Erkrankung 
für  eine  höchst  schwere,  gefahrvolle  halte,  die  oft  genug  einen 
lethalen  Ausgang  nehme.  Wir  dürfen  mit  vollem  Recht  in  den 
Schriften  der  beiden  genannten  Autoren  die  erste  verlässliche  Kunde 
des  Scharlachs  erblicken,  dessen  besondere  Eigentümlichkeit  und 
Verbreitung  wir  in  früheren  Seuchenberichten  vergeblich  suchen. 
Von  dieser  Zeit  an  finden  sich  in  Deutschland  mehrere  Angaben  über 
die  Krankheit,  die  jedoch  meist  unter  dem  Namen:  Purpura 
maligna  infantum,  Morbilli  ignei  seu  confluentes  oder 
Febris  miliaris  rubra  von  den  Zeitgenossen  erwähnt  wird ,  indes 
die  Franzosen  vorwiegend  die  Bezeichnung  „Rubeolae",  die  Eng- 
länder „the  purpyles"  gebraucht  haben. 

Mit  Sydenham,  der  die  Krankheit  in  den  Jahren  1661 — 1675 
in  London  in  epidemischen  Formen  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte, 
begann  die  Kenntnis  des  Scharlachs  als  besonderen  Ausschlagsfiebers 
und  die    bisherige    Konfundierung    mit  den    anderen   akuten  Exan- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  859 

themen  in  das  Stadium  entschiedener  Klärung  zu  treten.  Er  hat  in 
der  Beschreibung  des  Uebels  vorurteilsfrei  die  wesentlichen  Züge  des  Pro- 
zesses festsgetellt.  dabei  auch  die  Therapie,  die  vordem  in  den  unsinnigsten 
Prozeduren  und  Arzneiverschwendungen  sich  ergangen  hatte,  dui'ch 
seine  nüchternen  Grundsätze  wesentlich  vereinfacht  und  verbessert. 
Auffallenderweise  sah  Sydenham  in  der  ^Febris  scarlatina** 
(ein  Name,  der  sich  schon  in  Italien  während  des  16.  Jahrhunderts 
vorfindet)  eine  milde  unschuldige  Erki-ankung.  was  wohl  nur  auf  das 
Torkommen  gutartiger  Epidemien  bezogen  werden  kann.  Sein  Lands- 
mann und  Zeitgenosse  Morton  hingegen  betrachtete,  obgleich  die 
von  ihm  gegebene  Darstellung  des  Scharlachfiebers  ganz  zutrefiende 
Bemerkung  enthielt,  dasselbe  nur  für  eine  Varietät  der  Masern,  das 
sich  zu  diesen  ähnlich  verhalte,  wie  die  konfluierenden  Blattern  zu 
den  einzelstehenden  Variolapusteln.  Demgemäss  drang  Morton  da- 
rauf, den  Unterschied  von  Scharlach  und  Masern  fallen  zu  lassen  und 
das  unter  ersteren  Xamen  zusammengefasste  Leiden  seiner  oftmals 
beobachteten  schweren,  nicht  selten  ,.pestillentiellen"  Komplikationen 
willen  als  ..Morbilli  maligni"  aufzufassen.  Nur  wenige  Schrift- 
steller erfüllten  die  letztere  Forderung;  Sydenham's  Benennung 
der  Krankheit  behauptete  sich  in  der  medizinischen  Terminologie, 
keineswegs  aber  die  von  ihm  gelehrte  strenge  Differenzierung  beider 
Ausschlagsgattungen,  die  nach  wie  vor  von  vielen  Autoren  übersehen 
oder  kurzweg  geleugnet  wurde,  weil  man  gewohnt  war,  dem  Fieber 
weit  mehr  Aufmerksamkeit  zu  widmen,  als  den  übrigen  Symptomen 
der  Krankheit.  Dazu  kam  die  schwerwiegende  Thatsache,  dass  die 
Herrschaft  der  Diphtherie,  die  im  Verlaufe  des  18.  Jahrhunderts  über 
nahezu  alle  eui'opäischen  Staaten  und  Nordamerika  Verbreitung  ge- 
funden hatte,  den  Glauben  festigte,  die  Bräune  bilde  eine  unzei-trenn- 
liche  Begleitei-scheinung  des  Scharlachs.  Das  Vorkommen  der  gut- 
artigen scarlatinösen  Angina  war  daher  inmitten  der  fortdauernden 
VerwiiTung  gewiss  nur  zu  leicht  geeignet,  zu  dem  Fehler  zu  ver- 
leiten, solche  Fälle  und  Epidemien  je  nach  dem  Standpunkte  der  Be- 
obachter zu  den  Masern  oder  aber  zum  Friesel  zu  rechnen. 

Wenn  zwar  die  Nachrichten  über  das  epidemische  Scharlachfieber 
gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  nur  spärlich  fliessen ,  jene  über 
Masern epidemien  aber  aus  den  angedeuteten  Gründen  nur  mit  grösster 
Vorsicht  zu  verweithen  sind,  so  besitzen  wir  gleichwohl  Berichte, 
welche  den  Schluss  zulassen,  dass  die  „Febris  scarlatina"  in  jener 
Zeit  häufiger  als  früher  die  Achtsamkeit  der  Aerzte  auf  sich  gezogen 
hatte.  Neben  England  und  Schottland  ist  Deutschland  der  Schauplatz 
der  Krankheit,  die  in  den  Jahren  1690 — 1696  in  Sachsen,  Württem- 
berg, Berlin  und  Augsburg  bösartig  aufgetreten  war. 

Zahlreicher  werden  die  Aufzeichnungen  wälirend  des  18.  Jahr- 
hunderts, aber  auch  sie  gestatten  nur  ausnahmsweise  ein  richtiges 
Urteil  über  den  Charakter  der  gemeldeten  Ausschlagsfieber.  Zu  den 
sicheren  Scharlachepidemien  darf  ein  Grossteil  des  „Fievre  rouge*' 
gezählt  werden,  die  in  den  Jahren  1707 — 1712  Paris  heimgesucht 
hatte.  Vom  Jahre  1717  an  verbreitete  sich,  von  heftigen  Nachschüben 
begleitet,  das  Uebel  in  Thüringen  und  Sachsen,  worüber  Storch  in 
Eisenach  auf  Grund  seiner  bis  1740  reichenden  Erfahrungen  eine  ge- 
diegene Monographie  hinterlassen  hat.  Gleiches  Lob  gebührt  der 
Arbeit  des  Wiener  Arztes  Plenciz  über  den  im  Zeiträume  1740  bis 
1762  beobachteten  Scharlach,  den  der  Verfasser  in  gutartigen  wie  in 


860  Victor  Fossel. 

bösartigen  Epidemien  genau  verfolgt  und  dargestellt  hat.  Das  Ge- 
samtbild des  wahren  Scharlachfiebers,  wie  es  1741  und  1763—1764  in 
Stockholm  weit  verbreitet  war,  fand  an  Rosenstein  einen  kenntnis- 
reichen Interpreten,  während  eine  nicht  geringe  Zahl  von  Aerzten 
nur  ungenaue  Beschreibungen  der  exanthematischen  Volkskrankheiten 
jener  Zeit  überliefert  und  mit  der  unverstandenen,  damals  in  vollen 
Aufschwung  gebrachten  Bezeichnung  der  mannigfachen  Ausschlags- 
gattuugen  unter  dem  Sammelbegriffe  „Friesel"  die  eingebürgerte 
Verwirrung  Jahrzehnte  lang  aufrecht  erhielt.  Noch  grössere  Dimen- 
sionen nahm  die  Konfundierung  in  der  Lehre  von  den  akuten  Exan- 
themen an,  als  es  nahezu  Gemeingut  der  Aerzte  geworden  war,  die 
Angina  gangraenosa  als  das  wesentliche  Merkmal  des  Scharlachfiebers 
aufzufassen  und  dabei  nur  selten  oder  oberflächlich  das  Exanthem  an 
sich  zu  berücksichtigen.  Zugegeben,  dass  im  18.  Jahrhundert  ebenso 
wie  in  unserer  Zeit  die  Scarlatina  kombiniert  mit  der  Diphtherie  in 
epidemischer  Ausbreitung  vorgekommen  war,  so  wurden  mindestens 
beide  Prozesse  damals  als  identisch  betrachtet  und  demnach,  wie  dies 
Will  an  und  Most  in  der  Geschichte  des  Scharlachs  inaugurierten, 
schlechtweg  viele  epidemische  Schlundkrankheiten  unter  Scharlach - 
fieber  verstanden  und  beschrieben.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  fällt 
es  schwer,  die  unter  dem  Zeichen  der  Scharlach-Diphtherie  einherge- 
gangenen Epidemien  in  Nordamerika  1734 — 1736,  in  Frankreich 
während  der  Jahre  1746—1751  und  1753,  in  England  während 
der  Jahre  1739,  1749—1751,  1753,  die  Epidemie  im  Haag  1748  oder 
in  Lausanne  1761  u.  a.  m.,  trotzdem  die  Berichte  von  den  ange- 
sehensten Männern,  wie  Malouin,  Garnier,  Chomel,  Navier, 
Huxham,  Fothergill,  de  Haen,  T i s s o t  u.  a.  auf  uns  gekommen 
sind,  hier  eingehender  und  als  zuverlässliche  Quellenschriften  der  Ge- 
schichte des  Scharlachfiebers  in  specie  zu  besprechen.  Das  entschie- 
dene Uebergewicht,  das  der  gangränösen  Halsaffektion  über  alle  übrigen 
Symptome  eingeräumt  wird  und  der  weitere  Umstand,  dass  nur 
zweifelhafte  Angaben  über  die  Beteiligung  der  Hautdecke  oder  nur 
flüchtige  Notizen  über  die  eigentümlichen  Komplikationen  an  der  Ge- 
samterkrankung in  deren  Schilderungen  Aufnahme  gefunden  haben, 
lässt  die  Bedenken  gegen  die  wahre  Natur  des  Leidens  einigermassen 
begründet  erscheinen,  trotzdem  dessen  Kontagiosität  unter  allen 
Umständen  bei  der  Mehrzahl  der  Beobachter  hervorgehoben  wird. 

Unverkennbar  hat  das  Scharlachfieber  in  den  letzten  drei  De- 
zennien des  18.  Jahrhunderts  in  Europa  an  epidemischer  Ausbreitung 
zugenommen.  Die  Beobachtungen  der  Krankheit  in  Holland,  England, 
Schweden,  Dänemark,  Deutschland,  Frankreich  und  Italien,  denen 
sich  mehrfache  Epidemien  in  Nordamerika  anreihten,  haben,  wie  aus 
der  anwachsenden  Litteratur  jener  Periode  zu  schliessen  ist,  nicht  nur 
die  Aufmerksamkeit  der  Aerzte  lebhafter  beschäftigt,  sondern  auch 
die  schärfere  Trennung  des  Uebels  von  den  scheinbar  ähnlichen 
Prozessen  begünstigt.  Im  allgemeinen  trat  das  Scharlachfleber  in 
gutartigen  Epidemien  auf,  andere  hinwieder,  wie  z,  B.  die  in  den 
Jahren  1795 — 1805  in  Mitteldeutschland  herrschende  Seuche,  waren 
von  einer  ungewöhnlich  hohen  Sterblichkeit  begleitet,  deren  Ursache 
die  Zeitgenossen  und  spätere  Berichterstatter  dem  Brown'schen 
Systeme  und  seinen  in  der  Therapie  des  Scharlachs  verhängnisvoll 
gewordenen  Uebertreibungen  zuschreiben  wollten.  Um  jene  Zeit 
(1799)   hat   Malfatti   in   Wien    die   verderbliche  Ausbreitung    des 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  861 

Scharlachs  unter  Wöchnerinnen  beobachtet  und  als  besondere  Spezies 
der  Krankheit  unter  dem  Namen  des  ^Wochenbettfriesel~  gekenn- 
zeichnet, worunter  vielleicht  eine  gi'osse  Zahl  septischer  Puerperal- 
prozesse  mitgezählt  worden  sein  mag. 

Die  schärfere  Umgrenzung  des  Krankheitsbegriffes  der  Masern 
erfuhr  während  des  18.  Jahrhunderts  keine  durchgreifende  Umge- 
staltung, trotzdem  schon  Svdenham,  dessen  Lehre  für  das  ganze 
Säkulum  tonangebend  geworden  war.  ihre  spezifische  Eigenart  glücklich 
aus  der  Yennengung  mit  anderen  Exanthemen  gelöst  hatte.  Es  ge- 
nügt, daran  zu  erinnern,  dass  namhafte  Autoren,  wie  Huxham  die 
Morbillen  nicht  von  dem  Scharlach  differenzierten  oder  andere  Be- 
obachter das  Bild  der  Krankheit  in  derart  verzerrten  Linien  wieder- 
gaben, dass  er  heute  schwierig  wird,  darin  das  mit  diesem  Namen 
bezeichnete  Uebel  zu  erkennen.  Nicht  besser  ergeht  es  der  histo- 
rischen Musterung  der  damaligen  Anschauungen  über  die  Krankheit, 
wenn  man  sich  vor  Augen  hält,  wie  beispielsweise  Willan  von 
..schwarzen  Masern",  Sauvages  von  ,.blatternar  tigen 
Masern"  spricht  (MorbilK  haemorrhagici  et  papulosi?)  oder  wenn 
Watson  in  den  Jahren  1763 — 1764  ,.faulichte  Masern"  be- 
obachtet haben  will,  deren  bösartiger  Verlauf  vielmehr  mit  jenem  der 
Scharlach-Diphtherie  übereinzustimmen  scheint.  Nicht  unerwähnt  kann 
bleiben,  wie  die  den  Geist  der  damaligen  Aerzte  dominierende  Ansicht 
von  dem  Uebergange  einer  Seuchenform  in  die  andere  auch  bei  den 
Ausschlagsfiebern  zur  Geltung  gelangt  war ,  so  dass  Wedemeyer 
seinem  Epidemieberichte  über  Göttingen  (1780  ff.)  ohne  Widerspruch 
der  Zeitgenossen  beifügen  konnte,  es  sei  aus  den  Masern  ..dui'ch 
Umwandlung  der  diski-eten  Flecke  in  eine  gleichmässige  Röte~  der 
Scharlach  hervorgangen.  Hält  man  diese  aus  der  Unklarheit  der 
Auffassung  und  Darstellung  entsprungenen  Tatsachen  fest ,  so  kann 
die  von  Rosenstein,  Girtaner  u.  a.  Schi-iftstellem  vertretene  An- 
sicht nicht  überraschen ,  wonach  sie  die  Masern  als  eine  die  Variola 
an  Gefährlichkeit  weit  übertreöende  Erkrankung  hinstellen.  Es  ist 
demnach  den  speziellen  Seuchenberichten  ein  geringerer  Wert  beizu- 
messen und  nur  die  Nachrichten,  welche  bezeugen,  wie  die  Krankheit 
in  den  letzten  beiden  Dezennien  des  18.  Jahrhunderts  in  weitver- 
breiteten Zügen,  insbesondere  im  Zeiträume  1796 — 1801  als  Pandemie 
über  Deutschland,  Frankreich  und  Grossbritannien  geherrscht  hatte, 
verdienen  wegen  der  darin  niedergelegten  genaueren  Schüdemngen 
eine  grössere  Glaubwürdigkeit. 

Geschichtlich  bemerkenswert  sind  die  nach  dem  Vorgange  der 
Blatterninokulation  unternommenen  Vereuche  der  Ueberimpfung  der 
Masern  von  Kranken  auf  Gesunde.  Home  in  Edinburgh  impfte  1758 
mit  dem  Blute  eines  3Iasemkranken,  das  er  mittels  Baumwolle  auf 
eine  Schnittwunde  am  Arme  übertrug  und  dort  drei  Tage  lang  liegen 
Hess.  Am  6.  Tage  stellten  sich  die  charakteristischen  Erscheinungen 
der  Krankheit  ein.  die  aber  in  allen  von  Erfolg  begleiteten  Impf- 
fallen einen  müden  Verlauf  gezeigt  hatte.  Die  gleichfalls  von  Home 
geübte  Ueberpflanzung  des  Nasensekretes  Masernkranker  durch  ein 
damit  imprägniertes  Wollenzeug  auf  die  Nasenschleimhaut  gesunder 
Kinder  blieb  resultatlos.  Obgleich  die  Impfungen  in  Schottland  weitere 
Nachahmung  fanden,  verloren  sie  doch  bald  an  Ansehen  und  wurden 
erst  ein  halbes  Säkulum  später  wieder  aufgenommen. 

Verfolgen  wir  nunmehr  die  Geschichte  des  Scharlachs  im  19.  Jahr- 


862  Victor  Fossel. 

hundert,  so  wird  nach  Ablauf  der  mit  dem  Jahre  1805  abschliessenden 
Epidemieperiode  in  der  nächsten  Zeit  seines  ausgedehnteren  Vor- 
kommens nur  selten  Erwähnung-  gethan,  obschon  er  an  vielen  Orten 
in  massigem  Umfange,  doch  meist  in  gutartiger  Form  beobachtet 
worden  war.  Erst  vom  dritten  Dezennium  an  trat  die  Krankheit  in 
epidemischen  Zügen  auf,  die  mit  dem  Jahre  1824  beginnend  über 
Frankreich  sich  verbreitete,  und  in  den  beiden  darauffolgenden  Jahren 
in  England,  Holland,  Dänemark  und  Norddeutschland  schlimme  Ver- 
heerungen anrichtete.  Im  Jahre  1827  war  das  Scharlachfieber  als 
neue  Krankheit  auf  Island  aufgetreten,  1829  zum  ersten  Male  in  Süd- 
amerika zur  Entwicklung  gekommen,  wo  die  Seuche  auch  im  nächsten 
Jahrzehnte,  besonders  unter  den  Indianern  Brasiliens  wiederholt  und 
in  längerer  Dauer  um  sich  griff.  Zu  gleicher  Zeit,  1832 — 1837,  über- 
zog der  Scharlach  in  pandemischer  Ausbreitung  die  meisten  Staaten 
Europas  und  ging  überall  mit  einer  erschreckenden  Bösartigkeit  ein- 
her. Nach  den  Berichten  der  zeitgenössischen  Beobachter  waren  neben 
schweren  Rachen aifektionen  häufig  meningeale  Erscheinungen  im  Ver- 
laufe der  Krankheit  zu  Tage  getreten  und  bildeten  nahezu  ausnahms- 
los die  sicheren  Vorboten  eines  lethalen  Ausganges. 

In  grösserer  Verbreitung  erhob  sich  das  Scharlachfieber,  abge- 
sehen von  den  zahlreichen  Lokalausbrüchen,  während  des  Zeitraumes 
1846 — 1849  in  Dänemark,  Deutschland,  England  und  Schottland.  Im 
Jahre  1847  wurden  zum  ersten  Male  Grönland,  1848  Neuseeland, 
1849  Kalifornien  von  einer  Scharlachepidemie  heimgesucht.  Von  der 
Mitte  des  Jahrhunderts  angefangen  vergingen  nur  wenige  Jahre,  in 
denen  die  Krankheit  nicht  in  diesem  oder  jenem  Lande,  namentlich  in 
gi'össeren  Städten  erschienen  wäre  oder  dazwischen  in  wechselnder 
In-  und  Extensität  nicht  epidemisiert  hätte.  In  mustergültiger  Weise 
hat  Johann  essen  für  Norwegen  die  zeitlichen  und  örtlichen 
Schwankungen  des  Scharlachs  im  Zeiträume  1825 — 1878  nachgewiesen. 
Es  darf  gesagt  werden,  dass  das  Scharlachfleber  in  den  dichter  be- 
völkerten Centren  zu  einer  stationären  Infektionskrankheit  geworden 
ist  und  in  gewissen  Intervallen  aus  der  ununterbrochenen  Kette  spo- 
radischer Erkrankungsfälle  unter  unbekannten  Einflüssen  zu  epide- 
mischer Höhe  sich  erhoben  hat.  Eine  solche  Exacerbation  des  Uebels 
fiel  in  die  Periode  1852 — 1862,  innerhalb  welcher  gleichzeitig  die 
Diphtherie  ihre  verhängnisvollen  Wanderungen  anzutreten  begann. 
Ebenso  trat  in  den  siebziger  und  achtziger  Jahren,  gekennzeichnet 
durch  die  andauernde  Herrschaft  der  Rachenbräune,  in  den  euro- 
päischen Ländern  der  Scharlach  ganz  erheblich  in  den  Vordergrund 
der  Seuchengeschichte  und  des  ärztlichen  Interesses.  Insbesondere 
ist  es  England  gewesen,  wo  das  ausgebreitete  Vorkommen  der  Krank- 
heit innerhalb  dieses  Zeitraumes  zu  ausführlichen  statistischen  und 
epidemiologischen  Studien  geführt  hat,  während  gleichzeitig  die  Schrift- 
steller des  Kontinents  mehr  der  epidemischen  Diphtherie,  als  der 
vorwiegenden  Seuche  ihre  Aufmerksamkeit  zugewendet  hatten. 

Eine  wenn  auch  gedrängte  Darstellung  der  Wandlungen  und 
Fortschritte  in  der  Lehre  vom  Scharlachfieber  während  des  19.  Jahr- 
hunderts überschreitet  den  Rahmen  dieser  geschichtlichen  Skizze.  Es 
möge  hinreichen  zu  erwähnen,  dass  in  den  ersten  Dezennien  Eng- 
länder und  Deutsche  die  Führerrolle  in  der  Pathologie  und  Therapie 
der  Krankheit  an  sich  genommen  haben,  ohne  über  das  Bemühen 
naturgetreuer  Schilderungen   des   Exanthems  •  und   seiner  Varietäten 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  863 

oder  über  die  sorgfältige  Distinktion  der  Abarten  des  gesamten  Krauk- 
heitsverlaufes.  des  ..entzündlichen,  gastrischen,  neiTösen.  fauligen  Schar- 
lachs" hinaus  eine  genauere  Kritik  des  Prozesses  und  seiner  Kompli- 
kationen aufzubringen.  Mit  dem  dritten  Jahrzehnte  hingegen,  an- 
schliessend an  das  stärkere  Anschwellen  der  meist  in  schwerer  Form  auf- 
tretenden Scharlachepidemien,  nahm  die  Veröffentlichung  einschlägiger 
Beobachtungen,  zumeist  in  Deutschland  und  Franki*eich  erheblich  an 
Umfang  und  Vertiefung  zu.  Es  gebührt  Schönlein  und  seiner 
Schule,  trotz  der  im  Geiste  des  Zeitalter  gelegenen  und  allzusehr 
hervorgekehrten  Systematisierung  der  verschiedenen  Ausschlags- 
gattungen, das  entschiedene  Verdienst,  die  Pathologie  der  Hautkrank- 
heiten im  allgemeinen  und  jene  der  akuten  Exantheme  im  besonderen 
in  schärferer  AVeise  aus  dem  doktrinären  Schema  der  naturphüo- 
sophischen  Krankheitsklassen-  und  Ordnungen  in  neue  Bahnen  gelenkt 
zu  haben.  Noch  eingehender  und  fruchtbringender  haben  zu  jener 
Zeit  französische  Gelehrte,  unter  ihnen  Bretonneau  mittelbar  durch 
seine  hervorragenden  Forschungen  über  die  Diphtherie  und  deren  Ver- 
hältnis zur  Scarlatina,  weiterhin  Kayer,  Barthez  und R i  1 1  i e t  u. a. m. 
durch  klinische  und  pathologisch-anatomische  Untersuchungen  die  Lehi-e 
von  den  exanthematischen  Infektionskrankheiten  auf  wissenschaftliche 
Höhe  gebracht.  Seither  hat  das  Studium  des  Scharlachfiebers  und 
seiner  vielgestaltigen  Komplikationen  unablässig  die  medizinische 
Forschung  beschäftigt  und  die  Erkenntnis  und  Behandlung  der  Krank- 
heit bis  zur  heutigen  Stufe  erhoben. 

Die  Masern  zeigten  während  des  19.  Jahrhunderts  in  ihrem 
zeitlichem  Auftreten  gewisse  Analogien  mit  jenem  des  Scharlachfiebers. 
In  den  ersten  beiden  Jahrzehnten  des  Säkulums  wurden  sie,  soweit 
Berichte  vorliegen,  nur  in  einzelnen  grossen  Epidemien  beobachtet, 
wie  beispielsweise  in  England,  wo  sie  in  den  Jahren  1807 — 1808, 
1811 — 1812  in  schweren  bösartigen  Formen  über  das  ganze  König- 
reich eine  allgemeine  Verbreitung  erlangten.  Ausgedehnte  Masem- 
epidemien  fielen  sodann  1822 — 1824  auf  Italien,  die  Niederlande  und 
Deutschland.  1826—1828  auf  die  beiden  zuletzt  genannten  Länder, 
1834  — 1836  auf  den  grössten  Teil  von  Mittel-  und  Xordeuropa, 
1842 — 1843  auf  die  "Weststaaten  unseres  Kontinents,  1846 — 1847  auf 
die  meisten  Länder  von  Europa  und  Nordamerika,  1860 — 1863  auf 
Deutschland.  —  Eine  für  die  Kenntnis  der  Wege  des  Kontagiums  und 
seiner  Inkubationszeit  bemerkenswertes  Ereignis  bildet  die  Ein- 
schleppung der  Masern  auf  den  Faröern  im  Jahre  1846,  wo  sie  seit 
1781  nicht  vorgekommen  waren,  in  dem  erstgenannten  Jahre  jedoch, 
wie  Panum  nachgewiesen,  aus  Kopenhagen  Eingang  gefunden  und 
von  den  7782  Bewohnern  mehr  als  6000  ergriffen  hatten.  Aehnlich, 
doch  um  vieles  milder  verhielt  sich  der  Ausbruch  der  Krankheit  1846 
auf  Island,  das  seit  dem  Jahre  1696  von  Masernepidemien  frei  ge- 
blieben war;  hingegen  waren  sie  hier  in  der  nächstfolgenden  Epi- 
demie des  Jahres  1882,  während  welcher  nahezu  die  gesamte  Be- 
völkerung ergriffen  worden  war,  von  einer  ungewöhnlich  hohen  Mor- 
talität begleitet.  Dasselbe  Schauspiel  schrecklicher  Verwüstungen 
wiederholte  sich  in  anderen  Ländern,  in  den  nachweisbar  die  Glasern 
zum  erstenmale  erschienen  waren,  wie  1846  unter  den  Indianern  des 
Hudsons-Bay-Gebietes,  oder  in  Gegenden,  wo  sie  seit  langen  Pausen 
wieder  einen  Import  erfahren  hatten,  wie  1873  auf  den  Fidji-Inseln 
und  auf  Mauritius,  1874  in  Südaustralien. 


864  Victor  Fossel. 

Mit  der  fortschreitenden  Ausbildung  der  Nosologie  und  der 
strengeren  Differenzierung  der  Masern  von  den  anderen  akuten  Exan- 
themen erweiterten  sich  zusehends  die  Grenzen  der  epidemiologischen 
Kenntnisse  über  die  Krankheit.  Hierzu  haben  die  im  Laufe  des 
19.  Jahrhunderts  wieder  aufgenommenen  Impfungen  der  Morbillen 
insoferne  aufklärend  beigetragen,  als  durch  sie  sowohl  die  direkte 
Uebertragung  des  spezifischen  Kontagiums,  wie  auch  die  Reihenfolge 
in  der  Entwicklung  der  pathognomonischen  Krankheitserscheinungen 
festgestellt  werden  konnte.  So  haben  1822  Speranza,  1842  K a t o n a 
in  Ungarn,  1854  Bufalini  und  andere  italienische  Aerzte,  1842  und 
1852  Mayr  in  Deutschland  Impfversuche  der  Masern  mit  positivem, 
hingegen  1816  T hemmen  und  1890  Thomson  mit  negativem  Er- 
folge durchgeführt. 

Was  endlich  die  Röteln  (Rubeolen  der  Deutschen,  Roseola 
epidemica  der  Franzosen)  anbelangt,  so  ist  es  allbekannt,  wie  im  Laufe 
der  Geschichte  ihre  Spezifität  umstritten  und  heute  noch  von  nam- 
haften Schriftstellern  geleugnet,  zum  mindesten  bezweifelt  wird.  Ur- 
sprünglich unter  dem  nosologischen  Begriffe  der  Morbillen  oder  der 
Scarlatina  völlig  aufgegangen  und  konsequenterweise  deren  Konfun- 
dierung  teilend,  wurden  die  Röteln  von  der  zweiten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  an,  als  man  die  Masern  vom  Scharlach  schärfer  zu 
sondern  begann,  bald  als  eine  Varietät  des  einen,  bald  des  anderen 
Exanthems  aufgefasst.  Bei  der  anhaltenden  Verwirrung,  die  in  der 
Benennung  der  Morbillen  als  Rubeolae  oder  Rougeole  gelegen  war, 
wird  es  der  historischen  Nachschau  unmöglich  gemacht,  die  thatsäch- 
liche  Ausscheidung  der  Röteln  aus  den  Verwandtschaftsgruppen  der 
Masern  und  des  Scharlachs  vor  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  zu  fixieren, 
von  früheren  Zeitperioden  ganz  zu  schweigen.  Selbst  im  19.  Jahr- 
hundert entspann  sich  mit  der  Aufstellung  der  Röteln  als  eines 
Krankheitsprozesses  sui  generis  der  langwährende  Kampf  für  und 
wider  ihre  Sonderstellung.  Während  Behrens,  Will  an,  Struve 
u.  a.  die  Rubeola  morbillosa  gelten  Hessen,  waren  Hufeland, 
J.  P.  Frank,  Heim  und  Reil  für  die  Rubeola  scarlatinosa  einge- 
treten, indes  Schönlein 's  Schule  vermittelnd  einschritt  und  die 
Röteln  als  eine  hybride  Form  von  Masern  und  Scharlach  erklären  zu 
müssen  glaubte.  Unter  diesem  Zwiespalte  der  Meinungen  war  die  von 
einzelnen  immer  wieder  verfochtene  Specifität  der  Röteln  unbeachtet 
geblieben,  die  Mehrzahl  nahm  von  deren  Existenzberechtigung  keine 
Notiz  und  hervorragende  Autoren,  wie  Cannstatt,  Hebra  deckten 
diesen  negierenden  Standpunkt  mit  ihrem  Namen. 

Und  doch  Hess  sich  die  Besonderheit  und  Kontagiosität  der 
Röteln,  noch  weniger  die  Thatsache  von  der  Hand  weisen,  dass  die 
Erkrankung  an  Rubeolen  nicht  vor  Masern  oder  Scharlach  schützte 
und  umgekehrt.  Es  bedurfte  vieler  und  umsichtiger  Beobachtungen, 
um  die  schon  von  Wagner,  T  r  o  u  s  s  e  a  u  u.a.  ausgesprochene  Ueber- 
zeugung  von  der  Selbständigkeit  der  Röteln  in  der  Pathologie  der 
akuten  Exantheme  in  weiteren  ärztlichen  Kreisen  endlich  zu  be- 
festigen. Von  den  sechziger  Jahren  an  trat  der  Umschwung  zu 
Gunsten  der  Spezifitätslehre  der  Röteln  ein,  unter  deren  Vertretern 
wir  nur  Thomas,  Steiner  Emminghaus,  Roth,  Nymann, 
Liveing,  de  Man,  Cheadle,  Squire  und  Gerhardt  nennen 
wollen. 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  865 

X.  Diphtherie. 
Litteratur. 

(Ausser  den  Schriften  von  H.ippoJcrates,  Aretäus,  Aetius)  MercatxiSf 
Opern,  1609.  —  Bartholituis^  De  angina  puerorum,  1653.  —  Wierus,  Opera, 
1660.  —  Ghisi,  Letfere  mediche,  1749.  —  Ballonius,  Opera,  1736.  —  Fother- 
gill.  An  account  of  the  sore-throat..  1751.  —  üosenstein,  l.  c.  17S7.  —  Royer- 
CoUard,  .Croup-'  in  Dict.  d.  sc.  med.  Tom.  Till  1813.  —  Goelis,  Tractatus  de 
angina  memhr.,  1813.  —  tTuHne,  Abh.  üb.  d.  Croup,  1816.  —  Bretonneau,  Des 
inflammations  speciales  du  tissu  muqueux  et  en  particulier  de  la  diphfherite,  1826.  — 
Fuchs,  Histor.  Untersuchtingen  üb.  Angina  maligna,  1828.  —  HHxham^  l.  c. 
1829.  —  Joffe,  Die  Diphtherie  in  epid.  «.  nosol.  Beziehung,  Schm.  Jahrb.  113.  Bd. 
1862.  —  Trotistieau,  Med.  Klinik.  1866.  —  Oertel,  Die  epid.  D..  Ziemss.  Hdb. 
1871.  —  Seitz,  D.  und  Croup.  1877.  —  Jttcohi,  in  Gerhnrd's  Hdb.  d.  Kindkh. 
IL  Bd.  1877.  —  Sanue,  Traite  de  la  D.  1877.  —  Rauch fass,  in  Gerhards  Hdb. 
1878.  —  Ilke,  Die  Epidemie  d.  D.  in  Südrusslayid,  Tiertjsch.  f.  ger.  Med.  1881.  — 
Monti,  Croup  und  D.,  1884.  —  Eichstaedt,  Die  Diphtherie,  1884.  —  Francotte, 
Die  Diphtherie.  1886.  —  Schuchardt,  Zur  Gesch.  d.  Tracheotomie,  Arch.  f.  kl. 
Chir.  36.  Bd.  1887.  —  Behring,  Die  Geschichte  der  D.  1893.  —  Filatow,  Zur 
Epidemiologie  d.  D.  im  Süden  Russlands,  Jahrb.  f.  Kinderheilk.  39.  Bd.  1895.  — 
Carlseii,  Outlines  of  the  history  of  D.  in  Denmark,  Janus  I  und  II 1896 — 97.  — 
Baginsky,  D.  und  Croup,  Nothnagel  Hdb.  d.  sp.  P.  u.  Tli.  II.  Bd.  1898.  — 
Bayeux,  La  diphtherie  depuis  Aretee  .  . .  jusqu'en  1894,  1899. 

Die  Diphtherie  war  eine  dem  Altertum  wohlbekannte  Krankheit. 
In  den  Hippokratischen  Schriften  wird  ihres  Vorkommens  an  mehreren 
Stellen  gedacht,  am  deutlichsten  giebt  von  ihren  Erscheinungen  Nach- 
richt die  Schrift  „de  dentitione~,  in  der  die  bei  Kindern  beob- 
achteten Geschwüre  des  Schlundes  nach  Aussehen  und  Vorhersage 
beschrieben  werden.  In  der  Hippokratischen  Sammlung  wii-d  die 
Krankheit  unter  dem  Namen  „zimyx»;"  bezeichnet  worunter  übrigens 
auch  andere  mit  Schlingbeschwerden  und  Atemnot  verbundene  Er- 
krankungen der  Organe  des  Halses  verstanden  und  dargestellt  wurden. 
Diesem  Kollektivbegriffe  entspricht  die  ..Angina''  der  Römer,  nach 
deren  Vorbilde  bis  über  das  Mittelalter  hinaus  eine  Reihe  von  Krank- 
heitsformen als  Angina  mit  der  näheren  Angabe  der  ergriffenen  Teüe 
oder  des  allgemeinen  Krankheitsbildes  in  der  pathologischen  Termino- 
logie aufgezählt  erscheint.  Eine  hervorragende  SteUe  in  der  Ge- 
schichte der  Diphtherie  gebührt  der  berühmt  gewordenen  Schilderung 
des  Aretäus  über  die  „syrischen  Geschwüre",  die  dem  Bilde 
des  Leidens  Zug  für  Zug  gleichkommt.  Die  von  Archigenes  und 
Aetius  gelieferten  Angaben  über  die  „pestartigen  und  bran- 
digen Geschwüre  des  Schlundes"  berücksichtigen  die  charak- 
teristischen Symptome  der  Krankheit,  vornehmlich  die  Bildung,  den 
Verlauf  und  die  Folgen  des  exsudativen  Prozesses.  Wie  bei  A  r  e  t  ä  u  s 
werden  die  gangränösen  Affektionen  im  Rachen  von  jenen  der  Luft- 
wege auseinander  gehalten,  wobei  Aetius  die  Beobachtung  beifügt, 
dass  die  Membranauflagerung  vom  Schlünde  in  die  Trachea  hinab- 
steigen könne  und  nach  Ablauf  des  örtlichen  Leidens  die  Paralyse 
des  Gaumensegels  ein  Produkt  der  lokalen  Ausschwitzuug  darstelle. 
Nicht  unerwähnt  soll  bleiben,  dass  die  Lai^-ngotomie,  deren  ei-ste  Aus- 
tührung  dem  römischen  Arzte  Asklepiades  zugeschrieben  wird, 
von  Paulus  von  Aegina  und  Antyllus  sorgfaltig  gelehrt  und  als 
lebensrettender  Eingriff  gegen  bedrohliche  Zufälle  der  Schlund-  und 
Kehlkopfbräune  empfohlen  wurde. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  55 


Victor  Fossel. 

Im  Talmud  findet  die  Halsbräune  unter  dem  Namen  „Askara" 
Erwähnung,  von  der  es  heisst,  sie  sei  die  schwerste  aller  Todesarten 
und  gleiche  einem  Taue  in  der  Oeffnung  der  Speiseröhre. 

Bei  den  Arabern  und  den  abendländischen  Aerzten  des  Mittel- 
alters wird  des  öfteren  die  „Angina"  oder  „Squinantia"  genannt 
oder  eine  „pestis  faucium"  aufgezählt,  von  der  es  aber  völlig  un- 
entschieden bleibt,  ob  sie  ein  selbständiger  Prozess  oder  eine  Lokali- 
sation anderer  Infektionskrankheiten,  der  Beulenpest,  des  Typhus,  der 
Variola  u.  a.  m.  gewesen  sei. 

Etwas  durchsichtiger  werden  die  Nachrichten  über  die  Diphtherie 
und  deren  Verbreitung  im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts.  Die  von 
deutschen  und  holländischen  Aerzten  jener  Zeit  erhaltenen  Aufzeich- 
nungen über  bösartige  Anginen  gestatten  mit  hoher  Wahrscheinlich- 
keit die  Annahme,  es  habe  sich  hierbei  um  wahre  Diphtherie  ge- 
handelt. So  grassierte  im  Jahre  1517  in  ganz  Niederdeutschland,  am 
Ehein  und  in  Holland  eine  höchst  gefahrvolle  Schlundbräune  unter 
Kindern  und  Erwachsenen.  Nach  Forestus,  der  seine  Angaben 
dem  Berichte  des  holländischen  Arztes  Tiengius  entlehnte,  ist  an 
dem  Bilde  der  Diphtherie  kaum  zu  zweifeln.  —  In  den  Jahren  1544 
bis  1545,  1564 — 1565  wiederholen  sich  Epidemien  der  Angina  maligna 
in  denselben  Gegenden,  worüber  Wierus  (Weyer)  eine  wertvolle 
Schilderung  hinterlassen  hat.  Auch  Frankreich  scheint  damals  den 
Boden  der  Krankheit  gebildet  zu  haben.  So  hat  Baillou  1576  in 
Paris  einen  Fall  von  Larynxmembran  beobachtet  und  beschrieben, 
ohne  dass  er  im  stände  gewesen  wäre,  dem  seltenen  Vorkommnis 
seiner  Praxis  eine  Deutung  zu  geben. 

Die  ersten  naturgetreuen  Darstellungen  der  Diphtherie  im  16.  und 
17.  Jahrhundert  verdanken  wir  den  spanischen  Aerzten.  Die  als 
„G-arrotillo"  oder  als  „Morbus  suffocans"  benannte  Krankheit 
herrschte  in  Spanien  mehrere  Jahrzehnte  hindurch  (1583—1618)  in 
furchtbarer  Ausbreitung.  Anfänglich  und  abAvechselnd  in  den  einzelnen 
Landschaften  grassierend,  überzog  die  Epidemie  in  den  Jahren  1610 
bis  1618  das  ganze  Königreich  mit  grosser  Heftigkeit  und  erreichte 
im  Jahre  1613  eine  solche  verderbenbringende  Höhe,  dass  noch  lange 
im  Volke  das  Andenken  an  dieses  „anno  de  los  garrotillos"  sich 
erhielt.  In  Italien  war  schon  im  Jahre  1563  die  „Angina  maligna'' 
in  bösartiger  Weise  in  Neapel  und  Sizilien  ausgebrochen,  grassierte 
1610  in  Oberitalien  und  rief  in  den  Jahren  1617  und  1618  eine  mör- 
derische Epidemie  in  Neapel  hervor.  Im  Jahre  1620  erschien  die 
Seuche  in  Portugal,  recrudeszierte  in  Sicilien  und  gelangte  nach  Malta. 
Im  Jahre  1630  ist  Spanien  deren  neuerlicher  Schauplatz,  1632  tritt 
sie  wiederum  in  Sicilien,  1634  im  Kirchenstaate,  1642  in  Neapel  und 
anderen  Gebieten  der  italischen  Halbinsel  auf  und  erneuert  im  Zeit- 
räume vom  Jahre  1645  bis  1666  ihre  Wanderungen  in  Spanien.  Die 
medizinische  Litteratur  des  17.  Jahrhunderts  umfasst  eine  ansehnliche 
Zahl  von  Berichten  über  die  Diphtherie  in  Spanien  und  Italien. 
Unter  den  Spaniern  sind  es  vor  allem  Villa  Keal,  Fontecha, 
Herr  er  a  und  Mercatus,  die  sich  durch  Genauigkeit  und  Plastik 
der  Darstellung  auszeichnen.  Sie  betonen  die  hervorragende  Kon- 
tagiosität  des  Leidens,  geben  eine  sorgfältige  Beschreibung  der  nach 
In-  und  Extensität  verschiedenartigen  Formen  des  Exsudates  und  der 
allgemeinen  Begleiterscheinungen  des  von  den  einfachsten  Graden  bis 
zur   tödlichen  Erstickung  wechselvoll   in   die  Erscheinung  tretenden 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  867 

Prozesses,  sie  bieten  auch  in  der  Lebendigkeit,  mit  der  die  patho- 
logischen Veränderungen  und  ihre  Stadien  vor  unser  Auge  geführt 
werden,  ein  Muster  von  Krankheitsbeschreibung.  Neben  den  voll  ge- 
würdigten Lokalaflfektionen  im  Rachen,  Schlund,  Kehlkopf  und  der 
Nase  wii'd  die  unter  einem  adynamischen  Fieber  einhergehende  septische 
Diphtherie  meisterhaft  geschildert.  Die  dem  Leiden  folgenden  Läh- 
mungen, die  Störungen  der  Sprache,  die  nach  Herrera  an  die  Stimm- 
alteration syphilitischer  Kranker  erinnern,  finden  strenge  Berück- 
sichtigung. Bei  demselben  Autor  begegnen  wir  der  Bemerkung,  dass  sich 
die  brandige  Zei-störung  nicht  selten  auf  die  Haut  und  auf  die  Wunden 
fortgesetzt  habe.  An  Wert  der  nosographischen  und  epidemiologischen 
Bearbeitung  der  Diphtherie  stehen  die  Schriften  der  Italiener  des  17. 
Jalirhunderts  gegen  die  spanischen  Aerzte  nicht  zurück.  Die  von 
Carnevale,  Foglia,  Nola,  Cortesius,  Bartholini,  Seve- 
rini,  Sgambati,  Cleti,  Alaymo  u.a.  gelieferten  Arbeiten  haben 
die  im  Zeiträume  1610—1650  gemachten  Erfahrungen  zum  Gegenstand. 
Die  unter  verschiedenen  Namen  („morbus  strangulatorius*^, 
^morbus  gulae",  malo  in  canna-')  bezeichnete  Krankheit  wii'd 
ihrer  heftigen  Ansteckungsfähigkeit  wegen  der  Pest  nahegesteUt  und 
angesichts  der  Verheerungen,  die  sie  unter  der  Kinderwelt  angerichtet, 
„infantum  puerorumque  strages"  genannt.  In  zahlreichen 
Fällen  wurde  die  croupöse  wie  die  septische  Fonii  des  Prozesses  von 
den  angeführten  Beobachtern  als  L>sache  des  tötüchen  Ausganges 
betont  und  der  Versuch  unternommen,  an  der  Leiche  näheren  Einblick 
iu  den  Lokalbefund  zu  gewinnen.  Severini  hat  in  der  Neapler 
Epidemie  1642  bei  der  Sektion  eines  unter  Suffokationserscheinungen 
verstorbenen  Knaben  wahrgenommen,  dass  der  Kehlkopf  von  Ge- 
schwüren frei  geblieben  und  nur  von  einer  aus  verdicktem  Schleime 
bestehenden  Kruste  bedeckt  war.  eine  Erscheinung,  die  schon  vor- 
dem Villa  Real  gesehen  hatte.  Bei  Cleti  findet  sich  die  be- 
merkenswerte Stelle,  dass  bei  Angina  maligna  der  Tod  entweder  in- 
folge der  Strangulation  der  Luftwege  oder  durch  Intoxikation  des 
Organismus  („sua  vii'ulentia")  herbeigeführt  werde.  Nach  Severinis 
Erfahrungen  starben  viele,  die  scheinbar  genesen  und  von  allen  Resten 
der  Krankheit  befreit  waren,  oft  plötzlich  unter  Erscheinungen  des 
Kollaps. 

Die  Therapie  bestand  in  der  Anwendung  der  beliebten  Alexi- 
pharmaka,  örtlicher  und  allgemeiner  Blutentziehungen,  in  der  lokalen 
Applikation  von  Säuren,  des  schon  im  Altertum  als  Spezifium  ge- 
rühmten Kupfers  und  endlich  in  ausgiebigem  Gebrauche  der  Kau- 
terien.  Ueber  den  Nutzen  der  Tracheotomie  waren  die  damaligen 
Aerzte  in  zwei  Lager,  in  die  der  beredten  Fürsprecher  und  jene  der 
schärfsten  Gegner  geteilt. 

Am  Beginne  des  18.  Jahrhunderts  blieb  —  soweit  geschichtliche 
Daten  vorliegen  —  die  Diphtherie  auf  eine  im  Jahre  1701  auf  der  Insel 
Milo  und  in  der  Levante  herrschende  Epidemie  beschränkt.  Den  nächsten 
Zügen  der  Krankheit  begegnen  wir  erst  um  die  Mitte  des  Säkulums. 
So  wurde  sie  auf  der  iberischen  Halbinsel,  wo  sie  schon  im  Jahre 
1715  in  mehreren  Provinzen  vorgekommen  war.  innerhalb  der  Jahre 
1749 — 1762  in  vielen  Gegenden  Spaniens  und  Portugals  beobachtet. 
Eine  allgemeine  Verbreitung  der  Schlundbräune  in  Nordamerika  hat 
vom  Jahre  1735  ihren  Anfang  genommen.  Stärkere  Infektionen  zeigte 
sie  1739  und  1746  in  London,  1743  in  Irland  und  in  Paris,  1747  bis 


868  Victor  Fossel. 

1748  in  Cremona.  Vom  Jahre  1749  an  ist  eine  auffallende  Morbidität 
an  Diphtherie  unverkennbar,  von  diesem  Zeitpunkte  beginnend,  ent- 
wickelte sich  die  brandige  Bräune  in  ganz  Europa,  insbesondere  in 
Frankreich,  Italien,  Holland,  England,  Deutschland  und  Schweden 
innerhalb  der  nächsten  zwei  Dezennien  zu  Epidemien,  die  entweder 
Jahre  hindurch  in  ununterbrochener  Kontinuität  in  einzelnen  Gegenden 
sich  erhielten  oder  nach  wechselnden  Intervallen  in  einzelnen  Städten 
und  Ländern  von  neuem  ausbrachen.  In  diese  Periode  fallen  auch 
die  weit  um  sich  greifenden  Ausbrüche  der  Krankheit  in  verschiedenen 
Gebieten  Nordamerikas. 

Wie  zu  anderen  Zeiten  sahen  auch  die  damaligen  Aerzte  in  der 
brandigen  Bräune  eine  neue  Krankheit.  Golden,  Douglas  und 
Middleton,  die  die  Diphtherie  in  Nordamerika  in  den  Epidemien 
während  der  Jahre  1735—36  und  1752 — 55  beschrieben  haben,  fanden 
die  Krankheit  häufig  mit  Hautausschlägen  vereint,  die  nach  dem 
Stande  der  herrschenden  Lehre  zumeist  für  Friesel  gehalten  worden 
sind.  Die  häufig  beobachtete  croupöse  Form  bei  geringer  Beteiligung 
des  Rachens  gab  Middleton  Anlass,  das  Leiden  „x4.ngina  t rä- 
ch ealis"  zu  benennen.  —  Unter  den  englischen  Autoren  jener  Zeit 
verdienen  Fothergill,  Grant,  Starr  und  Huxham  vor  allen 
genannt  zu  werden.  Nach  ihren  Beobachtungen  trat  auch  in  England 
die  maligne  Halsentzündung  oftmals  im  Gefolge  von  Exanthemen  auf, 
die  Fothergill  in  der  Londoner  Epidemie  1747 — 48,  und  Huxham 
in  den  Jahren  1751 — 53  in  Plymouth  mit  besonderer  Aufmerksamkeit 
verfolgt  und  als  erysipelatöse  oder  pustulöse  Ausschläge  beschrieben 
haben.  Inwieweit  hier  Scharlach  oder  Variola,  die  gleichzeitig  gras- 
sierten, im  Spiele  standen,  entzieht  sich  einer  sicheren  Beurteilung, 
wiewohl  es  nahe  liegt,  aus  der  von  Huxham  berichteten  nachträg- 
lichen Abschuppung  der  Hautdecke  auf  scarlatinösen  Prozess  zu 
schliessen.  Neben  der  charakteristischen  Geschwürsbildung  mit  Gangrän 
und  Jaucheausfluss  aus  Mund  und  Nase  in  zahlreichen  Fällen  wurde 
von  den  gedachten  Gewährsmännern  hinwieder  bei  vielen  anderen 
Kranken  das  Vorkommen  und  Beschränktbleiben  der  pathologischen 
Erscheinungen  auf  Larynx  und  Trachea  bemerkt.  Während  der  epi- 
demischen bösartigen  Bräune,  die  zu  jener  Zeit  in  Frankreich  wieder- 
holt in  der  Hauptstadt  sowohl  wie  in  den  Provinzen  beobachtet  wurde, 
trat  nach  den  ausführlichen  Beschreibungen,  von  Chomel  und 
Malouin,  Marteau  de  Grandvilliers  u.  a.  die  Krankheit  gleich- 
falls häufig  in  Verbindung  mit  einem  Exanthem  auf,  das  als  Scharlach 
gedeutet  werden  darf.  Im  übrigen  stimmt  die  von  den  französischen 
Aerzten  gegebenen  Darstellung  im  wesentlichen  mit  jener  der  eng- 
lischen Autoren  überein. 

Ein  grössere  Selbständigkeit  in  der  Auffassung  der  Diphtherie 
lag  in  der  Schrift,  die  Ghisi  in  Cremona  über  die  in  den  Jahren 
1747—48  dort  grassierende  Krankheit  veröffentlichte.  Abweichend 
von  der  bisherigen  Auffassung  erklärte  er  die  Bildung  von  Pseudo- 
membranen nicht  als  Schorf  und  Ergebnis  der  brandigen  Zerstörung, 
sondern  als  gallertartige  Gerinnsel,  ähnlich  der  Crusta  phlogistica. 
Von  dieser  Erwägung  und  der  Erfahrung  ausgehend,  dass  manche 
Kranke,  bei  denen  Geschwüre  im  Rachen  gänzlich  fehlten,  von  gefahr- 
vollen Auflagerungen  auf  der  Schleimhaut  des  Kehlkopfes  und  der 
Luftröhre  befallen  und  nicht  selten  binnen  kurzer  Frist  unter  Er- 
stickungserscheinungen   hin  weggerafft    wurden,    stellte   Ghisi    zwei 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  869 

Formen  der  malignen  Halsentzündung  auf:  erstens  die  eigentliche 
Schlundbräune  mit  brandiger  Zerstörung  und  Adynamie,  zweitens  die 
den  Schlund  freilassende  Bildung  einer  Entzündungsmembran  in  den 
Luftwegen,  die  expektoriert  werden  könne  oder  aber  durch  Abschluss 
der  Luftwege  zur  Suffokation  führe.  Dabei  war  Ghisi  nicht  die 
Wahrnehmung  entgangen,  dass  beide  Formen  des  Prozesses,  die  er 
als  zusammengehörig  und  als  eine  und  dieselbe  Krankheit  anerkennt, 
zu  gleicher  Zeit  an  einem  Individuum  auftreten  können. 

Innerhalb  der  von  denJahren  1749  und  1770  umgrenzten  Periode 
wurde,  wie  bemerkt  die  brandige  Bräune  zu  einer  europäischen  Seuchen- 
plage. So  wurde  Schweden  in  denJahren  1755—1758  davon  schwer  heim- 
gesucht. 1761 — 1762  herrschte  sie  wiederum  in  üpsala.  Rasbo  u.  a.  0., 
von  1764 — 1768  in  Calmar,  woran  sich  später  lokale  Ausbrüche  in  ver- 
schiedenen Teilen  des  Landes  anreihten.  Man  nannte  sie  in  Schweden 
die  Erdrosselungskrankheit,  Strypsjuka,  ihre  besten  Be- 
obachter waren  "Willke,  Rosen  von  Rosen  stein,  Berg  und 
"Wahlbom.  —  Die  im  Jahre  1751  im  schweizerischen  Siementhale 
aufgetretene  Epidemie  der  Rachenbräune  hat  Lang  h  ans  aufgezeichnet 
und  als  unverkennbare  Diphtherie  dargestellt.  —  Die  epidemische 
maligne  Angina,  die  vom  Jahre  1750  bis  1762  in  Madrid  ununter- 
brochen angedauert  hatte,  war  während  dieses  Zeitraumes  gleichfalls 
an  zahlreichen  Orten  Spaniens  und  Portugals  zam  Ausbruch  ge- 
kommen, —  Auffallend  spärliche  Mitteilungen  liegen  über  jene  Zeit 
aus  Deutschland  vor.  Wedel  gedenkt  des  Auftretens  der  Bräune 
im  Jahre  1715  in  Jena,  v an  Bergen  beschreibt  1764  eine  Epidemie 
in  Frankfurt  a.  M..  Michaelis  in  Göttingen  endlich  tritt  im  Jahre 
1778  mit  einer  selbständien  Schrift  in  die  lebhaft  geführte  Diskussion 
ein,  die  sich  mittlerweile  unter  den  Aerzten  über  die  Unterschiede 
von  Croup  und  Diphtherie  (Angina  maligna)  entsponnen  hatte. 

Unter  den  ärztlichen  Schriften  aus  diesem  Zeiträume  verdienen 
ausser  der  schon  erwähnten  Arbeit  des  Cremoneser  Ghisi  die  Schil- 
derungen Homes  und  Bard's  eine  besondere  Erwähnung  in  der 
historischen  Uebersicht  der  Lehre  von  der  Diphtherie.  Der  schottische 
Arzt  Home  publizierte  1751  seine  berühmt  gewordene  Abhandlung 
über  den  Croup.  Nach  seiner  Auffassung  besteht  die  in  der  Schleim- 
haut des  Larynx  und  der  Trachea  auftretende  Erkrankung  in  einer 
Entzündung  mit  Bildung  eines  Schleimes,  der  sich  bis  zur  Gerinnung 
und  Entwicklung  einer  „ki-ankhaften  Haut-'  der  Luftwege  steigern 
könne.  Diese  nach  seiner  Ansicht  zu  Pseudomembranen  umgewandelten 
Schleimkonkremente  werden  bei  heftiger  Expektoration  losgelöst,  sie 
finden  sich  aber  auch  an  der  Leiche  bis  in  die  Bronchien  hinabreichend. 
Die  entweder  unter  dem  Bilde  einer  katarrhalischen  Entzündung  oder 
in  schwerer  membranöser  Form  auftretenden  Erkrankungen  sind  nach 
Home  zwei  verschiedene  Stadien  einer  und  derselben  Krankheit, 
nämlich  der  „Suffocatio  stridula".  Sie  hängt  vorwiegend  von 
atmosphärischen  Einflüssen  ab  und  ist  ohne  Kontagiosität  und  nur 
sporadisch  vorkommend.  Von  dem  bekannten  Prozesse  der  Diphtherie 
des  Rachens  gibt  Home,  dem  übrigens  nur  ein  beschränktes  Be- 
obachtungsmaterial zu  Gebote  stand,  keine  Nachricht,  Seine  Schrift 
erregte  unter  den  Zeitgenossen  grosses  Aufsehen,  die  Aufstellung  der 
mit  dem  Worte  „Croup"  bezeichneten  Abart  der  gangränösen  Hals- 
entzündung als  einer  Krankheit  sui  generis  wurde  von  den  damaligen 
Aerzten  bereitwillig  anerkannt  und  hat  bis  zu  den  Tagen  Breton- 


870  Victor  Fossel. 

neau's  und  bekanntlich  noch  weiter  darüber  hinaus  die  grösste  Ver- 
wirrung in  den  ärztlichen  Anschauungen  hervorgerufen. 

Weit  gründlicher  ging  Samuel  Bard  in  Newyork  bei  seinen 
Studien  über  die  „Angina  suffocativa"  zu  Werke.  Seine  im  Jahre 
1771  erschienene  Schrift,  gestützt  auf  reiche,  zunächst  in  Vorjahre 
erworbene  Erfahrungen,  giebt  ein  erschöpfendes  Bild  der  Krankheit. 
Ihm  waren  die  leichten  Fälle  von  geringem  Belage  der  Tonsillen 
ebensowenig  unbekannt  geblieben,  wie  die  schweren,  brandigen  Zer- 
störungen des  Pharynx  und  seiner  Nachbarschaft,  deren  Vorkommen 
er  bei  Kindern  wie  bei  Erwachsenen  beobachtet  hat.  Die  Haut- 
diphtherie, die  Lähmungen  der  Schlingwerkzeuge,  die  Paresen  der  Be- 
wegungsorgane, der  Kräfteverfall  und  andere  Phänomene  in  der  Re- 
konvalescenz  der  Kranken  sind  in  seine  Darstellung  aufgenommen. 
Was  aber  gegenüber  Home  dem  Berichte  des  Newyorker  Arztes  be- 
sonderen Wert  verleiht,  ist  die  Sorgfalt,  mit  der  er  das  Fortschreiten 
des  Prozesses  kennzeichnet,  der  im  Rachenraume  und  an  den  Tonsillen 
mit  weisslichem  Belage  gewöhnlich  zuerst  sich  manifestiere,  in  anderen 
Fällen  aber  ohne  Veränderungen  im  Rachen  mit  Atemnot  einsetze. 
Die  Entwicklung  und  Zunahme  der  sich  verdickenden  Beläge  und  ihr 
Uebergreifen  auf  den  Kehlkopf  und  die  Luftröhre,  die  sich  steigern- 
den Suffokationserscheinungen  bei  Ausbreitung  der  trachealen  Schwel- 
lungen werden  an  der  Hand  von  Beispielen  von  Bard  genau  vorge- 
führt und  durch  die  Befunde  von  drei  Autopsien  erläutert.  Bard 
hielt  die  einzelnen  Formen  der  Angina  maligna,  mochten  sie  unter 
vorwiegender  Beteiligung  des  Nasen  -  Rachenraumes ,  unter  den  Er- 
scheinungen der  Entzündung  des  Larynx  und  der  Trachea  oder  unter 
Kombination  beider  Lokalisationen  zu  stände  gekommen  sein,  für 
identisch,  ätiologisch  zusammengehörig  und  nur  nach  der  Oertlichkeit 
verschiedenartig  ausgeprägt.  So  zutreffend  diese  Beobachtungen  waren 
und  von  der  Schärfe  des  Urteiles  ein  glänzendes  Zeugnis  gaben,  so 
wenig  wurden  sie  von  den  Mitlebenden  gewürdigt  und  verstanden,  ein 
Schicksal,  dem  wir  in  der  Heilkunde  des  öfteren  begegnen.  Bard's 
Abhandlung  blieb  den  meisten  Zeitgenossen  unbekannt,  die  ärztliche 
Welt  neigte  immer  mehr  zu  Home's  Auffassung,  so  dass  der  ehr- 
würdige Kurt  Sprengel  dieser  Richtung  folgend,  die  Signatur  der 
Krankheit  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  mit  den  Worten 
ausdrücken  konnte :  „Der  Croup  oder  die  häutige  Luftröhrenentzündung 
scheint  an  die  Stelle  der  brandigen  Bräune  getreten  zu  sein." 

Dieses  scheinbare  Zurückweichen  der  Diphtherie  vollzog  sich 
jedoch  nur  in  den  Schriften  der  ärztlichen  Beobachter.  In  Wirklich- 
keit trat  die  maligne  Angina  innerhalb  der  letzten  drei  Jahrzehnte 
des  18.  Jahrhunderts  in  vielen  Ländern  neuerlich  in  bösartigen  Epi- 
demien auf.  So  verbreitete  sie  sich  in  den  Niederlanden,  in  Frank- 
reich, England,  Nordamerika  und  Westindien.  Ihre  Verbindung  mit 
Scharlach-  oder  Frieselausschlägen  haben  mehrere  Berichterstatter 
aufgezeichnet,  u.  a.  Johns  tone,  der  in  einer  Scharlachepidemie  1778 
in  der  Umgebung  von  Worcester  diphtheritische  Prozesse  im  Verlaufe 
der  Scarlatina  nachwies.  Unter  den  übrigen  englischen  Aerzten,  die 
epidemiologische  Aufzeichnungen  über  Angina  maligna  hinterlassen 
haben,  mag  Levison  und  Rumsey  genannt  werden.  Ersterer 
sammelte  seine  Beobachtungen  in  der  Londoner  Epidemie  des  Jahres 
1747,  letzterer  während  der  in  den  Jahren  1788,  1793—1794  aufge- 
tretenen Epidemien  zu  Chesam  in  Bukinghamsliire.    Ueber  die  auf 


Greschiclite  der  epidemischen  Krankheiten.  871 

französischem  Boden  damals  an  vielen  Orten  herrschende  epidemische 
Diphtherie  enthält  der  Bericht  des  um  die  Seuchengeschichte  ver- 
dienten Le  Pecq  de  la  Cloture  wertvolle  Angaben.  Das  hohe 
Interesse,  das  man  seit  dem  Erscheinen  von  Home's  Abhandlung  in 
wissenschaftlichen  Kreisen  der  Croupfrage  entgegenbrachte,  erhellt 
aus  der  Thatsache,  dass  die  Pariser  medizinische  Gesellschaft  im 
Jahi-e  1783  eine  Preisfrage  ausschrieb,  ob  die  in  Schottland  und 
Schweden  unter  dem  Namen  des  Croup  oder  der  membranösen  Angina 
bekannte  Krankheit  in  Frankreich  überhaupt  vorkomme  oder  nicht. 
Die  mit  dem  Preise  gekrönte  Arbeit  von  Vieusseux  aus  Genf 
brachte  jedoch  keineswegs  die  wünschenswerte  Klärung,  sondern  rief 
vielmehr  neue  Konfusionen  hervor,  indem  der  Autor  drei  Varietäten 
des  Leidens  aufstellte:  den  entzündlichen,  nervösen  und  chronischen 
Croup. 

In  der  Therapie  der  Diphtherie  sind  während  des  18.  Jahr- 
hunderts nur  geringe  Fortschritte  zu  verzeichnen.  Brech-  und  Ab- 
führaiittel  standen  noch  in  unerschüttertem  Ansehen,  der  Aderlass  fand 
trotz  der  Warnung  einzelner  Autoren  die  ausgedehnteste  Anwendung. 
Ton  örtlichen  Mitteln  sind  zu  nennen:  Salzsäure  zur  Applikation  an 
die  Rachengeschwüre,  Gargarismen  von  Xitrum.  Kampfer.  Alaun 
u.  a.  m.,  von  innerlichen  Medikamenten:  Kalomel.  Valeriana,  Theriak 
und  Eoborantia.  unter  letzteren  mit  Vorliebe  die  Chinarinde.  Die 
Tracheotomie  fand  nur  wenig  Anklang  unter  den  Aerzten  und  Chirurgen 
jener  Zeit. 

Verfolgen  wir  die  Geschichte  der  Diphtherie  im  19.  Jahrhundert, 
so  finden  wir  in  den  ersten  beiden  Dezennien  ihr  epidemisches  Vor- 
kommen im  allgemeinen  seltener  als  in  der  kurz  vorangegangenen 
Zeitperiode  erwähnt,  und  auch  die  Litteratui*.  die  die  Krankheit  näher 
berührt,  nur  auf  ein  geringes  und  geringwertiges  Material  beschränkt. 
Eine  Ausnahme  hiervon  hat  jedoch  Frankreich  gebildet.  Hier  war 
die  Krankheit  in  fortdauernden  Epidemiezügen  zum  Schrecken  der 
Bevölkerung  geworden,  sie  hatte  sich  ihre  Opfer  nicht  bloss  unter 
Bürgern  und  kleinen  Leuten,  sondern  auch  aus  fürstlichen  Palästen 
geholt,  den  jungen  König  von  Holland  dahingerafft  und  dessen  Mutter, 
die  Königin  Hortense  tückisch  überfallen.  Diese  letzteren  Ereignisse 
bestimmten  Napoleon  I.  im  Jahre  1807  eine  Preisbewerbung  auszu- 
schreiben ,.über  die  Natur  und  die  Behandlung  des  Croup".  Jurine 
aus  Genf  und  Albers  aus  Bremen  teilten  sich  in  den  Preis,  ohne 
aber  über  die  damals  geltenden  Anschauungen  hinauszukommen.  Ihre 
Preisschriften  ergänzten  sich  durch  die  Ai'beiten  von  Royer- Co  IIa  rd, 
Caillau  u.  a.,  nach  deren  Ansicht  in  L'ebereinstimmung  mit  der 
Lehre  Home 's  zwei  Hauptaiien  der  Krankheit  vorlägen:  die  Angina 
gangi'aenosa  der  Tonsillen  und  des  Pharj'nx,  die  Angina  maligna  tra- 
chealis  der  Luftwege,  welche  zwar  kombiniert  an  einem  und  demselben 
Kinde  sich  vorfinden  können,  deren  Zusammengehörigkeit  jedoch  von 
keiner  Seite  gebührend  gewürdigt  worden  war.  Mehr  als  zulässig 
wurde  die  Bildung  von  Pseudomembranen  in  dem  Krankheitsbilde 
des  Croup  in  den  Vordergrund  gestellt  und  damit  begonnen,  den 
„Pseudo-Croup"'  mit  dem  Croup  im  engeren  Sinne  zu  verwechseln. 
Aehnliche  Ansichten  kehrten  auch  bei  deutschen  Autoren  ^^ieder,  so 
beiAutenrieth,  Hufeland,  Goelis.  Letzterer  hat  in  seinem 
1813  erschienenen  Traktat:  über  die  membranöse  Angina  den  Prozess 
als  eine  Lympheausschwitzung  in  die  Schleimhaut  des  Kehlkopfes  und 


872  Victor  Fossel. 

der  Luftröhre  erklärt,  bei  der  es  unter  dem  Einflüsse  einer  katarrha- 
lischen Entzündung  zur  Bildung  von  Membranen  komme.  Eine  Kom- 
plikation der  membranösen  und  der  gangränösen  Angina  wollte 
Goelis,  dem  ein  reiches  Feld  der  Erfahrung  beschieden  war.  nie- 
mals gesehen  haben. 

Eine  neue  und  wichtige  Epoche  in  der  Geschichte  der  Diphtherie 
nahm  von  Bretonneau's  Arbeiten  ihren  Ausgang.  Als  Arzt  in 
Tours  hatte  Bretonneau  Gelegenheit,  daselbst  in  den  Jahren  1818 
bis  1821  eine  unter  den  Soldaten  beginnende  und  auf  die  übrige  Be- 
völkerung übergreifende  Epidemie  zu  beobachten,  der  sich  im  Jahre 
1824  und  1825  zahlreiche  Fälle  von  epidemischer  Diphtherie  in  dem 
benachbarten  Dorfe  La  Ferriere  und  1826  in  Chenusson  anschlössen. 
Bretonneau,  ein  begeisterter  Jünger  der  damaligen,  hochaufstreben- 
den französischen  Schule,  ging  daran,  das  ihm  gebotene  Beobachtungs- 
material an  der  Hand  pathologisch- anatomischer  und  klinischer  That- 
sachen  von  Grund  auf  zu  bearbeiten,  unter  Vornahme  von  60  Sektionen 
die  anatomischen  Befunde  kritisch  festzustellen  und,  was  seinen  Studien 
besonderen  Eeiz  und  Wert  verleiht,  unter  gewissenhafter  Benutzung 
der  aus  dem  17.  und  18.  Jahrhundert  stammenden  Nachrichten  italie- 
nischer, spanischer  und  nordamerikanischer  Aerzte  die  eigenen  Kennt- 
nisse zu  ergänzen.  Seine  schon  im  Jahre  1821  publizierten  Epidemie- 
berichte hat  Bretonneau  im  Jahre  1826  in  der  berühmt  gewordenen 
Abhandlung:  „Des  inflammations  speciales  du  tissu  muqueux  et  en 
particulier  de  la  diphtherite"  zusammenfassend  niedergelegt  und  darin 
seine  bahnbrechenden  Anschauungen  begründet.  Indem  er  die  als 
Stomacace  bezeichnete  Erkrankung  der  Mundschleimhaut,  die  Angina 
maligna  oder  gangraenosa  des  Eachens  und  endlich  den  als  Croup  der 
Luftwege  benannten  Krankheitsprozess  analysierte,  stellte  er  vor  allem 
die  bisherige  Annahme  in  Abrede,  wonach  die  maligne  Angina  ledig- 
lich auf  eine  brandige  Zerstörung  der  Mucosa  zurückgeführt  worden 
war.  Bretonneau  stellte  dem  gegenüber  die  Behauptung  auf,  dass 
allen  diesen  Krankheitsprozessen  eine  gemeinsame  Ursache  zu  Grunde 
läge,  bestehend  in  einer  Entzündung  der  Schleimhäute,  die  in  der 
Ausbildung  eines  Exsudates  charakterisiert  sei  und  das  er  wegen 
seiner  Aehnlichkeit  mit  einem  Felle  {Jupd-eqa,  pellis  exuvium,  vestis 
coriacea)  als  „Diphtherite"  bezeichnete.  Bretonneau  erklärte 
die  genannten  drei  Erkrankungsformen  als  einheitliche,  hob  die  spe- 
zifische und  kontagiöse  Natur  derselben  ausdrücklich  hervor  und  unter- 
schied von  ihnen  die  Angina  scarlatinosa  als  eine  dem  Scharlach  an 
sich  zukommende,  zwar  ähnliche,  aber  in  Wesenheit  diiferente  Hals- 
entzündung. Diese  grundlegende  Arbeit  Bretonneau's,  zu  deren 
Beweisführung  er  unter  anderen  Stützen  der  von  ihm  verfochtenen 
Specificität  des  Leidens  auch  experimentelle  Versuchsreihen  über  die 
örtlichen  Wirkungen  der  Vesicantien  auf  Schleimhäuten  herangezogen 
hatte,  umfasste  ausserdem  eine  Sichtung  und  Prüfung  der  gangbaren 
Therapie,  in  welcher  er  für  die  energische  Anwendung  einer  lokalen 
Behandlung  im  allgemeinen  und  die  Ausführung  der  Tracheotomie  in 
bedrohlichen  Erstickungsfällen  eintrat.  Ihm  haben  wir  auch  die  ersten 
hygienisch-praktischen  Gesichtspunkte  zu  verdanken,  indem  er  die 
Absperrung  der  an  Diphtherie  Erkrankten  ebenso  strenge  gefordert, 
wie  die  Unschädlichmachung  der  von  ihnen  stammenden  Absonderungs- 
produkte als  unerlässlich  hingestellt  hat. 

Bretonneau  hat  mit  kritischer  Schärfe  und  mit  den    ganzen 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  873 

seiner  Zeit  zu  Gebote  stehenden  Hilfsmitteln  exakter  Forschung  das 
Dunkel,  das  bisher  über  die  Diphtherie  ausgebreitet  lag,  zu  erhellen 
gesucht  und  zum  grossen  Teil  das  AVesen  und  die  Formen  der  Kj-ank- 
heit  nach  den  geläuterten  Begriffen  der  damaligen  pathologisch-anato- 
mischen Schule  festgestellt.  Sein  fundamentales  Werk  bildete  zugleich 
den  Ausgangspunkt  neuer,  fruchtbarer  Leistungen  und  bis  auf  die 
allerjüngste  Gegenwart  knüpfen  die  über  die  Diphtherie  gesammelten 
Beobachtungen  an  die  berühmte  Schrift  des  Arztes  von  Tonics  an. 

Bevor  wir  jedoch  den  weiteren  Fortschritten  und  Wandlungen  in 
der  Lehre  von  der  Diphtherie  eine  kurzgedrängte  Besprechung  widmen, 
erscheint  es  am  Platze,  der  in  der  Periode  1825 — 1860  bekannt  ge- 
wordenen Hauptepidemiezüge  der  Krankheit  zu  gedenken.  Im  zeit- 
lichen Auftreten  ihrer  epidemischen  Verbreitung  war,  abgesehen  von 
isolierten  Ausbrüchen  der  Angina  maligna  und  des  von  ihr  häufig 
getrennt  geschilderten  Croups  in  den  verschiedenen  Ländern,  das  Vor- 
herrschen der  Krankheit  innerhalb  der  Jahre  1825 — 1836  nahezu  aus- 
schliesslich auf  Frankreich  beschränkt  geblieben.  Die  Hauptstadt 
und  die  grossen  Handelsplätze  des  Landes,  zahlreiche  Ortschaften  der 
Provinzen  waren  der  Boden,  auf  dem  die  Diphtherie  in  wechselnder 
Stärke  zu  Epidemien  anschwoll.  Hire  Wanderungen,  die  auf  weitere 
Kreise  sich  erstreckten,  wurden  insbesondere  in  der  Touraine,  in 
Anjou.  in  der  Bretagne.  Xormandie,  Picardie  und  in  Isle  de  France, 
demnach  vorwiegend  im  Nordwesten  des  Reiches  beobachtet.  Ausser- 
halb desselben  war  sie  nur  im  Jahre  1826  in  den  schweizerischen 
Kantonen  Waadt  und  Genf,  und  1831  in  Philadelphia  zu  bösartiger 
Entwicklung  gekommen.  Auch  im  Anfange  der  vierziger  Jahi-e  trat 
die  epidemische  Diphtherie  fast  nur  in  Frankreich  auf,  so  1841  in 
Paris,  Autin,  Nantes  u.  a.  Städten.  Vom  Jahre  1845  an  gewann  sie 
in  diesem  Laude  nach  den  zunehmenden  Seuchenberichten  zu  schliessen, 
mit  jedem  Jahre  mehr  an  räumlicher  Ausdehnung  und  durchzog  im 
nächstfolgenden  Jahrzehnte  mit  besonderer  Bevorzugung  die  nördlichen 
und  östlichen  Departements.  Ihr  wiederholtes  Umsichgreifen  unter 
der  Kinderwelt  der  französischen  Hauptstadt,  wo  sie  184^1848,  1852 
und  1855  in  zahlreichen  und  schweren  Formen  vorgekommen  war, 
ging  gleichzeitig  mit  stärkeren  Ausbrüchen  in  den  übrigen  Teilen 
Frankreichs  einher.  So  hatten  u.  a.  die  Städte  Avignon  1853,  Bou- 
logne  1855 — 1836  unter  ihrer  Hen-schaft  schwer  zu  leiden. 

Unter  den  übrigen  Staaten  Europas  waren  es  Dänemark  und 
Norwegen,  die  in  jenem  Zeitabschnitte  eine  grössere  Morbidität  an 
Diphtherie  aufzuweisen  hatten.  Die  in  den  Jahren  1844 — 1848  im 
dänischen  Inselreiche  verbreitete  Krankheit  epidemisierte  besonders 
heftig  in  Jütland  und  Seeland.  Auf  der  skandinavischen  Halbinsel 
war  sie  auf  norwegischem  Gebiete  schon  in  den  Jahren  1845 — 1847 
in  verschiedenen  Bezirken  erschienen,  hatte  in  Schweden  1852 — 54  au 
mehreren  Punkten  eine  bemerkbare  Zunahme  erfahren,  jedoch  erst 
vom  Jahre  1855  an  in  beiden  Ländern  eine  allgemeine  Ausdehnung 
angenommen.  Die  gleiche  Erscheinung  wiederholte  sich  in  Belgien, 
in  den  Niederlanden  und  in  England,  wo  überall  in  den  unmittelbar 
vorangegangenen  Jahren  einzelne  heftigere  Lokalepidemien  sich  er- 
eignet hatten  und  namentlich  1854  das  stärkere  Hervortreten  des 
Croups  allenthalben  zu  beobachten  gewesen  war.  In  Italien  und  der 
Schweiz  blieb  die  Schlundbräune  auf  wenige  Ausbrüche  innerhalb 
dieser  Periode  begrenzt.    Dasselbe  gilt  für  Deutschland,  wo  Epidemien 


874  Victor  Fossel. 

1843  und  1846  im  Herzogtum  Nassau,  1844  in  Pommern  und  1849—1851 
in  Königsberg  bekannt  geworden  sind.  Aus  Nordamerika  datieren 
aus  jener  Zeit  Nachrichten  über  das  Vorkommen  der  epidemischen 
Diphtherie,  die  in  den  Jahren  1845  und  1848  in  Philadelphia  und 
1847 — 1849  in  den  Staaten,  die  dem  Stromgebiete  des  Mississippi  an- 
gehören, ihre  Verbreitung  gefunden  hat. 

Wie  Epidemiologen  und  Historiographen  einstimmig  hervorheben, 
trat  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  und  zwar  in  den  Jahren  1855—58 
in  Europa  sowohl  wie  in  Nordamerika  eine  auffällige  Steigerung  der 
örtlich  und  zeitlich  rasch  einander  folgenden  Ausbrüche  der  Di- 
phtherie zu  Tage;  ihr  nunmehr  gehäuftes  Vorkommen,  auch  in  über- 
seeischen Ländern  von  jetzt  an  beginnend,  kann  nicht  ausschliesslich 
auf  frühere  mangelhafte  Nachrichten,  sondern  auf  eine  thatsächlich 
pandemische  Entwicklung  der  Krankheit  zurückgeführt  w^erden,  so 
dass  wir  von  dieser  Zeitperiode  an  die  Diphtherie  durch  mehrere 
Dezennien  als  "Weltseuche  bezeichnen  müssen,  die  in  den  verschie- 
densten, räumlich  weit  voneinander  getrennten  Punkten  der  Erd- 
oberfläche sich  einzunisten  begann  und  für  die  folgende  Zeit  zu  einer 
der  verderblichsten  Krankheiten  wurde.  Von  gewissen  Herden  aus, 
in  denen  sie  überdies  nicht  selten  langsam  und  dafür  stetig  an- 
schwellend und  jahrelang  zähe  anhaltend  sich  vermehrte,  griff  die 
Krankheit  strahlenförmig  oder  sprunghaft  um  sich  und  kehrte  an 
ungezählten  Orten  nach  mehr  oder  weniger  kurzen  seuchenfreien 
Intervallen  mit  allen  ihren  Schrecken  zurück. 

Ueberblicken  wir  die  Entwicklung  dieser  Pandemie,  so  finden  wir 
ihren  Ausgang  wieder  in  Westeuropa,  vor  allem  in  Frankreich.  Schon 
im  Jahre  1856  wurde  die  Diphtherie  in  einzelnen  Gegenden  des 
Landes  beobachtet  und  von  vielen  Aerzten  als  eine  neue  Krankheit 
betrachtet.  Im  Jahre  1857  überzog  sie  die  Küste  von  Boulogne  sur 
mer  bis  Havre,  ergriif  gleichzeitig  die  östlichen  und  südlichen  Departe- 
ments, in  denen  sie  zwei  Jahre  hindurch  andauerte,  an  manchen  Orten 
erst  um  vieles  später  erlosch.  In  Paris  stieg  gleichfalls  innerhalb  der 
nächsten  Jahre  die  Zahl  der  Kranken  periodisch  zu  ungewöhnlicher 
Höhe.  Ihre  Kontagiosität  und  die  Bösartigkeit  der  namentlich  in  den 
Kinderspitälern  zugewachsenen  Erkrankungsfälle  haben  Trousseau, 
Bricheteau  und  andere  Beobachter  ausdrücklich  als  eine  Signatur 
der  Zeit  hingestellt.  —  In  Portugal  und  Spanien  nahm  die  Schlund- 
bräune mit  dem  Jahre  1857  gleichfalls  einen  epidemischen  Charakter 
an,  den  sie  auch  noch  in  späteren  Nachschüben,  die  in  die  Jahre 
1861 — 1863  fallen,  gezeigt  hat.  Für  die  Niederlande  begann  mit  der 
Epidemie  in  Amsterdam  1857 — 1858  die  Herrschaft  der  Diphtherie, 
die  im  darauf  folgenden  Dezennium  über  das  ganze  Reich  sich  ver- 
breitet, den  Berichten  zufolge  aber  durch  einen  verhältnismässig 
milden  Verlauf  sich  bemerkbar  gemacht  hatte. 

In  Grossbritannien  datiert  vom  Jahre  1856  an  das  Ansteigen  der 
Morbidität  an  Bräune,  die  über  den  grössten  Teil  Englands  sich  aus- 
dehnte und,  wie  berichtet  wird,  mit  Scharlach  kombiniert  oder  damit 
gleichzeitig  einherschreitend  im  Jahre  1859  den  Höhepunkt  erreichte. 
Seither  verschwand  die  Krankheit  nicht  mehr  im  Lande  und  stieg 
auch  in  Schottland  im  Jahre  1863  zu  einer  ungew^öhnlich  hohen  Er- 
krankungsziifer  empor.  In  Deutschland  zeigte  sich  die  Diphtherie 
im  Jahre  1856—1858  in  Königsberg,  von  1861  an  in  Ostfriesland,  um 
von   hier  aus  längs   der  Ost-  und  Nordseeküste  weiter   zu  wandern. 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  875 

Um  weniges  später  trat  sie  im  russischen  Reiche,  zunächst  1858  in 
den  Ostseeprovinzen  auf  und  rief  im  darauffolgenden  Jahre  in 
St.  Petersburg.  Moskau  und  im  Gouvernement  Orel  bösartige  Epidemien 
hervor.  In  den  übrigen  nordischen  Staaten  kam  die  Krankheit  erst 
im  nächsten  Dezennium  zu  gi'össerer  Entwicklung,  nur  in  Island  war 
sie  schon  im  Jahre  1856  eingebrochen  und  hatte  nach  geringen 
Remissionen  bis  zum  Jahre  1864  über  die  ganze  Insel  sich  verbreitet. 

Auf  der  westlichen  Hemisphäre  wurde  ebenso  wie  in  Europa  eine 
auffallende  Zunahme  der  Diphtherie  vom  Jahre  1856  angefangen  be- 
obachtet. Mit  einer  heftigen  Epidemie  in  Califomien  in  diesem  Jahre 
beginnend,  fand  sie  1857  in  Xewyork  Eingang  und  gewann  in  den 
folgenden  Jahren  nahezu  in  allen  Unionsstaaten  auf  längere  Zeit  die 
volle  Herrschaft.  In  jene  Periode  fallen  auch  heftige  Ausbrüche  der 
Krankheit  auf  mehreren  westindischen  Inseln  und  in  Peru. 

Die  exzessive  Ausbreitung  der  Diphtherie  während  des  6.  De- 
zenniums erregte  in  allen  hiervon  betroffenen  Ländern  ungeheures 
Aufsehen  und  rief  in  der  ärztlichen  Welt  von  neuem  die  eingehendsten 
Studien  über  die  Natur.  Kontagiosität  und  Symptomatologie  der  Krank- 
heit hervor.  Die  Pathologie  und  Therapie  des  Leidens  war  schon 
seit  dem  Erscheinen  der  epochemachenden  Arbeiten  Bretonneau's 
mit  Eifer  und  Scharfsinn  zu  f(3rdem  gesucht  worden.  Neben  den 
französischen  Aerzten,  die  in  über^viegender  Mehrzahl  diesem  ihren 
Landsmanne  in  den  Grundzügen  seiner  Lehren  gefolgt  und  nur  ver- 
einzelt mit  gegenteiligen  Ansichten  hervorgetreten  waren,  haben  eng- 
lische, amerikanische  und  deutsche  Autoren  die  Litteratur  der  Di- 
phtherie in  der  Periode  1830—1860  mit  wertvollen  Beiträgen  bereichert. 
Zunächst  war  es  die  Identität  von  Croup  und  Diphtherie,  um  die  sich 
ein  lebhafter  Streit  bewegte,  sodann  die  Erörterung  der  infektiösen 
Natur  des  Leidens  und  seiner  Allgemeinerscheinungen,  das  klinische 
Bild,  unter  welchem  die  örtlichen  und  sekundären  Krankheitsprozesse 
zu  Tage  traten,  endlich  hat  die  Therapie  eine  schier  unübersehbare 
Menge  von  Schriften  gezeitigt.  Unter  den  französischen  Beobachtern 
verdienen  Boudet,  Guersant,  Maingault.  Rilliet  und 
Barth ez.  vor  allem  aber  Trousseau  genannt  zu  werden,  die  die 
Lehre  im  Sinne  Bretonneau's  befestigt  und  vertieft  haben.  Ge- 
%\issermassen  in  Ergänzung  der  von  den  Franzosen  gelieferten  ätio- 
logischen und  nosographischen  Darstellung  haben  in  Deutschland  die 
grossen  pathologischen  Anatomen  Rokitansky  und  Yirchow,  nach 
ihnen  Wagner  und  Buhl  die  anatomische  Seite  der  Krankheit  klar- 
zulegen gesucht.  So  hat  Yirchow  schon  im  Jahre  1847  auf  Grund- 
lage streng  pathologisch-anatomischer  Untersuchungen  im  Gegensatze 
zu  der  in  Frankreich  herrschenden  Auffassung  begonnen,  die  Diphtherie 
vom  Croup  zu  trennen  und  neben  diesen  beiden  Formen  der  Schleim- 
hautentzündung noch  den  katarrhalischen  Prozess  aufzustellen.  Die 
aus  der  Scheidung  der  anatomischen  Läsionen  hervorgegangene  Theorie 
von  einer  croupösen  und  diphtheritischen  Entzündung  bezw.  Exsudation 
als  wesentlich  heterogener  Krankheitsbegriffe  stiessen  auf  vielseitigen 
AViderspruch,  auch  unten  den  deutschen  Aerzten.  Die  Anschauungen 
darüber  traten  in  ein  neues  Stadium,  als  sich  Ende  der  fünfziger 
Jahre  die  Forschung  auf  die  parasitäre  Natur  der  Krankheit  aus- 
gedehnt und  eine  Reihe  von  wichtigen  Vorarbeiten  zum  Vei-ständnis 
ihres  Wesens  geliefert  hatte,  ohne  jedoch  damals  bis  zu  den  bakterio- 
logischen Aufschlüssen  der  späteren  Zeit  vorgedrungen  zu  sein. 


876  Victor  Fossel. 

Seit  dem  Beginne  der  60  er  Jahre  hatte,  wie  bemerkt,  die 
Diphtherie  nahezu  in  ganz  Europa  eine  pandemische  Ausbreitung  an- 
genommen, die  im  Verlaufe  der  nächstfolgenden  Dezennien  in  lang- 
gedehnten Epidemien  oder  in  wiederkehrenden  kürzeren  Lokal- 
ausbrüchen ausstrahlte.  In  einer  grossen  Zahl  von  volkreichen  Städten 
war  die  Krankheit  seit  der  Mitte  des  Jahrhunderts  völlig  endemisch 
geworden  und  hatte  in  einzelnen  Jahrgängen  durch  die  von  ihr  ver- 
ursachte Kindersterblichkeit  die  Gesamtmortalität  in  empfindlichster 
Weise  beeinflusst.  Eine  Uebersicht  der  zeitlichen  und  örtlichen  Be- 
wegung der  Diphtherie  innerhalb  jenes  Zeitraumes  ergibt,  dass  in 
Frankreich  ihre  Verbreitung  mit  jedem  Jahre  sich  erneuert  und  nur 
wenige  Gegenden  des  Landes  verschont  hat.  Selbst  die  über  den  Gang 
der  Krankheit  auf  dem  Boden  Frankreichs  aus  jüngster  Zeit  vor- 
liegenden Berichte  konstatieren  noch  im  Jahre  1890  ihre  andauernde 
Zunahme  in  vielen  Gebietsteilen  des  Landes.  Wie  Spanien  und  Por- 
tugal wurden  Holland  und  die  Niederlande  seit  dem  6.  Dezennium 
von  schweren  Bräuneepidemien  heimgesucht.  In  England  und  Schott- 
land war  den  Berichten  zufolge  die  Diphtherie  von  1855  bis  1859  in 
stetem  Ansteigen  begriffen,  verminderte  vom  Jahre  1867  an  ihre 
Häufigkeit,  um  dann  wieder  an  einzelnen  Plätzen  stärkere  Nach- 
schübe zu  zeitigen.  Irland  scheint  unter  ihr  weniger  gelitten  zu  haben. 

In  Deutschland,  wo  die  ersten  Epidemien  im  Norden  und  Osten 
mit  dem  Jahre  1861  den  Zug  der  Seuche  eröffnet  hatten,  dehnte  sich 
die  Diphtherie  alsbald  über  die  Ostseeküste,  Sachsen,  Thüringen  aus, 
erschien  vom  Jahre  1864  an,  immer  weitere  Kreise  umfassend,  in  ganz 
Norddeutschland  und  hatte  u.  a.  in  Berlin  1868 — 1869  zu  einer  schweren 
Epidemie  Anlass  geboten.  Innerhalb  der  Periode  1874 — 1883  wurde 
die  Sterblichkeit  der  Stadt  Berlin  an  Scharlach  und  Diphtherie  nur 
von  wenigen  europäischen  und  amerikanischen  Grossstädten  übertroffen. 
Aehnliche  Verhältnisse  wies  die  Krankheit  in  den  süddeutschen  Staaten 
auf,  wo  sie  von  1863 — 1869  stetig  nach  allen  Richtungen  sich  aus- 
dehnte, nach  mehrjährigem  Nachlasse  im  Jahre  1873  wiederum  an 
Stärke  zunahm  und  hier  wie  überhaupt  im  ganzen  Eeiche  in  den 
Jahren  1877 — 1884  ihre  Verheerungen  erneuerte.  Eine  entschiedene 
Verminderung  der  durch  Diphtherie  bewirkten  hohen  Erkrankungs- 
und Sterbeziffer  begann  für  das  deutsche  Reich  erst  im  Jahre  1888 
Platz  zu  greifen.  Verhältnismässig  später  ist  die  Diphtherie  in  epi- 
demischer Form  in  Oesterreich-Ungarn  aufgetreten.  Ihrer  grösseren 
Ausdehnung  begegnen  wir  erst  im  Jahre  1870  in  Siebenbürgen,  wohin 
sie  aus  Rumänien  Eingang  gefunden  haben  soll.  Vom  Jahre  1873  an 
überzog  sie  langsam,  aber  an  Bösartigkeit  zunehmend  die  Länder  der 
ungarischen  Krone,  griff  1875  in  Wien  um  sich  und  war  gleichzeitig 
in  den  nördlichen  und  südlichen  Kronländern  des  Kaiserstaates  epi- 
demisch zu  Tage  getreten,  um  von  da  an  überall,  analog  wie  im  be- 
nachbarten deutschen  Reiche,  ein  volles  Dezennium  hindurch  ihre 
Herrschaft  zu  behaupten. 

Auch  Italien  wurde  im  Jahre  1861  zum  Schauplatz  der  epidemischen 
Bräune,  die  in  Florenz  beginnend  über  Toskana  sich  rasch  verbreitet 
und  namentlich  in  Oberitalien  Fuss  gefasst  hatte.  Im  Jahre  1871 
nahm  ein  neuerlicher  Epidemiezug  von  Toskana  aus  seinen  Anfang, 
verursachte  in  Florenz  eine  erschreckende  Sterblichkeit  und  schritt 
nach  der  Lombardei  weiter,  um  hier  bis  zum  Jahre  1875  nicht  zu 
erlöschen.  Gleichzeitig  war  die  Diphtherie  über  die  ganze  apenninische 


Geschichte  der  epidemischen  Rraiikheiten.  877 

Halbinsel  bis  Sicilien  gewandert  und  in  Rom,  Neapel  u.  a.  Städten 
mit  Vehemenz  eingerissen.  Eine  abermalige  und  allgemeine  Verbreitung 
hat  sie  in  Italien  im  Jahre  1882  gefunden,  späterhin,  obwohl  sie  im 
ganzen  Königreiche  endemisch  geworden  war,  hauptsächlich  in  den 
Epidemien  eine  exzessive  Steigerung  erfahren,  von  denen  im  Jahre 
1885  Apulien  und  Sicilien,  1891  die  Lombardei  betroffen  worden  sind. 

Nicht  um  vieles  milder  hat  die  Diphtherie  vom  Jahre  1861  an- 
gefangen Dänemark,  Schweden  und  Norwegen  heimzusuchen.  Zur  bös- 
artigsten Seuche  gestaltete  sich  aber  damals  die  Krankheit  im  russi- 
schen Reiche,  die  allmählich  über  die  mittleren  Gouvernements  sich 
verbreitend,  im  Jahre  1869  nach  den  südlichen  Gegenden  vorgerückt 
war  und  hier  in  den  Jahren  1872 — 1880  eine  furchtbare  Mortalität 
im  Gefolge  hatte.  Am  ärgsten  wütete  die  Bräune  in  den  Gouverne- 
ments Charkow  und  Poltawa.  wo  sie  nach  den  Mitteilungen  Filatows 
in  den  .Jahren  1878—1879  den  Höhepunkt  erreicht  und  in  einzelnen 
Departements  fast  alle  Kinder  dahingerafft  hat.  Von  ihren  Ver- 
wüstungen in  Bessarabien  meldet  ebenfalls  ein  Bericht  aus  jener  Zeit, 
dass  „die  Kinder  verschwunden  waren".  —  Rumänien,  die  Türkei, 
Griechenland  und  Malta  blieben  während  dieser  Periode  von  epi- 
demischer Diphtherie  gleichfalls  nicht  verschont. 

In  Amerika  hat  die  Krankheit  ungefähr  in  gleicher  Stärke  wie 
in  Europa  ihre  Verbreitung  erlangt  und  vom  Jahre  1860  an  in  den 
Unionsstaaten  und  deren  nördlich  gelegenen  Nachbarländern,  in  Mexiko 
und  auf  der  südlichen  Hälfte  des  Kontinents  in  verderblichen,  jahre- 
langen und  gruppenweise  zusammenhängenden  Lokalepidemien  an- 
gedauert. In  den  Vereinigten  Staaten  ist  erst  seit  dem  Jahre  1890 
eine  konstante  Abnahme  der  Sterblichkeit  an  Diphtherie  wahrzunehmen. 
Die  über  das  epidemische  Vorkommen  der  Diphtherie  in  Asien,  Afrika 
und  Australien  bekannt  gewordenen  Nachrichten  sind  zu  dürftig,  um 
hier  nähere  Berücksichtigung  finden  zu  können. 

Mit  der  gewaltigen  Expansion  der  Diphtherie  in  allen  Kultur- 
staaten liat  sich  naturgemäss  das  litterarische  Material  über  die 
Epidemiologie,  Aetiologie,  Pathologie  und  Therapie  der  Krankheit  ins 
ungemessene  angehäuft.  Alle  Nationen  haben  zur  Beobachtung  und 
Klärung  dieser  im  Vordergi-unde  des  ärztlichen  Interesses  stehenden 
Infektionskrankheit  beigetragen  und  die  bedeutendsten  Forscher  an 
ihrer  Erkenntnis  und  Bekämpfung  mitgewirkt.  Die  Litteratur- 
geschichte  der  Krankheit,  auch  nur  auszugsweise  über  die  letzten 
Dezennien  beizubringen,  würde  den  Rahmen  unserer  Aufgabe  weit 
überschreiten,  weshalb  wir  auf  die  zahlreichen  Lehr-  und  Hand- 
bücher, in  denen  der  Gegenstand  seine  ausführliche  Besprechung  findet, 
verweisen.  Die  schon  an  früherer  Stelle  berührten  Forschungen  über 
die  parasitäre  Natur  der  Diphtherie  führten  im  Laufe  der  nächst- 
folgenden Jahrzehnte  zu  zahlreichen  Beobachtungen  und  Versuchen, 
die  jedoch  vorderhand  noch  unbefriedigende  Ergebnisse  liefern  sollten. 
Die  von  hervorragenden  Pathologen  und  pathologischen  Anatomen 
versuchten  Nachweise  specifischer  Bakterien  bei  Diphtheriekranken 
begegneten  vielfachem  Widerspruche  und  begründeten  Einwänden. 
Erst  mit  der  durch  R.  Koch  angebahnten  ätiologischen  Forschungs- 
methode war  es  gelungen,  den  Krankheitserreger  der  Diphtherie  aufzu- 
decken. Nachdem  Klebs  im  Jahre  1883  den  Bacillus  der  Diphtherie 
aufgeschlossen  hatte,  war  es  L off  1er,  der  im  darauffolgenden  Jahre 
mit  voller  Sicherheit  und  experimenteller  Beweiskraft  den  nach  ihm 


878  Victor  Fossel. 

benannten  Mikroorganismus  als  den  specifischen  Krankheitserreger 
der  Diphtherie  feststellte.  Mit  diesem  Ergebnis  im  innigsten  Zu- 
sammenhange standen  die  von  Roiix  und  Y  er  sin  im  Jahre  1888 
und  kurz  darauf  von  Löffler  gelieferten  Arbeiten  über  die  Gift- 
wirkung der  Diphtheriebazillen  und  die  daraus  abgeleitete  Lehre  vom 
Diphtheriegifte  und  seiner  Bedeutung  in  der  Aetiologie  und  Verhütung 
der  Krankheit,  Von  ihnen  ausgehend  hat  Behring  im  Jahre  1892 
die  Serumtherapie  der  Diphtherie  in  die  Heilkunde  eingeführt  und 
damit  bei  der  Bekämpfung  des  tückischen  Leidens  ein  neues  und  an 
Erfolgen  reiches  Mittel  den  Aerzten  an  die  Hand  gegeben. 


XI.  Influenza  und  Dengue. 
Litieratur. 

Willis^  Opera,  1681.  —  Sydenham,  l.  c.  1786.  —  Petite,  Art.  „Grippe'^ 
in  Dict.  d.  sc.  med.  19.  Vol.  1817.  —  Most,  Influenza  europaea,  1820.  —  Foilere, 
Lecons,  1822124.  —  Htiocham,  l.  c.  1829.  —  Schweich,  Influenza,  1836.  — 
Ginge,  Die  Influenza,  1887.  —  Biemier,  Influenza,  Virchoiv  Hdb.  d.  sp.  P.  u. 
Th.  V.  Bd.  1.  Theil  1865.  —  Seitz,  Catarrh  und  Influenza,  1865.  —  Schmidt, 
Zusammenstellung  der  Arbeiten  üb.  J.  Schmidfs  Jbb.  Bd.  225  ff.  1890  ff'.  —  Diiring, 
Dengue  in  Constantinopel,  Monatsh.  f.  pr.  Dermat.  No.  1 — 5  1890.  —  Guyenot, 
Dengue  und  Influenza,  Internat,  kl.  Rsch.  No.  5  1890.  —  ZHamantopulos, 
Dengue  u.  Influenza  in  Syrien,  Wien.  med.  Presse  1890.  —  Kusnezoiv  und 
Hermann,  Die  Influenza,  1890.  —  Itipperger,  Geschichte  der  Influenza,  1892.  — 
Woljf,  Die  Influenza- Epidemie  1889 — 1892.  1892.  —  Huheniatin,  Die  Influenza- 
Epidemie  im  Winter  1889J90,  1893.  —  Friedrich,  Die  Infl.-Epidemie  1889J90  im 
Deutschen  Reiche,  Arb.  a.  d.  kais.  G.  A.  IX.  Bd.  1894.  —  Dräsche,  Influenza, 
Gesammelte  Abhandlungen  1893.  —  Pfeiffer,  Die  Aetiologie  d.  J.,  Zeitsch.  f.  Hyg. 
und  Infectkh.  XIII.  Bd.  1894.  —  Wutzdorf,  Die  Infl.-Epidemie  1891192  im 
Deutschen  Reiche.  Arb.  a.  d.  kais.  G.A.  1894.  —  Leichtenstern,  Influenza  xmd 
Dengue,  Nothnagel  Hdb.  d.  sp.  P.  u.  Th.  IV.  Bd.  11  Th.  1.  Abth.  1896.  —  Scheube, 
Die  Krankheiten  d.  warmen  Länder,  IL  Aufl.,  1900.  —  Van  der  Burg,  Janus 
VI  1901. 

Zu  allen  Zeiten  hat  die  Influenza  angesichts  der  Schnelligkeit, 
mit  der  sie  über  Kontinente  dahin  eilte,  und  wegen  der  hohen  Mor- 
bidität, mit  der  sie  ihre  Herrschaft  stets  eröffnete,  den  Geist  der  Aerzte 
beschäftigt.  Die  Unabhängigkeit  von  Witterung,  Jahreszeit  und 
Klima,  von  Easse  und  Geschlecht  erhöhte  nur  das  Geheimnisvolle  der 
Herkunft  und  des  VTesens  der  Krankheit,  die  Huxham  im  Jahre 
1754  als  „morbus  omnium  maxime  epidemicus"  bezeichnet  hat.  Das 
Interesse,  das  der  Erforschung  des  Alters  der  Influenza  von  jeher  zu- 
gewendet war,  hat  viele  Autoren  dazu  geführt,  das  Vorkommen  der 
Krankheit  im  Altertum  und  Mittelalter  nachzuweisen  oder  wenigstens 
wahrscheinlich  zu  machen.  Einige  wollen  in  der  bei  Hippokrates 
(Epid.  Lib.  VI  sect.  VII)  erwähnten  Seuche  die  Influenza  erkennen; 
andere  sprechen  den  von  Diodor  geschilderten  Lagerseuchen  des 
Jahres  395  v.  Ch.  den  Charakter  der  epidemischen  Grippe,  zu  ohne 
über  Vermutungen  hinaus  zu  kommen,  oder,  was  noch  schwerer  ins 
Gewicht  fällt,  lediglich  einer  Hypothese  zu  Gefallen  die  in  einer  hohen 
Sterblichkeit  ausgesprochene  Gefährlichkeit  des  Leidens  näher  zu  be- 
rücksichtigen. Nicht  weniger  unsicher  erweisen  sich  die  Versuche, 
die  bei  den  Chronisten  des  Mittelalters  erwähnten  epidemischen 
Katarrhfleber  mit  der  Influenza  zu  identifizieren,  Avofür  jede  nähere 
Beschreibung  der  Krankheitserscheinungen  fehlt. 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  879 

A.  Hirsch  bezeichnet  als  erste,  nachweisbare  Influenzaepidemie 
jene  des  Jahres  1173,  Zeviani  die  vom  Jahre  1239.  Ginge  jene 
vom  Jahre  1323,  während  Seh  weich,  Haeser.  Biermer.  Kip- 
per ger  u.  a.  erst  in  der  Epidemie  des  Jahres  1387  sichere  Influenza 
finden  wollen.  Erwägt  man  jedoch,  dass  die  damaligen  Schilderungen 
der  verlässlichen  Deutlichkeit  entbehren  und  selbst  im  Laufe  des 
15.  Jahrhunderts  das  Bild  des  ,.Catarrhus  epidemicus"  ver- 
schiedene Auslegung  gestattet,  so  wird  man  diesen  vorerwähnten 
Altersbestimmungen  gegenüber  sich  kaum  anders  als  skeptisch  ver- 
halten können.  Unter  den  Verhältnissen  jener  Zeiträume  war  es  un- 
vermeidlich, dass  der  Ausblick  und  die  Erfahrung  des  einzehien  Be- 
obachters meist  an  den  Grenzen  der  eigenen  Heimat  eine  Schranke 
fand  und  daher  bestenfalls  nicht  von  dem  ganzen  Verbreitungsgebiete 
eines  und  desselben  Seuchenzuges,  sondern  nur  von  einer  territorial 
umschriebenen  Epidemie  die  Eede  sein  konnte.  Es  gewinnt  sonach 
der  Standpunkt  jener  Forscher,  welche  die  beglaubigte  Gescliichte  der 
Influenza  erst  vom  Beginne  des  16.  Jahi'hunderts  an  datiert  wissen 
wollen,  eine  gewisse  Berechtigung  und  wir  zögern  nicht,  uns  gleich- 
falls dieser  Anschauung  anzuschliessen. 

Im  XVI.  Säkulum  begegnen  wir  einei*  grösseren  Zahl  von  Pande- 
mien  der  Influenza,  wovon  die  ärztlichen  Zeitgenossen  zwar  hin- 
reichenden Aufschluss  über  das  Wesen  der  Krankheit,  aber  nur  un- 
zulängliche Angaben  über  den  Gang  und  die  Verbreitung  der  Seuchen- 
züge überliefert  haben. 

So  trägt  die  Epidemie  vom  Jahre  1510  die  unverkennbaren  Züge 
der  Krankheit  an  sich,  von  ihrer  Ausbreitung  "bissen  wii-  nur,  dass 
sie  angeblich  von  Malta  kommend  über  Italien,  Spanien  und  Frank- 
reich nach  dem  nördlichen  Europa  gewandert  und  den  damaligen 
Aerzten  als  eine  neue  von  hoher  Mortalität  begleitete  Seuche  er- 
schienen war.  Dieselbe  Unsicherheit  haftet  den  Nachrichten  über  den 
Gang  der  Epidemie  des  Jahres  1557  an,  obgleich  übereinstimmend 
ihrer  abwechselnden  Verbreitung  in  ganz  Europa  gedacht  und  aus 
verschiedenen  Ländern,  namentlich  Frankreich  und  Jäolland  berichtet 
wurde,  dass  nahezu  kein  Mensch  der  Erkrankung  entgangen  war. 

Ausführlichere  Kenntnis  ist  auf  uns  gekommen  über  die  Influenza- 
pandemie  des  Jahres  1580.  Aus  dem  Oriente  kommend,  breitete  sie 
sich  im  Frühjahre  zunächst  über  die  Mittelmeerländer  aus,  rückte  im 
Sommer  nach  Mitteleuropa  vor,  um  mit  Schluss  des  Jahres  an  den 
Küsten  des  baltischen  Meeres  ihre  letzten  nachweisbaren  Spuren  zu 
hinterlassen.  Die  Schilderung  des  plötzlich  über  eine  Stadt  oder 
einen  Landstrich  hereinbrechenden  „epidemischen  Katarrhal- 
fiebers"  stimmt  mit  dem  Bilde  der  Influenza  unserer  heutigen  Zeit 
vollständig  überein,  wenn  auch  die  Bezeichnung  der  Krankheit,  die 
Würdigung  der  am  meisten  hervortretenden  oder  je  nach  dem  Stand- 
punkte des  Autors  als  charakteristisch  angesehenen  Symptome  nicht 
immer  volle  Einheitlichkeit  aufweist.  Die  Aerzte  jener  Zeit  nennen 
die  Krankheit  Catarrhus  epidemicus,  Tussis  epidemica, 
Cephalalgia  contagiosa,  im  deutschen  Volksmiinde  \NTirde  sie 
als  Schafhusten.  Ziep,  Pipf,  Hühnerweh.  von  den  Italienern 
Mazuchi  (Male  della  zucca=  Kürbiskrankheit),  Cocculucus, 
Malo  di  castrone,  von  den  Franzosen  Cocheluche  u.  s.  f.  be- 
zeichnet. Dass  die  den  galenischen  Doktrinen  ergebenen  Aerzte  in 
der  Seuche  ein  putrides,  pestilentisches  Fieber  erkannt  haben,  kann 


880  Victor  Fossel. 

nicht  überraschen.  Es  war  das  Gesamtbild  der  Influenza,  die  häufig 
unter  vorwaltend  gastrischen  Störungen  auftrat  und  derentwillen  von 
einigen  Autoren  als  biliöser  Katarrh  aufgefasst  wurde.  Die  Aus- 
dehnung der  Epidemie  war  die  der  Influenza  eigentümliche ;  fast  keine 
Person  blieb  von  ihr  verschont,  doch  war  ihre  Gefährlichkeit  ver- 
schwindend gering,  nur  Asthmatiker,  Phthisiker  und  Greise  wurden 
von  ihr  dahin geralft.  Man  leitete  die  Krankheit  von  einer  „levis 
corruptio"  der  Atmosphäre  ab,  stritt  darüber,  ob  das  Leiden  eine 
„synocha  putrida"  oder  ,,non  putrida",  ob  es  kontagiös  sei  oder  nicht. 
Die  Aerzte  lernten  frühzeitig  die  Schädlichkeit  des  bei  „inflamma- 
torischen" Erkrankungen  unvermeidlichen  Aderlasses  kennen  und  be- 
schränkten sich  auf  Diaphoretica,  Laxantia  und  roborierende  Mittel. 
Wo  gegen  die  Influenza  der  unsinnige  Gebrauch  der  Venäsektion  in 
ungeschwächten  Ansehen  geblieben  war,  wie  in  Italien  und  Spanien, 
war  auch  die  Sterblichkeit  eine  erschreckend  hohe,  und  Forestus 
warnt  vor  den  Blutentziehungen  mit  den  Worten:  „Seminaria  con- 
tagionis  sanguinis  missione  non  possunt  educi". 

Vom  Ausgang  des  16.  Jahrhunderts  an  trat  die  Influenza  in 
Europa  wie  in  Nord-  und  Südamerika  noch  häufiger  auf.  Während 
sie  1593  in  Europa  einen  pandemischen  Charakter  angenommen  hatte, 
blieb  sie  1626  auf  den  Süden  des  Kontinents  beschränkt.  Sie  überzog 
im  Jahre  1647  die  westliche  Hemisphäre  in  bedeutender  Ausdehnung, 
trat  1657 — 1658  vorwiegend  in  England  auf,  erschien  hier  im  Jahre 
1675  von  neuem  und  bedrängte  gleichzeitig  mit  einer  ausgedehnten 
Invasion  Deutschland,  Oesterreich  und  Ungarn.  Grossbritannien 
bildete  in  den  Jahren  1688  und  1693  abermals  den  Herd  der  epi- 
demischen Grippe,  die  im  letztgenannten  Jahre  auch  nach  Nordfrank- 
reich und  Holland  sich  verbreitet  hatte. 

Die  ärztlichen  Schriftsteller  des  17.  Jahrhunderts,  unter  denen 
Willis,  Sydenham  und  Ettmüller  den  epidemischen  Katarrh 
am  besten  beschrieben  haben,  stellen  epidemiologische  Betrachtungen 
und  Nachforschungen  über  die  Wege  der  Krankheit  mehr  in  den 
Hintergrund.  Hingegen  zeigt  die  Influenzalitteratur  während  des 
18.  Jahrhunderts  nach  Form  und  Inhalt  der  Arbeiten  einen  gewissen 
Fortschritt,  es  tritt  daraus  auch  das  Bestreben  der  Autoren  hervor, 
allmählich  untereinander  Fühlung  zu  erreichen  uud  damit  in  die  zeit- 
liche und  örtliche  Verbreitungsweise  der  Seuche  besseren  Einblick  zu 
gewinnen. 

Im  Jahre  1709  herrschte  die  Influenza  in  den  meisten  Ländern 
Europas  und  recrudeszierte  1712  annähernd  im  gleichen  Umfange. 
Die  grosse  Pandemie  der  Jahre  1729 — 1730  nahm,  wie  zum  ersten 
Male  sicher  nachgewiesen  ist,  ihren  Ausgang  von  Russland.  Sie  wird 
als  „kontagiöses  Katarrhalfieber",  als  „legrand  rhume", 
als  „Synocha  catarrhalis"  bezeichnet.  Im  Frühjahr  1729  in 
Eussland  verbreitet,  durchzog  die  Seuche  während  der  Sommer-  und 
Herbstmonate  ganz  Mitteleuropa  und  das  britische  Inselreich,  rückte 
gegen  Ende  des  Jahres  nach  dem  Süden  des  Kontinents  vor,  wo  sie 
im  Frühjahr  1730  in  Neapel  ein  Ende  fand.  Doch  schon  nach  zwei- 
jähriger Pause  erhob  sich  die  Influenza  im  Spätherbst  1732,  vermut- 
lich von  Russland  stammend,  in  Polen,  wanderte  nach  Deutschland 
und  der  Schweiz,  im  Januar  1733  nach  England,  Frankreich  und 
Italien,  ergriff  in  den  darauffolgenden  Monaten  Spanien  und  soll 
später  den  ganzen  amerikanischen  Kontinent  überzogen  haben.    Inner- 


Geschichte  des  epidemischen  Krankheiten.  881 

halb  der  Jahre  1734—1737  kam  die  Inflnenza  auf  europäischen  Boden 
keineswegs  zur  Ruhe,  in  allen  Ländern  entwickelten  sich  kräftige, 
länger  andauernde  Nachschübe. 

Ob  die  Epidemien  dieses  achtjährigen  Zeitraumes  als  eine  fort- 
gesetzte Kette  einer  und  derselben  Invasion  anzusehen  sind,  wird  aas 
den  damaligen  Berichten  keineswegs  ersichtlich.  Es  ist  aber  nach 
unseren  heutigen  Erfahrungen  gewiss  gestattet,  anzunehmen,  dass  jene 
rasch  einsetzenden  Wiederholungen  untereinander  im  kausalen  Zu- 
sammenhange standen  und  die  einzelnen  Epidemiejahre  in  ^^'irkKch- 
keit  einer  abgeschlossenen  Influenzaperiode  angehörten.  Während 
dieses  Zeitabschnittes  haben  die  Aerzte  im  allgemeinen  das  charakte- 
ristische Gepräge  der  Krankheit  wiederum  bestätigt.  Bemerkenswert 
ist.  dass  in  Italien  und  England  an  fielen  Kranken  Gehimsvmptome 
(leichte  Delirien,  Alterationen  des  Geschmackes  und  Geruches)  beob- 
achtet wurden.  Einige  Berichterstatter  sprechen  von  friesel artigen, 
petechienförmigen  Hauteruptionen,  von  denen  das  epidemische  Katarrh- 
fieber begleitet  war.  Die  Morbidität  war  eine  enorme,  selbst  Haus- 
tiere sollen,  wie  vielfach  erzählt  wird,  von  der  Influenza  ergriffen 
worden  sein.  Die  Sterblichkeit  hingegen  war  eine  auffallend  milde. 
Der  Gutartigkeit  wegen  nannten  die  Deutschen  das  Leiden  die 
„Modekrankheit",  der  zumeist  nur  alte  und  geschwächte  Leute 
zum  Opfer  gefallen  waren. 

In  den  nächsten  Dezennien  sind  es  die  Jahre  1742—1743,  1757 
bis  1758.  1761—1762.  1767,  1775,  1779—1780,  in  denen  sowohl  Europa 
wie  Amerika  von  Influenzaepidemien  heimgesucht  worden  ist.  Nicht 
jederzeit  lässt  sich  aber  historisch  verfolgen,  in  welchem  Zeitmasse, 
noch  weniger  in  welcher  Richtung  die  Seuche  ihren  Weg  genommen 
hat.  Auch  Anfang  und  Ende  des  Zuges  auf  dem  engeren  Länder- 
gebiete verliert  sich  in  ungewissen  Nachrichten,  so  dass  der  Be- 
hauptung, die  Influenza  habe  wiederholt  aus  Amerika  kommend,  den 
Weg  nach  der  alten  Welt  eingeschlagen,  die  Meinung  gegenüber 
gestellt  wurde,  sie  habe  in  Europa  stets  den  Kurs  von  Ost  nach  West 
und  ausserdem  vom  Norden  nach  dem  Süden  eingehalten. 

Der  grössten  Invasion  der  Influenza  während  des  18.  Jahrhunderts 
begegnen  wii-  in  den  Jahren  1781—1782.  Ihr  erster  Schauplatz  wird 
nach  übereinstimmenden  Zeugnissen  nach  Ostindien  verlegt,  wo  im 
Herbste  1781  die  britische  Armee  unter  ihrem  Drucke  schwer  zu 
leiden  hatte.  Ueber  Asien  fortschreitend,  gelangte  sie  im  Dezember 
1781  nach  Russland,  hielt  im  Januar  1782  ihren  Einzug  in  St.  Peters- 
burg, erschien  im  Februar  in  Finnland  und  wälzte  sich  in  der  darauf- 
folgenden Zeit  nach  Dänemark,  Deutschland.  Schweden.  England  fort. 
Vom  Mai  an  überzog  sie  Oesterreich,  wanderte  westwärts  über  Süd- 
deutschland und  den  Rhein  entlang  nach  den  Niederlanden  und  Frank- 
reich, endlich  südwärts  nach  Spanien  und  Italien.  Ueberall  hat  die 
Krankheit,  die  seit  1743  von  den  Franzosen  mit  „Grippe**,  von  den 
Engländern  mit  ..Influenza"  und  nunmehr  wegen  der  Plötzlichkeit 
ihres  Ausbruches  als  ..Blitz katarrh"  bezeichnet  wurde,  eine  exor- 
bitante ^lorbidität  hervorgerufen,  ja  in  einzelnen  Städten  nahezu  die 
gesamte  Einwohnerschaft  befallen.  Aehnliche  Pandemien  der  Influenza 
fielen  in  die  Jahre  1788-1790,  1798—1803.  Der  Zug  der  Seuche 
innerhalb  des  letztgenannten  Zeitraumes  stellte  sich  als  eine  zu- 
sammenhängende Kette  von  grossen  Länderepideraien  dar,  an  welche 

Handbach  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  56 


882  Victor  Fossel. 

sich  dazwischen  laufende  und  von  Intervallen  unterbrochene  heftige 
Nachschübe  auf  vorher  durchseuchten  Gebieten  anschlössen. 

Vom  Jahre  1805—1827  trat  die  Influenza  wiederholt  in  Europa 
und  Amerika  auf.  Aber  alle  diese  Ausbrüche  blieben  weit  hinter  der 
Pandemie  zurück,  die  in  den  Jahren  1830—1833  der  Influenza  den 
Stempel  einer  Weltseuche  aufgeprägt  hatte.  Im  Januar  1830  in  China 
beginnend,  verbreitete  sie  sich  im  September  desselben  Jahres  nach 
Manila,  Polynesien  und  den  grossen  Sundainseln,  gelangte  mit  Eintritt 
des  Winters  nach  Russland,  von  wo  sie  im  Frühjahr  1831  nach 
Deutschland,  Oesterreich  und  Dänemark  übergriff.  Während  der 
Sommermonate  suchte  sie  Schweden,  Frankreich,  Belgien  und  Gross- 
britannien heim,  indes  Italien  erst  im  November  und  Spanien  nach 
Schluss  des  Jahres  befallen  wurde.  Damit  erreichte  der  europäische 
Seuchenzug  vorderhand  seinen  Abschluss.  Nordamerika,  das  gleich- 
zeitig mit  Italien  schon  im  November  1831  die  ersten  Ausbrüche  des 
epidemischen  Katarrhs  zu  überstehen  hatte,,  erlitt  in  den  ersten  beiden 
Monaten  des  Jahres  1832  eine  neuerliche  und  vehemente  Ausdehnung 
der  Influenza.  Im  weiteren  Laufe  des  Jahres  1832  blieb  die  Krank- 
heit auf  Vorderindien  eingeengt.  Doch  schon  im  Beginne  des  Jahres 
1833  erhob  sie  sich,  von  Vorderasien  einbrechend,  neuerdings  im  russi- 
schen Reiche,  pflanzte  sich  in  den  folgenden  Monaten  in  analoger 
Richtung  wie  zwei  Jahre  vorher  von  NO  nach  SW  nach  den  übrigen 
Ländern  Europas  fort  und  nahm  überdies  schon  im  Monate  März,  ver- 
mutlich vom  Schwarzen  Meere  ausgehend,  ihren  Weg  nach  Syrien  und 
Aegypten.  Eine  reiche  Litteratur  bezeugt  das  Interesse,  das  die 
Aerzte  aller  Staaten  der  Pandemie  entgegengebracht  hatten,  ohne 
wesentlich  über  frühere  Erfährungen  hinaus  zu  gelangen.  Man  forschte 
mit  besonderem  Eifer  nach  den  Ursachen  des  „Miasma",  suchte  die- 
selben in  einer  „katarrhalischen  Konstitution",  in  gewissen  Beziehungen 
des  Mondes  zur  Erde,  in  den  angeblichen  Einwirkungen  unheilver- 
kündender Kometen,  und  die  Romantiker  der  deutschen  Medizin  zogen 
einen  „Intoxitacionsprozess  der  Atmosphäre"  oder  deren  Uebersätti- 
gung  mit  Elektrizität  herbei,  um  eine  Erklärung  dieser  Volksseuche 
zu  finden. 

Die  gleiche  Wahrnehmung  gilt  für  die  zahllosen  Berichte,  welche 
die  Influenzapandemie  der  Jahre  1836 — 37  umfassen.  Diesmal  war  es 
Australien,  Südafrika  und  Hinterindien,  von  wo  im  Oktober  1836  die 
Krankheit  ihren  Ausgang  nahm,  um  mit  einer  bis  dahin  nicht  beob- 
achteten Schnelligkeit  auf  dem  Wege  über  Russland,  das  schon  im 
Dezember  1836  befallen  worden  war,  nach  dem  Kontinente  und  zwar 
in  zweifacher  Richtung  fast  gleichzeitig  nach  dem  Westen  und  Süden 
zu  fluktuieren.  Binnen  weniger  Monate  war  Europa  wiederum  von 
der  Seuche  befreit,  welche  in  ihrer  Extensität  von  früheren  Zügen  nicht 
wesentlich  differierte,  aber  nach  den  Mitteilungen  namhafter  Augen- 
zeugen in  vielen  Städten  von  einer  ungewöhnlich  hohen  Sterblichkeit 
begleitet  war. 

Von  den  Influenzaepidemien,  welche  in  den  folgenden  Jahrzehnten 
nach  ein-  bis  mehrjährigen  Zwischenpausen  bald  auf  der  östlichen, 
bald  auf  der  westlichen  Hälfte  des  Erdballes  zur  Entwicklung  gelangt 
sind,  nimmt  jene  der  Jahre  1847 — 1848  wegen  ihrer  allgemeinen  Ver- 
breitung ein  erhöhtes  Interesse  in  Anspruch.  Schon  während  des 
Winters  1846 — 1847  epidemisierte  die  Krankheit  im  nördlichen  und 
westlichen   Europa,    zeigte    aber    im    darauffolgenden   Frühling    und 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  883 

Sommer  überall,  mit  Ausnahme  von  Russland,  einen  entschiedenen 
Nachlass.  Von  neuem  gelangte  sie  im  Herbste  1847  zur  Entwicklung, 
allem  Anscheine  nach  diesmal  von  den  Gestaden  des  Mittelländischen 
Meeres  ausgehend.  Nacheinander  wurden  Frankreich,  Deutschland, 
Dänemark,  die  Niederlande,  Grossbritannien,  die  Schweiz,  Italien, 
Spanien,  Griechenland,  Aegypten  und  Algier  ergriffen.  Vom  Januar 
1848  an  erschien  sie  in  Nordamerika,  im  Laufe  des  Jahres  in  "West- 
indien u.  a.  Teilen  der  neuen  Welt.  Die  späteren  Epidemien,  die  der 
Jahre  1850—1851,  1855,  1857—1858,  1874—1875  bieten  wenig  Be- 
merkenswertes, wenngleich  einzelne  derselben  auf  verhältnismässig 
engerem  Gebiete  eine  beträchtliche  Ausdehnung  aufgewiesen  haben. 

Die  gewaltigste  Pandemie,  die  die  Geschichte  der  Influenza  kennt, 
ist  jene  vom  Jahre  1889 — 189Ö.  Sie  ist  nicht  nur  durch  die  In-  und 
Extensität  ihres  Auftretens  in  allen  Teilen  der  bewohnten  Erde  denk- 
würdig geworden,  sondern  auch  darum  der  historisch  wichtigste  Aus- 
bruch dieser  Volkskrankheit,  weil  die  strenge  und  sorgfältige  Beob- 
achtung, die  ihr  in  der  Litteratur  aller  Kulturländer  zuteil  wurde, 
unsere  epidemiologischen  und  pathologischen  Kenntnisse  von  der 
Krankheit  grundlegend  befestigt  und  erweitert  hat.  Die  unübersehbare 
Menge  ärztlicher  Detailberichte,  die  wertvollen  Ergebnisse  der  allent- 
halben eingeleiteten  Sammelforschungen  über  Auftreten,  Bewegung  und 
Erscheinungen  der  Seuche  haben  an  der  Hand  der  modernen  klinischen 
und  statistischen  Forschungsmethode  die  eingehendste  Bearbeitung  ge- 
funden. Es  ist  nicht  zuviel  gesagt,  wenn  wir  die  Influenza  zu  den 
bestgekannten  epidemischen  Krankheiten  zählen,  deren  kontagiöse 
Natur  wohl  heute  ebenso  ausser  Zweifel  steht,  wie  deren  Charakter 
als  specifischer  Infektionsprozess,  dessen  Krankheitserreger  R.  Pfeiffer 
im  Jahre  1892  entdeckt  und  als  „Bacillus  influenzae"  bezeich- 
net hat. 

In  der  Geschichte  dieser  jüngsten  Pandemie  springt  vor  allem  die 
Gleichartigkeit  der  Influenza  in  epidemiologischer  wie  pathologischer 
Beziehung  in  die  Augen.  Sie  ist  dieselbe  Krankheit  geblieben,  die 
wir  aus  den  Schilderungen  früherer  Jahrhunderte  kennen  gelernt 
haben,  unverändert  in  ihrem  Symptomenkomplex,  ungeschwächt  in  der 
Wucht,  mit  der  sie  allezeit  die  Menschheit  überfallen  hat. 

Die  ersten  Anfänge  der  Pandemie  1889  —  1890  weisen  nach  dem 
Innern  von  Asien  hin.  Schon  Mitte  Mai  1889  war  in  Buchara  in 
Turkestan  die  Influenza  in  heftiger  Weise  zum  Ausbruch  gekommen. 
Gleichzeitig  herrschte  sie,  wie  beglaubigt  erwiesen  ist,  in  Grönland 
und  Britisch-Nordamerika.  Dem  gering  entwickelten  Verkehre  ent- 
sprechend, schritt  die  Influenza  von  Turkestan  in  auffällig  langsamem 
Tempo  nach  Sibirien  und  dem  europäischen  Russland  weiter,  erschien 
erst  gegen  Ende  Oktober  in  St.  Petersburg  und  in  den  nächsten 
Wochen  in  den  verschiedenen  Gebieten  des  Zarenreiches.  Von  nun 
an  änderte  aber  die  Seuche  ihre  Gangart;  sprungweise  eilte  sie  über 
WTite  Länderstrecken  dahin,  mit  einem  Male  hier  und  dort  ihr  Er- 
scheinen ankündend.  Von  jeder  Stadt  und  jedem  Flecken,  den  sie  be- 
setzte, erweiterte  sie  gleichsam  wellenförmig  ihre  Kreise  nach  allen 
Richtungen,  deren  zeitliche  Intervalle  in  der  Folgezeit  kaum  mehr  zu 
erkennen  waren. 

Von  Russland  aus  nahm  nun  die  Influenza  ihren  Weg  nach  dem 
Westen  Europas.  Mitte  November  tauchte  sie  in  Berlin  und  einigen 
norddeutschen  Städten  auf,  schon  am  26.  November  stellte  sie  sich  in 

56* 


884  Victor  Fossel. 

Paris  ein,  wo  die  plötzlichen  Massenerkrankungen  im  Magazin  du 
Louvre  die  grösste  Bestürzung  hervorgerufen  und  den  Ausgangspunkt 
für  die  folgende  Epidemie  in  Paris  und  in  ganz  Frankreich  gebildet 
haben.  "Wenige  Tage  später  häuften  sich  die  Grippefälle  in  den 
Hauptorten  des  deutschen  Reiches,  mit  Anfang  Dezember  traten  zahl- 
reiche Erkrankungen  in  Stockholm,  Kopenhagen,  Wien  u.  a.  0.  auf,  und 
vom  10.  Dezember  an  ist  bereits  ein  beträchtliches  Gebiet  des  deutschen 
Reiches  von  der  Influenza  ergriffen.  Gleichzeitig  hält  sie  in  Brüssel 
und  London  ihren  Einzug  und  schiebt  ihre  Vorposten  nach  Oesterreich- 
Ungarn,  den  Balkanstaaten,  Italien,  Spanien,  Grossbritannien  und 
Nordamerika  vor.  Um  den  2Ö.  Dezember  schwillt  in  den  vorgenannten 
Ländern  wie  in  Frankreich  und  der  Schweiz  die  Seuche  zu  enormer 
Höhe  an,  sie  wandert  nach  den  Küsten  und  Inseln  des  Mittelländischen 
Meeres  IdIs  Aegypten  und  dringt  im  Norden  Europas  vor,  wo  sie  in 
Christiania,  in  Schottland  und  Irland  festen  Fuss  fasst. 

Anfangs  Januar  1890  gleicht  das  ganze  Europa  und  der  grösste 
Teil  von  Nordamerika  einem  Riesenherde  der  epidemischen  Grippe. 
Um  diese  Zeit  setzt  sie  auch  nach  Algier  und  Tunis  über,  kommt  in 
Persien  zum  Ausbruch  und  wird  durch  ein  infiziertes  Fahrzeug  nach 
Capstadt  verschleppt.  Mitte  Januar  breitet  sich  die  Influenza  in 
Norwegen  und  in  Centralamerika  aus,  gegen  Ende  des  Monats  wird 
sie  in  Honkong  importiert,  innerhalb  der  nächsten  Wochen  auf  Ceylon, 
in  Japan  und  Südamerika.  Mitte  Februar  findet  sie  u.  a.  auf  Grön- 
land und  den  Hebriden  Eingang,  anfangs  März  in  Vorder-  und  Hinter- 
indien, China,  den  Sundainseln  und  Australien.  Im  weiteren  Verlaufe 
der  Monate  März  und  April  erfolgt  die  Invasion  der  Krankheit  an 
zahlreichen  Punkten  der  ost-  und  westafrikanischen  Küste  wie  in 
Arabien,  während  viele  hier  nicht  im  einzelnen  aufgezählte  Land- 
striche und  Inseln  von  Asien,  Afrika,  Amerika  und  Australien  im 
Sommer  und  Herbst  1890  von  der  Seuche  heimgesucht  werden.  Mit 
Jahresschluss  war  ihr  Rundgang  um  die  Erde  beendet. 

Wie  den  früheren,  grossen  Epidemien  der  Influenza  ist  auch  ihre 
Sturmflut  1889 — 1890  binnen  Jahresfrist  ein  mehr  oder  weniger 
heftiger  Nachschub  gefolgt.  Abgesehen  von  den  lokalen  Spätausbrüchen 
des  Jahres  1890  trat  anfangs  1891  die  Seuche  in  Nord-  und  Süd- 
amerika von  neuem  auf.  Gleichzeitig  kehrte  sie  im  Norden  von  Eng- 
land, in  Schweden,  Norwegen  und  Dänemark  zurück  und  gewann  in 
diesen  Ländern  wie  auf  dem  westlichen  Kontinent  eine  grosse  Ver- 
breitung. Wie  jedoch  epidemiologisch  sicher  gestellt  ist,  sind  diese 
erneuerten  Ausbrüche  nicht  auf  eine  frische  Verschleppung  von  Land 
zu  Land,  sondern  vielmehr  auf  ein  Wiederaufspriessen  der  zurück- 
gebliebenen Infektionskeime  zurückzuführen.  Auf  die  gleiche  Ur- 
sprungsquelle deutet  der  Wiederbeginn  der  Influenzapandemie  hin,  die 
im  Herbste  1891  ganz  Europa  und  die  anderen  Weltteile  überzogen 
und  bis  Mai  1892  angedauert  hat.  Endlich  darf  die  Nachepidemie  des 
Winters  1893/94  hierher  gerechnet  werden,  ein  im  verkleinerten  Mass- 
stabe kopiertes  Bild  der  infektiösen  Grippe  der  letzten  Jahre.  Diese 
Ausläufer  und  Recidiven  erinnern  an  die  oftmaligen  En-  und  Epidemien 
im  Gefolge  fi'üherer  Seuchenzüge,  ebenso  unbegrenzt  in  ihren  Auf- 
flackern, wie  unbestimmbar  in  ihrer  örtlichen  und  zeitlichen  Bewegung. 
Auch  hinsichtlich  der  ungleich  längeren  Dauer  an  Ort  und  Stelle,  und 
der   höheren   Sterblichkeit   bei   relativ   geringerer  Erkrankungsziffer 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  885 

gemahnen  diese  Nachzügler  an  das  eigentümliche  Abklingen  der  In- 
fluenza in  der  Vergangenheit. 

Das  Denguefieber,ein  akuter  Infektionsprozess,  charakterisiert 
durch  heftige  Gelenks-  und  Muskelschmerzen,  sowie  durch  ein  im  An- 
fangs- und  Endstadium  auftretendes  variables  Exanthem  gekenn- 
zeichnet, gehört  den  Krankheiten  der  warmen  Länder  an.  Die  reiche 
Nomenklatur,  die  das  Leiden  im  Laufe  der  Zeit  erworben  hat,  um- 
schreibt in  mehi'  oder  weniger  glücklicher  Weise  das  eine  oder  andere 
Hauptsymptom  des  Uebels,  und  spricht  schon  an  sich  für  sein  oft- 
maliges Vorkommen  bei  den  Yei"schiedenen  Völkern.  Nach  Vambery 
soll  das  Wort  ,.Dengue"  altarabischen  Ursprungs  sein  und  soviel 
wie  Abgeschlagenheit  bedeuten;  andere  sehen  in  demselben  die  kor- 
rumpierte Form  von  ..Dandyfieber",  womit  die  gezierte  Haltung 
und  der  gespreizte  Gang  der  Kranken  gemeint  sei.  Wegen  der 
iSchmerzhaftigkeit  in  den  Kniegelenken  wurde  es  von  den  Holländern 
..Knockelkoorts"  (Knöchelfieber),  von  den  Amerikanern  „Break 
bone~  oder  ..Brocken  wing~  bezeichnet,  in  Indien  das  ..three 
days  fever"'  genannt,  anderwärts  wegen  des  fleckigen  initialen  Aus- 
schlages mit  dem  Namen  „Giraffe"',  „Bouquet",  „Colorado"  u.  s.w. 
belegt. 

Die  Heimat  des  Denguefiebers  sind  die  tropischen  und  subtropi- 
schen Länder,  deren  Grenzen  die  Krankheit  nur  ausnahmsweise  über- 
schritten hat.  Durchwegs  in  seinem  Vorkommen  auf  die  warme 
Jahreszeit  beschränkt,  bevorzugt  sie  in  ihrer  Ausbreitung  die  Meeres- 
ufer und  die  grossen,  schiffbaren  Flüsse  und  gleicht  in  dieser  Ab- 
hängigkeit vom  maritimen  Verkehre  dem  Gelbfieber.  Ob  die  Propa- 
gation  des  Dengue  auf  rein  kontagiösem  Wege  oder  durch  Mitwirkung 
örtlicher  Bedingungen  erfolgt,  ist  noch  eine  unausgetragene  Streit- 
frage der  Epidemiologen.  Soviel  steht  fest,  dass  Dengue  und  Influenza 
nicht,  wie  man  vor  nicht  langer  Zeit  angenommen,  identisch,  sondern 
zwei  grundverschiedene,  spezifisch  getrennte  Infektionskrankheiten 
sind,  die  nur  in  der  ungeheuren  Zahl  der  plötzlich  eintretenden  Er- 
krankungen und  in  der  Gutartigkeit  des  Verlaufes  eine  gewisse, 
nähere  Vei-wandtschaft  besitzen. 

Unsere  Kenntnisse  über  den  Dengue  datieren  erst  aus  den  Jahren 
1779  und  1780,  wo  er  in  Bata\da  und  annähernd  zu  gleicher  Zeit  in 
Kairo,  Alexandrien,  an  der  Coromandelküste.  in  Arabien  und  Persien 
beobachtet  wurde.  Ebenfalls  in  .Jahre  1780  trat  er  in  den  heissen 
Sommermonaten  in  Philadelphia  auf,  vier  Jahre  später  in  Cadix  und 
Sevilla,  wo  man  die  Krankheit  als  „piadosa"  d.h.  die  „milde"  be- 
zeichnet hat.  Gegen  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  wird  seiner  Ver- 
breitung auf  Grenada  (einer  der  kleinen  Antillen)  Erwähnung  gethan, 
während  die  nächst  bekannt  gewordene  Epidemie  1818  in  Lima  zum 
Ausbruch  gelangte.  Erst  vom  Jahre  1824—25  an  lenkte  das  Dengue- 
fieber  zufolge  seiner  weiten  Ausdehnung  über  Vorder-  und  Hinter- 
indien die  Aufmerksamkeit  der  ärztlichen  Welt  auf  sich,  die  noch  ge- 
steigert wurde,  als  1826 — 1828  von  Savannah  aus  über  die  wgini- 
schen  Inseln,  ein  grosser  Seuchenzug  über  Westindien,  die  grossen 
und  kleinen  Antillen,  die  südlichen  Gebiete  der  Vereinigten  Staaten 
Nordamerikas  und  die  nördliche  Küste  Südamerikas  sich  entwickelt 
hatte. 

In  den  folgenden  drei  Dezennien  ist  der  Dengue  an  vielen  Ort€n 
und  Ländern  der  östlichen  und  westlichen  Hemisphäre  in  epidemischen 


886  Victor  Fossel. 

oder  lokalisierten  Ausbrüchen  zur  Erscheinung  gelangt.  Wir  er- 
wähnen hier  nur  diejenigen  Schauplätze,  wo  die  Seuche  wiederholt 
oder  in  massenhafter  Ausdehnung  grassierte.  Es  sind  dies  Vorder- 
und  Hinterindien,  wo  zahlreiche  Hafenorte  oder  an  den  Hauptströmen 
im  Innern  des  Landes  gelegene  Städte  und  deren  Umgebung  von 
grösseren  Epidemien  in  den  Jahren  1830,  1835—36,  1844—48,  1853 
bis  1854  heimgesucht  wurden.  Ebenso  fielen  in  diesen  Zeitraum 
heftige  Vorstösse  der  Krankheit  nach  Arabien  (1835),  Aegypten  (1845), 
Senegambien  (1845,  1848),  nach  der  Insel  Reunion  (1851),  nach  Taiti 
und  anderen  Südseeinseln  (1852—53).  In  beträchtlichem  Umfange  er- 
schien zu  jener  Zeit  und  zu  wiederholten  Malen  die  Dengueseuche  auf 
der  westlichen  Hemisphäre.  So  war  sie  im  Jahre  1848  in  Neworleans 
weit  verbreitet  und  überzog  1850  den  Süden  der  Unionsstaaten  in 
weitem  Umfange.  Schon  im  Jahre  1846  tauchte  das  Denguefieber  in 
Rio  Janeiro  auf,  blieb  anfänglich  auf  den  Hafen  beschränkt,  erstreckte 
sich  zum  zweiten  Male  aber  über  die  ganze  Stadt.  Aehnliche  Aus- 
brüche wiederholten  sich  hier  in  den  Jahren  1848  und  1849.  In  Peru 
grassierte  die  Krankheit  1852,  zwei  Jahre  später  auf  mehreren  west- 
indischen Inseln. 

Während  des  Jahrzehntes  1860 — 1870  kam  auf  der  östlichen  Erd- 
hälfte der  Dengue  auf  Cypern  und  Syrien  (1861  und  1868)  zu  stärkerer 
Entwicklung,  auf  afrikanischem  Boden  1864 — 1865  in  Tripolis,  auf  den 
Kanarischen  Inseln,  auf  der  Insel  Goree,  in  Senegambien,  ostwärts  auf 
Zanzibar  und  Madagaskar.  Die  Epidemie,  welche  im  Jahre  1868  Port 
Said  und  Kairo  betroffen  hatte,  blieb  auf  diese  Orte  eingeengt.  Das 
Vorkommen  der  Krankheit  auf  der  westlichen  Hemisphäre  konzen- 
trierte sich  auf  Martinique  und  die  Bermudainseln  in  den  Jahren  1860 
und  1863.  Im  letztgenannten  Jahre,  offenbar  mit  dem  Ausbruche  in 
Westindien  im  Zusammenhange  stehend,  wurde  sie  durch  Truppen- 
schiffe nach  der  europäischen  Hafenstadt  Cadix  eingeschleppt,  sie  griff 
von  da  aus  nach  Xeres,  Sevilla  und  anderen  Städten  Andalusiens 
sowie  der  Nachbarprovinzen  über  und  fand  auch  im  Jahre  1867  in 
Cadix  auf  dem  gleichen  Wege  Eingang,  ohne  jedoch  besondere  Aus- 
dehnung erlangt  zu  haben. 

Zu  einer  ganz  excessiven  Verbreitung  erhob  sich  das  Dengue- 
fieber in  den  Jahren  1871 — 1873.  Die  aus  dieser  zweijährigen  Periode 
bekannt  gewordenen  Epidemien  stellten  sich  nachweislich  als  Glieder 
eines  und  desselben  Seuchenzuges  dar,  dessen  zeitliche  und  örtliche 
Bewegungen  anscheinend  an  den  menschlichen  Verkehr  gebunden  ge- 
wesen waren.  Von  der  ostafrikanischen  Küste  beginnend,  schritt  die 
Seuche  nach  den  arabischen  Häfen  fort,  wo  sie  namentlich  in  Aden 
und  Dschedda  rasch  sich  entfaltete  und  in  Mekka  und  Medina  aus- 
brach. Bald  darauf  erreichte  sie  Port  Said,  wurde  von  hier  aus  durch 
ein  Auswandererschiff  nach  Java  und  annähernd  zu  gleicher  Zeit 
durch  ein  von  Aden  auslaufendes  Fahrzeug  unmittelbar  nach  Bombay, 
Cannanoor  und  Calcutta  importiert.  Von  diesen  Plätzen  aus  nahm 
die  Epidemie  im  Laufe  des  Jahres  1872  den  Weg  nach  den  ver- 
schiedenen Provinzen  Hindostans,  vorwiegend  den  Eisenbahnen  und 
Dampfschiffrouten  folgend;  sie  fand  ihre  Fortsetzung  in  China,  auf 
den  Sundainseln,  späterhin  an  der  persischen  Küste,  auf  Mauritius 
und  Reunion  und  schloss  1873  mit  den  heftigen  Invasionen  in  Tripolis 
und  Senegambien  ab.  Ueberall  war  die  Morbidität  eine  enorme,  an 
zahlreichen  Orten  entging  fast  niemand  der  Erkrankung.    Mit  den 


Greschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  887 

Ausläufern  dieser  Pandemie  ^ngen  im  Jahre  1873  gleichzeitige  Aus- 
brüche des  Dengue  im  Süden  der  nordamerikanischen  Unionsstaaten 
einher. 

Innerhalb  der  letzten  Dezennien  war  vor  anderen  Ländern  das 
westliche  Asien  der  Hauptsitz  des  epidemischen  Denguefiebers,  das 
hier  in  den  achtziger  Jahren  in  den  Häfen  des  Roten  Meeres,  in 
Syrien.  Kleinasien  ausgebrochen  war,  einzelne  Inseln  des  Aegäischen 
Meeres  heimgesucht,  auf  Kairo  und  1888  selbst  nach  Gibraltar  über- 
gegiiffen  hatte.  Zu  einer  ausgedehnten  Epidemie  schwoll  die  Ej*ank- 
heit  auf  dem  vorerwähnten  Ländergebiete  im  Jahre  1889  an,  wo  sie 
der  unmittelbar  daraufgefolgten  Influenzaepidemie  voranschritt.  Das 
Denguefieber  fand  diesmal  Eingang  in  Palästina,  im  griechischen  Ar- 
chipel, Athen,  Konstantinopel,  Salonichi,  Trapezunt  und  Varna.  Die 
Massenerkrankungen,  welche  auf  diesem  Boden  vorerst  von  dem 
Dengue,  alsbald  darauf  von  der  Influenza  verursacht  worden  sind, 
sprechen,  wie  Leichtenstern  hervorhebt,  mit  Nachdruck  fiii-  die 
Verschiedenartio;keit  beider  Volkskrankheiten. 


XII,  Epidemische  Schweisskrankheiten. 
Litteratur. 

Schiller,  Comment.  de peste  Britanica,  1531.  —  Allioni^  Tractat.  de  mHianim 
origine.  1792.  —  Meydellet,  Art.  ^Suette-^  in  Dict.  d.  sc.  med.  Tom.  53,  1821.  — 
Knolz,  Oest.  med.  Jahrb.  29.  Bd.  1837.  —  Kellermann,  ibid.  30.  Bd.  1842.  — 
Seitz,  Der  Friesel,  1843.  —  Marwall,  Der  englische  Schiceiss,  1849.  —  Taussig, 
Wien.  med.  Wochsch.  Xo.  7  ff.  1855.  —  Foucfwt,  Ref.  in  Cayistatt.  Jahresb.  1856. 
—  Masarei,  Wien.  m^d.  Wochsch.  1860.  —  KeesbacJier,  Memorabilien,  1882.  — 
Zuelzer,  Ziemssen  Hdb.  d.  sp.  F.  u.  Th.  III.  Bd.  1886.  —  Brouardel,  L'epidemie 
de  suette  du  Poitou,  Ref.  in  Virchow-Hirsch  Jahresb.  1887.  —  JParmentier, 
Epidemie  de  suette  miliaire,  Ref.  in  Schmidfs  Jahrbb.  217.  Bd.  1888.  —  Dräsche 
UHfl  Weichselba  lim,  Ueber  Miliaria,  Wien.  med.  Bl.  1892.  —  Creighton,  l.  c. 
1894.  —  Immermann,  Der  Schtceissfriesel,  Nothnagel  Hdb.  d.  sp.  P.  u.  Tit. 
V.  Bd.  4.  Th.  3.  Abth.  1898. 

Die  historische  Pathologie  kennt  zwei  Yolkskrankheiten,  den 
Englischen  Schweiss  und  den  Seh  weiss  friesel.  Während 
der  englische  Schweiss,  der  innerhalb  eines  bestimmten  Zeitraumes 
wiederholt  zur  Erscheinung  gelangte,  von  Pathologen  "wie  von  His- 
torikera  als  eine  besondere  Seuche  aufgefasst  wird,  die  tür  mehr  als 
zwei  Jahrhunderte  aus  der  Geschichte  verschwindet,  um  dann  vor- 
übergehend .ein  einziges  Mal  auf  engbegrenztem  Boden  zum  Ausbruch 
zu  gelangen,  wird  bekanntlich  mit  dem  Namen  des  ,.Schweiss- 
f rieseis"  oder  der  ,,S nette  miliaire"  jene  epidemische  Schweiss- 
sucht  bezeichnet,  die  vom  Beginne  des  18.  Jahrhunderts  an  in  zahl- 
reichen Lokalepidemien  bis  in  die  allerjüngste  Zeit  beobachtet  worden 
ist.  Wiewohl  die  Versuchung  naheliegt,  den  „Sudor  anglicanus** 
und  den  ,,Schweissfriesel^  für  eine  und  dieselbe  Krankheit  zu 
halten,  haben  dennoch  nach  dem  Vorbilde  von  Heck  er  und  Hirsch 
die  Forscher  der  Gegenwart  Abstand  genommen,  den  genannten  Krank- 
heiten volle  Identität  zuzuerkennen  und  wollen  letztere  nur  mit  Vor- 
sicht ihnen  zugestanden  wissen.  Hingegen  ^^i^d  zwischen  beiden 
Affektionen  eine  nahe  Verwandtschaft  angenommen,  so  dass  nach 
heutiger  Lehre  unter  beiden  Formen  der  Schweisssucht  nur  ein  gra- 


Victor  Fossel. 

dueller  Unterschied  besteht  und  der  Englische  Schweiss  als  potenzierte 
Abart  des  Schweissfriesels  sich  darstellt.  In  diesem  Sinne  mögen  die- 
selben getrennt  voneinander  hier  Platz  finden. 

Die  als  Englischer  Schweiss,  „Pestis  britannica", 
„Ephemera  britannica"  bezeichnete  Schweissfieberseuche  war, 
wie  die  gründlichen  Untersuchungen  von  Hecker,  Häser  und 
Hirsch  ergeben,  bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters  eine  unbekannte 
Krankheit.  Vom  Jahre  1486  bis  1551  trat  sie  in  fünf  Epidemiezügen 
auf,  von  denen  vier  auf  dem  Boden  Englands  beschränkt  geblieben 
sind,  indes  nur  eine  Epidemie  auf  den  europäischen  Kontinent  über- 
gegriffen hat. 

Die  erste  Epidemie  brach  1486  im  Heere  Heinrichs  VII.  von 
England  aus,  kurz  bevor  er  sich  gerüstet  hatte,  seinen  Gegner 
Eichard  III.  die  Schlacht  bei  Bosworth  (22.  August)  zu  liefern.  Mit 
vehementer  Heftigkeit  verbreitete  sich  die  Krankheit  unter  Heinrichs 
Streitern,  folgte  dem  Zuge  derselben  von  Wales  nach  London,  um  hier 
vom  21.  September  an  mit  blitzartiger  Geschwindigkeit  um  sich  zu 
greifen  und  durch  ihre  Verheerungen  die  Bevölkerung  der  Hauptstadt 
in  panischen  Schrecken  zu  versetzen.  Die  „Schweisssucht" 
(sweating  sickness),  die  schon  kurz  vorher  in  anderen  Städten  und 
Gegenden  Englands  erschienen  war,  scheint  während  ihrer  fünf- 
wöchentlichen Dauer  in  London  den  Höhepunkt  ihrer  Herrschaft  er- 
reicht zu  haben.  Nicht  nur  die  ungezählte  Menge  von  Erkrankungen^ 
auch  die  erschreckende  Zahl  von  Todesfällen,  von  denen  sie  begleitet 
war,  verlieh  der  plötzlich  hereingebrochenen  Volkskrankheit  die  At- 
tribute einer  neuartigen  Pest.  Vor  den  Palästen  der  Grossen  des 
Reiches  hielt  sie  ebensowenig  stille,  wie  vor  der  Hütte  des  Bettlers^ 
sie  suchte  sich  mit  Vorliebe  ihre  Opfer  unter  den  kräftigsten  Männern, 
die  in  der  Blüte  ihrer  Jahre  standen,  und,  was  das  Entsetzen  auf  das 
Aeusserste  trieb,  wer  des  Abends  oft  noch  in  voller  Gesundheit  sich 
des  Lebens  erfreute,  war  am  folgenden  Morgen  von  dem  tückischen 
Uebel  dahingerafft.  Nicht  einmal  den  Trost,  der  bei  Pest  und  Blattern 
ein  einmaliges  Ueberstehen  der  Krankheit  für  die  Zukunft  gewährte, 
durften  die  von  der  Schweisssucht  Genesenden  für  sich  in  Anspruch 
nehmen.  Viele  Personen  erkrankten  drei-  bis  viermal  daran,  jedesmal 
mit  ungeschwächter  Heftigkeit  Erst  mit  Ende  des  Jahres  erreichte 
die  Seuche  ein  Ende,  die  im  ganzen  Lande  gewütet  und  enorme  Opfer 
gefordert  hatte. 

Ueber  die  Erscheinungen  und  den  Verlauf  dieser  ersten  Epidemie 
liegen  nur  spärliche  Berichte  vor.  Die  Krankheit  wird  als  ein  über- 
aus heftiges  Fieber  beschrieben,  das  ohne  alle  Vorboten  plötzlich,  meist 
zur  Nachtzeit  mit  kurzem  Schüttelfroste  und  darauffolgender,  bren- 
nender Hitze  einsetzte.  Unter  quälendem  Angstgefühl,  Herzklopfen, 
Atemnot,  unter  dem  Gefühle  von  zusammenschnürenden  Magendruck, 
Kopfschmerz  und  Uebelkeit  brach  alsbald  ein  strömender,  übelriechender 
Schweiss  über  die  ganze  Hautdecke  aus,  der  zuweilen  von  einem 
fleckigen  oder  bläschenartigen  Exanthem  begleitet  gewesen  war.  In 
gutartigen  Fällen  traten  die  genannten  Symptome  unter  Nachlass  der 
profusen  Schweisssekretion  innerhalb  1 — 2  Tagen  zurück  und  die  Ge- 
nesung erfolgte  nach  Verlauf  von  1—2  Wochen.  Wo  jedoch  das 
Leiden  gleich  vom  Beginne  an  sich  ernst  und  besorgniserregend  ge- 
staltete, waren  es  vor  allem  rapider  Kräfte  verfall,  heftige  Cerebral- 
erscheinungen.  Delirien  und  Sopor,   die  die  höchste  Lebensgefahr  an- 


Geschichte  der  epidemischen  Kraukheiten.  889 

kündeten,  die,  wie  berichtet  wird,  unfehlbar  zu  tödlichem  Ausgang" 
führte,  wenn  die  Kranken  nicht  aus  dieser  unüberwindlichen  Schlaf- 
sucht aufgerüttelt  wurden.  Der  Tod  trat  meist  innerhalb  der  ersten 
24  Stunden  (oder  noch  früher)  ein,  unter  dem  Bilde  allgemeiner  Er- 
schöpfung. Von  mehreren  Schriftstellern  wird  erwähnt,  dass  die  im 
Höhestadium  des  Krankheitsverlaufes  zur  Entwicklung  gelangten 
Bläscheneruptionen  mit  solcher  peinigender  Schmerzhaftigkeit  ver- 
bunden waren,  dass  selbst  der  Wechsel  der  Wäsche  zu  einem  qual- 
vollen Ereignis  wurde,  das  man  überdies  schon  darum  ängstlich  zu 
vermeiden  trachtete,  weil  jede  Art  von  Abkühlung  während  der 
Schweissperiode  nach  dem  Glauben  der  Zeitgenossen  zu  den  schlimmsten 
Komplikationen  führte  und  vielen  Kranken  unfehlbar  den  Tod  brachte. 
Angesichts  der  Hilflosigkeit  der  Aerzte  griif  das  Volk  zu  einem 
Regime,  das  unter  dem  Namen  des  „altenglischen  Heilverfahrens" 
einen  gewissen  Ruf  in  der  Geschichte  dieser  Krankheit  erhalten  hat : 
Vermeidung  heftig  wirkender  Arzneien,  massiges  Warmhalten,  Fasten 
und  ruhiges  Ausharren  binnen  24  Stunden,  bis  die  Entscheidung 
eintrat. 

Die  zweite  Epidemie,  gleich  der  ersten  in  einem  regenreichen 
Sommer  beginnend,  trat  im  Jahre  1507  in  England  auf,  blieb  auf 
dieses  Land  allein  beschränkt  und  nahm  schon  im  Herbste  ein  Ende. 
Dir  Verlauf  war  ein  auffallend  milder. 

Der  dritte  Ausbruch  erfolgte  nach  elljähriger  Pause  im  Juli 
1518,  diesmal  mit  einer  Heftigkeit,  die  selbst  die  Erinnerungen  an 
das  Jahr  1486  zu  überbieten  schien.  Ungezählte  Opfer  erlagen  dem 
Uebel  schon  binnen  2 — 3  Stunden,  so  dass  man  den  ersten  Schauer 
des  Fiebers  als  Zeichen  des  unvermeidlichen  Todes  ansah.  Alle  Volks- 
schichten hatten  unter  dem  Wüten  der  Seuche  zu  leiden,  die  nächste 
Umgebung  des  Königs  blieb  nicht  von  ihr  verschont,  massenhaft  starben 
diesmal  die  armen  Leute  dahin,  an  manchen  Orten  raffte  sie  ein  Dritteil, 
ja  selbst  die  Hälfte  der  Einwohnerschaft  dahin.  Die  Dauer  der 
Epidemie  betrug  sechs  Monate,  nur  England  allein  hat  ihren  Schau- 
platz gebildet,  von  Schottland  und  Mand  war  sie  gänzlich  fem  ge- 
blieben. 

Die  V  i  e  r  t  e  Epidemie  vom  Jahre  1529  hingegen  unterschied  sich 
von  den  früheren  Ausbrüchen  der  Schweisssucht  vor  allem  dadurch,  dass 
sie  nicht  auf  den  Boden  Englands  allein  sich  begrenzte,  sondern  als- 
bald über  einen  grossen  Teil  des  europäischen  Festlandes  dahin  eilte. 
Von  diesem  Jahre  an  belegte  man  die  Krankheit  ihrer  Heimat  wegen 
allenthalben  mit  dem  Namen  des  „Englischen  Schweisses". 
Wiederum  sollen  Regengüsse  und  dichte  Nebel  der  Seuche  voran- 
gegangen sein,  als  sie  Ende  Mai  plötzlich  in  London  einriss  und  mit 
Schnelligkeit  im  ganzen  Königreiche  um  sich  griff.  Wie  im  Jahre 
1518  fielen  ihr  die  Infizierten  oft  schon  nach  4  —  5  Stunden  zum  Opfer, 
die  Sterblichkeit  übertraf  noch  jene  vor  11  Jahren  und  lange  noch 
lebte  im  Gedächtnisse  des  englischen  Volkes  das  Bild  von  dem  „grossen 
Sterben",  dessen  Schrecknisse  eine  gleichzeitig  herrschende  Hungersnot 
auf  das  empfindlichste  verschärft  hatte. 

Während  die  Seuche  noch  in  England  wütete  und  bis  zur 
schottischen  Grenze,  ohne  sie  zu  überschreiten,  sich  ausdehnte,  er- 
schien sie  mit  einem  Male  Ende  Juli  in  Hamburg,  wohin  sie  durch 
ein  aus  England  am  25.  Juli  1529  angekommenes  Schiff  eingeschleppt 
worden  sein  soll.    Binnen  wenigen  Tagen  war  die  epidemische  Seh  weiss- 


890  Victor  Fossel. 

sucht  unter  der  Hamburger  Bevölkerung-  ausgebrochen,  innerhalb 
dreier  Wochen  tötete  sie  ungefähr  1100  Menschen.  Gleichzeitig  trat 
die  Krankheit  an  vielen  Orten  Norddeutschlands  auf,  unaufhaltsam 
schritt  sie  nach  allen  Richtungen  weiter,  setzte  oft  sprungweise  über 
weite  Landstrecken  hinweg,  um  plötzlich  entfernte  Städte  und  Gegen- 
den mit  Schrecken  zu  erfüllen.  Im  Laufe  der  Monate  August  und 
September  durchzog  sie  Deutschland,  sie  erschien  u.  a.  in  Wien 
während  der  ersten  Türkenbelagerung  und  lichtete  mit  gleicher  Ge- 
walt die  Reihen  der  Verteidiger  der  Stadt  wie  jene  von  Solimans 
Scharen.  Im  Norden  Deutschlands  immer  mehr  fortschreitend,  er- 
reichte sie  Ende  September  Dänemark,  die  skandinavische  Halbinsel, 
die  Ostseeprovinzen,  Polen  und  Russland,  während  sie  in  einzelnen 
mitteldeutschen  Reichsstädten,  in  Süd-  und  Westdeutschland  erst  in 
vorgerückter  Herbstzeit  ihren  Einzug  hielt.  Zu  gleicher  Frist  fand 
das  Schweissfieber  vom  Rhein  aus  seinen  Weg  nach  den  Niederlanden, 
am  spätesten  wurde  die  Schweiz  (erst  im  Monat  Dezember)  davon 
befallen. 

Es  war  sonach  ein  beträchtliches  Gebiet,  auf  dem  diesmal  die 
Schweisssucht  in  pandemischer  Gestalt  sich  entwickelt  hatte.  Auf- 
fallend erscheint  die  Thatsache,  dass  Schottland  und  Irland,  so  nahe 
der  Heimat  des  Uebels  gelegen,  und  auch  diesmal  wiederum  verschont 
geblieben  waren.  Ebensowenig  wurden  Frankreich  und  das  ganze 
südliche  Europa  hiervon  berührt. 

Wie  die  Nachrichten  aus  den  heimgesuchten  Ländern  gleich- 
lautend melden,  währte  der  Englische  Schweiss  an  allen  Orten  nur 
äusserst  kurze  Zeit.  So  betrug  seine  Dauer  in  Amsterdam,  Antwerpen 
und  in  vielen  deutschen  Städten  nur  5 — 7  Tage,  anderwärts  wenige 
Wochen,  nur  ausnahmsweise  hielt  seine  Herrschaft  länger  an.  Noch 
verschiedenartiger  gestalten  sich  die  einzelnen  Ortsepidemien  nach 
ihrer  Bösartigkeit.  So  soll  z.  B.  Livland  zwei  Drittel  seiner  Be- 
völkerung durch  das  Schweissfieber  verloren  haben;  in  Augsburg  er- 
krankten in  den  ersten  fünf  Tagen  15000  Personen,  wovon  800 
starben.  In  anderen  Städten  bewegte  sich  jedoch  die  Sterbeziffer  in 
massigen  Grenzen,  die  Zahl  der  von  der  Seuche  Dahingerafften 
reduzierte  sich  auf  verhältnismässig  wenige  Opfer. 

Die  fünfte  Epidemie  vom  Jahre  1551  verlief  abermals  nur 
innerhalb  des  englischen  Königreiches.  Sie  nahm  ihren  Ausgang  von 
Shrewsbury,  der  Hauptstadt  von  Shropshire,  wo  am  13.  April  plötz- 
lich ein  allgemeines  Erkranken  ausbrach,  so  heftig  und  bösartig,  dass 
viele  der  Seuche  in  wenigen  Stunden  erlagen  und  die  Bevölkerung, 
von  Entsetzen  getrieben,  in  eiligster  Flucht  ihre  Rettung  suchte.  In 
Shrewsbury  zählte  man  binnen  einiger  Tage  960  Opfer  der  Krank- 
heit, meist  kräftige,  junge  Männer.  Auffälligerweise  hatten  sich 
Kinder  und  Greise  einer  gewissen  Immunität  zu  erfreuen.  Weit  lang- 
samer, als  dies  in  früheren  Perioden  der  Fall  war,  verbreitete  sich 
die  Schweissucht  diesmal  von  ihrem  Ursprungsherde  nach  dem  übrigen 
England;  dafür  hielt  sie  beträchtlich  länger,  als  sonst,  im  Lande  an, 
und  entwickelte  überdies  an  vielen  Orten  eine  besondere  Lethalität. 
Die  Sterblichkeit  stieg  in  einzelnen  Städten  auf  eine  aussergewöhn- 
liche  Höhe,  in  anderen  Landschaften  blieb  sie  jedoch  gegen  die  Ver- 
luste früherer  Perioden  weit  zurück.  Die  Kunde,  es  seien  während 
dieser  Epidemie  die  in  den  Niederlanden,  in  Frankreich  und  Spanien 
lebenden   Engländer   inmitten  einer   völlig  intakt   gebliebenen   Um- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  891 

gebiing  vom  Schweissfieber  dahingerafft  worden,  hat  schon  längst 
allen  Anspruch  auf  Glaubwürdigkeit  eingebüsst.  —  So  bösartig  dieser 
ausgedehnte  Epideraiezug  auf  englischem  Boden  sich  auch  gezeigt 
hatte,  nahmen  doch  die  Aerzte  von  der  Seuche  keine  Notiz,  nur  die 
Schilderung,  welche  John  Kaye  von  der  Krankheit  entworfen,  bildet 
das  einzige  medizinische  Dokument  der  Zeit. 

Analog  den  vorangegangenen  Perioden  trat  auch  wähi*end  dieser 
letzten  Epidemie  das  Schweissfieber  in  unveränderter  Gestalt  auf. 
obschon  einzelne  Merkmale  der  Krankheit  bei  den  späteren  Bericht- 
erstattern verschiedene  Beurteilung  gefunden  haben.  Die  Therapie 
bestand,  wie  schon  angedeutet,  in  England  seit  dem  erstmaligen  Zuge 
der  Seuche  in  dem  volkstümlichen  Eegime  des  kühlen  Verhaltens  bei 
geringer  Nahrungsaufnahme  und  beschränktem  Getränke.  Auf  dem 
Festlande  jedoch  war  im  Jahre  1529  das  Gegenteil  in  üebung  ge- 
kommen, Aerzte  wie  Laien  wetteiferten  in  der  unsinnigsten  An- 
wendung künstlicher,  forcierter  Diaphorese,  in  der  verschwenderischen 
Verabreichung  ..herzstärkender"  Arzneien.  Man  suchte  die  Kranken 
um  jeden  Preis  in  Schweiss  zu  bringen,  deckte  sie  zu  diesem  Zwecke 
mit  Federbetten,  Pelzen  u.  dgl.  bis  zum  Ersticken  zu,  ja  man  nähte 
sie  selbst  in  Betten  ein  (..man  benähte  sie").  In  unzähligen  Flug- 
schriften wurde  diese  Heilprozedur  —  das  „niederländische  Regiment"  — 
gerühmt,  vom  Volke  gläubig  befolgt  und  erst  dann,  und  zwar  langsam 
und  widerwillig  verlassen,  als  die  Einsicht  der  Aerzte,  vor  allem  die 
tägliche  Erfahrung  be\^iesen  hatte,  um  wie  vieles  günstiger  das 
exspektative  Verfahren  der  Engländer  den  Verlauf  und  Ausgang  des 
Leidens  zu  beeinflussen  im  stände  war.  Die  Autoren  des  16.  Jahr- 
hunderts, überwältigt  von  der  Rapidität  des  Ausbruches  und  des  Ab- 
laufes dieser  neuartigen  ..Infektion",  suchten  deren  Ursache  zunächst 
in  siderischen  und  tellurischen  Influenzen.  Und  noch  bis  tief  in  das 
19.  Jahrhundert  hinein  wurde  von  Geschichtsschreibern  der  genetische 
Einfluss  von  ungünstiger  "Witterung,  dichter  Nebelbildung,  von  Regen- 
güssen und  Ueberschwemmuugen  auf  die  Entwicklung  der  Schweiss- 
fieberseuche  hervorgehoben.  Auffallenderweise  haben  die  Zeitgenossen 
die  Kontagiosität  der  Krankheit  geleugnet,  hingegen  einstimmig  be- 
richtet, sie  habe  ohne  Unterschied  des  Alters  und  der  Lebensstellung 
die  Menschen  erfasst.  dabei  gerade  Leute  im  kräftigsten  Mannes- 
alter am  meisten  ins  Verderben  gestürzt. 

In  der  Geschichte  der  Volkskrankheiten  gehört  der  Englische 
Schweiss  zu  den  denkwürdigsten  Erscheinungen.  Mit  einem  Male 
über  England  hereinbrechend,  überfällt  er  das  Land  in  -v^ieder- 
holten,  bösartigen  Wanderzügen,  lässt  das  unmittelbar  benachbarte 
Schottland  und  Irland  zu  jeder  Zeit  unberührt  und  nimmt  nur  ein 
einziges  Mal  den  Anlauf,  um  einen  grösseren  Teil  Europas  binnen 
weniger  als  Jahresfrist  zu  überziehen.  Mit  dem  Jahre  1551  ent- 
schwindet er  der  ärztlichen  Beobachtung  und  verliert  sich  aus  dem 
Gedächtnis  der  Völker.  Erst  nach  250  Jahren  gelangt  er  auf  isolierter 
Stelle  abermals  zu  flüchtigem  Ausbruch,  um  hier  völlig  die  gleichen 
Erscheinungen  zu  manifestieren. 

Es  war  im  Jahre  1802,  als  gegen  Ende  November  inRöttingen, 
einem  fränkischen  Städtchen,  nach  vorangegangenen  heftigen,  atmo- 
sphärischen Niederschlägen  urplötzlich  die  Einwohner,  darunter  meist 
die  jüngeren  Männer  vom  Schweissfieber  ergriffen  wurden.  Mit  der 
ganzen   Wucht   jener  charakteristischen  Symptome,    die   dem  Sudor 


892  Victor  Fossel. 

anglicus  eigen  waren,  brach  die  Krankheit  aus,  nicht  wenige  fielen 
ihr  schon  nach  eintägigem  Leiden  zum  Opfer,  andere,  die  den  ersten 
Anprall  glücklich  überstanden  hatten,  wurden  alsbald  zum  zweiten 
Male  von  dem  tückischen  Uebel  erfasst  und  nunmehr  rasch  dahinge- 
rafft. Das  Entsetzen  der  Bewohner  war  unbeschreiblich,  die  Sterb- 
lichkeit innerhalb  der  ersten  Tage  glich  jener  der  Pestzeit,  der 
Schrecken  gestaltete  sich  um  so  grösser,  als  weder  in  näherer  noch 
weiterer  Umgebung  des  Städtchens  ein  ähnlicher  Krankheitsfall  vor- 
her bekannt  geworden  war.  Als  der  Würzburgische  Landphysikus 
Sinn  er  endlich  erschienen  war,  erkannte  er,  dass  hier  unglaubliche 
Schwitzkuren  das  Unglück  nur  vermehrt  und  bei  den  meisten  Kranken 
den  üblen  Ausgang  herbeigeführt  oder  beschleunigt  hatten.  Das  nun- 
mehr eingeführte  milde,  kühlende  Heilverfahren  führte  in  der  That 
zu  einer  raschen  Aenderung  des  bisherigen  Krankheitsverlaufes.  Von 
den  bei  Ankunft  Sinn  er 's  (3.  Dezember)  vorhanden  gewesenen 
84  Kranken  starb  nur  noch  einer,  und  vom  5.  Dezember  an  trat  kein 
weiterer  Erkrankungsfall  auf.  Die  Kongruenz  des  Bildes  der  Röttinger- 
Epidemie  mit  jenem  des  Englischen  Schweisses  wurde  ausserdem 
durch  die  kurze,  10 — 12  Tage  umfassende  Dauer  der  Seuche  vervoll- 
ständigt. Sie  vermittelt  zugleich,  wie  Immermann  treffend  sagt, 
den  historischen  Uebergang  zwischen  dem  epidemischen  Schweissfieber 
des  Jahres  1551  und  den  epidemischen  Schweissfriesel  des  19.  Jahr- 
hunderts. Beide  Formen  sind,  wenn  auch  nicht  vollkommen  identisch, 
gleichwohl  durch  so  augenfällige  Familienzüge  gekennzeichnet,  dass 
ihre  nahe  Verwandtschaft  wohl  ausser  allem  Zweifel  steht. 

Wenden  wir  uns  der  Geschichte  des  Seh weissf rieseis  zu,  so 
stammen  die  ersten,  verlässlichen  Nachrichten  über  sein  epidemisches 
Vorkommen  erst  aus  dem  Beginne  des  18.  Jahrhunderts.  In  den 
ärztlichen  Berichten  des  16.  und  17.  Säkulums  fehlt  es  freilich  nicht 
an  Schilderungen  von  Hautaffektionen,  die  man  alsFebris  miliaris, 
Purpura  bezeichnet  oder  mit  dem  deutschen  Namen  Frie sei  belegt 
hat.  Insbesondere  wurde  dieses  Exanthem  an  Wöchnerinnen  vielfach 
beobachtet  und  beschrieben.  Nach  den  gründlichen  Untersuchungen, 
die  A.  Hirsch  dem  Gegenstand  gewidmet  hat,  bleibt  es  fraglich, 
welcher  Form  von  Hautausschlägen  im  heutigen  Sinne  diese  und 
ähnliche,  als  „Friesel"  angesprochene  Eruptionen  der  Hautdecke 
beizuzählen  sind.  Bei  der  damals  üblichen,  oberflächlichen  Unterschei- 
dung solcher  Prozesse  konnte  es  sich  ebenso  um  Scharlach  oder  Masern 
oder  um  die  bei  den  differentesten  Erkrankungen  auftretende  Miliaria 
(Sudamina)  gehandelt  haben.  Der  in  der  deutschen  Literatur  einge- 
rissene Missbrauch  mit  dem  Terminus  „Friesel"  führte  u.  a.  zur  schul- 
gemässen  Aufstellung  eines  puerperalen,  rheumatischen,  katarrhalischen 
Frieseis.  Damit  verschob  man  die  nosologische  Begriffsbestimmung 
immer  mehr  und  mehr  und  gelangte  schliesslich  dahin,  die  „spora- 
dische Frieselbildung  auf  der  Haut  nach  reichlichem  Schwitzen"  mit 
dem  epidemischen  Schweissfriesel  völlig  zu  konfundieren  und  letzteren 
als  eigenartige  Krankheitsform  in  Abrede  zu  stellen. 

Diese  Verwirrung  in  der  Auffassung  des  Frieseis  hielt  bis  zur 
Mitte  des  19.  Jahrhunderts  an,  bis  A.  Hirsch  an  der  Hand  histo- 
rischer und  geographischer  Daten  die  Lehre  von  der  Krankheit  klar- 
gestellt hat.  Zu  den  aus  früherer  Zeit  bekannt  gewordenen  Friesel- 
epidemien  in  Frankreich,  Deutschland  und  Italien,  die  Hirsch  ge- 
sammelt und  seiner  Arbeit  zu  Grunde  gelegt  hatte,  kamen   seither 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  893 

neue  Beobachtungen  über  das  epidemische  Schweissfieber .  worunter 
die  später  zu  erwähnenden  Studien  französischer  Aerzte  aus  dem 
Jahre  1887  besonderen  Wert  beanspruchen  dürfen. 

Wir  kennen  das  Auftreten  des  epidemischen  Frieseis  notorisch 
erst  seit  dem  2.  Dezennium  des  18.  Jahrhunderts,  wo  er  1718  in  ver- 
schiedenen Gegenden  der  Picardie  und  einigen  benachbarten  Provinzen 
Frankreichs  zum  ersten  Male  beobachtet  und  als  ..Suette  des 
Picards",  oder  „Suette  miliaire*'  bezeichnet  wurde.  A.Hirsch 
gab  dieser  Infektionskrankheit  zur  Unterscheidung  von  dem  grw^öhn- 
lichen  Friesel  den  Namen  Schweissfriesel,  welcher  Aus- 
druck nunmehr  unter  allen  deutschen  Autoren  das  Bürgerrecht  er- 
worben hat. 

Der  Schweissfriesel  charakterisiert  sich  als  eine  fieberhafte  Krank- 
heit, die  nach  einem  2 — 3  tägigen  Prodromalstadium  meist  in  der  Nacht 
mit  abundantem  Schweissausbruche ,  Präkordialangst ,  Druck  in  der 
Magengrube  und  Herzklopfen  auftritt.  Nach  Ablauf  von  3 — 4  Tagen 
verliert  sich  die  abnorme  Schweisssekretion  und  macht  einem  reich- 
lichen Frieselexantheme  (Miliaria  cristallina,  alba  und  rubra)  Platz, 
welches  nach  wenigen  Tagen  in  eine  lebhafte  Abschuppung  übergeht, 
mit  dessen  Ausgang  zugleich  im  günstigen  Falle  die  ganze  Erkrankung 
beendet  ist.  Als  schwere  Komplikationen  stellte  sich  nicht  selten 
schon  in  den  ersten  Tagen  hochgradige  nervöse  Aufregung,  rasche 
Prostration  der  Kräfte  ein,  der  Tod  erfolgt  unter  dem  Bilde  des 
Kollaps,  dem  nur  ausnahmsweise  tiefere  anatomische  Störungen  zu 
Grunde  liegen.  Während  einzelne  Epidemien  gutartig  verlaufen, 
weisen  andere  eine  hohe  Sterblichkeit  auf,  die  in  der  Eegel  10 — 20  Pro- 
zent der  Erkrankungsziifer  beträgt,  je  nach  Zeit  und  Verhältnissen 
aber  auf  30 — 50  Prozent  und  selbst  darüber  gestiegen  ist.  Schon 
durch  die  Gleichmässigkeit  des  sprungweisen  oder  von  einem  Mittel- 
punkt ausstrahlenden  Fortschreitens,  wie  durch  die  Morbidität  und 
Lethalität  wird  die  Aehnlichkeit  des  Leidens  mit  dem  Englischen 
Seh  weisse  nahe  gerückt;  noch  mehr  aber  springt  die  Affinität  beider 
Krankheitsformen  in  die  Augen,  wenn  man  die  Dauer  der  Epidemien, 
die  in  der  Mehrzahl  der  lokalen  Ausbrüche  in  1 — 2  Wochen,  selten 
über  3  Wochen  hinaus  ihren  Abschluss  gefunden  haben,  berücksichtigt. 

Seit  seinem  ersten  Auftreten  im  Jahre  1718  in  der  Picardie  hat 
der  Schweissfriesel  im  18.  Jahrhundert  in  einer  grossen  Zahl  von 
zeitlich  und  räumlich  getrennten  Lokalepidemien  Franki'eich  heimge- 
sucht, er  blieb  anfänglich  auf  den  Norden  und  Osten  des  Landes  be- 
schränkt, erschien  erst  1772 — 73  in  der  Provence  und  nahm  im  neun- 
zehnten Jahrhundert  immer  mehr  auf  französischem  Boden  an  ende- 
mischer und  epidemischer  Ausdehnung  zu.  A.  Hirsch  hat  die  über 
den  Gegenstand  verötfentlichte ,  reichhaltige  Literatur  gesichtet  und 
für  den  Zeitraum  1718 — 1874  nicht  weniger  als  194  Epidemien  des 
Schweissfriesels  in  Frankreich  verzeichnet.  Die  übergrosse  Mehrzahl 
derselben  entfiel  auf  den  Nordosten  des  Landes,  indes  die  mittleren 
und  südlichen  Departements  weit  seltener,  dafür  in  stärkerer  Inten- 
sität und  auf  mehr  begrenztem  Gebiete  befallen  wurden.  Seit  dem 
Jahre  1874  trat  die  ..Suette  miliaire"  ^^iede^holt  in  Frankreich  auf, 
so  1880  in  einigen  Dörfern  des  Departements  la  Somme,  Seine  et  Oise, 
1881  auf  der  zum  Departement  Niedercharente  gehörigen  Insel  Oleron, 
wo  ungefähr  1000  Bewohner  erkrankten  und  42  gestorben  sind.  — 
Ein  besonderes  Interesse  rief  die  Epidemie  des  Poitou  im  Jahre  1887 


894  Victor  Fossel. 

hervor,  die  von  einer  speziellen  Kommission,  unter  Führung-  Brou- 
ardel's  beobachtet  wurde.  Nach  dem  offiziellen  Berichte  brach  im 
Frühjahr  1887  das  epidemische  Schweissfieber  im  Departement  Vienne 
aus  und  verbreitete  sich  ungemein  rasch  über  die  angrenzenden  Be- 
zirke, die  das  ehemalige  Herzogtum  Poitou  gebildet  haben.  Es  er- 
krankten mehr  als  2600  Einwohner,  von  denen  206  mit  Tod  abgingen. 
Es  war  „wohlcharakterisiertes,  unzweifelhaftes  Schweissfieber",  dessen 
klinische  Bilder  mit  den  bekannten  Merkmalen  der  Krankheit  über- 
einstimmten. Neben  milde  verlaufenen  Erkrankungen  gab  es  foudro- 
yante  Fälle,  die  innerhalb  48  Stunden  lethal  endeten;  wenn  die  ersten 
4 — 5  Krankheitstage  überstanden  waren,  ereignete  sich  nur  ganz 
selten  ein  tödlicher  Ausgang,  hingegen  gelangten  Recidiven  öfter 
zur  Beobachtung. 

Nächst  Frankreich  ist  Italien  durch  das  Vorkommen  des  Schweiss- 
friesels  ausgezeichnet.  Auch  hier  wird  seines  epidemischen  Auftretens 
zum  ersten  Male  um  das  Jahr  1718  gedacht,  ohne  dass  die  ärztlichen 
Berichte  bis  zur  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  genauere  Angaben  über 
den  Charakter  der  Epidemien  gebracht  haben.  Von  da  an  gewinnen 
die  Nachrichten  mehr  an  Deutlichkeit,  namentlich  wird  die  „Febbre 
migliare",  die  in  den  Jahren  1755  und  1774  in  Piemont,  1775  im 
Modenesischen,  1790  in  Verona  aufgetreten  war,  von  ähnlichen  Volks- 
krankheiten schärfer  unterschieden.  Den  nächsten  Ausbrüchen  des 
Schweissfriesels  in  Italien  begegnen  wir  1817  in  Novara  und  Vicenza, 
1821 — 1823  in  der  Provinz  Alessandria.  Seither  ist  die  epidemische 
wiederholt  an  einzelnen  Städten  und  Landschaften  von  Venetien  und 
der  Lombardei,  in  räumlich  und  zeitlich  kürzeren  Abständen  auch  in 
Toskana  beobachtet  worden,  üeber  Mittel-  und  Süditalien  liegen 
hinsichtlich  der  Herrschaft  des  Schweissfiebers  nur  spärliche  No- 
tizen vor. 

Deutschland  und  Oesterreich  war  seit  dem  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts des  öfteren  der  Schauplatz  der  Krankheit.  Die  aus  früherer 
Zeit  stammenden  Berichte  über  Frieselepidemien  in  Deutschland 
besitzen  nur  geringe  Verlässlichkeit.  Meist  wird  darin  der  Friesel 
lediglich  als  Begleiterscheinung  anderer  Krankheiten  hingestellt,  zu- 
dem fast  nur  von  dem  Ausschlage  (Purpura  maligna,  P.  benigna)^ 
nicht  aber  von  anderen  pathognomonischen  Symptomen  gesprochen. 
Noch  in  den  ersten  Dezennien  des  19.  Jahrhunderts  schildern  deutsche 
Autoren  die  Verbindung  des  weissen  oder  roten  Frieseis  mit  Blattern^ 
Scharlach,  Faulfiebern;  viele  von  ihnen  leiten  den  wirklichen  oder 
vermeintlichen  Friesel  von  einer  bestimmten  Krankheitskonstitution 
ab,  wonach  der  Friesel  beispielsweise  aus  Schleimfiebern,  Tertian-  oder 
Quartanfiebern  unter  dem  Einflüsse  einer  „geänderten  Lebensstimmung" 
sich  entwickelt  habe,  ilndere  Autoren,  die  in  den  subtilen  ätio- 
logischen Lehrmeinungen  der  naturphilosophischen  Schule  nicht  ihr 
Genügen  fanden,  griffen  nach  älteren  Doktrinen,  führten  die  Genese 
des  Frieseis  auf  die  Alkalescenz  oder  saure  Beschaffenheit  der  Säfte 
zurück,  oder  hielten  den  Prozess  nach  dem  Vorgange  de  H a e n's  für 
ein  durch  Diaphorese  hervorgerufenes  Kunstprodukt,  das  durch  ent- 
sprechendes Eegime  unschwer  zu  beseitigen  sei. 

Zunächst  ist  es  Süddeutschland,  wo  in  den  ersten  Dezennien  des 
19.  Jahrhunderts  an  verschiedenen  Orten  kleinere  Frieselepidemien 
beobachtet  wurden,  Eine  grössere  Ausdehnung  zeigte  die  Krankheit 
während  der  Jahre  1828—1836  in  Baden,  Württemberg  und  Bayern^ 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  895 

zn  welcher  Zeit  auch  in  Frankreich  eine  stärkere  Intensität  der 
^S nette  miliaire**  zn  erkennen  war.  Von  mehr  epidemiologischen, 
al^  historischen  Interesse  ist  das  Bestreben  einiger  Schriftsteller,  in 
in  der  zeitlichen  und  teils  örtlichen  Koinzidenz  des  epidemischen 
Schweissfriesels  dieser  Periode  mit  dem  ersten  Seuchenzuge  der 
Cholera  gewisse  causale  Beziehungen  unter  beiden  Volkskrankheiten 
aufzustellen,  ein  Versuch,  dem  bisher  jede  sichere  Grundlage  gemangelt 
hat.  —  Vom  4.  Jahrzehnte  an  nahm  das  Schweissfieber  in  den  ge- 
nannten süddeutschen  Staaten  mehi-  lokalen  Charakter  an  und  erhob 
sich  nur  im  Sommer  und  Herbst  1844  über  einen  beträchtlichen  Land- 
strich von  Ober-  und  Niederbayern  in  grösserer  Verbreitung.  Im 
mittleren  und  nördlichen  Deutschland  blieb  die  Krankheit  auf  einige 
engbegrenzte  Ausbrüche  beschränkt. 

Auf  österreichischem  Boden  sind  Frieselepidemien  bekannt  ge- 
worden: Im  Jahre  1835  und  Mitte  der  fünfziger  Jahre  an  mehreren 
Orten  der  Steiermark,  1836  in  Oberösterreich,  1839  in  Tarnow  in 
Galizien  und  im  Saazer  Kreise  in  Böhmen,  1859  in  Ybbs  und  1860 
in  St.  Polten  in  Niederösterreich.  Ein  verhältnismässig  gehäufteres 
Vorkommen  zeigte  die  Schweisssucht  in  Krain,  wo  sie  im  Jahre  1873 
in  45  Ortschaften  mit  672  Erkrankungen  und  36  Todesfällen  auf- 
getreten ist.  sowie  zweimal  in  den  achtziger  Jahren  und  zuletzt  im 
Jahre  1892  im  Gui^elder  Bezirke  (57  Kranke,  11  Verstorbene)  ge- 
herrscht hat.  Die  im  Frühjahre  1893  im  steirischen  Kurorte  Aussee 
beobachtete  Epidemie  erstreckte  sich  auf  159  Erkrankungen,  wovon 
sämtUche  Fälle  mit  Genesung  endeten. 

Endlich  datieren  aus  Belgien  beglaubigte  Nachrichten  über  den 
epidemischen  Schweissfriesel,  der  sich  1838  im  Henegau,  1849  in  Namur 
und  Lüttich,  1850  und  1866  in  mehreren  Bezirken  von  Luxemburg 
entwickelt  hatte. 


Xm.  Epidemische  Meningitis. 
Litteratur. 

BroMSsais,  Bef.  in  Schmidt's  Jbb.  44.  Bd.  1844.  —  Boiidin,  Histoire  du 
tuphtis  cerehro-spinal.  1854.  —  Draper,  Schmidt's  Jbb.  125.  Bd.  1865.  —  Meissner^ 
ibid.  129.  Bd.  1866,  und  136.  Bd.  1867.  —  Pimser,  Wien.  med.  Wochsch.  Xo.  mff. 
1868.  —  Schuchardt,  Zeifsch.  f.  Epidemiologie  Xo.  1  u.  2  1870.  —  DiamatU- 
opidos,  Wien.  m.  Pr.  Xo.  34  ff.  1870.  —  Kotsonopulos,  Yirchow  Arch.  52.  u. 
57.  m.  1871173.  —  Kratschmer,  W.  m.  W.  Xo.  26  f.  1872.  —  Letjden,  Klinik 
d.  Bückenmarkskh.  I  1874.  —  Eittininghaus,  GerJiard's  Hdb.  d.  KinderkJi.  IL  Bd. 
1877.  —  Media,  Ref.  im  Jahresb.  v.  Y.  u.  H.  1880181.  —  'Taffe,  Arch.  f  kl.  M. 
30.  Bd.  1882.  —  Zieinssen,  Hdb.  d.  sp.  F.  u.  Th.  1886.  —  Jäger,  Die  Cerebrosp.- 
Meningitis  als  Heeresseuche,  1901. 

Unter  den  Krankheiten,  die  den  Gegenstand  unserer  geschicht- 
lichen Betrachtung  bilden,  kommt  der  epidemischen  Meningitis  ein 
jugendliches  Alter  zu,  nachdem  sie  erst  im  4.  Dezennium  des  19.  Jahr- 
hunderts ihrem  Wesen  nach  erkannt  und  in  ihrer  epidemischen  Aus- 
breitung richtig  gedeutet  worden  ist.  Wenn  die  Krankheit,  wie  kaum 
daran  gezweifelt  werden  kann,  schon  vor  dem  Beginn  des  19.  Säkulums 
vorgekommen  war,  so  hat  sie  sich  der  schärferen  äi-ztlichen  Beobach- 
tung entzogen  und  wurde  unter  anderen  Prozessen,  unter  denen 
namentlich   der   exanthematische  Typhus   häufig  zu  Verwechslungen 


g96  Victor  Fossel. 

Anlass  geboten  hatte,  verstanden  und  beschrieben.  Die  Versuche 
französischer  und  amerikanischer  Aerzte,  der  Cerebrospinalmeningitis 
epidemica  zu  einem  höheren  Alter  zu  verhelfen  und  ihr  Vorkommen 
an  Stelle  ausgesprochener  Fleckfieberepidemien  des  16.  und  17.  Jahr- 
hunderts nachträglich  feststellen  zu  wollen,  sind  seit  dem  Bekannt- 
werden der  der  Krankheit  eigentümlichen  anatomischen  wie  klinischen 
Befunde,  als  haltlos  und  verfehlt  zurückgewiesen  worden. 

Die  ersten  verlässlichen  Kenntnisse  über  die  Meningitis  epidemica 
stammen  aus  dem  Jahre  1805,  als  sie  epidemisch  in  Genf  und  der 
nächsten  Umgebung  der  Stadt  aufgetreten  war.  Sodann  wurde  die 
Krankheit  im  Jahre  1814  unter  den  Garnisonen  von  Grenoble  und 
Paris,  im  darauffolgenden  Jahre  unter  den  Truppen  der  Festung  Metz 
und  gleichzeitig  unter  der  Civilbevölkerung  einiger  Ortschaften  der 
Provinz  Genua  beobachtet.  Die  nächsten  Epidemien  ereigneten  sich 
im  Jahre  1822  in  V^esoul  im  französischen  Departement  Obersaöne,  im 
Winter  1822/23  in  Dorst  in  Westfalen,  und  im  Winter  1830  auf  1831 
in  Sunderland.  —  Weit  zahlreichere  Nachrichten  bezeugen  die  Herr- 
schaft der  Krankheit  innerhalb  der  ersten  Dezennien  in  den  Unions- 
staaten Nordamerikas,  wo  sie  1806 — 1816  in  verschiedenen  Gebiets- 
teilen in  heftigen  Epidemien  eine  weite  Verbreitung  gefunden  hat. 
Allgemein  wurde  die  Seuche  von  den  dortigen  Aerzten  als  „sinking 
typhus"  oder  wegen  der  an  den  Kranken  wahrgenommenen 
petechialen  Hauteruptionen  als  „spotted  fever"  beschrieben,  eine 
Bezeichnung,  die  an  sich  vielfache  Irrtümer  in  sich  barg  und  mit  dem 
Anklang  an  die  alte  Verwechslung  der  epidemischen  Meningitis  mit 
dem  „Fieckfieber"  zu  heillosen  Konfundierungen  Anlass  bot. 

Ein  neuer  Zug  der  Krankheit  nahm  mit  dem  Jahre  1837  seinen 
Anfang;  zunächst  war  es  Frankreich,  wo  sie  sich  in  grossem  Um- 
fange verbreitete  und  bis  zum  Jahre  1851  in  zahlreichen  Ausbrüchen 
nahezu  über  alle  Teile  des  Landes  erstreckte.  Im  erstgenannten 
Jahre  erschien  die  Seuche  fast  gleichzeitig  im  Süden  Frankreichs,  in 
den  Städten  Bayonne,  Joix,  Narbonne  und  in  deren  Umgebung 
(Departement  Landes).  Während  in  Bayonne  sowie  bald  darauf  in 
Bordeaux  und  La  Rochelle  nur  die  garnisonierenden  Truppen  befallen 
worden  waren,  ergriif  hinwider  in  Joix  und  Narbonne  die  Krankheit 
nur  die  Civilbevölkerung.  Im  Jahre  1838  war  sie  mit  einem  aus  dem 
verseuchten  Departement  Landes  nach  Rochefort  verlegten  Regimente 
dahin  gekommen,  gegen  Ende  des  Jahres  im  Bagno  unter  den  Sträf- 
lingen und  den  daselbst  bediensteten  Militär-  und  Civilpersonen  mit 
ziemlicher  Heftigkeit  aufgetreten.  Gleichzeitig  entwickelte  sich,  eben- 
falls von  dem  Departement  Landes  ausgehend,  im  Süden  Frankreichs 
ein  neuer  Infektionsherd  in  der  Umgebung  von  Toulouse,  unter  den 
Garnisonen  von  Nismes,  Toulon,  im  nächsten  Winter  unter  den  Truppen 
in  Avignon.  In  diesem  Jahre  (1839)  hielt  die  Meningitis  mit  dem 
vorerwähnten  Regimente,  das  nach  kurzer  Frist  Rochefort  verlassen 
hatte,  ihren  Einzug  in  Versailles,  blieb  hier  jedoch,  obgleich  in  epi- 
demischer Form,  während  der  nächsten  zwei  Jahre  andauernd  auf  die 
Mannschaften  dieses  und  anderer  Truppenkörper  beschränkt. 

Vom  Jahre  1840  an  hat  sich  die  Krankheit  neue  Bezirke  im 
Nordwesten  und  Nordosten  von  Frankreich  erkoren ;  sie  war  zunächst 
im  Stromgebiete  der  Loire  in  Laval,  Le  Maus,  in  der  folgenden  Zeit 
in  Poitiers,  Tours,  Blois,  Nantes  und  anderen  Orten  zu  epidemischen 
Ausbrüchen  gekommen,   an  denen  sowohl  die  Militär-  wie  die  Civil- 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  897 

bevölkerung"  beteiligt  war.  Im  Nordwesten  sprang  die  Meningitis  im 
Winter  1840/41  nach  Brest,  Caen  und  im  Frühling  1841  nach  Cher- 
bourg  über,  wo  sie  ausschliesslich  die  Land-  und  Seetruppen  heim- 
gesucht hat.  —  Im  Nordosten  des  Landes  war  es  Metz,  unter  dessen 
Besatzung  die  epidemische  Meningitis  während  des  Winters  1839/40 
sich  zuerst  zeigte;  im  Herbst  1840  trat  sie  in  Strassburg  auf,  anfäng- 
lich nur  auf  das  Militär  beschränkt,  verbreitete  sich  aber  im  Sommer 
1841  auch  unter  der  übrigen  Einwohnerschaft;  fast  zu  gleicher  Zeit 
nistete  sie  sich  an  mehreren  Orten  des  Elsass  unter  den  Truppen 
ein  und  wurde  auch  1841  in  Nancj'  1842  in  Kolmar  lediglich  unter 
den  Angehörigen  der  Armee  beobachtet.  Die  gleiche  Einschränkung 
der  Epidemien  auf  die  Kasernen  zeigte  sich  in  den  Jahren  1841 — 1842 
in  Perpignan,  Montbrison,  Marseille,  Lyon;  nur  in  Aigues-Mortes  hatte 
vorwiegend  die  Civilbevölkerung  unter  der  in  bösartiger  Weise  um 
sich  greifenden  Seuche  zu  leiden. 

Nach  einer  mehrjährigen  Pause,  innerhalb  welcher  die  epidemische 
Meningitis  nur  in  sporadischen  Fällen  aufflackerte,  erhob  sie  sich  in 
mehi^eren  französischen  Städten  von  neuem  in  den  Jahren  1846 — 1848, 
wiederum  zum  grössten  Teil  unter  den  Truppen  grassierend. 

Der  allgemeinen  Ausdehnung  auf  französischem  Boden  im  Jahre 
1840  war  gleichzeitig  die  Invasion  der  Seuche  in  Algier  auf  dem  Fusse 
gefolgt,  wo  mehrere  Garnisonen  in  der  Provinz  Constantine,  1841  die 
Stadt  Algier  und  im  Winter  184142  an  vielen  Orten  der  Provinzen 
Algier  und  Constantine  das  Militär  und  die  sesshafte  Bevölkerung  er- 
griffen wurde.  In  den  darauf  folgenden  Jahren  kehrte  die  Meningitis 
in  verschiedenen  algerischen  Garnisonen  ein  und  schwoll  im  Jahre 
1846  47  zu  einer  heftigen  Epidemie  an,  die,  über  das  ganze  Land 
sich  ausdehnend,  auch  unter  den  Einheimischen  zahlreiche  Opfer  ge- 
fordert hat. 

Um  weniges  später,  als  die  Krankheit  in  Frankreich  ihre  Wan- 
derung begonnen  hatte,  trat  sie  im  südlichen  Italien  epidemisch  auf. 
Der  erste  Ausbruch  fiel  im  Winter  1839  40  auf  die  nördlichen  Distrikte 
des  Königreichs  Neapel,  sodann  rückte  die  Seuche  nach  Neapel  und 
nach  Procida  vor,  hauste  in  schwerem  Masse  unter  den  hier  unter- 
gebrachten Galeerensklaven  und  verbreitete  sich  in  der  Provinz 
Calabria  ulteriore  seconda,  wo  sie  im  Winter  1843/44  rekrudeszierte 
und  im  Frühjahr  1844  in  Sicilien  eine  epidemische  Herrschaft  erlangte. 
Endlich  erschien  sie  1845  wieder  in  den  zuerst  ergriffenen  Nord- 
distrikten des  neapolitanischen  Eeiches  und  gewann  in  der  Terra  di 
lavoro  unter  der  einheimischen  Bevölkerung,  in  den  Jahren  1846  bis 
1849  in  der  Eomagna  unter  den  französischen  Truppen  eine  weite 
Ausbreitung.  Im  übrigen  Italien  kam  die  epidemische  Meningitis  nur 
im  Jahre  1842  in  Piemont  und  zwar  vorwiegend  in  Turin  zur  Beob- 
achtung. 

Auch  in  den  übrigen  europäischen  Staaten  zeigte  sich  vom  5.  De- 
zennium des  laufenden  Jahrhunderts  an  die  epidemische  Genickstarre. 
So  wurde  Dänemark  in  den  Jahren  1845 — 1848  von  einer  Reihe  be- 
trächtlicher Epidemien  derselben  durchzogen,  dabei  zuerst  und  am 
schwersten  Jütland,  dann  Fünen,  Laaland  und  Seeland  betroffen; 
Kopenhagen  selbst  hatte  eine  grössere  Epidemie  zu  überstehen.  Auch 
in  Stockholm  herrschte  sie  in  den  Jahren  1848 — 1851  unter  den  In- 
sassen des  grossen  Waisenhauses.  —  In  Spanien  entwickelte  sich  1843 
die  Krankheit  in  Gibraltar  zu  einiger  Höhe.  —  In  Corfu  erschien  sie 

Handbuch  der  Oeschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  &7 


898  Victor  Fossel. 

zum  ersten  Male  1840  in  massiger  Ausbreitung,  griff  in  den  nächsten 
Jahren  mehr  um  sich  und  erhob  sich  zu  epidemischer  Höhe  im  Jahre 
1843.  —  In  Irland  hielt  sie  im  Jahre  1846  ihren  Einzug  und  rief  in 
mehreren  Arbeitshäusern  in  Dublin,  Bray  und  Belfast  lokale  Ausbrüche 
hervor ;  von  den  späteren  Epidemien  dieser  Periode  ist  nur  die  neuer- 
liche Invasion  des  Jahres  1850  in  Dublin  bemerkenswert.  —  In 
Deutschland  ereigneten  sich  im  damaligen  Zeiträume  an  einzelnen 
Orten  zahlreiche  Erkrankungen  an  „Encephalitis"  und  „Hydrocephalus 
acutus",  die  Hirsch  auf  epidemische  Meningitis  beziehen  will,  so 
u.  a.  1834  in  Meiningen,  1835  in  der  Rheinprovinz,  1843  in  West- 
falen, 1851  in  Würzburg. 

Einen  weit  grösseren  Umfang  als  in  Europa  (mit  Ausnahme  von 
Frankreich)  nahm  die  epidemische  Meningitis  in  den  Unionsstaaten 
von  Nordamerika  an,  w^o  sie  vom  Jahre  1843 — 1850  in  verderblichen 
Zügen  verschiedene  Landschaften  durchwanderte.  Im  Staate  Tenesee 
und  Alabama,  demnach  an  zwei  beträchtlich  voneinander  entfernten 
Gebieten  im  Jahre  1842  beginnend,  rief  sie  1845  im  mehreren  Orten 
des  Staates  Illinois  schwere  Epidemien  hervor,  grassierte  in  den  Jahren 
1846  und  1847  in  Arkansas,  Mississippi,  Missouri  und  1848  unter 
einem  in  der  Nähe  von  New-Orleans  bequartierten  Regimente  von 
Rekruten.  Im  nächsten  Jahre  kehrte  sie  nach  dem  Staate  Alamba 
zurück,  tauchte  im  westlichen  Pennsylvanien  in  schweren  Formen 
auf,  ebenso  in  Massachusetts  und  1850  unter  der  Negerbevölkerung 
in  New-Orleans. 

Nur  kurze  Zeit  verstrich,  bis  die  Krankheit  von  neuem  auftrat 
und  diesmal,  in  der  Periode  1854 — 1875  nicht  nur  durch  die  unge- 
wöhnlich lange  Dauer  der  einzelnen  Epidemien,  durch  ihre  öftere 
Wiederkehr  nach  bereits  verseuchten  Plätzen  bemerkbar  geworden, 
sondern  auch  durch  die  weite  Verbreitung  in  Europa,  Nord-  und  Süd- 
amerika und  einzelnen  Gegenden  von  Vorderasien  und  Afrika  von 
ihren  früheren  Ausbrüchen  wesentlich  verschieden  war.  Schon  1854 
machte  die  epidemische  Meningitis  einzelne  Verstösse  auf  der  skandi- 
navischen Halbinsel,  indem  sie  in  Göthaborg  beginnend,  nach  Blekinge 
und  Kalmar  fortschritt  und  hier  während  des  Winters  1854 — 1855  zu 
einer  bösartigen  Epidemie  anwuchs,  die  im  Sommer  anscheinend  er- 
losch, im  nächsten  Winter  jedoch  in  den  schon  vordem  infizierten  Be- 
zirken neuerlich  einsetzte,  zugleich  nach  Norden  vordrang  und  hier 
neue  Kreise  um  sich  zog.  Im  Jahre  1857  wiederholte  die  Seuche  den 
gleichen  Gang  ihres  Fortschreitens  und  dehnte  sich  über  einen  grossen 
Teil  der  östlich  und  nördlich  vom  Wernernsee  gelegenen  Landschaften 
aus.  Noch  extensiver  herrschte  in  diesem  Lande  die  epidemische 
Meningitis  im  Jahre  1858,  nachdem  sie  von  den  zuletzt  ergriffenen 
Distrikten  neuerlich  ihren  Ausgang  nahm,  nahezu  den  ganzen  mittleren 
Teil  Schwedens  durchzog,  nordwärts  bis  zum  63"  n.  Br.  sich  erstreckte 
und  selbst  in  dem  bisher  verschont  gebliebenen,  südlich  gelegenen 
Kronoborgs-Län  in  heftigster  Weise  die  weiteste  Verbreitung  fand. 
Damit  hatte  der  Seuchenzug  sein  Höhestadium  erreicht.  Im 
nächsten  Jahre  trat  die  Krankheit  nur  in  einzelnen  der  schon  vordem 
heimgesuchten  Gegenden  des  mittleren  und  südlichen  Schwedens  auf, 
noch  mehr  machte  sich  im  Jahre  1860  ihr  Rückgang  im  Lande 
bemerkbar,  wenngleich  sie  an  wenigen,  einzelnen  und  isolierten 
Herden  von  neuem  ausgebrochen,  auch  in  den  Jahren  1861 — 1864  in 
kleineren  Nachschüben  und  1865 — 1867  in  lokalen  Epidemien  wiederum 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  899 

vorgekommen  war.  Nur  wenige  Gebiete  des  schwedischen  Eeiches 
blieben  während  dieser  Periode  von  der  Krankheit  verschont,  es  waren 
dies  die  nördlichen  Bezirke  und  die  südlichen  Provinzen  Gottland  und 
Halland.  —  In  Norwegen  beschränkte  sich  die  Seuche  auf  zwei  Lokal- 
ausbrüche in  den  Jahren  1859  und  1860,  ebenso  trat  sie  in  Dänemark 
nur  einmal,  im  Winter  1873  74  im  nördlichen  Jütland  epidemisch  auf. 

Nächst  der  Epidemienreihe,  die  die  Meningitis  auf  schwedischen 
Boden  innerhalb  der  Periode  1854 — 1875  gezeitigt  hat.  war  unter  den 
europäischen  Staaten  vornehmlich  Deutschland  zum  Schauplatz  der 
Krankheit  geworden,  die  mit  dem  Jahre  1863  ihre  Herrschaft  ange- 
treten und  in  den  darauffolgenden  drei  Jahren  ein  grosses  Gebiet  er- 
obert hat.  Schon  1863  wurde  sie  in  Liegnitz  und  im  Neissethale  in 
Schlesien  beobachtet.  1864  erschien  sie  in  epidemischer  Form  an  fielen 
Orten  von  Ost-  und  Westpreussen,  Posen,  Pommern,  der  Mark  Branden- 
burg, Hannover  und  der  fränkischen  Kreise  Bayerns.  Mit  erneuerter 
Macht  erhob  sich  die  Seuche  im  Winter  1864  —  65;  sie  kehrte  nicht 
bloss  nach  vielen  der  bereits  heimgesuchten  Gegenden  zurück,  sondern 
nahm  sowohl  in  Nord-  wie  in  Süddeutschland  in  erschreckendem  Masse 
überhand,  befiel  im  Frühling  1865  neuerlich  zahlreiche  Städte  und 
Landschaften,  so  dass  neben  dem  schon  erwähnten  Gebiete  die  epi- 
demische Ausbreitung  der  Meningitis  sich  ausserdem  über  Braun- 
schweig, Thüringen,  Oberpfalz,  Schwaben.  Kurhessen  und  Baden  er- 
streckte, ungerechnet  die  grosse  Zahl  von  Plätzen,  an  welchen  die 
Krankheit  mehr  oder  weniger  gehäuft  in  Einzelfällen  erschienen  war. 
Während  des  Jahres  1866  sank  jedoch  ihre  Frequenz  stetig  und 
überall,  epidemische  Ausbrüche  ereigneten  sich  ausnahmsweise,  nur  im 
Winter  1869 — 70  hatte  man  solche  in  Danzig,  Königsberg  und  Berlin 
in  massigen  Dimensionen  beobachtet. 

Oesterreich-Ungarn  litt  in  diesem  Zeitraum  weit  weniger  unter 
der  Seuche,  die  1863  im  Wiener  Waisenhause,  1865 — 66  in  Gömörer 
Komitate,  im  Winter  1866-67  und  1887—68  in  Pola,  Triest  und 
Umgebung  und  ein  Jahr  darauf  an  einigen  Stellen  in  Galizien  auf- 
getreten war.  — 

In  Russland  erhob  sich  die  epidemische  Meningitis  nur  während 
des  Winters  1867—1868  in  der  Krim  zu  einer  bemerkenswerten  Höhe, 
auch  in  Rumänien  und  der  Türkei  gewann  sie  1869  einige  Verbreitung; 
hingegen  wurde  Griechenland  zu  gleicher  Zeit  von  ausgedehnten  Epi- 
demien heimgesucht,  die  in  den  beiden  nächstfolgenden  Wintern  sich 
wiederholt  haben.  Im  übrigen  Europa  hatten  innerhalb  der  sechziger 
Jahre  Irland,  die  Niederlande,  Frankreich  und  Portugal  beschränkte 
Ausbrüche  der  Krankheit  zu  verzeichnen.  In  Italien  durchzog  sie 
1874 — 1876  ein  weiteres  Gebiet  im  Süden  des  Landes  und  erreichte 
hier  an  \ielen  Orten  während  der  Wintermonate  eine  beträchtliche 
epidemische  Verbreitung. 

"Wenden  wir  uns  nun  nach  der  westlichen  Hemisphäre,  so  zeigt 
die  epidemische  Meningitis  auch  in  dieser  Periode  eine  ungewöhn- 
lich weite  Verbreitung  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika, 
in  denen  sie  nahezu  alljährlich  über  grössere  oder  kleinere  Land- 
strecken ihre  Ausdehnung  manifestiert  hatte.  Nachdem  sie  schon 
vom  Jahre  1856  an  in  verschiedenen  Staaten  aufgetreten  war,  ge- 
wann sie  1861 — 1863  während  des  Secessionskrieges  sowohl  unter 
der  Civilbevölkerung  wie  unter  den  Truppen  bedeutenden  Umfang. 
Auch   in   den    folgenden   Jahren    entwickelten   sich    an    zahlreichen 

57* 


900  Victor  Fossel. 

Punkten  des  Landes  schwere  Epidemien  und  bis  zum  Jahre  1874  be- 
hauptete die  Krankheit  an  vielen  Herden  ihre  volle  Hartnäckigkeit; 
Ohne  in  die  territoriale  Ausbreitung,  welche  die  epidemische  Menin- 
gitis durch  fast  zwei  Dezennien  in  Nordamerika  gefunden  hat,  näher 
einzugehen,  muss  gesagt  werden,  dass  hier  die  Seuche  die  grösste  In- 
und  Extensität  erlangt  und  selbst  die  französischen,  schwedischen 
und  andere  Epidemien  an  Wucht  der  Propagation  und  Bösartigkeit 
ihrer  Erscheinung  weit  übertroffen  hat.  Soweit  die  von  A.  Hirsch 
gesammelten  Nachrichten  reichen,  hat  die  Pandemie  der  Krankheit 
während  der  Jahre  1856 — 1874  in  den  Unionsstaaten  den  Höhepunkt 
ihrer  Herrschaft  überhaupt  gebildet. 

Vom  Jahre  1876  an  lässt  sich  ein  konstantes  Zurückweichen  der 
epidemischen  Genickstarre  erkennen.  Nur  in  begrenzten  Bezirken,  in 
einzelnen  Städten  und  während  der  Winter-  und  Frühjahrszeit  hat 
sie  sich  in  mehreren  Ländern  Europas  in  milder  verlaufenden  Epi- 
demien gezeigt  und  an  den  vielen  sporadischen  Erkrankungsfällen,  die 
jahraus,  jahrein  sich  ereignen,  die  Aufmerksamkeit  der  Aerzte  und 
der  Bevölkerung  überall  wach  erhalten.  Hierbei  ist  es  von  besonderem 
Interesse,  den  sorgfältigen  Studien  H.  Jaeger's  zu  folgen,  der  die 
Cerebrospinalmeningitis  als  Soldatenkrankheit  innerhalb  der  letzten 
zwei  Dezennien  monographisch  bearbeitet  hat.  Nach  Jaeger  hat 
die  Genickstarre  im  deutschen  Heere  gegen  frühere  Zeitabschnitte  seit 
dem  Jahre  1884  ganz  beträchtlich  zugenommen,  ebenso  in  der  öster- 
reichisch-ungarischen wie  in  der  italienischen  Armee  seither  grösseren 
Umfang  erfahren.  Für  das  deutsche  Eeich  lieferten  die  südwestlichen 
Armeekorps  auffallend  häufige  Erkrankungs-  und  Todesfälle,  gleich- 
zeitig war  —  abgesehen  von  der  strengeren  Meldepflicht  —  in  den 
südwestdeutschen  Staaten  eine  stärkere  Beteiligung  an  der  epidemi- 
schen Meningitis  im  allgemeinen  zu  konstatieren.  Eine  ungewöhnlich 
hohe  Verbreitung  der  Krankheit  wurde  1887  und  1889  in  Norwegen, 
1890  in  Schweden,  1896  und  1897  in  mehreren  nordamerikanischen 
Städten,  wie  Boston  u.  a.  0.  beobachtet. 

Die  epidemische  Meningitis,  die  nach  dem  historischen  Bilde 
ihrer  Wanderungen  während  des  19.  Jahrhunderts  nur  wenige  Teile 
Europas  und  Nordamerikas  verschont  hat,  bietet  trotz  der  sorgfältigsten 
epidemiologischen  Untersuchungen  und  der  ätiologischen  Studien,  die 
auf  die  Erkenntnis  der  Genese  und  Verbreitung  dieser  Infektions- 
krankheit abzielten,  der  Forschung  noch  viele  Rätsel.  Wenn  auch 
ihr  spezifischer  Charakter  vollständig  klar  gelegt  und  der  in  früherer 
Zeit  verfochtene  Zusammenhang  des  Leidens  mit  typhösen  Prozessen 
oder  mit  Malaria  als  gänzlich  unhaltbar  fallen  gelassen  wurde,  so  ist 
dennoch  in  manchen  und  zwar  den  wichtigsten  Fragen  über  die 
Natur  und  epidemische  Entwicklung  der  Krankheit  noch  eine  ab- 
schliessende Antwort  ausständig.  Wie  die  Einzelfälle  und  die  Massen- 
erkrankungen zeigen,  tritt  die  epidemische  Meningitis  oft  gleichzeitig 
an  verschiedenen,  räumlich  weit  voneinander  getrennten  Punkten  auf, 
ihre  Ausbreitung  beschränkt  sich  zuweilen  nur  auf  kleinere  Herde, 
anderenfalls,  wie  dies  in  Frankreich,  Nordamerika  und  besonders  in 
Schweden  auffällig  zu  Tage  getreten  war,  rückte  sie  stufenweise,  von 
dem  schon  einmal  eingenommenen  Sitze  nach  kurzer  Unterbrechung 
wiederum  ausgehend  in  bestimmter  Richtung  vor,  oder  aber  sie 
etablierte  sich  sprungweise,  beträchtliche  Gebiete  völlig  verschonend. 
Die  auffällige  Erscheinung,  dass  innerhalb  der  letzten  zwei  Jahrzehnte 


Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten.  901 

die  Genickstarre  in  vielen  Städten  Nordamerikas  einen  endemischen 
Cliarakter  angenommen  hat,  ist  im  Zusammenhange  mit  der  Erfahrung, 
dass  in  Europa  vorwiegend  die  Hafenstädte  von  der  Krankheit  be- 
troffen werden,  sicherlich  geeignet,  den  Blick  der  Epidemiologen 
auf  die  Mitwirkung  des  Personenverkehres  in  solchen  Handelscentren 
zu  lenken. 

Wie  die  Berichte  übereinstimmend  melden,  fielen  die  sporadischen 
Erkrankungen  ebenso  wie  die  Epidemien  nahezu  ausnahmslos  in  den 
Winter  und  Frühling.  Ebenso  wiederholte  sich  in  allen  Zügen  der 
Seuche  die  Thatsache,  dass  an  derselben  zumeist  das  Kindesalter  und 
Personen  bis  zur  Alterstufe  von  30 — 40  Jahren  beteiligt  sind  und  dass 
äussere,  hygienisch  ungünstige  Lebensverhältnisse  in  einer  bisher  noch 
unaufgeklärten  AVeise  auf  die  Entstehung  und  Verbreitung  der 
Krankheit  entschieden  Einfluss  nahmen.  Von  besonderem  Belange  für 
die  eigentümlichen  Einwirkungen  solcher  lokaler  Schädlichkeiten  haben 
sich  die  in  Kasernen,  Waisenhäusern,  Gefängnissen  und  Arbeiter- 
kolonien zu  Stande  gekommenen  Epidemien  erwiesen;  nicht  weniger 
auffällig  erschien  die  Beobachtung,  wie  in  manchen  Städten  gewisse 
Strassen  oder  Häusergruppen  bezüglich  der  Einnistung  der  Krank- 
heit eine  besondere  Disposition  erkennen  Hessen.  Dieselbe  Erfahrung 
wurden  in  zahlreichen  Militärepidemien  in  Frankreich  und  anderwärts 
gewonnen,  wo  die  Genickstarre  ausschliessKch  oder  doch  in  grösster 
Prävalenz  in  einem  und  demselben  Truppenkörper,  in  einzelnen  un- 
sauberen Kasernen,  in  bestimmten,  schlecht  gelüfteten  Baracken  sich 
gezeigt  hatte.  Andererseits  liegen  zahlreiche  Berichte  vor,  wonach 
die  Krankheit  mit  dem  von  einer  nach  anderen  Garnisonen  dislocierten 
Militär  gleichsam  in  latentem  Stadium  verschleppt  und  dann  in  den 
neuen  übicationen  nach  kurzer  Frist  vom  frischen  ausgebrochen  war. 
Die  bekannte  Thatsache,  dass  der  Ansteckungskeim  von  Person  zu 
Person,  sowie  durch  dritte  (gesund  gebliebene)  Personen  oder  durch 
leblose  Gegenstände  vermittelst  des  menschlichen  Verkehres  übertragen 
wird,  gewinnt  in  Uebereinstimmung  mit  den  angedeuteten  äusseren 
Einflüssen  eine  wichtige  Bedeutung  für  das  charakteristische  Verhalten 
der  epidemischen  und  endemischen  Meningitis. 

Die  in  die  allerjüngste  Zeit  (1899)  fallenden  Aufschlüsse  über 
die  ätiologischen  Faktoren  der  Krankheit,  wonach  der  von  Weichsel- 
baum und  Jaeger  nachgewiesene  Diplococcus  intercellularis 
meningitidis  als  deren  einheitlicher  Erreger  anzusprechen  ist, 
werden  vielleicht  in  nicht  zu  ferner  Zukunft  die  Wege  erhellen,  auf 
denen  die  Infektion  dieses  Mikroorganismus  erfolgt  und  damit  sichere 
Grundlagen  gewinnen  lassen,  um  die  Verhütung  und  Bekämpfung  der 
Genickstarre  ins  Werk  setzen  zu  können. 


Geschichte  der  Tuberkulose. 


Von 
A.  Ott  (Berlin). 


Das  als  Lungenschwindsuclit  von  uns  bezeichnete  Krankheitsbild 
war  bereits  den  ältesten  Aerzten  genau  bekannt,  wie  aus  der  geradezu 
klassisch  zu  nennenden  Schilderung  hervorgeht,  die  Hippokrates  von 
der  Phthisis  gegeben  hat.  ^)  Dieser  grosse  Beobachter  hat  bereits  den 
lange  in  Misskredit  geratenen  und  erst  in  der  neuesten  Zeit  wieder 
zu  Ehren  gekommenen  Satz  aufgestellt,  dass  die  Phthise  in  all  ihren 
Formen  heilbar  ist,  wenn  sie  nur  früh  richtig  behandelt  wird.  Etwas 
Spezifisches  erkannte  er  jedoch  der  Krankheit  keineswegs  zu;  sie  tritt 
immer  als  natürliche  Folge  ein,  wenn  Schleim  und  Blut  aus  der 
Lunge  nicht  ausgeworfen  werden  können  und  deshalb  in  Eiter  sich 
umwandeln.  Man  hat  zwar  eine  Zeit  lang  geglaubt,  dass  Hippo- 
krates bereits  Tuberkel  als  Ursache  der  Lungenschwindsucht  gekannt 
habe;  Virchow  hat  jedoch  zur  Evidenz  bewiesen,  dass  die  als  Tuberkel 
aufgefassten  „Phymata"  nichts  anderes  bedeuteten,  als  gewöhnliche 
Eiterherde.  Die  späteren  Autoren  blieben  alle  durchweg  auf  dem 
von  Hippokrates  angenommenen  Standpunkt  stehen.  Eine  Keform 
der  Anschauungen  wurde  erst  möglich  mit  den  Aufblühen  der  Ana- 
tomie im  16.  und  17.  Jahrhundert.  Mit  dem  allgemeiner  werdenden 
Obduktionen   menschlicher   Leichen  fielen   den  Anatomen   sehr  bald 


^)  Des  beschränkten  Raumes  wegen  kann  hier  nur  in  grossen  Zügen  auf  die 
geschichtliche  Entwicklung  der  Lehre  von  der  Tuberkulose  eingegangen  werden; 
für  eingehenderes  Studium  sei  verwiesen  auf:  Waidenburg,  „Die  Tuberkulose, 
die  Lungenschwindsucht  und  die  Skrophulose",  Berlin  1869;  Predöhl,  „Die  Ge- 
schichte der  Tuberkulose",  Hamburg  1888,  beide  Werke  sind  für  die  ältere  Geschichte 
im  nachfolgenden  Aufsatz  benutzt  —  und  Johne,  „Geschichte  der  Tuberkulose", 
Leipzig  1883;  hier  ist  vorzugsweise  die  Eindertuberkulose  berücksichtigt.  Die 
neueste  Litteratur  findet  sich  abgesehen  von  „Schmidt's  Jahrbüchern"  und  den 
„Virchow-Hirsch'schen  Jahresberichten"  in  den  neu  gegründeten  SpezialZeitschriften: 
„Revue  de  la  tuberculose"  (Paris,  Masson),  „Zeitschrift  für  Tuberkulose  und  Heil- 
stättenwesen" (Leipzig,  A.  Barth),  „The  Journal  of  tuberculosis"  (Asheville,  Mc. 
Quilkin),  „Revue  international  de  la  tuberculose"  (Paris,  rue  Rougemont  9)  und 
endlich  „Tuberculosis"  (Leipzig,  A.  Barth),  Monatsschrift  des  internationalen  Central- 
bureaus  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose,  sowie  in  des  Verf.  jährlichen  Sammel- 
berichten über  die  Tuberkuloselitteratur  in  der  „Deutschen  Aerzte-Zeitung". 


Geschichte  der  Tuberkulose.  903 

harte  Knoten  in  der  Lunge  auf.  die  sie  mit  dem  Namen  Tuberkel 
bezeichneten,  ein  Ausdruck,  der  seit  Celsus  für  jeden  Knoten,  gleich- 
gültig welcher  Beschaffenheit  gebräuchlich  war.  Man  dachte  aber  an- 
fangs noch  gar  nicht  daran,  diese  Tuberkel  mit  der  Lungenschwind- 
sucht in  Beziehung  zu  bringen;  erst  Sylvius  ist  derjenige,  welcher 
wenigstens  für  einen  Teil  der  Phthisisfälle  die  Vereiterung  dieser 
Tuberkelknoten  als  Ursache  annimmt.  Möglicherweise  hat  Sylvius 
auch  schon  Miliartuberkel  gekannt,  wenigstens  lässt  sich  seine  Be- 
zeichnung Tubercula  minora  recht  gut  in  diesem  Sinne  deuten.  Die 
Tuberkel  entstehen  nach  seiner  Annahme  aus  kleinen  dem  Auge  ent- 
gehenden Drüsen,  welche  bei  einer  gewissen  erblichen  Körperanlage, 
der  skrophulösen  Konstitution,  wachsen  und  so  zu  kleineren  oder 
grösseren  Knoten  werden.  Bei  Sylvius  finden  wir  demnach,  wie 
XValdenburg  sich  ausdrückt,  den  ersten  fruchtbaren  Keim  zur  Lehre 
von  der  Tuberkulose  gelegt;  zugleich  hat  sich  aber  die  Ansicht  von 
der  Indentität  der  Lungentuberkel  mit  Skropheln  eingeschlichen,  welche 
einer  schnelleren  Fortentwicklung  der  neuen  Lehre  hemmend  in  den 
Weg  trat.  Die  Zeitgenossen  von  Sylvius  blieben  meist  bei  dessen 
Auffassung  stehen;  zu  erwähnen  ist  nur,  dass  von  Mang  et  (1700) 
bereits  Beobachtungen  von  allgemeiner  Miliartuberkulose  gemacht 
WTirden.  die  aber  der  Vergessenheit  anheimfielen.  Nur  Morton  (1689) 
ging  einen  gi'ossen  Schritt  weiter,  indem  er  die  Lungenschwindsucht 
stets  aus  Tuberkeln,  niemals  auf  andere  "Weise  sich  bilden  lässt. 
Nach  ihm  ist  jede  Lungenschwindsucht,  so  "viele  Spezies  derselben  er 
auch  annehmen  mag.  eine  knotige,  tuberkulöse;  der  Tuberkel  wird 
bei  ihm  zum  ersten  Male  eine  notwendige  Vorstufe  der  Lungen- 
ulceration.  Die  nächsten  100  Jahre  brachten  dann  keine  Fortschritte 
mehr  auf  unserem  Gebiete;  ja  die  durch  die  letztgenannten  Autoren 
betretene  Bahn  wurde  teilweise  wieder  verlassen,  ihre  Lehren  viel- 
fach ignoriert  und  vergessen.  Erst  von  Stark  (1785)  ab  datieren 
weitere  Errungenschaften.  Derselbe  hat  das  Verdienst,  die  Miliar- 
tuberkel, die  bis  dahin  nur  nebenbei  als  seltene  Befunde  erwähnt 
wurden,  zuerst  ausführlich  beschrieben  und  ihnen  den  ihnen  zu- 
kommenden Platz  in  der  pathologischen  Anatomie  der  Lungen  an- 
gewiesen zu  haben.  Reid  (1785)  ging  noch  einen  Schritt  weiter,  er 
trennte  die  Tuberkulose  von  der  Skrophulose  vollständig  und  stellte 
die  Tuberkel  als  etwas  von  den  Drüsen  ganz  Verschiedenes  dar.  Ein 
weiterer  wesentlicher  Fortschritt  lä^st  sich  dann  kurz  darauf  bei 
Baillie  (1794)  erkennen,  indem  derselbe  die  grossen  Lungenknoten 
aus  den  Miliartuberkeln  durch  Konfluieren  derselben  hervorgehen  lässt; 
ausserdem  beschreibt  er  bereits  auch  Tuberkulose  anderer  Organe. 

Der  eigentliche  Begründer  der  Lehre  von  der  Tuberkulose  ist 
jedoch  Bayle  (1810).  Er  ist  geradezu  der  Entdecker  der  allgemeinen 
Miliartuberkulose  zu  nennen.  Er  fand  ganz  gleiche  Miliartuberkel 
wie  in  den  Lungen,  auch  in  vielen  anderen  Organen,  die  zwar  schon 
Autoren  vor  ihm  gesehen  hatten;  indes  sein  grosses  Verdienst  liegt 
darin,  dass  er  erkannte,  dass  die  Tuberkel  aller  dieser  verschiedenen 
Organe  eine  gleiche  Beschaffenheit  und  einen  gleichen  Entwick- 
lungsgang hatten,  und  dass  sie  auch  in  einem  genetischen  und 
klinischen  Zusammenhang  standen.  Die  Phthisis  tuberculosa  war 
somit  nach  ihm  kein  lokaler,  allein  auf  die  Lungen  beschränkter  Pro- 
zess,  sondern  eine  den  ganzen  Körper  heimsuchende  Allgemeinkrank- 
heit;  somit  wurde  er  der  Schöpfer  des  als  diathese  tuberculeuse  und 


904  A.  Ott. 

später  einfach  als  Tuberkulose  bezeichneten  Krankheitsbegriffes.  Er 
hob  ferner  hervor,  dass  weder  Hämoptoe  noch  einfache  Entzündungen 
der  Lunge  jemals  die  Phthise  verursachen,  sondern  nur  die  tuberkulöse 
Kachexie  und  dass  bereits  die  Anfangsstadien  des  Leidens,  in  dem 
sich  die  Tuberkel  erst  entwickeln,  auch  wenn  noch  keine  Zeichen 
der  Abzehrung  vorhanden  seien,  doch  bereits  zur  Phthise  gerechnet 
werden  müssen.  Ihre  weitere  Ausbildung  fand  die  Bayle 'sehe  Lehre 
durch  Laennec  (1819).  Wesentlich  ist  dabei,  dass  er,  was  bei  dem 
grössten  Teil  seiner  Vorgänger  trotz  Eeid  nicht  der  Fall  gewesen 
war,  auch  bei  Bayle  nicht,  definitiv  mit  der  alten  Lehre  bricht  über 
das  Verhältnis  der  Tuberkel  zu  den  Skropheln,  allerdings  in  anderer 
Weise  als  Reid;  während  dieser  jeden  Zusammenhang  zwischen 
beiden  Erscheinungen  leugnete,  konstatierte  Laennec,  dass  die 
Skrophulose  lediglich  eine  Lokalisation  der  Tuberkulose  sei  und  zwar 
die  Lokalisation  in  den  Lymphdrüsen.  Wenn  auch  Laennec's 
Lehre  bald,  namentlich  in  Frankreich,  weite  Verbreitung  fand,  so 
fehlte  es  ihr  doch  nicht  an  einflussreichen  Gegnern,  unter  denen 
namentlich  Broussais,  Andral  und  Reinhardt  zu  nennen  sind, 
während  von  ihren  Anhängern  Louis,  Rokitansky  und  Lebert 
Erwähnung  verdienen.  Der  Streit  drehte  sich  im  wesentlichen  darum, 
ob  die  Tuberkel  ursprünglich  Neubildungen  oder  Entzündungsprodukte 
sind.  Natürlich  findet  sich  bei  den  verschiedenen  Autoren  nicht  immer 
vollständige  Uebereinstimmung,  sondern  die  verschiedensten  Modifika- 
tionen werden  laut,  so  dass  zu  der  damaligen  Zeit  ein  grosser  Wirr- 
warr auf  unserem  Gebiete  herrschte,  in  den  Licht  zu  bringen  Vir- 
chow  (1852)  berufen  war.  Durch  Baillie  hatte  der  Begriff  tuber- 
kulöse Materie  seinen  Einzug  in  die  Medizin  gefunden  und  viele 
Autoren  hatten  geglaubt,  nicht  im  Tuberkel,  sondern  in  der  tuber- 
kulösen, käsigen  Masse  das  Charakteristische  der  Tuberkulose  erblicken 
zu  müssen,  und  dass  man  demnach  alle  Tuberkel,  die  keine  Verkäsung 
zeigten,  als  etwas  von  der  Tuberkulose  Verschiedenes  anzusehen  habe. 
Virchow  zeigte  nun,  dass  die  Verkäsung  bei  den  Tuberkeln  zwar 
besonders  häufig  vorkommt,  dass  sie  aber  kein  notwendiges  Produkt 
derselben  darstellt  und  dass  andererseits  auch  bei  den  verschiedensten 
anderweitigen  Prozessen,  chronischen  Eiterungen,  Krebs,  Nekrose 
u.  dergl.  es  nicht  selten  zur  Verkäsung  kommt,  und  dass  man  somit 
derselben  alles  Spezifische  abstreiten  müsse.  Der  Miliartuberkel, 
welche  die  notwendige  Vorbedingung  zur  Entstehung  der  Tuber- 
kulose ist,  gehört  nach  Virchow  zu  den  heteroplastischen, 
lymphatischen  Geschwülsten,  d.  h.  drüsenähnlichen  Geschwülsten, 
die  an  Orten  entstehen,  wo  sich  kein  Drüsengewebe  findet.  Aber 
auch  diese  Virchow 'sehe  Ansicht  bedurfte  längerer  Zeit  bis 
zu  ihrer  allgemeineren  Anerkennung,  während  inzwischen  noch 
eine  weitere  Theorie  auftrat,  die  von  Robin  (1854)  begründete 
und  von  Empis  (1865)  weiter  ausgebaute,  nach  der  man  zwischen 
Tuberkulose  und  Granulie,  als  zwei  ganz  verschiedenen  Krankheiten  zu 
unterscheiden  habe.  Nach  dem  genannten  Autor  wohnt  den  Tuberkeln, 
die  er  deshalb  Granulationen  nennt,  durchaus  nicht  die  Neigung  inne, 
tuberkulös,  d.  h.  nach  seiner  Begriffsbestimmung  käsig  zu  werden ;  an 
sich  sind  sie  keineswegs  so  deletär,  wie  man  gewöhnlich  annimmt,  ja 
sie  können  nicht  selten  heilen;  zur  Schwindsucht  führen  sie  nur  dann, 
wenn  sie  sich,  was  allerdings  recht  häufig  der  Fall  ist,  mit  einer 
zweiten  Krankheit,  der  Tuberkulose,  kombinieren  und  nun  verkäsen 


Geschichte  der  Tuberkulose.  905 

und  sich  in  Ulcerationen  umwandeln.  E  m  p  i  s '  Theorie  fand  nur 
wenig  Anhänger.  So  finden  wir  in  den  sechziger  Jahren  eine  Reihe 
der  verschiedensten  Theorien  bezüglich  der  Tuberkulose.  Wenn  auch 
eine  grosse  Anzahl  der  Autoren  dem  Vircho w'schen  Standpunkte 
beitrat,  so  hatten  doch  auch  die  Ansichten  von  Laennec  und 
Louis.  Andral  und  endlich  Empis  ihre,  zum  Teil  nicht  geringe 
Zahl  von  Anhängern. 

Diesen  Widerstreit  der  ^Meinungen  sollten  plötzlich  die  Epoche 
machenden  Untersuchungen  Villemin's  über  die  Uebertragbarkeit 
der  Tuberkulose  in  neue  Bahnen  lenken.  Es  waren  zwar  bereits 
früher  Uebertragungsversuche  vorgenommen  worden  und  von  zufälligen 
Uebertragungen  bei  Sektionen  berichtet  worden  ( L  a  e  n  n  e  c)  und  zwar 
scheint  Kort  um  (1789)  der  erste  gewesen  zu  sein,  der  derartige  Ver- 
suche angestellt  hat.  Dieselben  verliefen  jedoch  zum  grossen  Teil  negativ, 
zum  anderen  Teil  wurden  sie  nicht  beachtet,  speziell  die  schönen  Ex- 
perimente von  Klencke  ('1843)  hatten  dieses  Schicksal.  Erst  die 
zahlreichen  positiven  Resultate,  die  Villemin  erhielt,  zogen  die  all- 
gemeine Aufmerksamkeit  auf  sich.  Die  erste  Mitteilung  Villemin's 
geschah  1865,  die  zweite  1866  und  die  dritte  1868.  Aus  seinen  an 
Kaninchen  angestellten  Versuchen  ergab  sich  folgendes:  Die  Lungen- 
phthise  ist,  wie  die  tuberkulösen  Krankheiten  im  allgemeinen,  eine 
spezifische  Affektion.  Ihi-e  Ui^ache  liegt  in  einem  überimpfbaren 
Agens.  Diese  Ueberimpfung  lässt  sich  vom  Menschen  auf  das  Kanin- 
chen leicht  volltühren.  Somit  gehört  die  Tuberkulose  in  die  Klasse 
der  virulenten  Krankheiten  und  verdient  in  der  nosologischen  Reihe 
ihren  Platz  neben  der  Syphüis,  steht  aber  vielleicht  dem  Rotz  noch 
näher.  Was  ihr  Vorkommen  bei  Tieren  anbetrifft,  so  kommt  eine 
Empfänglichkeit  dafür  nur  dem  Menschen.  Affen,  Kühen  und  Kanin- 
chen zu.  Die  übrigen  Tiere  sind  ganz  oder  teilweise  immun  dagegen; 
beim  Rinde  tritt  die  Tuberkulose  unter  einer  besonderen  Form  auf, 
die  man  als  Perlsucht  bezeichnet  hat.  Seine  Resultate  hat  Villemin 
teils  mit  Tuberkeln  und  käsigen  Massen  tuberkulöser  Menschen  und 
Tiere,  teils  mit  Sputum  erhalten.  Es  liegt  also  der  Tuberkulose,  so 
schliesst  er  in  seiner  letzten  Arbeit  ein  spezifisches  Virus  zu  Grunde; 
nur  durch  dieses  Virus  und  auf  keine  andere  Weise  kann  die  Krauk- 
heit  hervorgerufen  werden.  Sie  entsteht  nicht  spontan  im  mensch- 
lichen Haushalt;  weder  Schwäche,  noch  Elend,  noch  Wärme,  noch 
Kälte.  Heredität  oder  Einfluss  der  Profession  und  dergleichen  mehr 
können  sie  entstehen  machen,  ebenso  stehen  vorangehende  Krank- 
heiten in  keinem  direkten  ursächlichen  Zusammenhang  mit  der  nach- 
folgenden Phthise;  es  bedarf  hierzu  eines  von  aussen  kommenden,  in 
der  Atmosphäre  befindlichen,  das  eigentümliche  Tuberkelgift  enthalten- 
den Keimes,  dessen  Ueberimpf barkeit  beweist,  dass  er  sich  in  den 
organischen  Medien  der  Tiere  und  Menschen  fortpflanzt.  Die  Tuberkel 
haben  überhaupt  in  ihrem  anatomischen  und  histiologischen  Bau  nichts 
Spezifisches,  nichts,  was  sie  von  anderen  verwandten  Bildungen  trennt. 
Das  einzig  sichere  Kriterium  für  die  Natur  des  Tuberkels  ist  das  in 
ihm  enthaltene,  durch  Impfbarkeit  sich  dokumentierende  Gift. 

Dass  diese  durchaus  neuen  Anschauungen  einen  wahren  Sturm 
in  der  vsissenschaftlichen  Welt  entfesselten,  liegt  auf  der  Hand. 
Zwar  hatte  sich  in  Laienkreisen  die  Ansicht  von  der  Ansteckungs- 
fahigkeit  der  Tuberkulose  vielfach  Bahn  gebrochen,  in  der  Wissen- 
schaft war  jedoch  der  Glaube  daran  fast  ganz  geschwunden.     Mit 


906  A.  Ott. 

ausserordentlichem  Eifer  warfen  sich  deshalb  die  Forscher  aller 
Länder  auf  die  Nachprüfung  der  Vil  lern  in 'sehen  Versuche  und  fast 
alle  mussten  die  üebertragbarkeit  bestätigen,  wenngleich  das  Vor- 
handensein eines  spezifischen  Virus  anfangs  noch  vielfach  geleugnet 
wurde.  Der  erste  war  Lebert  (1866),  der  seine  Rusultate  noch  vor 
dem  Erscheinen  der  zweiten  Arbeit  Villemin's  veröffentlichte. 
Villerain  selbst  hatte  alle  seine  Versuche  mittelst  Verimpfung  tuber- 
kulösen Materials  angestellt.  Seine  Nachuntersucher  bedienten  sich 
teils  dieser  Methode,  teils  gingen  sie  weiter  und  stellten  auch  In- 
halations-  und  Fütterungs versuche  an.  Es  ist  natürlich  nicht  an- 
gängig, alle  Nachuntersuchungen  hier  aufzuzählen,  nur  die  wichtigsten 
sollen  kurz  berührt  werden.  Vor  allem  sind  da  zwei  grosse  Ver- 
suchsreihen von  Colin  (1867  und  1868)  zu  erwähnen,  ferner  Clark 
(1867),  beide  mit  positivem  Resultat;  trotzdem  leugnen  die  Autoren 
aber  das  Vorhandensein  eines  spezifischen  tuberkulösen  Virus.  K 1  e  b  s 
(1868)  trat  hingegen  warm  für  die  virulente  Natur  der  Tuberkulose 
ein,  ebenso  eine  grosse  Reihe  späterer  Autoren  auf  Grund  ihrer  posi- 
tiven Versuchsresultate  und  zwar  beschränkten  sich  dieselben  nicht 
nur  auf  menschliches  Material,  sondern  es  wurde  in  zahlreichen  Fällen 
auch  Perlsuchtmaterial  mit  ausgezeichnetem  Erfolg  angewendet.  Nur 
ganz  vereinzelte  Versuche  ergaben  ein  negatives  Resultat,  so  dass  die 
Thatsache  der  üebertragbarkeit  der  Tuberkulose  bald  fast  unange- 
fochten dastand.  Allein  über  die  Deutung  dieser  Thatsache  erhob  sich 
bald  ein  lebhafter  Widerstreit  der  Meinungen,  der  die  ärztliche  Welt 
anfangs  in  drei  Parteien  schied.  Nach  der  einen  nächst  Villemin 
besonders  von  Klebs  verteidigten  ist  es  ein  spezifisches,  den  tuber- 
kulösen Produkten  anheftendes  Virus,  durch  dessen  Uebertragung  die 
Tuberkulose  des  Impftieres  entsteht.  Die  zweite  Ansicht,  welche 
Langhans  aussprach,  hält  die  Impfresultate  für  zweifelhaft  und  bis 
dahin  wenigstens  für  nichts  beweisend;  der  menschlichen  Tuberkulose 
sei  aber  gleichwohl  Spezifität  zuzuerkennen.  Die  dritte  Ansicht  end- 
lich erklärte  die  Impftuberkel  einfach  für  Produkte  mechanischer  Irri- 
tation, welche  nichts  Spezifisches  an  sich  haben,  sondern  durch  Auf- 
nahme fein  verteilter  korpuskularer  Elemente  ins  Blut  und  deren  Ab- 
lagerung in  den  Organen  entstehen  sollen.  Letztere  Theorie  wurde 
besonders  von  Lebert  eifrig  verfochten  und  ihr  schloss  sich  anfangs 
eine  grössere  Zahl  von  Autoritäten  an,  unter  denen  besonders  Clark, 
Sanderson,  Cohnheim  und  B.  Fränkel,  Gerlach,  Talma 
und  M.  Wolff  zu  nennen  sind.  Diese  Autoren  zeigten,  dass  in  den 
Organen  der  Versuchstiere  nicht  allein  durch  tuberkulöse  Massen, 
sondern  auch  durch  gesunde  Organbestandteile  von  Leichen,  Krebs- 
massen, Abscesseiter,  ja  sogar  durch  ganz  heterogene  Dinge,  wie 
Papier,  Baumwolle,  Zinnober,  Quecksilber  etc.  Gebilde  zu  erzeugen 
waren,  die  makroskopisch  und  mikroskopisch  dem  echten  Tuberkel 
genau  entsprachen.  Allmählich  klärte  sich  indes  auch  dieser  Wider- 
spruch auf,  als  sich  einerseits  zeigte,  dass  bei  den  Versuchstieren 
manchmal  spontane  Tuberkulose  auftritt,  andererseits  es  entweder  bei 
dem  Versuche  selbst  oder  durch  nachherige  Infektion  der  Wunde  zu 
einer  unbeabsichtigten  Nebeninfektion  mit  dem  in  unreinen  Ställen  so 
häufig  vorkommenden  tuberkulösen  Virus  kommen  kann;  ausserdem 
entstehen  auch  durch  feinkörnige  Fremdkörper  wohl  tuberkelähnliche 
Knötcheneruptionen,  die  zwar  histologisch  dem  Tuberkel  fast  völlig 
gleichen,  aber  sich  durch  ihr  weiteres  Verhalten  wesentlich  von  dem- 


Geschichte  der  Tnherkulose.  907 

selben  unterscheiden:  sie  verkäsen  nicht  und  sind  nicht  weiter  ver- 
impfbar.  Besonders  war  es  Baumgarten,  der  diese  Dinge  ent- 
schieden betonte  und  Cohnheim  und  B.  Fränkel  schlössen  sich 
dem  bald  an.  besonders  nachdem  eine  Wiederholung  ihrer  Versuche 
an  anderen  Orten  (die  ersten  hatten  im  Berliner  pathologisch-anato- 
mischen Institut  stattgefunden)  vollständig  negativ  ausgefallen  war. 

Von  besonderem  Werte  zur  Klärung  der  IJebertragungsfrage  er- 
wiesen sich  dabei  die  intraokulären  Impfungen,  bei  denen  man  im 
Stande  war,  den  Verlauf  der  ganzen  Krankheit  direkt  zu  verfolgen. 
Hier  waren  vor  allem  die  Versuche  Baumgarten's  (1880)  von 
grosser  Bedeutung.  Merkwürdigerweise  hatte  derselbe  anfangs  mit 
Uebertragungsversuchen  menschlichen  Materials  nur  Misserfolge,  wäh- 
rend mit  Perlsucht  die  Uebertragung  ausnahmslos  gelang.  Später 
stellte  sich  dann  heraus,  dass  die  Uebertragung  mit  menschlichem 
Leichenmaterial  um  so  besser  gelingt,  je  früher  nach  dem  Tode  die- 
selbe ausgeführt  wird,  so  dass  an  einem  Teil  seiner  Misserfolge  jeden- 
falls der  späte  Termin  seiner  Impfungen  schuld  hat. 

Von  Inhalationsversuchen  verdienen  die  von  Tappeiner  (1877) 
und  Weichselbaum  (1882)  Erwähnung.  Tappeiner  konnte  durch 
Inhalierenlassen  phthisischen  Sputums  bei  einer  grossen  Anzahl  von 
Hunden  fast  immer  Tuberkulose  der  Lungen  erzeugen.  Schotte- 
lius  (1878)  hatte  demgegenüber  zwar  behauptet,  dass  nicht  allein 
den  tuberkulösen  Massen,  sondern  auch  gewissen  anderen  organischen 
Substanzen  die  Fähigkeit  tuberkelähnliche  Knötchen  zu  erzeugen  zu- 
kommt. Das  ist  nach  Weichselbaum  auch  der  Fall,  indes  besteht 
noch  ein  wesentlicher  Unterschied  in  der  Wirkung  der  genannten 
Substanzen.  Im  tuberkulösen  Sputum  ist  nämlich  ein  Virus  enthalten, 
welches  ohne  Bezug  auf  die  eingebrachte  Menge  und  den  Impfungs- 
ort ausnahmslos  Knötchen  von  tuberkelähnlichem  Bau  in  grosser  Zahl 
hervorruft,  während  andere  organische  Substanzen  nicht  tuberkulöser 
Natur  entweder  gar  nicht  oder  nur  unter  gewissen  Bedingungen 
Knötchen  und  nur  in  geringer  Zahl  erzeugen. 

Ferner  wurden  von  einer  grossen  Zahl  von  Autoren  Fütterungs- 
versuche mit  tuberkulösen  Massen  angestellt,  genannt  seien  nur 
Chauveau,  Gerlach,  Klebs,  Bollinger,  Orth,  Aufrecht 
u.  A.  m.  Johne,  der  diese  Versuche  kritisch  gesichtet  hat,  zieht  darau 
s  folgende  Schlüsse:  Die  Uebertragung  der  Tuberkulose  von  Tier  auf 
Tier  und  von  Mensch  auf  Tier  durch  den  Genuss  tuberkulöser  Massen 
ist  möglich,  wenn  auch  mit  weniger  Sicherheit  zu  erzielen,  als  durch 
Impfungen.  Die  Uebertragung  geschieht  am  leichtesten  durch  Fütterung 
tuberkulöser  Massen,  demnächst  auch  durch  Milch  tuberkulöser  Tiere. 
Die  Infektion  durch  tuberkulöses  Material  vom  Menschen  gelingt  ver- 
hältnismässig schwer. 

Inzwischen  wurde  auch  auf  histologischem  Gebiete  die  weitere 
Kenntnis  des  Tuberkels  sehr  gefördert,  namentlich  waren  es  die  Arbeiten 
von  Langhans  (1868)  welche  hier  unsere  Kenntnisse  wesentlich  er- 
weiterten, er  schenkte  insbesondere  den  Riesenzellen  seine  Aufmerk- 
samkeit und  konnte  nachweisen,  dass  dieselben  ein  fast  konstanter 
Bestandteil  des  Tuberkels  aller  menschlichen  Organe  sind.  Um  diesen 
Satz  drehte  sich  dann  lange  Zeit  der  Streit  der  Meinungen,  bis  sich 
herausstellte,  dass  die  Riesenzellen  sich  zwar  sehr  häufig  in  Tuberkeln 
finden,  aber  nicht  selten  darin  auch  vermisst  merden,  dass  andererseits 
auch  in  vielen  anderen  Bildungen  Riesenzellen  sich  nachweisen  lassen. 


908  A.  Ott. 

Besonders  fördernd  wirkten  hier  die  zahlreichen  Arbeiten  von 
Schüppel,  ferner  die  Untersuchungen  von  Buhl,  Rindfleisch, 
Friedländer,  Aufrecht,  Ziegler,  Baumgarten,  Orth, 
Cohnheim,  Birch-Hirs  chfeld  u.  A. 

Auch  über  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  Tuberkulose  zur 
Lungenschwindsucht  wurde  lebhaft  debattiert.  Virchow  hatte  den 
Satz  aufgestellt,  dass  man  die  bei  der  Phthise  so  häufige  käsige 
Pneumonie  von  den  Tuberkeln  der  Lunge  trennen  und  als  etwas  da- 
von Verschiedenes  ansehen  müsse.  Durch  die  Arbeiten  von  Buhl 
und  Rindfleisch,  namentlich  aber  durch  dieBaumgarten's  und 
Orth 's,  kam  auch  diese  Frage  zu  einem  gewissen  Abschluss;  dass 
beide  Prozesse  eine  nosologische  resp.  ätiologische  Einheit  besitzen, 
wird  allerseits  zugegeben;  während  aber  Orth  auf  Grund  der  histio- 
logischen  Differenzen  eine  anatomische  Differenzierung  aufrecht  er- 
hält, wird  diese  von  Baumgarten  wegen  Geringfügigkeit  der 
mikroskopischen  Differenzen  bestritten.  Beide  Ansichten  sind  von 
den  genannten  Verfechtern  derselben  noch  heutigen  Tages  nicht 
verlassen. 

Bezüglich  der  Aetiologie  der  Tuberkulose  war  schon  von  einer 
Reihe  von  Autoren  die  Ansicht  geäussert  worden,  dass  es  sich  dabei 
vermutlich  um  ein  organisiertes,  vermehrungsfähiges  Kontagium 
handelt;  indessen  war  wohl  Klebs  (1877)  der  Erste,  der  sich  auf 
Grund  seiner  Untersuchungen,  bei  denen  er  das  „Monas  tuberculosum" 
gefunden  zu  haben  glaubte,  mit  aller  Entschiedenheit  die  Theorie 
aufstellte,  dass  das  spezifische  tuberkulöse  Virus  in  bestimmten  Bak- 
terien gesucht  werden  müsse.  Nach  ihm  glaubten  noch  mehrere 
Untersucher  den  spezifischen  Erreger  gefunden  zu  haben,  indes  alle 
diese  Angaben  erwiesen  sich  später  als  irrig.  Erst  dem  Genie 
R.  K  0  c  h '  s  (1882)  blieb  es  vorbehalten,  den  Erreger  der  Tuberkulose 
unanfechtbar  nachzuweisen.  Durch  eine  eigenartige  Färbemethode, 
deren  Wesen  in  der  Einwirkung  alkalisch  gemachter  Anilin farbstoffe 
unter  Erwärmen  bestand,  gelang  es  ihm  in  Schnitten  von  Tuberkeln 
zahlreiche  stäbchenförmige,  sehr  dünne  Bakterien  nachzuweisen,  die 
teils  im  Innern,  teils  zwischen  den  Zellen  lagen  und  speziell  die 
Riesenzellen  bevorzugten.  Damit  war  allerdings  noch  keineswegs  der 
sichere  Beweis  gegeben,  dass  diese  Bazillen  die  Ursache  der  fraglichen 
Krankheit  seien.  Aber  auch  dieser  Beweis  gelang  Koch  in  unwider- 
leglicher Weise.  Mit  Hilfe  des  von  ihm  eingeführten  festen  durch- 
sichtigen Nährbodens  konnte  er  aus  den  Krankheitsprodukten  die 
Bazillen  züchten  und  sie  durch  mehrfaches  Umzüchten  von  allen  an- 
haftenden Verunreinigungen  befreien ;  mit  diesen  Reinkulturen  konnte 
er  in  beliebiger  Wiederholung  bei  Meerschweinchen  das  Krankheits- 
bild erzeugen,  das  bei  denselben  durch  Verimpfung  tuberkulöser  Pro- 
dukte entsteht,  aus  diesem  Tiere  wieder  die  Bazillen  züchten  u.  s.  f. 
Damit  war  der  sichere  Beweis  geliefert,  dass  die  in  den  tuberkulösen 
Substanzen  vorkommenden  Bazillen  nicht  nur  Begleiter  des  tuber- 
kulösen Prozesses,  sondern  die  Ursache  desselben  sind.  Weitere 
Untersuchungen  über  die  Herkunft  der  Bazillen  ergaben,  dass  dieselben 
in  ihrer  Entwicklung  lediglich  auf  den  tierischen  Organismus  ange- 
wiesen sind,  da  sie  nur  bei  Temperaturen  zwischen  30  und  40^  C. 
wachsen.  Da  nun  die  weitaus  überwiegende  Mehrzahl  der  Tuber- 
kulosen von  den  Respirationsorganen  ihren  Ausgangspunkt  nimmt,  so 
war  Koch  der  Ansicht,  dass  diese  Bazillen  mit  Staubteilchen  einge- 


Geschichte  der  Tuberkulose.  909 

atmet  würden;  in  die  Luft  gelangen  sie  aber  durch  das  Sputum  des 
Phthisikers.  in  dem  sie  auch  nach  dem  Eintrocknen  noch  monatelang 
lebensfähig  bleiben  können.  Damit  war  zugleich  ein  Weg  gegeben, 
eine  der  hauptsächlichsten  Quellen,  aus  denen  der  Infektionsstoff 
fliesst,  zu  verstopfen  und  zwar  durch  Unschädlichmachen  des  Sputums. 

Es  darf  indes  nicht  verschwiegen  werden,  dass  gleichzeitig  und 
unabhängig  von  Koch  auch  B  a  u  m  g  a  r  t  e  n  die  Tuberkelbazillen  ge- 
sehen hat  und  zwar  hat  er  sie  in  Schnitten  vermittelst  Kalilauge 
sichtbar  gemacht.  Da  er  Züchtungsversuche  jedoch  nicht  unternommen 
hatte,  äusserte  er  sich  einstweilen  nicht  über  die  Frage,  ob  die 
Bakterien  nur  Begleiter  oder  die  Ursache  der  Erkrankung  seien. 

Die  meisten  Nachprüfungen  fand  anfangs  von  den  Koch'schen 
Mitteilungen  die  Färbetechnik  und  hier  war  man  vor  allem  •  bemüht, 
die  für  Sputumuntersuchungen  so  überaus  lästige  Zeitdauer,  die  nach 
den  Koch'schen  Angaben  etwa  24  Stunden  betrug,  zu  verkürzen. 
Das  gelang  vor  allem  Ehrlich,  der  das  Alkali  der  Koch'schen 
Lösung  durch  Anilinwasser,  also  eine  Lösung  eines  organischen  Alkalis, 
ersetzte.  B.  Fränkel  verwandte  zu  diesem  Zwecke  ausserdem  auch 
noch  das  dem  Anilin  homologe  Toluidin;  derselbe  machte  ferner  auf 
die  Wichtigkeit  der  Kontrastfärbung  aufmerksam  und  verkürzte  die 
Färbungszeit  dadurch  noch  weiter,  dass  er  Entfärben  und  Kontrast- 
färben in  einem  Akt  vornahm  vermittelst  saurer  alkoholischer  Kon- 
trastfarbe. Z  i  e  h  1  konstatierte  dann,  dass  die  Färbeflüssigkeit  keines- 
wegs alkalisch  zu  sein  brauche,  sondern  dass  auch  andere  Zusätze 
die  Färbung  der  Tuberkelbazillen  ermöglichen;  als  besonders  prak- 
tisch er\\ies  sich  ihm  die  Karbolsäure,  und  die  damit  hergestellte 
sogen.  Ziehl'sche  Flüssigkeit  ist  bekanntlich  heutzutage  vorzugsweise 
im  Gebrauch.  Ehrlich  hatte  das  eigenartige  Verhalten  des  Tuberkel- 
bazillus Farbstoffen  gegenüber  durch  Annahme  einer  Hülle  zu  erklären 
gesucht,  die  für  Farbstoffe  nur  unter  dem  Einfluss  von  Alkalien 
durchgängig,  für  Mineralsäuren  dagegen  undurchgängig  sei;  eine  An- 
nahme, die  Z  i  e  h  1  auf  Grund  seiner  Beobachtungen,  dass  der  Tukerkel- 
bazillus  langer  Säureeinwirkung  nicht  widersteht,  bekämpfte.  Später- 
hat dann  Ehrlich  seine  Hüllentheorie  in  der  Weise  modifiziert,  dass 
er  annahm,  dass  starke  Mineralsäuren  die  Hülle  viel  langsamer  durch- 
dringen, als  unter  dem  Einfluss  der  Beizen  die  Farbstoffe.  Der  Er- 
wähnung bedarf  aus  dieser  Zeit  auch  noch  die  Biedert 'sehe  An- 
reicherungsmethode bei  der  Untersuchung  des  Sputums  auf  Tuberkel- 
bazillen. 

Ganz  ausserordentlich  zahlreich  sind  die  Arbeiten,  die  sich  mit 
dem  Vorkommen  des  Tuberkelbazillus  in  den  einzelnen  erkrankten 
Organen  beschäftigen;  die  ersten  ausgedehnten  Untersuchungen  über 
das  Sputum  rühren  von  Fraentzel  her,  der  den  Satz  aufstellte: 
„Wo  Tuberkelbazillen  im  Sputum  gefunden  werden,  besteht  Lungen- 
tuberkulose";  wo  hingegen  trotz  wiederholter  und  genauer  Unter- 
suchung keine  Tuberkelbazillen  nachzuweisen  sind,  da  besteht,  wenn 
überhaupt  Sputa  da  sind  und  aus  den  Lungen  stammen,  entweder 
überhaupt  keine  Lungentuberkulose,  oder  es  fehlen  wenigstens 
Schmelzungsherde  in  den  Lungen,  welche  ihren  Inhalt  nach  aussen 
entleeren."  Zu  der  gleichen  Ansicht  kam  auch  B.  Fränkel,  der 
noch  hervorhebt,  dass  länger  beobachtetes  Verschwinden  der  Bazillen 
aus  dem  Sputum  ein  günstiges  Zeichen  ist,  während  bei  dem  gewöhn- 
lichen Gange  der  chronischen  Phthise  die  Menge  der  Bazillen  keinen 


910  A.  Ott. 

Anhaltspunkt  für  den  Verlauf  gibt.  Leyden  betont,  dass  bei 
Fehlen  des  Bazillus  im  Sputum  dasselbe  nicht  entscheidend  ist,  sondern 
der  klinische  Befund.  Auch  in  anderen  Organen  wurden  jetzt  häufig 
bei  tuberkulösen  Erkrankungen  die  Bazillen  gefunden,  so  bei  Nasen- 
aifektionen  von  Demme,  Seh  äff  er  und  Nasse,  im  Kehlkopf  von 
B.  Fränkel,  der  nicht  lange  vorher  als  Erster  Miliartuberkel  des 
Kehlkopfs  am  Lebenden  beobachtet  hatte,  Craemer,  Voltolini,  im 
Urogenitalsystem  durch  Nachweis  im  Harn  von  Lichtheim,  Neel- 
sen,  Smith,  Leyden  u.  A.  m. 

Als  Quelle  für  die  Ueberschwemmung  der  Blutbahn  mit  dem 
Virus  der  Tuberkulose  bei  akuter  allgemeiner  Miliartuberkulose  hatten 
Ponfick  und  namentlich  Weigert  schon  vor  Koch's  Entdeckung 
grosse  Venen-  resp.  Ductus  thoracicus-Tuberkel  erkannt;  jetzt  konnte 
Weigert  diese  Befunde  auch  noch  durch  den  Nachweis  von  Tuberkel- 
bazillen in  diesen  Gebilden  vollkommen  sicher  stellen. 

Die  anfangs  noch  sehr  umstrittene  tuberkulöse  Natur  des  Lupus 
wurde  dann  später  auf  Grund  weiterer  Untersuchungen  Koch's 
(1884)  bald  allgemein  anerkannt;  ebenso  lagen  von  der  sogenannten 
chirurgischen  Tuberkulose  die  Beweise,  dass  sie  gleichfalls  durch  den 
Tuberkelbazillus  verursacht  wird,  bald  in  sehr  grosser  Zahl  vor. 

Einen  sehr  wesentlichen  Fortschritt  verdankt  die  Lehre  von  der 
Tuberkulose  den  Untersuchungen  Com  et 's  (1888).  Derselbe  hatte 
durch  zahlreiche  Impfversuche  nachgewiesen,  dass  von  einer  Ubiquität 
des  Tuberkelbazillus  keine  Rede  sein  könne,  sondern  dass  derselbe 
sich  nur  dort  dem  Staube  beigemischt  auffinden  lasse,  wo  unreinliche 
Phthisiker  ihren  Auswurf  sorglos  auf  den  Boden  entleert  hatten;  der 
Phthisiker  sei  also  hauptsächlich  durch  seinen  Auswurf  gefährlich,  der 
auf  den  Boden  entleert,  eintrockne,  zu  Staub  werde  und  so  in  der 
Luft  schwebend,  zur  Einatmung  gelange.  Daraus  folge  für  die 
Prophylaxe,  dass  es  nötig  sei,  namentlich  in  geschlossenen  Wohnräumen 
das  Ausspeien  auf  den  Boden  unbedingt  zu  verhindern ;  zur  Aufnahme 
des  Sputums  müssen  Spucknäpfe  mit  Wasser  gefüllt  aufgestellt  und 
diese  regelmässig  in  den  Abort  entleert  oder  der  Inhalt  verbrannt 
werden.  Cornet  hatte  bald  auch  die  Genugthuung,  dass  seine  Vor- 
schläge in  den  meisten  civilisierten  Staaten  eingeführt  wurden  trotz- 
dem es  ihnen  anfangs  an  starkem  Widerspruch  nicht  fehlte. 

Im  Jahre  1890  wurde  dann  die  ganze  Welt  in  grosse  Aufregung 
versetzt  durch  die  Ankündigung  Koch's,  dass  er  ein  spezifisches 
Heilmittel  gegen  die  Tuberkulose  entdeckt  habe,  das  Tuberkulin. 
Während  er  in  seiner  ersten  Ankündigung  die  Herstellung  des  Mittels 
noch  nicht  bekannt  gab,  teilte  er  bald  mit,  dass  es  einen  glycerin- 
haltigen,  eingedickten  Extrakt  von  Tuberkelbazillenkulturen  darstellt; 
dasselbe  hat  die  Eigenschaft,  in  bestimmten  Dosen  eingespritzt,  bei 
tuberkulösen  Menschen  und  Tieren  starke,  bald  vorübergehende  Fieber- 
reaktion hervorzurufen,  die  sich  schon  in  den  allerersten  Anfängen 
der  Krankheit  zeigt,  somit  also  zur  Diagnose  benutzt  werden  kann; 
häufig  wiederholte  Injektion  sollte  dann  Heilung  des  Leidens  herbei- 
führen. Natürlich  wurde  das  Mittel  bald  allgemein  versucht  und  es 
herrschte  anfangs  eine  grosse  Begeisterung  über  dessen  Wirksamkeit, 
die  aber  leider  bald  zum  Teil  infolge  unrichtiger  Anwendung  einem 
weitgehenden  Pessimismus  Platz  machte.  Nur  einzelne  Autoren,  da- 
runter B.  Fränkel,  Goetsch  und  Petruschky,  Hessen  sich 
durch  die  Berichte  über  Misserfolge  nicht  abschrecken,  sondern  ver- 


Geschichte  der  Tuberkulose.  911 

wandten  dasselbe  in  vorsichtig-er  Dosierung  unentwegt  weiter  und  sie 
haben  die  Genugthuung,  dass  infolge  der  von  ihnen  mitgeteilten 
günstigen  Eesultate  neuerdings  langsam  die  Tuberkulinbehandlung 
wieder  an  Boden  gewinnt.  Als  diagnostisches  Mittel,  namentlich  auch 
bei  Rindertuberkulose,  blieb  dem  Tulberkulin  die  Anerkennung  erhalten. 
Im  Jahre  1897  gab  Koch  ein  neues  Tuberkulin  bekannt,  das  Tß, 
das  nach  kurzer  Prüfung  meist  ebenfalls  wieder  verlassen  wurde,  und 
endlich  im  Jahre  1901  noch  ein  anderes,  aus  zu  Staub  gemahlenen 
Tuberkelbazillen  bestehend,  das  gegenwätig  der  Prüfung  unterliegt, 
deren  Resultate  noch  nicht  abgeschlossen  sind. 

Inzwischen  erkannte  man  auch,  dass  es  sich  bei  der  gewöhn- 
lichen Lungenschwindsucht  meist  nicht  um  eine  reine  Infektion 
mit  Tuberkelbazillen  handelt,  sondern  dass,  namentlich  in  den  späteren 
Stadien,  mit  denselben  vereint,  auch  die  eitererregenden  Pilze, 
namentlich  Strepto-  und  Staphylococcen,  ihr  verderbliche  Wirksamkeit 
ausüben.  Die  Kenntnis  davon  verdanken  wir  den  Arbeiten  von 
Cornet,  Spengler,  Schabad,  Sata,  Kerschensteiner  und 
vieler  Anderen. 

Die  akute  Form  der  Lungentuberkulose,  die  sogenannte  „galoppie- 
rende Schwindsucht",  fand  (1893)  durch  Fränkel  und  Troje  eine 
sowohl  in  klinischer  wie  in  anatomischer  Beziehung  mustergültige 
Bearbeitung;  die  Verfasser  zeigten,  dass  dieselbe  nichts  anderes  dar- 
stellt, als  eine  Selbstinfektion  durch  Aspiration  grösserer  Mengen 
virulenten,  tuberkulösen  Materials  aus  einem  älteren  Spitzenherde 
nach  den  unteren  Lungenpartien. 

Auf  Grund  der  Cornet 'sehen  Untersuchungen  hatte  man  ge- 
glaubt, die  Einatmung  von  trockenem  Staub,  der  mit  Tuberkelbazillen 
verunreinigt  war,  als  die  Hauptquelle  der  Infektion  ansehen  zu  müssen. 
Demgegenüber  zeigte  Flügge  (1896),  dass  noch  eine  andere  wesent- 
liche Quelle  für  die  Infektion  existiert,  nämlich  die  von  Phthisikern 
beim  Sprechen  und  namentlich  beim  Husten  verspritzten  Tröpfchen, 
die  in  einer  grossen  Zahl  der  Fälle  lebende  Tuberkelbazillen  enthalten 
und  die  längere  Zeit  in  der  Luft  schweben  bleiben.  Ein  Mittel 
gegen  die  Infektionsgefahr  von  dieser  Seite  ist  das  Vorhalten  des 
Taschentuches  oder  der  Hand  vor  den  Mund  beim  Husten,  wodurch 
fast  alle  Tröpfchen  aufgefangen  werden.  B.  Fränkel  hat  später 
zu  diesem  Zweck  das  Tragen  von  Mundmasken  mit  Gaze  seitens  der 
Kranken  empfohlen.  Nach  anfänglich  heftiger  Bekämpfung,  namentlich 
durch  Cornet,  haben  die  Flügge' sehen  Ansichen  sich  heute  neben 
den  Cornet'schen  volles  Bürgerrecht  erworben,  namentlich  auch  in- 
folge der  zahlreichen  bestätigenden  Nachprüfungen. 

Aus  der  allerneuesten  Zeit  ist  noch  kurz  zu  erwähnen,  dass  man  auch 
in  der  Natur  vielfach  Bazillen  gefunden  hat,  welche  die  Farbenreaktion 
des  Tuberkelbazillus  geben,  ohne  echte  Tuberkelbazillen  zu  sein.  Eine 
grössere  Anzahl  von  Arten  ist  jetzt  beschrieben  und  unter  dem  Namen 
Pseudotuberkelbazillen  zusammengefasst ;  über  ihr  Verhältnis  zu  den 
echten  Tuberkelbazillen  herrscht  jedoch  noch  keine  volle  Klarheit 
(Rabinowitsch,  Petri,  Moeller,  Lubarsch  U.A.).  Beachtens- 
wert ist,  dass  man  auch  bei  einzelnen  Krankheiten  des  Menschen  der- 
artige Pseudotuberkelbazillen  gefunden  hat. 

Interessant  sind  ferner  die  Untersuchungen  von  Naegeli,  der 
bei  96 '7o  aller  Leichen  über  16  Jahre  bestehende  oder  geheilte 
Tuberkulose  fand ;  dann  die  Angaben  von  Birch-Hirschfeld,  nach 


912  A.  Ott. 

denen  der  erste  Anfang  der  Tuberkulose  ein  Geschwür  der  Bronchial- 
schleimhaut der  Bronchien  3.  bis  4.  Ordnung  darstellt.  Das  aller- 
meiste Aufsehen  haben  in  letzter  Zeit  jedoch  die  Mitteilungen 
Koch's  (1901)  erregt,  nach  denen  die  Tuberkelbazillen  des  Menschen 
und  des  Eindes  voneinander  verschieden  sein  sollen  und  eine  gegen- 
seitige Infektionsmöglichkeit  nicht  bestehen  soll,  so  dass  infolgedessen 
die  bisherigen  Massregeln  gegen  die  Uebertragung  der  Tuberkulose 
durch  die  Kuhmilch  auf  den  Menschen  sehr  an  Wert  verlören.  Eine 
überaus  lebhafte  Diskussion  hat  sich  über  diese  Frage  erhoben  und 
sie  ist,  trotz  mancher  Versuche,  bis  heute  noch  keineswegs  als  end- 
gültig gelöst  anzusehen. 

Erwähnt  sei  endlich  noch,  dass  es  von  Behring  (1902)  gelungen 
ist,  durch  Injektion  von  menschlichen  Tuberkelbazillen  in  sehr  ge- 
ringen Dosen  Einder  gegen  Eindertuberkulose  zu  immunisieren,  ein 
Verfahren,  das  im  Laboratorium  zuverlässig,  z.  Z.  in  der  Praxis  auf 
seine  Brauchbarkeit  in  ausgedehntem  Masse  erprobt  wird. 

Wie  anfangs  erwähnt,  sah  bereits  Hippokrates  die  Lungen- 
schwindsucht als  heilbar  an  und  er  hat  auch  schon  den  Aufenthalt  in 
frischer  Luft,  speziell  auf  den  Bergen  und  an  der  See,  sowie  gute  Er- 
nährung als  Heilmittel  empfohlen.  Lange  Zeit  war  diese  Erkenntnis 
in  Vergessenheit  geraten  und  noch  in  der  Mitte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  war  in  den  Augen  der  Aerzte  die  Diagnose  Lungen- 
schwindsucht gleichbedeutend  mit  einem  Todesurteil.  Man  spricht 
gewöhnlich  Brehmer  (1868)  das  Verdienst  zu,  die  Heilbarkeit  der 
Schwindsucht  neu  entdeckt  und  ihre  Behandlung  durch  hygienisch- 
diätetische Mittel  neu  eingeführt  zu  haben.  Nach  den  Angaben  von 
Tucker-Wise  ist  es  indesen  zweifellos,  dass  1835  bereits  der  eng- 
lische Arzt  Bodington  eine  Anzahl  von  Patienten  auf  diese  Weise 
behandelt  hat;  trotz  guter  Erfolge  gab  er  die  Sache  jedoch  infolge 
vielfacher  Anfeindungen  bald  wieder  auf.  Brehmer  hat  das  grosse 
Verdienst,  die  Sache  konsequent  weiter  verfolgt,  die  Methode  der 
Sanatoriumsbehandlung  ausgebildet  und  dem  ganzen  Verfahren  Aner- 
kennung verschafft  zu  haben,  eine  Anerkennung,  die  lange  Zeit  nur 
gering  war,  die  ihr  jetzt  aber,  durch  die  Erfolge,  wie  sie  Dett- 
w  eil  er,  Turban  u.  A.  erzielten,  nirgends  mehr  versagt  wird. 

Seit  Koch's  Entdeckungen  des  Tuberkelbazillus  und  speziell  seit 
den  Corn  et 'sehen  Untersuchungen  über  sein  Vorkommen  ausserhalb 
des  menschlichen  Körpers,  ist  man  bemüht  gewesen,  den  Kampf  gegen 
die  Tuberkulose,  die  sich  als  einer  der  furchtbarsten  Feinde  des 
Menschengeschlechtes  herausgestellt  hat,  aufzunehmen.  Haben  doch 
neuere  statistische  Untersuchungen  die  erschreckende  Thatsache  er- 
geben, dass  ^7  ^ller  Todesfälle  dieser  Krankheit  zuzuschreiben  ist. 
Während  man  sich  anfangs  darauf  beschränkte,  den  Infektionserreger 
nach  Möglichkeit  unschädlich  zu  machen,  ist  in  der  letzten  Zeit  ein 
neues  Moment  in  diesem  Kampfe  in  den  Vordergrund  getreten,  die  Sorge 
für  die  Erkrankten,  und  zwar  speziell  für  die  unbemittelten  Kranken. 
Während  die  bemittelten  Kranken  schon  sehr  früh  der  Vorteile  der 
Brehmer-Dettweiler'schen  Sanatoriumsbehandlung  sich  erfreuen 
konnten,  war  das  den  Unbemittelten,  die  doch  die  überwältigende  Mehr- 
zahl dieser  Leidenden  ausmachen,  wegen  des  hohen  Kostenpunktes 
nicht  möglich.  Erst  infolge  der  sozialen  Gesetzgebung  konnte  man 
in  Deutschland  daran  denken,  auch  für  diese  Kranken  im  weiten 
Masse  fürsorgend  einzutreten.    Aus  diesem  Gesichtspunkte  heraus  hat 


Geschichte  der  Tuberkulose.  913 

sich  die  deutsche  Heilstättenbewegung  entwickelt,  deren  Anfänge  bereits 
bis  in  das  Jahr  1889  zurückreichen,  wo  Leyden  und  B.  Fränkel 
zuerst  den  Plan  fassten,  die  Errichtung  von  Heilanstalten  für  Unbe- 
mittelte zu  fördeiTi.    Verwirklicht  wurde  der  Plan  durch  die  von  Dett- 
w eil  er  (1892)  in  Falkenstein  errichtete  erste  deutsche  Heilstätte. 
Von  da  ab  mehrten  sich,  ei^t  langsam,  dann  namentlich  nachdem  die 
deutschen  staatlichen  Versicherungsanstalten  begannen  sich  der  Sache 
anzunehmen,  schneller  die  Anzahl  der  Heilstätten  für  Unbemittelte,  so 
dass  jetzt  in  Deutschland  bereits  etwa  80  solcher  Anstalten  bestehen, 
in  denen  die  Kranken  zum  Teil  zu  sehr  billigen  Preisen,  z.  T.  soweit 
sie  Versicherte  sind,  vollständig  kostenlos  aufgenommen  und  entweder 
geheilt   oder   doch   für    längere   Zeit   dem    Leben    erhalten   werden. 
Zur  Centralisierung  aller  dieser  Bestrebungen  konstituierte  sich  1896 
in  Berlin  das  deutsche  Centralkomite  zur  Errichtung  von  Heilstätten 
für  Lungenkranke,  um  das,  sowie  um  die  ganze  Heüstättenbewegung 
sich  namentlich  B.  Fränkel,  von  Leyden  und  Pannwitz  hoch- 
verdient gemacht  haben.    Durch  deren  Initiative  wurde  auch  im  Jahre 
1899  in  Berlin  der  glänzend  verlaufene  Kongress  zur  Bekämpfung  der 
Tuberkulose  als   Volkskrankheit  zu  stände  gebracht,  der  ungemein 
befruchtend  auf  das  allgemeine  Interesse  für  den  Kampf  gegen  diese 
Seuche   wirkte.     Das   deutsche  Centralkomite   beschränkt   sich   seit- 
dem nicht  mehr  auf  die  Förderung  der  Errichtung  von  Lungenheil- 
stätten, sondern  hat  die  Centralisierung  aller  Bestrebungen  auf  dem 
Gebiete  der  Bekämpfung  der  Tuberkulose  als  Volkskrankheit  in  die 
Hand  genommen.    Besondere  Erwähnung  verdienen  darunter  die  von 
B.  Fränkel  so  häufig  befürwortete  Errichtung  von  Asylen  für  un- 
heilbare Tuberkulöse,  wodurch  deren  Gefahr  für  Familie  und  Xeben- 
menschen  wirksam  unschädlich  gemacht  wird.    Unter  dem  Protekto- 
rate der  deutschen  Kaiserin  stehend,  hat  das  Centralkomite  in  ausser- 
ordentlich segensreicher  Weise  gewü'kt  und  es  berechtigt  auch  für  die 
Zukunft  unter  der  uneigennützigen  Mitwirkung  hoher  Staatsbeamter 
und  hervorragender  medizinischer  Autoritäten  zu  den  weitgehendsten 
Hoffnungen.    Als  neueste  Frucht  seiner  Bemühungen  bleibt  noch  zu 
erwähnen  die  1901  erfolgte,  der  thatkräftigen  Initiative  von  Althoff, 
B.   Fränkel,    von   Leyden    und    Pannwitz    zu    verdankende 
Gründung   des  internationalen  Centralbureaus   zur   Bekämpfung   der 
Tuberkulose,  dessen  Zweck  es  ist,  die  internationalen  Bestrebungen 
auf  diesem  Gebiete,  die  ja  allein  nur  zu  einem  erspriessHchen  Ziel 
führen  können,  in  jeder  Weise  zu  fördern. 


Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  68 


Intoxikationskrankheiteii. 

Von 

Theodor  Husemann  (Göttingen). 


Wie  man  in  älterer  Zeit  häufig  unrichtig  epidemische  Krankheiten 
als  Folge  von  Vergiftung  ansah  und  besonders  die  Pest  auf  absicht- 
liche Brunnenvergiftung  zurückführte,  hat  man  im  Gegensatze  dazu 
eine  Anzahl  epidemischer  und  endemischer  Aifektionen,  die  gegen- 
wärtig unbestritten  als  Folge  der  Einführung  teils  unorganischer,  teils 
organischer  Gifte  galten,  von  tellurischen  oder  klimatischen  Einflüssen 
abgeleitet.  Die  Erkenntnis  der  Thatsache,  dass  ihnen  die  Einführung 
von  Giften  mit  den  Speisen  oder  Getränken  zu  Grunde  liegt,  führte 
selbstverständlich  zu  geeigneten  prophylaktischen  Massregeln,  aus  denen 
namhafte  Abnahme  ihrer  Häufigkeit  resultierte,  wodurch  ihre  Be- 
deutung als  Volkskrankheit  wesentlich  verringert  worden  ist.  Indessen 
kommen  manche  in  bestimmten  Gegenden  auch  jetzt  noch  in  nicht 
unbedeutender  Ausdehnung  vor,  und  für  einzelne  ist  die  Aetiologie 
mit  Sicherheit  erst  in  den  letzten  Decennien  festgestellt  worden. 

Endemische  Kolik  (Colica  vegetabilis,  Colica  sicca  s.  intertropica). 

lAtteratur:  Hirsch^  Handb.  der  histor.  geogr.  Fathol.  III,  192  (mit  am- 
führlichen  Litteraturangaben) .  —  Lefevre,  Rec'herches  sur  la  cause  des  coliques 
Seches,  Paris  1859.  —  Cuynat,  Mem.  de  l'Acad.  de  Lyon  1843144,  20.  —  Camp- 
bell, Practit.  1885,  Dec.,  477.  —  Meese,  Amer.  med.  News  1887,  Aug.,  227.  — 
Stewart,  ebend.,  Juni,  676.  —  3Iarnata,  De  la  colique  seche  comme  manifestation 
de  Vanemie  tropicale,  Paris  1880. 

Die  in  früherer  Zeit  nicht  selten  in  einzelnen  Gegenden  euro- 
päischer Länder  als  Massenerkrankung  vorkommenden  Koliken,  die  man, 
weil  man  sie  vorwaltend  von  dem  übermässigen  Genuss  des  Obstweins 
ableitete,  als  Colica  vegetabilis  oder  auch  nach  den  einzelnen 
Gegenden,  in  denen  sie  herrschten,  als  Kolik  von  Poitou  (Colica 
Pictonum),  von  Devonshire,  von  Madrid  benannte,  haben  sich  bei 
genauerer  Untersuchung  als  Folge  von  Bleivergiftung  herausgestellt, 
wofür  schon  die  völlige  Identität  mit  dem  von  anderen  Koliken  und 
von  Darmkatarrhen  mit  Kolikschmerzen  abweichenden  Krankheitsbilde 


Intoxikationskrankheiten.  915 

der  Bleikolik  (Verstopfung,  schwarze  Stülüe)  spricht.  Das  Gift  wurde 
meist  als  organisch-saure  Verbindung  von  den  als  Getränk  dienenden 
Flüssigkeiten  aus  den  bleihaltigen  Aufbew^ahrungsgefässen  und  in  den 
Körper  aufgenommen.  In  älterer  Zeit  geschah  dies  besonders  durch 
Aufbewahrung  von  Cider  in  Gefässen  mit  schlechter  bleihaltiger  Glasur, 
in  neuerer  durch  Wasser,  das  den  "Wohnungen  der  Erkrankten  durch 
bleihaltige  Leitungsröhren  zugeführt  war.  Dasselbe  gilt  für  die  eben- 
falls als  Bleivergiftung  aufzufassenden  Massenerkrankungen  in  Nord- 
amerika, die  als  Dry-belly-ache  oder  Bilious  colic  bezeichnet 
werden,  und  den  meist  ebenso  genannten  Koliken  auf  den  Antillen,  in 
Surinam,  Cajenne  und  British  Guyana,  nui'  dass  hier  junger  Kum,  der 
bei  der  Destillation  aus  den  stark  bleihaltigen  Röhren  Blei  aufgenommen 
hatte,  vorwaltend  als  Krankheitsursache  erscheint.  Eine  selbständige 
Colica  inter tropica  (abgesehen  von  den  nicht  seltenen  Fällen  von 
Colica  stercoralis  in  den  Tropen)  existiert  nicht  und  die  aus  anderen 
tropischen  Ländern  berichteten  Fälle  von  Colica  sicca  sind  nach  Hirsch 
nur  in  Hafenstädten  an  der  Mannschaft  französischer  Kriegsschiffe, 
die  sich  auf  dem  Schiffe  Bleikolik  zugezogen  hatte,  beobachtet.  Durch 
die  Erkenntnis  der  Krankheitsursache  sind  in  den  früheren  Sitzen 
der  endemischen  Koliken  die  Koliken  so  selten  geworden,  dass  gegen- 
wärtig von  endemischer  Kolik  nirgendswo  die  Rede  sein  kann;  doch 
kommen  Massenerkrankungen  durch  bleihaltiges  Trinkwasser  u.  a. 
bleihaltige  Getränke  noch  hier  und  da  vor. 

Die  älteste  Bleikolikepidemie  ..mit  Ausgang  in  Epilepsie  oder  Paralysis" 
herrschte  im  7.  Jahrhundert  nach  Paulus  von  Aegina  in  Italien  u.  a.  Pro- 
vinzen des  römischen  Reiches.  Im  16.  Jahrhundert  beschrieb  Othraeus 
eine  durch  geschwefelten  Wein  hervorgerufene  Kolikepidemie  mit  Ikterus 
und  Konvulsionen  aus  Franken,  Burgund,  Oesterreich  und  Rhätien.  Die 
seit  1572  in  Poitou  vorkommende,  von  Citois  1639  beschriebene  Colica 
Pictonum  wurde  von  ihm  teils  von  siderischen  Einflüssen,  teils  von  der 
Qualität  des  Weines  abgeleitet.  Die  zuerst  von  Huxham  (1727)  be- 
obachtete Kolik  von  Devonshire  erkannte  Baker  1767  als  Bleikolik  infolge 
des  Genusses  von  Cider.  Schon  1843  zeigte  Cuynat,  dass  eine  endemische 
Kolik  von  Madrid  und  NeukastiHen  nicht  mehr  existiere,  sondern  nur  ein- 
zelne Bleikolikfälle  aus  verschiedenen  Ursachen,  wie  solche  auch  in  anderen 
Teilen  Spaniens  (Andalusien,  Catalonien)  vorkommen.  Das  Trinkwasser,  das 
aus  bleiernen  Leitungsröhren  stammte,  wies  zuerst  Tronchin  1757  als 
Ursache  einer  niederländischen  Kolikendemie  nach.  Im  grossen  Massstabe 
führte  solches  in  Verbindung  mit  bleihaltigem  Sodawasser  1849  in  New- 
Orleans  zu  Bilious  colic,  in  etwas  geringerem  neuerdings  1883/84  in 
Tredegar  (ilonmouthshire),  1885  in  Sheffield  und  1886/87  in  Dessau  zu 
ausgesprochenem  Satumismus.  Nach  Campbell  (1886)  kommt  in  Eng- 
land auch  jetzt  noch  endemische  Kolik  durch  bleihaltige  Obstweine  durch 
Benutzung  glasierter  irdener  Gefässe  beim  Gärenlassen  der  Früchte  vor. 
Auch  aus  Frankreich  werden  solche  durch  das  Hineinlegen  von  Bleikugeln 
als  Konservierungsmittel  in  Cider  gemeldet.  Ueber  ausgedehnte  Massen- 
vergiftungen durch  Backwerk,  dem  Bleichromat  zugesetzt  wurde,  haben 
Reese  und  Stewart  1887  berichtet.  Auch  bleihaltiges  Mehl  ist  neuer- 
dings in  Frankreich  und  Amerika  Anlass  zu  solcher  geworden. 

Die  seit  der  Einführung  der  Dampfschiffe  auf  der  französi- 
schen Flotte  in  tropischen  Gewässern  ausserordentlich  häufig  gewordene 
Schiffskolik,  die  auf  Schiffen  anderer  Stationen  selten  und  fast  nur  bei 

68* 


916  Theodor  Husemann. 

Heizern  (daher  die  englische  Bezeichnung-  Fireman's  Colic)  auftretende 
Affektion  wurde  anfangs  als  eine  durch  Erkältung  entstandene  Sym- 
pathicusneurose,  dann  als  Malariaaffektion  oder  überhaupt  als  mias- 
matisches Leiden  aufgefasst.  1859  wies  Lefevre  überzeugend  nach, 
dass  das  symptomatisch  der  Bleikolik  völlig  entsprechende  Leiden  mit 
dem  enormen  Bleikonsum  bei  Ausrüstung  der  grossen  Kriegsdampfer 
(etwa  13000  kg  Bleimetall  auf  eine  Fregatte  von  50  Kanonen,  ausser- 
dem Bleioxyd  und  Bleisalze  zu  Kitten  und  Anstrichen)  und  dem  Blei- 
gehalte des  Trinkwassers,  der  aus  den  Zuleitungsröhren  des  Trink- 
wassers stammt  und  in  den  heissen  Klimaten  noch  gesteigert  wird, 
wenn  man  zu  besserer  Durstlöschung  das  Wasser  mit  Säuren  versetzt, 
im  Zusammenhange  steht.  Nimmt  man  die  Thatsachen  hinzu,  dass  die 
in  den  französischen  tropischen  Besitzungen  gelieferten  Getränke  (Spiri- 
tuosen, Weine)  polizeilich  unkontrolliert  und  oft  bleihaltig  sind,  dass 
die  Bleikolik  nach  Tanquerel  besonders  häufig  in  der  heissen  Jahres- 
zeit auftritt,  so  ist  die  Erklärung  für  das  Beschränktbleiben  der  Colique 
seche  in  den  tropischen  Flottenstationen  gegeben.  Sie  trat  zuerst 
an  den  westafrikanischen  Stationen,  auf  Madagascar,  Eeunion  und 
den  Molukken,  und  auf  den  Südseestationen  auf,  später  auch  an  den 
Küsten  von  Cayenne  und  den  Rio  de  la  Plata-Staaten.  Nach  der  Er- 
kenntnis der  Ursache  depossedierte  die  verbesserte  Schiffshygieine  die 
Affektion  mehr  und  mehr,  so  dass  seit  1880  die  französische  medi- 
zinische Litteratur  ganz  darüber  schweigt. 

Lefevre  wies  für  die  französischen  Schiffe  ausser  dem  Angegebenen 
noch  nach,  dass  das  Maschinenfett  enorm  mit  Blei  verunreinigt  war  und 
dass  die  bei  der  Maschine  angewandten  Kühlrohre,  die  Wasserbehälter  und 
deren  Hähne  und  sogar  die  Arzneibehälter  von  Blei  waren.  Dass  manche 
tropische  Fälle  von  Kolik  ohne  Bleisaum  u.  s.  w.  auf  tropischer  Anämie 
(Marnata)  basieren,  ist  möglich,  doch  ist  jedenfalls  das  Gros  der  Colique 
seche  Bleiaffektion. 


Ergotismus  (Ignis  sacer,  Brandseuche,  Kriebeikrankheit,  Pelade). 

Litteratur:  Kohert,  lieber  die  Bestandtheüe  und  Wirkung  des  Mutter- 
korns, Lpz.  1884.  Zur  Geschichte  des  Mutterkorns,  Dorpater  Histor.  Unters.  1889, 
1,  1  (mit  vielen  Litter aturangaben).  —  Hirsch,  Histor.  geogr.  Pathol.  1883,  II,  142. 
—  K.  F.  Heusinger,  Rech,  de  Pathol.  comparee,  1846,  II,  473.  —  C  H.  Fuchs, 
Das  heilige  Feuer  des  Mittelalters,  Heckers  Ann.  1834,  XXVIII,  1  (entliält  viel 
Litteratur).  —  Marchand,  Etüde  historique  sur  quelques  epidemies  du  mögen  äge, 
Par.  1873.  —  Hecher,  Geschichte  der  neueren  Heilkunde,  1839,  287  (enthalt  nament- 
lich Litteratur  aus  dem  16.  und  17.  Jahrhundert).  —  Thuillier,  Journ.  des  savants, 
1676,  IV,  79.  —  Lang,  Beschreibung  des  biss  dahin  dasigen  Orten  niemahls  er- 
hörten und  zu  Zeiten  sehr  schädlichen  Genusses  der  Kornzapfen  in  dem  Brodte  u.  s.  w.. 
Lucern  1717.  —  Salerne,  Mem.  de  VAcad.  des  Sc.  1747,  II,  155.  —  Bouchet, 
Journ.  de  Med.  1762,  XVII,  327.  —  Jtead,  Traite  du  seigle  ergote,  Strasb.  1771.  — 
Jussien,  Faulet,  Saillant  et  Tessier,  Mem.  de  la  Soc.  de  Med.  de  Paris,  Annee 
1776,  260.  —  Bordot,  Considerations  med.  sur  le  seigle  ergote,  Paris  1818.  — 
Courhaut,  Traite  de  Vergot  du  seigle,  Chalons  SjSadne  1827.  —  JBai^ier, 
Gaz.  med.  de  Lyon,  1855,  Nr.  10.  —  Bald.  Rousseus,  Opusc.  med.  1618, 
abgedr.  bei  Schenck,  Obs.  med.  lib.  VI,  1565,  830.  —  Von  einer  ungewöhn- 
lichen und  bis  anhero  in  diesen  Landen  unbekannten,  gifftigen,  ansteckenden 
Schivacheit,  welche  der  gemeine  Mann  dieser  Art  in  Hessen  die  Kribelkrankheit, 
Krimpfsucht  oder  ziehende  Seuche  nennet  u.  s.  w.,  Marburg  1597.  —  Brunner, 
Ephemerid.  Acad.  Leopold,  Dec.  III,  Ann.  II,  Obs.  224,  1699.  —  Casp.  Schwenck- 
feldt,  Theriotroph.,  Siles.,  Liegn.  1615,  334.  —  Lh'awitz,  Bericht  und  Unterricht 
vom  schmerzmachenden  Scharbock,  Leipz.  1647.  —  Wedel,  resp.  Wolf,  Diss.  de 
morbo    spasmodico   maligno,    in   Saxonia,    Lusatia    etc.   grassante,    Jen,  1717.    — 


Intoxikationskrankheiten.  917 

ScHnci,  Sat.  med.  Sites.  IV,  35  (1736).  —  Bergen,  resp.  Müller,  De  morbo 
epidemico  spasmodico  convtilsivo,  Francof.  ad  Viadr.  1742.  —  Lentin,  Beiträge  zur 
Geschichte  der  Kriebelkrankheit  im  J.  1770,  1771.  —  Taube,  Geschichte  der  Kriebel- 
krankheit  u.  s.  «•.,  Göttingen  1771  (HaupticerkJ.  —  Tissot,  Philosoph.  Transact.  1765, 
Vol.  L,  106.  —  Zitntnemiänn,  V.  d.  Erfahrung  in  der  Arzneikunst,  Zur.  1764, 
469.  —  Lorinser,  Ursache  und  Beobachtungen  über  die  Wirkungen  des  Mutter- 
korns, Berl.  1834.  —  W.  Diez,  Versuche  über  die  Wirkungen  des  Mutterkorns, 
Tübing.  1832.  —  27«.  O.  Heiisinger,  Studien  über  den  Ergotismus,  Marb.  1846. 

—  Chriepenkerl,  Casp.  Vierteljahrsschr.  1853.  XIII,  1.  —  Meyr,  Wochenschr. 
Wien.  Aerzte  1861,  377.  —  Siemetis,  Arch.  f.  Psychiatr.  1880.  XI  108.  — 
Tuczeck,  ebend.  1882,  XIU,  99;  1887,  XVni  H.  2.  —  Hedborn,  Upsala  läk. 
Förenings  Förhandl.  1890,  XXVII,  363  (für  die  älteren  und  neueren  schwedischen 
Ergotismusfälle  wichtig).  —  C.  von  JffKWtnian,  Fenska  Läk.  Sällok.  Hctndl.  1, 1. 

—  Krysinski,  Pathol.  und  krit.  Beitr.  z.  Mutterkornfrage,  Jen.  1880  (ausführl. 
aiphabet.  Litteraturverzeichnis).  —  Crrünfeld,  Dorp.  histor.  Unters.  1889,  I,  48, 
Janus  1898.  I,  104  (für  die  neueren  russischen  Epidemien  wichtig).  —  Iteulhif 
Journ.  de  Chim.  med.  1829,  V,  608. 

Die  wichtigste  aller  Intoxikationskrankheiten  ist  die  durch  Bei- 
mengung reichlicher  Mengen  der  unter  dem  Namen  Mutterkorn  be- 
kannten Pilzbüdung,  die  in  gefährlicher  Quantität  sich  besonders  am 
Eoggen,  bisweilen  auch  an  der  Trespe  und  in  Schweden  an  der  Gerste, 
vorwaltend  in  nassen  Sommern  und  auf  sumpfigem,  feuchtem  Boden 
entwickelt,  zum  Getreide  und  Benutzung  des  aus  dem  damit  ver- 
unreinigten hergestellten  Brotes  oder  anderer  Speisen  hervorgerufene 
Ergotismus.  Die  durch  die  Benennungen  Brandseuche,  Ergo- 
tismus gangraenosus- und  Kriebelkrankheit  oder  Krampf- 
seuche, Ergotismus  convulsivus  symptomatologisch  deutlich 
gekennzeichneten  beiden  Formen  sind  unter  den  durch  schädliches 
Getreide  hervorgerufenen  Morbi  ce reales  derartig  vorwaltend,  dass 
man  dahin  verschiedene  Massenerkrankungen  im  Altertum  bezogen 
hat,  obschon  diese  entweder,  wie  die  von  Caesar  erwähnte  Epidemie 
von  Massilia  infolge  Gebrauchs  alter  Hirse  und  verdorbener  Gerste, 
gar  nicht  beschrieben  sind  oder  wie  die  bei  P  r  o  k  o  p  erzählte  Massen- 
erkrankung mit  gastrischen  Symptomen,  welche  schlechtes  Brot  bei 
den  von  Belisar  gegen  die  Vandalen  geführten  Truppen  hervorrief, 
weder  das  für  Ergotismus  gangraenosus  charakteristische  brandige 
Absterben  von  Gliedmassen  noch  die  krampfhaften  Erscheinungen  der 
Kriebelkrankheit  darboten.  Für  die  Deutung  der  Morbi  cereales  des 
Altertums  ist  aber  das  Mutterkorn  überhaupt  auszuschliessen,  weil 
Roggen  bei  Hellenen  und  Eömern  nicht  kultiviert  wurde. 

Die  Roggenkultur  fand  in  den  ersten  Jahrhunderten  n.  Chr.  in  Italien  nur 
bei  den  Taurineru  (Piemont)  und  auf  der  Balkanhalbinsel  nur  in  Thrakien 
und  Makedonien  statt  (Plinius,  Galen).  Der  Eoggen  war  im  Altertum  so 
unbekannt,  dass  dessen  römische  und  griechische  Bezeichnungen  (secale, 
centenum,  ßQiCcc)  sich  nur  an  drei  Stellen  alter  Schriftsteller  finden!  Nur 
so  ist  es  begreiflich,  dass  die  Alten  das  auffällige  Gebilde  des  Mutterkorns 
nicht  beschrieben  haben,  weil  sie  es  eben  nicht  kannten.  Man  ist  daher 
unberechtigt,  die  unzweifelhaft  auf  andere  Getreidearten  zurückzuführenden 
Massenerkrankungen  im  Altertum,  für  welche  bald  verdorbenes,  bald  mit 
Lolch  (aiga)  vermengtes  Korn  als  Ursache  in  Anspruch  genommen  wird, 
für  Ergotismus  zu  halten. 

Nach  der  Verbreitung  des  Eoggens  als  Kulturpflanze  im  frühen 
Mittelalter  kam  es  nach  nassen  und  kalten  Sommern,  wenn  viel  Mutter- 
korn sich  gebildet  und  im  übrigen  Misswachs  eingetreten  war,  zu 
zahlreichen  oft  ausserordentlich  mörderischen  Massenerkrankungen,  der 


918  Theodor  Husemanii. 

brandigen  Form  des  Ergotismus.  Diese  zeigten  die  Eigentümlichkeit, 
dass  sie  sich  auf  gewisse  Landstriche  beschränkten,  wo  sie,  oft  durch 
grosse  Zeiträume  getrennt,  stets  mit  denselben  charakteristischen  Sym- 
ptomen wieder  auftraten  und  Furcht  und  Schrecken  verbreiteten.  Be- 
sonders wurden  verschiedene  Provinzen  Frankreichs  und  der  Nieder- 
lande von  der  Krankheit  heimgesucht,  die,  anfangs  schlechtweg  als 
Pest  bezeichnet,  später  mit  dem  wahrscheinlich  dem  im  Mittelalter 
soviel  gelesenen  Virgil  entlehnten  Namen  „heiliges  Feuer",  Ignis 
s  a  c  e  r  und  analogen  auf  das  langsame  Vergehen  der  Gliedmassen  oder 
auch  auf  die  brennenden  Schmerzen  hindeutenden  Benennungen  belegt 
wurde.  Vom  Ende  des  11.  Jahrhunderts  an  ist  der  Name  Ignis 
Sancti  Antonii  gebräuchlich,  der  im  Zusammenhange  mit  der  1089 
durch  Gas  ton  geschehenen  Gründung  eines  zur  Pflege  der  an  Ignis 
sacer  Leidenden  bestimmten  Ordens  des  heil.  Antonius  in  Vienne 
und  dem  Glauben  an  die  Wunderthätigkeit  der  daselbst  aufbewahrten 
Eeliquien  dieses  Heiligen  steht. 

Der  Name  Feu  sacre  neben  „les  ardents",  „mal  des  ardens" 
und  „Ignis  plaga"  findet  sich  zuerst  bei  einer  in  Paris  vorgekommenen 
Epidemie.  Später  erscheinen  die  Namen  Clades  s.  pestis  igniaria,  Ignis 
silvaticus,  I.  invisibilis,  I.  divinus,  I.  judicialis  und  I.  infernalis.  Neben 
dem  heiligen  Antonius  gälten  auch  die  heilige  Jungfrau  und  verschiedene 
andere  Heilige  als  wunderthätig  bei  dem  Leiden,  woher  sich  die  Namen 
Ignis  Beatae  Mariae,  I.   Sti.  Firmani,   I.  Sti.   Martialis  ableiten. 

Die  Epidemien  des  Ignis  sacer  sind  von  keinem  medizinischen  Schriftsteller 
des  Mittelalters,  sondern  nur  von  Chronisten  erwähnt  und  kurz  beschrieben.  Die 
klassische  Medizin  gebrauchte  den  Namen  in  einem  anderen  Sinne,  in  ivelchem  er 
auch  fast  durchgängig  bei  den  mittelalterlichen  Aerzten  sich  findet.  Nur  Virgil 
benutzt  ihn  in  der  Georgica  für  eine  auf  den  Menschen  übertragbare,  mit  brennen- 
den Blattern  beginnende,  überaus  gefährliche  Tierkrankheit,  vermutlich  die  nämliche, 
welche  Colutnella  als  bei  Schafen  grassierend  bezeichnet  und  die  man  sicher  als 
Milzbrand  zu  deuten  berechtigt  ist.  Celsits  versteht  tmter  I.  s.,  den  er  den  bös- 
artigen TJlcera  anreiht,  zioei  Formen  von  Hautausschlägen,  die  Fuchs  als  Eczema 
imj)etiginodes  und  E.  chronicum  cruris  deutet;  andere  fassen  die  eine  als  Herpes 
esthiomenos.  Plinius  hebt  deutlich  als  eine  Art  des  I.  s.  die  Gürtelrose  hervor, 
daneben  diverse  Herpesformen  („alii  serpentes^^).  Die  mittelalterlichen  Aerzte  iden- 
tifizieren I.  s.  meist  mit  Erysipelas  (vgl.  Collectio  Salernit.  IV,  pag.  367) ;  in  den 
mittelalterlichen  Uebersetzungen  des  Hippokrates  tmd  Galens  ist  Erysipelas  stets 
mit  Ignis  sacer  wiedergegeben.  Der  salernitanische  .Tractatus  de  curatione  aegri- 
tudinum  unterscheidet  I.  sacer  und  I.  infernalis,  ersterer  wird  mit  Wegerichblättern, 
letzterer  mit  Katerfett  behandelt.  Durch  die  Uebersetzungen  arabischer  Aerzte,  in 
specie  des  Avicenna,  kam  dann  auch  der  Ignis  per sicus,  bei  Avicenna  eine  Art 
des  Anthrax,  in  die  medizinischen  und  chirurgischen  Werke  des  Occidents  und 
wurde  vielfach  mit  Ignis  sacer  zusammengeicorfen,  z.  B.  von  K.  v.  Megenherg 
(„gtiot  vor  den  nagenden  sichtum,  der  ze  latein  ignis persicus  heisst,  und  haizent  in 
etlich  laien  daz  hellisch  feuer").  Sehr  genau  unterscheidet  Heinrich  von  3Ionde- 
ville  in  seiner  Chirurgie  (ed.  Paget,  p.  480—481)  das  Antonsfeuer  und  den  Ignis 
persicus,  indem  er  ersteres  ausdrücklich  für  identisch  mit  dem  unter  dem  Namen 
Herpes  esthiomenos  beschriebenen  Brande  der  Extremitäten  erklärt.  Nach  ihm  wird 
der  Herpes  esthiomenos,  von  dem  er  verschiedene  Formen,  darunter  eine  durch  Er- 
frieren und  eine  andere  durch  zu  feste  Verbände,  unterscheidet,  und  von  ivelchem 
er  sagt,  dass  er  mit  Schwärze  der  Glieder  und  schrecklichem  Foetor,  den  er  als  dem 
Leichengeruche  identisch  erklärt,  einhergehe,  in  Frankreich  „malum  nostrae  Dominae", 
in  Italien  und  Burgund  „malum  Sancti  Antonii",  in  der  Normandie  „malum  Sancti 
Laurentii"  und  in  anderen  Gegenden  in  verschiedener  Weise  benannt.  Dass  Ignis 
Sancti  Antonii  bis  in  das  16.  Jahrhundert  hin  als  Bezeichnung  für  Brand  ge- 
braucht icurde,  beiccist  das  Feldarzneibuch  von  v.  H.  Gersdorf  (1517). 

Als  älteste  Epidemie  des  heiligen  Feuers  erscheint  eine  857  am  Rhein 
grassierende,    in    den  Annales  Xantenses    beschriebene  Seuche,    bei    welcher 


lutoxikationskrankheiten.  919 

schwellende  Blasen  (vesicae  turgescentes)  auftraten  und  entsetzliche  Fäul- 
nis zum  Abfallen  der  Gliedmassen  vor  dem  Tode  führte.  An  diese  reiht 
sich  zunächst  die  schon  erwähnte  Pariser  Epidemie  von  951.  Vom  Ende  des 
10.  bis  in  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  haben  wir  zahlreiche  Epidemien 
in  verschiedenen  französischen  Provinzen  und  angrenzenden  Gebieten,  die 
sämtlich  durch  brandiges  Absterben  der  Glied massen  sich  charakterisieren. 
"\\'ir  finden  grössere  Epidemien  in  Guyenne,  Angoumois,  Perigord  und 
Limousin,  wo  40  000  Menschen  daran  gestorben  sein  sollen,  996  in 
Lothringen  und  Burgund,  1009  in  Flandern,  wo  der  Ignis  sacer  in  Cambray 
und  Valenciennes  mehrere  tausend  Menschen  dahinraffte,  1042  in  Lothringen, 
besonders  in  Verdun,  sehr  verbreitet  1085 — 1089  in  Flandern,  Lothringen 
und  in  der  Dauphine,  wo  1099  alle  Befallenen  gestorben  sein  sollen.  1109 
treffen  wir  den  Ignis  sacer  in  der  Sologne,  ausserdem  in  der  schon  1118 
wieder  affizierten  Dauphine,  1128  und  1129  in  Paris,  wo  die  Zahl  der 
Opfer  auf  14  000  angegeben  wird,  in  Chartres,  Soissons,  Cambray,  Arras  u.  a. 
französischen  Orten,  1141  in  Paris,  1152  in  den  verschiedensten  Teilen 
von  Frankreich ;  dann  erscheint  das  Leiden  erst  wieder  nach  einem  hundert- 
jährigen Intervalle  1245  in  Poitou  und  1251  in  Marseille,  wo  der  Name 
Ignis  infernalis  gebraucht  wird,  dann  wiederum  100  Jahre  später  in  der 
Bretagna  (1347  und  1373),  endlich   1530  in  Paris, 

Bei  keiner  Epidemie  von  Ignis  sacer  wurde  die  Ursache  des 
Leidens  erkannt  und  selbst  die  Natur  als  Morbus  cerealis  wird  nirgendswo 
betont,  obscbon  allerdings  eigentümliches  Aussehen  des  Brotes  z.  B. 
blutrote  Färbung  in  der  Epidemie  von  1089  und  1125  Beimengung 
von  dunklem  verderbtem  Korne  angegeben  wird  und  ausserordentlich 
häufig  ein  Zusammenhang  mit  dem  Missraten  der  Ernte  und  dem  für 
die  Mutterkornbildung  überaus  günstigen  nassen  Sommern,  die  z.  B. 
945,  1042,  1085,  1086,  nach  Fuchs  sogar  16  mal  unter  29  Ignis  sacer 
Jahren  hervorgehoben  wird,  unverkennbar  ist.  Erst  1630,  als  in  dem 
im  Mittelalter  wiederholt  von  Ignis  sacer  heimgesuchten  unfruchtbaren 
Landstriche  des  Orleannais,  der  Sologne,  w^elche  der  Landseuche  die 
französische  Benennung  Gangrene  des  Solognais  verschaffte, 
eine  Yolkskrankheit  mit  den  Erscheinungen  des  brandigen  Abstossens 
von  Fingern.  Zehen,  Füssen,  Händen,  ja  Armen  und  Beinen  auftrat, 
wies  Thuillier  der  Vater  nach,  dass  das  Mutterkorn,  dessen 
Giftigkeit  er  bei  Tieren  experimentell  darthat,  die  Ursache  sei. 

An  diese  Epidemie  reihten  sich  in  Frankreich  1650,  1670  und  1674 
drei  weitere,  die  konstant  in  der  Sologne,  aber  auch  in  Guyenne.  Gatinais 
und  vorzüglich  in  Montargis  vorkamen.  Auch  bei  der  letzten  Epidemie 
sprach  sich  der  von  der  Academie  nach  der  Sologne  gesandte  Dodart 
dafür  aus,  dass  es  sich  nicht  um  Skorbut,  sondern  um  Mutterkornvergiftung 
handle.  1709  finden  wir  nach  einem  kühlen  und  nassen  Sommer  dasselbe 
Leiden  in  der  Umgegend  von  Orleans  und  Blois  und  gleichzeitig  in  einigen 
Kantonen  der  Schweiz  (Luzern,  Bern,  Zürich),  wo  auch  schon  1674  und 
1716  Ergotismus  gangraenosus  beobachtet  wurde  und  wo  jetzt  Lang  auf 
die  Beziehungen  zu  den  Kornzapfen  (Mutterkorn)  hinwies.  Eine  1710  in 
der  Dauphine  und  in  Languedoc  grassierende  Epidemie,  die  in  400  Ge- 
iieinden  etwa  2400  Personen  ergriff,  ist  besonders  durch  den  Umstand 
iierkwürdig,  dass  man  in  der  Abtei  des  heil.  Antonius  zu  Vienna  in  der 
Affektion  den  Ignis  Antonii  wieder  erkannte,  zu  dessen  Bekämpfung  dort 
1089  der  Orden  des  heil.  Antonius  gegründet  war.  1747  war  der  Ergo- 
tismus nach  F  ödere   in    der  Sologne    so  heftig,    dass    ihm    in  kurzer  Zeit 


920  Theodor  Husemann. 

8000  Menschen  erlagen.  1749/50  herrschte  er  in  der  Umgegend  von  Lille, 
1764  in  Arras  und  Douai,  1770  in  Maine,  1770  und  1774  wieder  in  der 
Sologne. 

Nachdem  Mulcaille  1748  nach  seinen  Beobachtungen  im  Gati- 
nais  und  Read  auf  Grund  seiner  Studien  in  Arras  das  Mutterkorn 
als  Ursache  der  Brandseuche  erwiesen,  zeigte  1776  Salerne,  dass 
man  durch  das  Mutterkorn  auch  bei  Schweinen  und  Hühnern  Brand 
erzeugen  könne.  Nach  der  1774  er  Epidemie,  welche  die  Französische 
Akademie  zu  der  Untersuchung  der  Gangrene  des  Solognais  durch  eine 
aus  Faulet,  Jussieu,  Saillant  und  Tessier  bestehende  Kom- 
mission veranlasste,  die  ebenfalls  zu  der  Ansicht  gelangte,  dass  es  sich 
um  Mutterkornvergiftung  handle  und  zugleich  die  Brandseuche  mit 
der  Ignis  plaga  von  945  identifizierte,  vergingen  40  Jahre  bis  zum 
Wiederauftreten  derselben,  das  1813,  1814  und  1816  in  der  Dauphine 
(Dep.  de  l'Isere),  Burgund  (Dep.  Cöte  d'or  und  Saone-et-Loire)  und 
Bourbonnais  (Dep.  AUier)  erfolgte.  Eine  weitere  grössere  Epidemie 
wurde  1855  in  den  Departements  Isere,  Loire,  Haute  Loire,  Ardeche 
und  weniger  ausgedehnt  im  Departement  du  Ehone  beobachtet. 

Die  Identität  des  Ignis  sacer  mit  dem  Ergotismus  gangraenosus  ist  in 
Frankreich  seit  1776  allgemein  festgehalten,  während  man  ausserhalb  Frank- 
reichs sehr  verschiedene  Deutungsversuche  machte,  die  1834  Fuchs  mit 
grosser  Gründlichkeit  zurückwies.  Die  Mehrzahl  dieser  Deutungen  fällt 
schon  deshalb  weg,  weil  man  Ignis  sacer  mit  fieberhaften  Krankheiten, 
z.  B.  Bubonenpest  (Pfeufer),  Scharlach  (Hensler),  Pocken  (Moore, 
Krause),  Erysipelas  gangraenosum,  Karbunkelfieber  (Schnurr er)  iden- 
tifizierte. Nach  den  Schilderungen  der  Chronisten  ist  der  Ignis  sacer  aber 
ein  Morbus  tabificus,  der  nur  ausnahmsweise  rasch  tötet.  Gegen  alle  diese 
Krankheiten  spricht  aber  das  mehr  endemische,  auf  bestimmte  Landstriche 
beschränkte  Auftreten,  in  denen  noch  jetzt  Ergotismus  gangraenosus  vorkommt. 
Dass  es  sich  um  einen  Morbus  cerealis  handelt,  beweist  ausser  den  oben  ge- 
gebenen Daten  auch  der  Umstand,  dass  die  Krankheit  meist  in  Hungerjahien 
unmittelbar  nach  der  Ernte,  wo  notorisch  das  Mutterkorn  am  giftigsten  ist, 
auftrat  und  dann  in  der  Regel  bis  zum  folgenden  Frühjahre,  wo  andere  frische 
vegetabilische  Kost  zu  haben  ist,  und  nur  wenn  die  Ernte  zweimal  hinter- 
einander missriet,  dauerte  der  Ignis  sacer  zwei  Jahre.  Dasselbe  Verhalten 
zeigen  auch  der  Ergotismus  gangraenosus  und  die  Kriebelkrankheit,  die 
auch  das  mit  dem  Ignis  sacer  gemeinsam  haben,  dass  die  Kranken  durch 
Versetzen  in  bessere  Nahrungsverhältnisse  (im  Ignis  sacer  durch  den  Aufent- 
halt in  Hospitälern  der  Klöster,  die  im  Mittelalter  allein  Kornmagazine 
hatten  und  denen  in  der  Regel  das  beste  Korn  geliefert  wurde)  sich  wesent- 
lich besserten,  aber  bei  Rückkehr  in  ihre  früheren  Verhältnisse  sich  wiederum 
verschlimmern.  Allerdings  passt  dies  auch  für  sonstige  Morbi  cereales  und 
insbesondere  für  den  Skorbut,  für  den  die  Brandseuchenepidemien  des 
18.  Jahrhunderts  vielfach  gehalten  sind  und  zu  welchem  möglicherweise 
einzelne  nicht  genau  beschriebene  Epidemien  des  Ignis  sacer  gehören, 
während  andere,  wie  die  häufig  als  die  erste  Ignis  sacer-Epidemie  bezeich- 
nete Seuche  des  Gregor  von  Tours  (551)  mehr  den  Charakter  der  Dysenterie 
mit  einem  kritischen  Ausschlage  haben.  Sicher  fehlt  an  den  Ignis  sacer- 
Epidemien  die  für  Skorbut  charakteristische  "Wundafi'ektion  und  die  multiplen 
Blutungen,  und  wenn  man  auch  zugeben  kann,  dass  man  die  beim  Skorbut 
zu  beobachtenden  Hauthämorrhagien  und  die  daraus  resultierende  Färbung 
mit    dem    oft    beim   Ignis    sacer    hervorgehobenen    Kohlschwarzwerden    der 


Intoxikationskrankheiten.  921 

Extremitäten  und  die  skorbutischen  Geschwüre  an  den  Beinen  mit  Gangrän 
verwechselt  habe,  so  ist  doch  der  beim  Ignis  sacer  und  der  Gangrene  des 
Solognais  in  eklatanter  Weise  hervortretende  trockene  Brand,  wodurch 
einzelne  Finger  und  Zehen,  ja  selbst  ganze  Extremitäten,  oft  ohne  besondere 
Reaktion  und  ohne  Wissen  des  Kranken  abstiessen,  eine  beim  Skorbut  nicht 
vorkommende  Erscheinung. 

K.  F.  H  e  u  s  i  n  g  e  r  u.  a.  haben  für  manche  als  Skorbut  beschriebene 
deutsche  und  belgische  Epidemien  vermutet  dass  es  sich  um  Ergotismus 
gangraenosus  handelte.  Am  meisten  Wahrscheinlichkeit  hat  dies  für 
eine  1483  bei  Meissen  und  im  Mansfeldischen  herrschende  Seuche. 
Für  die  Mehrzahl  deutscher  Skorbutepidemien  ist  dies  aber  sehr 
problematisch,  weil  in  Deutschland  die  konvulsive  Form  des  Ergotis- 
mus an  Stelle  der  gangränösen  tritt,  so  dass  reine  Epidemien  der 
Brandseuche  seit  dem  16.  Jahrhundert  bestimmt  nicht  vorgekommen 
sind.  Solche  lassen  sich  ausserhalb  Frankreichs,  wo  der  Ergotismus 
gangi-aenosus  am  häufigsten  im  mittleren  und  oberen  Stromgebiete  der 
Loire  (nach  Hirsch  unter  47  Epidemien  4 mal),  danach  im  Strom- 
gebiete der  Ehone  (13  unter  47)  herrschte,  nur  in  Spanien  und  Russ- 
land, wenige  Fälle  in  England  (1110,  1128,  1672)  und  in  Mähi-en 
(1856)  nachweisen. 

In  Spanien  wird  schon  991  eine  Epidemie  von  Ignis  sacer  erwähnt. 
Noch  159U  fanden  sich  dort  in  verschiedenen  Eremitagen  des  heil.  Antonius 
mumifizierte  Arme  und  Beine,  welche  die  von  Ignis  sacer  Befallenen  dort 
aufgehängt  hatten.  Dasselbe  wird  1730  aus  Yienne  berichtet.  In  Ungarn 
scheint  in  dem  Mutterkornjahre  1770  für  Skorbut  gehaltene  Brandseuche 
im  Zempliner  Komitat  geherrscht  zu  haben.  In  Russland  trat  die  Brand- 
seuche 1785 — 1786  im  Gouv.  Kiew,  1834  bei  den  donischen  Kosaken  und 
1871  und  1873  im  Gouv.  Charkow  auf. 

In  die  medizinischen  Lehrbücher  gelangte  der  von  Lang  1717 
genau  beschriebene  Ergotismus  gangraenosus  zuerst  durch  Sau  vages 
nach  der  ausführlichen  Darstellung  von  Salerne  unter  dem  Namen 
Necrosis  ustilaginea.  Bouchet  (1762)  unterschied  zuerst  drei 
Stadien,  von  denen  das  erste  durch  Kriebelgefühl  und  Kontrakturen 
an  die  konvulsive  Form  erinnerte  und  welche  auch  1814  von  Bordot 
und  Courhaut  in  ihren  Beschreibungen  festgehalten  werden.  Dass, 
wie  dies  schon  in  den  Ignis  sacer-Epidemien  vorkommt,  neben  trocknem 
Brande  auch  feuchter  Brand  beobachtet  wird,  hat  neuerdings  (1855) 
Barrier  bestätigt.  Wie  sehr  übrigens  die  Mortalität  in  diesem  Jahr- 
hundert heruntergegangen  ist,  lehrten  namentlich  Cour h au ts.  Re- 
sultate, wo  von  300  Schwerkranken  nur  einer  starb;  auch  die 
wenigen  günstigen  Resultate  der  Aerzte  dieser  Zeit  lassen  sich  nicht 
mit  den  Mortalitäten  des  vorigen  Jahrhunderts  vergleichen,  wo  z.  B. 
1747  von  120  im  Hotel  Dieu  in  Orleans  behandelten  Kranken  nur  5 
am  Leben  blieben. 

Für  die  konvulsive  Form  des  Ergotismus  sind  besonders  Deutsch- 
land, Schweden,  Finnland  und  Russland  der  Hauptsitz  gewesen.  Nur 
ganz  vereinzelt  kam  sie  1851  in  Norwegen  vor.  Von  62  von  Hirsch 
gesammelten  Epidemien  aus  der  Zeit  von  1581 — 1879  (darunter  8  an 
bedeutender  Ausdehnung)  fallen  29  (davon  5  grössere)  auf  Deutschland. 
Hier  wurde  die  Krankheit  zuerst  von  Balduinus  Ronsseus  nach 
einer  1581  in  der  Parochie  Hankensbüttel  bei  Gifhom  im  Lüneburgschen 


922  Theodor  Husemann. 

vorgekommenen  Epidemie,  bei  der  123  Personen  in  2  Dörfern  starben, 
als  morbus  novus  et  inauditus  beschrieben.  Seine  Beschreibung  giebt 
sowohl  über  die  Art  der  Krämpfe  als  über  andere  Symptome,  z.  B. 
die  eigentümliche  Bulimie  und  die  als  Nachkrankheiten  auftretenden 
Neurosen  und  Psychosen  genaue  Auskunft,  gedenkt  aber  nicht  des  für 
das  Vorläuferstadium  charakteristischen  Kriebelns,  welches  der  Krank- 
heit in  einer  späteren  Epidemie  des  16.  Jahrhunderts  (1596),  wo  die 
Seuche  im  Kölnischen,  in  Wittgenstein  und  Waldeck,  Westfalen,  Anna- 
burg, Koburg  und  im  Breisgau  herrschte,  den  Namen  Kriebelk rank- 
heit verschaffte,  der  alle  übrigen  früher  oder  später  aufgekommenen 
Namen  verdrängt  hat. 

So  auch  den  Namen  „das  Kromma'-\  der  ihr  in  Schlesien,  wo  sie  1589  und 
1592  in  der  Gegend  von  Hirschberg,  Schmiedeberg  und  Landeshut  epidemisierte, 
beigelegt  wurde,  ferner  die  Benennungen  Hiebelkrankheit,  Krampfsucht,  Krimpf- 
sucht,  ziehende  Seuche,  Ziehe  oder  Ziehekrankheit,  loie  sie  1717  in  der  Lausitz  und 
noch  gegenivärtig  in  Schiveden  [Dragsjuka]^)  heisst,  Kornstaupe,  Schwerenotskrank- 
heit, Bauernkrankheit  u.  a.  m. 

Von  den  ausserordentlich  zahlreichen  Epidemien  ist  die  der  Jahre 
1770/71  durch  die  musterhafte  Schilderung  der  von  Taube  in  der 
Umgegend  von  Celle  beobachteten,  auf  600  Personen  (mit  97  Todes- 
fällen) sich  erstreckenden  und  durch  ihre  bedeutende  Ausdehnung  die 
hervorragendste.  Besonders  betroffen  sind  in  den  übrigen  ausser  Han- 
nover und  Braunschweig  Westfalen,  Schlesien,  Sachsen,  die  Mark, 
Holstein,  Böhmen  und  in  der  neuesten  Zeit  Oberhessen,  wo  1855/56 
von  102  12  tödlich  endeten  und  1879,  wo  in  15  Ortschaften  des 
Kreises  Frankenberg  500  Menschen  erkrankt  sein  sollen. 

Von  1600,  wo  die  Kriebelkrankheit  in  Grünberg  an  der  Wetter 
herrschte,  bis  1770  finden  wir  betroffen:  1648/49  und  1675/76  das  Vogt- 
land, besonders  um  Plauen,  1676  auch  Westfalen,  1700  Thüringen,  1702 
das  Erzgebirge  und  Hankensbüttel,  1716/17  Sachsen,  die  Lausitz,  Schlesien, 
Mecklenburg  und  Schleswig-Holstein,  1718  im  Lauenburgischen,  1722/23 
Schlesien,  Vorpommern  und  die  Priegnitz,  1736/37  schlesische  Dörfer  am  Zobten 
und  am  Fusse  der  Sudeten  und  böhmische  Ortschaften  in  den  Herrschaften 
E,eichstadt,  Hohenelb,  Wartenberg  und  Niemes  (hier  600  Kranke  mit  100 
Todesfällen),  auch  im  Amte  Bodenteich  im  Lüneburgischen,  1742  die  Gegend 
von  Neuruppin,  Stendal  und  Havelberg.  1770  epidemierte  die  Krankheit 
ausser  in  Celle  auch  in  Hankensbüttel  (303  Fälle  mit  56  Todesfällen),  im 
Amte  Rotenburg  im  Stadeschen,  im  Holsteinischen,  wo  einzelne  Erkrankungen 
seit  1767  alljährlich  vorkamen,  bei  Naumburg,  Ziegenhain,  Wernigerode 
und^Homberg  in  Hessen.  Weiter  trat  das  Leiden  auf:  1805  (Neumark), 
1815/16  (Potsdam,  Pommern,  Medebach  und  Dülmen  in  Westfalen,  Rhein- 
land), 1821  (Niederschlesien,  Breslau),  1831/32  (bei  Luckau  und  Finster- 
münde in  der  Mark,  Niederschlesien,  Herford),  1845  (Darkehmen),  1851 
(Stregow  in  Pommern),  1852  (Grossbodungen  auf  dem  Eichsfelde).  1855/56 
erkrankten  ausser  in  Oberhessen  auch  155  Personen  (25  Todesfälle)  in 
Braunschweigischen  Dörfern  am  Harze  und  am  Sollinge,  30  Personen  im 
Lippischen  (mit  7  Todesfällen),  11  im  Waldeckschen,  verschiedene  in 
Thüringen,  Nassau  und  Bayern.  1867  kam  Kriebelkrankheit  in  Auerbach 
bei  Stollberg  (Sachsen),  in  5  Dörfern  bei  Roding,  im  Regenkreise  und  in 
Ostpreussen  vor.  In  Schweden,  wo  schon  1709  und  1737  Erkrankungen 
durch  Brot  vorkamen,  fällt  die  erste  Epidemie  von  Dragsjuka  auf  1745/46 
(Elfborgs  Län). 


Intoxikationskrankheiten.  923 

In  den  späteren  Epidemien  sind  am  häufigsten  ßlekinge  (1747/48,  1787, 
1796  97,  1802)  und  Kroneborgs  Län  (1755;56,  1786/87,  1800,  1802/3), 
Dalarne  (1802,  1813  und  wahrscheinlich  1851)  und  Jonköpings  Län  (1763  — 
1769,  wo  sie  1765  an  2000  und  1766  nicht  viel  weniger  Erkrankungen 
veranlasste,  in  den  übrigen  Jahren  mehr  sporadisch  war,  1800  mit  40  Fällen) 
betroffen,  vereinzelt  Carlshamn  (1755),  Wärmland  (1787)  und  Nerike  (1851). 

Aus  Finnland  ist  nur  die  grosse  beschriebene  Epidemie  bekannt, 
welche  von  1840  —  1842  dauerte  und  1800  Erkrankungen  mit  200  Todes- 
fällen einschloss.  Auch  der  nasskalte  Sommer  1843  brachte  viel  Mutter- 
korn und  Dragsjuka.  Von  1841 — 1845  starben  in  Finnland  533,  1847  nur 
1  2  Personen  daran. 

In  Eussland  fallen  die  ältesten  Epidemien  der  dort  als  zlaga  kortscha 
(böser  Krampf)  bezeichneten  Affektion  auf  die  Jahre  1702  (Ostseeprovinzen) 
und  1722  (Gegend  von  Moskau  bis  zur  "Wolga  in  der  Richtung  zum  Gouv. 
Nishni  Nowgorod).  Grosse,  auf  mehrere  Gouvernements  ausgedehnte  Epi- 
demien herrschten  1804,  1832  und  1837.  Die  neuesten  Epidemien  kamen 
1872  (Cherson  und  Tomsk),  1873  (Kiew  und  Nowgorod),  1881—1883 
(Tomsk),  1887  (Kiew),  1888  89  (Kostrema  und  Wjatke)  und  1894^95 
(Perm)  vor. 

Die  Epidemie  von  1804  erstreckte  sich  auf  Podolien,  Minsk,  die 
Ukraine,  "Wolhynien  und  Jekaterinoslaw ;  die  von  1832  umfasste  die  Gouverne- 
ments Grodno,  Kasan,  Kostroma,  Nishni  Nowgorod  und  "Wiatka,  die  von 
1837  diejenigen  von  Moskau,  Petersburg,  Tula,  Twer  und  Wolhynien. 
Ausserdem  lieferten  von  1832 — 1854  die  Gouv.  Charkow,  Jaroslaw,  Je- 
katerinoslaw. Kaluga,  Kiew,  Minsk,  Mohilew,  Nowgorod,  Samara,  Simbirsk, 
Smolensk,  Taurien,  Tschernigew  und  Wiatka,  Epidemien,  die  namentlich  in 
den  ersten  Jahren  dieses  Abschnitts  grosse  Sterblichkeit  zeigten.  So  starben 
in  Kasan  (1839)  60  von  90  Kranken,  in  Wiatka  (1837)  26  von  57,  aber 
auch  1863  64  finden  sich  in  Kostroma  90  Todesfälle  auf  590  und  1888 
sogar  99  auf  221  Erkrankungen.  Im  Kreise  Nolinsk  im  Gouv.  Wjatka 
starben  1889  von  2749  Kranken  535  Personen   (19,42  Prozent). 

Die  besten  Beschreibungen  der  Kriebelkrankheit  im  vorigen  Jahr- 
hundert gaben  Caspar  Schwenckfeldt,  Serinc  und  in  erster 
Linie  Taube  (1782),  in  unserer  Zeit  Carl  von  Haartmann, 
Theodor  Otto  von  Heusinger  und  Krysinski  (1888).  Die 
schon  von  Ronsseus,  Taube  u.  a.  geschilderten  sekundären  Psy- 
chosen und  Neurosen  sind  neuerdings  von  Siemens,  Tuczek, 
Reformatsci  und  Bechterew  sowohl  in  pathologischer  als  in  ana- 
tomischer Hinsicht  studiert  worden.  Die  pathologisch-anatomischen 
Veränderungen  der  parenchymatösen  Organe  beschrieb  Winogradow 
1895. 

Das  Vorkommen  von  Katarakt  als  Folgekrankheit  konstatierte  zuerst  Feld- 
inann  1742  in  Xakel  bei  Nenrnppin,  später  wiederholt  Taube,  iieuerdings 
Tephjeschin  in  Russland  und  Ign.  Meier  in  Kronstadt  (1857).  Veisiegen  der 
Milchsekretien  und  Fehlgeburten  tverden  vereinzelt  aus  Brandseucheepidemien  (1674, 
1814)  gemeldet. 

Es  hat  recht  lange  gedauert,  bis  man  allgemein  das  Mutterkorn 
als  Ursache  der  Kriebelkrankheit  erkannte.  Allerdings  erklärte  schon 
Caspar  Schwenckfeldt,  dass  die  schlesischen  Epidemien  von  1587 
und  1592  vom  Korne  herrühren,  doch  lässt  er  dieses  durch  Hagelwetter 
von  einer  Manna  aerea  maligna  seu  rore  venenato  et  acri  befallen 
und  giftig  geworden  sein.    Das  aus  dem  Jahre  1597  stammende  Gut- 


924  Theodor  Husemann. 

achten  der  Marburger  Fakultät  über  die  Kriebelkrankheit  bezeichnet 
diese  als  „eine  giftige  ansteckende  Schwachheit"  und  lässt  ausser  dem 
heisshungrigen  Genüsse  des  ganz  warmen  und  übel  ausgebackenen 
Brotes  auch  saure  Aepfel  und  Schwämme  als  Ursache  zu.  D  r  a  w  i  t  z 
(1647)  erklärte  sie  für  eine  Art  des  Scharbocks,  und  dieser  Ansicht 
schloss  sich  noch  1716  Georg  Wolfgang  Wedel  an.  Die  ersten 
Autoren,  welche  mit  Bestimmtheit  das  Mutterkorn  die  Ursache  der 
Kriebelkrankheit  erklärten,  sind  solche,  zu  deren  Kenntnis  gemischte 
Ergotismusepidemien,  in  denen  ein  Teil  der  Erkrankten  an 
Gangrän,  ein  anderer  Teil  an  Krämpfen  litt,  kamen.  Solche  wurden 
schon  im  Mittelalter,  besonders  in  Lothringen  verschiedene  Male  (1089, 
1129),  ferner  1595  im  Harze  und  1609  und  1617  in  der  Schweiz  be- 
obachtet, worauf  einerseits  Brunn  er,  andererseits  Lang  ihre 
Ueberzeugung  von  der  richtigen  Aetiologie  der  Kriebelkrankheit 
gründeten.  Zimmermann  und  Tissot  vereinigten  1764  auf  dieser 
Grundlage  zuerst  Brandseuche  und  Kriebelkrankheit  mit  einander  als 
Formen  derselben  Intoxikation. 

In  Deutschland  sind  Kriebelseuche  und  ausgesprochene  Brandseuche  zu- 
sammen nicht  wieder  beobachtet,  wohl  aber  1749  zu  Bethune  in  Flandern 
und  1845/7  in  verschiedenen  Gegenden  von  Belgien,  1787  in  verschiedenen 
Teilen  Busslands,  1832  im  Gouv.  Nishni  Nowgorod  und  1863  im  Gouv. 
Simbirsk  und  1881  im  Gouv.  Charkow.  Dagegen  ist  das  Auftreten  von 
Brandblasen  auf  der  Haut  der  Finger  und  Zehen,  Ausfallen  der  Haare, 
Abstossen  der  Fingernägel  oder  selbst  der  ganzen  Haut  bei  Kriebelkranken 
in  Deutschland  häufig  vorgekommen  (z.  B.  ]  742  in  Nakel,  1770  in  der 
CeUer  Epidemie,  in  den  neueren  Epidemien  in  Lippe  und  in  Oberschlesien), 
ferner  in  Finnland  (1840)  und  in  den  meisten  neueren  russischen  Kriebel- 
seuchen.  Dass  einzelne  Brandseuchenepidemien  zeitlich  mit  Kriebelseuchen 
zusammenfallen,  lehren  die  Jahre  1716/17  und  1770/71.  Auf  die  That- 
sache,  dass  das  erste  Stadium  der  Gangrene  des  Solognais  durch  das  Vor- 
kommen von  Kriebeln  und  Muskelkontraktionen  grosse  Aehnlichkeit  mit 
manchen  Fällen  von  Kriebelkrankheit  zeigt,  wurde  erst  1847  durch  K.  F. 
Heusinger  hingewiesen. 

Im  18.  Jahrhundert  verfochten  besonders  Johann  Anton  Scrine 
(1736),  von  Bergen  und  Müller  (1742),  Cothenius  (1755),  später 
Lentin  (1771)  und  Taube  (1782)  die  Abhängigkeit  der  Kriebelseuche 
vom  Mutterkorn,  konnten  aber  keineswegs  alle  Aerzte  überzeugen.  Noch 
1771  schrieben  die  Professoren  Rudolf  Augustin  Vogel  (Göttingen) 
und  L.  E.  Eschenbach  (Rostock)  Schutzschriften  für  das  verleumdete 
Mutterkorn.  Die  wunderbare  Hypothese  Linnes,  die  er  1742  durch  seinen 
Schüler  Rothmann  verteidigen  Hess,  dass  das  Ackerunkraut  Raphanus 
raphanistrum  die  von  ihm  Raphania  genannte  Kriebelkrankheit 
verschulde,  wurde  schon  1765  von  Magnus  Anders  "Wahlin  widerlegt. 

Der  Ausspruch  von  Taube,  dass  nicht  alles  Mutterkorn,  sondern 
nur  das  vom  Honigtau  befallene  und  verdorbene  giftig  wirke,  erklärt  sich 
aus  der  Unbekanntschaft  mit  der  erst  von  Kühn  (1856)  experimentell 
erwiesenen  Thatsache,  dass  der  1836  von  Leveille  als  besonderer 
Fadenpilz  (Sphacelia  segetum)  beschriebene  Eoggenhonigtau 
das  erste  Stadium  des  Pilzes  ist,  deren  zweites,  das  Dauermycelium, 
das  Mutterkorn,  das  als  Pilz  schon  1765  von  Otto  v.  Münchhausen 
erkannt  und  1789  von  Franz  v.  Schrank  als  Ciavaria  clavus 
und  1816  von  De  Candolle  als  Spermaedia  clavus  beschrieben 


Intoxikationskrankheiten.  925 

wurde.  Die  Thatsache,  dass  die  Sporen  des  dritten  Stadiums  von 
Claviceps  purpurea  Tulasne,  das  als  selbständiger  Pilz  unter 
verschiedenen  Namen  (Sphaecia,  Cordiceps)  schon  im  Anfange  des 
19.  Jahrhunderts  beschrieben  wurde,  wiederum  die  Sphacelia  liefern, 
wiesen  1847 — 1849  unabhängig  von  einander  Durien  de  Maison- 
neuve  und  Kühn  nach. 

Dass  auch  Mutterkorn  anderer  Gramineen  Kriebelkrankheit  erzeugen 
kann,  wies  1736  Scrine  für  das  Mutterkorn  der  Trespe,  das  auch  bei  den 
neueren  Epidemien  in  Oberhessen  und  im  Solling  (1856)  im  Spiele  war, 
und  1765  Wähl  in  für  das  der  Gerste,  die  in  Schweden  mitunter  reich- 
lich Mutterkorn  produziert,  nach.  lieber  die  angeblich  durch  Maismutter- 
korn (Mais  peladero),  das  an  europäischem  Mais  nicht  vorkommt,  in 
Columbien  in  den  Provinzen  Neyva  und  Mariquita  vorkommende  Krankheit 
P  e  1  a  d  e ,  die  sich  bei  Menschen  durch  Ausfallen  der  Haare  und  Zähne, 
nicht  aber  durch  Konvulsionen  oder  Gangrän  charakterisieren  soll,  ist  seit 
Eoulins  Mitteilungen  (1829)  weiteres  nicht  bekannt  geworden. 

Die  auffallende  Thatsache,  dass  das  Mutterkorn  in  Frankreich 
nur  Brandseuche,  in  Deutschland  und  den  meisten  Ländern  Kriebel- 
krankheit erzeugt,  führte  K.  F.  Heusinger  1846  auf  die  differente 
Menge  des  i\Iutterkorns  in  französischem  und  deutschem  Roggen  zu- 
rück, seitdem  die  Untersuchungen  Koberts  (1884)  den  Nachweis 
lieferten,  dass  zwei  verschiedene  aktive  Prinzipien,  ein  krampfer- 
regendes Alkaloid,  Cor  nutin,  und  einer  Getässkontraktion  und  Brand 
eiTegender  Stoff,  von  ihm  Sphacelinsäure  genannt,  enthalten  sind, 
die  wahrscheinlich  unter  verschiedenen  Bedingungen  mehr  oder  weniger 
reichlich  sich  entwickeln,  so  dass  bald  die  krampferregende,  bald  die 
sphacelierende  prävaliert. 

In  der  Sologne  tcird  die  Menge  des  Mutterkorns  auf  Vg  oder  ^4  angegeben,  in 
Celle  war  es  1770  nur  Vsj  dagegen  in  der  Lausitz  Vs?  in- von  Kriebelkrankheit  heim- 
gesuchten russischen  Gegenden  schicankte  es  1889  meist  zwischen  1  und  10  Prozent, 
betrug  aber  in  einzelnen  Distrikten  27  Prozent,  1894  in  Perm  sogar  33  Prozent. 
Jedenfalls  wurde  in  Frankreich  immer  mehr  Mutterkorn  verzehrt  als  in  Deutsch- 
land, da  man  es  immer  weiter  genoss  und  nicht  bald  von  Regierungsicegen  mit 
mutterkornfreiem  Getreide  vertauschte.  Die  Peindarstellung  der  aktiven  Mutter- 
kornstoffe, mit  der  sich  zuerst  Wiggers  (1831),  später  besonders  Dragendoi-ff 
beschäftigten,  ist  äusserst  schwierig;  nach  Jacohj  (1897)  ist  auch  die  Sphacelin- 
säure ein  Gemenge  eines  in  sehr  geringer  Menge  Graugrün  des  Kammes  bei  Hühnern 
erzeugenden  stickstofffreien  Harzes  mit  einer  inaktiven  Säure. 

Von  einer  medizinischen  Behandlung  des  Mutterkornbrandes  im  Mittelalter 
ist  nicht  die  Rede,  da  selbst  die  Kranken  in  Klöstern  und  Kirchen  Heilung  suchten, 
die  Aerzte  bei  Erysipelas  und  Brand  die  Kranken  an  die  Heiligen  verwiesen 
(Yj)erinan).  In  Frankreich  überzeugte  man  sich  schon  1747 — 1750,  dass  Amputation 
der  brandigen  Glieder  schlechte  Resultate  gab.  Bei  der  Kriebelkrankheit  galt  im 
16.  Jahrhundert  in  Schlesien  das  Elsternfleisch  als  Antidot.  Im  17.  und  teilweise 
auch  im  18.  Jahrhundert  war  das  von  der  Marburger  Fakultät  empfohlene  Verfahren, 
in  einer  imrgierenden  KriebeUatwerge,  einem  Kriebeltheriak  und  einem  Kriebelpulver 
aus  12  Substanzen  bestehend,  allgemein  gebräuchlich,  Linne  empfahl  Alchemilla  als 
Specificum,  Taube  Brechmittel  und  stärkere  Drastica,  gegen  die  Krämpfe  auch 
(Jpium,  GHepenkerl  (1855)  wegen  des  Tanningehaltcs  Abkochungen  der  Früchte 
von  Rumex  crispus. 

Zur  Verhütung  der  Ausbreitung  und  des  Auftretens  von  epidemi- 
schem Ergotismus  sind  in  Deutscliland  schon  frühzeitig  seitens  des 
Staates  zweckmässige  und  wirksame  Massregeln  getroffen  worden. 
Zweifellos  hat  der  Umtausch  des  stark  mutterkornhaltigen  Roggens 
gegen  alten,  den  schon  1722  die  preussische  Regierung  in  der  Prieg- 


926  Theodor  Husemann. 

nitz  und  1770  die  hannoversche  im  Celleschen  verordnete,  grösseres 
Unheil  verhütet,  und  zweifellos  hat  der  seit  1770  in  dem  Celleschen 
eingeführte  Kartotfelbau  dahin  geführt,  dass  ähnliche  Not,  welche  die 
ausschliessliche  Ernährung  mit  schlechtem  Eoggen  unmittelbar  nach 
der  Ernte  bedingte,  nicht  eintreten  kann.  Auch  in  Frankreich  ist 
der  Rückgang  der  Eoggenkultur  gegenüber  dem  Weizenbau  von  ent- 
scheidendem Einflüsse  auf  das  Aufhören  der  Brandseuche  gewesen. 
Jedenfalls  sind  diese  Massregeln  auch  in  erster  Linie  ungesäumt  in 
den  Staaten  zu  ergreifen,  in  denen  der  Ergotismus  sich  bis  in  die 
neueste  Zeit  erhalten  hat,  woneben  die  natürlich  in  Mutterkornjahren 
unumgänglichen  populären  Belehrungen,  die  Verbote  des  Vermahlens 
mutterkornhaltigen  Roggens,  polizeiliche  Untersuchungen  des  Brotes 
nur  untergeordnete  Bedeutung  haben.  Dass  das  Verbot  des  Ver- 
mahlens mutterkornhaltigen  Roggens  nicht  bloss  unmittelbar  nach  der 
Ernte,  sondern  auch  noch  im  folgenden  Frühjahr  notwendig  ist,  ob- 
schon  ja  die  toxische  Wirkung  des  Mutterkorns  abnimmt,  zeigt  das 
von  Taube  u.  a.  noch  mehrere  Montae  nach  der  Ernte  beobachtete 
Vorkommen  von  Ergotismusfällen. 


Pellagra  (Rose  von  Asturien,  Pseudopellagra). 

Litteratiir.  Ccisal,  Historia  natural  niedica  del  principado  de  Asturias, 
seguida  de  la  descripcionc  conoscida  per  el  vulgo  con  el  nombre  de  mal  de  la  rosa, 
Madrid  1762.  —  Frapolli,  Animadversiones  in  morbum  vulgo  Pellagra  dictum, 
Mediolani  1771.  —    Odoardi,  D^una  specie  particolare  di  scorbuto,  Belluno  1776. 

—  Gherardini,  Descrizione  della  pellagra,  Milano  1780.  —  Stratnbio,  De 
Pellagra  Obss.,  Mediol.  1786 — 1789.  —  Fanzago,  Memoria  sopra  la  pellagra  del 
territorio  Padovano,  Padova  1789.  —  Della  Jioiui,  Discorso  comparativo  sojyra  la 
pellagra  etc.,  Venez.  1791.  —  Soler,  Osservazioni  med.  prat.  che  formano  la  storia 
di  una  particolare  malattia,  Venez.  1791.  —  Titius,  Pellagra  morbi  inter  Insubriae 
agricolas  grassantis  pathol.,  Lips.  1793.  —  Cerri,  Ami.  universali  di  med.  1819, 
Agosto,  188.  —  Menis,  Saggio  di  topografia  stat.  med.  della  provincia  di  Brescia, 
Brescia  1837.  —  Vfdlenzasca,  Della  falcadina,  Venez.  1882.  —  Balardiiii,  Della 
pellagra,  del  gran  turco  quäle  causa  precipua  di  quella  malattia,  Ann.  univ.  di  med. 
1845,  1860.  —  Labtis,  La  pellagra  investigata  sopra  quasi  200  cadaveri  di  p)ella- 
grosi  etc.,  Milano  1847.  —  Lombroso,  Indagine  chimico,  fisiologiche  e  terapeutiche 
sul  maiz  guasto,  Milano  1872.  —  Husemann,  Arch.  f.  exper.  Pathol.  1878,  IX, 
226.  —  Lussana  und  Ciotto,  Gazz.  med.  Lomb.  1880,  1.  —  Winternitz,  Viertel- 
jahrsschr.  f.  Dermatol.  III,  151,  1876  (mit  reichlichem  Litteraturverzeichnis  über 
italienische  Pellagraschriften).  —  Roussel,  De  la  pellagre  en  France,  Paris  1845. 

—  Scheiber,  Vierteljahr sschr.  f.  Dermat.  II,  417,  1875.  —  Felix,  Sur  la  p)ro- 
phylaxie  de  la  Pellagre,  Geneve  1882  (mit  rumänischer  Litteratiir).  —  Ty2*aldos, 
Essai  sur  la  pellagre  observee  ä  Corfou,  Athenes  1867.  —  Pfdtauf  und  Heider, 
Wien.  med.  Jahrb.  III,  H.  8,  1889.  —  Tiiczek,  Klinische  und  anatomische  Studien 
über  die  Pellagra,  Berlin  1893.  —  JBelniondo,  Riv.  sper.  1893,  XV,  XVI.  — 
V.  JRosen,  Die  Pellagra  in  Russland,  Petersb.  med.  Wchschr.  1894,  1.  —  Vales, 
Die  Pellagra  in  Yucatan,  Berlin  1896  (reichliche  Litteratiir  bei  Hirsch,  Histor. 
geogr.  Pathol.  II,  2,  172). 

Der  zuerst  aus  Spanien  unter  dem  Namen  der  Rose  von  Astu- 
rien beschriebene,  jetzt  unter  der  italienischen  Benennung  Pellagra 
(rauhe  Haut,  pelle  agra,  nach  anderen  Schälkrankheit,  von  palarsi, 
sich  häuten,  abgeleitet)  allgemein  bekannte  Symptomenkomplex,  der 
mit  einer  rosenartigen  Entzündung  der  Haut  beginnt,  woran  sich 
Störungen  der  Verdauung  und  im  Anschlüsse  daran  der  allgemeinen 
Ernährung  und  des  Nervensystems  schliessen,  die  sich  bald  als  Krämpfe 
oder  Lähmung,  bald  als  Psychosen  (vorwaltend  Melancholie,  aber  auch 
Manie  u.  a.)  äussern,  ist  schon  1791  von  Della  Bona   und  Soler 


I 


Intoxikationskrankheiten.  927 

und  neuerdings  meder  von  AV.  Winternitz  (1876)  als  ein  Konglomerat 
verschiedener  von  einander  unabhängiger  Leiden,  die  unter  dem  Ein- 
flüsse von  Armut  und  Elend  entstehen,  aufgefasst  worden.  Die  zweifel- 
lose Thatsache.  dass  diese  Vereinigung  von  Symptomen,  die  allerdings 
nur  beim  ländlichen  Proletariat  vorkommt,  sich  ausschliesslich  in 
bestimmten  Gegenden  findet  und  sich  hier  seit  dem  Anfange  des 
vorigen  Jahrhunderts  an  vielen  Tausenden  von  Menschen  gezeigt  und 
für  diese  verhängnisvoll  geworden  ist,  lässt  aber  auf  besondere  lokale 
Ursachen  schliessen.  Wie  dies  schon  von  dem  ersten  Autor  über  die 
Rose  von  Asturien,  Casal,  1762  behauptet  wurde,  ist  dies  der  aus- 
schliessliche oder  doch  fast  ausschliessliche  Genuss  von  Mais,  und 
zwar  meist  in  Form  des  Maisbreis  (Polenta  der  Italiener,  Mamalija 
der  Rumänen,  Criichade  der  Franzosen).  Erst  mit  der  Verallgemeine- 
rung des  Maisbaus  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  auf 
der  iberischen  und  apenninischen  Halbinsel  auftretend,  zuerst  1725 
im  Distrikte  Oviedo  in  Asturien,  in  Italien  vor  1750  in  der  Gegend 
von  Sesto  Calende  beobachtet,  hat  sie  sich  aus  winzigen  Anfängen 
zu  einer  auf  weite  Distrikte  des  Maisbaus  sich  erstreckenden 
Endemie  ausgebildet,  die  in  einzelnen  Jahren  zu  einer  wahrhaften 
Epidemie  sich  steigerte.  Im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  gritf  sie  auch 
auf  das  südwestliche  Frankreich,  seit  1833  und  besonders  seit  1846 
auf  Rumänien  über  und  verbreitete  sich  auch  seit  1839  nach  Korfu. 
In  weniger  bedeutender  Ausdehnung  ist  Pellagra  auch  in  Bessarabien 
in  der  Grafschaft  Görz,  in  Friaul  und  in  der  Bukowina  beobachtet, 
so  dass  sie  in  Europa  nur  zwischen  dem  43. — 46.  Breitengrade  vor- 
kommt. Ausserhalb  Europas  ist  sie  nur  in  Yucatan  und  Campeche 
konstatiert,  wo  man  die  daran  Erkrankten  als  Emmaizados  („mit  Mais 
vergiftet")  bezeichnet. 

In  Spanien  erstreckt  sich  das  „Mal  de  rosa''^  oder  „Mal  roxa'''  nicht  allein 
auf  ganz  Asturien,  sondern  auch  auf  den  angrenzenden  Teil  von  Navarra  und  auf 
die  Provinzen  Zaragoza,  Zamora,  Cuenca  u.  a.;  1879  icaren  in  56  Gemeinden  von 
Guadajara  etwa  2  %  der  Bevölkerung  pellagr'ös.  In  Italien  trat  das  Leiden  schon  im 
vorigen  Jahrhunderte  in  der  Lombardei  und  Venetien  massenhaft,  in  Piemont  iceniger 
häufig  auf  und  kommt  gegenwärtig  ausserdem  in  den  Landesteilen  Emilia,  ToscatM, 
in  den  Marken  und  Umhrien  und  in  der  Umgebung  von  Rom  vor.  Eine  Zählung 
von  1879  ergab  in  den  genannten  Provinzen  97405  Pellagröse,  davon  40038  in  der 
Lombardei,  29385  in  Venetien  und  18728  in  Emilia,  wonach  in  den  beiden  ersten 
Landesteilen  etwas  über  3  %  der  ländlichen  Bevölkerung  und  etivas  über  1  "/o 
der  Gesamtbevölkerung  an  Pellagra  litten  (in  Emilia  2,36  bzw.  0,S5\).  In  der 
Lombardei  stieg  die  Zahl  der  Kranken  von  1839 — 1856  von  20282  auf  38777  und 
bis  1879  auf  40838.  und  ähnliche  Steigerungen  fanden  in  Venetien  U7ul  Emilia  statt. 
Am  stärksten  betroffen  sind  in  der  Lombardei  die  Provinzen  Brescia  (mit  3,12'*  ^ 
Pell(tgröser),  Cremona  und  Milano,  in  Venetien,  Padova  und  Rovigo,  und  in 
Emilia,  Ferrara,  P'uicenza  und  Parma.  In  einzelnen  Distrikten  sind  über  5\  der 
Bevölkerung  pellngrös,  so  in  Verolanuova  (Brescia)  5,96,  in  Bad'ui  (Rovigo)  5,46, 
in  Conselva  (Padua)  5,2  affiziert.  In  Frankreich  trat  Pellagra  zuerst  1818  in  der 
der  Umgegend  von  Teste-dc-Buche  und  in  der  Ebene  von  Arcachon  auf  und  ver- 
breitete sich  namentlich  in  der  Gascogne  und  im  Dep.  des  Landes,  später  auch  in 
geringerer  Weise  in  anderen  Teilen  Frankreichs.  In  Rumänien  ist  die  Moldau 
mehr  betroffen  als  die  Wallachei,  wo  erst  1853  die  ersten  FäUe  vorkamen;  sämtliche 
Pellagröse  in  Rumänien  nicht  ganz  0,1  %  der  Bevölkerung.  In  Corfu  ist  in  27 
Uindlichen  Distrikten  0,3  %  pellagrös  (Typaldos). 

Die  Auffassung  des  Wesens  der  Pellagra  hat  im  Laufe  der  Zeit  mannig- 
fach gewechselt.  In  älterer  Zeit  stellte  man  das  von  Insolation  (F  r  a  p  o  11  i) 
abgeleitete  Hautleiden  in  den  Vordergrund  und  benannte  danach  das  Leiden  als 
Pellagra,  Risipola  lombarda,  Insolato  di  primavera,  Scottatura  solare  (Titius  , 
Gherardini).      Schon    1789    erklärte    Fanzago    die    Hautaffektion    für 


928  Theodor  Husemann. 

Nebensache  und  statuierte  eine  Pellagra  occulta,  bei  der  das  Exanthem 
fehle.  Später  leitete  man  dieses  von  gastrischen  Störungen  der  Krankheiten 
innerer  Organe  (daher  die  Namen  Colica  di  fegato,  Mal  della  milza,  Colica 
di  primavera)  ab  und  neuerdings  hat  man  die  Psychopathien  als  das  Wesent- 
liche der  Krankheit  hervorgehoben.  Odoardi  führte  diese  auf  Kochsalz- 
mangel in  der  Nahrung  zurück  und  nannte  sie  Scorbuto  alpino.  Sehr  all- 
gemeine Verbreitung  fand  die  zuerst  von  M  e  n  i  s  ausgesprochene  Ansicht, 
dass  es  sich  um  eine  Folge  der  unzureichenden  Ernährung  und  der  sonstigen 
unhygienischen  Verhältnisse  (schlechte  Wohnung,  TJnreinlichkeit),  also  um 
einen  Morbus  miseriae,  wie  Vaccari  die  Pellagra  benannte,  handle. 
Diese  Ansicht  lässt  aber,  abgesehen  davon,  dass  in  anderen  Ländern  Elend 
und  Hunger  keine  Neurose  und  Psychosen  nach  Voraufgehen  von  Erysipelen 
und  Verdauungsstörungen  erzeugen,  die  Thatsache  ausser  Acht,  dass  dicht 
an  den  Herden  der  Pellagra  sich  Gemeinden  finden,  welche  die  gleichen 
oder  noch  schlimmere  elende  Verhältnisse  bieten,  ohne  dass  Pellagra  dort 
herrscht.  Jedenfalls  waren  die  Verhältnisse  der  Landbevölkerung  von  Ober- 
italien weder  zu  der  Zeit,  wo  sich  die  Pellagra  zuerst  zeigte,  noch  später 
ungünstiger  als  in  den  Abruzzen  und  anderen  süditalienischen  Landesteilen, 
wo  noch  jetzt  Pellagra  nicht  existiert. 

Dass  der  Mais  die  Ursache  der  Pellagra  sei,  folgerte  C  a  s  a  1  aus  der 
später  von  Cerri  (1819),  Brierre  de  Beaumont  u.  a.  bestätigten 
Heilung  des  Leidens  durch  Ersatz  der  Maisnahrung  durch  Eleisch  und 
anderes  Getreide.  Den  Einfluss  des  Polentakonsums  betonte  1786  Strambio 
unter  Hinweis  auf  das  Freibleiben  der  lombardischen  Distrikte,  wo  Reis  oder 
Kastanien  die  Hauptnahrung  bilden.  Baiardini  führte  das  schwere  Be- 
troffensein der  Provinz  Brescia  auf  den  enormen  Maiskonsum  zurück,  der  nicht 
durch  die  eigene  Produktion  gedeckt  ist.  Aehnliches  zeigte  1842  Vallenzaska 
für  die  Provinz  Pielluno  in  Venetien ;  auch  sind  analoge  Erfahrungen  in 
Bezug  auf  den  Distrikt  Canavese  in  Piemont,  auch  Toscana  und  ausserhalb 
Italiens  auf  Rumänien  mitgeteilt.  Schlagend  ist  die  Mitteilung  R  o  s  e  n  s 
(1896),  dass  in  Podolien  sporadische  Fälle  von  Pellagra  vorkommen,  aber 
stets  e  inge  wanderte,  Mamaliga  essende  Rum  änen  betre  ff  en, 
während  die  vorzugsweise  von  Roggenbrot,  Kohl  und  Gurken  lebenden 
Kleinrussen  und  Juden,  obschon  sie  in  schlechteren  Verhältnissen  leben, 
von  Pellagra  frei   sind. 

Die  Schädlichkeit  der  Maisnahrung  wurde  von  Strambio,  später 
von  Lussana  u.  a.  auf  den  geringen  Nährwert  zurückgeführt,  den 
der  Mais  jedoch  nur  dem  Weizen  und  einigen  anderen  Getreidearten, 
nicht  aber  dem  Eeis  und  den  Kartoffeln  gegenüber  besitzt.  Man  be- 
trachtet daher  jetzt  ziemlich  allgemein  verdorbenen  Mais,  wie  das 
schon  Casal  (1762),  Frapolli  (1771)  und  Gherardini  (1780)  ge- 
than,  als  Ursache  der  Erkrankungen.  Die  hierauf  sich  gründende 
Analogie  mit  dem,  Ergotismus,  aufweiche  schon  Strambio  und  neuer- 
dings Hebra  hingewiesen  hat,  führte  schon  1823  Sette  zu  dem  Hin- 
weis auf  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  Pilzbildung  dabei  eine  Rolle 
spiele.  Baiardini  zeigte  1845,  dass  auf  muffigem  Mais  sich  häufig 
ein  grünlich  gefärbter  Pilz  („V  er  der  am  e")  finde,  der  dem  damit 
behafteten  Mais  die  Eigenschaft  verleihe,  bei  Hühnern  Abmagerung, 
Ausfallen  der  Federn,  Parese  und  andere  nervöse  Erscheinungen  und 
beim  Menschen  Verdauungsstörungen  und  Durchfall  zu  erzeugen.  Dass 
jedoch  dieser  von  Cesati  als  Sporisorium  Maydis  beschriebene  para- 
sitische Pilz  nicht  als  Ursache  der  Pellagra  angesehen  werden  könne, 


Intoxikationskrankheiten.  929 

wiesen  Rezzi.  der  das  Yorkommen  dieses  Pilzes  auch  in  den  nicht 
affizierten  Distrikten  Süditaliens  betonte,  und  Lombroso  (1869), 
welcher  die  Seltenheit  des  Sporisorium  und  die  Möglichkeit  einer  Ver- 
wechslung mit  dem  ganz  ungiftigen  Aspergillus  glaucus  hervorhob, 
nach.  Man  gelangt  so  konsequenterweise  zu  der  anfangs  ^iel  be- 
strittenen Theorie  von  Lombroso,  dass  nicht  kranker,  sondern  erst 
nach  der  Einsammlung  einem  Fäulnis-  oder  GärungseiTeger  unter- 
liegender Mais  (verdorbener  Mais,  mais  guasto)  die  Pellagra  erzeugte. 
Hierfür  spricht  vor  allem,  dass  alle  Momente,  welche  das  Zustande- 
kommen derartiger  Prozesse  begünstigen,  auch  für  das  Auftreten  der 
Pellagra  sind,  insbesondere  das  Mhzeitige  Einernten  noch  nicht  voll- 
kommen reifen  Konis,  das  Einsammeln  bei  feuchter  Witterung  und  die 
Aufbewahrung  in  feuchtem  Zustande. 

Besonders  beweisend  sind  hierfür  Daten  ans  Rumänien  und  Corfu.  Xach 
Scheiber  schüttet  in  Rumänien  die  wallachische  Bevölkerung  das  stets 
in  ungenügender  Reife  eingesammelte  Welschkorn  in  Gruben,  wo  es-  dumpf 
wird  und  verdirbt,  während  die  trotz  ihres  Polentakonsums  von  Pellagra 
freien  wallachischen  Bauern  in  Siebenbürgen  den  Mais  reif  einernten  und 
in  Scheunen  und  auf  dem  Boden  trocknen.  Nach  Felix  sind  es  besonders 
die  bergigen  Gegenden,  wo  der  Mais  nur  selten  reif  wird,  Sitz  der  Pellagra. 
In  Corfu,  wo  wegen  TJeberhandnahme  der  Weinkultur  wenig  Mais  gebaut 
wird,  ist  es  nicht  der  einheimische,  sondern  der  aus  Rumänien  importierte, 
infolge  der  langen  Seereise  häufig  verdorbene  und  schimmelige  Mais,  der 
das  Leiden  herbeiführt  (Ty  pal  dos).  In  Frankreich  führt  man  das  Nicht- 
vorkommen  der  Pellagra  in  Burgund  und  in  der  Franche  Comte  trotz  des 
Genusses  von  PolÄita  (cruchade)  auf  das  vorsichtige  Trocknen  zurück, 
ebenso  in  Mexiko.  Von  Interesse  ist  auch  die  von  Tassani  hervorgehobene 
Gefährlichkeit  des  Quarantin-Mais,  einer  Sorte,  die  wegen  ihrer  späten  Aus- 
saat fast  nie  zur  Reife  gelangt;  ferner  das  häufige  Yorkommen  in  solchen 
Gegenden,  wo  wegen  unangemessener  Bodenbeschafi'enheit  öfters  Missemte 
eintritt,  z.  B.  Canavese  (Piemont),  Dep.  des  Landes  und  die  ausserordent- 
liche Zunahme  nach  schlechten  Ernten,  welche  zu  frühem  Einheimsen  des 
Welschkorns  nötigten,  z.  B.  in  Italien  1755,  1801,  1815  —  17,  1822  23, 
182930,  1838,  1853,54,  1873  74,  in  Rumänien  1892,  wo  gleichzeitig  auch 
die  schwereren  Formen  (Psychosen),  in  grösserer  Menge  aufzutreten  pflegen. 

Die  von  Cuboni  (1886)  aufgestellte  Ansicht,  dass  es  sich  nicht  um  eine  In- 
toxikationsh-ankheit,  sondern  um  eine  Mykose  handle,  indem  ein  eigentümlicher 
Bacillus  Maydis  sich  im  Darmkanale  ausserordentlich  vermehre,  ist  1887  von 
Paltauf  und  Heider  widerlegt.  Weder  das  von  Lombroso  und  Erla  aus  ver- 
dorbenem Mais  dargestellte  Pellagrozei'n,  das  nach  den  Untersuchungen  von  Huse- 
wann  und  Cortes  ein  Krampfgift  einschliesst.  noch  das  nach  Paltauf  und  Heider 
aus  Einwirkung  von  Bacillus  Maydis  und  Bacillus  mesentericus  fusciis  auf  Mais 
entstehende  narkotische  Gift  reichen  zur  Erklärung  der  Entstehung  der  Pellagra  aus. 
Gegen  die  Theorie  der  Pellagra  als  eine  Intoxikation  durch  Maisgifte  spricht  auch 
das  wiederholte  Vorkommen  von  sog.  sporadischer  Pellagra  (Pseudopellagra 
nach  Bousttel)  nach  dem  Genüsse  von  Mehlspeisen  aus  anderem  Mehl  nicht,  da 
nach  Balaud  auch  hei  feuchter  Aufbewahrung  anderer  Mehlarten  sich  giftige 
Ptomatine  bilden.  Dass  durch  Eimcirkung  von  Pilzen  (abgesehen  von  Mutterkorn) 
im  Roggen  giftige  Stoffe  entstehen  können,  zeigen  die  in  Schweden  über  den  sog. 
0er rag.  d.  h.  von  Fumago  und  Cladosporium  beschädigten  Roggen,  der  Erbrechen. 
Schicindel,  Ziehen  im  ganzen  Körper  und  vorübergehende  Blindheit  hervorrufen  soll 
(EHkson,  Hetlbom). 

Eine  detaillierte  Beschreibung  der  Pellagra  gab  schon  Frapolli 
(1771j.    Ueber  den  Sektionsbefund  sind  die  ersten  ausführlichen  Xach- 

Handbucb  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II.  59 


930  Theodor  Husemann. 

richten  von  Pietro  Labus  1842  auf  Grund  von  200  in  Mailand  ge- 
machten Sektionen  gegeben.  In  der  neuesten  Zeit  sind  besonders  die 
Veränderungen  des  Gehirns  und  Rückenmarks  der  Gegenstand  ein- 
gehender Studien  von  Tuczek  und  Belraondo  (1893)  geworden. 

Die  Erkenntnis  der  wahren  Ursache  der  Pellagra  wird  voraus- 
sichtlich eine  Beschränkung  der  Krankheit,  die  übrigens  seit  den 
70  er  Jahren  in  einzelnen  Gegenden  eine  Abnahme  erfahren  hat,  her- 
beiführen. So  ist  sie  infolge  der  Einiührung  des  Kartolfelbaues  in 
Bellamo  seltener  geworden.  Die  Hygieine  wird  aber,  da  die  Mais- 
kultur nicht  zu  beseitigen  ist,  durch  die  Einführung  von  geeigneten 
Trockenanstalten  viel  Weh  verhüten  können. 


Acrodynie. 

lAtteratur:  Hirsch,  Hdb.  der  geogr.  Pathol.  1883,  II,  172  (enthält  die  voll- 
ständige Litteratur).  —  Marquez,  Gaz.  hebd.  de  med.  1889,  Nr.  6. 

Mit  dem  Namen  Acrodynie  (Mal  des  pieds  et  des  mains,  Erytheme 
epidemique)  belegt  man  Massenerkrankungen,  als  deren  pathognomische 
Symptome  Kriebeln  und  intensiven  Nadelstichen  ähnliche  Schmerzen 
in  Füssen  und  Händen  und  später  Erythem  oder  erysipelatöse  Aus- 
schläge an  den  Extremitäten  mit  nachfolgender  Schrumpfung  und 
Pigmentierung  der  Haut,  sowie  Kontrakturen  und  Paresen  bezeichnet 
werden.  Die  vorwaltend  bei  der  ärmeren  Bevölkerung,  namentlich  in 
Kasernen  und  Gefängnissen  beobachtete  Acrodynie  trat  zuerst  1827/28 
und  1829  in  Paris  und  anderen  Orten  Frankreichs  auf,  wo  vor  dem 
Auftreten  der  Schmerzen  und  des  Ausschlages,  der  mehrere  Monate 
anhielt,  Erbrechen,  Durchtälle,  Konjunktivitis  oft  vorausgingen.  In 
späteren  französischen  Epidemien  (1854  in  der  Krim  bei  600  französi- 
schen Soldaten,  1859  in  Lyon,  1874  im  Feldlager  bei  Satory  fehlen 
diese  prodromalen  Symptome,  ebenso  in  der  belgischen  Epidemie  von 
1844/45  (in  Gefängnissen  von  Brüssel,  Gent  und  Namur),  während  sie 
bei  einer  analogen  Erkrankung  französischer  und  mexikanischer  Sol- 
daten (1866  in  Mexiko)  vorkamen.  Das  Leiden  hat  offenbar  Aehnlich- 
keit  mit  Pellagra  und  Ergotismus  (in  Brüsseler  Gefängnissen  kam  auch 
vereinzelt  Gangrän  vor),  noch  grössere  mit  subakutem  Arsenicismus, 
wie  eine  1889  in  Hyeres  bei  400  Personen  beobachtete  Vergiftung 
durch  den  Genuss  mit  arseniger  Säure  gegipsten  Weines  iDeweist 
(Marquez).  Doch  lehrt  die  enorme  Ausdehnung  der  1828/29 er  Epi- 
demie, die  in  Paris  1828  allein  40000  Menschen  ergriff,  dass  Arseni- 
cismus nicht  im  Spiele  sein  kann. 


Lathyrismus. 

TAtteratuv:  B.  Schuchardt,  Dtsch.  Arch.  f.  Min.  Med.  1887,  XL,  320.  — 
Husemann,  Encycl.  Jahrb.  I,  432  (enthält  sämtliche  Litteratur).  —  Mingazzini 
und  Buglioni,  Riv.  di  Freniatria  1896,  XXII,  79,  233. 

Durch  den  infolge  Missratens  des  Getreides  wochen-  oder  monate- 
lang fortgesetzten  Gebrauch  der  Samen  verschiedener  Arten  von  Platt- 
erbsen (Lathyrus),  besonders  Lathyrus  Cicera  L.  und  Lathyrus  Cly- 
manum  L.,  vielleicht  auch  von  Ervum  Ervilia  L.  in  Form  daraus 
dargestellten  Speisen  oder  damit  versetzten  Brotes  entstehen  eigen- 


Intoxikationskrankheiten.  931 

tiimliche  Krankheitserscheinung-en,  welche  in  einzelnen  Ländern  beim 
Missraten  der  Cerealien  in  epidemischer  Verbreitung  beobachtet  werden. 
Die  gewöhnlichste  Form,  die  sich  als  spastische  Spinalparalvse  dai-stellt 
und  sich  durch  das  Fehlen  der  Konvulsionen  und  des  Kiiebelns  vom 
Ergotismus  spasmodicus  unterscheidet,  scheint  schon  im  Altertum  be- 
kannt gewesen  zu  sein,  da  in  einer  pseudohippokratischen  Schrift  von 
epidemisch  in  Ainos  nach  anhaltendem  Gebrauche  von  Hülsenfrüchten 
als  Nahrungsmittel  aufgetretener  Scliwäche  in  den  Schenkeln  die  Eede 
ist.  Vermutlich  sind  die  für  Ergotismus  spasmodicus  gehaltenen  mittel- 
alterlichen Epidemien  in  Italien  hierher  zu  ziehen,  da  bestimmte  Er- 
krankungen durch  Platterbsen  im  18.  Jahrhundert  aus  Modena  und 
Toscana  beschrieben  sind  und  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  in  Mittel- 
und  Süditalien  (1847  in  den  Abruzzen.  1873 — 76  bei  Neapel,  1880  und 
1896  bei  Eom,  1882  bei  Parma)  vorkommen.  In  Frankreich  wurde 
Lathyi'ismus  im  vorigen  Jahrhundert  in  der  Franche  Comte.  1819 
im  Dep.  Indre-et-Loire  und  1829  in  Loire-et-Cher  beobachtet.  Die 
ausgedehntesten  Erkrankungen  Avurden  1829 — 1835  im  Territorium 
Sangor  in  Ostindien  und  1856 — 1858  in  Allahabad  Tausende  von  Er- 
krankungen (in  einem  einzigen  Orte  2000  Fälle  ausschliesslich  bei 
Eingeborenen)  beobachtet.  Eine  grössere  Anzahl  Lathyrismusepidemien, 
z.  T.  über  1000  Pei-sonen  umfassend,  sind  1860  und  1882  83  von  fran- 
zösischen Militärärzten  aus  Algier  mitgeteilt  worden,  wo  die  AflFektion 
nach  den  als  Djüben  bezeichneten  Lathyrussamen  den  Namen  Djüben- 
krankheit  führte  und  ebenfalls  nur  bei  Eingeborenen  vorkommt. 

Neben  der  spastisch-paralytischen  Form  (Lathyrisme  meduUaire 
spasmodique)  kam  in  Indien  und  in  Algier  auch  noch  eine  gangränöse 
vor.  Die  Möglichkeit  einer  Mitwiikung  von  Mutterkorn  ist  aus- 
geschlossen, da  in  den  betroffenen  Gegenden  Indiens  überhaupt  kein 
Korn  gewachsen  war  und  die  Kabylen  keinen  Eoggen  bauen. 

Sehr  genaue  Beschreibungen  des  Lathyrismus  spastico-paralyticus  gaben 
Bourlier  (1883)  und  Mingazzini  und  Buglieni  (1896).  Die 
chemischen  Verhältnisse  der  Platterbsen,  in  denen  nach  Marie  (1882) 
mehrere  giftige  Alkaloide  enthalten  sein  sollen,  beürfen  noch  genauerer  Auf- 
klärung. Mehrmals  sind  auch  Vergiftungen  von  Pferden  und  Schweinen 
durch  die  in  Frankreich  als  chiche,  gesse  oder  charosse,  in  Italien  als 
cicerchia  bezeichnete  Hülsenfrucht  vorsrekommen. 


Milchkrankheit  (Milk  Sickness). 

Litterutur:  A  report  disease  in  Ohio.  Med.  Repository,  Netc  York  1812,  XV, 
92.  —  Coleman,  Western  Quart.  Rep.  1822,  I.  133.  —  Crookshattk\  Philad. 
Journ.  of  Med.  Sc.  1826,  252.  —  Graff,  Amer.  joum.  of  Med.  Sc.  1841,  p.  351.  — 
Philipps,  Cincinnati  Lancet,  1877.  p.  130.  —  Gardner ,  St.  Louis  med.  Joum. 
1880.  p.  288.  —  Kimmen,  Vhdlg.  des  X.  intemat.  Congr.,  Berl.  1891,  U,  5.  Abtk. 
p.  148.  —  Hirsch,  Handh.  der  hist  geogr.  Path.  2.  Bearb.  Ahth.  11  p.  177  (mit 
reicher  Litteratur).  —  Schuchardt,  Janus  1897,  II,  p.  537,  425  (vollständige 
Litteraturüber sieht). 

Die  in  verschiedenen  Gebieten  der  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika (Ohio,  Missouri,  Indiana,  Illinois,  Virginia,  Kentucky,  Tennessee, 
Georgia  und  Nordkarolina)  seit  dem  Anfange  des  19.  Jahrhunderts 
bekannte  Milchkrankheit  (Milk  Sickness)  ist  vielfach  als  eine  infolge 
Genusses  giftiger  Kräuter  (Rhus  Toxicodendron.  Eupatorium  ageratoides 
u.  a.)  bei  Rindvieh  nach  dem  Weiden  auf  unkultiviertem  und  besonders 

59* 


932  Theodor  Husemann. 

sumpfigem  Boden  in  gewissen  Gegenden  auftretende  Intoxikations- 
krankheit aufgefasst  worden,  die  durch  den  Genuss  der  Milch  und 
daraus  dargestellter  Produkte  (Butter,  Käse)  oder  auch  des  Fleisches 
der  kranken  Tiere  auf  den  Menschen  übertragen  wird  und  in  dieser 
Weise  früher  alljährlich,  ziemlich  ausgebreitete,  jetzt  seltener  und 
beschränkter  Erkrankungen  herbeiführte.  Der  Umstand,  dass  die 
Affektion  ein  Inkubationsstadium  von  3 — 10  Tagen  hat,  die  Thatsache, 
dass  die  Verbreitung  eine  Zunahme  der  Schädlichkeit  mit  Sicherheit 
annehmen  lässt,  indem  kleine  Mengen  Fleisch  der  gefallenen  Rinder 
Schweine  tödlich  vergiften,  deren  Fleisch  dann  wieder  auf  Hunde,  und 
das  dieser  wiederum  auf  Bussarde  tödlich  wirkt,  weist  mit  ziemlicher 
Bestimmtheit  auf  eine  Infektion  durch  niedere  Organismen  hin.  Heu- 
singer vermutete,  dass  es  sich  um  Anthrax  handle,  weil  das  Leiden 
vom  Vieh  besonders  auf  Malariaboden  acquiriert  werde,  weshalb  man 
es  in  Amerika  auch  M o o r krankheit  (Swamp  disease)  genannt  hat; 
doch  ist  es  nicht  bloss  Sumpfboden,  sondern  jeder  bisher  nicht  kulti- 
vierte Boden,  aus  denen  der  Krankheitserreger  aufgenommen  wird. 
Auch  stimmt  das  Krankheitsbild  nicht  ganz  zu  dem  Milzbrandfieber; 
denn  obschon  die  Hauptzüge,  die  Erscheinungen  der  Gastritis  (daher 
der  mitunter  für  die  Affektion  benutzte  Name  Stomach  Sickness)  und 
die  langsame  Rekonvalescenz  identisch  ist,  kommt  bei  der  Milk  Sick- 
ness niemals  Milzbrandkarbunkel  oder  Milztumor  vor.  Auch  sind  ner- 
vöse Erscheinungen,  besonders  Paralyse  und  Coma  (daher  die  Be- 
zeichnung Slows  für  einzelne  Formen)  und  Zittern  (daher  der  Name 
„Trembles",  der  für  die  Krankheit  der  Tiere  am  gebräuchlichsten  ist) 
vorwaltend.  Die  erste  Beschreibung  des  Leidens  datiert  von  1812, 
später  haben  Coleman,  Graff  und  Kimm  eil  genauere  Nachrichten 
darüber  gegeben.  Crookshank  wies  1826  auf  das  Wasser  als  Träger 
des  Giftes  hin,  das  auch  direkt  beim  Menschen  die  Krankheit  erzeugen 
kann.  Dass  im  Blute  erkrankter  Tiere  niedere  Organismen  vorhanden 
sind,  haben  Philipps  und  Hardner  angegeben;  doch  spricht  ersterer 
von  Spirillen  und  Sphärobakterien,  letzterer  vom  Bacillus  subtilissimus. 


Namenregister. 


Abadie-Leroy  556. 

Abano  s.  Petras  v.  Abano. 

Abbas,  Aü  193. 

Abbe  220. 

Abdullab  325. 

Abel  442. 

Abelsdorff  451. 

A.I)g1oti3  -l-i^ 

Abercombie  324.  520.  531.  687.  702.  720. 

730.  731. 
Abemethy  506.  509.  596. 
Abüdgaard,  P.  C.  660. 
Abrahamsoiin  368. 
Abulcasim  656. 

Abu  AbdaUah  Fachr  ed-Din  194. 
Abu  AH  ibn  Zera  192. 
Abu  Ali  Isa  193. 

„    Dschafar  Ahmed  193. 

„    Hamid  Nedscbib  194. 

„    '1  Berakät  Auhad  193. 

..    Hassan  Ibn  en-Nefis  194. 
Abul  Kheir  el-Hassan  193. 
Abu  Mahammed  Abd  el-Letif  194. 

.,      Nasr  Muhammed  193. 
Achülini  15.  199.  216.  633. 
Ackermann,  J.  F.  284. 
Ackermann  554. 
Acland  269. 
Acosta  10.  572. 
Actuarius  656.  658. 
Adamkiewicz  306.  393. 
Adanson  362. 
Addisson  142.  554. 
Adler  772. 

Aeby  300.  306.  424.  549. 
Aelianus  185. 

Aetius  479.  620.  632.  713.  865. 
Afanasieff  436. 
Agatharchides  654. 
Agnew  321. 
Agricola  11.  15. 
Agrippa  von  Nettesheim  13. 
Agathias  754. 
Ahlfeld  548. 
Ahron  843. 


Aicholtz  294. 

AiHanos  s.  Aelianus. 

d"Ajutolo  554. 

Alapy  715.  716. 

Alaymo  867. 

Albani  227. 

Albarran  715. 

Albers  523.  530.  871. 

Albert  221.  553.  714. 

Alberti  277.  700. 

Albertini  100.  507.  509.  626.  635.  636. 

637.  644. 
Albertus  Magnus  656. 
Albinus  248.  249.  289.  494.  595. 
Albrecht,  J.  W.  275.  280.  549. 

R.  664. 
Aldini  362. 

Aldrovandi  10.  11.  570.  657. 
Alesander  von  TraUes  93.  479.  606.  615. 

616.  631.  632.  654.  829. 
Algeri  555. 
Alibert  514.  531. 
Alison  713. 

Alkmaion  172.  174.  328. 
Allan.  R.  521. 
Allen  320. 

Alpini  10.  570.  663.  705.  761.  767. 
Althoff  913. 
Altomare  21. 
Altomari  633. 
Altschul  125. 
Amand  v.  Buseck  5%. 
Amatus    Lusitanus    21.    483.   568.    569. 

577. 
Amici  220.  512. 
Ammann  71. 
Ammon,  v.  526.  530. 
Ampere  402.  584. 
Amtrin  100. 
Amr  el-Dschähidh  192. 
Anaxagoras  175. 
Anaximenes  328. 
Ancelett  699. 

Andernach  s.  Witther  v.  A. 
Anderson  447. 


934 


Namenregister. 


Andral  137.  389.  515.  532.  622.  624.  626. 

640.  698.  904.  905. 
Andreae  289. 
Andreas  44. 
Andreasch  396. 
Andreozzi  227. 
Andriolli  58. 
Andrews  321.  708. 
Andry  652.  658. 
Anguillara  10.  570. 
Annesly  520.  531. 
Anschütz  431. 
Antomarchi  243. 
Antonio  Capedino  201. 

„        di  Padova  201. 
Antyllus  865. 
Apollonios  182—183. 
Aquilonius  400. 
Aranzio  235.  331.  482. 
Aratos  183. 
Arceo  30. 

Archigenes  645.  865. 
Arcolaui  481. 
Ardern  704. 
Ardoyno  582. 
Aretaeus  478.   606.   615.    626.   631.   632. 

656.  701.  751.  829.  865. 
d'Argelata  199. 
Argenterio  32. 
Argutinsky  431. 
Aristogenes  183. 
Aristophanes  654. 
Aristoteles  180.  191.  328.  631.  654.  664. 

725 
Arlt  150. 

Armstrong  101.  522. 
Arnaud  509. 
Arndt  549. 
Arnemann  506.  509. 
Arnold  399.  549.  550.  553.  620. 
Fr.  218.  274.  285. 
Jul.  219.  523 

I,'       von  Villanovä  1.  480.  582.  658. 
Aron  731. 
Aronsohn  432. 
Arrhenius  472. 
d'Arsonval  432.  441. 
Arthus  440. 
Aschoff  557. 
Aselli  54.  216.  336. 
Askanazy  551.  664. 
Asklepiades  478.  631.  632.  865. 
Astruc,  J.  312.  506.  509. 
Athenaeus  Attaleus  183. 
Athothis  159. 
Attaulah  195. 
Aubery  42. 
Aubert  457.  850. 
Auenbrugger  97.  98.  136.  606.  607.  618. 

688.  639. 
Auerbach  218.  688. 
Aufrecht  625.  907.  908. 
Augenio  21. 
Anrelianus  656. 
Autenrieth  116.   118.  128.  223.  364.  371. 

677.  871. 


Avenzoar  193.  632.  657. 
Avery  708. 

Aviceuna  193.  616.  713.  740.  760.  843. 
Avila,  Lovero  de  211. 
Azam  724. 

Baader  118.  498. 

Baas  636. 

Babes  552.  557. 

Baccelli  611. 

Baccius  577.  594. 

Bachtischua  192. 

Backer  366. 

Baco  s.  Roger. 

Baco  V.  Verulam  49.  333.  486.  595. 

Badham  621. 

Baelz  551.  734. 

Baer,  K.  E.  v.   144.  216.  286.  319.  383. 

512.  584.' 
Baer en  Sprung  825. 
Baerwlnkel  731. 
Baeyer  393.  439. 

Baglivi  56.  61.  226.  347.  616.  795. 
Baierlacher  728.  734. 
BaUlie  141.  497.  508.  510.  623.  639.  645. 

903.  904. 
Baillou    (Ballonius)    20.    619.    633.    857. 

866. 
Baüly  624. 
Baker  915. 
Baiardini  928. 
Balaud  929. 
Baidinger  98. 
Balduzio  488. 
Balfour  419.      " 
Ballantyne  558. 
Ballhorn  104.  850. 

Bamberger  550.  554.  623.  643.  644.  681. 

699.  703. 
Bancroft  663. 
Bang  93. 
Banti  558. 
Baraban  551. 
Barba  575. 
Barbaro,  Ermolao  10. 
Barbato  238. 

Barbeirac  (Barbej^ac)  68.  617. 
Barbette  489. 
Barbosa  572. 
Barclay  264. 
Bard,  S.  869.  870. 
Bardeleben  221.  222.  224.  306. 
Bardenheuer  714. 
Barfurth  217.  550. 
Barker  789. 

Barkow  270.  290.  526.  530. 
Baronio  616. 
Barrere  496.  626. 
Barrier  921. 
Barry  608. 
Bartels  552.  621. 

Barth  110.  295.  478.  611.  623.  645. 
Barthez  88.  313.  314.  362.  619.  620.  622 

624.  625.  863.  875. 


Namenregister. 


935 


Bartholin  54.  55.  68.  259.  260.  262.  338. 

486.  655.  657.  795.  867. 
Bartisch  31. 

Bartoletti  69.  488.  634.  642. 
de  Barv  552. 
Basch,  V.  442. 

Basedow  526.  531.  643.  731. 
BasUius  Valentinus  332.  333. 
Bass  499. 
Bassi  748. 
Bassow  376. 
Bateman  519.  531. 
Bauchet  516.  531. 
Bauer  391.  643. 
Bauermüller  284. 

Bauhin  272.  273.  277.  483.  574.  594.  698. 
Baumann.  E.  438.  471.  544.  587. 
Baumes  109.  462.  464. 
Baumgarten  549.  550.  552.  907.  908.  909. 
Rfivpr  otO 

BaVle  137.'  514.  531.  617.  903.  904. 
Baynard  101. 
Bazzi  611. 
Beard  644.  732. 
Beau  643.  645. 
Beanlieu  69. 
Beaumont  376.  470.  682. 
Beaumont  s.  Brierre  de  B. 
Beaunis  725. 
Becerra  234. 
Becher  349.  461. 
Bechterew  446.  923. 
Beck  447.  554. 
Becker,  K.  Fr.  388.  465. 

„       551. 
Beclard  314.  366.  511. 
Becourt  699. 

Becquerel  388.  397.  465.  544. 
Beddoes  108.  462. 
Beer  450.  454.  627. 
Beevor  446. 
Behrens  864. 
Behring  734.  878.  912. 
Beigel  554. 

Beitar.  Ihn  el  651.  664. 
Bell  142.   266.   267.  356.   366.  500.   501. 

506.  507.  508.  509.  511.  584.  719.  720. 
Bell,  F.  Jefrey  224. 
Bellingeri  366.  402. 
Bellingham  636. 

Bellini  53.  61.  239.  338.  588.  634.  646. 
Belmondo  930. 
Belon  10. 
Benario  549. 
Beueden  218.  660. 

Benedetti  20.  30.  215.  481.  633.  706. 
Benedictus  201. 
Benedikt  724.  728. 
Beneke  548.  549.  554.  600.  647. 
Benivenius  697. 
Ben(i)vieni   20.    31.   202.  483.  633.  6S4. 

642. 
Benkö  505, 
Benuet  69.  489.  493. 
Benvenuti  503. 
Berends  128.  608. 


Berengar  v.  Carpi  30.  200.  216.  229.  48L 

633. 
Berg  586.  869. 
Berge  621. 

Bergen,  v.  275.  869.  924. 
Berger  724. 
Bergmann  578. 
Bergmann,  v.  719. 
Beringer  284. 
Berlin  252. 
Berlinghieri  90. 
Bemard,  Cl.  325.  377.  407.  413.  423.  432. 

433.  434.  441.  456.  469.  470.  544.  545. 

585.  588.  683.  698.  699. 
Bernard  de  Palissy  s.  Palissy. 
Bernatzik  586. 
Bernhardt  425.  728. 
Bernheim  723.  725. 
Bemouüi  270.  273.  578. 
Bernstein  374.  424.  425.  429.  448. 
Berres  296. 
Berruguette  234. 
Bert,  P.  4.^. 
Bertapaglia  201. 
BerthoUet  389. 
Bertin  638. 
Bertoletti  772. 
Bertrandi  243.  506.  509. 
Bertuccio  198. 
Berzelius  377.   378.  463.  464.  465.  466. 

584.  597. 
Bethe  454. 
Beverwyck  486. 
Bezold,  A.  V.  409. 

.,       424. 
Bianchi  240.  499.  509. 
Bihiena  240. 

Bibra.  H.  t.  470.  544.  596. 
BiChat  130.  217.  357.  362.  363.  510.  511. 

513.  717. 
Bickel  356. 
Bicker  110. 
Bidder  304.  377.  385.  387.  389.  465.  683. 

699. 
3idloo  248.  318.  498.  663. 
Biedermann  428. 
Biedert  624.  909. 
Bielschowsky  451. 
Biener  300. 
Biermann  624. 
Biermayer  527.  528. 
Biermer   552.   610.   621.    622.   623.    627. 

642.  879. 
Bigelow  706. 
Bilharz  551.  662.  663. 
Billard  514.  530.  531. 
BUlroth  385.  546.  551.  553.  695.  696. 
Bils  246. 
Bina^hi  550. 
Binninger  490. 
Binz  645. 
Birch-Hirschfeld  549.  553.  555.  556.  908. 

911. 
Bird  520.  531. 
Bischoff  216.  287.  383.  887.  388.  464.  465. 

512.  726.  798. 


936 


Namenregister. 


Biiimi  504. 

Bizzozero  223.  549.  550.  551. 

Black,  Jos.  358. 

.,       462. 
Blackley  622. 
Blaes  261. 
Blair  502. 
Blanchard  551. 
Biancaard  54. 

Blaukaart  58.  256.  492.  493. 
Blasius  490.  698. 
Blaudin  315. 
Blegny  70. 

Bleuland  250.  501.  509.  529. 
Bleuler  724. 
Blix  411.  429.  448. 
Bloch.  M.  E.  506.  509.  659. 

„       I.  654. 
Blondlot  376.  682. 
Bloss  269. 
Blum  554. 

Blumenbach  90.  283.  363.  524.  656. 
Blumentrost  318. 
Boas  692.  695. 
Boccaccio  755. 
Boccangelino  761. 
Bochdalek  300.  302.  553.  624. 
Bock  556.  557. 
Bock  cfr.  Tragus. 
Bockhorn  553. 
Bodenstein  42. 
Bodington  912. 
Boe  s.  Sylvius. 
Boeckel  258. 
Boecking  301. 
Boeckler  275. 
Boeckmann  111. 
Boehm  824. 
Böhmer  499. 
Boerhaave   74.   75.    348.    502.   575.    596. 

636.  668.  669.  672.   675.  677.  701.  709. 

744.  833. 
Bohn  59.  71.  341.  460. 
Bohr  435. 
du  Bois-Reymond  144.  223.  370.  398.  403. 

422.  424.  428.  453.  727. 
Boisseau  511. 
Bolk  221. 
Bell  223.  450.  550. 
BoUinger  547.  552.  557.  643.  907. 
Bona  s.  della  Bona. 
Bonn  252.  254.  501.  508.  509. 
Bonafede  570. 
Bonagentibus,  de  761. 
Bondt  246. 

Bonet  68.  492.  493.  494.  713. 
Bonnet(us)  221.  306.  622.  623.  659. 
Bonome  549. 
Bonomo  69.  664. 
Bont(ius)  69.  489.  803.  830. 
Bontekoe  58.  247.  460. 
Boot  69.  489.  493. 
Borden  86.  87.  313.  314.  362. 
Bordot  921. 
Borel  489. 
Borelli  53.  336.  338.  343.  344.  362.  374. 


Born  221.  548. 

Borsieri  de  Kanilfeld  100.  505.  509.  616. 

Bosch  665. 

Boschi  237.  485. 

Bosscha  252. 

Bostock  621. 

Boström  550.  551. 

Botallo  21.  22.  30.  235.  331. 

Botkin  791. 

Bottazzi  437.  443. 

Bottoni  23. 

Boubee  825. 

Bouchard  423.  552.  555. 

Bouchardat  544. 

Bouchet  921. 

Bouchut  732. 

Boudet  625.  875. 

Bouillaud  134.  444.  515.  531.  624.  638. 

639.  678.  680. 
Bouisson  313. 
Bourgeois  70. 
Bourgfuignon  551.  664. 
Bourlier  981. 
Bournet  620. 
Boussingault  386.  389. 
Boveri  218. 
Bowditch  425. 
Bowman,    Sir  WiU.   268.   418.    430.  435. 

436.  685. 
Boyce  557. 
Boyden  261. 
Boyer  516. 

Boyle  59.  333.  341.  360.  460.  595. 
Bozzini  707. 
Brächet  655. 
Brackenau  s.  Hock. 
Braid  724. 
Brand  378. 
Brande  713. 
Brandeis  557. 
Brandis  91.  117. 
Brandt  464. 

Brassavola  22.  570.  577. 
Braueil  748. 
Brauer  551. 
Braun  551.  600.  663. 
Braune  223.  224.  305.  404.  431. 
Bree  627. 
Brehmer  600.  912. 
Breisky  553. 
Bremburg  317. 
Bremser  526.  531.  659. 
Brendel  499. 
Brenner  728. 
Brera  107.  731. 
Breschet  314.   315.   317.   388.   465.   517. 

531.  641.  642. 
Bretonneau  137.  515.  531.  745.  798.  800. 

863.  869.  872.  875. 
Breuer  448. 
Breus  553.  554. 
Brewster  398.  399.  400. 
BriauQon  611. 
Bricheteau  874. 
Brie,  Jehan  de  663. 
Brieger  438.  471. 


Namenregister. 


937 


Brierre  de  Beanmont  928. 

Briffht  142.  520.  531.  642.  713. 

Brinton  694. 

Brissot  22.  215.  616. 

Brittan  824. 

Broca  444.  724. 

Brodie  142. 

Brodowski  556. 

Broers  529. 

Brondgeest  448. 

Bronn  652.  660. 

Brouardel  894. 

Broussais   107.   133.  515.  531.  608.   618. 

678.  680.  797.  904. 
Browicz  549. 
Brown,  J.  105. 

.,     '  ß.  218.  382.  425.  661.  677.  678. 

718.  726.  744. 
Brown-Sequard  418.  423.  441.  544.  545. 

729.  730.  734. 
B^o^\^le.  J.  263. 
Bruch  272.  273. 
Brücke  144.  298.  398.  408.  409.  414.  430. 

470. 
Brunfels  10.  568. 
Brunn.  J.  J.  273. 
Brnnner  59.  €8.  275.  278.  340.  460.  683. 

924. 
Bmno.  G.  14. 
Brnns  550.  551.  553.  707. 
Brunschwig  30. 
Bryden  826. 
Bubnoff  549. 
Buchheim  ö85. 
Buchholz  583. 
Büchner  466.  472.  550. 
Bndd  800.  801.  802.  825. 
Buddeus  287. 

Budge  306.  374.  399.  420.  446. 
Büchner  83.  422.  507.  509. 
Bütschli  218. 
Büttner  509.  659. 
Bufalini  864. 
Buglieni  931. 

Buhl  390.  550.  661.  801.  875.  908. 
Buldsnvder  216. 
Bulgetius  634. 
Bunge  407.  439.  453. 
Bunsen  396.  468. 
Buonarotti  s.  Michelangelo. 
Buonfiglioli  239. 
Burch,  G.  425.  451. 
Burchardi  276. 
Burchardt  664. 
Bardach  116.    133.  222.  303.  304.  371. 

471.  524. 
Burkart  443. 
Burkhard  273. 
Burkhardt  273, 
Burkhart  554. 
Bume  703. 
Bumet  490. 
Bums  638. 
Burow  549. 
Bnrq  723. 
Busch  M9. 


Buschan  643. 
Bush,  F.  688. 

C  (vgl.  auch  K). 

Cabrol  312.  313. 

Cadet  709. 

Cadiat  315. 

CaeUus  Aurelianus  616.  632.  829. 

qaiesalpinus  11.  12.  15.  226.  332. 

Cagliostro  110. 

Cagnati  18. 

Cagniard-Latour  466. 

Cairn  692. 

Cajal,  Ramon  y  219.  222.  234.  447.  555.  720. 

CaiUau  871. 

Caldani  241.  356.  529. 

Calzolari  570. 

Camerarius  566. 

Camman  611. 

CampaneUa  15. 

CampbeU  915. 

Camper  251.  254.  497.  509.  849. 

CandoUe  s.  de  Candolle. 

Cannanus  332. 

Canstatt,  K.  121.  537.  688.  691.  835.  864. 

Capivaccius  687. 

Capponi  237. 

Caraka  652.  653. 

Carcano  236. 

Cardano  15.  33.  621. 

Carl  81. 

Carminati  358. 

Carnevale  867. 

Carpenter,  TV.  B.  419. 

Carrichter  42. 

Carriere  550. 

Carro  104.  850. 

Carswell  522.  530. 

Cartesius  s.  Descartes. 

Carus  116. 

Casal  927.  928. 

Casper  709.  714. 

Cassehohm  279.  288. 

Casserio  236. 

Castellani  226. 

Cato  655. 

Catti  235. 

Cavendish  358.  360.  362.  462.  578. 

Caventou  586. 

Cayol  622. 

Cazenave  708. 

Ceely  854. 

Celli  551. 

Celsus  478.  616.  631.  632.  655.  700.  701. 

705.  829.  903.  918. 
Cerri  928. 
Cerutti  525.  528. 
Cesati  928. 
Cestan  620. 
Cestoni  664. 

Chalin  de  Vinario  755.  759. 
Champier  18. 
Chaptal  358. 
Charas  577. 
Charcot  553.   554.    558.   627.    710.    722. 

725.  729.  730.  731.  732.  733. 


938 


Namenregister. 


Charlton  489. 

Charrifere  706. 

Charron  13. 

Cbauveau  334.  416.  423.  427.  433.  645. 

907 
Cheadle  864. 
Chelius  525.  531. 
Chenot  96.  766. 
Cheselden  263.  506.  509. 
du  Chesne  42.  566.  567. 
Chesneau  490. 
Oheston  497. 
Chevalier  512. 
Chevreul  .S61.  392. 
Cheyne  93.  142.  789. 
Chiarugi  102. 
Chifflet  487.  493. 
Chirac  62.  313. 
Chittenden  394.  470. 
Chladni  400. 

Chomel  137.  514.  531.  639.  860.  868. 
Chopart  357.  505.  509.  717. 
Choulant  640. 
Christensen  259. 
Christisou  588. 
Chrysippos  179. 
Cicero  631. 
Cieza  de  Leon  573. 
Citois  915. 
Ciucci  69.  706. 
Civiale  706. 
Clar  607. 
Clark  611.  906. 
Clarke  220.  726.  730. 
Claudini  487. 
Claudius  548. 
Clausen  699. 
Clauser  21. 
Clusius  s.  de  rEcluse. 
Clausins  437. 
Clausure  513. 
Cleef  236. 
Cleghom  832. 
Clement  70. 
Clementinus  21. 
Cleti  867. 
Cloetta  408. 
Cloquet  516.  531. 
Coats  407.  556.  644. 
Coberus  69. 
Cockburn  69. 
Cogue  556. 
Cohen,  G.  625.  731. 
Cohn,  B.  624. 

„      F.  547. 

n       748. 
Cohnheim  223.  545.  549.  550.  555.  624. 

625.  906.  907.  908. 
Cohnstein,  Js.  448. 
Coindet  586. 
Coiter  482. 
Colasanti  432. 
Colden  868. 
Cole  53. 
Coleman  932. 
Colin  906. 


Collado  233. 

CoUe  755. 

Colledge  324. 

CoUin  294.  603.  611. 

CoUins  491. 

Colombo  31.  201.  226.  235.  331.  482.  633. 

Colomiatti  556. 

Columella  747.  918. 

Comparctti  242. 

Concato  662. 

Condamine,  de  la  846.  848. 

Conil  551. 

Concoreggio  199. 

Condillac  88. 

Conradi  498.  510. 

Conring  42.  59. 

Consbruch  523. 

Constantinus  Africanus  195. 

Cooper,  Astley  142.  520. 

Cooper,  W.  337.  531. 

Copho  480. 

„      IL  196. 
Copland  626. 
Copus  18.  215. 
Corbien  702. 
Cordus  566.  568.  569. 
Comarius  215. 
Cornarus  17.  18.  20.  567. 
Comet  910.  911.  912. 
CornU  550.  552.  554.  555.  557.  730. 
Corona  582. 
Corradi  480.  647.  763. 
Corrado  662. 
Correa  803. 

Corrigan  622.  635.  639. 
Cortes  929. 
Cortesi  30.  488. 
Cortesius  867. 
Corti  400. 

Corvino  755,  s.  auch  Simon. 
Corvisart  135.   1.%.  377.  514.  531.  607. 

638.  639.  642.  682.  699. 
Coschwitz  81.  280.  281. 
Costa,  da  643. 
Cothenius  924. 
Cotugno  100.  241.  713.  797. 
Coudenberg  569.  570. 
Councilman  550.  551. 
Courhaut  921. 
Courtain  208. 
Courvoisier  698. 
Conto  836. 

Cowper,  W.  263.  492. 
Coytard  776. 
Craanen  58.  247. 
Craemer  910. 
Craigie  521. 
Cramer  399.  639.  647. 
Crawford  359. 
Creighton  790.  846.  847. 
Creir,  J.  F.  634. 
Cremer  440. 
Creplin  660. 
Cresse  310. 
Creve  464. 
Croc6-Spinelli  434. 


Namenregister. 


939 


Groll  42.  44.  566. 

Demme  910. 

Crookshank  932. 

Demokrit  328. 

Crouviard  708. 

Demokritos  174. 

Cruikshank  267.  357.  709. 

Demoor  447. 

Crnise  708. 

Demonrs  311. 

CruveüMer  137.  314.  497.  518.  530.  618. 

Deneke  827. 

619.  624.  625.  641.  642.  694.  728.  730. 

Denis  63. 

731.  835. 

Denonvülier  314.  315.  517. 

Cuboni  929. 

Dermont,  E.  619. 

Cullen  86.  89.  718.  744. 

Derosne  586. 

Cumming  398. 
Cuneo  204. 

Dervieux  611. 

Desault  505. 

Omningham  269.  826. 

Descartes  49.  52.  333.  345.  400.  719. 

Currie  101. 

Descemet  311. 

Curschmann  627. 

Desormeaux  708. 

Cusanus  645. 

Despars  205.  258. 

Cuvier  116.  372.  517. 

Despres  611. 

Cuynat  915. 

Despretz  389. 

Cybidski  442. 

Dessenins  42. 

Cvon,  V.  409.  415.  441.  443.  448.  456. 

Dettweiler  912.  913. 

Czelkow  408.  427. 

Deusing  255. 

Czerniak  724. 

Deventer  71. 

Czerny  549.  696.  714. 

Devl,  van  512. 

Czolbe  422. 

Diaz  21. 

Dickinson  447. 

Da?a  Chacon  30. 

Dieckhoff  700. 

Dale  576. 

Diemerbroek  69.  254.  487.  617.  744.  7( 

Dalton  386.  400.  463.  584. 

Diesing  527.  531. 

Dance  702. 

Dietl  618.  680. 

Daniel  504. 

Dietrich  622. 

Damlewsky  411. 

Dienches  180. 

Dapper  686. 

Digbv  44. 

Daremberg  606.  752. 

Dimsdale  104.  849. 

Dareste  c48. 

Diodor  739.  878. 

Dariot  42. 

Diogenes  von  Apollonia  173.  328.  631. 

Darwin.  Ch.  217.  381.  422. 

Diokles  v.  Karystos  179.  615. 

„      '  E.  624. 

Dionis,  P.  167.  310. 

Davaine  551.  656.  748. 

Dionysius  616. 

Davidson  799. 

Diosknrides  655.  725. 

Davis  640. 

Dittel  706.  707. 

Davv  361.  463.  584. 

Dittmar  415. 

Dax"  444. 

Dittrich  624. 

De  CandoUe  924. 

Diverso,  P.  S.  20. 

Dechambre  619. 

Dodart  62.  919. 

Deckers  247. 

Dodoens  (Dodonaeus)  10.  20.  484.  569. 

Deckmann  277. 

Dolaens  o8. 

van  Deen  368.  412. 

DöUinger  115.   116.  144.    216.  286.   3( 

Degner  832. 

584 

Deidier  313. 

Dömling  116. 

Deijman  251. 

Döring  42.  69.  858. 

Deiters  385. 

Doeveren  497.  508. 

Dejerine  553.  730.  734. 

Dogiel  407. 

Dekhuvzen  223. 

Donato  (Donatns)  20.  633. 

Delafield  556. 

Donders  399.  412. 

Delafosse  715. 

DonzeUini  20. 

Delamarre  729. 

Domblüth  853. 

Delboeuf  724. 

Dorsey  320. 

Delestre  514. 

Donglas  d.  Ae.  264.  868. 

Della  Bona  926. 

Dove  400. 

Delle-Chiaje  529. 

Doveren  250. 

Delmas  313. 

Doyon  456. 

Delpech  313.  516.  531. 

Dragendorff  588.  925. 

Demarquay  550.  663. 

Drawitz  924. 

Demaury  377. 

Drebbel  54.  337. 

Demeny  431. 

Drechsel  438. 

Demme,  H.  274. 

Drelincourt  247.  634. 

940 


Namenregister. 


Dreser  435.  437. 
Driescli  217. 
Drüner  218. 
Dryander  s.  Eichmann. 
Dubini  551.  662. 
Dubois  231. 

„       Ant.  314. 

„       FranQ.  Jacq.  21. 

„       Jacques  207.  215. 

„       Raphael  433. 
Dubreuil  313.  825. 
Dubreuilh  551. 
Duchenne  553.  691. 

„         G.  B.  405.  721.  727.  729.  730. 

731. 
Dudgeon  646. 
Dudith  V.  Horekowicz  704. 
Dürck  557. 
Duflos  588. 
Duges  313. 

Dujardin-Beaumetz  730. 
Dulaurens  312.  313. 
Dulong  389. 
Dumas  383.  710. 

„       C.  L.  88.  313. 
Dumeril  314.  315. 
Dunott  320. 
Dunus  657. 
Dupuytren  141.  314.  516.  518.  531.  702. 

703. 
Duret  18.  483. 
Dutrochet  218.  379.  683. 
Dutt  653. 
Duval  423.  555. 
Duvemey  310. 
Duvernoy  279.  280.  318. 
Dybkowsky  408. 

Ebbinghaus  452. 
Eberhard  83. 
Eberle  377.  682. 

„       J.  N.  376.  465. 
Eberth  549.  550.  552.  619.  749.  801. 
Eble  302.  597. 
Ebner  298. 

Ebstein  436.  549.  554.  712.  752. 
Eckardt  550. 

Ecker  272.  273.  286.  552. 
Eckhard  292.  356.  404.  409. 
de  l'Ecluse  10. 
Edinger  222.  692.  729. 
Egbertszoon  251. 
Egeberg  696. 
Eglinger  273. 
Ehrenberg  293.  512.  747, 
Ehrenritter  295. 
Ehrlich  219.  223.  427.  440.  472.  549.  552. 

555.  720.  909. 
Ehrmann  276.  518.  549. 
Eichmann  213. 
Eichstedt  551.  552.  664. 
Einhorn  693. 
Einthoven  627. 
V.  Eiseisberg  552. 
Eisenhart  464. 


Eisenmann  121.  275.  798.  835. 

Elbogen  554. 

Elliotson  621. 

EUis  268. 

Elsholtz  63. 

Eisner  90. 

Emmerich  21. 

Emminghaus  864. 

Empedokles  173. 

Empis  904.  905. 

Encelius  11. 

Enders  217. 

Eneden,  van  724.  725. 

Engel,  J.  274.  302.  556.  624. 

„       790. 
Engelhart  378. 

Engelmann,  Th.  W.  430.  443.  450. 
Ennemoser  118. 
van  Enschut  464. 
Eppinger  549.  553.  556. 
Epstein  551. 
Erasistratos  182.  329.  477.  478.  615.  631. 

632. 
Erastus  42. 

Erb  553.  725.  728.  729.  732.  734. 
Ercolani  236. 
Erichsen  733. 
Erikson  929. 
Erla  929. 
Ernst  549. 
Errard  239. 
Eschenbach,  C.  E.  504. 
C.  G.  505. 
L.  E.  924. 
Eschenmayer  118, 
Escherich  552. 
Eschricht  659. 
de  l'E(s)cluse  10.  569.  573, 
d'Eslon  110. 
Espel  708. 
Esquirol  102.  234. 
Estienne  208.  633. 
Etschenreutter  594. 
Ettmüller  58.  880. 
Eudemos  180.  182. 
Eulenburg  724.  728. 
Euler  378.  399.  578. 
Euryphon  175. 
Eusta(c)chi  31.   216.  226.   229.   231.   249. 

331.  343.  482. 
Evagrius  754. 
Evert  270. 
Ewald,  J.  R.  445. 

„       E.  448.  449. 

„      685.  688.  692.  693.  695. 
Ewart  620. 
Exner  400.  445.  453. 
Eyerel  96. 
Eysson  256. 

Fabricius  275.  499.  659. 

„         ab  Aquapendente  177.  236.  249. 

332.  335.  687. 

Fabricius  v.  Hilden  70.  484.  657.  830. 
Faivre  645. 


Namenregister. 


941 


Falconer  582. 

Falcticci  202. 

Falkenberg  289. 

Falloppio  216.  229.  231.  331.  698. 

Fano  437.  440.  443. 

Fantoni  354.  499. 

Fanzago  530.  927. 

Farabenf  314.  315. 

Faradav  463.  584.  726. 

Farr  825. 

Farre  519.  531. 

Fattori  242. 

Fanchard  102. 

Fauvel  621.  640. 

Favre  391. 

Fechner  401.  451. 

Fedele,  Fort.  22.  71. 

Feldmann  923. 

Felix  929. 

Ferdinand!  487. 

Fernandez  573. 

Fernel  15.  32.  207.  633.  667.  697.  829. 

Ferrari  da  Grado  203. 

Ferrein  311.  313. 

Ferri.  Alf.  30. 

Ferrier  446.  449.  719. 

Ferro,  Pasc.  Jos.  96.  104.  108.  850. 

Feser  547. 

Feuchtersieben,  E.  v.  128. 

Fewster  849. 

Fichte  113. 

Ficino,  M.  13.  15. 

Fick,  A.  391.  400.  411.  417.  427.  430.  431. 

433.  442. 
Fick,  F.  L.  523. 
Filatow  877. 
Filz  700. 
Finaly  841. 
Finger  553. 
Finke  96. 
Finkler  432.  827. 
Finsen  660. 
Fioravanti  42. 
Fischer  276.  549.  552. 
Emil  439. 
„       J.  L.  498. 
J.  M.  295. 
„        Otto  431. 
Fisher,  J.  D.  611. 

.,      J.  708. 
Fizes  313. 
Flachsland  524. 
Flajaui  643. 
Flatau  734. 

Flechsig  222.  446.  553.  729. 
Fleiner  690.  691.  695. 
Fleischl  431. 
Fleischmann  124.  524. 
Flemming,  P.  440. 

W.  218.  220. 
277.  300.  549.  550.  554. 
Flemyng  83. 

Flourens  366.  420.  448.  511.  584.  718.  719. 
Flower  321. 
Foyer  101. 
Fluctibus  8.  Fludd. 


Fludd  44. 

Flückiger  586. 

Flügge  552.  558.  911. 

Foä  550. 

Fodera  366. 

Fodere  919. 

Foerster  451.  548.  556.  557. 

Foesius  17.  18.  567. 

Foglia  867. 

Fohmann,  Y.  285. 

Fol  218.  548. 

Folchi  529. 

Folius  343. 

FoUi  240. 

Fontana  357.  583. 

Fontanus  488. 

Fönte  487. 

Fontecha  866. 

Fonteijn  251. 

Forbes  142.  321.  519.  609. 

Ford  321. 

Foreest  (Forestus)  20.  21.  484.  658.  761. 

858.  866.  880. 
Forel  724.  725.  735. 
Forli,  Jacopo  da  199.  200. 
Formey  128. 
Forster  471. 
Fortezza.  G.  201. 
Forti  490. 
Fothergill   93.   100.   506.  507.   509.   582. 

860.  868. 
Fourcault  825. 

Foiircroy  108.  378.  462.  464.  698.  709. 
Fournier  729. 
Fovet  595. 
Fowe  524. 
Fowler  583. 

Fracastoro  741.  756.  761.  774.  775. 
Fracassati  237.  239. 

Fraenkel  435.  552.  619.  641.  709.  749.  911. 
B.  906.  907.  909.  910.  911.  913. 
Fraentzel  643.  644.  909. 
Fragornard  314. 
Franco  31.  705.  706. 

Frank,  J.  P.  96.  99.  100.   103.  505.  527. 

582.  607.  621.  694.   701.  713.  716.  864. 
Frank,  Jos.  108.  625.  644.  699. 
Frangois-Frank  442.  445. 
Frankland  391. 
FrapoUi  927.  928.  929. 
Fraunhofer  512. 
Freind  59. 
Freire  841. 
Fremy  470. 
Frenkel  729. 
Freri(^hs  145.   387.   393.   464.   468.   470. 

683.  698.  730. 
Fresenius  597. 
Freud  724. 
Freund,  W.  A.  623. 
Frey,  v.  407.  427.  429.  442.  448.  623. 

„      0.  421. 
Freyer  707. 

Friedlaender  552.  619.  908. 
Friedlowsky  296. 


942 


Namenregister. 


Friedreich  553.  610.  640.  644.  646.  699. 

725.  729.  730.  731. 
Frisch  552.  646. 
Fritsch  404.  444.  719. 
Fristedt  586. 
Frobenins  619. 
Frohse  221. 
Frommann  730. 
Froriep  218.  527.  536.  728. 
Fuchs,  Casp.  Fr.  623. 
Fuchs,  C.  H.  121. 

,,       J.  F.  286. 

„       L.  10.  18.  568. 

,,       S.  450.  456. 

.,       215.  526.  531.  630. 
919.     920. 
FiirbrinVer  221.  252. 
Fürst  624. 
Fürstenberg  664. 
Fürstenheim  708. 
Fürth,  V.  442. 
Fütterer  556. 
Funke  410.  430. 

Gabuccini  663. 

Gad  417.  429.  441.  443. 

Gaertner  442. 

Gaffky  552.  749.  801. 

Gäfiki  193. 

Gairdner  623. 

Galbiati  854. 

Galeazzi  642. 

Galen  176.  177.  185.  190 
478.  615.  616.  622.  630 
637.  645.  654.  656.  666.  698.  739 
752.  760.  829.  842.  917. 

Galilei  333.  646. 

Gall,  F.  J.  295.  357.  718. 

Galli  227. 

Gallini  364. 

Galvani  109.  241.  361.  362.  401.  578.  726 

Garbe,  R.  653. 

Garbo  199. 

Garcia  da  Orta  s.  Orta. 

Garcia  Carreras  234. 

Garnier  860. 

Garretson  321. 

Garrod,  A.  H.  419. 

Garson  269. 

Gaskell  443. 

Gassend  48. 

Gasser  294.  718. 

Gassner  110. 

Gaston  918. 

Gatti  848.  849. 

Gaub  86.  87. 

Gaultier  de  Claubry  799. 
Gauss  374.  398. 
Gautier  91.  438.  471. 
Gautier  d'Agoty  250. 
Gavarret  139.  389.  515. 
Gaylord  557. 
Gay-Lussac  463.  584. 
Geber  332. 
de  Geer  664. 


329.  330.  345. 

632.  633.  634. 

751. 


Gegenbaur  221.  306. 
Geigel,  A.  645.' 

„       610.  640. 
Geiger  587. 
Gelle  313. 
Gemma  484. 

van  Genderen-Stoort  450. 
Gendrin  515.  bm.  640.  641.  644. 
Gendron  800. 
Genga  239. 
Gennari  501.  509. 
Genth  600. 

Gentile  da  Foligno  200. 
GeofiFroy  580. 

Geoffroy  St.  Hilaire  517.  630. 
Georgius  Sanguinaticius  190. 
Geppert,  A.  J.  434. 
Gerarde  570. 
Gerdes  556. 
Gerdi  s.  Zerbi. 
Gerhard  v.  Cremona  196. 
Gerhard  799. 
Gerhardt,  C.  610.  620. 

623.  625.  732.  864. 
(Philad.)  625. 
Gerlach  219.  598.  906.  907. 

Jos.  385.  720. 
Gersdorff  30.  918. 
Gerszdorff,  H.  v.  213. 
Gescher  506. 
Gescher,  van  509. 
Gesner  11. 

„       C.  15.  42.  570. 
Geuns  623.  687.  833. 
Gherardini  927.  928. 
Ghini  570. 
Ghisi  868.  869. 
Giachino  215. 
Giacosa  438. 
Gianella  495. 
Gianuzzi  221.  421. 
Gibbes  557. 
Giebier  841. 
Gieffert  665. 
Gietl  800. 
Gilbert  15. 
Gilchrist  419.  795. 
Gilibert  505. 
Gimbemat  507.  509. 
Gimeno  232. 
Giulio,  di  555. 
Girardi  241. 

Girtanner  107.  677.  861. 
Glaser  343. 

T   H   273 
Glauber '460.  595. 
V.  Gleichen-Rusworm  660. 
Glisson  69.  263.  338.  344.  353.  489.  493. 

683.  697. 
Glockner  551.  554. 
Glossy  497. 
Gluge  529.  530.  879. 
Gmelin  111.  144.  375.  377.  463.  464.  612. 

682. 
Gockel  491. 
Goclenius  44. 


Namenregister. 


943 


Godman  320. 
Goelicke  289. 
Goelis  101.  871.  872. 
Görres  119. 
Goethe  399.  400. 
Goetsch  910. 

Goeze  506.  509.  659.  660.. 
Gohl  81.  101. 
Gohorrv  42. 
Goiffon  747. 
Goldbeck  703. 
Goldscheider  448.  729. 
Golgi  219.  222.  244.  446.  551.  720. 
Goll  305. 

Goltz  445.  446.  448.  719. 
Goluboff  626. 
Goodsir  265. 
Gordon  264.  621. 
Gorris,  Jean  de  18. 
Gorter  de  86. 

Gorup-Besanez  466.  468.  470. 
Gosselin  315. 
Gotch  425.  429.  446. 
Goulard  578.  583. 
Goupvl  207. 

Graaf,  de  55.  255.  340.  347.  490. 
Graff  932. 
Graham  379. 
Grainger,  Edw.  267. 
Eich.  267. 
832. 
Gram  555. 
Gramann  44. 
Grant  96.  779.  868. 
Grapengiesser  726. 
Graser  710. 
Grassi  551.  662.  663. 
GrauTogel,  v.  125. 
Graves,  K.  142.  609.  619.  643.  703.  731. 

790. 
Gravesande  362. 

Grawitz  549.  550.  553.  554.  557. 
Greding  505.  509. 
Green  556. 

Gregor  v.  Tours  842.  843. 
Gregorios  v.  Nyssa  190. 
Gregory  89.  93. 

853. 
Gren  580. 
Griepenkerl  925. 
Grieselich  124. 
Griesinger  410.   551.  553.  646.  661.  662. 

721.  791.  793.  799. 
Grill  652. 
Grimaud  313. 
Grimm  780. 

Grisolle  618.  619.  620.  625.  640. 
Grohmann  735. 
Grosglik  715.  716. 
Gross,  F.  124. 

.,       W.  124. 

„      H.  225. 

„      S.  D.  522. 
Grober,  W.  296.  319. 
Grubv  525.  531. 
Grünfeld,  J.  709. 


Grünhagen  431. 
Grützner  431.  436.  452.  724. 
Gruithuisen  116.  706. 
Grüner  100. 
Gscheidlen  456. 
Gsell  625. 
Guainerio  481. 
Gubler  551.  584. 
Gudden  222.  446.  551.  553.  664. 
Guensburg  557. 
Guerin  826. 
Guersant  619.  875. 
Guevara  233. 

Günther  (Winther)  v.  Andernach  207. 
Günther  552. 
Guenz  501.  509. 
Guericke  333. 
Guibourt  586. 
■Guidi  21.  207. 
Guillaume  513. 
Guillemeau  31. 
Guillot  624. 
Guislain  625. 
Guldenklee  577. 
Gull  ö52. 

W.  643. 
GÜssenbauer  549.  550.  696.  700. 
Gutbrod  644. 
Gutknecht  553. 
Guttstadt  540.  788. 
Guy  de  Chauliac  209.  480.  664.  704.  755. 

759 
Guyon  706.  710.  711. 
Guyot  513. 
Gyldenklee  489. 
Györy,  v.  777. 

Haacke  217. 

Haase  303. 

Habermann  438.  551.  553. 

Hack-Tucke  724  (s.  Tücke). 

V.  Hacker  553.  696. 

Haeckel  217. 

Haen,  de  94.  100.  503.  510.  578.  579.  645. 

726.  782.  796.  848.  860.  894. 
Haeser  591.  607.  752.  794.  879.  888. 
Haartmann  923. 
Hagemann  433. 
Hagenbach  273. 
Hagenbut  s.  Cornarins. 
Hagendorn  492. 
Hahn  101.  714.  842. 
Hahnemann  122.  581. 
Haindl  302. 
Haken  708. 
Haidane  435. 
Haies  351.  646. 

Hall,  Marshall  142.  367.  511.  719.  720. 
Halla  552. 
Haller,  A.  v.  85.  280.  300.  349.  362.  399. 

423.  425.  456.  477.   499.  509.  578.  679. 

5%.  634.  646.  698.  718.  726. 
Halliburton  438. 
Ballier  748.  824. 
Hallion  442. 
Hallopeau  555. 


944 


Namenregister. 


Harn  55.  347. 

Hamberger  351. 

Hamburger  437. 

Hamernjk  642.  644.  681. 

Hamilton  550.  556. 

Hammarsten  438.  440.  466.  470. 

Hammond  724.  733. 

Handyside  265. 

Hankin  772. 

Hannover  220.  384. 

Hanot  554. 

Hansemann  550. 

Hansen  452.  552.  724.  749. 

Härder  54.  68.  273.  491. 

Hardner  932. 

Harke  554. 

Harlan  320. 

Harles  699. 

Harless  730. 

Harley  663. 

Harris  101. 

Hartley  83. 

Hartmann,  Ph.  J.  658. 

„    K.  108.  128. 
784. 
Harvet  42. 
Harvey,  W.  45.  216.  260.  334.  347.  485. 

606.  632.  634. 
Hasenöhrl  96.  780. 
Hasse  523.  530.  622.  625. 
Hassenfratz  360.  361. 
Hasson  702. 
Hauptmann  63.  664. 
Hauser  549.  550. 
Hausmann  270. 
Hautesierk  504. 
Havelburg  841. 
Hawkins  267. 
Haworski  692. 
Haycraft  334. 
Hayem  223.  642. 
Heatb  321. 

Heberden  93.  519.  621.  731. 
Hebra  150.  551.  552.  664.  864.  928. 
Hecker,  A.  Fr.  117.  128.  508. 
„       C.  632. 

752.  758.  781.  846.  888. 
Hecquet  62. 
Hedbom  929. 
Heekeren,  van  507.  509. 
Heger  450. 
Heiberg  641. 
Heidenhain  221.  433.  435.  452.  683.  699. 

724. 
Heider  929. 

Heim  128.  552.  724.  864. 
Heine  722. 

„      J.  V.  730. 
Heineken  111. 
Heinroth  101.  119. 
Heister  257.  279.  280.  499. 
Heitz  468. 
Heitzmann  306.  550. 
Helferich  704. 
Heller,  C.  525. 

.,       J.  F.  379.  466.  544. 


Heller  435.  551. 

Hellwig  214. 

Helraholtz  144.   372.  388.  396.  397.  399. 

400.  401.  415.  424.   450.  465.  470.  719. 
Helmont,  van  43.  339.  358.  361.  458.  486. 

567.  574.  595.  621.  626.   669.  673.  687. 
Hempel  303. 
Henderson  639. 
Henke  224.  291.  300. 
Henle  151.  218.  220.  221.  274.  291.  382.  399. 

524.  530.  531.  664.  681.  685.  745.  748. 
Henneberg  391. 
Henneguy  224. 
Hennig  556. 
Henniuger  275. 
Henrici  287. 
Hensen  221.  449. 
Hensler  93.  848.  849.  920. 
Herakleianos  183. 
Heraklit  174.  328. 
Herbst  217.  661. 
Herder  853. 
Hergt  825. 
Hering,  C.  125. 
Ed.  407. 
„       Ew.  443.  450.  454. 
„       jun.  448. 

223.  372.  400.  428.  431. 
Herissant  687. 
Hermann  391.   411.  424.  425.  428.  431, 

449.  456.  683.  787.  790.  791. 
Hernandez  15.  573. 
Herodot  651. 
Herold  524. 
Herophilos  182.  329.  330.  477.  478.  631. 

632.  645. 
Herr,  v.  675. 
Herrera  866.  867. 
Herrich  525. 

Hertwig  217.  224.  287.  293. 
Hervorden,  Heinr.  v.  594. 
Hertz  623.  625. 
Herz,  M.  93. 

Heschl  549.  553.  554.  555.  624. 
Hess  451. 
Hesse  587. 

Hesselbach  284.  285.  526.  528.  531. 
Heuber  284. 
Heubner  553.  725. 
Heuking  549. 

Heurne(ius)  20.  21.  246.  487.  668. 
Heurteloup  706. 

Heusinger  283.   524.   528.  531.  798.  932. 
K.  F.  921.  924.  925. 
Th.  0.  923. 
Hewson  266.  320.  361. 
Heyde,  A.  van  der  70. 
Heydenreich  792. 
Heyland,  E.  M.  664. 
Heymans,  J.  F.  429. 
Heynsius  438.  645. 
Highmore  263. 
Hildebrandt  283.  270.  318. 
Hildegardis  656.  657. 
Hilden  s.  Fabriz. 
Hildenbrand  96.  798. 


Namenregister. 


945 


Hiltou  531.  661. 

Himlv  117. 

Hippokrates  362.  605.  606.  615.  616.  644. 

653.  654.  658.  665.  693.  698.  700.  733. 

738.  739.  751.  789.  828.  865.  878.  902. 

^912. 
Hippen  173. 
de  la  Hire  399. 
Hirn  433. 
Hirsch,  A.  477.   752.   769.  785.  879.  887. 

888.  892.  893.  898.  900.  915.  921. 
Hlrscliel  125. 
Hirzel  274. 
His  216.   220.   221.   222.   223.    224.    272. 

273.  292.  404. 
Hitzig  444.  719.  728. 
Hjärue  596. 
Hjelt  317. 
Hlasiwetz  438. 
Hlava  556. 
Hobbes  50. 

Hobeisch  ben  el-Hasan  192. 
Hoboken  255. 
Hobsou  324. 
Hochstetter  298. 
Hock  V.  Brackenau  213. 
Hodgkin  520.  639. 
Hodgson  519.  531. 
Hoeohstetter  488. 
Hoefer  69.  490.  493. 
HoeÖer  617  (statt  Wöllier  zu  lesen). 
Hoeniirer  756. 
van  t'Hoff  437.  472. 
Hoffbauer  101. 
Hoffmann,  Christ.  Ludw.  97. 

C.  E.  E.  272.  273.  305.  642. 
Friedr.  77.  82.  100.   101.  348. 

461.  471.  494.  502.  507.  578.  579.  595. 

596.  646.  668.  669.  671.  677.  693.  694. 

698.  795. 
Hoffmann.  Fr.  A.  623. 
J.  M.  698. 
K.  E.  V.  120. 
509.  700. 
Hofmann  223.  278.  510. 

.J.  M.  498. 
Hofmeier  549. 
Hofmeister  438.  470. 
Hoheuheim  s.  Paracelsus. 
Holl.  31.  298. 
Holmgren  400.  450.  451. 
Holschewnikoff  549. 
Home  236.  266.  399.  504.  861.  869.  870. 

871. 
Honigmann  693. 
Hook  54. 
Hocke  337.  341. 
Hooper  519.  531. 
Hoom.  van  71. 

Hope  521.  530.  531.  6^5.  6:^9.  640. 
Hoppe.  F.  646. 
Hoppe-.Sevler,  E.  544. 

„    '        F.  394.  395.  427.  434.  437. 

4:38.  466.  468.  471. 
Horaz  631. 
Horekowicz  15. 
Hom,  van  336. 

Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin.    Bd.  II. 


Hom,  E.  128. 

,.      W.  729. 
Hörne  246. 
Homer  320.  522. 
Homstein  549. 
Horslev  446.  719. 
Horst. "D.  68. 

..       J.  D.  489. 

;;       488.  595. 
Horwath  550. 
Houel  518. 
Houllier  18. 

Houillier  483.  632.  (HoUerius)  633. 
Hourman  619. 
Hoveden.  Boger  de  655. 
Howard  466. 
Howell  442. 
Howship  519.  531. 
Huard  646. 
Huarte  15. 
Huber  275.  499.  549.  653.  654.  655.  657. 

662.  665. 
Huchard  644. 
Hueck  399.  400. 
Huefner  395.  468. 
Huenefeld  466. 
Hueppe  552. 
Huerthle  437.  442.  646. 
Hufeland  91.  93.  108.  597.  640.  717.  724. 

726.  864.  871. 
Hughes  610. 
Humboldt.  A.  v.  108.  362.  401.  463.  726. 

849. 
Humphrv  419. 
Hunauld  311. 
Hundt  213. 
Hunt  442. 
Hunter,   J.  99.   102.   140.   141.  266.  ;157. 

358.  464.  497.  506.  507.  508.  509.  641. 

687.  726. 
Hunter,  Will.  266.  500.  508.  509. 
Huppert  4.38. 
Huschke  116.  304. 
Husemann  471.  586.  929. 
Huss  513. 
Husson  850. 
Hutin  728. 
Huxham  93.  503.  621.  744.  779.  789.  796. 

860.  861.  868.  878.  915. 
Huygens  333.  399. 

Hypatus  cfr.  Georgius  Sanguinaticius. 
Hyrtl  296.  300.  331. 

Jaages,  de  412. 
Jackson,  H.  733. 
Jacob,  J.  647. 
Jacobj  925. 
Jacobson  549. 
Jaeger  150.  749. 

„       H.  900.  901. 
Jaenisch  100. 
Jaffe,  M.  440. 
Jahja  Ibn  ei-Batrik  192. 
Jahn,  F.  120. 
Jaksch,  v.  681.   • 
Janowski  550. 
Janssen  54.  337. 


W 


946 


Namenregister. 


Janua,  Nicolaiis  de  201. 

Jarjavay  314.  315. 

Jarisch  549. 

Jasolini  235. 

Jaus  294. 

Ibmilkahatib  755. 

Jeckelmann  271. 

Jee  605. 

Jeifray,  J.  268. 

Jenner  103.  623.  745.  791.  799.  845.  847. 

849.  850.  851.  853. 
Jessen  213. 
Jessenins  299. 
Jesty  849. 
Ilg  300.  301. 
Immermann  892. 
Ingenhouss  110.  361. 
Ingrassia  761.  857.  858. 
Ingrassias  234.  331.  482.  664. 
Insfeldt  505. 
Joachim  651.  652. 
Joerg,  Ed.  621. 
Johannessen  862. 
Johannicius  192. 
Johne  902.  907. 
Johnson  639.  685. 
Johnson,  G.  713. 
Johnstone  870. 

Jelly  652.  653.  728.  732.  733. 
Jones  106.  556. 
Jordanus  776. 
Jores  554. 
Jortsitz  551. 
Joseph  551.  556. 

„       G.  645. 
Jonbert  32.  33.  209.  312. 
Jonx  513. 

Isenflamm  504.  525. 
Isidor  V.  Sevilla  195. 
Israel  549.  556.  557. 

„      J.  714. 
Israels  476. 
Itard  624.  626. 
Juan,  San  234. 
Juergens  549.  555. 
Jürgensen  619.  620.  647.  691. 
Jukes  688. 
Jnlianos  183. 
Juncker  81.  846. 
Jung  51.  555. 

„      C.  G.  272.  273. 
Junta  591. 
Jurine  108.  871. 
Jussieu  920. 
Juvenal  631. 
Ivanchic  706. 

Kaau-Boerhaave  81.  318. 

Kadgi  298. 

Kaempf  96.  678. 

Kaempfer,  E.  69.  581. 

Kafka  125. 

Kahlden,  v.  551.  553.  554. 

Kahler  553. 

Kaiserling  554. 

KaUius  221.  223. 

Kallisthenes  181. 


Kanilfeld  93. 

Kanold  766. 

Kant  112. 

Kantakuzenes  755. 

Karg  557. 

Kartulis  551. 

Katona  864. 

Katzenelsohn  476. 

Katzenstein,  G.  433. 

Kaufmann  63.  427.  549.  553.  556. 

Kaviratna  652. 

Kaye  18.  891. 

Keen  321.  734. 

Keill  62. 

Keith  704. 

Kelch  524. 

Kelynack  556. 

Kennedy  611.  790- 

Kentmann  11.  483. 

Keppler  333.  342.  646. 

Kepser  776. 

Kerckring  254.  492.  493.  634. 

Kerner  118. 

Kernig  791. 

Kerschensteiner  911. 

Kessler  111. 

Ketham  213. 

Ketly  730. 

Key '317. 

Kicit  Siuzi  322. 

Kielmeyer  115.  116.  584. 

Kieser  116.  117.  118.  216.  303. 

Kilian  553. 

Kimmeil  932. 

King  63. 

Kircher  63.  747.  764. 

Kirchheim  282. 

Kirkes  641. 

Kitasato  552.  749.  772. 

Klaproth  463. 

Klebs  220.  538.  547.  548.   649.  551.  552. 

553.  554.  555.  556.  619.  699.  877.  906. 

908. 
Klemensiewicz  553. 
Klemperer  692.  693. 
Klencke  905. 
Klinkosch  300. 
Klob  824. 
Klohss  730. 
Kluge  111. 

Knackstaedt  501.  509. 
Knape  289. 
Knapp  399. 
Knoch  663. 
Knoll,  P.  456.  545. 
Knox  265. 

Kobert  471.  549.  752.  925. 
Koch,  K.   427.   547-552.  619.   710.   734. 

749.  769.  770.  826.  827.  828.  877.  908.  912. 
Koch,  P.  695. 
Koch,  W.  s.  Copus. 
Kocher  553.  698. 
Koehler,  J.  V.  H.  508. 
Kölliker   153.   216.   220.   222.    223.    224. 

236.  287.  380.  383.  385.  416.  447.  548. 

549.  553. 
Kölreuter  21. 


Namenregister. 


947 


Könior,  A.  451.  452. 

.,^'273. 
Koeppe  437. 
Koerte  700. 
Koester  550. 
Kointos  185. 
Kolb  556. 
Kolbe  438. 
Kolisko  553. 
KoUmann  224.  273. 
Konrad  v.  Megenberg  918. 
Konstantin  s.  Constantinus. 
Koperuikus  14. 
Kopho  s.  Copho. 
Kopp  124. 
Kopsch  224. 
Koranyi  437.  714. 
Kortum  905. 
Kossei  438.  549. 
y.  Kostanecki  548. 
Koster  251. 
Koyter  31.  237.  255. 
Krabbe  660. 
Krafftheim  15.  20. 
Kratzeustein  101.  726. 
Kraus  549. 

„      L.  A.  621. 
Krause  d.  Ae.  304. 
d.  J.  305. 

;;       K.  Ch.  303. 

.,       W.  224.  399. 
752.  920. 
Krawkow  549. 
Krehl  442.  643.  658. 
Kreidl  448. 
TCrf^tz  00*4-    o^i 

Kreyssig  il9.  i28.  638.  639.  640.  641. 
Kriege  640. 

Kries,  v.  429.  442.  451. 
Krönlein  549.  700.  704. 
Krogius  711. 
Kronecker  430.  442.- 
Kronthal  224. 
V.  Krümmel  714. 
Knikenberg  129.  441.  549.  608. 
Krysinski  923. 
Kudrewetzky  554. 
Kuechenmeister  551.  654.  655.  657.  660. 

661.  665. 
Küchler,  F.  652. 
Kühn  924.  925. 
Kühne  221.   390.   393.   394.   425.   428  ff. 

450.  466.  470.  544.  628.  699. 
Külz  414.  438.  439. 
Kürschner  644.  645. 
KÜSS  276. 
Küster  698.  714, 
Kuettner  791. 
Kundrat  548.  553. 
Kunkel  461. 
Kunrath  44. 

Kupifer  216.  224.  277.  305. 
Kussmaul  548.   55:3.  646.  688.  691.  695. 

696.  719.  725.  730.  731.  733. 
Kutner,  R.  709.  715.  716. 
Kyber  549. 
Kyper  668. 


Laboulbene  556. 

Labus,  P.  930. 

Lacerda,  de  841. 

Lachenal  273. 

Lackerbauer  557. 

Ladereze  513. 

Ladmiral  250. 

Laennec  135.   136.   514.    530.    531.   605. 

607.  603.  609.  617.  618.  620.  621.  622. 
623.  624.  625.  626.  627.  638.  639.  640. 
641.  642.  661.  904.  905. 

Lafleur  551. 

Lagrange  360. 

Laguna  18.  21.  211.  567.  570.  706. 

Lallemand  313. 

Lallier  551. 

Lammert  763.  778.  830. 

Lamure  313. 

Lancereaux  478.  556.  557.  731. 

Lancisi  69.  100.  226.  239.  347.  501.  509. 

608.  634.  635.  636.  637.  642.  718.  744. 
747.  795. 

Lande  731. 
Landi  201. 
Landois  442.  731. 
Landouzy  553. 
Landry  730. 
Lane  267. 
Laug  919.  921.  924. 


Langenbeck,  K.  J.  M.  285.  525.  531. 
Langenbuch  698. 
Langendorff  443. 
Langer,  K.  297.  302. 

Langerhans  556. 

Langhans  549.  634.  869.  906.  907. 

Langley  356.  442.  447. 

Langlois  442. 

Langrish.  Browne  83. 

Lannoix  855. 

Lanquetin  551. 

Lantermann  222. 

Lanzoni  492. 

La  Peyronie  313.  347. 

Laplace  360.  361.  389. 

Laredo  569. 

Lasnier  71. 

Lassaigue  377. 

Lasseigne  682. 

Latz  294. 

Laudon  551. 

Laulanie  432. 

Launois  315. 

Laurence  625. 

Lauth  275.  276. 

Lautter  96. 

Lavater  110. 

Laveran  551.  749. 

Lavoisier  108.  ^42.  358.  359.  360.   389. 

462.  578.  584. 
Lawtance  320. 
Lawson,  H.  224. 
Lazarus,  J.  624. 
Leared  645. 
Lebecq  747. 

60* 


948 


Namenregister. 


Le  Bei  437. 

Leber  294.  300.  550. 

Lebert  555.  556.  557.  622.  623.  731.  904. 

906. 
Le  Boe  s.  Sylvius. 
Lecanu  464. 
Leche  317. 
Le  Clerc  314. 
Le  Dran  503.  509. 
Lee,  R.  521. 

531. 
Leeuwenlioek  53.  54.  216.  248.  337.  343. 

347.  485.  658.  747. 
Lefevre  432.  688.  916. 
Legallois  357.  389.  717. 
Legendre,  Fr.  L.  620. 
Lehmann,  C.  433. 

C.  G.  376.  387.   390.  466.  544. 

600. 
Lehmann,  L.  600. 

470.  552. 
Lehr '644. 
Leibniz  82.  348. 

Leichtenstern  550.  551.  662.  887. 
Leidy  661. 

Lejumeaii  de  Kergaradec  611. 
Lemery  574.  576. 
Lemmeus  (Lemnius)  20.  23. 
Lemos  18. 
Lenhossek  297. 
Lentilius  s.  Linsenbahrt. 
Lentin  93.  504.  924. 
Leon,  Andres  de  233. 
Leonardo  da  Vinci  s.  Vinci. 
Leoniceno,  Nie.  10.  17.  18.  201—203.  215. 
Lepecq  de  la  Cloture  871. 
Le  Pois  (Piso)  69.  488.  493.  830. 
Lerch,  J.  U.  544. 
Lersch  591.  596. 

Leube  686.  691.  693.  694.  695.  710. 
Leubuscher,  R.  537. 
Leuchs  376.  470.  682. 
Leuckart  385.  551.  657.  658.  659.  660.  661. 
Leupoldt  119. 
Leuret  377.  682. 
Leusden  549. 
Leutert  549. 
Leveille  924. 
Levestamm  790. 
Levison  870. 
Lewi  606. 
Lewinsohn  443. 
Lewis  551.  580. 
Lewis,  T.  R.  663. 
Lewy,  B.  644. 
Levden,  v.  145.  448.  553.  627.  641.  704. 

725.  729.  730.  731.  734.  910.  913. 
Libaviiis  15.  42.  458.  566.  567. 
Licetns  655. 
Lichtheim  622.  910. 
Liebeanlt  723.  724.  725. 
Lieberkühn  289.  293. 
Liebermeister,  K.  v.  432.  600.  642. 
Liebig,  J.  v.  152.  378.  381.  386.  387.  463. 

465.  466.  544.  584.  597.  682.  710. 
Liebig,  G.  v.  434.  624. 
Liegeois  315.  725. 


Lieutaud  100.  312.  496.  510.  699. 

Limbeck,  v.  552. 

Linacre  17.  18. 

Lindestolpe  582. 

Lindsay  824. 

Lindwurm  799. 

Linne  578.  579.  581.  583.  617.  659.  747. 

925. 
Linsenbahrt  492. 
Lippmann  424. 
Lischwitz  276. 
Lister,  Martin  491. 
Lister  68.  547.  587.  707.  748. 
Listing  398.  399.  400. 
Litten  549.  624.  792. 
Littre  501.  509.  633. 
Littre  658.  752.  794. 
Litzmann  553. 
Liveing  864. 
Livingston  324. 
Livon  456. 
Lizars  265. 
Lobelius  10.  570. 

Lobstein  275.  276.  517.  518.  530.  532. 
Locatelli  107. 
Locke  52.  443. 
Lockhart  324. 

Loder  283.  318.  508.  530.  726. 
Loeb,  J.  454. 
Löbl  642. 

Löffler  552.  749.  877.  878. 
Loeseke  503. 
Loew  439. 

Loewit  549.  550.  552. 
Loewy,  A.  435.  443. 
Lombroso  929. 
Lomm(ius)  20.  483. 
Longet  307.  403.  443.  449.  627. 
Lordat  313.  314. 
Lorrain  641. 
Lorry  354. 
Loss  490. 
Lotichius  488. 
Lotze  152.  416.  451. 
Louis  100.  137.   139.  515.   531.  618.  626. 

642.  717.  798.  799.  904.  905. 
Louyer  - Villermay  701. 
Lowdham  69. 

Lower  54.  63.  263.  341.  490.  634. 
Loyseau  488. 
Lubarsch  549.  558.  911. 
Lubimoif  549. 
Lucae  303.  304. 
Luceus  616. 
Luchsinger  426. 
Luciani  449. 
Luckjanow  549.  557. 
Ludwig,  K.  274.  361.  388.  405.  415.  423. 

427.  435.  456.  466.  470.  510.  644.  646. 

682.  683. 
Ludwig,  Chr.  Fr.  498. 

„     Gottl.  100.  500. 
„         D.  575. 
E.  438. 
Lücke  551. 
Lugo,  de  575. 
Lugol  586. 


Namenresrister. 


949 


Luschka  305. 

Lnsitanus  s.  Amatus  u.  Zacutus. 

Lussana  401.  420.  449.  928. 

Lustig  558. 

Liistrulano  198. 

Lutz  551. 

Lux  125. 

Lykos  185. 

Lynch  106. 

Lyon  793.  839. 

Lyser  261. 

Macalister  269. 

Macbride  89. 

Mach,  E.  448.  453. 

Maepherson  803. 

Madelung  700. 

Mader  620. 

Maertens  221. 

3Iagati  69. 

Magendie  140.  356.  364.  399.  414.  418. 

443.  511.  584.  718.  719.  720.  726.  824. 
Mager  435. 
Maggi  30. 
Magnus  361.  388.  463.  464.  465. 

Mahot  640. 

3Iaier  553.  554.  555. 

Maingault  875. 

Major  63. 

Maisonneuve  925. 

Malacame  241.  529. 

Malassez  551. 

Malbranc  688. 

Malfatti  117.  860. 

Malherbe  708. 

Mallory  549. 

Malmsten  664. 

Malouin  860.  868. 

Malpighi  54.  237.  253.  337.  338.  339.  345. 

347.  485.  487.  626.  634.  636.  663.  688 

718. 
Maly  393.  396.  470. 
Man,  de  864. 
Manardo  10.  15.  20.  22. 
Manec  320. 
Manfred!  63. 

Manget  68.  492.  494.  903. 
Mannagetta  294. 
Mannheim,  P.  643. 
Manningham  796. 
Manson  551.  668.  769. 
Manzoni  762. 
Maranta  10. 
Marc  707. 
Marcard  596.  600. 
Marcello  Donato  484. 
3Iarcellus  Empiricus  656. 
Marchand  466. 548.  549.  550.  551.  553.  554. 
Marche  70. 
3Iarchetti  238.  489. 
Marchettis  54.  55.  343. 
Marchi  555.  720. 
Marchiafava  551. 
Marescot  208. 
Marev  334.  416.  424.  429.  431.  433.  544. 

646. 
3Iarianini  402. 


Mariano  Santo  30.  705. 
Marie  550.  553.  931. 
Marinos  183.  184. 
Marcotte  333.  399. 
Marius  v.  Avenches  842. 
Marjolie  706. 
Markus  108.  117. 
Marquez  930. 
Marshall  Hall  s.  Hall. 
Marteau  d.  Grand vilüers  868. 
Martianos  183. 
Martin  440. 

.,       X.  443. 
Martinez  234. 
Martins  644.  646. 
Marty  641. 
Mascagni  243. 
Mason  730. 

Massa  20.  202.  229.  633. 
Massari  237. 
Massaria  20.  761. 
Mastalier  101. 
Mathis  696. 
Matignon  773. 
Matthioli  569. 
Mattioli  10.  22. 
Matterstock  703. 
Matteucci  402.  425.  726. 
Mattuschka  300. 
Mauriceau  70. 
Maxwell  44.  399. 
May  275. 

Mayeda  Eiotakou  322. 
Mayer,  A.  F.  J.  K.  217.  528. 

„       F.  X.  296. 

„      J.  Chr.  A.  500. 

„       J.  J.  300. 

„       J.  R.  T.  381.  396. 

„       Mich.  295. 

„       Sigm.  300. 

„       288.  399. 
Mayo  267.  521. 
Mayor,  Fr.  J.  611. 
Mayow  342.  349.  358. 
Mayr  864. 
Mayzel  218. 
McCleUan  320. 
McClintock  320. 
Mo  Donneil  619. 
McGillavry  221. 
McKendrick  419. 
Mead  93.  582.  766. 
Meckel,  J.  F.  (L)  133.  216.  287.  371.  501. 

509.  522.  532. 
Meckel,  H.  527. 

„       Ph.  F.  Th.  275. 

„       223.  399.  530. 

„       V.  Hemsbach  711. 
Medicus,  Fr.  C.  90. 
Meek'ren,  van  490. 
Meerderwort,  van  322  (s.  Pompe). 
Megenberg  s.  Konrad. 
Mehnert  §0ß. 
Meibom  279. 
Meier,  Ign.  923. 
Meissner  272.   273.  380.   385.   302.   3'Jo. 

400.  401.  415.  424.  455.  586. 


950 


Namenregister. 


Meister  550. 

Melchior  711. 

Meletios  190. 

Melnikow  554. 

Menche  662. 

Mendelsohn,  A.  622.  623. 

Menis  928. 

Merbacli  607. 

Mercado  21. 

Mercatus  866. 

Mercuriale  18. 

Mering-  v.  690.  692.  695.  700.  715. 

Merkel,  Fr.  224. 

Fr.  S.  292. 

L.  408. 

220.  221.  224. 
Merrem  696. 
Mertsching  549. 
Mery  70.  312. 
Mesmer  109.  452.  723. 
Mesue  d.  Ae.  192. 
Metschnikoff  440.  550.  827. 
Metzger  275.  498. 
Metzner  440. 
Meyen,  F.  J.  F.  526. 
Meyer,  G.  H.  221. 
„       H.  V.  431. 

H.  685. 

J.  824. 
„       Lothar  361.  388.  464. 
„       Moritz  728.  730. 
„       553. 

P.  734. 
Meyerstein  424. 
Meynert  445.  553.  554.  720. 
Mezler  v.  Andelberg  513. 

„       Fr.  X.  93. 
Mialhe  376. 

Michaelis  553.  647.  788.  869. 
Michel  276. 
Michelangelo  203. 
Middeldorpf  551. 
Middleton  868. 
Mieg  273. 
Mielicki  548. 
Miescher  273. 

-His  272. 
-Rüsch  438. 
Mignot  697. 
Mignla  552. 

Mihälkovics  v.  222.  224.  297. 
V.  Mikulicz  552.  696.  704. 
Millington  263. 
Mingazzini  931. 
Minkowsky  700. 
Minot  321. 

Mitscherlich  463.  465.  584. 
Miyake  697. 
Mnesitheos  180. 
Moczutkowsky  792. 
Moebins  728.  733.  735. 
Moeli  734. 

Moeller  911.  .j,«^^' 

Moenichen  261. 
Mohr  525.  588. 
Moinichen  489. 
Moleschott  412.  420.  421.  435. 


Moliere  667. 

Molinelli  240.  355.  717. 

Molinetti  238.  487. 

Moll  724. 

Monardes  10.  570.  573. 

Mondeville  205.  208.  918. 

Mondiere  699. 

Mondino  197.  227.  240.  480. 

Money  521. 

Moniez  551. 

Monneret  621. 

Monod  549.  728. 

Monro  264.  521.  531.  780. 

Montagna  201. 

Montagnana  480.  633. 

Montague  104.  847. 

Montaigne  13. 

Montana  de  Monserrat  211, 

Montanus  18.  23. 

Montaux  505. 

Monte,  de  18.  633. 

Monteggia  107.  500. 

Montfalcon  513. 

Monti  551.  555. 

Moore  442.  842.  920. 

Moosbrugger  664. 

Morat  456. 

Morehouse  734. 

Morejon  481. 

Morel  70.  276.  557.  641. 

Morgagni  97.  100.  241.  355.  495.  510.  606. 

617.  620.  623.   626.  630.  635.  636.  637. 

642.  644.  659.   694.  698.  699.  701.  713. 

797. 
Morganti  449. 
Morian  548. 
Morrison  324. 
Morsiano  da  Imola  200. 
Morton  69.  491.  586.  744.  830.  831.  859. 

903. 
Moscati  107.  243. 
Mosing  625. 
Mosler  551.  600. 
Mosso,  A.  435.  442.  452. 
Most  857.  860. 
Motschutkowski  729. 
Moufet  664. 
Moulin  53. 

Mouquest  de  la  Motte  70. 
Moxon  556. 
Mracek  642. 
Müller,  G.  A.  494. 
„       G.  E.  452. 
„       H.  399. 
„       Joh.  129.  144.  218.  290.  364.  370. 

399.  400.  419.  423.  451.  464.  465.  511. 

512.  526.  528.  531.  536.  538.  584.  682. 

683.  719.  721. 
Müller,  Moritz  124. 

„       223.  416.  924. 
Muenchhausen,  0.  v.  924. 
Münz  286. 
Münzinger  643. 
Mulcaüle  920. 

Mulder  256.  379.  422.  464.  468.  470. 
Mumphry  558. 
Mundella  15.  20. 


Namenregister. 


951 


Mimk,  H.  444. 

..       J.  425.  440.  456.  719. 
Muimik?  255. 
Maralt  70.  273.  491. 
Muratori  766. 

Miirchison  782.  786.  789.  792.  799.  800. 
MuriUo  2.S3. 
Murray  580. 
Mursinna  833. 
Musculus  710. 
Musgrave  89. 
Musi  201. 

Musschenbroek  726. 
Mussis,  Gabr.  de  755.  758.  757. 
Muvbridge  431. 
Muys  248. 

Xaegele  553. 
Naegeü  748.  911. 
Nagel,  "W.  451. 

.,       222. 
Nakagara  Kiowan  322. 
Nanni  240. 
Naranowitsch  530. 
Nasse  464.  465.  685.  910. 

..      H.  375. 

..      Chr.  Fr.  129.  375.  525.  608. 
Naunyii  534.  660.  697.  698.  712.  787. 
Nauwerk  549.  550. 
Navier  860. 
Needham  55.  263. 
Neelsen  910. 
Negri  854   855. 
Neisser  551.  552.  557.  749. 
Nemesios  v.  Emesa  190. 
Nencki  396.  438.  470.  471. 
Nenter  81. 
Netter  620.  641. 
Neuberger  549. 
Neumann,  C.  580. 
E.  440. 

549.  550.  552.  553. 
Neumeister  466.  470. 
Newton  333.  399. 
Neyt  218. 
Nicephorus  755. 
Nicoladoni  553. 
Nicolai  275.  504. 

„       E.  A.  83. 
Nicolaier  712. 
Nicolo  s.  Regino. 
Niemever.  F.  623.  625. 

./       P.  605.  610.  645. 
Nietzky  83. 
Nikander  665. 
Nikiforoft"  550. 
Niraier  700. 
Nissl  222.  720. 
Nitze  707.  709.  713.  714. 
Nobili  402. 
Nola  867. 

V.  Noorden  549.  693. 
Normand  551.  664. 
Nothnagel  554.  623.  725.  733. 
Nuck  247. 

Nus.'ibaum  435.  703. 
Nymann  864. 


Obeid  Allah  193. 

de  rObel  s.  Lobelias. 

Obermeier  547.  792. 

Obermeyer  749. 

Obersteiner  724. 

O'Brien  790. 

Obrzul  556. 

Oddi  23. 

Odier  108. 

Odoardi  928. 

Oechv  300.  524. 

Oefele.  v.  651.  652.  656. 

Oellacher  218. 

Oersted  374.  584.  726. 

Oertel  647. 

Ogston  551. 

Oken  115.  116.  118.  216.  584.  677. 

Olbers  110. 

Oliver  442. 

Olivier  100. 

Ollinger  570. 

Ollivier  730. 

Oppenheim  733. 

Oppolzer,  J.  V.  149.  703.  730. 

Or(e)ibasios  190.  479.  616.  654.  656.  665. 

685. 
Orfila  141.  588. 
Ormerod  642. 
Orosi  585. 

d'Orta,  Garcia  10.  572.  803. 
Ortega  581. 
Orth  284.  549.  553.   554.  556.  842.  907. 

908. 
Osann  597. 

üseibia,  Ibn  Abu  192. 
Oser  688. 
Oslander  528. 
Osler  551. 
Ostertag  558. 
Ostwald  453.  454. 
Othraeus  915. 
Otterbourg,  J.  L.  127. 
Otto  290.  303.  471.   523.  528.  530.   534. 

588. 
Oudemans  586. 
Oviedo  s.  Femandez. 
Owen  236.  531.  661. 
Ozanam  632.  645.  646. 

Paauw  246. 

Pacchioni  56.  347. 

Paciui  244.  401.  513.  824. 

Page  425. 

Page  440. 

Pagel  591.  636. 

Pagenstecher  551.  662. 

Paget  519.  551.  661. 

Palfyn  71.  228.  258.  498. 

Palissy,  de  655. 

Pallas  659.  661.  663. 

Palletta  244.  530. 

Paltauf  549.  550.  552.  553.  929. 

Panaroli  486.  657. 

Pancoast  320. 

Pander  144.  216.  286.  319.  512.  584. 

Panizza  242.  401.  420. 

Pannwitz  913. 


952 


Namenregister. 


Pansch  306. 

Panum  413.  435.  548.  624.  863. 

Paoli  553. 

Paolo  215. 

Pappenheira  377.  465. 

Paracelsus  34.  332.   458.  565.   591.   595. 

644.  647.  666.  723. 
Pare  30.   208.   484.    606.   626.   645.   666. 

706.  776. 
Parisaniis  606. 
Parish  320. 
Parker  324. 
Parkes  390. 
Parkinson  733. 
Parraenides  174. 
Parona  662.  663. 
Parrot  619. 
Parry  519.  643.  731. 
Partibus,  Jacobus  de  s.  Despars. 
Paschettus  830. 
Paschutin  545. 
Passauer  787. 
Passy  401. 
Pastau  V.  664. 
Pasteur  437.  455.  466.  471.  472.  547.  710. 

715.  734.  748.  749. 
Paterson  334. 
Patin  58.  667. 
Paulet  920. 
Panlicki  557. 
Paulli  259.  261. 
Paulus  V.  Aegina  479.  616.  632.  654.  656. 

705.  865.  915. 
Pauw  486. 
Pawlik  709.  714. 
Pawlow  421.  436.  694. 
Payne  555. 

Peacock  642.  644.  661. 
Pean  696. 
Pearson,  A.  323. 

850.  853. 
Peaslee  704.  714. 
Pechlin  68.  491.  634. 
Pecquet  54.  260.  312.  313.  336. 
Peiper  551. 
Peirie  595. 
Pekelharing  440. 
Pelikan  790. 
Pelletier  586. 
Pelops  185. 
Pelvet  642. 
Pemberton  519. 
Penada  500. 
Pennock  799. 
Penzoldt  695. 
Percival  583. 
Pereira,  J.  586. 
Peremescbko  218. 
Pergens  450. 
Perier  315. 
Perl  550. 

Perls  548.  549.  554.  555. 
Perrault  62. 
Perroncito  551.  662. 
Pestel  511. 
Petit,  J.  L.  100.  506. 

„      M.  A.  513. 


Petit  135.  311.  509.  531.  797. 

Petrarka  1.  755. 

Petri  600.  911. 

Petruschky  910. 

Petrus  V.  Abano  656. 

Pettenkofer,  v.  390.  431.  467.  468.  469. 

471.  472.  745.  801.  825.  826.  827. 
Peucer  14.  42. 

Peyer  53.  68.  278.  840.  490.  683. 
Peyligk  212. 
Pfaffl08.  402.  464.  726. 
Pfannenstiel  549.  554. 
Pfeffer  437. 
Pfeffinger  275. 
Pfeifer  551. 
Pfeiffer  549.  552.  749. 

„       R.  883. 
Pfeizer  71. 
Pfeufer,  v.  151.  920. 
Pfeuffer  681. 
Pfitzner  549. 
Pfiüger,  E.  361.  388.  404.  426.  431.  432. 

435.  469.  471.  727. 
Philipps  932. 
Philistion  179. 
Philotimos  180. 
Phöbus,  P.  527.  622. 
Physick  320. 
Piccolomini  226.  237. 
Pick  549.  553.  554.  729. 
Pico  von  Mirandola  13. 
Piedache  800. 

Pierre  de  la  Ramee  s.  Raraus. 
Pigne  558. 

Pinel  101.  130.  362.  505.  618. 
Piorry  137.  608.  609.  611.  618.  626. 
Pipping,  L.  449. 
Pirez  o72. 
Pirogow  319. 
Piso  s.  Pois. 
Piso  662. 
Pissini  634.  644. 
Pitcairn  62. 
Pitres  445.  553.  554. 
Planer  554. 
Platearius  606. 
Plateau  400. 
Plater,  F.  277.  657. 

„       Th.  273. 
271. 
Platner  86.' 
Piaton  180.  328.  630. 
Platter,  F.  20.  32.  482,  s.  auch  Plater. 
Playfair  732. 
Pleistonikos  180. 
Pienoicz  96.  100.  747.  859. 
Plenck  506.  509. 
Plenk,  V.  96. 

Plencziz  504  (s.  a.  Plenciz), 
Plett  849. 
Plimmer  550. 
Plinius  174.  631.  632.  651.  655.  725.  917. 

918. 
Ploss  688. 
Plösz  394. 
Plugge,  P.  C.  586. 
Plutarch  654. 


Namenregister. 


953 


Podwyssotzki  550.  551. 

Poelchen  554. 

Poilronx  514. 

Poirier  315. 

Pols.  Le  68. 

Poisenille  365.  646. 

Poisexxlles  406. 

Polaillon  315. 

Politzer  554. 

Pollender  547.  748. 

Pomet  576. 

Pommer  553.  798. 

Pompe  van  Meerderwort  322. 

Ponfick  550.  553.  557.  558.  642. 

Popp  525. 

Posta  342.  566. 

Portal  70.  100.  311.  516.  713. 

Porter  443. 

Portio  58. 

Posner  549.  554.  712. 

Posthins  284. 

Potain  640. 

Poterins  488. 

Pott  506.  507.  509. 

Pouchet  223.  224.  824. 

PonUlet  397. 

Pourfonr  du  Petit  312.  355.  717. 

Pozzi  204.  231.  645. 

Pransnitz  554. 

Praxagoras  179.  180. 

Predöhl  902. 

du  Prel  453. 

Preuss,  H.  C.  A.  289. 

Prevost  383.  464.  730. 

Preyer  431.  452.   724. 

Priessnitz  149. 

Priestley  108.  358.  361.  462.  578.  677. 

Pringle  93.  504.  744.  779.  780.  796.  832. 

Prior  827. 

Prochaska  116.  118.  218.  295.  300.  355. 

500.  508.  719. 
Prokopius  753.  754. 
Prost  135.  513.  514.  797. 
Proust  463.  464. 
Prout  376.  682. 
Protassjew  318. 
Prndden  556. 
Puchelt  626.  702. 
Puff  V.  Schrick  212. 
Purkinje  144.  218.  301.  368.  372.  376.  377. 

380.   399.  400.  465.  511.  512.  584.  682. 
Punnann  63.  70. 
Puschmann  616. 
Putens  cfr.  Pozzi. 
Puvsegnr  HO. 
Pythagoras  174.  328.  630, 

Quain  d.  Ae.  268. 

„        .  J.  268. 

.,       R.  642. 
Quantin  636. 
Quarre  71. 
Quenu  315. 

Qnercetanus  s.  du  Chesne. 
Quesuel  398. 
Quincke  553.  .554. 
Quintus  s.  Kointos. 


Rahinowitsch  911. 

Eabl  298.  301.  550.  554. 

Rademacher  125.  581. 

Radlkofer  390. 

Radziejewski  440. 

Rahn  699. 

Raineg  623. 

Ramazzini  58.  64.  69.  744. 

Ramee,  Pierre  de  la  13. 

Ramon  y  Cajal  s.  Cajal. 

Ramsay  643. 

Ramsden  399. 

Ramus  15.  23.  206. 

Ranchin  312.  313. 

Ranke  430.  470.  471. 

Ranvier  220.  222.  224.  537. 

Rapallo,  Bemardo  di  705. 

Rapp  640. 

Rasori  107.  677.  678.  745.  782. 

Raspail  218. 

Raswedenkow  554. 

Rathke  216. 

Ratier  708. 

Rau  124.  248.  253. 

Rauber  306.  319. 

Rauchfuss  644. 

Rauwolf  10. 

Rav  580. 

Rayer  514.  531.  685.  713.  863. 

Rayger  71. 

Razes  s.  Rhazes. 

Read  688.  920. 

Reaumur  357.  464.  682. 

Reber  597. 

Rech  825. 

Recklinghausen,   v.  425.    548.    549.   550. 

552.  553.  554.  555.  625. 
Reder  708. 

Redi  55.  347.  491.  493.  577.  657. 
Reese  915. 
Reess  287. 
Reformatsci  923. 
Rega  83. 
Regino  202. 
Regnault  389. 
Regnier  318. 
Rehfeld,  C.  F.  270. 
Reich  109.  463. 

Reichert  216.  223.  292.  379.  388.  404. 
Reid  506.  903.  904. 
Reidelbach  600. 
Reü  91.  101.  117.  222.  223.  290.  363.  364. 

371.  505.  724.  726.  864. 
Reimann,  J.  269. 
Reinhardt  527.  537.  558.  904. 
Reinhold  116.  634. 
Reisel  54. 
Reiset  389. 
Reisseisen  627. 
Reissner  220. 
Reiter  854. 
Remak,  E.  734. 

R.  153.  216.  218.  293.  369.  384. 

385.  622.  727.  728.  729.  730.  734. 
Remmelin  214. 
Remy  315. 
Renaudot  42. 


954 


Namenregister. 


Eenaut  553.  644. 

Kenk  471. 

Eenoult  663. 

van  Renterg-hem  724. 

Renzi,  de  606. 

Retzius  222.  316. 

Reusner  69. 

Rex  298.  301. 

Eev  549. 

Reynaud  610.  611.  622.  626. 

Reynier  315. 

Rezia  243.  500.  508. 

Rezzi  929. 

Rhades  352 

Rhazes  192.'  616.  740.  843.  857. 

Rhode  489. 

Rhnphos  s.  Rufus. 

Ribbert  549.  550.  551.  553.  557. 

Ribes  513. 

Ricardus  Anglicus  205. 

„        Heia  213. 
Richardus  196. 
Richer  725. 

„       de  Belleval  312. 
Riebet  315.  432.  456.  724.  725. 
Richter,  A.  G.  507.  509.  617.  620. 
„        P.  F.  714. 
463.  548. 
Ricord  642. 
Ridley  68.  354.  502. 
Riedel  796. 
Riedlin  491. 
Rieffei  315. 

Riegel  622.  627.  646.  647.  692.  695. 
Riehl  549. 
Rigler  733. 

Riiliet  619.  620.  622.  624.  625.  863.  875. 
Rindfleisch  453.   550.  555.  557.  623.  730. 

908. 
Rinecker  731. 
Ringseis  119. 

Riolau  21.  42.  260.  308.  355.  486.  667.  698. 
Ripperger  879. 
Ritter  399.  401.  404.  726. 
Riva  63.  69.  492. 
Riviere  42.  208.  617. 
Rivini  683. 
Rivinus  63.  343. 
Robert  553.  853. 
Robin  224.  423.  544.  558.  904. 
Robiquet  586. 
Roche  90. 

Rodriguez  de  Guevara  s.  Guevara. 
Roederer  100.   275.   281.   501.    509.   659. 

796.  833. 
Roehmann,  F.  440. 
Roehrig  432.  600. 
Roell  251. 

Roemer  300.  301.  528. 
Roeschlaub  108.  677.  745. 
Roger  611.  645. 
Roger  Baco  1.  480. 
Rogo witsch  550. 
Rokitansky  129.  146.  527.  531.  554.  609. 

618.  622.  623.  624.  626.   642.  645.  680. 

699.  703.  729.  835.  875.  904. 
Rolfink  71.  277. 


Rolleston  419 

RoUett  424.  430.  436.  441. 

Rollin  270. 

Rollo  100.  108.  462. 

Romain  257. 

Roman  284. 

Romberg  627.  720.  722.  729.  731.  733. 

Rondelet  10.  209.  312.  313.  633.  664. 

Ronsil  507. 

Ronsseus  921.  923. 

van  Roonhuysen  71. 

Rosa,  dalla  298. 

Rose  463. 

Rosen  928. 

Rosen  v.  Rosenstein  93.   101.    846.   860. 

861.  869. 
Rosenbach  455,  551.  552.  643.  644. 
Rosenheim  695. 
Rosenmüller  303. 
Rosenstein  714. 
Rosenthal,  Chr.  289. 

J.  287.  425.  432.  443. 
270.  550. 
Roseuzweig  255. 
Roser  681. 
Rosin  549. 
Ross  599. 

Rostan  137.  513.  514.  531. 
Rossignol  623. 
Rot,  J.  273. 
Rota  642. 

Roth  548.  652.  864. 
Rothmann  924. 
Rottenberger  300. 
Rouanet  645. 
Rouelle  378.  709. 
Rouget  315. 
Roulin  925. 
Roussel  929. 
Rousset  705.  706. 
Roux,  W.  217.  221.  287. 

„      548.  878. 
Rovsing  711.  715. 
Roy  442. 

Royer-Collard  871. 
Roziere  de  la  Chassagne  99.  136. 
Ruhner  432.  471. 
Rudbeck  54.  316. 
Rudolph!  133.   270.   289.   364.   370.    511. 

512.  526.  531.  659.  660. 
Ruedinger  224.  291. 
Ruelle  10. 
Ruete  400. 
Ruffer  550. 

Rufus  183.  645.  654.  751. 
Rüge,  G.  252. 
Ruiz  581. 

Ruland  42.  594.  777. 
Rumler  657. 
Rumpel  557. 
Rumpf  725.  729. 
Rumsaeus  686. 
Rumsey  870. 
Runge  587. 
Rush  106. 

Rüssel  583.  598.  766. 
Rutherford  358.  442. 


Namenregister. 


955 


Ruttv  789. 

Euvsch  54.  247.  251.  253.  339.  343.  487. 
622.  623.  661.  683. 

Saboiirant  357.  717. 
Saboiirin  70.  554. 
Sacco  850. 
Sacerdotti  550. 
Sachs  432. 

C.  404. 
Sachse,  j.  D.  W.  596. 
Saenger  551. 
Saevus  71. 
Sagar  96. 
Sahli  704. 
Saülant  920. 
Saint-Eemv  551. 
Sala  566.  b67. 
Saleme  920.  921. 
Saliceto  197.  480. 
Salio  Diverso  484. 
Salkowskv  437.  466.  544.  549. 
Salmuth  488. 
Salter.  H.  H.  419. 
Sali t'zmaim  ^.  274.  275.  490.  498. 
Sanionicus  656. 
Samuel  545.  550.  555. 
Sanarelli  841. 
Sanchez  13.  15.  51. 
Sanderson  906. 
Sandifort  100.   250.   495.   496.   508.   509. 

510.  645. 
Sanderson,  J.  B.  425. 
Sandra-s  732. 
Sanfelice  550. 
Saneralli  557.  662. 
Santorini  240.  354.  499.  698. 
Santorio  645. 
Santoro  61.  ^41. 
Saporta  488. 
Sappey  314.  315. 
Sarcone  93.  616.  797.  847. 
Sassonia  20.  22. 
Sata  911. 
Sattler  551. 
Saucerotte  357. 
Saussier  626. 
Sauvages  81.  362.  504.  578.  617.  713.  743. 

»40.  921. 
Saviard  502. 
Savonarola  481. 
Savory  519. 
Scaliger  69. 

Scarpa  242.  343.  502.  509. 
Schaarschmidt  288. 
Schabad  911. 
Schäfer  224.  442. 

E.  A.  456. 

J.  U.  G.  90. 
Schaeffer,  J.  G.  726. 

910. 
Schalle  554. 
Schani  Zadeh  325. 
Scharling  389. 
Schanta  553. 
Schedler,  P.  641. 
Scheele  108.  358.  378.  461.  553.  578.  580. 


Scheiber  929. 

Scheid  274. 

Scheidt  275. 

Scheier  554. 

Scheiner  343. 

Schellenberger  294. 

Scheit  lihammer  58.  71.  257.  278. 

Schelling  113.  5&4. 

Schenck  v.  Grafenberg  20.  31.  484.  ^33. 

657. 
Schenck.  F.  429. 
Schenk  298.  713. 
Scherer  301.  393.  466.  468.  544. 
Scheube  551.  734.  840. 
Scheunemann  44. 
Scheuthauer  476.  651.  6.58. 
Schiefferdecker  220.  555. 
Schiele  221. 

Schiff,  M.  420.  435.  436.  441.  448.  449. 
Schimmel  busch  549. 
Schinz  495. 
Schirmer  698. 

Schieiden  382.  512.  536.  584. 
Schlemm  290. 
Schlereth  596. 
Schlichting  354. 
Schlossberger  393.  468. 
Schmackpfeffer  699. 
Schmall  640. 
Schmaiis  549.  556. 

Schmidt  117.  222.  427.  549.  551.  683.  699. 
AI.  377.  395.  408.  440.  464.  465. 

470.  549. 
Schmidt,  C.  379.  387.  389.  468. 
D.  470. 
;,         J.  A.  295. 
Schmidt-Möhlheim  440. 
Schmiedeberg  406.  409.  438.  470. 
Schmorl  549.  554.  557. 
Schneider,  A.  218. 
Schneider,  C.  V.  55.  278.  338.  489.  493. 

621. 
Schneider  683. 
Schnitzlein  857. 
Schnurrer  920. 
Schön  450. 
Schönbein  376.  395. 
Schoenijahn  270. 
Schoenlein  121.   144.  429.  525.  531.  536. 

608.  680.  748.  798.  863.  864. 
Schott  220.  647. 
Schotteüus  221.  907. 
Schrader  490. 
Schrank,  F.  v.  924. 
Schreiber  432. 

J.  F.  318. 
Schrick  s.  Puff. 
Schrenck-Notzing  724. 
Schreyer  72.  696. 
Schröder,  J.  Chr.  575. 
407.  704. 
V.  d.  Kolk  361.  384.  388.  513. 

528.  531.  625. 
Schrödter  616. 
Schrön  124. 
Schröpfer  110. 
Schrötter  435.  642. 


956 


Namenregister. 


Schroif  584.  586. 
Schubert,  G.  H.  118. 
Schucliardt  550. 
Schüppel  550.  641.  908. 
Schütz  552.  749. 
Schützenberger  438. 
Schuh  149.  551. 
Schujeninoff  553. 
Schulz  551.  728. 
Schultze,  M.  J.  S.  219. 
M.  385. 
223.  548. 
W.  224. 
Schulze,  Joh.  Heinr.  83. 
Schumburg  434. 
Schürf  213. 
Schurig  503. 
Schwab  696. 

Schwalbe  221.  223.  224.  306.  401. 
Schwann,    Th.  151.    217.    218.   369.    373. 
376.  377.  382.  466.  512.  536.  584.  682. 
683.  747. 
Schwartz  444. 
Schwartze  556. 
Schwarz  332. 
Schweich  879. 
Schweigger  402. 
Schweigger- Seidel  221.  408. 
Schwenckfeld(t)  15.  923. 
Schylhans  s.  Hans  v.  Gerszdorf. 
Scribonius  Largus  21.  725. 
Scrine  924.  925. 
Scudamore  713. 
Scultetus  70. 
Sebastian  256. 
Sebilean  315. 
Sebiz  275. 
Sedillot  696. 
See  315.  644.  692. 
Seeligmüller  728.  733. 
Seen  700. 
Segalas  706.  708. 
Seger  261. 
Segond  315. 
Seguin  389.  596. 
Seidel,  B.  21. 

„       H.  640. 

„       J.  270. 
Seifert,  Phil.  M.  621. 
Seitz  643.  700. 

„     E.  610. 
Selenka  287. 
Seile  93.  504.  639. 
Selmi  420.  438. 
Senac  100.  312.   507.  509.   635.  637.  638. 

640.  644. 
Senator  425.  432.  714. 
Senebier  361. 
Seneca  631. 
de  Senis  s.  Ugo  201. 
Sennert  48.  58.  69.  488.  858. 
Sefinc  923. 

Serres  135.  315.  513.  514.  531.  797. 
Sertoli  394. 
Sertürner  586. 
Servet  22.  28.  331. 
Setschenow  446. 


Settala  20.  21.  238. 
Sette  928. 
Severin  42. 
Severini  867. 

Severino  69.  216.  237.  488. 
de  Seynes  315. 
Sgambati  867. 
S'Graeuwen  495. 
Sharpey  268. 
Shaw,  J.  267.  726. 
Sheldon,  J.  267. 
Shepard,  C.  Y.  393. 
Shepherd  321. 
Sherrington  356.  447. 
Siebert  556. 

.,       L.  A.  121. 
Siebold,  C.  C.  v.  271.  500.  508. 

„       C.  Th.  V.  659.  660. 
J.  B.  286. 
d.  Ae.  284. 
660.  662. 
Siedamgrotzky  660. 
Siegel  694. 
Siegfried,  M.  440. 
Siemens  923. 
Sievers  693. 
Sigwart  275. 

Silbermann  391.  495.  549. 
Simon,  F.  379.  466. 

„       G.  714. 

„       J.  F.  544. 

„       John  854. 

„       531.  553.  825.  827. 

„       von  Corrino  755. 
Simond  773. 
Simpson  586. 
Sims  698. 
Sinner  892. 
Sivel  434. 
Skoda  136.  146.  532.  609.   610.  618.  623. 

625.  626.  640.  644.  646.  680.  681. 
Smeth  42.  487. 
Smith,  J.  512. 

„       R.  W.  521. 

„       531.  703.  910. 
Snip  252. 
Snow  825.  827. 
Sobernheim  642. 
Sodre,  Azevedo  836. 
Soemmering  133.  220.  282.  502.  509.  510. 

697.  699."  717.  718.  726.  850. 
Solenander  20.  485. 
Soler  926. 
Solingen,  van  71. 
Sommerbrodt  646. 
Sommerville  691. 
Sonden  434. 
Sonnenstein  588. 
Sonnerat  803. 
Soranus  183.  478.  606. 
Sorbait  294. 
Sougita  Essai  322. 
Soxhlet  470. 

Spallanzani  358.  360.  426.  464.  682. 
Speck,  C.  389.  434. 
Spee  V.  221.  277. 
Spence  265. 


Xamenreofister. 


957 


Spener  287. 

Spengler  911. 

Speranza  864. 

Sperber  44. 

Spieffhel.  v.   d.  (Spi^eüus)   69.  237.   486. 

493.  658.  795. 
Spielmann  580.  703. 
Spinoza  48. 
Spitta  525. 
Spittal  789. 
Spitzer  325. 
Spöring  317. 

Sprengel  80.  586.  632.  636.  655.  782.  870. 
Sprögel  288._ 
Spnrzheim  357. 
Sqnire  864. 

Städeler  396.  468.  470.  684. 
Stälielin  273. 
Stahl.  Ct.  E.  77.   101.  348.  349.  3.58.  362. 

461.  578. 580.  596.  668.  669.  677.  700.  718. 
Stalpart  t.  d.  Wiel  68.  491.  606. 
Stampfer  400. 
Stanley  519. 
Stannins  386.  748. 
Stapf  124. 
Stark.  K.  AV.  120. 

..       W.  506. 

..       509.  789.  903. 
Starr  868. 
Staimton  323. 
Steenstrup  660. 
Stefan,  .J.  407. 
Steffen  623. 
Stein  642. 
Steiner  450.  864. 
Steiner.  Job.  621. 
Steinthal  729. 
Stelluti  54. 
Stengel  556. 

Steno  iStenson)  54.  247.  262.  338.  343.  683. 
Stenzei  503.  582. 
Stemberg  841. 
Steudel  o50. 
Stewart  513.  799.  915. 
Stieda  ;S06.  550. 
Stieglitz  108.  128. 
Stüiine-,  B.  220.   222.  385.  526.  531.  720. 

732.' 
Stöhr.  Ph.  221.  223. 
Störck  96.  110.  503.  579. 
Stokes  142.  520.  531.  608.  609.  618.  619. 

626.  640.  643.  647. 
Stoll  95.   100.   504.   509.  607.   621.    781. 

782.  833. 
Storch  859. 
Strambio  928. 
Stra.ssburg  435. 
Strassburger  218. 
Strato  181. 
Straus.  J.  545. 
Strands,  J.  Chr.  595. 
Strecker  377.  392.  393.  470. 
Strehl  448. 
Strelzoff  550. 
van  der  Stricht  447. 
Stricker  S.  223.  299.  468.  545.  549.  550. 

555.  646. 


Stroebe  549.  550. 

Stromej-er  104.  850. 

Strother  795. 

Strümpell  553.  733. 

Strniken  549. 

Strnthers  265. 

Struve  597.  864. 

Stubenrauch  553. 

Sturm,  Job.  270. 

Sudhoff  592. 

Sue  310.  311. 

Suessmüch  103.  846. 

Suringar  252. 

Susruta  653. 

Sutton  104.  321.  643.  848.  849. 

Swalve  699. 

Swammerdam  54.  71.   216.  247.  253.  337. 

347. 
Swayne  824. 
Si^-ieten,  van  94.  294.  503.  579.  620.  625. 

626.  657.  659.  676.  731.  744. 
Sydenham  64.  69.  460.  575.  619.  620.  621. 

628.  668.  742.  743.  744.  764.  795.  796. 

798.  830.  831.  832.  845.  858.  859.  861. 

880. 
Syenesis  173. 

Sylvias  56.  247.  340.  459.  491.  493.  574. 
'668.  903  (vgl.  a.  Dubois). 
Szöqvist  437. 

Tabar  234. 

Tabbarani  243.  499. 

Tabemaemontanus  10.  568.  594. 

Tachen  58. 

Tacheron  515. 

Tadino  238. 

Taenzer  555. 

Tagault  208. 

Tagliacozzi  30. 

Tahir  325. 

Tait  704. 

Talbor  575. 

Talma  645.  906. 

Tangl  550. 

Tanquerel  916. 

Tappeiner  907. 

Targioni-Tozetti  503. 

Taruffi  548.  555.  633.  644. 

Tassaui  929. 

Taube  922.  923.  924.  925.  926. 

Tauvry  310. 

Tauber  924. 

Tavel  554. 

Tedeschi  644. 

Tenner  719.  733. 

Tephjeschin  923. 

Tessier  920. 

Testa  100.  632.  633.  638.  646. 

Testut  224. 

Thäbit  ben  Korra  192. 

Thaer  90. 

Thaies  328. 

Theden  504. 

Themi.son  478.  665. 

Themmen  864. 

Theopbilo«  190. 

„  Protospath.  479. 


958 


Namenregister. 


Theophrastos  655. 
Thierfelder  440.  557. 
Thiersch  550.  824. 
Thiery  315.  582. 
Thiry  415.  436. 
Tholozan  766.  771.  772. 
Thoma  221.  549.  550.  555.  556. 
Thome  824. 
Thomas  449.  864. 
Thompson  706.  707.  712. 
Thomsen,  A.  269. 
Thomson,  Allen  268. 
„         John  520. 

321.  530.  852.  853.  864. 
Thucydides  630.  740.  751. 
Thuiilier  919. 
Thurneysser  42.  594. 
Tiedemann  144.   285.  375.  377.   464.  471. 

512.  524.  530.  661.  682. 
Tiegel  412. 
Tiengius  866. 
Tigerstedt  429.  434. 
Tillandsz  316.  317. 
Timmermann  499. 
Tissin  855. 

Tissot  93.  96.  848.  860.  924. 
Titius  927. 
Todd  419.  521.  531. 
Toldt  221.  224.  298.  300. 
Tommasini  107. 
Tommasi-Crudeli  556. 
Torer  271. 
Tomamira  209. 
Torre,  della  24. 
Torricelli  333. 
Tour  151. 
Tourtual  528. 
du  Toy  300. 
Tozzi  626. 
Tragus,  H.  10.  568. 
Tralles  s.  Alexander  Tr. 
Traube,  L.  152.  406.  421.   443.  537.  544. 

545.  618.  622.  623.   625.  627.  642.  645. 

64fi.  647.  710.  715. 
Traube,  M.  396. 
Travers  141.  142. 
Treitz  554. 
Trelat  549. 
Trendelenburg  707. 

Treviranus  116.   118.  218.  361.  364.   380. 
Trietheim  13. 
Trincavella  20. 
Trinks  124. 
Trioen  503. 

Trnka  v.  Krzowicz  96. 
Troja  506.  509.  550.  854. 
Troje  911. 
Trojanowsky  623. 
Trommsdorff  580. 
Tronchin  100.  915. 
Trota  100. 
Trousseau  620.  639.  694.   698.  729.   733. 

800.  864.  874.  875. 
Trouve  709. 
Troxler  117.  118. 
Tscherning  450. 
Tschiriew  448. 


Tücke.  Hack  724,  s.  a.  Hack. 

Tucker-Wise  912. 

Tuczek  923.  930. 

Türck  553.  729.  730. 

Tufnell  636. 

Tulp(ius)  68.  251.  252.  486.  622.-  633.  634. 

657. 
Turban  912. 
Turner,  W.  224.  265.  419.  446.  549.  558. 

645. 
Turquet  de  Mayerne  42. 
Turrianus  203. 
Typaldos  927.  929. 
Tyson  657.  658. 

Uexküll  V.  454. 

Uffelmann  692. 

Ugo  de  Senis  s.  Senis. 

Uhle  555. 

"ültzmann  711. 

Unger  393.  702. 

Unna  549.  556. 

Unzer  81.  86.  93.  101.  355. 

Vaccari  928. 

Vahlen  434. 

Vaillard  553. 

Valdes,  y  10. 

Valenti  555. 

Valentin  369.  377.  401.  4,33.  465. 

Valentiner  730. 

Valentiui  580. 

Valentinus,  Bas.  458. 

Valeriola  20.  483. 

Valette,  La  222.  224. 

Valla,  G.  V.  Piacenza  201. 

Valle,  Carmona  y  841. 

Valleix  619. 

Valles  18.  483. 

Vallisneri  55.  240.  347.  358.  658. 

Vallisnieri  499.  747. 

Valsalva  69.  100.  240.  495.  498.  509.  636. 

637. 
Valverde  de  Hamusco  233. 
Vanlair  550. 
Varignana  197. 
Varolio  235. 
Varro  747. 
Vas  437. 
Vasseu  211. 
Vater  401.  494.  508. 
Vauquelin  378.  464. 
Väzquez  233. 
Vega  18.  21. 
Vego,  Juan  del  63. 
Velazquez  233. 
Velden,  v.  d.  692. 
Vella  436. 
Velpeau  516.  531. 
Venel  596. 
Verdier  310. 
Verduc  70. 
Verduyn  69. 
Verheyen  257.  487. 
Verneuil  315.  698. 
Verney,  du  55.  70.  71.  487. 
Verworn  428.  454. 


Namenregister. 


959 


Ye?al  25.   177.  214.   2t  6.   228.  229.  231. 

249.  271.  331.  338.  345.  481.  482.  633. 

634.  666.  698. 
Vesling  238.  487.  698. 
Vetter,  A.  R.  295.  522.  527.  531.  597. 
Vicary  210. 
Yicentino  s.  Fortezza. 
Vicq  d'Azvr  311.  496.  698. 
Vidal  323.'  516. 
Vieringen  257. 
Vierordt,  C.  389. 

K.  V.  395.  410.   417.  468.  646. 
Vierth  549 
Vieussens  56.  69.  313.  340.  347.  491.  493. 

634.  635.  718. 
Vieusseux  871. 
Vigamy  234. 
Yigouroux  728. 
Villa,  de  576. 
Villa  Eeal  866.  867. 
Villafane,  y  234. 
Villanova  s.  Amoldus. 
Villemin  623.  905.  906. 
Vinci,  Lionardo  da  24.  331.  341. 
Vintschgau  401. 
Virchow,  R.  152.  218.  383.  468.  527.  528. 

531.  536.  544.  554.  558.  618.  624.  641. 

642.  661.  662.  681.  699.  701.  714.  729. 

786.  835.  875.  902.  904.  905.  908. 
Virdung  284. 
Virgil  918. 
Vivenot  v.  624. 
Vives  13.  15.  23. 
Vochs  776. 
Vogel  530.  531.  549. 

..      R.  A.  93.  98.  924. 

.;      Jul.  523.  684.  685.  713. 

„      S.  G.  100.  596. 
Vogt,  C.  216.  381.  383. 

,.      Ch.  A.  297. 
724. 
Voigtel,  F.  G.  522.  617. 
Voit,  C.  V.  387.  390.  431.  467.  471. 
Volhard  393. 
Volkmann.  A.  W.  374.  385.  398.  399.  400. 

407.  551.  627.  646.  707. 
Volta  361.  362.  401.  578.  726. 
Voltolini  910. 
Volz,  A.  703. 

„     R.  120. 
Vries,  de  437. 
Vrolik  252.  254.  529.  530. 
Vulpian  585.  730. 

Wachsmuth  731. 
Wadd  521. 
Wagener,  G.  293. 
Wagler  100.  659.  796. 
Wagner,  E.  642. 
„        E.  L.  546. 

Job.  304.  527. 

Rud.  380.  385.  401.  410.  684. 

531.   532.   549.    550.   553.   554. 
555.  864.  875. 
Wahlbom  869. 
Wald  42. 
Waidenburg  624.  902. 


Waldeyer  218.  222.  224.  293.   447.    550. 

553.  554.  720. 
Waldschmidt  58.  276. 
Wallach  385. 
WaUer  420.  428.  446. 
Walsh  362. 
Walshe  609.  618.  640. 
Walter,  d.  Ae.  288. 

d.  J.  289. 
.,        Job.  GotÜ.  100.  500.  501.  503. 

509.  711. 
Waltber,  A.  Fr.  280. 

V.  143. 
Wählin.  M.  A.  924.  925. 
Ward  688. 
Warlomont  855. 
Warschauer  790. 
Wassmann  465. 
Watson  861. 
AVatt  462. 
de  Watteville  428. 
Webber  730. 
Weber,   E.  H.  133.   144.   283.   373.   401. 

584.  645. 
Weber,  Ed.  373. 

Gebr.  a44. 

M.  J.  804. 

Th.  627. 

W.  373.  584. 

400.  478.  682. 
Webstar  320. 
Wedel  58.  869. 
Wedel,  G.  W.  924. 
Wedemeyer  861. 
Wedenskv  428. 
Wedl  298.  557. 
Webenkell  555. 
Weichselbaum  552.   553.    557.   619.    620. 

641.  749.  901.  907. 
Weidmann,  J.  P.  506. 

509 
Weigel  270. 
Weigert  219.    446.    549.    550.   555.    558. 

720.  910. 
Weikard  107. 
WeU  626.  645. 
Wein,  J.  N.  275. 
Weinrich  485. 
Weir-Mitchell  732.  734. 
Weismann  217. 
Weiss  414.  688.  734. 
Weissgerber  554. 
Weitbrecht  280.  318. 
Welcker  305. 
Wells,  Sp.  704.  714. 
Welsch  b8.  69.  71.  492.  493.  656. 
Wenzel  463. 

Wepfer  56.  69.  278.  347.  489.  493.  GOß. 
Werigo  428. 
Werlhof  93.  842. 
Werner,  P.  Chr.  F.  500.  657. 
509.  659. 

Wefttphal  270.  553.  725.  729.  730.  733. 
Weszpremi  96. 
Wetterstrand  724.  725. 
Weyer  483.  858.  866. 


960 


Namenregister. 


Wharton  263.  338.  G83.       ' 

Wheatstone  400. 

Whitmore  779. 

Whytt  81.  86.  355. 

Wichmann  93.  100.  505.  549.  664. 

Widenmann  646. 

Wiegandt  221. 

Wieger  549. 

Wienholt  110. 

Wierus  s.  Weyer. 

Wiggers  586,  925. 

Wild  549. 

W^ilder  321. 

Wilks  556. 

Willan,  K.  507.  509.   752.  857.   860.  861. 

864. 
Williams  551.    554.   608.   609.    622.    623. 

640.  642.  646.  653. 
Willis  55.    58.    263.   341.  346.  347.  355. 

460.  465.  490.  626.   717.  718.  744.  779. 

795.  830.  831.  880. 
Willke  869. 
Wilms  554. 
Wilson  267. 

Sir  Will.  268. 
Windischmann  119.  218. 
Winge  641. 
Winiwarter  696. 
Winogradoff  551.  923. 
Wiusiow  310. 
Winter  86.  249.  437. 
Winternitz  735.  927. 
Winther  v.  Andernach  17.   18.   42.   215. 

557.  566.  568.  594. 
Wiutrich  608.  610.  618.  627. 
Wintringham  93. 
Wirsung  278.  338.  698. 
Wise,  T.  A.  652.  658. 
Wise  s.  Tucker. 
Wiseman  69. 
Wislicenus  391.  599. 
Wislocki  556. 
Wistar  319. 
Withering  647. 
Wittich  V.  410.  470. 
Wölfler  221.  553.  696. 
W^öhler  378.  392.  463.  465.  493.  682.  683. 
Woillez  626. 
Wolcott  714. 
Wolf,  J.  68. 

„       J.  Chr.  502. 
Wolfart  111.  724. 
Wolfers  853. 
Wolff,  Casp.  Fr.  216.  288.  318.  512. 

„       J.  221. 

„      M.  906. 
Wolffberg  435. 
Wolfstriegel  294. 
WoUaston  398. 
Woolridge  440. 
Wood  662. 


Woodhead  556.  558. 

Woodville  850. . 

Worm  259. 

Wren  263. 

Wrisberg  271.  282.  500:*  509.  659. 

Wucherer  551.  662.  663. 

Würtz  30. 

Wunderbar  476.       ■■  .   .  .   ■    -.  ^- 

Wunderlich  150.  533.  61S.  61^.- 625.  681 

729. 
Wundt  400.  452.  453. 
Wutzer  528.  ',.    '    ■ 

Wyer  15.  •• 

Wyhe  256. 

Xenophon  183.  , 

V.  Kos  180.     • 

Yersin  552.  749.  772.  878. 
Young,  Th.  398.  399. 
Yperman  925. 

Zaayer  251. 

Zacchia  71. 

Zacutus  Lusitanus  21.  489. 

Zahn  549.  551.  553.  554. 

Zalesky  393. 

Zamminer  610. 

Zancari  198. 

Zaufal  553. 

Zawerthal  222. 

Zeder  659. 

Zehnder  550. 

Zeidler  299. 

Zeiss  220. 

Zeller  582. 

Zenker  549.  550.  551.  553.  554.  623.  642. 

661.  662.  730. 
Zerbi  199. 
Zeviani  879. 

Ziegler  549.  550.  553.  556.  558.  908. 
Ziehen  453. 
Ziehl  909. 
Zielonko  550. 
Ziemssen  619.   621.   623.   699.   725.    727. 

728.  734. 
Zimmermann  93.  354.  833.  924. 
Zinn  282.  354. 
Zoja  243. 
Zopf  552. 

Zuckerkandl  224.  298.  306.  553. 
Zuelzer  791. 
Zürn  551. 
Zuntz  389.  432.  433.  435.  644. 

„       L.  434. 
Zupitza  770. 
Zwaardemaker  449. 
Zwinger,  Th.  18.  42.  273.  275. 

„         J.  42. 
Zwirlein  596. 
Zype  257. 


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R  Puschmann,  Theodor 

131  Handbuch  der  Geschichte 

P67  der  Medizin 

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